Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/16/2000

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Tagesordnung weist heute einige Punkte auf, die uns nicht zufrieden stellen können. Ich will den Bericht der Ausländerbeauftragten ansprechen, der erst zu später Stunde behandelt wird. Wir als F.D.P.-Fraktion hätten uns gewünscht, dass wir diesen Bericht umfassender und vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt, wenn auch die Öffentlichkeit Gelegenheit hat, sich die Debatte darüber anzuhören, diskutieren könnten. ({0}) Das aber mag das Problem der Koalition sein. Wir bitten jedenfalls darum, einen anderen Zeitpunkt für den Bericht der Ausländerbeauftragten, den wir für wichtig halten, zu finden, und darum, die Debatte darüber, für die jetzt 45 Minuten vorgesehen sind, zu verlängern. Der Grund unseres Geschäftsordnungsantrags ist: Wir werden heute etwa gegen 18 Uhr über das Thema Abrüstung und um Mitternacht über das Thema Rüstungsexport debattieren. Wir als F.D.P.-Fraktion sind der Auffassung, dass wir über beides zusammen diskutieren könnten, wobei wir die jeweils vorgesehene halbe Stunde Debattenzeit zusammennehmen möchten, sodass eine einstündige Diskussion möglich wird. Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Koalition von Rot-Grün muss sich schon fragen lassen, warum, seit sie regiert, über Themen wie Rüstungsexporte oder Menschenrechte in China ständig in den Nachtstunden debattiert wird. ({1}) Man muss fast fragen: Warum scheuen Sie das Tageslicht beim Thema Rüstungsexport? ({2}) - Aufgrund der Zurufe der Sozialdemokraten sage ich Ihnen, warum. Ich zitiere aus der „Welt“ vom 3. November 2000. Da hieß es unter der Überschrift „Bombengeschäft“: Die deutschen Kriegswaffenexporte, von denen es immer heißt, sie seien restriktiv, haben sich im vergangenen Jahr im Vergleich zu 1998 mehr als verdoppelt. Von Beschränkung kann keine Rede sein. Das ist der Sachverhalt. Sie haben uns neue Rüstungsexportrichtlinien auf den Tisch gelegt. Das ist wunderbar, darüber können wir sprechen. Aber das soll nur der Befriedigung der grünen Wähler draußen dienen. Vor allem die Grünen wandern draußen mit der Friedenspalme durch die Gegend und hier beschließen sie über Exporte noch und noch. ({3}) Es wird deutlich: Früher haben Sie uns, die alte Koalition, bei den Rüstungsexporten kritisiert. Heute exportieren Sie viel mehr, als es die alte Koalition von F.D.P. und CDU/CSU getan hat. ({4}) Darüber wollen wir zu passender Zeit diskutieren, damit auch die deutsche Bevölkerung davon Kenntnis nehmen kann. Wir wollen das nicht um Mitternacht tun. Ich sage es noch einmal: Scheuen Sie nicht das Tageslicht! Diskutieren Sie mit uns zu einer angemessenen Zeit! Wir schlagen vor, die beiden Tagesordnungspunkte zusammenzufassen. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Wilhelm Schmidt, SPD-Fraktion.

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Guten Morgen, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon merkwürdig, dass vonseiten einer der OppositionsfraktioPräsident Wolfgang Thierse nen, nachdem wir über drei Wochen über die heutige Tagesordnung gesprochen haben, solche Geschäftsordnungsanträge gestellt werden, aber nicht mit entsprechenden Anträgen aufgewartet wird. ({0}) Ich frage mich: Wo sind die Anträge der F.D.P. zu den Themen Rüstungsexport und Abrüstung, die uns dazu gebracht hätten, diese Themen früher auf die Tagesordnung zu setzen, wie Sie es soeben verlangt haben? ({1}) Insofern handelt es sich um eine ganz einfache Kiste. Sie hätten alles in der Hand gehabt, aber Sie haben sich vorher nicht gemeldet. Von daher sehen wir Ihren Antrag nicht ein. Wir sehen auch keinen inneren Zusammenhang zwischen beiden Themen. Das sage ich sehr nachdrücklich. ({2}) Sie ressortieren in zwei unterschiedlichen Ministerien und das allein zeigt schon, dass es keinen direkten Zusammenhang gibt. Von daher werden wir Ihren Geschäftsordnungsantrag ablehnen, auch wenn Sie sehr vordergründig versuchen, daraus noch einmal in polemischer Weise etwas zu machen. Ich schlage den Mitgliedern unserer Fraktion und dem Haus im Übrigen an dieser Stelle vor, die Tagesordnung ein wenig zu entschärfen und zusammenzufassen, indem ich den Antrag stelle, den Tagesordnungspunkt 5 - Regelung der Zuwanderung und die Umsetzung der „Berliner Rede“ des Bundespräsidenten - mit dem Tagesordnungspunkt 16 - Bericht der Ausländerbeauftragten - unter dem Punkt 5 des heutigen Tages zusammenzufassen. ({3}) - Nein, das haben wir mit Rücksicht auf Sie bisher nicht gemacht; aber nun entschärfen wir die Lage und sorgen dafür, dass die Debatte über den Rüstungsexport früher stattfinden kann. Das ist unser Antrag, den ich hier stelle. Ihren Antrag werden wir ablehnen. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Eckart von Klaeden das Wort.

Eckart Klaeden (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002698, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Der heutige Donnerstag hat für die Regierungskoalition schlecht begonnen. Auch die weitere Tagesordnung verspricht keine Besserung. Daher ist es verständlich, dass Sie die Fragen um den Rüstungsexport und die Abrüstung voneinander trennen wollen. Ihr widersprüchliches Verhalten in der Rüstungsexportpolitik soll nicht bei Tage, sondern in der Nacht besprochen werden. ({0}) Dass Rüstungsexporte und Abrüstung nichts miteinander zu tun haben, entspricht von der intellektuellen Qualität her den Verteidigungsleistungen des - jetzt wohl ehemaligen - Bundesverkehrsministers Klimmt, die wir in den letzten beiden Tagen leider haben erleben müssen. ({1}) Dass ein sachlicher Zusammenhang besteht, darauf haben Sie in der letzten Legislaturperiode immer wieder hingewiesen. Dass Rüstungsexporte und Abrüstung zusammen behandelt werden müssen, bedarf keiner weiteren Begründung. Ich will nur einmal darauf hinweisen, dass Sie sich in der vergangenen Legislaturperiode in über 20 Kleinen Anfragen, Änderungsanträgen bei der Beratung des Bundeshaushalts und selbstständigen Anträgen gerade zum Zusammenhang von Rüstungsexport und Abrüstung geäußert haben. Sie haben die Sorge, dass insbesondere Ihre widersprüchliche Rüstungsexportpolitik im Verhältnis zur Türkei zur Sprache kommt. Dabei wollen wir nicht mitmachen. Wir unterstützen den Antrag der F.D.P. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. ({0})

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ihr Antrag in Ehren; aber Wilhelm Schmidt hat darauf hingewiesen, dass wir über die heutige Tagesordnung sehr lange diskutiert haben. Sie haben vorher diese Punkte nicht vorgeschlagen und sich selber nicht engagiert. Ich will Ihnen, ohne auf den Inhalt einzugehen - das gehört nicht in eine Geschäftsordnungsdebatte -, dazu nur eines sagen: Im Unterschied zu Ihrer Koalition diskutieren wir offen und ehrlich über Rüstungsexporte. ({0}) - In der Tat ist das so. Die neuen Exportrichtlinien sind ein klares Zeichen dafür. Was Sie angeht, so haben wir noch heute mit einem Untersuchungsausschuss zu tun, der Fuchs-Panzerlieferungen zum Gegenstand hat. Das ist der Unterschied. Die beiden Debatten gehören nicht zusammen: In der einen Debatte geht es um außenpolitische Aspekte. Bei Wilhelm Schmidt ({1}) dem anderen Punkt geht es um deutsche Rüstungsexporte. Wir werden das unabhängig voneinander debattieren. Aber wir haben Ihnen einen Vorschlag gemacht, wie wir früher am Abend darüber reden können. Wir wollen über zwei andere Tagesordnungspunkte, die wirklich zusammengehören, zusammen debattieren. ({2}) Damit erreichen wir eine zeitliche Entspannung. So können wir früher am Abend über die Rüstungsexporte sprechen. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Heidi Knake-Werner, PDS-Fraktion, das Wort.

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich ist das Anliegen der F.D.P.-Fraktion berechtigt. Ich finde es gar nicht verwerflich, dass die F.D.P.-Fraktion dabei die PDS unterstützt. Das ist eine neue Situation im Hause. Natürlich gibt es einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen dem Jahresabrüstungsbericht der Bundesregierung und unseren Anträgen zu Rüstungsexporten. Insbesondere gibt es diesen Zusammenhang, da sich offensichtlich auch in der neuen Regierungskoalition die Auffassung durchsetzt, dass man Abrüstung am besten dadurch bewerkstelligt, dass man die Rüstungsexporte verstärkt. Das finden wir nicht. Deshalb lohnt es sich, diese Fragen zusammen zu diskutieren. Der zweite Punkt, den wir natürlich ebenfalls unterstützen, ist, dass solche wichtigen Themen, nämlich die Kontrolle von Rüstungsexporten, Transparenz bei Rüstungsexporten und Waffen- und Panzerlieferungen in die Türkei, nicht in Mitternachtsrunden gehören. Ich weiß, dass diese Themen der Regierungskoalition im Moment nicht besonders angenehm sind; denn es kracht ja ohnehin schon ziemlich im Gebälk. Sie in nächtlichen Stunden zu debattieren finden wir völlig unangemessen, weil sie zu diesen Zeiten der Öffentlichkeit meist verborgen bleiben. Das mag ja vielen von Ihnen recht sein, aber uns ist es überhaupt nicht recht. Deshalb finden wir es richtig, das zu verändern. Ich kann Ihnen nur empfehlen: Mehr Licht, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition! ({0}) Es gibt natürlich auch einen ganz eigennützigen Grund der PDS: Sie wissen sehr wohl, dass es uns Woche für Woche nervt, dass ausgerechnet unsere Tagesordnungspunkte zu oft sehr wichtigen Themen immer in die Stunden vor oder kurz nach Mitternacht geschoben werden. Dann haben wir natürlich immer die Situation, dass wir nicht mehr diskutieren. Um diese Zeit haben viele Kollegen gute Gründe - manchmal auch nicht so gute Gründe -, ihre Debattenbeiträge zu Protokoll zu geben. Das führt natürlich dazu, dass Sie uns mit unseren schlauen Überlegungen alleine lassen. Es führt auch dazu, dass der Ideenwettstreit mit der linken Opposition in diesem Parlament kaum mehr stattfindet. Ich finde, das macht den politischen Diskurs ärmer. Auch auf diese Weise kann man Minderheitenrechte verhunzen. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Über das Problem „Panzer in die Türkei - ja oder nein“ und über andere Probleme des Rüstungsexportes um 18 Uhr statt, wie heute geplant, um 23 Uhr zu diskutieren, finden wir spannender. Deshalb werden wir dem Antrag der F.D.P. zustimmen. Ich will im Zusammenhang mit dem Antrag der SPD einen weiteren Punkt nennen. Die F.D.P. hat erstmals einen eigenen Tagesordnungspunkt zu einer vernünftigen Zeit, nämlich zur Kernzeit, einbringen können, wie das für die kleinen Fraktionen ja wirklich die Ausnahme ist. Deshalb hat es die F.D.P. in der Runde der parlamentarischen Geschäftsführer abgelehnt, den Bericht der Ausländerbeauftragten zu diesem Tagesordnungspunkt hinzuzunehmen. ({1}) - Nein, das ist nicht völlig sachfremd. Wenn Sie so vorgehen, werden auch Minderheitenrechte verletzt. ({2}) Denn die Regierungskoalition kann diese Debattenpunkte der Oppositionsfraktionen - insbesondere der kleinen Oppositionsfraktionen - dann immer mit eigenen Themen dominieren. Das wollen wir nicht. Deshalb werden wir Ihren Antrag diesbezüglich ablehnen. Eine letzte Klarstellung: Wenn die Punkte so zusammengelegt werden, wie es die SPD beantragt, dann wird natürlich die Debatte um die Rüstungsexporte noch weiter in die Nachtstunden geschoben. Die Debatte wird dadurch nicht verkürzt - das ist doch völlig eindeutig -, weil sich die Redezeiten zu den vorherigen Punkten automatisch verändern. Das zur Klarstellung. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Wir kommen zur Ab- stimmung. Wer dem Geschäftsordnungsantrag der F.D.P. auf Zusammenlegung der Tagesordnungspunkte 10 und 17 zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Das Letzte war die Mehrheit. Da- mit ist der Geschäftsordnungsantrag abgelehnt. Wir kommen zum Geschäftsordnungsantrag der SPD auf Zusammenlegung der Tagesordnungspunkte 5 und 16. Wer stimmt diesem Antrag zu? - Wer stimmt dagegen? - Dieser Antrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses ge- gen die Stimmen der PDS-Fraktion und von Teilen der F.D.P.-Fraktion angenommen worden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 a bis c sowie Zu- satzpunkt 2 auf: 3 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens ({0}) - Drucksache 14/4595 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit - Drucksache 14/4230 ({2}) aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({3}) - Drucksache 14/4630 - Berichterstattung: Abgeordneter Wolfgang Meckelburg bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({4}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 14/4634 - Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel Dr. Christa Luft Dr. Konstanze Wegner Antje Hermenau c) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Versorgungsabschläge - Drucksache 14/4231 ({5}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({6}) - Drucksache 14/4620 Berichterstattung: Abgeordnete Hans-Peter Kemper Meinrad Belle Dr. Max Stadler ZP 2 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche Rentenversicherung, insbesondere über die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben, der Schwankungsreserve sowie des jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalenderjahren gemäß § 154 SGB VI ({7}) - Drucksache 14/2116 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({8}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss Zum Gesetzentwurf zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU, zwei Änderungsanträge der Fraktion der PDS sowie jeweils ein Entschließungsantrag der beiden genannten Fraktionen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Walter Riester, das Wort. Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung ({9}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über die Probleme der Rentenkassen wurde schon seit Jahren nur gesprochen. Wir haben bereits im letzten Jahr entschlossen gehandelt: Wir haben die versicherungsfremden Leistungen aus der Rentenkasse herausgenommen und die Beitragssätze gesenkt. Heute leiten wir den Gesetzgebungsprozess ein, indem wir über Lösungen diskutieren, um dann entschlossen zu handeln. ({10}) Dabei geht es uns zunächst darum, einen fairen Ausgleich zwischen den Generationen zu finden. Das ist unser Weg und wir meinen, dass das der einzig gangbare Weg ist. Wir haben einen Lösungsvorschlag auf den Tisch gelegt, der diesem Anspruch gerecht wird. Bei unserer Rentenreform sind Junge und Ältere gleichermaßen Gewinner. Wir schaffen Gerechtigkeit zwischen den Generationen, wir setzen auf Solidarität mit Gewinn sowie auf Sicherheit und Bezahlbarkeit. Deswegen konzentrieren wir uns auf vier Schwerpunkte: Erstens. Wir ergänzen die gesetzliche Rente mit einer zusätzlichen kapitalgedeckten Rente und werden damit das Rentenniveau - insgesamt dauerhaft anheben. Zweitens. Wir werden den Weg, die Rentenversicherungsbeiträge zu senken, konsequent fortsetzen und zu einer Stabilisierung der Beiträge und damit zu einer Begrenzung der Lohnnebenkosten kommen. ({11}) Präsident Wolfgang Thierse Drittens. Wir werden insbesondere die Menschen - das betrifft vor allem Frauen - unterstützen, die durch Unterbrechung ihrer Erwerbstätigkeit oder aufgrund einer geringeren Bezahlung infolge Kindererziehung letztlich niedrigere Renten haben. Damit muss Schluss sein! ({12}) Viertens. Wir möchten die verschämte Altersarmut in diesem Land beenden, weil die Politik nicht darauf setzen darf, dass ältere Menschen aus Scham oder weil sie den Rückgriff auf die Kinder scheuen, ihre berechtigten Ansprüche nicht anmelden. - Das sind unsere Ziele. Das Herzstück unseres Gesetzentwurfs ist die Förderung des Aufbaus eines zusätzlichen Altersvermögens. Diese Altersvorsorge ist freiwillig und zusätzlich. Sie ist also kein Ersatz, sondern eine Ergänzung der gesetzlichen Rente. Wir werden den Aufbau dieser zusätzlichen Altersvorsorge durch umfassende staatliche Zulagen unterstützen. Wir haben das Ziel, das Versorgungsniveau im Alter insgesamt zu erhöhen. In Zukunft soll die gesetzliche Rente als Basis durch eine zusätzliche Rente ergänzt werden. Damit die Möglichkeit eines zusätzlichen Vermögensaufbaus kein Privileg von wenigen wird, starten wir das größte Programm zur Förderung eines Altersvorsorgevermögens, das jemals in dieser Republik aufgelegt worden ist. Wir wollen, dass alle Rentenversicherten die Möglichkeit erhalten, sich ergänzend abzusichern. Dies betrifft vor allem die Menschen, die nicht viel verdienen oder mittlere Einkommen haben - also vor allem junge Familien mit Kindern -, die im Gegensatz zu Besserverdienenden eine zusätzliche Altersvorsorge bislang nicht betreiben können. Dieses Ziel ist uns fast 20 Milliarden DM jährlich wert; der Startschuss soll im Jahr 2002 fallen. Damit niemand finanziell überfordert wird, beginnen wir im ersten Jahr mit einem Beitrag von 1 Prozent des Bruttoentgelts. Der Staat gibt von Anfang an Geld dazu. Der Beitrag steigt in insgesamt vier Schritten alle zwei Jahre um jeweils 1 Prozent und erreicht im Jahre 2008 insgesamt vier Prozent vom Bruttoentgelt. Vom Staat werden all diejenigen gefördert, die in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen. Nach der Anlaufphase bekommen Alleinstehende 300 DM im Jahr, Verheiratete 600 DM und für jedes Kind gibt es 360 DM. Ich mache dies deutlich am Beispiel einer Familie mit zwei Kindern und einem Jahresverdienst von durchschnittlich 50 000 DM: Wenn diese Familie jährlich 680 DM für die Altersvorsorge aufwendet, dann gibt der Staat 1 320 DM dazu, nämlich 300 DM für den Ehemann, 300 DM für die Ehefrau, 360 DM für das erste Kind und 360 DM für das zweite Kind. Das ist die breite Förderung durch die von allen gewünschte ergänzende Altersvorsorge. ({13}) Wer monatlich auf seinen Lohnzettel schaut, der weiß, dass die Schmerzgrenze bei den Abgaben längst erreicht ist. Deswegen sind Fragestellungen, die die Abgaben betreffen, für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land ein zentraler Punkt. Auch für die Betriebe ist das wichtig. Wir haben sehr schnell erste Schritte eingeleitet und haben den Rentenversicherungsbeitrag auf 19,3 Prozent abgesenkt. Gestern hat das Kabinett beschlossen, ab dem 1. Januar nächsten Jahres den Rentenversicherungsbeitrag erneut um 0,2 Prozentpunkte auf 19,1 Prozent abzusenken. ({14}) Noch wichtiger aber ist es, diese Beiträge langfristig zu stabilisieren und auf niedrigem Niveau zu halten. Deswegen werden wir durch diese Reform sicherstellen, dass der Beitragssatz mindestens zehn Jahre unter 19 Prozent und mindestens 20 Jahre unter 20 Prozent bleibt. Auf Jahre hinaus bedeutet dies, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr Geld in den Taschen haben und dass die Unternehmer mehr Spielraum haben, um zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen. Denn immer weiter steigende Beitragssätze hätten negative Konsequenzen für die Zahl der Arbeitsplätze in diesem Lande. Die Senkung des Rentenversicherungsbeitrages von 20,3 Prozent auf 19,3 Prozent, die wir schon vorgenommen haben, bringt für die Arbeitgeber und für die Arbeitnehmer eine Entlastung von insgesamt rund 16 Milliarden DM. Dabei entfallen 8 Milliarden DM auf die Beschäftigten und 8 Milliarden DM auf die Betriebe. Dieser Weg wird weitergegangen. In vielen Gesprächen mit älteren und jüngeren Menschen wurde ich immer wieder besorgt gefragt, wie viel Geld die Rentner in Zukunft zur Verfügung haben werden. Dazu muss man Folgendes ganz klar sagen: Für die heutigen Rentner wird sich nichts ändern. Ihre Renten werden ab dem 1. Juli nächsten Jahres an die Lohnentwicklung kontinuierlich angepasst. Dies wird sich nicht ändern. ({15}) Auch für diejenigen, die 55 Jahre und älter sind, wird sich nichts ändern. Sie werden ihre Renten auf gleichem Niveau bekommen und sie werden bis zum Ende ihres Rentenbezuges entsprechend der Lohnentwicklung angepasst. Bei den Jüngeren ist dies so nicht zu verwirklichen. Die Menschen werden älter; darüber freuen wir uns. Durch die längere Lebenserwartung werden sie ein Mehr an Rentenleistung bekommen, da sie länger Rente beziehen. Allerdings werden wir einen Ausgleichsfaktor einführen, der dieser Entwicklung ab dem Jahr 2011 in beschränktem Umfang Rechnung trägt: Der Ausgleichsfaktor beginnt mit 0,3 Prozentpunkten ab dem Jahr 2011. Es wird im Jahr 2030 bei 6 Prozentpunkten begrenzt. Dennoch erhalten die Rentner durch die verlängerte Bezugszeit der Rente ein insgesamt größeres Rentenvolumen. Unhabhängig davon ist es wichtig, Vorsorge zu treffen. Das ist der entscheidende Ansatz. Damit die Menschen dies leisten können, bauen wir die ergänzende, kapitalgestützte Vorsorge auf und unterstützen das gerade für Personen mit geringerem und mittlerem Verdienst sowie für Familien mit Kindern in ganz erheblichem Maße. Ein weiterer Punkt: Wir werden mit der Rentenreform dafür sorgen, dass das fortwährende Ärgernis der Existenzgefährdung vieler Menschen im Alter, weil sie in ihrer Erwerbsbiografie Unterbrechungen wegen der Erziehung ihrer Kinder haben, beendet wird. Wir werden mit dieser Reform dafür sorgen, dass die niedrigeren Verdienste derjenigen, die Kindererziehung mit Erwerbstätigkeit verbunden haben, rentenrechtlich höher bewertet werden, und zwar maximal bis zum Durchschnittsverdienst aller Versicherten. Die rentenrechtlichen Anwartschaften werden bis zum zehnten Lebensjahr des Kindes höher als bisher bewertet. Das betrifft im Regelfall die Frauen. Nun gibt es Fälle, in denen mehrere Kinder gleichzeitig erzogen werden und eine Erwerbstätigkeit deswegen gar nicht möglich ist. Wir werden auch die Rentenansprüche derjenigen, die zwei oder mehr Kinder gleichzeitig erzogen haben, höher als bisher bewerten und für diese - das sind im Regelfall Frauen - erstmals sicherstellen, dass Arbeitsunterbrechungen wegen Kindererziehung nicht im Rentenalter zu Armut führen. ({16}) Wir wissen um die Schwierigkeiten gerade der Menschen, die behinderte Kinder erziehen. Deswegen wollen wir sicherstellen, dass diejenigen, die ein behindertes Kind erziehen und deswegen häufig nicht erwerbstätig sein können, nicht im Alter bestraft werden. Wir werden die Rentenansprüche im Fall der Erziehung eines behinderten Kindes in den ersten 18 Lebensjahren höher als bisher bewerten, sodass die Menschen, die die anspruchsvolle Aufgabe übernommen haben, ein behindertes Kind zu erziehen, nicht im Alter bestraft werden. ({17}) Wir werden darüber hinaus dafür sorgen, dass der Staat junge Menschen unterstützt, die nicht gleich in das Erwerbsleben eintreten können und deswegen Lücken in ihrer Erwerbsbiografie haben. Auch für diese werden wir rentenrechtliche Lücken schließen. Damit stellen wir uns konsequent der Aufgabe, dass Unterbrechungen zu Beginn des Arbeitslebens im Falle von Frühinvalidität nicht zu Armut führen. ({18}) Nun möchte ich auf ein Thema zu sprechen kommen, das mich sehr bewegt, das sehr ernst zu nehmen ist und um das immer wieder öffentlich gestritten wird, nämlich die Frage: Wie können wir verschämte Altersarmut bekämpfen bzw. dafür sorgen, dass sie erst gar nicht auftritt? Wir alle wissen, dass die Statistiken die Altersarmut nur unzureichend ausweisen. Viele ältere Menschen mit geringen Renten und ohne Rücklagen scheuen den Gang zum Sozialamt. Viele ältere Menschen haben auch Angst - aus welchen Gründen auch immer -, dass ein Rückgriff auf die Kinder mit dem Hinweis auf die Unterhaltspflicht erhebliche Probleme aufwerfen könnte. Darauf, dass Menschen aufgrund ihrer Ängste auf eine Existenzsicherung im Alter verzichten, darf Politik nicht setzen, zumindest möchte ich keine Politik vertreten, mit der bewusst oder unbewusst darauf gesetzt wird. ({19})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grund?

Walter Riester (Minister:in)

Politiker ID: 11003616

Ja.

Manfred Grund (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002667, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, Sie bringen heute eines der wichtigsten Reformvorhaben der rotgrünen Bundesregierung ein. Wie bewerten Sie eigentlich die Tatsache, dass bei Ihrer Einbringungsrede nur ein Minister auf der Regierungsbank anwesend ist und der Bundeskanzler während Ihrer Rede den Plenarsaal verlassen hat? ({0})

Walter Riester (Minister:in)

Politiker ID: 11003616

Ich darf Ihnen versichern, dass wir gestern im Kabinett gerade über das jetzige Thema sehr intensiv diskutiert haben und geschlossen der Meinung waren: Dieser Gesetzentwurf wird in dieser Form eingebracht. ({0}) Ich habe, bevor ich unterbrochen wurde, über die Menschen gesprochen, die unserer Unterstützung im besonderen Maße bedürfen. ({1}) - Vielleicht kann man sich wieder auf die Aufgabe konzentrieren, den Menschen zu helfen, die unserer Unterstützung bedürfen. Damit ist es mir sehr ernst. ({2}) Wir wollen zwei Dinge zur Vermeidung von verschämter Armut sicherstellen: Die Rentenversicherungsträger sollen hierzu Information und Beratung bei der Antragstellung verbessern und damit unterstützende und ergänzende Hilfen anbieten. Wir wollen zweitens auf den Unterhaltsrückgriff bei Kindern und bei Eltern verzichten. Dies ist ein richtiger Schritt, um auch diesen Menschen Sicherheit im Alter und bei dauerhafter Erwerbsminderung zu gewähren. Wir haben heute die zweite und dritte Lesung zu den Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten. Ich habe in der ersten Lesung darauf hingewiesen, dass wir zwar die grundlegende Richtung des Rentenreformgesetzes 1999 in Bezug auf die Frage der Erwerbsunfähigkeit mittragen, dass wir aber entscheidende soziale Schieflagen korrigieren. Wir korrigieren die Schieflage, dass Menschen, die noch teilerwerbsfähig sind und zwischen drei und sechs Stunden arbeiten können, aber arbeitslos sind und in der Regel keine Chance haben, einen Arbeitsplatz zu bekommen, nicht rentenrechtlich abgestraft werden, sondern weiterhin eine volle Erwerbsunfähigkeitsrente erhalten. ({3}) Wir stellen sicher, dass die 40-Jährigen und Älteren nicht, wie von der früheren Regierung vorgesehen, sofort ihren Berufsschutz verlieren, sondern dass sie weiterhin bei Berufsunfähigkeit eine Teilrente wegen Berufsunfähigkeit erhalten. Wir stellen sicher, dass die Schwerbehinderten bei der Heraufsetzung des Rentenzugangsalters eine weitere Frist bekommen, bei der die 50-Jährigen und Älteren weiterhin nach altem Recht mit 60 Jahren ohne Rentenabschläge in den vorgezogenen Altersruhestand gehen können. Das ist für diese Menschen ganz entscheidend. ({4}) An diesem Punkt hatte ich in der ersten Lesung den Eindruck - das wurde auch in vielen Punkten signalisiert -, dass zumindest hier ein breiter Konsens im Parlament vorhanden ist und wir die Zustimmung der Opposition gewinnen können. Es wird sich heute zeigen, ob die Opposition in dieser Frage zumindest die Kraft hat, in dieser entscheidenden Frage mitzustimmen. ({5}) Unsere Reform hat viele Gewinner. Deshalb werden wir die vier Ziele, die ich vorgetragen habe, unbeirrt durchsetzen. Die Gewinner sind alle heutigen Rentner. Ihre Renten werden gesichert. Sie werden kontinuierlich entsprechend der Lohnentwicklung angehoben. Sie wissen auch, dass sie bezahlbar bleiben. ({6}) Die Gewinner sind vor allem auch die jüngeren Menschen, die Beitragszahler, weil sie wissen, dass die Beiträge nicht kontinuierlich ansteigen, dass die Lohnnebenkosten begrenzt werden und dass sie gleichzeitig eine breite soziale Unterstützung bekommen zum Aufbau einer ergänzenden kapitalgedeckten Vorsorge. Sie wissen, dass die Gesamtvorsorge im Alter stabil ist. ({7}) Die Gewinner sind Frauen und kinderreiche Familien, die im besonderen Maße durch die Reform besser gestellt sind. Die Gewinner sind vor allem sozial Schwache, auf deren Situation sich diese Reform einstellt. Sie bietet Hilfe an. ({8}) Deswegen ist diese Reform viel mehr als eine überfällige und notwendige Reparatur. Diese Reform ist eine zukunftsweisende Reform über mehrere Jahrzehnte. Die Rentenversicherung wird um eine zusätzliche Altersvorsorge ergänzt: Wir kombinieren Solidarität mit Eigenverantwortung. Mit staatlicher Förderung starten wir das größte Programm zum Aufbau von Altersvermögen. Wir setzen auf Solidarität mit Gewinn, und wir setzen auf Sicherheit und Bezahlbarkeit. Es lohnt sich, an diesem Konzept festzuhalten und dies auch gegen Widerstände durchzusetzen. Denn dies ist eine Reform, die viele Gewinner hat. Die neue Rente vereint, was allen nützt: Solidarität mit Gewinn. Es ist lange geredet worden. Jetzt muss gehandelt werden, und zwar zügig. ({9}) Die Weichen sind gestellt, der Zug setzt sich in Bewegung. Die heutige Verabschiedung der Reform der Erwerbsunfähigkeitsrenten ist die erste Station auf dem Weg zu einer großen Rentenreform. ({10}) Ich lade auch die Union ein, einzusteigen; bevor das Signal ertönt: Die Türen schließen selbsttätig. Herzlichen Dank. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Horst Seehofer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Horst Seehofer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002140, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion führt zurzeit einen intensiven rentenpolitischen Dialog mit allen gesellschaftlichen Gruppen. Bei unserem gestrigen Gespräch haben uns alle Verbände die Frage gestellt: Wozu sollen wir eigentlich Stellung nehmen? Der Gesetzentwurf, der heute vorliegt, gilt in seinen wesentlichen Bestandteilen bereits nicht mehr. Er soll geändert werden und das, was neu kommen soll, ist nicht bekannt. Niemand in der Republik weiß noch, was auf ihn zukommt, weder die Rentner noch die Beitragszahler. ({0}) Chaos ist bei dieser Koalition Programm. Nicht die Gewerkschaften, nicht die Sozialverbände, nicht die Opposition, sondern die ständigen taktischen Haken des Bundesarbeitsministers haben Beitragszahler und Rentner in der Bundesrepublik Deutschland verunsichert. ({1}) Ich nehme als Beispiel die Rentenformel, die Vertrauensgrundlage unserer gesetzlichen Rentenversicherung. Danach bestimmen sich die jährliche Rentenanpassung und das Rentenniveau. Ich möchte Ihnen einmal aufzählen, was die Regierung in den letzten zwölf Monaten hier angestellt hat: 1999 Anpassung nach der Nettolohnentwicklung. Im Jahr 2000 gab es einen doppelten Wortbruch: Anpassung - entgegen den Wahlversprechungen nach Inflationsrate, nicht nach Nettolohnentwicklung. Die dabei zugrunde gelegte Inflationsrate war nicht von diesem Jahr, sondern vom letzten Jahr. Dafür hat sich der Bundeskanzler bei den Rentnern entschuldigt. Für das nächste Jahr steht eine Anpassung nach Inflationsrate im Gesetz, was jetzt wieder in Nettolohnanpassung geändert werden soll. Im Jahre 2002 soll ein modifiziertes Nettolohnprinzip gelten. Herausgerechnet werden soll die dann erfolgte Steuersenkung, was inzwischen aber in der Regierung wieder umstritten ist. Darüber, wie die Rentenanpassung im Jahr 2002 erfolgen soll, wird diskutiert. So geht es lustig weiter: Für 2003 ist die nächste Runde der Änderungen angesagt. Dann soll die Rentenanpassung doppelt modifiziert werden. Herausgerechnet werden die Steuersenkung und der 2002 eingeführte 1-prozentige Beitrag zur privaten Altersvorsorge. Im Jahre 2004 wird wieder geändert. Da wird der private VorsorBundesminister Walter Riester gebeitrag erneut zur Hälfte angerechnet, obwohl im Jahre 2003 ein Vorsorgebeitrag überhaupt nicht anfällt. Meine Damen und Herren, in sechs Jahren sechs Änderungen der Rentenformel! Am schönsten hat es die „Frankfurter Rundschau“ kommentiert: Wer das jetzt nicht verstanden hat, braucht deshalb nicht an seiner Intelligenz zu zweifeln. Entstanden ist ein bürokratischer Albtraum. ({2}) Ich füge hinzu: Innerhalb von sechs Jahren sechs Änderungen, das ist ein Weltrekord der Pfuscherei. ({3}) Herr Bundeskanzler, den bisherigen Rekord hält auch diese Regierung. Aufgestellt wurde er vor einem Jahr von der Bundesgesundheitsministerin, die hier eine Reform vorlegte, die sie gar nicht wollte. Der Ausschuss legte einen ganz anderen Reformvorschlag vor, als die Regierung beabsichtigt hatte. Dies erwähne ich zum Stichwort Verunsicherung, weil der Arbeitsminister dazu neigt, uns vorzuhalten, die Opposition, Gewerkschaften und Sozialverbände seien bösartig und verstünden das nicht. Nein, diese pausenlose Taktiererei und der pausenlose Zickzackkurs haben zu einer Verunsicherung bei 18 Millionen Rentnern und 30 Millionen Beitragszahlern geführt, wie es in der Geschichte der Rentenversicherung nie zuvor der Fall war. ({4}) Nun wird die Beitragssatzstabilität groß gefeiert. Dabei wird verschwiegen, dass die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung langfristig auf 22 Prozent ansteigen. Der Öffentlichkeit wird pausenlos verschwiegen, dass die Ökosteuer die Menschen zusätzlich belastet, obwohl die damit verbundenen Einnahmen des Staates der Rentenversicherung zugeführt werden. Die Ökosteuer ist in Wahrheit nichts anderes als der Rentenbeitrag an der Tankstelle. ({5}) Man muss beides zusammenzählen: Die Kombination aus steigenden Rentenversicherungsbeiträgen und Ökosteuer wird die Menschen bei der Finanzierung der gesetzlichen Alterssicherung in Zukunft mehr belasten als je zuvor. Zum Dank dafür bekommen sie weniger Rente denn je. Das - mehr zahlen und weniger Rente - ist die Folge Ihrer Politik! ({6}) Ich habe gerade gehört, es gebe nur Gewinner. ({7}) Ich beginne mit dem so genannten Ausgleichsfaktor. Obwohl der Arbeitsminister und die Koalition am Dienstag beschlossen haben, dass der Ausgleichsfaktor verändert werden soll, gehe ich von dem aus, was heute vorliegt: Ausgleichsfaktor heißt, dass für die Menschen, die ab dem Jahre 2011 in Rente gehen, 20 Jahre lang jährlich 0,3 Prozent, insgesamt also 6 Prozent, von der Rente abgezogen werden. Es handelt sich um einen semantischen Trick: Es ist kein Ausgleichsfaktor, sondern ein Kürzungsfaktor. Der Kürzungsfaktor trifft nur die junge Generation. Je später ein Angehöriger dieser Generation in Rente geht, desto höher ist der Abzug. Herr Bundeskanzler, das ist ein Programm zur Frühverrentung, weil künftig derjenige der Dumme ist, der länger arbeitet; denn dann bekommt er einen Rentenabschlag. ({8}) Diese Rentenreform bürdet den heute 20-, 30- und 40-Jährigen überproportionale Lasten auf. Deshalb, Herr Arbeitsminister, ist die junge Generation der Verlierer dieser Reform. ({9}) Ihr Rentenniveau liegt um 13 Prozentpunkte niedriger als das heutige. Dazu kommt eine Beitragssteigerung von heute 19,1 Prozent auf 22 Prozent. Außerdem werden sie in den nächsten 30 Jahren bis zu 4 Prozent ihres Einkommens für die private Altersvorsorge aufbringen müssen. Ich stelle fest: höhere Beiträge, geringeres Rentenniveau. Der Bundesfinanzminister hat in einer Rede in der Humboldt-Universität diese Woche gesagt, dass diese Generation zwei Jahre länger arbeiten soll. ({10}) Trotz höherer Beiträge, eines geringeren Rentenniveaus und einer längeren Lebensarbeitszeit stellt sich der Arbeitsminister hier hin und behauptet, es gebe Gewinner bei dieser Reform. In Wirklichkeit gehört die junge Generation zu den großen Verlierern dieser Reform. ({11}) Ich möchte Ihnen heute wieder ein Angebot machen: Alle, der Verband der Rentenversicherungsträger, der VdK - das ist die Vertretung der Rentner -, die Opposition, insbesondere die Union, die Gewerkschaften und die Arbeitgeber fordern seit Wochen und Monaten, mit dieser sozialen Schieflage, mit dieser Ungerechtigkeit aufzuhören. Die Forderung lautet: Weg mit dem Ausgleichsfaktor und her mit dem einzigen gerechten Instrument, dem Demographiefaktor! Damit Sie den Verantwortungswillen der Opposition sehen, sage ich: Wir sind bereit, bei einem Demographiefaktor mitzumachen, wie ihn die Gewerkschaften und die Arbeitgeber im Zusammenhang mit den Gesprächen beim VDR vorgeschlagen haben. Dieser Demographiefaktor soll ab dem Jahre 2011 für alle, für diejenigen im Rentenbestand und für diejenigen im Rentenzugang, gelten. Die Anpassung der Renten soll sich nach den Lohnsteigerungen richten. Zum Ausgleich für die steigende Lebenserwartung und die längere Rentenlaufzeit soll ein Abschlag von 0,25 Prozentpunkten erfolgen. Doch das würde bedeuten, dass alle Generationen an der Finanzierung der steigenden Lebenserwartung gerecht beteiligt werden. Außerdem hätte dieser Weg den großen Vorteil, dass das Rentenniveau in den Jahren 2020 bis 2030 sogar höher läge, als Sie es vorsehen. So sieht unsere Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung aus. ({12}) Unsere Vorschläge scheitern bisher nur daran, dass Sie sich auf Gedeih und Verderb dem - richtigen - Demographiefaktor von Norbert Blüm nicht annähern wollen. ({13}) Herr Bundeskanzler, ich mache Ihnen das Angebot: Übernehmen Sie diese Zahlen und nennen Sie den Faktor meinetwegen anders! Sie können ihn Riester-Faktor, VdK-Faktor oder DGB-Faktor nennen. ({14}) Wichtig ist, dass es zu einer gerechten Lastenverteilung zwischen Jung und Alt kommt. ({15}) Das Herzstück ist die private Vorsorge. Ich darf darauf hinweisen, dass die Fraktion der CDU/CSU die erste Fraktion des Deutschen Bundestags war, die dazu einen ganz konkreten Vorschlag gemacht hat. Wir haben öffentlich gesagt, dass die gesetzliche Rente durch private und betriebliche Altersvorsorge ergänzt werden muss und dass man den Familien und den kleinen Leuten bei der Finanzierung der Vorsorgebeiträge helfen muss. In der Grundidee stimmen wir überein. Aber ich muss sagen: Handwerklich ist es äußerst miserabel umgesetzt worden. ({16}) Ich möchte das auch begründen: Der Grundfehler besteht darin, dass die gleiche Regierung, die uns monatelang aufgefordert hat, schnell zu einem Konsens zu kommen, damit es möglichst schnell zu einer Regelung der privaten Vorsorge - dem Herzstück der Reform - kommen kann, jetzt das In-Kraft-Treten der privaten Vorsorge um ein Jahr verschiebt. Je rascher wir eine Regelung zur Vorsorge umsetzen, meine Damen und Herren, desto günstiger ist es für die Menschen. In diesem Bereich gilt wirklich der Satz: Verlorene Zeit ist verlorenes Geld. ({17}) Deshalb ist es ein fataler Fehler, dass Sie die Einführung der privaten Vorsorge um ein Jahr verschieben. ({18}) Bei dieser Regierung muss man ja immer ein wenig hinterfragen, ob die vorgetragenen Argumente zutreffen. Die Verschiebung wurde mit Barmherzigkeit gegenüber den Ländern begründet. Die Haushalte der Länder seien jetzt durch die Steuerreform finanziell belastet, die private Vorsorge müsse verschoben werden, weil die Länder nicht auch noch die Einführung der privaten Vorsorge im Jahre 2001 mitfinanzieren könnten. Ich habe einmal in den Regierungsmaterialien nachgeschaut, in welcher Form die Bundesländer durch die steuerliche Begünstigung der privaten Vorsorge und die Zulagenförderung im Jahre 2001, würde sie denn schon im Jahre 2001 eingeführt - ich hoffe, das wird noch erfolgen -, betroffen wären. Insgesamt würden die Belastungen im Rechnungsjahr 2001 für Bund, Länder und Kommunen 537 Millionen DM ausmachen. Davon entfielen auf die Länder 216 Millionen DM. Bei 16 Bundesländern entfielen auf jedes Bundesland durchschnittlich 13 Millionen DM. Glaubt diese Regierung wirklich, sie könne uns wegen einer durchschnittlichen Belastung eines jeden Bundeslandes in Höhe von 13 Millionen DM verkaufen, dass die Einführung der privaten Vorsorge vom Jahre 2001 auf das Jahr 2002 verschoben werden muss? Nein, das ist nicht der wahre Grund. Der wahre Grund ist, dass Sie im Jahre 2002 den Menschen erneut die Unwahrheit sagen wollen, so wie Sie es 1998 bei der Rente auch gemacht haben. ({19}) - Liebe Frau Schmidt, ich lese Ihnen gerne vor, was die Fraktionschefin der Grünen, Kerstin Müller, am Dienstagvormittag im Hessischen Rundfunk ({20}) - in dieser Woche - gesagt hat: ({21}) Die Taktik, die Einschnitte auf die Zeit nach der Bundestagswahl 2002 zu verschieben, sei doch durchsichtig. Das geschehe, so sagte sie, aus wahltaktischen Gründen. Am Vormittag sagt sie das, bekommt aber dann in wenigen Stunden so viel Geschmack daran, den Wählern die Wahrheit vorzuenthalten. Herr Schlauch, einen Menschen, der so kraftvoll wie Sie angetreten und angelaufen ist, dann aber so kurz springt, nennt man in Oberbayern einen „Spargeltarzan“. ({22}) Vormittags wird von den Grünen gesagt, ein solches Vorgehen sei reine Wahltaktik, nachmittags aber stimmt man diesem Wählerschwindel zu. Das sind die Grünen des Jahres 2000. ({23}) Die Wahrheit ist, dass die Koalition - dafür kämpft sie jetzt - im Wahljahr Wohltaten verteilen will, aber dann, wenn die Stimmabgabe erfolgt ist, Rentenkürzungen beabsichtigt. Herr Riester, es ist nicht wahr, dass die Bestandsrentner nicht betroffen sind. ({24}) Durch die Verringerung der Rentenanpassungen in den nächsten acht Jahren in Höhe der Vorsorgebeiträge, die völlig systemfremd sind, werden den Rentnern, die heute schon Rente bekommen, bei den Rentenanpassungen 4 Prozent ihrer Rente weggenommen. Bei jemandem, der 2 000 DM Rente als langjährig Versicherter bekommt, machen 4 Prozent 80 DM im Monat aus. ({25}) Was für ein Zirkus ist in Deutschland wegen 5 DM Selbstbeteiligung veranstaltet worden? Jetzt werden 100, 80 bzw. 60 DM im Monat einfach abgeräumt. ({26}) Die Ausgestaltung der privaten Vorsorge ist geradezu ein Treppenwitz. Bei dem Spitzengespräch beim Bundeskanzler, wo er auf einem Wisch hierfür 19,5 Milliarden DM angeboten hat, war noch keine Rede von einer Kinderkomponente. 30 DM pro Kind im Monat war unser Vorschlag. Monatelang ist uns gesagt worden, das sei nicht finanzierbar; diese Forderung zeuge von einer unverantwortlichen Handlungsweise der Opposition. (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das war völliger Quatsch! Im September dann haben Sie sich diesem Gedanken genähert. Das einzige Beispiel, das Sie jetzt als soziale Ausgestaltung der Vorsorge bringen, ist immer das Beispiel von Familien mit Kindern. Sie verschweigen, dass die Kinderkomponente auf Forderung der CDU/CSUBundestagsfraktion zustande kommt. Das ist das einzige positive Beispiel, das Sie nennen können. Alles andere, Herr Riester, werden Sie mit Sicherheit fundamental verändern müssen, zum Beispiel die betrieblichen Altersversorgungen, die Ihre Bundestagsfraktion mit Priorität versehen will. Kein einziger wesentlicher Durchführungsweg der betrieblichen Altersversorgung fällt heute nach Ihrem Regierungsentwurf unter die Förderung. ({27}) Die betrieblichen Altersversorgungen bieten im Regelfall Schutz bei Tod und Invalidität. Sie schreiben jetzt aber ins Gesetz, dass eine betriebliche Altersversorgung nur gefördert wird, wenn sie nicht vor dem 60. Lebensjahr ausbezahlt wird. Wenn nun aber dummerweise jemand vor Erreichen des 60. Lebensjahres stirbt oder erwerbsunfähig wird, dann bekommt er nichts. Das ist doch ein Treppenwitz! Das Wohneigentum ist nicht in die Förderung einbezogen, genauso wenig wie die Altverträge der Lebensversicherungen. Wie soll denn das gehen, wenn jemand aus einer Hypothek, die er für den Kauf einer Eigentumswohnung für seine Familie aufgenommen hat, eine Belastung von 1 500 DM hat? Die berücksichtigen Sie nicht als Altersvermögensbildung. Sie verpflichten den noch, 4 Prozent seines Einkommens in die Riester-Altersvermögensbildung zu zahlen. ({28}) Auch wenn jemand seit 20 Jahren in die Lebensversicherung einbezahlt hat und noch weitere 20 Jahre verpflichtet ist, zählt das nach Ihrem Konzept nicht zur Altersvermögensbildung. Jetzt haben Sie über Nacht noch etwas zusammen geschustert, von dem uns gestern die Verbände sagten: Das ist absolut nicht zu praktizieren. Angenommen, eine Familie mit zwei Kindern hat Verpflichtungen aus der Lebensversicherung. Jetzt kommt der Herr Riester und sagt: 4 Prozent zusätzlich! Wenn diese Familie zudem ein unterdurchschnittliches Einkommen hat, ist sie durch Ihre Rentenkürzung ohnehin besonders betroffen. Wie soll denn das gehen? Ich sage Ihnen: Erstens. Sie müssen zwingend einen Weg finden, damit die betriebliche Altersversorgung in die Förderung hereinkommt. Im Moment fällt kein Durchführungsweg der betrieblichen Altersversorgung unter die Förderung. Zweitens. Sie müssen Lösungen finden für die Altverträge bei Lebensversicherungen und anderen Verträgen. ({29}) Drittens. Sie müssen Lösungen finden für das Wohneigentum. ({30}) An die Sozialdemokraten, die ja so sozial sein wollen, gewandt, sage ich: Im Jahre 2002 - wenn es dabei bleibt; es kann ja nächste Woche schon wieder anders sein - muss 1 Prozent des Einkommens gespart und kann dann gefördert werden. Das führt bei denen, die 30 000 DM verdienen, zu einer jährlichen Förderung von 75 DM im Jahre 2002. Der Chef dieser Angestellten, der 100 000 DM verdient, bekommt eine Förderung von 450 DM. Meine Damen und Herren, eine solche Spreizung werden Sie nicht durchhalten. Der eine bekommt 75 DM, der andere, obwohl er das Dreifache verdient, bekommt die sechsfache Förderung, nämlich 450 DM. Ich bitte Sie dringend, die Struktur dieser Förderung noch einmal zu überdenken. Wenn die kleinen Leute - diejenigen, die 30 000, 40 000 oder 50 000 DM brutto verdienen -, im Jahr 2002 mit einer solchen Förderung abgespeist werden, wird das, so befürchte ich, ein Flop. Denn die private Vorsorge ist kein Erfolg, wenn diejenigen, die ohnehin schon sparen, weil sie es vom Gehalt her können, noch Mitnahmeeffekte bei der Steuer haben, sondern sie ist nur ein Erfolg, wenn diejenigen, die unterdurchschnittlich verdienen, auch finanziell in der Lage sind, diese Vorsorge zu betreiben. ({31}) Jede Wette, Herr Bundeskanzler: Das werden Sie ändern, das werden Sie ändern müssen. Sie werden auch das Rentenniveau ändern müssen. Bei 45 Versicherungsjahren, bei einem erfüllten Erwerbsleben, kommt nach dem Willen dieser Regierung im Jahre 2030 ein Rentenniveau von 61 Prozent heraus. Ein solches Rentenniveau hatten wir zuletzt in den 60er-Jahren. Das sind 13 Prozent weniger. Bei jemandem, der das ganze Leben gearbeitet hat, sind es 260 DM weniger; bei jemandem, der 28 oder 30 Versicherungsjahre hat, sind es 180 DM weniger. Und dann wird hier davon geredet, dass es nur Gewinner gibt! Wir bleiben bei dem, was wir vor der Bundestagswahl verabschiedet haben: Das Rentenniveau kann nicht unter 64 Prozent sinken, weil Sie sonst durch die gesetzliche Rentenreform eine Altersarmut produzieren. Es macht keinen Sinn, zuerst Altersarmut herzustellen und anschließend die Kommunen aufzufordern, eine Grundrente an diese Altersarmen zu bezahlen. Das macht keinen Sinn. ({32}) Vor der Bundestagswahl sagten Sie, Herr Bundeskanzler, die Absenkung des Renteniveaus auf 64 Prozent, wie die CDU/CSU es wolle, sei unanständig. Ich sage Ihnen: Die von Ihnen angestrebte Absenkung auf 61 Prozent ist schamlos, gegenüber den Rentnern und der jungen Generation. ({33}) Damit Sie, meine Damen und Herren von der SPD, wissen, wie überflüssig Ihre Reform ist, will ich Ihnen Folgendes sagen: Wenn es beim geltenden Recht bliebe, wenn also der demographische Faktor, den Sie nur ausgesetzt haben, wieder in Kraft träte - wir haben ihn noch vor der Bundestagswahl eingeführt, weil wir den Menschen anständigerweise noch vor der Wahl sagen wollten, wie es nach der Wahl weitergeht -, ({34}) dann würde im Jahre 2030 der Beitragssatz in der gesetzlichen Rente aufgrund des von Norbert Blüm eingeführten Demographiefaktors nur um 0,2 Beitragspunkte - das haben alle Verbände im Rahmen des Rentendialogs gesagt; die Zahl wurden nicht von uns, sondern von den Rentenversicherungsträgern berechnet - höher liegen, als es nach dieser Reform der Fall wäre. ({35}) Weil man den demographischen Faktor nicht will, macht man den ganzen Schwindel im Jahre 2002. Sie machen die ganzen Verdrehungen, nur weil Sie Gefangene Ihrer eigenen Aussage sind, der demographische Faktor komme nicht infrage. Ich sage Ihnen: Freunden Sie sich mit dem demographischen Faktor an! Dann können Sie sich den Diskurs in der Koalition sparen. Sie haben die Probleme nicht gelöst. Sie haben sich um des Koalitionsfriedens willen verständigt, aber die Lösung der Probleme auf die lange Bank geschoben. ({36}) Das Ganze ist deshalb so betrüblich, weil es im Grunde eine erstklassige Idee im Rahmen der Sozialpolitik ist, die gesetzliche Rente als Fundament in verschlankter Form für die Alterssicherung aufrechtzuerhalten, eine private und betriebliche Altersvorsorge aufzubauen und bei diesem Aufbau den kleinen Leuten und den Familien mit Kindern zu helfen. ({37}) Diese erstklassige Grundidee ist von dieser Regierung drittklassig umgesetzt worden. Die Reform ist verkorkst. Ich sage es noch einmal: Chaos gehört zum Programm dieser Regierung. Von Gerechtigkeit und Klarheit ist diese Rentenreform so weit entfernt - Lichtjahre auseinander wie Karl Marx von Bill Gates. ({38}) Herr Bundeskanzler, wir warnen Sie, dieses Vorhaben in drei Sitzungswochen im Zeitraum Dezember bis Januar durchzusetzen, um dieses Thema möglichst aus den Wahlkämpfen in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz zu halten. Sie wollen alles vorher sozusagen abgeräumt haben. Sie können aber ein solch großes Reformwerk nicht einfach durch den Deutschen Bundestag peitschen. Wir sind nach wie vor bereit, konstruktiv an einer sozial gerechten und tragfähigen Rentenreform mitzuwirken. ({39}) Aber diesem Werk können wir nicht zustimmen. Wenn Sie mit dem Kopf durch die Wand wollen, wenn Sie diese Reform gegen den Willen der Gewerkschaften, der Arbeitgeber, der Sozialverbände, der Opposition sowie der Rentenversicherungsträger - und damit gegen den Willen der Bevölkerung - durchsetzen wollen, ({40}) dann muss ich Ihnen sagen: Tun Sie es ruhig; Sie haben die Mehrheit. Aber Sie müssen wissen, Herr Bundeskanzler, dass wir vom ersten Tag an nach Verabschiedung dieser Reform darum kämpfen, dass sie wieder rückgängig gemacht wird. ({41}) Wir sind zu einem tragfähigen Konsens bereit, der gegenüber den Menschen sozialverantwortlich ist. Schauen Sie sich die Umfragen an, wie die Menschen die Rentenreform beurteilen! Wenn Sie die Reform gegen den Rat aller Fachverbände durchpeitschen wollen, dann werden Sie schon bei den Wahlen in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz erleben, wie sich die Menschen von dieser Reform und dieser Politik abwenden, indem sie einfach sagen: Mit uns nicht. Basta! ({42})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute über ein Gesetz, das in den letzten Monaten sehr umstritten war, das immer noch umstritten ist und das in den letzten Tagen für Aufregung sorgte. Der Entscheidungsprozess um diesen Gesetzentwurf zeigt, welch schwieriges Thema wir hier zu beraten haben, ein Thema, das alle Beitrags- und Steuerzahler, das alle Rentner und Rentnerinnen, die jetzigen und die potenziellen, angeht. Deswegen ist bei diesem Thema sehr viel Sensibilität angesagt. Ich will Ihnen in diesem Zusammenhang etwas zu der Auseinandersetzung sagen, die Sie von der Union seit Wochen und auch heute hier führen. Diese Auseinandersetzung ist aus meiner Sicht in erster Linie ein Nachklappen aus einem zwei Jahre zurückliegenden Wahlkampf und ein Vorgeschmack auf die bevorstehenden Wahlkämpfe. ({0}) Die Grünen haben das Thema Generationengerechtigkeit bereits auf die Tagesordnung gesetzt, als das noch etwas exotisch klang. Aber lassen Sie mich einmal feststellen, was aus meiner Sicht der Unterschied zwischen der Union und der SPD ist. Die Union hat vor der Wahl mit einer minimalen Reform versucht, über die nächsten Jahre zu kommen. Diese Reform wurde mit dem Satz flankiert, die Rente sei sicher, wohl wissend, dass dieser Satz höchstens für die damalige Rentnergeneration galt. Die Auswirkungen dieser Reform aber sollten im Wesentlichen nach der Wahl spürbar werden. Jetzt ergehen Sie sich in wöchentlich neuen Forderungen, die erfüllt werden müssen, damit Ihre Mitarbeit nicht scheitert. Ich finde, Ihre Haltung ist nicht sehr mutig und nicht sehr ernsthaft. Die SPD hingegen hat sich in einem sehr schwierigen Prozess - dafür kann man nur Anerkennung finden - der wirklichen Probleme angenommen und die notwendigen Diskussionen, auch die langfristig notwendigen, geführt. Wir haben dann gemeinsam über tragfähige Maßnahmen geredet. Wir haben das - auch im Unterschied zu Ihnen in aller Offenheit getan und nicht über Hintertürchen. Was wir als Koalition gemeinsam tun, ist deshalb glaubwürdig, weil wir Mut und Ehrlichkeit verbinden und weil wir wissen, dass es darauf ankommen wird, unsere Versprechungen gemeinsam einzulösen. ({1}) Wir haben bis zum Schluss um entsprechende Regelungen gerungen. Mit dem Wissen darum werden wir in die parlamentarischen Beratungen gehen. Sie von der Union wissen längst, dass Sie dieser Reform eigentlich zustimmen müssten - zumindest, wenn Sie Ihre eigenen Maßstäbe anlegen würden. Sie wissen das genau; aber weil Ihnen die Themen für eine ernsthafte und sachliche Auseinandersetzung fehlen, wollen Sie es offenbar bei Verunsicherung und Verweigerung belassen. ({2}) Lassen Sie mich auch ein Wort an manche Gewerkschafter sagen. Ich verstehe die Angst, die dort artikuliert wird. Diese Angst rührt von 16 Jahren Sozialabbau unter Kohl her. Sie rührt vielleicht auch von der von vielen geteilten Annahme her, dass vieles einfach durch Umverteilung zu lösen sei. Nun haben wir aber in dieser konkreten Situation eines gemerkt: Gerechtigkeit ist nicht eindimensional; Gerechtigkeit heißt: Die Sicherheiten, die der Sozialstaat bietet und die die Gesellschaft braucht, müssen auch für die kommenden Generationen erhalten bleiben. Das geht aber nur, wenn unser Vorgehen auf gegenseitigem Vertrauen basiert. Niemand, der dieser Koalition angehört, will die sozialen Errungenschaften gefährden. Im Gegenteil: Wir wollen sie erhalten und gestalten, über heute und morgen hinaus. Wenn wir dieses Vertrauen zueinander haben - dafür gibt es, so glaube ich, jeden erdenklichen Grund -, dann können wir auch das Vertrauen der Jüngeren und der Älteren gewinnen. Dieses Vertrauen braucht die Gesellschaft, ein Vertrauen, das aber auch die gesellschaftlichen Kräfte zeigen müssen, wenn sie den sozialen Zusammenhalt in dieser Gesellschaft weiter vorantreiben wollen. Ich würde die Gewerkschaften gerne dafür gewinnen, für die Stärkung dieses sozialen Zusammenhalts gemeinsam einzutreten. Lassen Sie mich deutlich machen, was diesen sozialen Zusammenhalt der Generationen untereinander und innerhalb der jeweiligen Generation in diesem Gesetzentwurf ausmacht: ({3}) Einer tritt für den anderen ein, die Jüngeren für die Älteren. Die Jüngeren wollen sich natürlich darauf verlassen können, dass das System noch funktioniert, wenn sie selbst alt sind. Das ist der Grundgedanke unseres Rentensystems. ({4}) Wir alle wissen aber auch um den veränderten Altersaufbau, die demographischen Probleme dieses Landes. Was tun wir? Wir sorgen dafür, dass die Generationen nicht gegeneinander in Stellung gebracht werden. Zusammenhalt heißt hier: Jede Generation wird nach ihren Möglichkeiten belastet. Die Lohnzusatzkosten, die die Erwerbstätigen zu zahlen haben, sind vor unserer Regierungszeit in die Höhe geschnellt. Das hat sich vor allem auf den Arbeitsmarkt negativ ausgewirkt. Dem haben wir ein Ende gesetzt. Durch die Ökosteuer haben wir die Rentenbeiträge gesenkt und senken sie weiter. Dafür braucht es auch die Beteiligung der jetzigen Rentnergeneration. Zwischen Großeltern und Enkeln - das wissen wir - hat Solidarität schon immer funktioniert. Wir legen deshalb Wert darauf, dass die Rentenbeiträge, wie es vereinbart ist, in den nächsten Jahren deutlich unter 19 Prozent sinken. Wir legen Wert darauf, dass die Älteren wissen, was sie dazu beisteuern, und zwar schon 2002. Wir, Rot und Grün, werden es gemeinsam ganz sicher nicht Ihnen von der Union überlassen, mit Hiobsbotschaften über exorbitante Kürzungen an die Menschen heranzutreten, wie Sie das beim Inflationsausgleich gemacht haben. Nein, die Renten werden steigen, weil wir eine positive Lohnentwicklung haben, und die jetzige Rentnergeneration wird ihren Beitrag dazu leisten, dass die Lohnnebenkosten auch weiter sinken werden. ({5}) Das ist gerecht, das ist fair und das ist ehrlich, auch deshalb, weil wir die nächsten 30 Jahre fest im Blick haben. Das bedeutet, die Zukunftsfähigkeit des Systems zu gewährleisten. Die gesetzliche Rentenversicherung wird auch in Zukunft den Hauptteil der Altersversorgung ausmachen. Wir alle aber wissen: Das reicht nicht aus, um im Alter den gleichen Lebensstandard wie im Berufsleben zu sichern. Die Menschen sichern sich längst zusätzlich ab. Was also tun wir? Zunächst sagen wir klar, wie viel private oder betriebliche Vorsorge nötig ist. Wir tun das übrigens sehr differenziert, weil wir nämlich wissen, dass 50-Jährige keine Traumrenditen mehr erreichen können. Deshalb sagen wir: Bei euch wird es ein eher kleiner Teil sein, den ihr durch die private Altersvorsorge zusätzlich bekommt. Bei den Jüngeren wird der Ertrag höher sein, wenn sie jetzt mit der Vorsorge beginnen. Zugleich sagen wir den jetzigen Rentnerinnen und Rentnern: Das ist ein Betrag, der den Jüngeren nicht im Portemonnaie verbleibt, der ihnen nicht zur Verfügung steht; deshalb wird er bei der Nettolohnentwicklung nicht berücksichtigt. Dieser Beitrag muss geleistet werden. Übrigens, mit dem Geld, das durch eine Zusatzvorsorge in Bewegung gesetzt wird, wollen wir etwas gesellschaftlich Sinnvolles in Bewegung bringen. Deshalb ist es wichtig, dass die Menschen wissen, wo sie ihr Geld anlegen, ob das Anlageformen sind, die nach ethischen, ökologischen und sozialen Kriterien aufgebaut sind. Gerade da, wo der Staat nur begrenzt eintreten kann, macht das Sinn und bringt uns gemeinsam voran. Aber wir tun noch etwas. Natürlich sorgen die meisten schon heute vor. Aber manche können das nicht: weil sie niedrige Einkommen haben oder sagen, sie brauchen das Geld für die Kinder. Deshalb unterstützen wir diejenigen, die nicht aus eigener Kraft vorsorgen können. Wir greifen den Leuten mit niedrigen Einkommen und den Familien unter die Arme. 20 Milliarden DM stehen dafür zur Verfügung. Wenn ich Sie auf der rechten Seite des Hauses erinnern darf: Bevor Sie einen Gemischtwarenladen von Forderungen aufgemacht haben, war das Ihr zentraler Punkt. Damit sind wir gleich bei einer anderen Frage. Gesellschaftlicher Zusammenhalt bedeutet auch: Frauen haben ein Recht auf eine eigenständige Alterssicherung. Was tun wir? Die Förderung der Zusatzvorsorge, die übrigens den Frauen direkt zukommt, ist das eine. Vor allem aber machen wir Schluss mit einem Leitbild von Frauenbiografie, das Sie, glaube ich, noch immer im Kopf haben, nach dem Frauen nur von Männern abgeleitete Ansprüche haben. Das ist übrigens ein eklatanter Unterschied zu Blüm. Zu seinen Vorstellungen - das kann ich Ihnen ganz klar sagen, Herr Seehofer - wollen wir ganz sicher nicht zurück. Frauen wollen heutzutage beides: berufstätig sein und Kinder erziehen. Zwei von drei Müttern sind berufstätig. Worauf kommt es also an, wenn wir von Rentenversicherung als Solidargemeinschaft reden? Die Solidargemeinschaft muss dort eintreten, wo Einbußen entstehen: Wo Teilzeit gearbeitet wird, weil Kinder erzogen werden, stocken wir die Anrechnung der Kindererziehungszeiten auf. Wo Frauen in schlecht bezahlten Jobs arbeiten, um Familie und Beruf verbinden zu können, müssen sie eine Aufwertung ihres Gehalts bekommen. Wenn wir sozialen Zusammenhalt ernst nehmen, müssen wir dringend einen weiteren Punkt ansprechen: Armut - auch die Armut im Alter - ist einer Gesellschaft wie der unseren unwürdig. Wir produzieren sie übrigens nicht mit dieser Reform. Es wird nicht mehr, sondern weniger Menschen, vor allem weniger Frauen geben, die in Zukunft von Sozialhilfe leben müssen. Das ist ein wirklicher Erfolg. ({6}) Aber egal, wie viele davon betroffen sind, was tun wir? Die Unterhaltspflicht von Kindern gegenüber ihren alten Eltern soll wegfallen. Deshalb soll die Sozialhilfe im Alter in Pauschalen ausgezahlt werden. Das ist ein kleiner Schritt. Ich bitte Sie, sich auf sachliche Weise sehr gut zu überlegen, ob Sie diesen kleinen Schritt, der alten Menschen Selbstbestimmung und Würde zurückgibt, nicht gemeinsam mit uns gehen wollen, indem die von Ihnen regierten Länder zustimmen. ({7}) Sozialer Zusammenhalt, soziale Sicherheit bei der Altersvorsorge, das heißt noch einmal auf den Punkt gebracht: niedrige Beiträge, Generationengerechtigkeit, langfristige Absicherung der Altersversorgung, eigenständige Frauenrenten und Vermeidung von Armut. ({8}) Lassen Sie mich abschließend Ihnen von der Union sagen: All die Offenheit und die Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit dieser Reform waren geprägt von der Suche nach dem besten Weg für das Erreichen eines in der Koalition gemeinsam formulierten und gesellschaftlich extrem relevanten Zieles. Sprechen Sie ruhig weiter von Nachbessern und Chaos, Herr Seehofer. Ich spreche von einer offenen Debatte, von Aufeinander-Hören, von einem Kraftakt, an dem viele gerade auch außerhalb dieses Hauses beteiligt waren. Ich spreche von einer ehrlichen gesellschaftlichen Debatte, an deren Ende die Menschen wissen, was auf sie zukommt und worauf sie sich verlassen können. Vertrauen in die sozialen Sicherungssysteme herzustellen und zu gewinnen, das schafft man eben nicht, wenn man halbherzige Reformen macht. Vertrauen herstellen heißt, das zu tun, was notwendig ist. Haben Sie diesen Mut! Wir haben ihn. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort Kollegin Irmgard Schwaetzer, F.D.P.-Fraktion.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollegin GöringEckardt hat uns gerade aufgefordert, ehrlich zu sein. Das wollen wir gerne tun. Nur, wenn wir das wirklich wollen, müssten wir uns einmal über die Details der Rentenreform unterhalten. Über Predigten zu diskutieren ist praktisch unmöglich. Deswegen ist das, was Sie gerade gesagt haben, dafür keine gute Vorlage. ({0}) Herr Riester, als wir mit den Rentenkonsensgesprächen begonnen haben, da haben wir immer wieder betont, dass es in gewissen Fragen Übereinstimmung gibt, nämlich in der Zielrichtung, die Altersversorgung langfristig zu sichern, und in der Erkenntnis, dass zu dieser langfristigen Sicherheit eben nicht nur die gesetzliche Rentenversicherung gehört, sondern notwendigerweise auch eine kapitalgedeckte Vorsorge, die wir damals immer als Eigenvorsorge definiert haben. Ihr neuester „Umfaller“ gegenüber den Gewerkschaften zeichnet sich ja dadurch aus, dass Sie nun doch wieder stärker statt auf individuelle Vorsorge auf tariflich gebundene und damit kollektive Vorsorge setzen. Dies ist der neueste Haken im Zuge der gesamten Auseinandersetzung, ({1}) der es einem natürlich schwer macht, sich zu dem zu äußern, was Sie - spät genug, nämlich erst gestern - auf den Tisch gelegt haben. Aber wir wissen schon heute, dass das - zumindest, was wichtige Einzelfragen anbelangt schon wieder mit einem täglichen Verfallsdatum versehen worden ist. ({2}) Deswegen, Herr Riester, sage ich: Sie sind ganz gut gestartet; aber Sie sind schlecht gelandet. Das ist deswegen so, weil Sie von Anfang an kein im Detail stimmiges Konzept hatten. Deswegen mussten Sie immer wieder im Detail nachbessern. Ich bin zwar nicht mit allem, was Herr Seehofer soeben ausgeführt hat, einverstanden. Aber eines ist klar geworden: Wir müssen uns noch über viele Fragen verständigen. Sie aber zwingen uns einen äußerst engen Zeitplan auf, indem Sie die zweite und dritte Lesung bereits am 27. Januar vorsehen, und zwar nicht des Jahres 2002 - dann wäre die Beratungszeit seriös -, sondern des Jahres 2001! Nicht einmal acht Wochen haben wir nun für die Beratung über ein solches Reformwerk, das 30 Jahre halten soll, zur Verfügung. ({3}) Deswegen, Herr Riester, sind Ihre Angebote zur Zusammenarbeit nur leeres Gerede. In acht Wochen kann man eine solche Reform nicht seriös bearbeiten. ({4}) Aber das tun Sie natürlich auch nur, um Ihren mehrstufigen ungeordneten Rückzug ein wenig zu kaschieren. Deswegen wiederhole ich für die F.D.P.: Wir bestehen darauf, dass wir eine langfristig sichere Altersvorsorge brauchen. Herr Seehofer, an dieser Stelle ist auch Ihre Argumentation unseriös. Sie argumentieren praktisch ausschließlich mit einem Versorgungsniveau auf der Grundlage der gesetzlichen Rentenversicherung. Das hat auch Herr Blüm immer getan und wir wussten schon damals alle, dass das nicht ausreichen wird. Es reicht auch jetzt nicht aus. Wenn Sie das weiter behaupten, streuen Sie der jungen Generation Sand in die Augen. Das ist nicht vernünftig. ({5}) Sie kaschieren damit natürlich auch, dass Sie im Grunde einen Beitragssatz in Höhe von 22 Prozent in der gesetzlichen Rentenversicherung akzeptiert haben. Sie sind an dieser Stelle schon längst auf das Riester-Konzept aufgesprungen. 22 Prozent für die gesetzliche Rentenversicherung und 4 Prozent für die private Vorsorge - das macht einen Beitragssatz von 26 Prozent. Herr Riester, das ist keine Beitragssatzsenkung, das ist eine massive Beitragssatzerhöhung, und zwar ab dem Tag, ab dem die private Vorsorge so gefördert wird, dass sie - hoffentlich tatsächlich auch von allen - in Angriff genommen wird. Es ist und bleibt eine massive Beitragssatzerhöhung, die die F.D.P. nicht mitmachen wird. ({6}) Unser Ziel ist nach wie vor - man könnte es erreichen, wenn man seriös darüber debattieren und entscheiden würde -, den Beitragssatz auf 20 Prozent zu begrenzen. Das durchzustehen ist sicherlich schwierig, sowohl in den Gewerkschaften als auch in der CDU. Es wäre aber ein Signal an die junge Generation. Das, was Sie machen, spricht der Generationengerechtigkeit Hohn. ({7}) Zu den Grünen, die das Wort Generationengerechtigkeit im Munde führen, kann ich nur sagen: Mit dem, was Sie jetzt schon mit der SPD vereinbart haben, verraten Sie die junge Generation. ({8}) Noch ein Wort zur so genannten Beitragssatzsenkung, Herr Riester. Der Kollege Metzger von den Grünen - im Ausschuss hat mir gestern jemand gesagt, er sei ein Auslaufmodell; was eigentlich ganz schade wäre, denn er ist vernünftig - hat ganz klar erkannt, dass das, was Sie in der gesetzlichen Rentenversicherung gemacht haben, keine wirkliche Beitragssatzsenkung, sondern eine schlichte Umfinanzierung ist. Sie führen eine unsoziale Ökosteuer ein, um damit argumentieren zu können, die Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung gesenkt zu haben. Aber damit kaschieren Sie den Reformbedarf und das ist der Fehler. ({9}) Professor Rürup - er war bereits bei Herrn Blüm Berater und ist jetzt der Hauptberater von Herrn Riester bei der Gestaltung der Rentenreform - hat Ihnen gestern in seinem Gutachten und heute auf allen möglichen Wellen im Radio noch einmal bescheinigt, dass die Lasten der verlängerten Lebenserwartung in Ihrem Entwurf ungerecht verteilt sind. Heute Morgen hat er ganz klar gesagt, man müsse sich im Grunde wieder dem demographischen Faktor der alten Regierung - er hat es vornehm formuliert - annähern. Alles, was Sie in der jetzigen Koalition bisher gemacht haben - Sie haben sich 1998 im Wahlkampf gegen den demographischen Faktor ausgesprochen und haben deswegen jetzt Hemmungen, sich diesem Thema wieder anzunähern -, ist Krampf. ({10}) Der Abschlagsfaktor - das bescheinigen Ihnen wirklich alle - bestraft diejenigen, die tatsächlich, wie wir das alle wollen und vorgesehen haben, bis zum 65. Lebensjahr arbeiten. Die werden nämlich weniger Rente erhalten als diejenigen, die sich frühpensionieren lassen. Das kann doch nicht wahr sein, das kann nicht wirklich Ihre Überzeugung sein. Lassen Sie uns deshalb über etwas diskutieren, was der VDR - der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger -, der VdK und andere Sozialverbände in die Diskussion eingebracht haben und was unserem alten Demographiefaktor verdammt nahe kommt. Die private Vorsorge ist in der Tat die entscheidende Neuerung dieser Rentenreform. Das war auch der Grund, weshalb wir gesagt haben, wir steigen in die Konsensgespräche ein. Wir haben von Anfang an gesagt, dass sie natürlich kapitalgedeckt sein muss; darüber herrscht inzwischen auch Konsens. Wir haben darüber hinaus immer gesagt, dass das auf individueller Entscheidung beruhen muss. Wir haben daher von Anfang an gesagt, dass es nicht unser Ziel sein kann, große Geldtöpfe zu schaffen, über die dann Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam entscheiden. In welchem Jahrhundert leben denn diejenigen, die so etwas machen wollen? Natürlich müssen wir uns über die Altersversorgung von IT-Spezialisten Gedanken machen, aber entscheiden tun sie selber. Nicht Herr Zwickel von der IG Metall und genauso wenig die Ideologen von der IG Medien werden diejenigen sein, die darüber entscheiden, und in deren Tarifbereiche werden viele dieser Spezialisten fallen. Das kann doch nicht im Ernst ein moderner Weg, ein Weg des 21. Jahrhunderts sein. Deswegen werden wir ihn nicht mitgehen. ({11}) In Ihrem Entwurf sind einige Punkte nicht enthalten, die dringend erforderlich sind. Zum ersten Punkt, der fehlt, sagte Ihnen Herr Rürup, der auch Ihr Berater ist, dass Sie besser den Mut hätten haben sollen, ihn aufzunehmen, nämlich in allen Vorsorgebereichen, in der gesetzlichen Rentenversicherung, in der privaten und betrieblichen Altersversorgung, die Beiträge steuerfrei zu stellen und auf die so genannte nachgelagerte Besteuerung, das heißt: die Besteuerung bei Auszahlung, überzugehen. ({12}) Im Finanzministerium liegt ein solcher Entwurf in der Schublade. Aber Sie haben nicht den Mut aufgebracht, dieses in das Gesetz aufzunehmen. ({13}) Wir werden weiterhin versuchen, Sie zu überzeugen, dass es dringend eines Gesamtkonzeptes bedarf. In dem Gesetzentwurf steht nicht, dass die selbst genutzte Immobilie ebenfalls gefördert wird. Das kann doch nur ein Treppenwitz sein. ({14}) 80 Prozent der Bevölkerung sehen das private Eigentum in Form einer Immobilie als die beste Zusatzaltersversorgung an, die es überhaupt gibt. Sie hingegen sagen: Was 80 Prozent der Bevölkerung wollen, interessiert uns nicht; wir machen andere Vorschriften. ({15}) Deswegen sage ich Ihnen: Auch das wird ein Thema im Bundestag und im Bundesrat sein. Die Länder RheinlandPfalz, Baden-Württemberg, Bayern und - da bin ich ganz sicher - noch viele andere Länder werden Sie zwingen, diesen Aspekt zu berücksichtigen. Unterm Strich enthält dieser Entwurf für die wichtige private Vorsorge weder Anlagefreiheit noch Wahlrechte, noch Wettbewerb. Damit ist er unzureichend. Sie wollen zwar einen Schritt machen, aber in Ihrem Beglückungswunsch und Ihrem Regelungsdrang machen Sie alle guten Ansätze wieder zunichte. Das werden wir nicht akzeptieren. Wir werden uns darüber auch nach dem 27. Januar 2001 auseinander setzen. Wenn Sie auf Ihrem Zeitplan bestehen, dann ist die Diskussion schon heute beendet. Sie können davon ausgehen, dass Sie ständig werden nachbessern müssen und nie etwas Vernünftiges zustande bekommen. Wir werden versuchen, das zu verhindern. Danke. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Roland Claus, PDS-Fraktion, das Wort.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute nun legen uns die Koalitionsfraktionen ein Reformpaket vor, das keiner so recht haben will. Ich glaube, auch Sie selbst merken das, weil Sie auf Dankschreiben von Gewinnern, auf die der Minister verwiesen hat, nicht zurückgreifen können. Diese Reform ist wie Ihre Ökosteuer ein Angebot ohne Nachfrage. ({0}) Ich will Ihnen etwas erzählen: Ich war gestern bei einem wunderschönen Konzert von Angelo Branduardi. ({1}) - Sie sollten nicht neidisch sein, sondern stattdessen auch wieder einmal in ein Konzert gehen; denn wenn man sich nur mit Drucksachen und Paragraphen umgibt, dann kommt so etwas heraus, wie Sie es heute vorgelegt haben. ({2}) Ich wollte Ihnen von dem Konzert erzählen: Branduardi hat Geschichtenlieder vom heiligen Franz von Assisi vorgetragen. Wenn es so etwas wie eine Botschaft des heiligen Franz gibt, dann ist es die: Man sollte Wunder und andere Wohltaten nur dann vollbringen, wenn sie das Volk auch versteht und gebrauchen kann. Diesem Maßstab wird Ihr Rentenkonzept nicht gerecht. ({3}) Wie gehen Sie vor? Früher hätten Sie von einem Vermittlungsproblem gesprochen. Das machen Sie dieses Mal nicht; denn der Minister hat alles hinreichend erklärt. Ich weiß, wie gut er das kann. Ich sage Ihnen eines: Indem Sie diesem Gesetzentwurf zustimmen, übernehmen Sie eine Logik, die ich immer mit den Worten beschreiben möchte: Sie verwechseln den Bundestag mit dem Leben. Es gibt nämlich einen himmelweiten Unterschied zwischen „gut“ und „gut erklärt“. ({4}) So haben Sie mit großer Mehrheit beschlossen, sich dem „Basta!“ des Bundeskanzlers anzuschließen. Wir sagen Ihnen aber: Zukunftsfragen der Gesellschaft lassen sich nicht mit „Basta!“ beantworten. ({5}) Wer heute Ja zur Rentenreform sagt, muss sich entscheiden zwischen der Solidargemeinschaft auf der einen Seite oder der Ellenbogengesellschaft auf der anderen Seite, zwischen der Formel: „Stärkere besiegen Schwächere“ oder der Formel: „Einer trage des anderen Last“. Wir finden, Sie haben sich bisher falsch entschieden. ({6}) Wir sagen es Ihnen deshalb ganz deutlich: Der unsoziale Ansatz dieser Reform gehört abgelehnt. Sie müssen mit unserem Widerstand rechnen. Sie können nicht auf uns zählen. Falls es notwendig sein sollte, dies noch einmal zu sagen: Die PDS-Fraktion ist nicht die Westentaschenreserve des Bundeskanzlers. ({7}) Ich will unsere Kritik wiederholen. Wir glauben, dass Sie mit diesem Konzept keine Ergänzungsvorsorge einführen; vielmehr handelt es sich um einen teilweisen Ersatz der gesetzlichen Rente durch eine Privatvorsorge. Es sind eben nicht die 4 Prozent als quantitativer Faktor, über die man streiten müsste. Es geht vielmehr um den Einstieg in den Ausstieg aus der gesetzlichen Rentenversicherung, und das von einer sozialdemokratisch geführten Regierung. ({8}) Sie geben die paritätische Finanzierung teilweise auf. Minister Riester versucht, auch diese Kritik wegzurechnen, aber sie bleibt trotzdem bestehen. Sie wollen die staatliche Förderung von Ungerechtigkeiten zwischen Mann und Frau bei der Förderung privater Vorsorge festschreiben. Zu all dem sagen wir Nein. Ich will den Unterschied zwischen der Kritik seitens der CDU/CSU- und der PDS-Kritik deutlich machen. Herr Seehofer hat gesagt: Das geht schon alles in die richtige Richtung. Ihr wart nur nicht konsequent und habt an vielen Stellen falsch angesetzt. - Unsere Sicht auf die Dinge ist: Im Konzept sind viele Fragen angesprochen und zum Teil auch Verbesserungen vorgenommen worden, die wir anerkennen. Aber der Grundsatz, der Einstieg in den Ausstieg aus der gesetzlichen Rentenversicherung - und das von Sozialdemokraten und Grünen -, stellt den falschen Weg dar. ({9}) - Zur Zukunftsfähigkeit und zu dem, was Sie darunter verstehen, kommen wir noch. Besonders bedrückend finde ich in diesem Streit die Rolle der Grünen. Sie konnten ihre Position bei der Absenkung des Rentenniveaus nicht genug durchsetzen; sie konnten sie nicht schnell genug betreiben. Ich sage Ihnen: Was die Grünen hier machen, ist ein unredliches Spiel. Was sie Generationengerechtigkeit nennen, ist im Grunde ein Setzen auf Generationenneid. Ich glaube, das wird nicht funktionieren. ({10}) Jung und Alt werden den Grünen dafür die rote Karte zeigen, und die haben sie auch verdient. Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie wollten einen Rentenkonsens. Mit wem haben Sie den denn jetzt erreicht? Mit sich selbst, vielleicht mit den großen Wirtschaftsverbänden und mit den - das sagt man wohl nicht immer so direkt - privaten Versicherungsträgern. Sie wollten ja auch die CDU einbinden. Das hat sich jetzt aber wohl gründlich erledigt. Damit ist doch eigentlich die Geschäftsgrundlage für den Konsens, den Sie einmal angestrebt haben, entfallen. Das heißt, der Mitte-RechtsKonsens ist gescheitert. Nun stellen wir Ihnen die Frage: Wenn parlamentarisch alles so offen ist, wie Sie immer sagen, warum in aller Welt versuchen Sie dann nicht, bei der Rentenfrage einen Mitte-Links-Konsens zustande zu bringen, ({11}) und zwar einen Konsens zwischen Ihnen und den Gewerkschaften, den Sozialverbänden, den Rentenversicherungsträgern, den Kirchen und - wir sind zwar bescheiden, aber so selbstlos nun auch wieder nicht - auch der PDS? Wir sagen Ihnen: Es geht auch anders. Politik ist immer Menschenwerk. Wenn Sie in Ihrem Gesetzentwurf unter „Alternativen“ schreiben: „Keine“, dann ist das ein großes Armutszeugnis. Das ist hier noch einmal zu konstatieren. Unser Nein im Grundsatz wird dennoch eine ganze Reihe von Vorschlägen zu Veränderungen in Einzelheiten nach sich ziehen. Wir halten Nachbesserungen für dringend geboten und auch möglich, zum Beispiel bei der Frage nach flexiblen Anwartschaften für alle. Sie haben ja schon Verbesserungen bei den bis 25-jährigen erreicht; wir wollen das gerne ausdehnen. Wir denken, dass der so genannte Ausgleichsfaktor, der ja eigentlich ein Kürzungsbetrag ist, auf den Prüfstand gehört. Dort ist er ja wohl auch gegenwärtig. Über diese Sache müssen wir noch einmal reden. Wir müssen diese Gelegenheit auch nutzen, um Ihnen noch einmal zu sagen - obwohl es nicht Bestandteil dieses Reformgesetzes ist -: Wir brauchen endlich Wege zur Rentenangleichung in Ost und West. ({12}) Das ist natürlich nicht einfach. Sie merken inzwischen, dass sich dies nicht über eine Lohnangleichung regeln lässt. Die Menschen müssen endlich wissen, wann dieser Prozess beginnen und in welchen Schritten er ablaufen wird. Sie wissen, dass die PDS bereit ist, an konstruktiven Lösungen mitzuwirken. Letztendlich sei daran erinnert, dass Sie noch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Beseitigung des Rentenstrafrechts umzusetzen haben. Das ist noch eine von Ihnen einzulösende Bringeschuld. Ich will noch ein Wort zu den Grünen sagen: Sie sprechen von Nachbesserungen im Gesetzgebungsverfahren. Das sagt die Opposition natürlich auch, weil es ihr gutes Recht ist. Die Grünen betreiben aber doch tatsächlich Opposition in der Koalition und der blanke Eigennutz von Minister Fischer wird auch noch mit dem Begriff „professionelle Führung“ beschönigt. ({13}) Wir sagen Ihnen: So wird das Vertrauen in die Politik nicht gestärkt, sondern zerstört. Sie standen einst für Demokratie von unten, jetzt betreiben Sie nur noch Machterhalt von oben. ({14}) Herr Bundeskanzler, Herr Minister Riester, Reformen sind nur etwas wert, wenn sie bei den Bürgerinnen und Bürgern auch ankommen, und zwar im positiven Sinn und nicht als mit einem „Basta!“ verbundene Kürzungsmaßnahme. Die PDS-Fraktion wird sich dafür einsetzen, dass diese Rentenreform nicht so umgesetzt wird, wie sie geplant ist. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Ulla Schmidt von der SPD-Fraktion das Wort.

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Seehofer, ich kann verstehen, dass Ihnen das alles ein bisschen wehtut. ({0}) Es tut nicht nur weh, dass Ihre Parteiführung Sie aus dem Konsensgespräch hinaus katapultiert hat. Es tut auch weh, erleben zu müssen, dass in allen Umfragen allein den Sozialdemokraten und den Grünen Kompetenz bei der Lösung von Alterssicherungsproblemen zugeschrieben wird. ({1}) Aus dem, was Sie gesagt haben, wird klar, dass es schwer fällt, an diesem Reformentwurf wirklich Kritik zu üben; ({2}) ich will gar nicht auf die Details eingehen. Ich schließe mich der „Frankfurter Rundschau“ an und will nicht an Ihrer Intelligenz zweifeln. Allerdings, Herr Kollege Seehofer, muss ich Ihnen vorhalten: Sie haben den Gesetzentwurf nicht gelesen. ({3}) Hätten Sie ihn gelesen, wüssten Sie, dass er nicht sechs verschiedene Formeln beinhaltet. Zu einer Formel gehört - ich komme wieder zum Thema der Intelligenz -, dass sie in sechs Jahren mit sechs unterschiedlichen Zahlen aufgefüllt werden muss, weil die sich jeweils ändernden Daten einbezogen werden müssen. ({4}) Ich könnte noch auf andere Dinge eingehen; alle relevanten Fragen - auch das Problem der Erwerbsunfähigkeit - sind geklärt. Lesen Sie unseren Entwurf! Dann unterhalten wir uns im Ausschuss darüber. Sie werden aber zugeben müssen, dass Ihre Kritikpunkte nicht zutreffen, und dann sind wir wieder ein Stück weiter. Ich könnte auch an Ihr kurzes Gedächtnis erinnern. ({5}) Sie sagen, derjenige sei der Dumme, der länger in Arbeit bleibt bzw. später in Rente geht, weil er dann den Ausgleichsfaktor zu spüren bekommt. Sie haben wohl vergessen, dass eine der letzten Handlungen Ihrer Regierung war, für jeden, der nach dem Jahre 2002 vor dem Erreichen des 65. Lebensjahres in Rente geht, einen Abzug von jeweils 3,6 Prozent vom Rentenanspruch für jedes Jahr vor Erreichen der gesetzlichen Altersrente vorzusehen. ({6}) Jetzt sagen Sie mir einmal, was besser ist: 3,6 Prozent oder 0,3 Prozent? Herr Kollege Seehofer, all das hat etwas damit zu tun, dass Sie die Reform des Arbeitsministers Riester als Quantensprung bezeichnet haben. Dass Sie dies nicht im Zusammenhang mit dem Reformgesetz von Norbert Blüm gesagt haben, lässt vieles über die Qualität dieses Entwurfes erahnen. Deshalb, Frau Kollegin Schwaetzer, ist es kein Hohn, wenn hier von unserer Seite von Generationengerechtigkeit gesprochen wird. Hohn ist - so empfinde ich das oft -, wenn plötzlich von Mitgliedern der früheren Bundesregierung Tag für Tag von sozialer Gerechtigkeit und von den Problemen von Einkommensschwachen gesprochen wird sowie die Frage aufgeworfen wird, was getan werden müsse, um Frauen im Alter stärker abzusichern. Das ist Hohn, weil Sie zur Umsetzung dieser Ziele 16 Jahre lang Zeit hatten. ({7}) ({8}) Ich möchte Ihnen noch sagen, wer die Gewinnerinnen und Gewinner unserer geplanten Reform sind. Gewinner und Gewinnerinnen sind diejenigen, die nur über ein geringes Einkommen verfügen. Diese Menschen zahlen wegen ihres geringen Einkommens immer nur geringe Beiträge in die Rentenversicherung. Am Ende ihres Erwerbslebens hätten sie eine geringe Rente bezogen, die das Sozialhilfeniveau auch heute nicht erreicht. Diese Menschen zählen deswegen zu den Gewinnerinnen und Gewinnern, weil wir mit unserem Reformkonzept diesen Kreislauf zum ersten Mal durchbrechen: Wir geben nämlich einkommensschwachen Personen und Personen, die eine gebrochene Erwerbsbiografie haben, Geld in die Hand, damit sie sich eine zweite Säule der Altersvorsorge aufbauen können. Das ist Sozialpolitik! Das ist Bekämpfung von Altersarmut! ({9}) Ich nenne ein Beispiel, an dem ich das deutlich machen kann. Eine allein erziehende Mutter mit zwei Kindern und einem Bruttoeinkommen von 20 000 DM bekommt, auch wenn sie ein Leben lang erwerbstätig war, nur eine geringe Rente. Angesichts ihrer Situation - 20 000 Bruttoeinkommen, zwei Kinder - raten wir ihr, sich eine zweite Säule aufzubauen: 4 Prozent, das wären 800 DM im Jahr. Und wir fördern sie: Für die beiden Kinder bekommt sie 720 DM im Jahr, ({10}) für sich selbst 300 DM. Insgesamt bekommt sie also 1 020 DM. Wir verlangen nur, dass sie 10 DM im Monat selber dazu gibt, das kann jeder und jede. Wenn diese Frau so angespart hat und in Rente geht, dann bekommt sie neben ihrer normalen Rente eine zusätzliche Rente, die man heute auf fast 800 DM ansetzen kann. Das ist gelebte Sozialpolitik! Das ist eine Rentenpolitik, die Altersarmut verhindert! ({11}) Herr Kollege Seehofer, Sie sind nie auf die Idee gekommen, so etwas zu machen. Dass das also wehtut, kann ich verstehen. Ein weiterer Punkt. Wir wollen verhindern, dass Menschen, weil sie Kinder erziehen, im Alter dafür bestraft werden. Dies trifft vor allem Frauen; bei den Männern sind es nur 2 Prozent. Wir wollen die Zeiten, die Menschen weniger arbeiten oder in denen Sie oft geringer verdienen, weil sie Kindererziehung und Familienarbeit machen, höher bewerten. Auch hier möchte ich ein Beispiel nennen, damit deutlich wird, was dadurch erreicht wird: Eine Mutter von einem Kind, die drei Jahre zu Hause bleibt, bekommt drei Entgeltpunkte, die wir ihr als eigenständige Beitragsleistung geben. Ab dem 4. Lebensjahr des Kindes geht sie wieder arbeiten und verdient 70 Prozent des Durchschnittseinkommens, etwas, was heute bei Frauen leider noch immer normal ist. Wenn das Kind zehn Jahre alt ist, hat die Frau allein aus diesen zehn Jahren einen monatlichen Rentenanspruch von 490 DM. Dies haben heute viele Frauen erst nach einem ganzen Arbeitsleben gehabt. ({12}) Damit machen wir deutlich, dass wir nicht wollen, dass Frauen für die Erziehung von Kindern bestraft werden. Auch sie zählen zu den Gewinnerinnen dieser Reform. Ich könnte die Zahl der Beispiele fortführen. Eine Mutter von drei Kindern hat allein aufgrund der Tatsache, drei Kinder großgezogen zu haben, einen Rentenanspruch von über 500 DM. Das entspricht einer Beitragsleistung von fast 120 000 DM. ({13}) Wer ein behindertes, pflegebedürftiges Kind erzieht - Frau Böhmer, ich appelliere an Ihr christliches Gewissen -, bekommt heute über die Pflegeversicherung 0,75 Entgeltpunkte an Beitragsleistung. Durch unsere Bemühungen bekommt derjenige bis zum 18. Lebensjahr dieses Kindes die Beitragsleistung auf 1 Entgeltpunkt angehoben. Das sind nach heutigem Recht knapp 900 DM an monatlichen Rentenleistungen. Das ist ein Erfolg. Ich bin stolz darauf, dass wir das geschafft haben. ({14}) Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifft die soziale Grundsicherung im Alter, die Sie auch nicht wollen. Für uns hat es etwas mit der Würde der Menschen zu tun, dass sie im Alter nach dem Erwerbsleben nicht zum Sozialamt gehen müssen, um ihre kleine Rente aufzubessern, dass sie, wenn sie 65 Jahre alt sind und mit eigener Erwerbstätigkeit nicht aus der Armut herauskommen, einen Anspruch auf eine soziale Grundsicherung im Alter haben, ohne befürchten zu müssen, dass ihre Kinder hierfür herangezogen werden. Ich frage Sie: Was hat es mit dem christlichen Menschenbild zu tun, dass Sie dies nicht wollen, meine Damen und Herren von der Union? Was hat es mit dem christlichen Menschenbild zu tun, dass Sie nicht wollen, dass wir die Rentenansprüche der Eltern, die diese bei der Erziehung eines pflegebedürftigen behinderten Kindes in den ersten 18 Lebensjahren erworben haben, höher als bisher bewerten und ihren Ulla Schmidt ({15}) Kindern eine soziale Grundsicherung garantieren, um sie wenigstens finanziell zu entlasten? ({16}) Angesichts der Debatte, die Sie zurzeit über die Frage führen, wie der Begriff „Leitkultur“ inhaltlich auszufüllen sei, empfehle ich Ihnen: Diskutieren Sie doch einmal über die Fragen, wie sich die Armut von Menschen bekämpfen lässt und wie die Würde von Menschen gewahrt werden kann! Wenn Sie das tun, dann kommen Sie auch ein Stück weiter. Danke. ({17})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile das Wort nunmehr der Kollegin Dr. Maria Böhmer für die CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Frau Ulla Schmidt sagte eben, es täte weh, was hier geschieht. In der Tat, Frau Schmidt, es tut weh. Aber wem tut es weh? ({0}) Es tut der Mehrzahl der Rentenempfänger in unserem Land weh; denn zwei Drittel aller Rentenempfänger sind Frauen. ({1}) Von 18 Millionen Rentenempfängern sind 11 Millionen Frauen. Ihr Gesetzentwurf ist ein Schlag in das Gesicht der Frauen in Deutschland. ({2}) Sie haben immer gesagt, Sie wollten die Nachteile für Frauen in der Rente beseitigen. Aber wie sieht die Realität aus? Die Kürzung des Rentenniveaus macht viele Rentnerinnen und Rentner zu Sozialhilfeempfängern. Das wird besonders an der Tatsache deutlich, dass die durchschnittliche Frauenrente bei 900 DM pro Monat liegt. So darf man mit Menschen, die ein Leben lang hart gearbeitet haben, in unserem Land nicht umgehen. ({3}) - Sie sprechen von Unwahrheiten? Ich sage Ihnen, wo ich das gelesen habe: Ich habe das im Programm der SPD für die Bundestagswahl 1998 gelesen. Und die SPD selbst bezeichnet dies als Unwahrheit? Sie sollten eigentlich wissen, was Sie den Menschen vor der Wahl versprochen haben. ({4}) Es ist nämlich so: Sie brechen Ihre Wahlversprechen und würden die eigene Kritik von damals am liebsten im Tresor einschließen. Was erreichen Sie mit Ihrem jetzigen Gesetzentwurf? Sie schaffen schmerzliche soziale Ungerechtigkeiten für Frauen in der gesetzlichen Rentenversicherung und in der privaten Vorsorge und leiten mit Ihrem Rentenreformgesetzentwurf - das ist die Krönung, Herr Minister - das Aus für die Witwenrente ein. ({5}) Aber viele Frauen sind auf Witwenrente angewiesen; denn 70 Prozent der Frauen haben heute in Deutschland eine eigene Rente, die niedriger ist als 1 200 DM. Wenn Sie jetzt die Witwenrente wegreformieren, dann bedeutet das, dass Sie die Frauen vor die Türen des Sozialamtes schicken. ({6}) Damit bekämpft man nicht die Altersarmut. Damit produziert man vielmehr neue Altersarmut. Sie behaupten zwar, dass die armen alten Frauen nicht zum Sozialamt gehen müssen, weil der Regress in der Sozialhilfe beseitigt worden ist. Aber tatsächlich schicken Sie sie dorthin. Das ist die Wahrheit. ({7}) Von zentraler Bedeutung ist die Frage: Wie wirkt sich die Senkung des Rentenniveaus auf die Mehrzahl der Rentenempfänger - das sind die Frauen - aus? Wir wissen aus gutem Grund, warum wir auf einem Rentenniveau von 64 Prozent beharren. Aber jetzt spielt sich ein Drama ab. Das Rentenniveau soll nur noch bei 61 Prozent liegen. Der so genannte Eckrentner muss 45 Jahre lang Beiträge dafür gezahlt haben. Aber welche Frau kann schon 45 Jahre Beitragszeiten aufweisen? In den alten Bundesländern liegen die durchschnittlichen Beitragszeiten bei 25 Jahren und in den neuen Bundesländern bei 37 Jahren. Das bedeutet, dass das Niveau der Renten für Frauen auf unter 50 Prozent fallen wird. Das ist ein Skandal ohnegleichen. ({8}) Diese Niveauabsenkung, liebe Kollegen von der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen, trifft Frauen doppelt, nämlich über die eigene Rente und über die Witwenrente. Die Witwenrente berechnet sich aus der gekürzten Rente des Mannes. Frauen sind also von der Rentenkürzung, die Sie vornehmen, doppelt betroffen. Sie sind auch härter betroffen. Für denjenigen, der eine niedrigere Rente hat, ist es wesentlich schmerzlicher, wenn das Rentenniveau sinkt. Wir müssen die Frage stellen, wie solche Versorgungslücken gefüllt werden können. Es ist wichtig, dass die private Vorsorge aufgebaut wird. Es muss aber auch die Frage gestellt werden, ob die Betreffenden das leisten können. Ich sehe immer wieder die Verkäuferin in der Bäckerei vor mir, die einen Stundenlohn von 8 DM hat. Das ist kein Einzelfall. Wie soll die Betreffende mit dem, was Sie ihr bieten, klarkommen? Wie soll sie in der Lage sein, die private Vorsorge mit dem minimalen Einstieg in Ulla Schmidt ({9}) die private Vorsorge überhaupt zu leisten? Ich muss Ihnen sagen: All das, was Sie heute an geplanten Neuregelungen und Verbesserungen für die Frauen verkündet haben, wirkt sich nicht zum Vorteil für die Frauen aus. Sie sprechen von der Aufwertung der Teilzeitbeschäftigung bei der Rente. Dies führt tatsächlich zu einer leichten Verbesserung der Situation der Frauen. ({10}) - Ich werde nicht blass vor Neid, aber ich werde blass, wenn ich sehe, was das unter dem Strich für Frauen bedeutet. Das will ich Ihnen einmal sagen. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Böhmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lassen Sie mich zuerst diesen Gedanken zu Ende führen! Danach können Sie gerne eine Zwischenfrage stellen. Eine Hausfrau, die fünf Jahre Vollzeit gearbeitet hat, diese dann wegen Kindererziehung unterbrochen und danach acht Jahre Teilzeit gearbeitet hat, bekäme nach geltendem Recht 598 DM, eine katastrophal niedrige Rente. Wenn sie die nach Ihrem Gesetzentwurf vorgesehenen kindbezogenen Leistungen bekäme, hätte sie 662 DM. Aber sie muss eine Verringerung des Rentenniveaus verkraften. Damit bekommt sie unterm Strich weniger als heute. Nehmen wir als weiteres Beispiel die Frau, die 39 Jahre Teilzeit gearbeitet und zwei Kinder großgezogen hat. Nach geltendem Recht bekäme sie 1 239 DM. Trotz der Aufbesserung, die Sie für Teilzeitbeschäftigung vorsehen, wird sie später 5 Prozent weniger haben. So sieht die Rechnung aus. Das bedeuten Ihre angeblichen Verbesserungen für Frauen. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Gestatten Sie jetzt die Frage des Kollegen Brandner?

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja.

Klaus Brandner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003053, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Böhmer, Sie haben uns mitgeteilt, dass Sie das Wahlprogramm der SPD gelesen haben, aber nicht, ob Sie auch den Gesetzentwurf zur Rentenreform kennen. ({0}) Ist Ihnen entgangen, dass der Gesetzentwurf vorsieht, dass insbesondere die Entgelte von Frauen, die während der Kindererziehungsphase Teilzeit arbeiten, rentenrechtlich über zehn Jahre so aufgewertet werden, dass diese Frauen auf Rentenversicherungsbeiträge in Höhe des Durchschnittsverdienstniveaus kommen, was letztlich erhebliche Rentensteigerungen zur Folge haben wird?

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, ich bin zum einen etwas verwundert, dass Sie sagen, dass es durchaus einen Unterschied zwischen dem Wahlprogramm der SPD und dem Entwurf, den Sie vorgelegt haben, geben könne. Das ist Ihre Aussage. Sie bestätigen also noch die große Diskrepanz, die hier besteht. Zum anderen habe ich gerade erläutert, dass die Höherbewertung der Teilzeitarbeit durch die Veränderungen des Rentenniveaus für Frauen aufgefressen wird. Alles, was Sie im Bereich der Teilzeitarbeit machen, wird durch die Absenkung des Rentenniveaus für Frauen zunichte gemacht. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Böhmer, nun möchte Frau Schmidt eine Frage stellen. Gestatten Sie diese?

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, bitte.

Ulla Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002019, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin Böhmer, ist Ihnen, wenn Sie den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung gelesen haben, aufgefallen, dass gerade der Rententeil, dem höher bewertete Erziehungszeiten zugrunde liegen, bei der Kürzung durch den Ausgleichsfaktor ausgenommen wurde?

Dr. Maria Böhmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002630, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Schmidt, ich habe mir genau diese Stelle sehr intensiv angesehen. Ich halte es für richtig, dass Sie das so machen. Das ändert aber nichts daran, dass die Absenkung des Rentenniveaus in dieser dramatischen Art und Weise nicht durch die Aufwertung der Teilzeit kompensiert werden kann. ({0}) Im Gegenteil, es kommt unter dem Strich trotz der Aufbesserung der Teilzeitarbeit zu einem Minus für die Frauen. ({1}) - Frau Kollegin, ich möchte weiter antworten und bitte Sie, so freundlich zu sein, meine Antwort auch entgegenzunehmen. Sie haben die Aufwertung nur für die Teilzeitarbeit gemacht. Nur dort berücksichtigen Sie die Kindererziehungszeiten ({2}) und dann - lassen Sie mich erst zu Ende reden -, wenn jemand einen geringen Verdienst hat. Ich habe den Entwurf weitergelesen. Wir haben Ihnen gesagt, dass es nicht nur verfassungsrechtlich bedenklich, sondern auch sozial ungerecht sei, nur bei einer Gruppe von Frauen die Kindererziehungszeiten besser zu bewerten. Gerade die Frauen, die wegen Kindererziehung ihre Erwerbstätigkeit unterbrochen haben, waren bei Ihnen zunächst außen vor. Als Reaktion auf unseren harten Protest haben Sie erklärt, wer zwei oder mehr Kinder habe, solle eine analoge Verbesserung erhalten. Entsprechendes haben Sie für behinderte Kinder getan. ({3}) - Nein, das ist richtig. - Sie haben allerdings die Mütter vergessen, die ein Kind großziehen. Ich frage mich noch heute, worin die Rechtfertigung dafür liegt, dass Kindererziehung bei Ihnen ungleich behandelt wird. ({4}) Frau Schmidt, ich bin mit meiner Antwort noch nicht fertig. ({5}) Ich muss Ihnen nämlich noch sagen, dass die Frauen, die älter sind und ihre Kinder vor 1992 geboren haben - Sie haben den Schnitt ab 1991 gemacht -, keinen Gewinn von Ihren Vorschlägen haben, obwohl sie Teilzeitarbeit verrichten. ({6}) Das heißt, alle Frauen, die ihre Kinder vor 1992 geboren haben, gehen bei Ihnen völlig leer aus. ({7}) Das ist der Skandal an diesem Gesetzentwurf. ({8}) Dies ist besonders dramatisch; denn diese Frauen bekommen geringere Renten, weil sie länger für die Familien da waren. Diese Frauen können keine private Vorsorge mehr aufbauen. Diese Frauen werden von der Absenkung des Rentenniveaus getroffen, obwohl sie dafür gesorgt haben, dass morgen Beitragszahler da sind. So kann man mit der Leistung von Frauen in Deutschland nicht umgehen. ({9}) Frau Schmidt, möchten Sie noch etwas fragen? Ich bin gern zu weiteren Auskünften bereit. ({10}) - Sie können mich gern noch einmal fragen. Wir machen das dann so wie in einer Prüfung. Ich werde Ihnen dann gerne eine Antwort geben. Ich komme nun zur Witwenrente und damit zu dem eigentlichen Drama. Der Begriff „Witwenrente“ ist bis heute nicht angeklungen, obwohl 98 Prozent der Rentnerinnen in Deutschland auf sie angewiesen sind. Jetzt erfolgt eine Mehrfachkürzung bei der Witwenrente. Sie haben im letzten Jahr - das hat die „Bild“-Zeitung als „Horrormeldung aus Bonn“ bezeichnet - angekündigt, dass die Witwenrente gekürzt werden soll. Daraufhin haben wir mit Ihnen gekämpft. Ich habe Sie vor einem Rentenroulette gewarnt, als Sie eine Wahlmöglichkeit zwischen der Hinterbliebenenversorgung und einem Splittingansatz eröffnen wollten. ({11}) Ich habe Ihnen immer gesagt, dass Sie die Finger davon lassen sollen; denn nur derjenige, der weiß, wer in der Ehe zuerst stirbt, kann sicher wählen, welches Modell - Hinterbliebenenversorgung oder Splitting - besser ist. Das aber würde bedeuten, dass Sie den Menschen in Deutschland ein makaberes Vabanquespiel zumuten. ({12}) Wer glaubt, dass Sie aus unserem Vorschlag, die Witwenrente in eine eigenständige Sicherung umzuwandeln und dabei die Kinderzahl zu berücksichtigen, gelernt hätten, muss erneut erkennen, dass sich bei Ihnen das Ganze in Überschriften erschöpft. Sie gehen zwar so vor, dass Sie die Höhe der Witwenrente nach der Kinderzahl staffeln; aber es ist wichtig - wie so oft bei der SPD - nachzurechnen. Nach der Neuregelung ist das Niveau der Witwenrente für eine Hausfrau, wie ich sie eben beschrieben habe, und für eine Frau, die einer Teilzeitbeschäftigung nachgeht, nicht höher als nach geltendem Recht; denn Sie sehen eine Festschreibung des Freibetrages vor und Sie wollen zukünftig alle Einkommen, also auch Sparguthaben - Geld, das man mühselig auf die hohe Kante gelegt hat; ich erinnere an den Fall, dass man das Geld für eine kleine Wohnung gespart hat, die man vermietet -, anrechnen. Ich kann allen in Deutschland nur raten, die Finger von entsprechenden Sparplänen zu lassen; denn das, was die SPD plant, ist völlig kontraproduktiv. Wer spart und später eine Witwenrente bezieht, wird der Dumme sein. ({13}) Unter dem Strich bedeuten Ihre Pläne, dass die Hausfrau durch die Verrechnung bei der Witwenrente zukünftig 11 Prozent weniger bekommt. Eine Frau, die einer Teilzeitbeschäftigung nachgeht, bekommt 29 Prozent weniger und eine Frau, die einer Vollzeitbeschäftigung nachgeht, bekommt sogar 34 Prozent weniger. Obwohl es Frauen gibt, deren Einkommen nach Ihren Plänen im Alter um ein Drittel niedriger ausfällt - das Minus im Portemonnaie kann bei 300 DM liegen -, verkaufen Sie den Menschen draußen, dass Frauen die Gewinnerinnen der Rentenreform sind. Lesen Sie erst einmal Ihren eigenen Entwurf und dann reden wir weiter! ({14}) Unter diesem Gesichtspunkt kann ich Ihnen nur sagen: Eine Rentenreform, die an der Mehrheit der Rentenempfänger vorbeigeht und die für zwei Drittel der Menschen, die heute Rente beziehen, bzw. für die Mehrheit derjenigen, die zukünftig eine Rente beziehen werden, Ungerechtigkeit bedeutet, sowohl was die Gleichbehandlung der Generationen als auch was die zukünftige Situation der Frauen betrifft, verdient es nicht, „zukunftsorientiert“ genannt zu werden. Zur Verständigung über diese Reform werden wir nicht die Hand reichen. ({15})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe der Kollegin Dr. Thea Dückert für die Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen das Wort.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Rentendebatte zeichnet sich schon seit Jahren durch Wortungetüme und Zahlengestrüppe aus. Wer kennt den „Eckrentner“ oder den „Standardrentner“? Wer in unserer Bevölkerung kann glaubhaft nachvollziehen, dass die Behauptung von Herrn Seehofer, der demographische Faktor sei besser als der Ausgleichsfaktor, stimmt? Ich glaube, dass noch nicht einmal Ihre Fraktion das wirklich versteht. ({0}) Das heißt, das Problem ist schwer zu lösen. Niemand versteht eine Fachdebatte, wie sie hier geführt wird. Die Mehrheit der Bevölkerung versteht aber, worum es im Kern geht. Der normale Menschenverstand legt einem eines nahe: Wer erlebt und weiß, dass die Bevölkerung insgesamt heutzutage eine höhere Lebenserwartung hat - was zu begrüßen ist -, dass in dieser Gesellschaft aber gleichzeitig weniger Kinder geboren werden, der kann an fünf Fingern abzählen, dass es mit der Umlagefinanzierung Probleme geben muss und geben wird. Das haben die Menschen erkannt. Aus eigener Anschauung wissen sie, dass die gesetzliche Rentenversicherung einer grundsätzlichen Reform bedarf. Wichtig ist vor allen Dingen, dass sie ein zweites - kapitalgedecktes - Standbein bekommt. Übrigens, Frau Schwaetzer, wir führen eine kapitalgedeckte Säule ein, die Sie zu Ihrer Regierungszeit nicht haben durchsetzen können. ({1}) - Das war mit Blüm nicht zu machen. Ich danke Ihnen. Gleichzeitig steigen wir - Sie haben das hier angezweifelt - in die nachgelagerte Besteuerung ein. Ich freue mich, dass wir seit gestern nachlesen können, dass der Sachverständigenrat, der der Arbeits- und Sozialpolitik der Bundesregierung ja nicht unbedingt immer sehr positiv gegenübersteht, sagt, dass wir gerade an dieser Stelle Probleme der Zukunft aufgreifen und dass deswegen unser Handeln zukunftsfähig ist. ({2}) Es braucht Mut, das, was eigentlich so einfach nachzuvollziehen ist, auszusprechen und hier Wahrheiten zu benennen. Die eine Wahrheit ist: Die gesetzliche Rente reicht in der Zukunft nicht aus, um den Lebensstandard zu sichern. Walter Riester hat vor anderthalb Jahren dieses das erste Mal sehr deutlich gesagt. Diese Aussage ist in der „Bild“Zeitung, natürlich mit freundlicher Unterstützung der Opposition, ({3}) zerrissen worden. Seine Aussage ist mit Argumenten zerrissen worden wie: Den Rentnern wird in die Tasche gegriffen. Seine Aussage meinte aber vielmehr, dass die junge Generation wegen der demographischen Entwicklung zukünftig Probleme mit der Rente bekommen wird. Das heißt, dass der jungen Generation Lösungen für die Zukunft angeboten werden müssen, weil nicht die Generation, die schon in Rente ist, dieses Problem hat. Das Problem entsteht dadurch, dass beispielsweise der Altersaufbau dieser Gesellschaft im Jahre 2030 völlig anders aussehen wird. Eine zweite Wahrheit, die wir im Zusammenhang mit dieser Rentenreform benennen müssen, lautet, dass die Belastungen steigen werden. Wir müssen darüber reden, dass wir diese Belastungen gerecht und fair zwischen den Generationen verteilen. Für uns, meine Damen und Herren, bedeutet das, dass auch die ältere Generation ihren Beitrag leisten muss. ({4}) - Wir verraten Ihnen gerne, auf welche Weise: nämlich durch einen geringeren und langsameren Anstieg der Renten, und zwar schon in dieser Legislaturperiode. Das ist der Beitrag der älteren Generation. Daraus haben wir nie einen Hehl gemacht. Ich bitte Sie von der Opposition, dieses endlich ehrlich und gemeinsam mit uns auszusprechen. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Dückert, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Knake-Werner?

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, gerne.

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Kollegin Dückert, könnten Sie mir die Frage beantworten, warum Sie die zukünftige Rentenlast zwar gerecht zwischen den Generationen, aber ganz offensichtlich nicht gerecht zwischen Arbeitgebern und abhängig Beschäftigten verteilen wollen? Es ist ja wohl eindeutig, dass nach Ihrem Konzept die Arbeitgeber künftig 11 Prozent in die Rentenversicherung einzahlen sollen, die abhängig Beschäftigten und damit die junge Generation aber 15 Prozent. Wie erklären Sie sich denn diese Ungerechtigkeit? Ich finde, das hat mit sozialer Gerechtigkeit nicht so viel zu tun.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Knake-Werner, wir stimmen sicherlich in dem Punkt überein, dass man unterschiedliche Perspektiven wählen kann, um die Frage der sozialen Gerechtigkeit zu betrachten. Sie geben hier ein Argument zu bedenken, das auch die Gewerkschaften vortragen, nämlich dass der Einstieg in die private Vorsorge die paritätische Finanzierung sozusagen untergraben würde. Ich habe eben vorgetragen, dass das Grundproblem darin besteht, ({0}) dass das zukünftige Rentenniveau der gesetzlichen Rentenversicherung den Lebensstandard der jeweiligen Generation nicht mehr sichern kann und wir deshalb zusätzlich private Vorsorge brauchen. Die gesetzliche Rentenversicherung ist paritätisch finanziert und wird paritätisch finanziert bleiben. Aber wir besitzen die Ehrlichkeit, der jungen Generation heute zu sagen: Liebe Leute, wenn ihr euren heutigen Lebensstandard auch als Rentner haben wollt, dann müsst ihr zusätzlich privat vorsorgen. Wir schreiben ihnen nicht vor, wie sie privat vorsorgen sollen - private Vorsorge heißt, einen eigenen Beitrag zu leisten -, sondern wir geben ihnen einen Zuschuss zur privaten Vorsorge. Sie müssen also nicht alleine dafür sorgen, schon gar nicht die Bezieher kleiner Einkommen. Außerdem haben sie die Wahl zwischen der privaten und der betrieblichen Vorsorge. Sie wissen, dass über Tarifverträge allerlei Zuschuss von Arbeitgebern für die betriebliche Vorsorge ausgehandelt werden kann bzw. auch schon existiert. Deswegen sage ich Ihnen: Es ist ein Abtauchen vor der Realität, wenn Sie behaupten, dass wir hier Gerechtigkeit untergraben. Nein, wir geben hier vielmehr eine Handlungsmöglichkeit gerade für die junge Generation, selbstständig mit Unterstützung des Staates ihre Rente zu sichern.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Dückert, gestatten Sie eine Zusatzfrage von Frau KnakeWerner?

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Außerdem hat sich der Kollege Seehofer zu einer Zwischenfrage gemeldet. Ihre Redezeit wird dadurch nicht beeinträchtigt.

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Ich habe gefragt: Wie wollen Sie denn eigentlich die Arbeitgeber in Ihr Konzept von sozialer Gerechtigkeit einbeziehen? Darauf haben Sie jetzt nicht reagiert. Das wüsste ich aber gerne, weil unser Verständnis von Parität, von solidarischer Finanzierung der Rentenversicherung, bisher ist, die Beiträge zwischen Arbeitgebern und abhängig Beschäftigten aufzusplitten. Jetzt haben Sie ein anderes Konzept gewählt: Absenkung des Rentenniveaus und ergänzende private Vorsorge, um so die heute bestehende gesetzliche Rente zu sichern. Da bleiben die Arbeitgeber vor der Tür. Wie wollen Sie die Arbeitgeber in Ihr Konzept einbeziehen?

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Knake-Werner, es tut mit Leid, Sie haben mir vielleicht nicht richtig zugehört. Ich glaube, ich habe eindeutig und unmissverständlich gesagt, dass die gesetzliche Rentenversicherung in der Vergangenheit, zum heutigen Zeitpunkt und in der Zukunft paritätisch finanziert wird, dass wir den Menschen aber sagen, dass wir ihnen, wenn sie sich zusätzlich besser absichern wollen, Hilfestellung geben. Ich denke, das ist, was Chancenverteilung anbelangt, eine angemessene, faire Reaktion und auch eine gerechte Reaktion auf die Veränderungen in dieser Gesellschaft. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Seehofer.

Horst Seehofer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002140, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Dückert, Sie haben gerade gesagt, Sie wollten den Menschen nicht vorschreiben, wie sie sparen und ob sie sparen. Das hat mich jetzt doch etwas überrascht; denn wir haben heute Nacht in Ihrem Gesetzentwurf einen neuen Satz gefunden, der da lautet: Ob der Abschluss eines privaten Altersversicherungsvertrages obligatorisch vorgesehen werden soll, ist im Laufe der weiteren Legislaturperiode zu prüfen. Das heißt, im Gegensatz zu allen bisherigen Gesprächen, die wir geführt haben, spielen Sie jetzt mit dem Gedanken, in Deutschland einen Sparzwang einzuführen. ({0}) Sie schreiben ja von Prüfung in der „weiteren Legislaturperiode“. Haben Sie die Absicht - mich interessiert jetzt die Meinung der Grünen -, das den Menschen noch vor der Bundestagswahl zu sagen oder erst anschließend? ({1})

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Seehofer, ich antworte Ihnen gerne auf diese Frage, aber ich muss zunächst darauf hinweisen: Sie haben meine letzte Antwort missinterpretiert. Wenn ich von Wahlfreiheit bei der privaten Vorsorge sprach, dann habe ich von der Freiheit für den Arbeitnehmer und für alle anderen gesprochen, zwischen den Systemen privater und betrieblicher Vorsorge und auch die Anlageform frei zu wählen. Die Frage, ob wir bei der zusätzlichen, kapitalgedeckten Vorsorge zukünftig zu einem Obligatorium kommen müssen, ist im Moment abschließend nicht zu beantworten. Ich sage: Es kann sein. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass die Stütze, die wir als Hilfe für den Aufbau der privaten Förderung geben, und zwar gerade Beziehern kleiner Einkommen, gerade Menschen mit Kindern, zu einer privaten Vorsorge in jedem einzelnen Haushalt führen wird. Und dann wird dieses Obligatorium nicht notwendig sein. ({0}) Meine Damen und Herren, ich möchte meine Rede fortsetzen und dabei an eine Äußerung aus der CDU/CSU anknüpfen. Herr Seehofer hat uns vorhin mit der Kritik an unserem Konzept - es macht eben das, was er Quantensprung nennt, nämlich Aufbau der privaten Vorsorge, der kapitalgedeckten Vorsorge - gesagt, dieses alles sei nicht genug. Die CDU/CSU hat ihre Kritik formuliert: Es reicht alles nicht; es reicht an keiner Stelle: Es reicht nicht bei der Frauenförderung und so weiter. Herr Seehofer wollte uns das blümsche Konzept verkaufen. Meine Damen und Herren, wir können hier trefflich über Faktoren streiten; dazu sagte ich eingangs etwas. Aber wir können nicht darüber streiten, dass die Zukunftsfragen in der blümschen Rentenreform überhaupt nicht angedacht worden waren. ({1}) Wo ist in der blümschen Rentenreform auch nur ansatzweise der Aufbau einer kapitalgedeckten Altersvorsorge sichtbar, was Sie, Herr Seehofer, heute als Quantensprung bezeichnen? Sie haben über das Ganze geredet, getan haben Sie nichts; es war ein Nullangebot hinsichtlich der Zukunftsfragen. ({2}) Wo in Ihrem Konzept - Frau Schwaetzer hat es ja gerade zugegeben - ist zum Beispiel die nachgelagerte Besteuerung angegangen worden? ({3}) - Frau Schwaetzer, Sie wollen uns hier ein längst ausgelaufenes Modell als Rentenkonzept verkaufen. ({4}) Wir haben in der Zukunft ganz andere Probleme zu lösen und dazu brauchen wir die kapitalgedeckte Altersvorsorge und übrigens auch die nachgelagerte Besteuerung. ({5}) Sie haben genau diese Herausforderung verschlafen, meine Damen und Herren. ({6}) Sie verlangen bei der privaten Vorsorge eine verstärkte Förderung für Familien mit Kindern. Dazu möchte ich zwei Dinge festhalten. Erstens. Wir sorgen nicht nur für eine steuerliche Unterstützung, sondern wir haben für diejenigen mit kleinem Einkommen, die keine Steuern zahlen - weil wir eine gute Steuerreform gemacht haben -, einen direkten Zuschuss vorgesehen. Wir nehmen viel Geld in die Hand, für den Zuschuss bei kleinen Einkommen beispielsweise 20 Milliarden DM. Zweitens. Wir haben einen doppelten Kinderfaktor vorgesehen, das heißt, je mehr Kinder jemand hat, desto geringer wird der Mindestbeitrag, den er leisten muss, um in die private Vorsorge zu kommen. ({7}) Aber nicht genug damit: Für jedes Kind gibt es 360 DM. Wir haben vorhin gehört, was das zum Beispiel für eine Alleinerziehende mit zwei Kindern bedeutet, die dann mit 10 DM Monatsbeitrag in eine mit über 2 000 DM recht gut finanzierte private Altersvorsorge kommen kann. Auch hier läuft Ihre Kritik vollständig ins Leere. Allerdings haben wir für die Frauen an dieser Stelle noch sehr viel mehr getan. Die Ehefrau zum Beispiel, die nicht arbeitet, weil sie die Kinder erzieht, wird mit diesem Konzept - das ist eingeklagt worden - eigenständig finanziert. Eine Frau mit zwei Kindern kann so 1 200 DM als Zuschuss für die private Vorsorge für sich geltend machen. Das sind keine Peanuts, das ist nicht gar nichts, wie Sie es uns geboten haben, sondern das ist ein reales Angebot an die Frauen. ({8}) Mich freut an dieser Stelle besonders, dass Alleinerziehende durch unseren Ansatz in den Genuss einer zusätzlichen Unterstützung kommen, nicht nur bei der privaten Vorsorge, sondern auch bei der Rente. Was Sie vorhin diskutiert haben, nämlich dass jetzt endlich die Erziehung des Kindes während der ersten zehn Jahre quasi mit zusätzlichen Beiträgen in die Rentenversicherung unterstützt wird, hilft gerade allein erziehenden Frauen. Wenn eine Frau im vierten Lebensjahr ihres Kindes in Arbeit geht, Teilzeit oder Vollzeit, wird sie unterdurchschnittlich verdienen. Das ist in dieser Gesellschaft so, die Frauen in dieser Weise diskriminiert. Aber sie wird, wenn sie arbeiten geht, für die Jahre bis zum zehnten Lebensjahr des Kindes einen Beitragsgegenwert von etwa 22 000 DM bekommen. Ich frage Sie: Ist das nichts oder ist das eine Unterstützung der allein erziehenden Frauen? ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Dückert, Sie haben Ihre Redezeit jetzt deutlich überschritten. Ich schlage vor, dass Sie einen schönen Abschlusssatz formulieren. ({0})

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich mache jetzt einen schönen Abschluss. Erstens möchte ich, auch an Frau Böhmer gerichtet, sagen, dass wir eine ehrliche Debatte wollen. Dazu gehört übrigens, dass Sie hier nicht verbreiten dürfen, dass Witwen heute eine gekürzte Hinterbliebenenrente bekommen. ({0}) Nur bei Frauen, die heute unter 40 Jahre sind, wird die Regelung überhaupt greifen. Wir wollen auch nicht, dass die Frauen am Kochtopf kleben bleiben. ({1}) Zweitens sage ich abschließend: Ich glaube, wir haben ein rundes Konzept, das mutig ist, weil es Wahrheiten anspricht, das einen Quantensprung bedeutet, weil wir in die private Vorsorge gehen, ({2}) das Frauen hilft, vor allem Alleinerziehenden, und das Erwerbsbiografielücken auffüllt. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die F.D.P.-Fraktion spricht nun der Kollege Dr. Hermann Otto Solms.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den vier Minuten Redezeit, die mir verbleiben, kann ich mich auf nur wenige Punkte konzentrieren. Ich war ja doch überrascht, Frau Kollegin Dückert, dass Sie jetzt wieder die nachgelagerte Besteuerung angemahnt haben. Sie hätten doch genug Zeit gehabt, dies in der Koalition durchzusetzen. ({0}) Aber die Grünen haben ja folgendes Leitmotiv: Vorher werden die Backen aufgeblasen und große Forderungen gestellt. Dann gibt es dramatische Verhandlungen und zum Schluss kommt das heraus, was die SPD schon vorher angekündigt hat. - Das haben wir in dieser Woche erlebt, als das neue Sprecherduo Kuhn/Künast erhebliche Veränderungen gefordert hat und hinterher nichts herausgekommen ist. Sie sind als Sturmvögel gestartet und als Teichhühner gelandet. ({1}) Das erleben wir die ganze Zeit: Die nachgelagerte Besteuerung gilt nur für die private Vorsorge. Es bleibt, wie Herr Riester vorgeschlagen hat, bei der Verschiebung der privaten Vorsorge. Die Forderungen der Grünen sind abgelehnt bzw. schubladiert worden. Im Rahmen der Invalidenrente sollten ursprünglich keine Kosten auf die Krankenversicherung übertragen werden. Genau das Gegenteil ist jetzt eingetreten: ({2}) 250 Millionen DM werden auf die Krankenversicherung übertragen. Über die restlichen Kosten in Höhe von 50 Millionen DM ist noch nicht entschieden. Die werden wahrscheinlich ein Jahr später bei der Krankenversicherung landen. Die junge Generation soll geschont werden. Das ist doch das Generalthema der Grünen; das ist übrigens auch unser Generalthema. Nur, genau das Gegenteil tritt ein: Wer kann mir erklären, wie die junge Generation geschont wird, wenn deren Beiträge in Zukunft auf 26 bzw. 28 Prozent steigen? Genau das ist hier vorgesehen. ({3}) Herr Riester, davon zu sprechen, dass die derzeitigen Beiträge von 19,1 gesenkt werden, das ist mathematisch einfach nicht erklärbar, wenn sie nach Ihrem Plan auf 26 bis 28 Prozent steigen sollen. ({4}) Ein interessanter Punkt ist hier noch gar nicht angesprochen worden: In den Annahmen, die diesen Berechnungen zugrunde liegen, ist eine zehn- bis zwanzigjährige Periode der Hochkonjunktur vorgesehen. Die Berechnungen, so wie sie jetzt durchgeführt worden sind, treten nur dann ein, wenn dies auch so ist. ({5}) Wenn aber die Entwicklung so verläuft, wie sie immer war, nämlich dass es auch einmal konjunkturelle Rückschläge gibt, dann werden allein die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung - das wird schon heute von den Fachleuten so berechnet - auf etwa 23 bzw. 24 Prozent ansteigen. Kämen noch 4 Prozentpunkte für die private Vorsorge hinzu, ergäbe sich ein Beitragsniveau von 28 Prozent allein für die Rentenversicherung. Die Beiträge für die Krankenversicherung und für die Pflegeversicherung werden aller Voraussicht nach ebenDr. Thea Dückert falls ansteigen. Wir erreichen somit ein Beitragsniveau, das man jungen Menschen wirklich nicht mehr zumuten kann. ({6}) Es wäre unverantwortlich, dem die Zustimmung zu geben. Denn unser Grundanliegen ist: Die Lastenverteilung muss für die Generationen gerecht gestaltet werden. Den gleichen Fehler begehen Sie bei dem von Ihnen vorgesehenen so genannten Ausgleichsfaktor. Er kommt zu spät, trifft einseitig die junge Generation und veranlasst die Menschen, vorzeitig in Rente zu gehen. Er ist also völlig falsch angelegt. ({7}) Dies ist ein zweiter Punkt, bei dem deutlich wird, dass die junge Generation die Hauptlasten zu tragen hat, dass die Lasten steigen und dass von Generationengerechtigkeit überhaupt nichts übrig bleibt. Ich möchte die Sprüche der Grünen über das Erfordernis der Generationengerechtigkeit nicht mehr hören. Sie haben auf der gesamten Front versagt und in den Rentenreformverhandlungen überhaupt nichts durchgesetzt. ({8}) Lassen Sie mich abschließend ein Wort zur privaten Vorsorge sagen: Der in diesem Zusammenhang vorgesehene Anlagekatalog wird von Verhandlungswoche zu Verhandlungswoche immer enger geschnürt. Jetzt wird er angeblich auch noch mit einem Tarifvorbehalt versehen. Wenn Sie einen gesetzlichen Tarifvorbehalt einführen, dann ist das eine Kriegserklärung gegen das Bündnis für Arbeit. Das sage ich Ihnen voraus. ({9}) Dann brummt es aber in Deutschland. Das hieße ja, dass die gesetzlich vorgesehene Förderung der Vorsorgebeiträge daran gebunden ist, dass sie in Tarifverträgen so ausgehandelt wird. Da, wo dies nicht geschieht, würden die Arbeitnehmer außen vor bleiben. Das kann doch wirklich nicht sein. Ich habe nichts dagegen, dass tarifvertraglich etwas vereinbart wird. Das entspricht ja auch der Tarifautonomie. Aber die gesetzlichen Bedingungen können doch nicht an Tarifverträge geknüpft werden. Frau Dückert, da hätten Sie verhandeln können. Dieser Punkt ist jetzt plötzlich neu in der Öffentlichkeit bekannt gegeben worden. Ich frage mich, wo Ihr Einfluss geblieben ist. Meine Damen und Herren, so, wie es jetzt vorgesehen ist, ist das nicht zustimmungsfähig. Wir sind gern bereit, an den Verhandlungen konstruktiv teilzunehmen, aber ich sehe nicht, wie in den drei verbleibenden Sitzungswochen - wenn Sie die Haushaltswoche ausklammern, bleiben nicht mehr Sitzungswochen - eine grundsätzliche Verhandlung dieses sehr komplexen und komplizierten Sachverhalts durchgeführt werden kann. ({10}) Wir haben uns von Anfang an konstruktiv an den Verhandlungen beteiligt. Nach den vielen Haken, die Sie geschlagen haben, sind wir aber heute verwirrter als am Anfang der Diskussion. Ich bitte Sie, klären Sie erst einmal die Meinungsverschiedenheiten in Ihren Reihen, danach reden wir über das, was Sie als Vorschläge vorlegen. Mit dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf wird das kaum möglich sein. Vielen Dank. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der PDS spricht der Kollege Dr. Ilja Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Betroffene auf den Rängen und im Lande! Wir reden heute nicht nur - in erster Lesung - über das Rentenreformkonzept der Bundesregierung, sondern wir sollen auch das Erwerbsminderungsrentenverschlechterungsgesetz verabschieden. Die PDS lehnt den vorliegenden Gesetzentwurf ab. Ich hätte ungefähr elfundneunzig Punkte, das hier zu begründen, werde mich aber auf wenige beschränken, weil mich die Zeit dazu zwingt. Ihr eigener Entwurf, Herr Minister, entspricht weder der Maßgabe der 1998 von Ihnen getroffenen Koalitionsvereinbarung, die vorsah, bis zum 31. Dezember dieses Jahres eine Regelung für eine armutsfeste Erwerbsminderungsrente vorzulegen, noch - das ist für uns wichtiger - entspricht er den Interessen der betroffenen Menschen. ({0}) Mit der Erlaubnis von Herrn Jörg Rosin aus Kempen, nahe der niederländischen Grenze, möchte ich daher aus einem Schreiben an den Petitionsausschuss des Bundestages zitieren - ich glaube, es sagt genug aus -: Ich möchte mich in einer besonderen Notlage an Sie wenden und hoffe, dass Sie mir helfen können ... Ich wurde am 17. 6. 1962 geboren. Seit 1981 bin ich durch einen Verkehrsunfall querschnittsgelähmt und ständig auf einen Rollstuhl angewiesen. Seit 1983 beziehe ich eine Erwerbsunfähigkeitsrente und gehe „auf Kosten meiner Gesundheit“ einer Halbtagsbeschäftigung bei der Stadtverwaltung Kempen nach. Dadurch habe ich Gesamteinkünfte von circa 3 400 DM brutto. Durch die Rentenreform, die ab Januar 2001 für mich gilt, ändert sich Folgendes: Zunächst einmal wird die Erwerbsunfähigkeitsrente in eine um ein Drittel niedrigere Berufsunfähigkeitsrente umgewandelt. Um diese voll zu erhalten, dürfte mein Einkommen allerdings 1 250 DM brutto nicht übersteigen. Durch mein zu hohes Gehalt bei der Stadtverwaltung ({1}) bekomme ich ab Januar 2001 nur noch ein Drittel der BU-Rente. In DM ausgedrückt bedeutet das, dass ich ab Januar 2001 circa 1 900 DM Bruttogehalt plus circa 350 DM BURente bekomme. Schätzungsweise wird ein Nettoeinkommen von circa 1 920 DM übrig bleiben. Zudem wird mein Krankenkassenbeitrag vom ermäßigten auf den normalen Beitrag angehoben. Allein zum Wohnen muss ich monatlich circa 1 250 DM ({2}) aufbringen. Demnach stehen meiner Frau und mir circa 670 DM für Lebensmittel, Auto, Kleidung, Telefon, Versicherung usw. zur Verfügung. Aufgrund meiner Behinderung gehe ich durch die Halbtagsbeschäftigung über meine körperlichen Möglichkeiten hinaus, weshalb es mir nicht möglich ist, noch mehr zu arbeiten und mehr Geld zu verdienen. Ich finde so eine Art der Rentenreform, gelinde gesagt, behindertenfeindlich, weil der Staat uns dadurch in eine Situation hineindrängt, aus der es keinen Ausweg gibt. Würde ich meine Arbeit aufgeben, um die EU-Rente in Anspruch zu nehmen, müsste ich mit circa 1 600 DM brutto auskommen. Das ist zudem ein Schritt, den ich nicht gehen möchte, weil ich meine verbleibende Arbeitskraft nutzen möchte, um so auch am öffentlichen Leben teilzuhaben. Wie ich die Sache auch drehe und wende, der Staat hat mich durch diese Reform absolut ins finanzielle Abseits gedrängt. So weit der Brief von Herrn Rosin. Ich fordere deshalb - jetzt spricht wieder der PDS-Abgeordnete - die Bundesregierung auf: Ziehen Sie dieses Gesetz, das ein Erwerbsminderungsverschlechterungsgesetz ist, zurück! Heute haben Sie dazu noch die Chance. Bleiben Sie bei der geltenden, für die Betroffenen günstigeren Rechtslage wenigstens noch für ein Jahr. Sie hätten, auch die Möglichkeit, das RRG 99, das die CDU/CSUF.D.P.-Regierung beschlossen hat, abzuschaffen. Dann würde der jetzige Zustand weiterhin gelten, der immer noch besser als das ist, was Sie uns vorlegen. Der jetzt geplante Ausstieg aus der Solidarität mit einer der schwächsten Gruppen in der Gesellschaft darf so nicht durchgehen. Das betrifft sowohl Menschen, die HIV-positiv sind, wie Menschen mit chronischen Krankheiten, etwa durch Arbeit verursacht oder durch Unfall Geschädigte. Wir, die PDS, sagen dazu: Mit uns ist eine derart unsoziale Regelung nicht zu machen. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion gebe ich nun dem Kollegen Horst Schild das Wort.

Horst Schild (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002775, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich am Anfang noch zwei oder drei Anmerkungen zu dem machen, was der Kollege Seehofer vorhin gesagt hat. Ich denke, es ist angemessen, beim Vortragen des einen oder anderen Argumentes im Umgang einigermaßen fair zu sein. Wenn Sie beispielsweise sagen, Kollege Seehofer, dass es lächerlich sei, wegen 13 Millionen DM die Förderung der zweiten und dritten Säule um ein Jahr zu verschieben, dann weiß ich nicht, wie Sie auf die 13 Millionen DM kommen. ({0}) Eines müssen wir vorab klarstellen - es ist hier nicht so deutlich gesagt worden -: Es handelt sich um eine Verdopplung des Fördervolumens im ersten Jahr des Beginns dieser Förderung. ({1}) - Es ist eine Verdopplung. ({2}) - Das ist klar. Darüber können wir reden. Aber wir müssen der Fairness halber sagen: Wenn ich insgesamt ein Entlastungsvolumen von 20 Milliarden DM habe und dies - bezogen auf acht Jahre - pro Jahr im Durchschnitt 2,5 Milliarden DM weniger Steuern einbringt, dann bedeutet natürlich auch die Verdopplung des Einstiegsvolumens einen zusätzlichen Ausfall von etwa 2,5 Milliarden DM. Darüber können Sie gerne einmal mit den Ihrer eigenen Partei angehörenden Finanzministern sprechen. Sie machen unserem Finanzminister und dem Deutschen Bundestag Probleme, wenn es beispielsweise darum geht, der Erhöhung der Fahrtkostenpauschale zuzustimmen. Aber darüber kann man reden. Bloß muss dabei ehrlich argumentiert werden. ({3}) Ein zweiter Punkt: Es ist nicht zutreffend - ich rede jetzt nicht über den Diskussionsentwurf, sondern über den heute hier vorliegenden Gesetzentwurf -, wenn hier behauptet wird, die Durchführungswege der betrieblichen Altersvorsorge seien in diesem Gesetz nicht enthalten. Es ist eindeutig, auch wenn es im Detail noch Nachbesserungen geben mag: Die Direktzusage und die Pensionskasse als zwei Durchführungswege der betrieblichen Altersvorsorge sind durch diesen Gesetzestext erfasst. ({4}) Wir haben deutlich gesagt - das findet man in der Begründung des Gesetzentwurfes -, dass wir die weiteren Durchführungswege, nämlich die Unterstützungskasse und die Pensionszusage daraufhin prüfen werden, wie weit gegebenenfalls diese Durchführungswege in dieses Förderinstrumentarium eingefasst sind. ({5}) Frau Kollegin Schwaetzer, Sie haben vorhin gesagt: Die Regierung und die sie tragenden Fraktionen haben nicht den Mut gehabt, den Einstieg in die nachgelagerte Besteuerung vorzunehmen. ({6}) - Nein, Sie haben vorhin gesagt, wir hätten nicht den Mut gehabt, den Einstieg in die nachgelagerte Besteuerung vorzunehmen. ({7}) Kollege Solms hat so getan, als sei es gar nichts, was man hier gemacht hätte. ({8}) Ich freue mich, dass man mit diesem Gesetzentwurf dem Hause offensichtlich als Neuigkeit den Einstieg in die nachgelagerte Besteuerung verkünden kann, der in der Tat - ich schränke das jetzt ein - im Bereich der zusätzlich geförderten Altersvorsorge erfasst ist. Sie müssen auch einmal sehen, welches Fördervolumen einschließlich der Eigenbeiträge in den nächsten Jahren steuerfrei gestellt wird. Niemand wird das heute sagen können. Wir hoffen, dass ein Großteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des Personenkreises, der in diesem Gesetz genannt ist, diese Möglichkeiten in Zukunft auch nutzt. Wenn sie genutzt werden, dann handelt es sich um ein enormes Volumen, das steuerfrei gestellt wird. Es befindet sich mindestens im zweistelligen Milliardenbereich. Man muss das Ganze natürlich ernsthaft prüfen. ({9}) - Ja, das ist etwas, worauf wir stolz sind, Herr Kollege. Dieser Einstieg ist doch immer wieder gefordert worden, und zwar nicht nur von der Wissenschaft oder von denen, die im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge tätig sind. Er ist doch auch von diesem Hause gefordert worden. ({10}) - Herr Kollege Seehofer, eines müssen wir zur Kenntnis nehmen: Wenn wir die nachgelagerte Besteuerung wollen, dann hat das auch Konsequenzen für die steuerliche Behandlung der Ansparphase. Wir können uns doch nicht jeweils nur die Rosinen herauspicken. ({11}) - Ich versuche gerade deutlich zu machen: Wir tun es ja. Wir haben hier kein Förderinstrument eingesetzt, das alle gleich behandelt. ({12}) - Herr Kollege Laumann, ich versuche, gleich darauf einzugehen. - Wir haben vielmehr ein Förderinstrument eingesetzt, das insbesondere auf Familien mit Kindern bei kleinem und durchschnittlichem Einkommen abzielt. ({13}) Wenn Sie sagen: „Wir wollen in dieser Republik den progressiven Steuertarif abschaffen“, dann mag man sich darüber unterhalten, wie man bisweilen die Kluft zwischen Zulage und steuerlicher Entlastung schließt. Solange wir einen Steuertarif haben, der progressiv gestaltet ist, geht das nicht - so schwer uns das auch ankommen mag. Auch wir würden gerne die Lücke zwischen Kindergeld und steuerlicher Entlastung für Kinder schließen. Das Problem werden wir erst dann lösen, wenn der Förderbeitrag so hoch ist, dass er an der Beitragsbemessungsgrenze dem Grenzsteuersatz entspricht. Eher geht das nicht. Eher können wir die Lücke nicht schließen. Wir müssen uns entscheiden, was wir wollen. Wir wollen in der Ansparphase steuerfrei stellen. Das hat auch Konsequenzen. Erstmalig werden die hier im Gesetz genannten Durchführungswege bzw. Anlagemöglichkeiten alle gleich behandelt: ({14}) ob Lebensversicherung, ob Banksparplan, ob Investmentfonds. Es hat auch Konsequenzen im Hinblick auf das, was sich in den Jahren aufbaut. Am Ende steht bei Eintritt in die Rente ein viel größeres Volumen zur Verfügung, als wenn wir beispielsweise in der Aufbauphase immer wieder einen steuerlichen Zugriff haben. Da kommt am Ende mehr heraus. Das kann man gut nachrechnen. Darauf sind wir stolz. Das Ganze hat natürlich auch Konsequenzen für Überlegungen zur möglichen zukünftigen steuerlichen Behandlung aller Alterssysteme. Ich möchte abschließend noch darauf hinweisen: Wenn wir einmal die Verbindung zwischen dem Steuerentlastungsgesetz und dem herstellen, was wir an zusätzlicher Förderung in den Gesetzentwurf eingestellt haben, dann stellen wir beispielsweise fest: Ein verheirateter Durchschnittsverdiener mit zwei Kindern wird im Jahre 2002 durch das Steuerentlastungsgesetz 3 000 DM weniger zahlen und er erhält zusätzlich 328 DM Fördervolumen. Das sind 3 328 Mark mehr als bisher. Im Jahre 2005 steigt die Entlastung durch die Steuerreform auf 4 000 DM plus 657 DM aus dem Altersvermögensgesetz. Das sind Spielräume, die wir in der Vergangenheit nicht gehabt haben. Ich denke, diese Spielräume werden in Zukunft dazu beitragen, dass diejenigen, die in der Vergangenheit nicht den Spielraum hatten, über die zweite und dritte Säule für ihr Alter vorzusorgen, in der Zukunft diese Möglichkeit haben werden. Darauf sind wir zu Recht stolz. Ich danke Ihnen. ({15})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Andreas Storm.

Andreas Storm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gegen das Schauspiel, das diese Koalition in den vergangenen Tagen, Wochen und Monaten abgeliefert hat, ist die Echternacher Springprozession eine geradezu vorbildlich geordnete Veranstaltung. ({0}) Der Arbeitsminister hat mittlerweile so viel Pirouetten gedreht, dass selbst die eigenen Parteigenossen und der Koalitionspartner längst nicht mehr durchblicken. Wenn wir richtig gerechnet haben, liegt nach anderthalb Jahren mittlerweile das sechste Konzept vor. Frau Dückert, Sie haben vorhin eines richtig dargestellt: Diese Vorlage sei mutig. In der Tat ist diese Vorlage mutig, vor allen Dingen aber ist sie chaotisch, handwerklich dilettantisch und unausgegoren. ({1}) Ich will Ihnen das Stück für Stück zeigen. Das Herzstück einer jeden Rentenreform ist die Rentenformel. Nun haben Sie in der gesamten Fachwelt, bei den Sozialverbänden und den Gewerkschaften, eine klare Front, die sagt, der von Ihnen vorgelegte Ausgleichsfaktor sei völlig inakzeptabel. Professor Ruland, der Chef des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, sagt Ihnen dazu: Seine Bezeichnung ist eine Täuschung. Er gleicht nichts aus. Er ist ein linearisierter Kürzungsfaktor, der in den Jahren 2011 bis 2030 die Rente um jeweils 0,3 Prozent mindert... Mit anderen Worten: Wer später in Rente geht, kriegt weniger Rente. Mit diesem Ungetüm, Herr Minister, schaffen Sie nicht nur einen massiven Anreiz zur Frühverrentung und bestrafen diejenigen, die bis zum 65. Lebensjahr arbeiten wollen, Sie produzieren gleichzeitig 21 verschiedene Rentenniveaus. Sie haben richtig gehört: 21 verschiedene Rentenniveaus. Das bedeutet, dass im gleichen Zeitraum - das ist das Schlimme daran - durch gleiche Beiträge in gleicher Höhe erworbene Anwartschaften künftig nicht mehr zu gleichen Rentenleistungen führen werden. Das ist ein massiver Verstoß gegen einen tragenden Grundsatz der Rentenversicherung. ({2}) Was das mit einer gerechten Lastenverteilung zwischen der älteren und jüngeren Generation zu tun haben soll, müssen Sie uns einmal deutlich machen. ({3}) Der DGB-Vorstand bei den Rentenversicherungsträgern, Dr. Standfest, hat deswegen am Montag zum Ausgleichsfaktor gesagt: Er sollte so nicht Gesetz werden, weil er zu einer unvertretbaren Benachteiligung der jüngeren Generationen führt. Das ist die Position der Gewerkschaften und das ist, nahezu deckungsgleich, auch die Position des Sachverständigenrates, der gestern sein Jahresgutachten vorgelegt hat. Herr Riester, hören Sie auf die Experten und streichen Sie diesen unsäglichen Willkürfaktor. ({4}) Ich komme zum nächsten Punkt, der so genannten modifizierten Nettolohnanpassung, das heißt, die Formel, mit der die Renten angepasst werden sollen. Auch das ist ein Etikettenschwindel. In Wirklichkeit werden die Rentner in den nächsten Jahren von der Nettoeinkommensentwicklung der Beitragszahler abgekoppelt. Die Rentenversicherer haben errechnet, dass allein durch die modifizierte Nettolohnanpassung das Rentenniveau nach konventioneller Rechnung von 70 Prozent auf 65 Prozent sinkt. Wäre es eine Nettoanpassung, müsste das Rentenniveau gleich bleiben. Es ist also eine eindeutige Mogelpackung; der Inhalt hält nicht das, was der Titel verspricht. Damit ist das Ende der Fahnenstange nicht erreicht: Für die jüngere Generation, für diejenigen, die nach dem Jahr 2030 in Rente gehen, sinkt das Rentenniveau auf 61 Prozent oder sogar noch tiefer. ({5}) Dies ist vor allen Dingen auch deswegen nicht akzeptabel, weil beispielsweise die Erwerbsunfähigkeitsrente, die eine abgeleitete Rente ist, für die junge Generation in eine Dimension kommt, die mit sozialer Absicherung nichts mehr zu tun hat. ({6}) Auch aus diesem Grunde ist eine Zustimmung zur Reform der Erwerbsunfähigkeitsrente für uns nicht möglich. Meine Damen und Herren, die Kollegin Schmidt hat vorhin beim Stichwort Frauen- und Hinterbliebenenrente behauptet, für die heutige Frauengeneration sei alles halb so wild. Aber das ist es gerade nicht. Denn bereits jetzt soll ja der Freibetrag für die Anrechnung anderer Einkünfte eingefroren werden. Das bedeutet, dass die Hinterbliebenenrente in Zukunft massiv an Wert verlieren wird. ({7}) - Liebe Frau Schmidt, was übrigens die wenigsten bislang wissen, ist, dass Sie auch andere Einkunftsarten anrechnen wollen, mit Ausnahme der Einkünfte, die den so genannten Riester-Kriterien entsprechen. Das bedeutet beispielsweise, dass Lebensversicherungen in Zukunft auf die Hinterbliebenenrente angerechnet werden, weil sie im Riester-Katalog nicht enthalten sind. ({8}) Wir wissen ja, Herr Arbeitsminister, dass Sie den demographischen Faktor scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Trotzdem führt kein Weg daran vorbei. Ihr Weg, die Generationen ungleich zu behandeln, ist eindeutig ein Irrweg. Deshalb noch einmal unser Angebot: Wenn Sie nicht den demographischen Faktor nehmen wollen, der bereits jetzt im Gesetzblatt steht - man braucht ihn ja nur wirksam werden zu lassen -, dann wären wir auch bereit, über alternative Vorschläge mit uns reden zu lassen. Der Präsident des Sozialverbandes VdK, Walter Hirrlinger, hat einen jährlichen, für alle Rentner einen einheitlichen Abzug vorgeschlagen. Das ist eine verlässliche neue Rentenformel und wäre ein gangbarer Weg. Die Rentenversicherungsträger haben zuletzt am Montag eine Rentenformel vorgeschlagen, die ebenfalls im Sinne eines demographischen Faktors alle gleich behandelt. Diese Formel kann ja durchaus anders heißen. Das Ergebnis ist, dass nach dem Vorschlag der Rentenversicherungsträger der Beitragssatz auf einem niedrigen Niveau gehalten werden kann, das Renteniveau für die junge Generation aber um 3 Prozentpunkte höher liegt als bei Ihrem Vorschlag. Warum laufen Sie eigentlich wie mit Scheuklappen durch die Gegend und verschließen sich diesen besseren Lösungen, die seit Wochen auf dem Tisch liegen? ({9}) Meine Damen und Herren, nun zur Förderung der privaten und betrieblichen Vorsorge. Wir sind uns alle einig, dass wir erreichen müssen, dass nach Möglichkeit jeder ein zweites Standbein der Altersvorsorge bekommt. ({10}) Aber mit Ihrem Vorschlag erreichen Sie dieses gerade nicht. Denn weder die bestehenden betrieblichen Altersvorsorgesysteme noch die gängigen Produkte der privaten Vorsorge werden von den Riester-Kriterien erfasst. Das bedeutet konkret, dass junge Leute, die im letzten oder im vorletzten Jahr, weil alle Welt gesagt hat, man müsse privat vorsorgen, ein Vorsorgeprodukt erworben haben, einen Alterssparvertrag abgeschlossen haben, nun gesagt bekommen: Das ist ja schön, dass ihr bereits vorsorgt. Aber schließt bitte noch einen zweiten Alterssparvertrag ab, weil dieser die Kriterien nicht erfüllt. So kann man mit den Menschen nicht umgehen. ({11}) Sie haben bisher keine Regelungen vorgesehen, wie die bestehenden Formen von ergänzender Vorsorge in die neuen Formen der Vorsorge überführt werden können. Was das Stichwort soziale Gerechtigkeit bei der privaten Vorsorge angeht, möchte ich Sie fragen: Halten Sie es für in Ordnung, dass die steuerliche Förderung dynamisiert ist und damit Jahr für Jahr ansteigt - sie ist an die Beitragsbemessungsgrenze gekoppelt -, während die Alterssparprämien für Geringverdiener eingefroren bleiben? Das bedeutet, dass die Verkäuferin mit 1 700 DM netto im Monat ab 2008 - nach der letzten Stufe - Jahr für Jahr immer den gleichen Förderbetrag bekommt, während der Marktleiter, der von der steuerlichen Förderung profitiert, jedes Jahr eine höhere Förderung erhält. Die Schere geht also auseinander. ({12}) Was das mit sozialer Gerechtigkeit zu tun haben soll, müssen Sie mir wirklich einmal klar machen. ({13}) Noch ein Wort zum Zeitplan der Beratungen: Es war eigentlich bis zum Sommer allgemeiner Konsens, dass wir mindestens drei bis fünf Monate für die Beratung über diese große Reform brauchen. Nun haben Sie aus rein wahltaktischen Gründen erklärt, das Rentenreformgesetz solle bis Ende Januar im Bundesgesetzblatt veröffentlicht werden. (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Zwei Sitzungswochen! Das sind nur zwei Monate, in denen auch noch fünf Wochen parlamentarischer Weihnachtspause eingeschlossen sind. Das bedeutet, eine seriöse Beratung über diese Rentenreform ist nicht machbar. Aber eine solche Beratung durchzuführen - man kann gar nicht mehr anders, als dies zu unterstellen - beabsichtigen Sie offenbar auch nicht. Deswegen sage ich Ihnen jetzt voraus: Wenn Sie dieses Gesetz mit aller Gewalt durch den Deutschen Bundestag durchpeitschen wollen, dann kann man schon heute darauf wetten, ob die erste Nachbesserung bereits an Ostern oder erst an Pfingsten fällig ist. ({14}) Ihr Weg ist ein Irrweg. Wir werden ihn nicht mitgehen. Es ist Zeit für einen rentenpolitischen Neubeginn. ({15})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nun spricht für die SPD-Fraktion die Kollegin Erika Lotz.

Erika Lotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002726, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe den Eindruck: Aus der sehr heftigen Kritik der CDU/CSU und F.D.P. spricht eindeutig das schlechte Gewissen, ({0}) weil sie eine vernünftige und zukunftsweisende Rentenreform nicht auf den Weg gebracht haben. Wenn Sie heute kritisieren, unsere Vorschläge seien sozial ungerecht, dann will ich Sie daran erinnern, wie sich Ihr Demographiefaktor ausgewirkt hätte: Die Renten wären schon viel früher gekürzt worden und das Rentenniveau hätte schon im Jahr 2015 bei 64 Prozent gelegen. Es gab aus meiner Sicht keine Garantie, dass es nicht noch weiter gesenkt worden wäre. ({1}) Wenn Sie heute die eigenständige Vorsorge reklamieren, dann muss ich Sie fragen, Herr Storm: Was haben Sie denn getan, damit die Menschen eigenständig vorsorgen können? ({2}) Wir fördern die eigenständige Vorsorge und berücksichtigen dabei die Einkommenssituation derjenigen, die wenig haben. Wir berücksichtigen dabei die Situation der Menschen, die Kinder erziehen. Sie alle wollen wir gesondert fördern. Das machen wir auch. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin Lotz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Blüm?

Erika Lotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002726, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte.

Dr. Norbert Blüm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000204, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, halten Sie es im Sinne der eigenständigen Vorsorge für richtig, dass Frauen bei gleich hohen Beiträgen eine niedrigere Rente aus der Privatversicherung bekommen? ({0})

Erika Lotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002726, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Blüm, das, was Sie behaupten, stimmt einfach nicht; ({0}) denn wir berücksichtigen auch die Einkommenssituation der Frauen. Wir gehen davon aus - darauf zielt Ihre Frage ab -, dass diejenigen, die später Produkte für die private Vorsorge anbieten werden, Unisexverträge anbieten werden. Nun möchte ich mit meinen Ausführungen fortfahren. ({1}) Frau Kollegin Böhmer, ich fand es ein bisschen unverantwortlich, als Sie geschildert haben, wie die Hinterbliebenenregelung angeblich aussehen wird. Ich möchte ganz deutlich sagen: Es wird sich für die jetzigen Witwen nichts ändern. ({2}) Es wird sich auch nichts für die Paare ändern, bei denen ein Partner 40 Jahre oder älter ist. Wir werden bei der Neuregelung auch die Situation der Menschen berücksichtigen, die Kinder erziehen. Wir setzen darauf, dass die Erwerbstätigkeit von Frauen, die schon zugenommen hat, weiter steigen wird. ({3}) Wir setzen auf eine eigenständige Rentenversicherung für Frauen und nicht auf eine abgeleitete Hinterbliebenenversorgung. ({4}) Frau Dr. Böhmer, wenn Ihnen das Wohl der Frauen so am Herzen liegt, dann frage ich Sie: Wo war Ihr Protest, als beispielsweise die Rentenanwartschaften, für die ersten Jahre der Berufstätigkeit, also die Ausbildung, gekürzt worden sind? Dort sind von einem Tag auf den anderen die Anwartschaften gekürzt worden. ({5}) Wo ist denn Ihr Engagement gewesen? Ich sage dazu nur: 1,5 Billionen DM Schulden und 82 Milliarden DM Zinsen jedes Jahr. ({6}) Ich nenne hier auch die Erhöhungen beim Bundeszuschuss. Das haben wir gemacht. Sie haben noch kein einziges Wort darüber verloren, dass alle Regelungen, die Sie gemacht haben, etwa der demographische Faktor, ({7}) bei gleichzeitig steigenden Beiträgen eingetreten wären, während wir die Beiträge zur Rentenversicherung gesenkt haben. ({8}) Lassen Sie mich noch etwas zu dem Gesetz sagen, das wir heute verabschieden werden, nämlich zum Gesetz zur Reform der Erwerbsminderungsrente. Heute ist deshalb ein guter Tag für viele Menschen, ({9}) für Arbeitnehmer, die gesundheitlich angeschlagen sind. Sie müssen jetzt, wenn sie teilerwerbsgemindert sind, also noch eine Teilzeitarbeit leisten können, nicht mehr befürchten, in die Sozialhilfe abzurutschen. Wir wissen, dass trotz der guten Politik von Rot-Grün Arbeitnehmern mit gesundheitlichen Einschränkungen der Arbeitsmarkt oft verschlossen bleibt und sie keine Arbeit bekommen. Die Bundesregierung hat mit ihrem Korrekturgesetz die Regelungen Ihres Rentenreformgesetzes 1999 bezüglich Erwerbsunfähigkeits- und Berufsunfähigkeitsrenten ausgesetzt. Heute beschließen wir eine Verbesserung für die Arbeitnehmer, die leistungsgemindert sind. ({10}) Diejenigen Arbeitnehmer, die zwischen drei und sechs Stunden arbeiten können, aber arbeitslos sind, werden eine volle Erwerbsminderungsrente bekommen. Wir lassen die Menschen nicht im Stich. Welche Chancen hat denn zum Beispiel ein Bauarbeiter, wenn er noch täglich vier Stunden arbeiten kann, aber keinen Arbeitsplatz findet? Wäre es nach Ihrem Willen gegangen, hätte er eine Teilrente bekommen und ein Teilarbeitslosengeld. Aber nach Auslaufen des Arbeitslosengeldes hätte es die bedürftigkeitsabhängige Arbeitslosenhilfe bzw. Sozialhilfe gegeben. Dies wollen wir nicht, und das verstehen auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht; schließlich bezahlen sie in allen Sozialversicherungszweigen ihre Beiträge. Nach unserem Gesetz werden auch die Erwerbsminderungsrenten höher sein als nach dem Rentenreformgesetz 1999 von CDU/CSU und F.D.P., weil wir die Zurechnungszeiten vom 55. Lebensjahr auf das 60. Lebensjahr ausdehnen und weil wir den demographischen Faktor ausgesetzt haben. Für die Arbeitnehmer, die noch sechs Stunden oder mehr arbeiten können, haben wir keine andere Regelung vorgesehen als Sie. Ich will noch auf zwei wichtige Neuregelungen eingehen. Nach der alten Regelung wären die Renten wegen Berufsunfähigkeit ohne Übergangsfristen entfallen. Das ist sehr heftig kritisiert worden. Wir sind der Auffassung, dass man das nicht machen kann. Von einem Tag auf den anderen kann eine solche Leistung, auf die viele Versicherte vertrauen, nicht einfach wegfallen. Deshalb haben wir lange Übergangsfristen vorgesehen. Dem Vertrauensschutz tragen wir auch bei den Schwerbehinderten Rechnung. Bei den Versicherten, die bereits das 50. Lebensjahr vollendet haben und berufsoder erwerbsgemindert sind, gilt weiterhin die Altersgrenze von 60 Jahren ohne Abschläge. Lassen Sie mich zusammenfassen. Wir beschließen heute eine notwendige sachgerechte Zuordnung der von den einzelnen Sozialversicherungszweigen zu tragenden Risiken. ({11}) Dieses Problem hatte auch die alte Koalition gelöst, aber mit beachtlichen sozialen Härten für die Betroffenen. Das machen wir nicht mit. Deshalb verändern wir dies. Es wird also weiterhin Renten geben, die die Arbeitsmarktchance berücksichtigen. Die Erwerbsminderungsrenten werden höher ausfallen. Es wird vernünftige Übergangslösungen für Berufsunfähigkeitsrenten geben. Bei den Altersrenten für Schwerbehinderte tragen wir dem Vertrauensschutz der Menschen Rechnung. Es gibt also viele Verbesserungen für die Menschen, die unsere Solidarität brauchen. Zum Schluss möchte ich darauf hinweisen, dass ich nicht verstehe, warum Sie unserem Gesetzentwurf nicht zustimmen wollen. Gestern haben Sie, Herr Laumann, im Ausschuss ausgeführt, dass die Gesetzesänderung 90 Prozent dessen beinhalte, was die alte Regierung beschlossen habe. ({12}) Auch wenn die 10 Prozent Änderungen, die wir vornehmen, gewichtig sind, so versteht doch niemand, dass Sie nicht bereit sind, diese Novelle mitzutragen. Sie suchen billige Ausflüchte, Sie suchen ein Schlupfloch. ({13}) Für die weiteren Gespräche mag das ein Zeichen sein. Ich fordere Sie aber noch einmal auf: Stimmen Sie diesen Verbesserungen zu! Es wäre gut für die Menschen ({14}) und es wäre auch gut für die weiteren Konsensgespräche. ({15})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe zunächst dem Kollegen Dr. Ilja Seifert und dann dem Kollegen Laumann das Wort zu Kurzinterventionen.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Vielen Dank, Herr Präsident. Frau Kollegin Lotz, Sie haben gerade sehr laut gesagt, dass Sie die Erwerbsminderungsrente für schwerbehinderte Menschen gewaltig verbessern würden. Sind Sie bereit, der Ehrlichkeit halber zuzugeben, dass zum Beispiel Menschen, die im Förderungsbereich einer Werkstatt für Behinderte tätig sind - hier handelt es sich zweifellos um sehr schwer behinderte Menschen -, nach Ihrem Modell keinerlei Chance haben, auch nur die geringsten Rentenansprüche zu erwerben? Unter dem verlängerten Dach einer Werkstatt für Behinderte können sie sich nämlich nicht nach zum Beispiel 20 Jahren eine gewisse Anwartschaft erarbeiten. Sind Sie bereit, dies wenigstens der Ehrlichkeit halber dazu zu sagen, damit die Menschen im Lande, die uns zuhören und die aus Ihrer Rede Hoffnung geschöpft haben, von der Realität nicht enttäuscht werden?

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Laumann.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Lotz, es ist richtig, dass Sie bei der Erwerbsunfähigkeitsrente wesentliche Punkte der alten Regierung übernommen haben. Dies sind im Übrigen Punkte, die Sie seinerzeit bekämpft haben. Auch ist die Einführung der arbeitsmarktbedingten Erwerbsunfähigkeitsrente richtig; das wird von uns ausdrücklich anerkannt. Aber es gibt zwei Gründe, warum wir schlicht und ergreifend nicht zustimmen können. In der Woche, in der Sie das Gesetz zunächst verabschieden wollten, entbrannte in der Bundesregierung und in der sie tragenden Koalition ein großer Streit darüber, wer die Zeche bezahlen soll. Erst am Montag ist dieser Streit in der Regierung beigelegt worden. Im Ausschuss konnte uns die Bundesregierung nicht sagen, wie es bei Krankenkassenbelastungen von mehr als 250 Millionen DM laufen soll. Es gibt keinen Antrag und somit auch keine gesetzliche Grundlage dafür, wie Mehrbelastungen den Krankenkassen erstattet werden sollen, sondern lediglich vage Andeutungen, dass man das Gesetz, das man heute reformiert, in den nächsten Wochen kassieren und in einem entscheidenden Punkt ändern werde. Das hat die Parlamentarische Staatssekretärin Mascher gestern im Ausschuss angekündigt. ({0}) Der zweite Grund: Wir hatten ein Rentenniveau von 64 Prozent als Grundlage auch für Erwerbsunfähigkeitsrenten. Sie haben eines von 61 Prozent. ({1}) Sie wissen jedoch ganz genau, dass diese Absenkung gerade bei den Erwerbsunfähigkeitsrenten noch stärker als bei den Altersruherenten durchschlägt. Sie können nun wirklich von keiner Opposition verlangen, einer Reform der EU-Renten zuzustimmen, bei der die Finanzierung für die Krankenkassen nicht sichergestellt ist, bei der vor der Verabschiedung im Ausschuss die zuständige Staatssekretärin schon Änderungsbedarf anmeldet und bei der Sie schließlich auch das Rentenniveau nicht definieren können. So etwas ist einfach Pfusch. Wir erleben heute wieder: Wenn Sie ein Gesetz machen müssen, bekommen Sie es einfach nicht auf die Reihe. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zur Erwiderung die Kollegin Erika Lotz. ({0})

Erika Lotz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002726, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Seifert, ich beginne bei Ihnen. Ich habe hier betont, dass wir das Rentenreformgesetz 1999 verbessern wollen. Das machen wir. ({0}) Es gab Bestimmungen, die wir ausgesetzt haben. Es wird vernünftige Übergangsregelungen bei der Zahlung der Berufsunfähigkeitsrente und eine Verbesserung bei der Zahlung von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit geben. ({1}) In der gestrigen Ausschusssitzung haben Sie betont, die Invalidenrente in der ehemaligen DDR sei besser als das gewesen, was wir machen. Herr Seifert, ich habe mir erlaubt, das noch einmal nachzulesen. Ich habe festgestellt: In der ehemaligen DDR galt die Regelung, dass man, um eine Invalidenrente zu beziehen, zu zwei Dritteln erwerbs- bzw. leistungsgemindert sein musste. Was daran und an einer Mindestrente von 330 Mark besser sein soll, das müssen Sie den Menschen einmal erklären. ({2}) Herr Laumann, die von uns beschlossene Regelung stellt eine Verbesserung der Berufsunfähigkeitsrente dar. Sie haben hier auf die Kosten hingewiesen, die auf die Krankenkassen aufgrund der Zahlung von Renten auf Zeit eventuell zukommen. ({3}) Diese Regelung haben Sie schon 1997 beschlossen. ({4}) Wir gehen davon aus, dass die Belastungen für die Krankenkassen nicht höher als 250 Millionen DM und von daher nicht beitragssatzrelevant sein werden. ({5}) Sie benutzen etwas, was Sie selbst schon längst beschlossen haben und was die Problematik überhaupt nicht verändert, heute als Begründung, um dem Gesetzentwurf zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht zuzustimmen. Das ist eine ganze billige Ausrede und sonst nichts! ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letztem Redner in dieser Debatte - dann kommen wir zu den Abstimmungen - gebe ich dem Kollegen Franz Thönnes von der sozialdemokratischen Fraktion das Wort.

Franz Thönnes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002818, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die wunderbare Verwandlung, die wir in der Debatte heute Morgen erleben, ist schon erstaunlich: Die rechte Seite dieses Hauses versucht in ihren Redebeiträgen, sich selbst vom Bock zum Gärtner zu machen, und vergisst, was in den Jahren ihrer Regierungsverantwortung alles geschehen ist. ({0}) Die Altersgrenze ist 1996 vorzeitig - einseitig - auf 60 Jahre angehoben worden, was die Altersrente oder die Altersteilzeit angeht. ({1}) Sie haben sich einseitig vom gemeinsamen Rentenkonsens von 1992 verabschiedet. Sie haben das Wachstumsund Beschäftigungsförderungsgesetz - mit Verschlechterungen bei den Zugangsvoraussetzungen und mit einer nochmaligen Heraufsetzung der Altersgrenze - einseitig durchgepaukt. Sie haben die Altersgrenze für den Bezug der Altersrente von Frauen ab dem Jahr 2000 in monatlichen Stufen heraufgesetzt. ({2}) Sie haben die Altersgrenze für langjährig Versicherte ab dem Jahr 2000 in monatlichen Stufen von 63 auf 65 Jahre heraufgesetzt. ({3}) Sie haben das Rentenniveau einseitig abgesenkt - wir haben das vorhin gehört -: 64 Prozent für alle, und zwar bei einem Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung von 24 Prozent im Jahr 2030. Dazu sage ich Ihnen: Die Täter von gestern taugen nicht als Sanitäter von morgen. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Thönnes, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schnieber-Jastram?

Franz Thönnes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002818, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Birgit Schnieber-Jastram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002785, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Thönnes, ich möchte nur Folgendes fragen: Warum haben Sie das nicht zurückgenommen? ({0})

Franz Thönnes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002818, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau SchnieberJastram, Sie stellen eine rhetorische Frage. Sie wissen genau, in welche Situation Sie die Rentenversicherung mit Ihrer Politik gebracht haben: ({0}) die Zahlung von Fremdleistungen durch die Rentenversicherung; die Beitragszahler mussten Kosten der deutschen Einheit tragen; kein anständiger Abbau der Arbeitslosigkeit, Sie haben Scheinselbstständige und 630-Mark-Kräfte ausgeklammert. Vor diesem Hintergrund ist die gesamte Rentenversicherung in ein Dilemma geraten. ({1}) Am Ende Ihrer Regierungszeit sah die Situation so aus: Während 1991 der Beitragssatz zur Rentenversicherung bei 17,7 Prozent lag und die Reserve noch 26 Monatsausgaben betrug, war der Beitragssatz 1997 auf 20,3 Prozent angestiegen und die Reserve betrug nur noch 0,6 Monatsausgaben. Sie haben bei der Renten-, der Finanz-, der Steuer- und der Arbeitsmarktpolitik auf der ganzen Linie versagt. Dafür haben Sie die Quittung von den Menschen bekommen. ({2})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Gestatten Sie, Herr Kollege Thönnes, zwei weitere Zusatzfragen?

Franz Thönnes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002818, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Erst die Kollegin Schnieber-Jastram, dann der Kollege Blüm.

Birgit Schnieber-Jastram (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002785, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Thönnes, ich habe hierzu noch eine Frage: Sie haben unsere Rentenreform zurückgenommen. Warum haben Sie dann bei der Vorlage Ihrer Reform die Punkte, die Sie gerade kritisiert haben, nicht zurückgenommen, sondern beibehalten? ({0})

Franz Thönnes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002818, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Schnieber-Jastram, Sie wissen genau, dass wir Punkte ausgesetzt haben, um die Rentenversicherung jetzt auf ein solides und vernünftiges Fundament zu stellen. ({0}) Es muss nämlich ein anständiger Ausgleich zwischen der älteren und der jüngeren Generation erfolgen, weil Solidarität keine Einbahnstraße ist. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Kollege Blüm.

Dr. Norbert Blüm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000204, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe eine ganz einfache mathematische Frage: Sie haben uns gerade attackiert, weil der Rentenversicherungsbeitrag nach unserem Modell 2030 24 Prozent betragen hätte. Ist es richtig, dass hiervon die Arbeitnehmer 12 Prozent gezahlt hätten? Ihr Modell sieht einen Beitrag von 22 Prozent vor, von dem die Arbeitnehmer 11 Prozent plus 4 Prozent als private Vorsorge zahlen. Jetzt kommt meine mathematische Frage, die jeder Matheschüler aus dem zweiten Schuljahr beantworten kann: Wenn der Arbeitnehmer nach unserem Modell 12 Prozent und nach Ihrem 15 Prozent zahlt, wo ist dann die Belastung der Arbeitnehmer höher? 15 oder 12? Zweites Schuljahr! ({0})

Franz Thönnes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002818, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Werter Kollege Blüm, so einfach kann man natürlich Rechnungen aufmachen. ({0}) Dabei sollte man aber auch ein Stück weit ehrlich sein ({1}) und sagen, welche Unsicherheiten dies langfristig für die Menschen bedeutet hätte. ({2}) Man sollte auch so ehrlich sein und ihnen sagen, dass wir nach unseren Berechnungen am Ende wieder auf ein Rentenniveau kommen, das um die 70 Prozent liegt. Das ist die Wahrheit. So müssen Sie rechnen. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Thönnes, möchten Sie den Dialog fortsetzen?

Franz Thönnes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002818, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich glaube, am Ende der Debatte sollte das jetzt eigentlich genügen. Ich mache jetzt weiter. ({0}) Nun warten Sie doch einmal ab, welche Möglichkeiten sich durch die Vorrangsregelung für Tarifverträge und durch betriebliche Altersversorgung noch ergeben. Unserer und der Fantasie der Gewerkschaften ist an dieser Stelle keine Grenze gesetzt. ({1}) - Nein, das hatte ich gerade gesagt. Irgendwann muss es einmal gut sein. Ihr habt schon drei gestellt. Man muss auch noch einmal sagen, dass Sie den Menschen mit Ihrer Politik etwas vorgegaukelt haben. Sie haben ihnen vorgegaukelt, dass die Renten sicher seien. Das haben Sie allen Rentnerinnen und Rentnern auch noch brieflich mitgeteilt. Es ist bis heute noch nicht geklärt, aus welcher Kasse das Geld für diese Briefe gekommen ist. ({2}) Heute stellt sich der Kollege Seehofer hier hin und sagt, die Frage der Erwerbsunfähigkeit sei in unserem Gesetzentwurf nicht geregelt. Ich kann Ihnen da nur empfehlen, auf die Seite 54, Abs. 2 Nr. 2, unseres Gesetzentwurfes zu schauen: Ein Altersvorsorgevertrag liegt vor, wenn Leistungen nicht vor Vollendung des 60. Lebensjahres oder dem Beginn einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder Altersrente des Steuerpflichtigen aus der gesetzlichen Rentenversicherung oder nach dem Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte erbracht werden … Ein bisschen Lesen hilft weiter und bewahrt einen vor falschen Argumentationen. ({3}) Ein weiterer Punkt: Sie haben vorhin hier erklärt, dass die Frauen dadurch benachteiligt werden, dass Kindererziehungszeiten erst ab dem Jahre 1992 angerechnet würden. Seien Sie wenigstens so ehrlich und sagen Sie, dass diese Regelung auch für Kinder gilt, die bis dahin zehn Jahre alt waren, also bis 1983 zurückreicht. Betrachten wir einen anderen Punkt, den Sie hier angeschnitten haben. Sie sagen, das sei ein Programm, das geradezu zur Frühverrentung einladen würde. ({4}) Die 3,6 Prozent, die von Ihnen als Abschlag eingeführt worden sind, tragen in Verbindung mit dem 0,3 prozentigen Ausgleich doch wahrhaftig nicht dazu bei, dass jemand versucht, dies zum Anlass für eine Frühverrentung zu nehmen. ({5}) Dummheit ist keine Alterserscheinung. ({6}) Ich sage Ihnen: Die älteren Menschen sind cleverer, als Sie heute hier argumentieren. ({7}) Ich möchte hinzufügen: Wenn die Menschen sich ansehen, wie die Rentenentwicklung in den letzten Jahren gewesen ist, wissen sie, dass sie bei dieser Regierung auf der besseren Seite sind. Ihre Steuer- und Finanzpolitik sowie Ihr Versagen in der Wirtschaftspolitik haben mit dazu geführt, dass die Belastungen für die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer immer weiter angestiegen sind und dass letzten Endes auch die Steigerungsrate bei den Löhnen nicht mehr eine solche gewesen ist, die als gute Grundlage für eine Rentenanpassung hätte herhalten können. ({8}) Die älteren Menschen haben in den letzten Jahren Ihrer Regierungstätigkeit immer eine Rentenanpassung bekommen, die unterhalb der Preissteigerungsrate lag. Die Sozialdemokraten und die Grünen haben dafür gesorgt, dass sie jetzt darüber liegt. ({9}) Auch hier gilt wieder: Die Täter von gestern taugen nicht als Sanitäter von morgen. Zum Abschluss möchte ich auf den Kollegen Claus von der PDS zurückkommen, der Franz von Assisi zitiert hat, indem er sagte: Man solle eine Reform machen, die die Menschen brauchen, ({10}) man solle eine Reform machen, die auch verstanden wird. ({11}) Ich glaube, die Menschen verstehen diese Reform. Auch in den nächsten Wochen werden wir mit den Gewerkschaften und den Sozialverbänden darüber diskutieren, weil wir ein großes Interesse daran haben, sie in Gemeinsamkeit umzusetzen. Ich möchte mit Franz von Assisi schließen, wenn schon der Fraktionsvorsitzender der PDS meint, ihn zitieren zu müssen. Ich sage Ihnen: Wir haben nicht mehr viel Zeit, etwas zu tun. ({12}) Wir müssen das Rentenversicherungssystem jetzt auf eine solide Grundlage stellen. Daher zitiere ich Franz von Assisi: „Brüder, so lange wir Zeit haben, lasst uns Gutes tun.“ Das machen wir jetzt. ({13})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich bin versucht zu sagen: Liebe Brüder und Schwestern, ich schließe die Aussprache. ({0}) Also, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aussprache ist geschlossen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 14/4595 zu überweisen zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitberatung an die Ausschüsse Innen, Recht, Finanzen, Wirtschaft und Technologie, Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Gesundheit, Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Angelegenheiten der Neuen Länder und an den Haushaltsausschuss gemäß § 96 der Geschäftsordnung. Anderweitige Vorschläge liegen nicht vor. - Die Überweisung ist so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen von der SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, Drucksachen 14/4230 und 14/4630. Hierzu liegen mehrere Änderungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen. Zunächst stimmen wir über den Änderungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/4636 ab. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der Fraktion der PDS abgelehnt. Wir kommen zum Änderungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/4638. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Wir kommen zum Änderungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/4639. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch dieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit der gleichen Stimmenmehrheit wie in der zweiten Beratung angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über zwei Entschließungsanträge, zunächst über den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/4637. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? ({1}) Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. bei Enthaltung der PDS und gegen die Stimmen der CDU/CSU abgelehnt. Ich lasse nun über den Entschließungsantrag der Frak- tion der PDS auf Drucksache 14/4640 abstimmen. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 3 c, zur Ab- stimmung über den von den Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Neuordnung der Versorgungsabschläge, Drucksachen 14/4231 und 14/4620. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent- wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei Enthal- tung der F.D.P. und gegen die Stimmen der PDS ange- nommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit der gleichen Stimmenmehrheit wie in der zweiten Beratung angenommen. Zusatzpunkt 2: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/2116 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf: 4 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Neunundzwanzigster Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ für den Zeitraum 2000 bis 2003 ({2}) - Drucksache 14/3250 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3}) Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Klaus Hofbauer, Dagmar Wöhrl, Wolfgang Börnsen ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Zukunft der deutschen Regionalförderpolitik im Zusammenhang mit der Reform des Strukturfonds der Europäischen Union - Drucksachen 14/3353, 14/4112 Zur Unterrichtung durch die Bundesregierung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist so beschlossen. Ich darf diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die nunmehr dieser Debatte nicht folgen möchten, bitten, möglichst ruhig und zügig den Plenarsaal zu verlassen. Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Siegmar Mosdorf.

Siegmar Mosdorf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001535

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ hat seit vielen Jahren eine für unsere Volkswirtschaft wichtige Zielsetzung, nämlich den Strukturwandel voranzubringen, die Modernisierung unserer Volkswirtschaft zu begleiten, die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft zu stützen und wettbewerbsfähige Arbeitsplätze zu schaffen. Die Gemeinschaftsaufgabe hat sich in den letzten 30 Jahren überparteilich bewährt. Wir haben gemeinsam versucht, damit auch gleichwertige Lebensverhältnisse im Bundesgebiet zu erreichen. Mit ihrem bundeseinheitlichen Regelwerk bietet die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ ausreichende Flexibilität für die konkrete Umsetzung in den Ländern entsprechend den regionalen Erfordernissen. Der Rahmenplan wird laufend überarbeitet. Im Planungsausschuss reden wir regelmäßig - zuletzt geschah das im März 2000 - über die Förderregeln, die wir für wichtig halten. Die Förderregeln des Rahmenplans müssen seit dem 1. Januar 2000 mit beihilferechtlichen Vorgaben der Europäischen Kommission in Einklang stehen. Im Zuge der beihilferechtlichen Prüfung hat die Kommission wiederholt Fragen gestellt, die eine Genehmigung des 29. Rahmenplans bisher verhindert haben. Die Bundesregierung steht mit den Dienststellen der Europäischen Kommission in intensiven Gesprächen, um die noch offenen Fragen zu erörtern und möglichst bald eine entsprechende Genehmigung zu erreichen. Bereits im März 1999 hat die Bundesregierung bei der EU-Kommission die deutschen Fördergebiete für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ ab dem Jahr 2000 angemeldet. Während die Kommission für die neuen Bundesländer im August 1999 die Genehmigung insgesamt erteilt hat, hat sie bezüglich der westdeutschen Länder und bezüglich Berlins ein Hauptprüfverfahren zum Umfang des Fördergebiets eröffnet. Mit ihrer Entscheidung vom 14. März 2000 genehmigte sie in Westdeutschland und Berlin eine uneingeschränkte Förderung nur in einem Fördergebiet, das 17,7 Prozent der deutschen Bevölkerung umfasst, obwohl sie ursprünglich einen Fördergebietsumfang von 23,4 Prozent für Deutschland errechnet und auch akzeptiert hatte. Gegen diese Entscheidung hat die Bundesregierung nach einem entsprechenden Beschluss des GA-Planungsausschusses vom 16. Juni 2000 beim EuGH Klage eingereicht. Die Entscheidung der Kommission über die Herabsetzung des Förderplafonds basiert auf einem Berechnungsverfahren, das nach Auffassung Deutschlands gegen den in der Gemeinschaft geltenden Grundsatz der Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten verstößt. Deshalb hat die Bundesregierung die Klage eingereicht. Im strittigen Gebietsumfang von circa 4,7 Millionen Einwohnern bestehen derzeit nur eingeschränkte Fördermöglichkeiten. Die Bundesregierung bedauert dies und drängt darauf, dass sich die Europäische Kommission angesichts des Handlungsbedarfs in diesem Feld möglichst bald bereit erklärt, die entsprechenden Anträge zu genehmigen. Natürlich musste auch die Gemeinschaftsaufgabe ihren Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leisten. Sie alle wissen, dass wir dabei sind, auch in diesem Bereich zu sparen. Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters Für die Gemeinschaftsaufgabe West stehen im Jahr 2000 gleichwohl Barmittel in Höhe von 242 Millionen DM und damit etwas mehr als im Vorjahr zur Verfügung. Für das Jahr 2001 sind von uns 285 Millionen DM vorgesehen. An Verpflichtungsermächtigungen sind im Jahre 2000 255 Millionen DM verfügbar. Für das Jahr 2001 sind 260 Millionen DM vorgesehen. Die große Bedeutung der Gemeinschaftsaufgabe für die regionale Entwicklung sehen Sie daran, dass von Januar bis September 2000 in den alten Bundesländern für rund 540 Anträge 350 Millionen DM GA-Mittel bewilligt worden sind. Die dadurch ausgelösten Impulse sind bemerkenswert: In der gewerbliche Wirtschaft ist ein Investitionsvolumen von circa 2,2 Milliarden DM angestoßen worden. Damit sind etwa 13 500 Dauerarbeitsplätze gesichert sowie 6 200 Dauerarbeitsplätze zusätzlich geschaffen worden. Ich finde, das ist ein großer Erfolg. Deshalb müssen wir diesen Weg fortsetzen. Im Bereich der wirtschaftsnahen Infrastruktur sind Investitionen in Höhe von rund 115 Millionen DM ausgelöst worden. In den neuen Bundesländern ist die Gemeinschaftsaufgabe das wichtigste Instrument der Investitionsförderung zum Aufbau einer wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstruktur überhaupt. Für die GAOst stellt der Bund im Jahr 2000 Barmittel in Höhe von 2,291 Milliarden DM und Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von 1,89 Milliarden DM zur Verfügung. Für das Jahr 2001 sind Barmittel in Höhe von 1,992 Milliarden DM und Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von 1,5 Milliarden DM vorgesehen. Von Januar bis September 2000 sind für die rund 3 000 Anträge der gewerblichen Wirtschaft circa 2,1 Milliarden DM GA-Mittel bewilligt worden, die ein Investitionsvolumen von 8,5 Milliarden DM ausgelöst haben und damit etwa 70 200 Dauerarbeitsplätze gesichert und rund 18 600 neue Dauerarbeitsplätze geschaffen haben. Für circa 230 Anträge zur wirtschaftsnahen Infrastruktur sind rund 803 Millionen DM bewilligt worden, die investive Gesamtausgaben in Höhe von 1,2 Milliarden DM angestoßen haben. Diese systematische Arbeit in der regionalen Wirtschaftsförderung steht vor neuen Herausforderungen. An erster Stelle ist dabei die Herausforderung der Osterweiterung zu nennen, eine wichtige Veränderung der Architektur der Europäischen Union. Wir sind davon überzeugt, dass die Osterweiterung insbesondere der deutschen Volkswirtschaft zugute kommen wird, nicht nur durch neue Formen der Arbeitsteilung, sondern auch durch mögliche Formen der Kooperation über die Grenzen hinweg. Wir sind deshalb auch der Auffassung, dass wir alles tun müssen - das war auch Gegenstand der Länderwirtschaftsministerkonferenz vor wenigen Tagen in Stuttgart -, um in den Grenzgebieten bei dieser Erweiterung, die natürlich eine Veränderung darstellt, zielgenau zu helfen. Man kann das in etwa mit der Süderweiterung oder der Erweiterung in anderen Gebieten vergleichen. Unsere Zielvorstellung sieht so aus, dass aus den Grenzgebieten im Osten, die in den letzten Jahren hermetisch abgeriegelt waren, in Zukunft Handelsdrehscheiben werden, von denen wir gemeinschaftlich profitieren. In der bis Ende 2006 laufenden Strukturfondsförderperiode können in den Fördergebieten erhebliche EU-Mittel - allein circa 20 Milliarden Euro in den neuen Bundesländern - eingesetzt werden. Die Grenzregionen sind bis Ende 2006 darüber hinaus Teil der EU-Gemeinschaftsinitiative Interreg, deren Mittelausstattung gegenüber der vorherigen Förderperiode deutlich erhöht worden ist. Es gibt eine weitere Herausforderung für die regionale Wirtschaftsförderung: Es stellt sich die Frage, was nach 2006, also nach der laufenden Förderperiode, passieren soll. Wir sind auch als Nettozahler für den EU-Haushalt entschieden dafür, weiterhin gezielt eine europäische Regionalförderung für die strukturschwachen Gebiete zu erhalten, um so unsere Hauptziele - Strukturwandel, Innovationsförderung, Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit nach 2006 fortsetzen zu können. Im Gegenzug muss - das ist ganz klar - der nationale regionalpolitische Handlungsspielraum endlich erweitert werden. Wir müssen auch in diesem Bereich mehr Subsidiarität erreichen. Das gilt ebenso für viele andere Programme; aber hier brauchen wir besonders dringend Flexibilität, weil wir so eine höhere Effektivität der Förderprogramme erzielen können. Die Bundesregierung wird sich bei der anstehenden Überarbeitung der Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung sowie des multisektoralen Regionalbeihilferahmens für große Investitionsvorhaben für eine Flexibilisierung des Beihilferechts einsetzen. ({0}) Die Mitgliedstaaten müssen größere Spielräume in der nationalen Regionalpolitik erhalten. Wir sollten diese Spielräume im Sinne des Subsidiaritätsprinzips nutzen. Ich glaube, wir sind uns auch einig, dass wir die jetzt festgelegten Bedingungen nicht akzeptieren können. Auch die deutsche Klage gegen die Reduzierung der GAFördergebiete durch die Europäische Kommission zielt auf eine von uns gemeinsam beabsichtigte Positionierung. Insgesamt werden wir versuchen, die EU-Osterweiterung und die Weiterentwicklung des EU-Beihilferechts in den folgenden Jahren in eine moderne regionalpolitische Konzeption zu führen und damit auch unsere Handlungsfähigkeit zu erhöhen. Wir drängen nachdrücklich darauf, dass wir als diejenigen, die für den Aufbau Europas, die Integration und die Erweiterung Europas besonders engagiert eintreten, bei diesen regionalpolitischen Instrumenten von der Europäischen Kommission Unterstützung erfahren und nicht mit Hemmnissen konfrontiert oder blockiert werden. Deshalb hoffen wir sehr, dass wir mit unserer Klage erfolgreich sein werden. Vielen Dank. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort dem Kollegen Klaus Hofbauer für die CDU/CSUFraktion. Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters

Klaus Hofbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003149, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion will mit ihrer Großen Anfrage die regionale Strukturpolitik erneut in den Mittelpunkt der Diskussion stellen und deren Bedeutung in der Vergangenheit und vor allen Dingen auch für die Zukunft unterstreichen. Zunächst stelle ich fest - da stimme ich mit Ihnen, Herr Staatssekretär, überein -: Die bisherige nationale Strukturpolitik, die durch europäische Programme unterstützt worden ist, war äußerst erfolgreich. Wir haben in den strukturschwachen Gebieten, insbesondere in den ländlichen Gebieten, großartige Erfolge erzielen können. Dabei möchte ich nicht unerwähnt lassen - ich glaube, dass Sie, Herr Staatssekretär, da mit mir übereinstimmen -, dass in den strukturschwachen Gebieten sowohl unsere Unternehmer als auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entscheidend dazu beigetragen haben, dass wir diese Erfolge erzielen konnten. ({0}) Leider müssen wir aber feststellen, dass wir immer mehr von europäischen Bestimmungen gegängelt werden. Hier, Herr Staatssekretär, erwarten wir von der Bundesregierung etwas mehr Schwung. Wir fordern mehr Initiativen und Aktivitäten, um gegen diese Gängelung vorzugehen. ({1}) Ich mache der rot-grünen Regierung zum Vorwurf, dass sie gegen diese Bestrebungen nicht mit dem notwendigen Nachdruck vorgeht. ({2}) Sie haben ja bereits die Reduzierung der Förderkulisse angesprochen. Es kommt hinzu, dass selbst die in diesem Zusammenhang bestehende Übergangsregelung über Nacht gekippt wurde und dass es in den Arbeitsamtsbezirken keine Feinabgrenzung mehr gibt. ({3}) Herr Staatssekretär, ich habe schon ein wenig den Eindruck, dass Sie erst, als Sie parteiübergreifend im Wirtschaftsausschuss darauf hingewiesen wurden, dass diese Probleme entstehen, eine entsprechende Klage beim EuGH eingereicht haben. Sie hätten bereits bei den diesbezüglichen Verhandlungen die Interessen Deutschlands besser und intensiver vertreten sollen. ({4}) Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir eine weitere Bemerkung: Ich habe den Eindruck, dass unter der jetzigen Bundesregierung die Regionalpolitik nicht mehr die Rolle spielt, die sie in den vergangenen Jahren gespielt hat. Der Bundeswirtschaftsminister hat sich zu diesen Themen in den letzten Wochen und Monaten bzw. in den letzten zwei Jahren überhaupt nicht geäußert. Bei den Haushaltsberatungen hat der Bundeswirtschaftsminister lediglich in einem Nebensatz zur Struktur- und Regionalpolitik Stellung bezogen. ({5}) Ich stimme mit Ihnen, Herr Staatssekretär, überein, dass die größte Herausforderung der Strukturpolitik insgesamt die Osterweiterung sein wird. Die CDU/CSUFraktion tritt uneingeschränkt für die EU-Osterweiterung ein. Denn wir sind der Meinung, dass sie eine Chance für die Menschen in Deutschland und - das betone ich ausdrücklich - insbesondere für die Menschen in den grenznahen Zonen bietet. Die Menschen, die jahrzehntelang Stacheldraht vor ihrer Haustüre hatten, erleben diese Freiheit sehr konkret und werden diese Chance besonders nutzen. Nur, wir müssen die EU-Osterweiterung natürlich auch aktiv aus der Region heraus und im Rahmen unserer Politik gestalten. Meiner Meinung nach fehlen Konzepte der Bundesregierung, wie die Osterweiterung im Bereich der Strukturpolitik gestaltet und nach vorne gebracht wird. ({6}) Die CDU/CSU-Fraktion wird deswegen einen Antrag mit ganz konkreten Vorschlägen einbringen: Erstens. Wir fordern einen nationalen Grenzgürtelaktionsplan. Dieser bezieht sich nicht nur auf die Finanzen. Vielmehr fordern wir eine Reihe von Aktivitäten, die grenzüberschreitend gestaltet werden sollten, damit wir die Aktivitäten der letzten zehn Jahre ausbauen können. Zweitens. Wir brauchen ein Förderprogramm für die deutschen grenznahen Regionen. Ich bitte Sie, nicht nur davon zu sprechen, sondern den Vorschlag des Kommissars Verheugen aufzugreifen, ihn zu unterstützen und ihn auch umzusetzen. Wir haben ja auch in den Ländern Verbündete. Denn es gibt in diesem Zusammenhang eine gemeinsame Initiative des Freistaates Sachsen, Mecklenburg-Vorpommerns, Brandenburgs, Berlins und des Freistaates Bayern. Greifen Sie diesen gemeinsamen Vorschlag auf und setzen Sie ihn um! ({7}) Drittens. Wir fordern, dass im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung nach dem Vorbild der Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ ein Programm für dort erforderliche Verkehrsprojekte aufgelegt wird. Seit der Öffnung der Grenze vor zehn Jahren hat zum Beispiel das Verkehrsaufkommen zwischen Bayern und Tschechien drastisch zugenommen, und es wird sich noch deutlich verstärken, wenn die Osterweiterung kommt. Wir müssen deswegen die Verkehrsprojekte vorantreiben, und wir brauchen Projekte analog zu den Projekten „Deutsche Einheit“. Viertens. Ich hatte schon erwartet, dass bei der heutigen Diskussion zur Anfrage der CDU/CSU-Fraktion ein ganz klares Bekenntnis zur GA abgegeben wird. Sie sprechen davon, dass uns die Kommission in Brüssel einschränkt. Manchmal habe ich sogar den Eindruck, dass dies der Bundesregierung Recht ist, um so einen Schuldigen zu finden und die Gelder reduzieren zu können. In der mittelfristigen Finanzplanung werden die Mittel bis 2004 reduziert. Das ist kein Bekenntnis zur Gemeinschaftsaufgabe. Meine fünfte Forderung hat bereits der Herr Staatssekretär angesprochen: Wie es mit der Strukturpolitik nach 2006 weitergehen wird, steht momentan in den Sternen. Es soll bis 2003 eine ganz klare Position eingenommen werden. Ich bitte dringend darum, dass die Beitrittsverhandlungen auch unter dem Gesichtspunkt der Strukturpolitik geführt werden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Strukturpolitik wird auch in Zukunft notwendig sein. Deswegen bin ich der Meinung, dass wir die Instrumente der EU und die nationalen Instrumente verstärkt aufeinander abstimmen müssen. Dann werden wir auch eine Perspektive haben. In diesem Sinne treten wir gemeinsam für die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse ein, wie sie auch im Grundgesetz festgeschrieben sind. Herzlichen Dank. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Werner Schulz.

Werner Schulz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002108, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach einer spannungsgeladenen und äußerst kontroversen Debatte zur Rentenreform beraten wir jetzt mit der Unterrichtung durch die Bundesregierung zum 29. Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ für den Zeitraum 2000 bis 2003 - ein endlos langer Titel - ein offensichtlich weniger strittiges Thema. Es ist ein Thema, bei dem sehr große Übereinstimmung herrscht, zumindest was den Erfolg dieses Instrumentariums betrifft. Allein die Zahl 29 verweist darauf, dass wir es hier mit einer sehr langen Tradition zu tun haben. Es geht um ein Instrument, das immer wieder verbessert, präzisiert und an die bestehenden Verhältnisse und Probleme angepasst worden ist. Es ist ein Instrument, das sich bewährt hat und ausgereift ist und das nie automatisch oder schematisch fortgeschrieben worden ist. Betrachten wir allein die Gewährung von Lohnkostenzuschüssen. Diese haben gerade in den ostdeutschen Bundesländern gute Dienste geleistet. Das zeigt, dass die Fördermöglichkeiten den Problemen angepasst, ausgeweitet und vertieft worden sind. Auch diesmal, bei der 29. Rahmenplanung, gibt es Änderungen, die die weitere Differenzierung der Förderung betreffen. Wir haben die strikte Unterteilung, dass der Osten praktisch in die Fördergebiete A und B aufgegliedert ist und der Westen in die Fördergebiete C und D. Schon daran erkennt man die Priorität, die der Förderung der strukturschwachen Regionen im Osten nach wie vor eingeräumt wird und werden muss. Wir haben bei der Beurteilung der Förderfähigkeiten und der Investvorhaben Veränderungen vorgenommen. Damit ist nicht mehr der Zeitpunkt der Antragstellung entscheidend. Jetzt wird zeitnah über die Sachlage entschieden. Damit können wir zielgenauer, effektiver und aktueller fördern. Somit haben wir eine Verbesserung des Instruments erreicht. So werden beispielsweise bei der Infrastrukturhilfe Missbrauch und Mitnahmeeffekte künftig ausgeschlossen. In gewisser Weise sind Mängel behoben worden. Wir reden über ein Instrument, das sich bei der aktiven Regionalpolitik vor allen Dingen im Osten bewährt hat. Es ist neben der Investitionsförderung eine der tragenden Säulen der Strukturhilfe beim Aufbau Ost. Die Gemeinschaftsaufgabe ist mit großem Erfolg verbunden gewesen. Staatssekretär Mosdorf hat einige Zahlen schon vorgestellt. Allein in den Jahren 1997 bis 1999 haben Bund und Länder gemeinsam, wie sich das gehört, durch ihre Unterstützung - sie betrug 16 Milliarden DM Investitionen in Höhe von etwa 60 Milliarden DM angestoßen. Das sicherte über 300 000 Arbeitsplätze. 110 000 neue Arbeitsplätze wurden auf diese Art und Weise durch die Förderung neu geschaffen. Ich will an dieser Stelle eines wirklich nicht verbergen - das ist ein kritisches Moment; deswegen liegt heute ein Entschließungsantrag vor -: Beim Abbau der Arbeitslosigkeit gibt es noch immer eine Disproportion zwischen Frauen und Männern. Wir haben hier ein sehr einschneidendes Problem. Die offiziell ausgewiesene Arbeitslosenquote liegt bei den Männern bei 15 Prozent und bei den Frauen bei über 19 Prozent. Wir sind hierfür von einer UNO-Kommission gerügt worden, die sich mit der Diskriminierung von Frauen beschäftigt. Die Bundesrepublik wurde deshalb gerügt, weil die Förderung von Frauen nicht in dem erforderlichen Maß geschieht, besonders in den ostdeutschen Bundesländern. Deswegen haben wir einen Entschließungsantrag eingebracht, der die Bundesregierung in dieser Hinsicht besonders verpflichtet; denn man sieht die Disproportion bei der GA auch dieses Mal. Im Westen werden demnächst dreimal so viele Dauerarbeitsplätze für Männer wie für Frauen entstehen. Im Osten ist diese Zahl doppelt so groß. Das heißt, es werden im Osten bedeutend mehr Arbeitsplätze für Männer als für Frauen entstehen. Dies geschieht vor dem Hintergrund der derzeitigen Problemlage, dass viele Frauen vom Aufbau Ost ausgeschlossen sind. Der Aufbau Ost findet zwar statt; aber er kann offensichtlich Frauen nicht die erforderlichen Arbeitsplätze bieten. Das dürfen wir nicht zulassen. ({0}) Ich will etwas zur Perspektive der Gemeinschaftsaufgabe sagen, die vor dem Hintergrund der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, der Globalisierung, der Beschleunigung des technischen Fortschritts, der EU-Osterweiterung und der Fortsetzung des wirtschaftlichen Aufholprozesses in Ostdeutschland stattfindet. Hier besteht auch künftig ein enormer regionalpolitischer Handlungsbedarf. Das heißt, dass die Akteure in den Regionen noch stärker eingebunden werden müssen. Im Grunde genommen entscheidet sich letztlich vor Ort, ob der Strukturwandel von Erfolg gekrönt ist. Deswegen geht es hier um eine wesentlich bessere Abstimmung zwischen den Akteuren. Ich will auf ein Problem eingehen, das mir wichtig erscheint: Es ist die Osterweiterung der EU und die damit auf uns zukommenden Aufgaben, gerade für die neuen Bundesländer. Wenn man so will, war die deutsche Vereinigung der erste Schritt auf dem Weg zur Osterweiterung, den wir jetzt weitergehen müssen. Wir müssen diese Regionen noch wesentlich besser auf das vorbereiten, was auf sie zukommt. Die Infrastruktur muss weiter ausgebaut und verbessert werden; denn der eigentliche Tauglichkeitstest findet bei den neuen Strukturen in Ostdeutschland statt. Der Strukturwandel in den Regionen wird durch die EU-Osterweiterung beschleunigt und erneut auf den Prüfstand gestellt, sodass enormer regionalpolitischer Handlungsbedarf besteht. Wir gehen allerdings davon aus, dass gerade die Bundesregierung - das ist deutlich geworden - diese Aufgabe voll erkannt und im Visier hat, dass sie ihrer Verantwortung nachkommen wird. Das erhoffen wir uns auch von den regionalpolitischen Verantwortungsträgern; denn die Entscheidungen müssen in den Ländern und Regionen getroffen werden. Es liegt vor allen Dingen im Interesse der betroffenen Regionen, rechtzeitig auf den Wettbewerbsund Anpassungsdruck zu reagieren. Bei aller Unterstützung durch den Bund: Die Initiativen müssen vor Ort greifen. Es wurde die Frage gestellt, wo die Zukunft der Strukturpolitik liegt. Kollege Hofbauer, Sie haben gesagt, sie stehe in den Sternen; aber sie ist natürlich auch nach 2006 in den europäischen Sternen zu suchen. Das ist eindeutig. Allerdings - diese Kritik sollten wir aufnehmen - muss der nationale Handlungsspielraum erhalten bleiben. Die restriktiven Maßnahmen der EU, mit denen wir zu tun haben, sind nicht in jeder Weise förderlich. Bei diesen Aspekten müssen wir darauf achten, dass wir in der europäischen wie in der nationalen Förderpolitik zu einer Übereinstimmung kommen. Das heißt, 2006 stellt sich nicht nur die Frage der europäischen Kongruenz, sondern auch die Frage, wie wir das im eigenen nationalen Rahmen weiterführen werden: Werden wir die Differenzierung zwischen Ost und West so beibehalten oder haben wir mittlerweile eine solche Anpassung erreicht, dass auch hier eine Neubestimmung der Gemeinschaftsaufgabe vonnöten ist? Sind wir mithilfe dieses Instruments nun so weit, dass wir das, was wir unter einheitlichen Arbeits- und Lebensbedingungen in Deutschland verstehen, überall erreicht haben? Das heißt, der Handlungsbedarf - europäisch und national - ist nach 2006 in hohem Maße gegeben. Ich danke Ihnen. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die F.D.P.-Fraktion hat der Kollege Rainer Brüderle.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Regionale Wirtschaftsförderung bleibt nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch in einigen Regionen der alten Bundesländer notwendig. Sie verfolgt das Ziel, schwach entwickelten oder ländlichen Regionen eine Entwicklungs- und Wachstumsperspektive zu geben. Dafür steht ein regionalpolitischer Instrumentenmix zur Verfügung, der in aller Regel öffentliche Mittel zur Anschubfinanzierung beinhaltet. Regionale Wirtschaftsförderung ist insofern ein wichtiger Baustein der Wirtschaftspolitik. Für weniger entwickelte Regionen bedeutet regionale Wirtschaftspolitik eine Chance auf bessere Wachstumsaussichten. Deshalb muss strukturschwachen Regionen auch das Recht auf eine eigenständige Regionalpolitik zugebilligt werden. ({0}) Vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich, dass die Bundesregierung auf Betreiben der 16 Länderwirtschaftsminister vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die willkürliche Beschneidung des deutschen Förderplafonds klagt. Die Reduzierung des deutschen Förderplafonds von 23,4 Prozent auf 17,6 Prozent der Gesamtbevölkerung durch die Europäische Kommission verringert das GA-Fördergebiet automatisch um mehr als 2 Millionen Einwohner. Entsprechend schmälern sich die Entwicklungs- und Wachstumschancen in strukturell benachteiligten deutschen Regionen. Der Gang vor den Europäischen Gerichtshof sollte die Bundesregierung und insbesondere Bundeswirtschaftsminister Müller, der wieder mal - wie jedes Mal, wenn eine wichtige Debatte zu wirtschaftspolitischen Themen, etwa zum Jahreswirtschaftsbericht, ansteht - sein Desinteresse durch Abwesenheit dokumentiert, ({1}) nicht davon entbinden, politisch weiter für die Sache der regionalen Wirtschaftsförderung zu kämpfen. Ich will hier nicht die Frage aufwerfen, ob sich der Wirtschaftsminister in Brüssel für die regionale Wirtschaftsförderung ähnlich stark einsetzt wie beispielsweise für die Kohlebeihilfen. Aber ein politisches Einlenken der Europäischen Kommission wäre bei der Rücknahme der nicht nachvollziehbaren Beschränkungen der Förderkulisse und im Interesse der betroffenen Regionen in jedem Fall wünschenswert. Wir sind uns darin einig, dass wir einen europäischen Wirtschaftsrahmen und eine Ordnungspolitik brauchen. Das ergibt sich schon allein aus der Idee eines gemeinsamen Marktes. Wer Wettbewerb in Europa will, der muss für diesen Wettbewerb auch einheitliche Spielregeln festlegen. Vorstöße, Herr Staatssekretär, wie bei der Forderung Ihres Ministers nach einem nationalen Energiesockel, sind dagegen nicht nur ordnungspolitisch mehr als fragwürdig, sondern auch regionalpolitisch kontraproduktiv. ({2}) Sie stellen nämlich nicht nur die Waren- und Dienstleistungsfreiheit des europäischen Binnenmarktes infrage; sie schwächen darüber hinaus das berechtigte Interesse an regionalpolitischen Aktivitäten in Deutschland. Werner Schulz ({3}) Die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ verfolgen im Gegensatz zu dem angedachten nationalen Energiesockel ein anderes Ziel. Sie sind nämlich dazu gedacht, die Wettbewerbsfähigkeit in strukturschwachen Regionen zu fördern. Sie sollen also Wettbewerb erst richtig möglich machen. Dagegen soll der müllersche Energiesockel Wettbewerb ausschließen. ({4}) Diesen Unterschied muss auch die Bundesregierung und vor allen Dingen der Bundeswirtschaftsminister erkennen. Es muss sichergestellt werden, dass eine eigenständige regionale Politik möglich bleibt. Das gebietet auch das Subsidiaritätsprinzip. Dieses Prinzip ist im Amsterdamer Vertrag ausdrücklich festgeschrieben; zudem ist es wirtschaftspolitisch geboten. Der dahinter stehende Gedanke der Hilfe zur Selbsthilfe stärkt den Wettbewerb sowie die Zielgenauigkeit beim Einsatz der Mittel und verbessert damit auch die regionale Infrastruktur. Regionale Wirtschaftsförderung soll langfristige Entwicklungs- und Wachstumsprozesse möglich machen. Es geht deshalb nicht an, dass die Europäische Kommission versucht, den Handlungsspielraum regionaler Wirtschafspolitik immer weiter einzuschränken. Dieser neue europäische Zentralismus ist für die Chancen Europas insgesamt kontraproduktiv. ({5}) Die Europäische Kommission will die Dinge bis ins kleinste Detail regeln, und zwar starr und bürokratisch. Die Regionen sind damit vor Ort nur noch ausführende Organe der Zentrale in Brüssel. Das kann nicht der richtige Ansatz sein. Die Regionen haben damit kaum noch die Möglichkeit, den Instrumentenmix subsidiär nach den Gegebenheiten vor Ort selbst zu bestimmen, da bei kleinsten Abweichungen von den Vorgaben ein beihilferechtliches Verfahren durch die Europäische Kommission droht. Damit werden die Wirkung der regionalen Wirtschaftsförderung nachhaltig geschwächt sowie die Zielgenauigkeit des Mitteleinsatzes und der Wettbewerb unterschiedlicher Ansätze untergraben. Das ist ein elementarer Verstoß gegen das Prinzip der Subsidiarität. ({6}) Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, sich in Brüssel für eine wettbewerblich orientierte dezentrale Regionalpolitik stark zu machen. Eine europäische Ordnung darf nicht den eigenverantwortlichen Einsatz der festgesetzten Mittel verhindern, sie muss ihn vielmehr fördern. Um dem Prinzip des gemeinsamen Marktes zu entsprechen, reicht es, für die Regionen zentral ein bestimmtes Budget zu fixieren. ({7}) Die Gestaltung des Mitteleinsatzes muss allerdings in regionaler Verantwortung bleiben. ({8}) Das schafft für die Kommunen und Regionen mehr Handlungsspielraum und stärkt somit das Subsidiaritätsprinzip. Wir sind angesichts der Erfolge der kommunalen Selbstverwaltung davon überzeugt, dass dieser Grundsatz richtig ist. Es hat seinen Grund, weshalb die Dinosaurier erdgeschichtlich ausgestorben sind. Brüssel darf nicht der neue Dinosaurier werden. Sie kennen diese Viecher: wenig Kopf und viel Hinterteil. Wir brauchen viel Kopf und wenig Hinterteil. ({9}) Ohne eine selbstbestimmte Regionalpolitik wären Entwicklungsschübe wie in Irland oder in Spanien nicht denkbar gewesen. Die Ursachen für den Umstand, dass Irland - gottlob - vom Sorgenkind zur Boomregion Europas aufgestiegen ist, liegen in europäischen Strukturmitteln, allerdings verbunden mit gekonnter ortsnaher Ansiedlungspolitik. Es zeigt, wie wichtig eine eigenverantwortliche Handlungsweise ist. Ich möchte zum Schluss kommen: Die Bundesregierung muss sich dringend weiteren Problemfeldern der Regionalförderung annehmen, etwa der Tatsache, dass die europaweiten Spielregeln in unterschiedlichen Regionen unterschiedlich eingehalten werden. Man hat manchmal den Eindruck, dass die Europäische Kommission mit zweierlei Maß zu messen scheint. So darf es zum Beispiel nicht sein, dass in meinem Heimatland Rheinland-Pfalz die Schuhindustrie in Pirmasens vor die Hunde geht, weil andere Länder die Schuhproduktion europarechtswidrig massiv subventionieren. ({10}) Das widerspricht zutiefst dem Wettbewerbsgedanken eines gemeinsamen Marktes. Deshalb muss sich die Regierung für eine einheitliche Anwendung der Spielregeln in allen Regionen Europas einsetzen. Nur dann finden diese prinzipiell sinnvollen Rahmenbedingungen auch eine Akzeptanz, die notwendig ist. Die Bedeutung des Wirtschaftsministeriums in der Regierung muss gestärkt werden; der Wirtschaftsminister muss mit seiner Lustlosigkeit aufhören und ins Parlament kommen, wenn er gefordert ist. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die PDS-Fraktion spricht der Kollege Rolf Kutzmutz.

Rolf Kutzmutz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002713, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es hat manche Irritation gegeben und deshalb will ich für meine Fraktion zu Beginn klarstellen: Auch wir setzen uns natürlich für die Erhaltung des wichtigen Instruments der Wirtschaftsförderung, der Gemeinschaftsaufgabe, ein. Das Instrument muss aber zweifellos - das ist hier schon angesprochen worden - ständig qualifiziert werden, damit es langfristig trägt. Dabei geht es uns um drei Aspekte: Im diesjährigen Rahmenplan sind Beiträge der GA für die Arbeitsmarktpolitik und die Stadtentwicklung ausgebaut worden; die Förderung von Frauen - Herr Kollege Schulz hat dazu etwas gesagt kommt neu hinzu. Es gibt eine Reihe von Absichtserklärungen, zu denen die PDS-Fraktion bekanntlich bereits in der vergangenen Wahlperiode Taten gefordert hat. Aus diesem Grund werden wir den Koalitionsantrag zur Bekämpfung der Frauenarbeitslosigkeit mithilfe der Gemeinschaftsaufgabe auch - trotz der Beweihräucherung der Bundesregierung - unterstützen. Hier liegt aber das erste Problem: Der Rahmenplan ist sehr innovativ, das alltägliche Fördergeschäft verdient diese Bezeichnung aber aus meiner Sicht noch nicht. ({0}) So wird im Rahmenplan ausdrücklich eine arbeitsmarktpolitische Initiative des Bundeslandwirtschaftsministeriums für die Landwirtschaft und den ländlichen Raum erwähnt. In dessen Etat wird bereits - ich zitiere von in diesem Zusammenhang zu ergreifenden Maßnahmen durch das Wirtschaftsministerium gesprochen. Nur, im Wirtschaftsetat findet sich dazu nichts. Unsere Nachfragen beantwortete das Wirtschaftsministerium mit der lapidaren Feststellung, das GA-Fördersystem sei ohnehin so breit angelegt, dass neben spezifischen regionalpolitischen Zielen auch andere Politikbereiche unterstützt werden könnten. Aber Sie wissen so gut wie ich, dass die bisherigen GA-Mittel allesamt schon durch traditionelle Förderung gebunden sind. Insofern wären unsere entsprechenden Haushaltsanträge mit ihren bescheidenen Ansätzen wenigstens ein kleines Signal für dringend nötige tatsächliche Vernetzungen regional wirksamer Maßnahmen. ({1}) Damit bin ich beim zweiten Problem angelangt. Das Ziel der Gemeinschaftsaufgabe ist hier mehrfach beschrieben worden - insoweit gibt es auch Übereinstimmung -: regionale Wirtschaftsförderung, die zur Gleichbehandlung von strukturschwachen Regionen im regionalen Standortwettbewerb beitragen soll. Aber, was passiert in der Praxis auch, und zwar, Herr Brüderle, eben nicht nur zwischen Staaten, sondern auch innerhalb der Bundesrepublik Deutschland? Da verlagert beispielsweise - ich beschränke mich nur auf eines von mehreren Beispielen - eine Zwiebackfirma ihre Produktion aus einem strukturschwachen Gebiet West, deshalb höchstgefördert, in ein für Ostverhältnisse strukturstärkeres Gebiet, deshalb niedrig gefördert. Im schwachen Westen werden 430 Arbeitsplätze vernichtet, im nicht viel schwächeren Osten nur 100 neue geschaffen, natürlich zu den vergleichsweise miserablen dortigen Lohn- und Arbeitsbedingungen. Das Ganze wird dann auch noch mit einem zweistelligen Millionenbetrag aus den Mitteln der Gemeinschaftsaufgabe gefördert. Nicht, dass wir von der PDS uns nicht über neue Arbeitsplätze im Osten freuen würden. Das ist nicht die Frage. Aber wenn die Angleichung der Lebensverhältnisse in den Regionen wie in dem geschilderten Fall auf eine Angleichung nach unten hinausläuft, wird das ganze Fördersystem diskreditiert. ({2}) Damit bin ich beim dritten Aspekt angelangt. Breiten Raum sowohl in den Fragen der CDU/CSU als auch in den Antworten der Regierung nimmt die Kritik an der restriktiven Beihilfengenehmigung durch die EU-Kommission ein. Das hat heute ebenfalls eine Rolle gespielt. Aber kann sich denn hierzulande über den - dieser Satz ist nicht von mir; ich zitiere - multisektoralen Rahmen für große Vorhaben in der Regionalförderung wirklich jemand ernsthaft wundern, wenn er sich Elf/Leuna, die Vulkan-Werften oder VW Mosel vor Augen hält? Auch bei der Klage gegen die Beschränkung der westdeutschen Fördergebiete sollten wir zumindest keine trügerischen Illusionen aufkommen lassen. Mit der neuen Härte hat die Kommission zwar ihre 30-jährige eigene Praxis revidiert, aber faktisch nur eine rechtlich durch nichts abgesicherte Privilegierung Deutschlands beendet. Es wäre aus meiner Sicht abenteuerlich, im Rat auf Mehrheiten, geschweige denn Einstimmigkeit zur Änderung der dem entgegen stehenden Beihilferichtlinie oder gar des EG-Vertrages zu setzen. Wir sollten, statt nur auf Brüssel zu schimpfen und zu klagen, eine offensive Strategie für die Zukunft angehen. Das heißt eben auch, zügig mit einer Reform der nationalen Regionalförderung zu beginnen. Zum einen müssen im Rahmen der institutionellen Reform und der Osterweiterung der EU politische Freiräume für nationale Politik errungen werden. Zum anderen sollte auch die Gemeinschaftsaufgabe selber im Rahmen der anstehenden grundlegenden Reform der Bund-Länder-Beziehungen - ich nennen nur Stichworte: Länderfinanzausgleich und Solidarpakt - überprüft werden. So könnte sie vielleicht auf eine reine Infrastrukturförderung, die jedoch im umfassenden Sinne auch den Kultur- und den Sozialbereich beinhalten sollte, beschränkt werden. Die einzelbetriebliche Förderung läge dann in der Finanzhoheit der Länder. Dies wiederum würde aber einen wirklich gerechten Länderfinanzausgleich voraussetzen, bei dem beispielsweise die so genannten Geberländer bei der Finanzkraftermittlung auch die kommunalen Steuereinnahmen voll erfassen müssten. Das sind natürlich nur erste Überlegungen zu einem durchaus komplexen Thema. Statt aber nur zu klagen, sollten wir tatsächlich mit diesen ernsthaften Überlegungen beginnen. Danke schön. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Christian Müller, SPD-Fraktion.

Christian Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! An sich ist es ein schöner Anlass, dass wir heute Gelegenheit haben, über die Regionalförderung und die Gemeinschaftsaufgabe zu diskutieren. Das Gute daran ist vielleicht auch, dass, bei allen Versuchen mehr oder weniger berechtigter Kritik, in bestimmten grundlegenden Positionen Gemeinsamkeiten vorhanden sind. Diese möchte ich zunächst unterstreichen, weil sie uns schon deshalb verbinden, weil wir, so hoffe ich, alle der Meinung sind, dass wir mit der Gemeinschaftsaufgabe ein modernes und leistungsfähiges Instrument der Regional- und Wirtschaftsförderung vor uns haben, das ausgebaut werden kann und bei dem wir die Chance haben, all jene Disparitäten, über die heute schon geredet worden ist, besser in den Griff zu bekommen. ({0}) Wir werden uns sicherlich auch auf eine gemeinsame Position gegenüber der Europäischen Union verständigen können. Wir sollten die Bundesregierung unterstützen, Herr Hofbauer, anstatt sie der Nachlässigkeit zu zeihen. Das haben wir in diesem Jahr auch schon gemeinsam im Wirtschaftsausschuss getan. Ich glaube nicht, dass Sie ernsthaft der Meinung sind, die Bundesregierung habe das Ganze schleifen lassen. Die Bundesregierung hat von Anfang an versucht, die bestehenden Handlungsspielräume zu erhalten. Wir alle sollten die Bundesregierung in ihrer Haltung gemeinsam bestärken. ({1}) Ich halte es auch nicht für richtig, wenn Sie der Meinung sind, dass der Gemeinschaftsaufgabe in der Bundespolitik nicht mehr die gleiche Bedeutung wie früher zukommt. Das Gegenteil ist der Fall: Wir alle sind uns ihrer Bedeutung bewusst. Das gilt auch für das Bundeswirtschaftsministerium. Man sollte jetzt nicht etwas konstruieren, so wie Sie es getan haben, Herr Brüderle, um die heutige Abwesenheit des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie zu erklären und auszunutzen. ({2}) Die Herausforderung Osterweiterung ist ein Thema, das uns alle sicherlich stark beschäftigt. Die Frage nach den Konzepten steht sehr wohl im Raum. Sie hat in der Beantwortung der Großen Anfrage eine wesentliche Rolle gespielt. Ich möchte unterstreichen, dass wir - das ist der entscheidende Ansatz - die vorhandenen Instrumente von der nationalen GA über die Strukturfonds bis hin zu den Interreg-Programmen bis 2006 nutzen müssen, wenn wir bessere Voraussetzungen für die Bewältigung der Herausforderung Osterweiterung schaffen wollen. Ein anderer Punkt - darauf ist schon hingewiesen worden - ist genauso wesentlich: Wir müssen die nationalen Handlungsspielräume auch für die Zeit nach 2006 erhalten oder, wenn sie verloren gegangen sind, zurückgewinnen. Das ist die wichtigste Aufgabe, bei deren Erfüllung wir alle - auch die Länder - die Bundesregierung unterstützen sollten. Die Frage, was in diesem Zusammenhang zu tun ist, ist sicherlich auch von Bedeutung. Deswegen sollten wir in Ruhe darüber nachdenken, was es bringen soll, kostenträchtige Zusatzprogramme von der Europäischen Union zu fordern, wenn vielleicht dadurch Begehrlichkeiten anderer europäischer Länder geweckt werden. Darüber sollten wir in Ruhe nachdenken. Wichtig ist, dass eine europäische Unterstützung für die Freiräume, die wir zu gewinnen suchen, erfolgt. Das andere gehört sicherlich auch in den Kontext. Wir sollten dies nicht aus den Augen verlieren. Da ich gerade die Konzepte angesprochen habe, möchte ich noch auf Folgendes hinweisen: Wir sollten alles tun, um die Funktion der Gemeinschaftsaufgabe, die ohnehin politikfelderübergreifend angelegt ist, zu stärken. Sie hat, wie ich schon gesagt habe, in der Tat das Zeug dazu, ein universelles und vernünftiges Förderungsinstrument zu sein, und muss es auch bleiben. Wir müssen uns alle darüber klar werden, dass die Verbindung verschiedener Politiken der entscheidende Ansatz sein muss. Es kommt nicht immer nur auf Geld bzw. Haushaltsmittel an, so wichtig es auch ist, dass eine Gemeinschaftsaufgabe mit den entsprechenden Mitteln ausgestattet ist. Es kommt darauf an, dass wir die Synergieeffekte, die durch die Verbindung verschiedener Politiken entstehen, nutzen. Das Problem besteht darin, dass wir in einer Region zu wenig projekt- und problembezogene Politiken auf eine Entwicklungsaufgabe hin organisieren können. Daran werden wir vor allen Dingen arbeiten müssen. Ich denke, dass wir das Thema „Entwicklung von unten“ noch einmal ins Auge fassen müssen. Entwicklung von unten ist der entscheidende Ansatz, um Erfolge erzielen zu können. Sie erinnern sich alle daran, dass wir das Thema der regionalen Entwicklungskonzepte, der integrierten Konzepte seit Jahren in den Rahmenplänen finden. Die praktischen Erfahrungen zeigen, dass in sehr vielen - vor allem aber auch schwachen - Regionen sich bedauerlicherweise nicht die Kräfte befinden, die das vernünftig organisieren. Dies muss auch von unten ausgehen. Bund und Länder sollten ein Stück mehr Verantwortung dafür übernehmen, die Konsensbildung in den Regionen anzustoßen und voranzubringen. Dies ist für die in der Transformation befindlichen ostdeutschen Regionen ein wichtiges Thema. Sehen Sie sich einmal unseren Ansatz des regionalen Managements an, der noch in den 29. Rahmenplan hineingebracht worden ist. Es ist ein vernünftiges Instrument. Mit diesem regionalen Management können wir Defizite, die in den Landratsämtern und anderswo vorhanden sind, ausgleichen helfen. Wenn es uns gelänge, in verschiedenen Modellprojekten Erfolge zu erzielen, wäre das gut. Das ist eine unserer Initiativen, für die Sie uns loben könnten, meine Damen und Herren. ({3}) Ich darf noch etwas in diesem Zusammenhang erwähnen. Christian Müller ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege!

Christian Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich will dies noch zu Ende bringen, dann kann Herr Brüderle seine Frage stellen. Wenn wir verschiedene Politiken miteinander verknüpfen wollen, um Synergieeffekte zu erzielen, kommt der ostdeutsche Inno-Regio-Wettbewerb ins Spiel. Mit diesem Anstoß zur Vernetzung haben wir die Möglichkeit, eine Verbindung moderner, zeitgemäßer, innovativer Industrien bzw. Unternehmen zur Gemeinschaftsaufgabe herzustellen und eine Verbesserung regionaler Wirtschaftsstrukturen zu erreichen. Es ist ohnehin klar, dass durch Inno-Regio angestoßene Projekte in der zweiten Phase in der Regel auch der Finanzierung durch Mittel der Gemeinschaftsaufgabe bedürfen. Auch das gehört zu den Konzepten, die wir verfolgen werden. So, Herr Kollege Herr Brüderle, Ihre Frage.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Brüderle, Sie können Ihre Frage stellen.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Müller, Sie haben den Regionalmanager angesprochen. Muss nicht ein Landeswirtschaftsminister Regionalmanager sein? Ist es nicht ein Ausweis dafür, dass das Wirtschaftsministerium seine Aufgaben nicht anständig erfüllt, der Wirtschaftsminister sich nicht um seine Angelegenheiten kümmert, wenn wir jetzt Ersatzmanager sein müssen? Dann können wir den Wirtschaftsminister abschaffen. Diese Aufgliederung verstehe ich nicht. Ein Wirtschaftsminister - ich war es zwölf Jahre lang - ist ein Regionalmanager. Wenn er es nicht ist, ist er fehl am Platz. ({0})

Christian Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001545, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Brüderle, wir können gelegentlich bei einer Weinreise durch Rheinland-Pfalz überprüfen, ob das so ist. Die Erfahrungen, die uns vorliegen, besagen, dass diese Art von Management durch den Landeswirtschaftsminister nicht zwangsläufig in allen Bundesländern in den bedürftigen Regionen Wirkung zeigt. Im Übrigen sind wir uns darin einig, wenn wir von integrierter Regionalentwicklung reden, dass es eine von unten ist. Das heißt, die Konsensbildung in der Region ist ein wesentliches Element. Die Regionalmanager sollen zunächst einmal den Regionen helfen. Dass die Landesregierung und die Landeswirtschaftsminister als diejenigen, die Regionalförderungspolitik durchführen, in das Boot gehören, versteht sich von selbst. Aber machen Sie es nicht kleiner, als es ist. Es ist sicherlich nicht das Ei des Kolumbus, aber es hilft in diesem Fall sehr, die regionale Konsensbildung bei den Regionen, die es allein nicht schaffen, anzustoßen und voranzubringen. Die stärkeren Regionen brauchen das sicherlich nicht. Nun möchte ich noch zwei Bemerkungen zu dem machen, was Sie, Herr Kutzmutz, angesprochen haben; das schließt sich unmittelbar an die Frage von Herrn Brüderle an. Sehr oft läuft das tägliche Fördergeschäft nicht so gut. Jeder kann die Wirtschaftsförderung seiner eigenen Landkreise daraufhin überprüfen. Es ist ein ernsthaftes Handicap, wenn dort das nötige Engagement der Verantwortlichen nicht zustande kommt. Im Übrigen hat es auch etwas damit zu tun, dass ein Landrat seinen Landkreis natürlich als Region ansieht. Auch wenn dies nachvollziehbar sein mag, entspricht es doch den Erfordernissen keinesfalls. Da die Region mehr als nur ein Landkreis ist, muss mit dem Regionalmanager ein zusammenführendes Element eingebaut werden. Vielleicht kann man auf diese Weise über die vielerorts anzutreffende Kirchturmspolitik hinwegkommen. Sie haben auch die Reform der Bund-Länder-Finanzbeziehungen angesprochen. Wir müssen an dieser Stelle gemeinsam daran arbeiten, dass uns die Gemeinschaftsaufgabe auch nach dieser Reform erhalten bleibt, weil sie geeignet ist, als ein Ordnungsrahmen zu wirken, einen Systemansatz beinhaltet, den Subventionswettlauf der Regionen in geordnete Bahnen lenkt, die Koordinierung der raumwirksamen Politiken verstärkt, die Bündelung der Länderinteressen gegenüber Brüssel ermöglicht und damit dem Verfassungsauftrag entspricht, der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse näher zu kommen. Insofern ist eine Substitution durch die europäische Regionalförderung nicht möglich. Wir brauchen - das ist ganz wichtig - die Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur auch nach 2006, ({0}) weil unser regionalpolitischer Handlungsbedarf erhalten bleiben wird. Wir dürfen sogar annehmen, dass er noch zunimmt. Meine Damen und Herren, dies ist Anlass genug, in dieser Debatte festzuhalten, dass wir die Bundesregierung in ihren Bemühungen unterstützen sollten, die notwendigen Handlungsspielräume zu gewinnen und zu erhalten. Vielen Dank. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Kollege Ulrich Klinkert für die CDU/CSU-Fraktion.

Ulrich Klinkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001134, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man den Verlauf der Debatte verfolgt, stellt man fest, dass wir parteienübergreifend der Meinung sind, dass die regionale Wirtschaftsförderung eines der wichtigsten Instrumente ist, um regionale Nachteile auszugleichen, vor allen Dingen den ländlichen Raum zu fördern und die Strukturentwicklung voranzubringen. In den letzten Jahren wurde durch dieses Instrument Beschäftigung gesichert, wurden in den Regionen Tausende von Arbeitsplätzen geschaffen. In den alten wie in den neuen Bundesländern wurde die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ intensivst genutzt und fast zu 100 Prozent abgeschöpft, wenn man einmal vom Land Sachsen-Anhalt absieht, das es nur auf eine 78-prozentige Ausnutzung der zur Verfügung gestellten Mittel gebracht hat. ({0}) Aber in diesem Bundesland werden die Schwerpunkte offensichtlich nicht auf Investitionen in Arbeitsplätze gelegt. Wir haben auch gehört, dass die regionale Wirtschaftsförderung aus verschiedenen Gründen in Zukunft so wie bisher leider nicht fortgesetzt werden kann. Die Brüsseler Bürokratie verlangt eine Reduzierung des Bevölkerungsplafonds auf 17,6 Prozent bei der nationalen Förderung. Dies betrifft vor allen Dingen die alten Bundesländer. Der Unterausschuss „Regionale Wirtschaftspolitik“ hat ja parteienübergreifend die Bundesregierung ermuntert, rechtliche Schritte gegen Brüssel einzuleiten. Die Bundesregierung hat, was wir ausdrücklich unterstützen, eine Klage beim Europäischen Gerichtshof eingereicht. Wir erwarten aber von der Bundesregierung - darin stimme ich dem Kollegen Hofbauer eindeutig zu -, dass sie sich engagierter als bisher für die Interessen des Bundes, der Länder und der deutschen Wirtschaft einsetzt. ({1}) Man hat den Eindruck, dass die rot-grüne Bundesregierung in Brüssel keine allzu große Autorität besitzt. Die Folge ist die Beschneidung nationaler Spielräume. Aber gerade für Gebiete, die von der EU-Osterweiterung besonders betroffen sein werden, sind eigenverantwortliche, nationale Handlungsmöglichkeiten immens wichtig. Deutschland hat jetzt nur noch die Chance, in den Beitrittsverhandlungen so aufzutreten, dass es einerseits anerkennt, dass EU-Strukturfondsmittel - wir haben sie schließlich durch unsere Einzahlungen maßgeblich zur Verfügung gestellt - sehr wohl in die Beitrittsländer weitergeleitet werden, dass es andererseits aber auch die Möglichkeit hat, den Strukturwandel in den Grenzgebieten Deutschlands eigenverantwortlich weiterhin zu unterstützen. Es darf nicht sein, dass die Missbrauchskontrolle der Europäischen Union zur Verhinderungsstrategie jeder nationalen Förderung missbraucht wird. ({2}) Gerade in diesem Punkt erwarten wir - ich sage es noch einmal - ein stärkeres Engagement der Bundesregierung. Die Osterweiterung - daran soll nicht der leiseste Zweifel bestehen - ist eine politische Notwendigkeit und eine wirtschaftliche Chance. Aber wir dürfen auch deren Risiken nicht übersehen, insbesondere diejenigen für die grenznahen Regionen, sowohl in West als auch in Ost. Wenn vermieden werden soll, dass es zu Standortverlagerungen oder zu Kundenbewegungen massiven Ausmaßes in die Beitrittsländer kommt, dann muss sich die Regierung dafür einsetzen, dass die Strukturnachteile ausgeglichen werden können. Dabei ist die Wirtschaft in den neuen Bundesländern in einer besonders kritischen Situation, weil in den Unternehmen oft finanzielle Rücklagen fehlen - dadurch können Schwankungen schlecht ausgeglichen werden - und wir von einer wirtschaftlichen Stabilität insgesamt noch weit entfernt sind. Allerdings hat die Bundesregierung gerade an dieser Stelle die Weichen in die falsche Richtung gestellt. Anstatt dass mit der GA die Wirtschaft weiter stabilisiert wird, erfolgt eine massive Kürzung der Wirtschaftsförderung in den neuen Bundesländern, und zwar, um es in Zahlen auszudrücken, von 1998 bis 2004 um immerhin 42 Prozent, ({3}) das heißt von 2,94 Milliarden DM auf 1,7 Milliarden DM. Ich halte dies schlicht für unverantwortlich. ({4}) Dabei müssten die Zahlen der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern bei der Bundesregierung die Alarmglocken klingeln lassen; denn das Wirtschaftswachstum fällt im Vergleich zu den alten Bundesländern und die Arbeitslosigkeit stagniert auf sehr hohem Niveau. ({5}) Noch 1998 wollte sich der neu gewählte Bundeskanzler an der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit messen lassen. ({6}) Wenn man sich die Ergebnisse in den neuen Bundesländern ansieht, dann erkennt man: ({7}) - Hören Sie mir doch erst einmal zu! Ich sage, wie die Zahlen in der Realität aussehen. 1998 betrug die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern 17 Prozent. Im Jahr 2000 wird sie bei ungefähr 17,1 Prozent liegen. Im günstigsten Fall wird sie im kommenden Jahr - auch nach Aussage der Wirtschaftsweisen - um 0,4 Prozentpunkte sinken. Anders ausgedrückt: Die Arbeitslosigkeit betrug 1997 im Osten ungefähr das 1,8fache der Arbeitslosigkeit im Westen. Sie wird im Jahr 2001 das Zweieinhalbfache der Arbeitslosenquote im Westen betragen. Wer dann noch davon spricht, dass bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern ein maßgeblicher Erfolg erzielt worden ist, der verkleistert schlichtweg die Augen der Menschen. ({8}) Vor dem Hintergrund der Lage, in der sich die neuen Bundesländer befinden, ist die massive Kürzung der Regionalförderung unverantwortlich. Im Entschließungsantrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu diesem Tagesordnungspunkt ist von „Verstetigung der Mittel“ oder von einer „erfolgreichen Politik der Bundesregierung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ die Rede. Ich empfinde das als Verhöhnung der Menschen in den neuen Bundesländern. ({9}) Meine Damen und Herren, wir brauchen eine Bundesregierung, die in der Lage ist, sich in Brüssel durchzusetzen. Wir brauchen aber mindestens genauso dringend eine Bundesregierung, die im eigenen Land etwas bewegen kann, statt es zu lähmen. Vielen Dank. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin ist die Kollegin Christel Humme für die SPD-Fraktion.

Christel Humme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003155, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Herr Klinkert, im Oktober hatten wir den niedrigsten Stand der Arbeitslosigkeit seit sechs Jahren - gute Aussichten für das kommende Jahr. ({0}) Auch die fünf Weisen haben gestern einen weiteren Rückgang der Arbeitslosigkeit um 200 000 Personen vorausgesagt. Gleichzeitig verzeichnen sie hohe Wachstumsraten der Wirtschaft von 3 Prozent in diesem Jahr und im nächsten Jahr. ({1}) Das ist das Ergebnis der erfolgreichen Wirtschafts-, Wachstums- und Beschäftigungspolitik der Bundesregierung. Auch die ostdeutsche Wirtschaft wächst. So ist dort das verarbeitende Gewerbe mit einem Produktionszuwachs von 8,4 Prozent in 1999 erstmalig zum Träger von Wachstum und Beschäftigung geworden. Liebe Kollegen und Kolleginnen, trotz - da gebe ich Ihnen teilweise Recht - vieler anderer positiver Signale profitieren die Arbeitsmärkte in den neuen Ländern noch nicht in gleichem Maße wie die Arbeitsmärkte in den alten Ländern. Das ist korrekt. In Bezug auf die Arbeitslosenquote ist Deutschland immer noch in Ost und West gespalten. Deshalb begrüßen wir es ausdrücklich, dass Bundesregierung und Bundesländer weiterhin auf die Strukturpolitik setzen. Solange nämlich die Lebensverhältnisse gespalten sind, gibt es zur regionalen Wirtschaftsförderung, so wie sie hier mit dem 29. Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ vorgelegt wurde, keine Alternative. Eine effektive Strukturpolitik muss allerdings bestimmte Zielgruppen genauer ins Auge fassen. So zum Beispiel die Zielgruppe der Frauen, die der Kollege Werner Schulz dankenswerterweise bereits in seiner Rede berücksichtigt hat. Kaum eine Gruppe in Deutschland ist auf so bedrückende Weise von Arbeitslosigkeit betroffen wie die Frauen in Ostdeutschland. Der Einbruch bei der Beschäftigung nach der Wende traf Frauen in den neuen Bundesländern besonders stark. Bis heute, zehn Jahre danach, stellt sich der Arbeitsmarkt für Frauen nach wie vor weitaus ungünstiger dar als der für Männer. So liegt in den neuen Bundesländern die Arbeitslosenquote von Frauen im Jahre 1999 mit 19,8 Prozent deutlich höher als die der Männer, die bei 15,5 Prozent liegt; nämlich um mehr als ein Viertel. Hinzu kommt, dass Frauen es immer noch sehr viel schwerer haben, Arbeit zu finden. Nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit lag die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit von Frauen mit 36 Wochen fast 50 Prozent über der der Männer, die bei 24,6 Wochen lag. Im Vergleich zu den Frauen in den alten Bundesländern schneiden die Frauen in den neuen Bundesländern schlechter ab, denn sie sind mehr als doppelt so häufig arbeitslos. Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, wir verzeichnen also in einem doppelten Sinne gespaltene Lebensverhältnisse: zwischen den alten und den neuen Bundesländern einerseits, zwischen Frauen und Männern in den neuen Bundesländern andererseits. Wir stellen fest: Frauen sind überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen. Von den Erfolgen der regionalen Wirtschaftspolitik profitieren sie aber nur unterdurchschnittlich. Wir von SPD und Bündnis 90/Die Grünen stellen mit unserem Entschließungsantrag auf eine zielgenaue Strukturpolitik ab. Deshalb wollen wir, dass künftig Förderkonzepte unter dem Gesichtspunkt entwickelt werden, dass sie besser zur Überwindung der Frauenarbeitslosigkeit beitragen. Wir wollen im Rahmen einer Erfolgskontrolle die Maßnahmen ermitteln, die zur Überwindung der Frauenarbeitslosigkeit besonders erfolgreich sind. Wir wollen, dass künftig für die einzelnen Fördergebiete Arbeitsmarktdaten getrennt nach Frauen und Männern ausgewiesen werden. Mit einer solchen zielgenaueren Zuschneidung der Strukturpolitik leisten wir einen wesentlichen Beitrag zur Effizienzsteigerung und zur Herstellung von Chancengleichheit. Das gebieten nicht nur das Grundgesetz und der Amsterdamer Vertrag, das gebietet auch die ökonomische Vernunft. Das Potenzial unserer gut ausgebildeten Frauen nicht richtig zu nutzen wäre nämlich eine unglaubliche Verschwendung der einzigen Ressource, die Deutschland hat: eine Verschwendung von Wissen, Bildung und Erfahrung. Deshalb bitte ich Sie, dem Ihnen vorliegenden Entschließungsantrag zuzustimmen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist Kollege Wolfgang Börnsen für die CDU/ CSU-Fraktion. ({0})

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kollegen! Verehrte Bürgerinnen und Bürger! Mir hat das Bild von Rainer Brüderle gut gefallen, die EU-Regionalpolitik mit einem Dinosaurier zu vergleichen - kleiner Kopf und dicker Hintern, der alles platt macht. Für mich ist die EU-Regionalpolitik eher noch wie eine Krake. Sie erstickt immer mehr jede örtliche Initiative und das müssen wir gemeinsam ändern. ({0}) Die Regionalförderung der Vergangenheit, als es noch mehr Mitsprache gab, war ein Erfolg, ablesbar besonders an Arbeitsplätzen in den neuen Bundesländern. Von 1991 bis 1999 hat sie zur Sicherung von über 1 Million Arbeitsplätzen und zur Neuschaffung von 780 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen beigetragen. Das ist ein großer Erfolg für die regionale Strukturpolitik. Die Regionalförderung hat Wachstumsimpulse gegeben und zu modernen Strukturen beigetragen. Wer mit offenen Augen durch die neuen Bundesländer fährt, erlebt, dass sich eine ganze Region im Aufbruch befindet, hier ein Modellraum entsteht, der Vorbild und Beispiel der europäischen Osterweiterung werden wird. Doch noch gibt es strukturelle Verwerfungen, noch kann man von gleichen Lebensbedingungen in unserem Land nicht sprechen. Für fast 40 Prozent der Bevölkerung gilt: Ihr Einkommen liegt bis zu 25 Prozent unter dem europäischen Durchschnitt, so nachzulesen im Bericht der Bundesregierung zum 29. Rahmenplan. Er enthält weitere Feststellungen, die wir teilen: In den neuen Ländern ist die Aufholphase noch nicht abgeschlossen. Es gibt noch keinen sich selbst tragenden Aufschwung am Arbeitsmarkt. Und in den alten Ländern? Die Rahmenbedingungen für schwach strukturierte Regionen haben sich eher verschärft als gemildert, der Anpassungsdruck für Schwachregionen hat zugenommen. Die krisenhafte Lage im ländlichen Raum hat sich durch die EG-Agrarreform wesentlich verstärkt. Sie belastet die deutsche Landwirtschaft in Zukunft mit 5 Milliarden DM zusätzlich. Das Höfesterben nimmt zu. Aktuell kommt hinzu, dass der Truppenabbau gerade in den Randräumen Deutschlands eine folgenreiche zusätzliche Belastung mit sich bringt. Doch trotz dieser Herausforderungen, die ein Mehr an Maßnahmen und Mitteln erfordern, hat es in der regionalen Strukturpolitik eine Tendenz- und Wirkungswende gegeben. Tatsache ist: Seit dem 1. Januar 2000 ist der Förderumfang in Deutschland durch die EU-Kommission drastisch reduziert worden, von 40,7 Prozent der Gesamtbevölkerung auf 34,9 Prozent, fast 6 Millionen Einwohner weniger. Bei Ziel-2-Gebieten hat Brüssel bei 10,3 Millionen Menschen Schluss gemacht, dass heißt: um über 5 Millionen Einwohner reduziert. Tatsache ist: Die Förderkulisse in Deutschland-West ist auf dem niedrigsten Stand, den es je gab. Tatsache ist: Die EU hält immer mehr das Heft des Handelns in der Hand. Nationale Eigenständigkeit wird immer stärker zurückgedrängt. Brüssel diktiert das Geschehen, verbunden mit einem teilweise unvertretbaren bürokratischen Aufwand. Tatsache ist schließlich, dass die Regierung in ihrer Antwort mehr oder weniger verschlüsselt mitteilt: Mit einem Ende der Regionalförderung in Deutschland ist im Jahr 2006 zu rechnen. Tatsache ist aber auch, dass nur noch mit EU-Mitteln Regionen gefördert werden, in denen die Kaufkraftparität weniger als 75 Prozent des europäischen Gesamtdurchschnitts beträgt. Erinnern wir uns: Für fast 40 Prozent der Bevölkerung hat die Regierung Förderung von Brüssel gefordert. Das bedeutet, dass fast 40 Prozent unserer Bevölkerung in Einkommensverhältnissen leben, die unter dem europäischen Durchschnitt liegen. Es gibt also eine Wohlstandsgrenze in unserem Land, nicht nur zwischen Ost und West, sondern noch mehr zwischen Ballungsräumen und ländlichen Räumen, und sie wird durch steigende Energiekosten und durch die Ökosteuer immer weiter verschärft. ({1}) Wer Binnenwanderung verhindern will, die zu neuen großen Problemen in unserem Land führen wird, muss zügig unserem Verfassungsauftrag zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse gerecht werden. Allein die Binnenwanderung zwischen Ost und West betrug in den letzten zehn Jahren 1 Million Menschen. Die Regierung argumentiert: Die neuen Bundesländer bleiben mit 20 Milliarden DM in der höchsten Förderstufe bis 2006. 500 Millionen DM zusätzlich fließen jährlich in die Strukturförderung. Deutschland erhält also noch einmal einen anständigen Schluck aus der Pulle, bis es in Sachen Regionalhilfe Tabula rasa gibt. Doch der Schluck bleibt im Hals stecken, wenn man die Gesamtleistung Deutschlands in Brüssel und die Rückflüsse vergleicht. Im Einzelplan 60 unseres Haushalts ist nachlesbar: Deutschland wird in diesem Jahr 42,8 Milliarden DM an die EU abführen und erhält 21 Milliarden DM zurück, weniger als 50 Prozent. Für 2001 sind 44,9 Milliarden DM vorgesehen, für 2002 45,9 Milliarden DM. Das sind fast 26 Prozent des EU-Haushalts, Tendenz steigend. Die Rückflüsse dagegen stagnieren bei gut 21 Milliarden DM. Von einer Steigerung der Strukturmittel ist keine Rede, sie bleiben für sieben Jahre eingefroren. Einen tatsächlichen Rückgang gibt es bei den nationalen Mitteln für die Gemeinschaftsaufgabe. Gab es in Deutschland West 1991 noch 1 Milliarde DM, gibt es heute im neuen Haushalt nur noch 242 Millionen DM, also 750 Millionen DM weniger. Ich finde - da sind wir uns ja auch alle einig -, dieser Abbau muss gestoppt werden. Wir von der Union erwarten: Es darf zu keinem Ende der Regionalförderung nach 2006 kommen. ({2}) Die Regionalförderung muss raus aus der europäischen Zentralisierung, wieder zurück in nationale Kompetenz. Es darf nicht bei dem alleinigen Initiativrecht der EU in der Regionalpolitik bleiben. Den nationalen Regierungen ist das Initiativrecht einzuräumen. Es muss auch nach 2006 ein Programm für periphere Regionen geben. Der Antrag unserer Fraktion, ein Grenzlandgürtel-Aktionsplan, sollte eine breite Unterstützung erfahren. - Wir erwarten in diesen fünf Punkten aktives Regierungshandeln. In der Regionalpolitik hat es in der Vergangenheit stets eine breite parlamentarische Basis gegeben. Dabei sollte es bleiben. Unsere überfraktionelle Initiative, für die armen Schlucker zu streiten, hat zweifellos dazu beigetragen. Für die Unterstützung dabei möchte ich mich besonders bei meinem Kollegen Christian Müller sowie bei der APER bedanken, die mit Umsicht die Interessen der Region wahrnehmen. Doch auch die APER ist der Auffassung, dass die Praxis der Regionalförderung eine Reform braucht. Eine Betriebsgründung in Neubrandenburg wird mit 50 Prozent EU- und GA-Fördermitteln bezuschusst, in Berlin mit fast 30 Prozent, in meiner Heimatstadt Flensburg mit 15 Prozent, weil Schleswig-Holstein keine Ergänzungsmittel aufbringen kann.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluss. Alle Städte gehören zu Fördergebieten. Wie wird wohl ein Betriebsgründer bei diesen unterschiedlichen Bedingungen entscheiden? Wir brauchen eine Veränderung dieser Bedingungen. Wir brauchen ein Ende der Wettbewerbsverzerrung bei der Regionalförderung. Wir brauchen mehr Gerechtigkeit. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3250 an die in der Tagesordnung auf- geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschlie- ßungsantrag auf Drucksache 14/4623 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b und , wie heute Morgen beschlossen, die Tagesordnungspunkte 16 a und 16 b auf: 5 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Dr. Max Stadler, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Zuwanderung - Drucksache 14/3679 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({0}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik- folgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Dr. Max Stadler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. „Berliner Rede“ des Bundespräsidenten umsetzen - Zuwanderung nach Deutschland verbindlich regeln - Drucksache 14/3697 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik- folgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien 16 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen über die Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland - Drucksache 14/2674 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({2}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik- folgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Eva Bulling-Schröter, Roland Claus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Kurdische Namensgebung in der Bundesrepublik Deutschland ermöglichen - Drucksache 14/3749 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({3}) Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen, wobei die F.D.P.Fraktion zehn Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Guido Westerwelle von der F.D.P.-Fraktion. Wolfgang Börnsen ({4})

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will zunächst eine Bemerkung zu der Tatsache machen, dass wir eine verbundene Debatte führen. Unabhängig von Geschäftsordnungsüberlegungen möchte ich mein persönliches Empfinden zum Ausdruck bringen, dass ich es sehr bedauere, dass der Bericht der Ausländerbeauftragten, den ich für ein sehr bemerkenswertes Dokument halte, sozusagen an diese Debatte angehängt beraten werden muss. Dieser Bericht hätte eine eigene Debatte in diesem Hause verdient, ({0}) weil eine Reihe von hervorragenden Anregungen in ihm enthalten sind. Vieles, was dort enthalten ist, entspricht nicht meiner Meinung und auch nicht der Meinung meiner Fraktion; aber darum geht es an dieser Stelle nicht. Der Bericht wäre eine exzellente Diskussionsgrundlage gewesen. Ich bedauere es nachdrücklich und halte dieses Vorgehen für einen großen Fehler. ({1}) Wir reden in Deutschland auf der einen Seite immer davon, dass die Migrationspolitik eine zentrale Aufgabe für unsere Gesellschaft darstelle. Wenn aber der Bundestag durch eine entsprechende Debatte zum Ausdruck bringen kann, dass es sich um eine solch zentrale Angelegenheit unserer Gesellschaft für die Zukunftsfähigkeit handelt, dann müssen wir auf der anderen Seite erleben, dass die verschiedenen Punkte in einen Topf geworfen werden, sodass eine Differenzierung kaum noch möglich ist. ({2}) Wir Freien Demokraten legen heute zum zweiten Mal einen entsprechenden Gesetzentwurf vor. Er wurde erstmalig 1997 vom Bundesrat auf Initiative von Rheinland-Pfalz eingebracht. Dieser Gesetzentwurf trägt die Handschrift des verstorbenen Justizministers von Rheinland-Pfalz, Peter Caesar, der gewissermaßen noch im Nachhinein ein großes Kompliment für seine Arbeit bekommt. Denn dieser Gesetzentwurf ist auch heute noch modern und zeitgemäß. Lange bevor in diesem Haus darüber diskutiert wurde, ob wir eine Zuwanderungsregelung brauchen, hat er das Problem erkannt und Lösungen vorgelegt. Lange Zeit gab es in diesem Hause keine Bereitschaft - von der Bereitschaft Einzelner abgesehen -, die Zuwanderungspolitik endlich als eine Chance und als eine Notwendigkeit für die Politik zu begreifen. Es ist wirklich bemerkenswert, dass Peter Caesar als Mitglied der sozialliberalen Regierung von Rheinland-Pfalz schon lange vor der Zeit einen solchen Gesetzentwurf vorgelegt hat. ({3}) Heute diskutieren wir über diesen Gesetzentwurf, der natürlich - das ist gut so - überarbeitet und aktualisiert worden ist, um die Erkenntnisse aus den Debatten der letzten Jahre aufzugreifen. Eine moderne Migrationspolitik muss nach Auffassung der Freien Demokraten auf zwei Säulen stehen: Wir müssen erstens diejenigen, die in Deutschland leben, auf vernünftige Weise integrieren, und wir müssen zweitens denjenigen, die nach Deutschland kommen, ein geregeltes Zuwanderungsverfahren ermöglichen. ({4}) Jeder andere Ansatz wäre nicht zeitgemäß. Wir haben in dieser Legislaturperiode - über die Parteigrenzen hinweg - schon ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht beschlossen, das ein Optionsmodell beinhaltet. Dieses Optionsmodell kommt übrigens den Regelungen sehr nahe, die die Landesregierung von Rheinland-Pfalz und die wir als Freie Demokraten seinerzeit eingebracht hatten. Dieser Teil der in dieser Legislaturperiode anstehenden Aufgabe ist erledigt. Die Erledigung des anderen Teils liegt noch vor uns. Es ist aus unserer Sicht ein Fehler, wenn Kommissionen - egal, ob es sich um eine Regierungskommission oder um, wie bei der Union, eine parteigebundene Kommission handelt -, die sich mit einer modernen Zuwanderungspolitik beschäftigen, lediglich als Instrument der Vertagung dienen. ({5}) Wir möchten mit unserem Gesetzentwurf parlamentarischen Druck aufbauen, damit noch in dieser Legislaturperiode ein modernes Zuwanderungsrecht im Interesse aller in Deutschland Lebenden beschlossen wird.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Westerwelle, gestatten Sie Zwischenfragen der Kollegen Cem Özdemir und Dieter Wiefelspütz?

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, selbstverständlich.

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich danke Ihnen, dass Sie uns die Möglichkeit geben, Zwischenfragen zu stellen. Herr Kollege Westerwelle, angesichts der Tatsache - Sie haben vorhin das Staatsangehörigkeitsrecht angesprochen und die Rolle von Rheinland-Pfalz bei dem Versuch, einen Kompromiss zu finden, erwähnt -, dass Ihre Fraktion einen Antrag vorgelegt hat, der eine Gebührensenkung und eine Verlängerung der Frist beinhaltet, bis zu der die Kinder nachträglich in den Genuss des Geburtsrechts kommen, möchte ich Sie fragen: Sind Sie mit mir darin einig, dass die Tatsache, dass gerade die erste Generation von dem Angebot des neuen Staatsangehörigkeitsrechts weniger Gebrauch macht, als es vor der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts der Fall war, ein Beleg dafür ist, dass gerade die Teile, die Rheinland-Pfalz in das Gesetz eingebracht hat, dazu beigetragen haben, dass die Akzeptanz des Gesetzes bei denen, für die wir das Gesetz gemacht haben, nämlich den Nichtdeutschen, leider nicht so ist, wie wir uns das wünschen sollten?

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, dieser Meinung bin ich nicht. Ich glaube auch, dass Sie da die Initiative der Freien Demokraten gründlich missverstehen wollen. Zunächst zur Frage hinsichtlich der ersten Generation. Ich bin unverändert der Auffassung - das ist die Meinung meiner Fraktion und es ist das, was der Deutsche Bundestag auf unsere Initiative hin beschlossen hat -, dass jemand, der seit Jahrzehnten in Deutschland lebt, beurteilen kann, ob er die deutsche Staatsangehörigkeit braucht. Wenn das so ist, braucht er keine zweite. Das Zweite, was dazu gesagt werden muss, betrifft die Kinder, die bereits geboren sind. Wir haben in unserem Gesetz, das wir über die Parteigrenzen hinweg verabschiedet haben, beschlossen, dass sich die Kinder, die in Deutschland geboren werden und mit dem deutschen Pass groß werden, dann, wenn sie volljährig sind, entscheiden müssen, ob sie den Pass ihrer Eltern oder den deutschen Pass haben möchten. Denn wir sind der Meinung, Integrationspolitik setzt ein Integrationsangebot, aber auch eine bewusste Integrationsentscheidung der Betroffenen voraus. Jetzt ging es um die Übergangsregelung für Kinder, die bereits in Deutschland geboren wurden und für die wir im Gesetz eine so genannte analoge Regelung beschlossen haben. Die Praxis zeigt, dass zum Beispiel die Gebühren in diesem Zusammenhang ein Hindernis für etwas sind, was wir politisch erreichen möchten, nämlich dass möglichst viele Kinder die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen, damit sie sich hier integrieren. Wenn man nun aufgrund der Erfahrungen mit dem Verwaltungsverfahren nach einem Jahr zu neuen Erkenntnissen gelangt ist, dann wäre es doch borniert, wenn der Deutsche Bundestag diese nicht zur Kenntnis nehmen und seine gesetzgeberischen Konsequenzen nicht dementsprechend ziehen würde. ({0}) Deswegen haben wir unseren Antrag vorgelegt. Wenn Sie das genauso sehen, ist es mir gleichgültig, ob Sie in der Debatte sagen: Das habe ich, Özdemir, schon vor 80 Jahren gesagt. - Meinetwegen, Hauptsache, Sie stimmen zu. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Wiefelspütz, Ihre Frage bitte.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, ich möchte ausdrücklich erklären: Ich wollte den Kollegen Özdemir nicht kränken, indem ich den Eindruck erwecke, er sähe aus wie 80. ({0}) Bitte, Herr Wiefelspütz.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Westerwelle, Sie haben gerade die so genannte Zuwanderungskommission als Verschiebebahnhof kritisiert, wenn ich das richtig verstanden habe. Sind Sie denn ernsthaft der Auffassung, Kollege Westerwelle, dass unsere frühere Kollegin Frau Schmalz-Jacobsen, Ausländerbeauftragte der damaligen Bundesregierung - von uns allen sehr geschätzt -, dieser Kommission ihre Arbeitskraft, ihr Engagement, ihre Begabung, ihre schöpferische Leistung ({0}) in der Erkenntnis zur Verfügung stellt, dass dies ein Verschiebebahnhof ist? Das kann ich nicht glauben. Widerlegen Sie mir das bitte!

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Zunächst einmal, Herr Kollege, möchte ich ausdrücklich die positiven Attribute, die Sie mit meiner Parteifreundin Cornelia Schmalz-Jacobsen verbunden haben, unterstreichen. ({0}) Mir wäre es lieb gewesen, Sie hätten das schon in der alten Legislaturperiode öffentlich so gesagt. ({1}) Nun jenseits der Frotzelei mit großem Ernst: Nein, ich bin nicht der Auffassung, dass diese Kommission ein Fehler ist, überhaupt nicht. ({2}) Im Gegenteil, wenn Sie, Herr Kollege, nachlesen, was ich hier im Bundestag schon mehrfach gesagt habe, werden Sie feststellen, dass ich immer der Meinung war, dass die Einsetzung der Kommission sinnvoll ist. Meine Partei will aber verhindern - deswegen machen wir parlamentarischen Druck -, dass diese Kommission lange als Verschiebebahnhof gebraucht wird, weil man Angst vor der eigenen Courage hat. Wir wollen, dass in dieser Legislaturperiode nicht nur getagt, sondern ein Gesetz verabschiedet wird. ({3}) - Das war die Arroganz der Macht, Herr Kollege Wiefelspütz. Die sollten Sie sich nach zwei Jahren noch nicht angewöhnen. ({4}) Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch der Herr Bundespräsident hat sich mit sehr klaren Worten für eine gesetzliche Einwanderungsregelung ausgesprochen. Er hat am 12. Mai dieses Jahres eine bemerkenswerte Berliner Rede gehalten. Dort finden wir auch Aussagen zur Notwendigkeit einer entsprechenden Einwanderungssteuerung. Wenn ein Verfassungsorgan, in dem Falle unser Bundespräsident, diese in kurzen, prägnanten Worten als Notwendigkeit beschreibt, dann steht es dem Deutschen Bundestag gut an, wenn er eine solche Initiative des Bundespräsidenten begrüßt und damit zum Ausdruck bringt, dass er in diesem Fall für uns alle gesprochen hat. ({5}) Deswegen rechne ich mit Ihrer Zustimmung, was den vorliegenden Antrag angeht. Ich glaube, das ist wirklich das Mindeste, was man erwarten kann. Ich möchte mich noch einmal an Sie von den Grünen wenden - denn ich habe mir natürlich angeschaut, was Sie in Ihrem Parteirat beschlossen haben, und in dem Papier nachgelesen, das Sie in diesem Zusammenhang gemeinsam vorgelegt haben -: Sie müssen erkennen, dass die Zeit, in der Sie in der Opposition waren, vorbei ist. Heute erwartet man von Ihnen nicht Denkschriften, sondern Gesetzentwürfe. ({6}) Wenn Sie in der Regierung sind, können Sie nicht nur beschreiben und formulieren, was Sie gerne hätten. Vielmehr müssen Sie bereit sein, so mutig zu sein, den parlamentarischen Weg einzuschlagen. Sie haben bis heute dazu keinen Gesetzentwurf eingebracht. Es ist traurig, dass bis heute im Deutschen Bundestag nur ein Gesetzentwurf der F.D.P. bezüglich einer kontrollierten Zuwanderungssteuerung vorliegt. ({7}) Sie müssten meiner Einschätzung nach mehr machen, als Sie bisher getan haben. ({8}) Aufsätze zu schreiben ist eine schöne Tätigkeit, Herr Kollege Özdemir. Das tue auch ich gelegentlich gerne. Aber wir erwarten hier auch von Ihrer Fraktion Schwarzbrot. ({9}) Meine Damen und Herren, Kernpunkt einer Zuwanderungssteuerungspolitik muss sein, dass wir in Deutschland bereit sind zu quotieren. Wir müssen bereit sein, Zuwanderungshöchstgrenzen festzusetzen. Der große Unterschied zwischen Ihrer Politik und unserer Politik besteht derzeit darin, dass Sie eigentlich eine Politik einer nach oben offenen Zuwanderung machen wollen, ({10}) während wir sagen: Zuwanderung braucht Höchstgrenzen bzw. Höchstquoten und muss sich endlich auch an wohlverstandenen nationalen Interessen in unserem Lande ausrichten. ({11}) Jedes Land in Europa und im Grunde genommen auch jedes andere Einwanderungsland geht einerseits den Weg der Integration und andererseits vor allen Dingen auch den Weg der gezielten Zuwanderungssteuerung. Wir in Deutschland müssen selbstverständlich entscheiden, wen wir zum Beispiel unter beruflichen Gründen, unter Bildungsgesichtspunkten und Altersstrukturgesichtspunkten nach Deutschland einladen, wen wir hier haben möchten, weil er, weil sie unser Land voranbringt. Das hat nichts mit irgendwelchen humanitären Überlegungen zu tun und nichts damit, dass Ansprüche aus Art. 16 des Grundgesetzes in irgendeiner Weise beschränkt werden sollen. An die CDU/CSU gerichtet, möchte ich feststellen: Ich halte es für einen großen Fehler der Konservativen, dass sie die gesamte Diskussion über eine bessere Zuwanderungssteuerung, die heutzutage endlich geführt werden muss, mit einer ziemlich platten Asyldiskussion verbinden. ({12}) Das Problem in Deutschland und das Problem unserer Rechtslage ist nicht das Asylrecht. Wer, weil er verfolgt und an Leib und Leben bedroht wird, in Deutschland Schutz sucht, der muss in jedem Fall auch in Zukunft Schutz finden. ({13}) Die Frage ist vielmehr: Haben wir nicht ein Vollzugsdefizit? Müssen die Länder nicht eine verbesserte Vollstreckung, was Abschiebungen angeht, durchführen? Ich kann nicht akzeptieren, dass wir in Deutschland Asylbewerber haben, die rechtskräftig abgelehnt und sogar wegen Straftaten verurteilt wurden und dann anschließend nicht in das Land zurückgeführt werden, aus dem sie kamen. Das gefährdet in Wahrheit die Akzeptanz des Asylrechts in Deutschland sehr viel mehr. Darüber muss meiner Einschätzung nach eine Diskussion geführt werden. ({14}) Pauschale Begriffe wie zum Beispiel „Leitkultur“ das Wort „Überlegenheitskultur“ würde sehr viel besser passen ({15}) führen uns kein bisschen weiter. Sie müssen sich der sachlichen Auseinandersetzung stellen. ({16}) Wer nach Deutschland kommen will, der muss bereit sein, sich zu integrieren, der muss natürlich unsere Sprache lernen, ({17}) sich auf den Boden unserer Verfassung begeben und unser Werteverständnis haben. Es ist ein Fehler, wenn Sie diese ganze Diskussion beenden wollen, indem Sie ein Schlagwort in die Welt setzen und mit einem Anspruch der Überlegenheit jede differenzierte Diskussion erschlagen. ({18}) Das wollen wir als Freie Demokraten jedenfalls nicht. Auch dies zeigt den Unterschied zwischen einer konservativen und einer modernen liberalen Partei. ({19}) Meine Damen und Herren, wir möchten - das ist eine Diskussion, die wir in diesem Haus führen möchten und müssen -, dass die Zuwanderungspolitik in Deutschland auf ein gesetzliches Fundament gestellt wird. ({20}) Es ist für uns selbstverständlich, dass es humanitäre Ansprüche gibt. Es ist für uns selbstverständlich, dass Menschen, die verfolgt werden, Schutz brauchen. Aber ebenso selbstverständlich muss sein, dass Deutschland berechtigt ist, nach eigenem wohlverstandenen nationalen Interesse selbst zu entscheiden, wer zu uns kommt und hier leben soll. Integration gehört selbstverständlich dazu. Diesen Weg werden Sie irgendwann - früher oder später - mitgehen. Sie werden behaupten, Sie hätten ihn erfunden. Sie werden diesen Weg mitgehen, da bin ich mir ganz sicher. ({21})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesinnenministerium, Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002191

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Westerwelle, ich glaube, niemand hier im Haus braucht ein Patent darauf anzumelden, dass er der Erfinder eines Einwanderungsgesetzes sei; denn bis auf CDU/CSU haben in den vergangenen Jahren alle Parteien, die hier vertreten sind, ihre Konzepte entwickelt. Den Werdegang in meiner Partei kenne ich nun wirklich genau. ({0}) Uns sollte nicht das Windhundprinzip leiten, sondern die Einsicht, dass ein gutes Gesetz - ich betone: ein gutes Gesetz ({1}) zur Steuerung der Zuwanderung sorgfältige Vorarbeit voraussetzt: umfangreiche Datensammlungen und Prognosen, den Blick über den Tellerrand unserer nationalen Grenzen hinaus, klare begriffliche Zuordnungen und nicht zuletzt - das ist sehr wichtig - das Werben um die Akzeptanz bei den Bürgern. ({2}) Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., legen offenbar mehr Wert auf Profilierung als auf Konsens. ({3}) Das finde ich schade, denn einige Elemente Ihres Gesetzentwurfs sind erwägenswert und greifen Vorschläge auf, die wir schon vor etlichen Jahren gemacht haben. ({4}) So bringt die F.D.P., Herr Zeitlmann, noch einmal die Überlegung ein, die Entscheidung über die Aufnahme von Zuwanderern in Deutschland nicht nur wirtschafts-, arbeitsmarkt- und entwicklungspolitisch, sondern auch unter Berücksichtigung humanitärer Gesichtspunkte zu treffen. - Herr Westerwelle, Sie haben offenbar übersehen, dass es in Ihrem eigenen Entwurf auch um humanitäre Aspekte ging. - Ich finde es ebenso richtig, dass man die Vorbedingungen beim Namen nennt, die ein Interessent erfüllen muss, damit sein Zuwanderungsantrag angenommen werden kann. Andere Teile dieses Gesetzentwurfs aber sind wenig durchdacht, sie sind bürokratisch und setzen vor allem zu einseitig auf die Pflichten des Zuwanderers, anstatt ihm auch Angebote zu Hilfen und Entgegenkommen bei der Eingliederung zu machen. Die neuen Chancen, die die Bundesregierung ausländischen Computerspezialisten einräumt, als „kurzfristige bereichsspezifische Spezialregelung“ abzutun, führt in die Irre. ({5}) Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, welche Bresche die Green-Card-Initiative der Bundesregierung in eine absolut festgefahrene und von Vorurteilen und Denkblockaden überwucherte öffentliche Diskussion über Migrationsfragen geschlagen hat! ({6}) Die Wirkung war so stark, dass sich die CDU in ihrem neuen Thesenpapier von dem Dogma, dem zufolge Deutschland kein Einwanderungsland sei, gelöst hat und zur - freilich sehr späten - Einsicht gekommen ist. Das möchte ich Ihnen, den Kollegen von der Union, ausdrücklich bescheinigen. Sie haben sich bewegt, wenn auch zehn bis 15 Jahre zu spät. Sie haben das zweifellos in dem Bemühen getan, die tiefe Kluft zwischen sich und der Wirtschaft ein bisschen zu überbrücken. ({7}) So weit, so gut. Es wäre alles ganz ordentlich gelaufen, hätten sich nicht Herr Merz und Frau Merkel selber mit der unseligen und unsäglichen Leitkultur-Debatte wieder in den Sumpf hineingezogen. Welch eine vertane Chance! Es geht doch nicht an, dass Sie vormittags von Weltoffenheit und Toleranz sprechen und Solidarität mit den Minderheiten in unserer Gesellschaft bekunden und abends mit deren Ausgrenzung auf Stimmenfang gehen. Eine solche Politik darf es nicht geben. ({8}) Es geht auch nicht an, unsere christlich-abendländische Tradition zum Fundament unseres Zusammenlebens zu erklären, dabei aber völlig zu ignorieren, dass wir es mittlerweile auch mit Menschen anderer Religionsgemeinschaften zu tun haben, die friedlich und auf Dauer bei uns leben wollen. Professor Oberndörfer, Politologe und Vorsitzender des Rates für Migration, schreibt: Zur Kultur der Bundesrepublik Deutschland gehören schon jetzt die religiösen Vorstellungen seiner jüdischen, muslimischen oder buddhistischen Staatsbürger. Einzelnen Minderheiten oder auch Mehrheiten wird die Freiheit des Bekenntnisses und der Werbung für ihre jeweiligen kulturellen Werte eingeräumt. Deren Verbindlichkeit für die Gesamtheit aber darf im modernen Verfassungsstaat nicht vom Staat und seinen Organen eingefordert und erzwungen werden. Ich glaube, Sie haben nicht erkannt, was dahinter steckt. ({9}) Da sich die CSU abermals vom Begriff des Einwanderungslandes Deutschland abgrenzt - wenn auch mit der relativierenden Einschränkung „klassisch“ -, und zugleich mit ihrer Absicht, das Asylrecht zu beschneiden, nicht hinterm Berg hält, während die CDU in dieser Frage offen bleibt, haben wir es - leider - mit einer tief gespaltenen Union zu tun. ({10}) Das kann uns freilich nicht davon abhalten, in der Frage der Zuwanderung nach einem breiten Konsens zu suchen; dies halte ich für sinnvoll. Die Bundesregierung hat großes Vertrauen in die Arbeit der kritisch gewürdigten Zuwanderungskommission unter Leitung von Frau Süssmuth. Auch die Bürgerinnen und Bürger begleiten diese Arbeit mit Sympathie. Ich kann nur an alle im Bundestag vertretenen Parteien ausdrücklich appellieren, die Empfehlungen, die diese Kommission im nächsten Sommer vorlegen wird, zu beherzigen. Wir kommen in der Debatte nur weiter, wenn wir Vorteile und Probleme der Migration offensiv und sachlich beim Namen nennen. Der Beitrag des Zuwanderers für unser gedeihliches Zusammenleben bezieht sich nicht nur auf Arbeits- und Kaufkraft, auf Steuerzahlungen und Sozialversicherungsabgaben, sondern zum Beispiel auch auf die Leistungen als Unternehmer und die integrationsfördernde Wirkung, die von ausländischen Familien ausgeht. Zum Bericht der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung sage ich ausdrücklich, dass wir ihn im Unterschied zur früheren Bundesregierung nicht cool-distanzierend abtun, sondern als einen wertvollen Beitrag zur migrationspolitischen Debatte gewürdigt wissen wollen. Ebenso wahr ist auch, dass nicht jeder Neuankömmling mit edlen Absichten hierher kommt, dass es Abschottungstendenzen und den Trend zu Parallelgesellschaften gibt. Nicht ohne Grund stellt die Bundesregierung im neuen Staatsangehörigkeitsrecht Anforderungen an Sprachkenntnisse und an Verfassungstreue. ({11}) Ich glaube auch, dass wir künftig die auf Dauer angelegte Zuwanderung mit klaren und verbindlichen Regelungen für die Integration verknüpfen sollten. Dass sich Zuwanderer sprachlich schulen, beruflich orientieren und auf unser Grundgesetz einlassen sollen, halte ich für selbstverständlich. ({12}) Allerdings muss ihnen der aufnehmende Staat auch den Weg dafür ebnen: mit erschwinglichen Sprachkursen sowie Rat und Betreuung. Vielleicht können wir uns vom niederländischen Modell der Eingliederungsvereinbarung anregen lassen, ohne es völlig zu kopieren. Eines sollten wir in diesem Zusammenhang hier im Parlament gemeinsam festhalten: Das verbale Sortieren von Zuwanderern in solche, die uns nützen, und solche, die uns ausnützen, ist menschenverachtend und gehört nicht in diese Auseinandersetzung. ({13}) Der Bundespräsident hat andere, wie ich finde, sehr viel treffendere Ausdrücke gewählt. Er sprach von Menschen, die uns brauchen, und Menschen, die wir brauchen. Beides markiert die möglichen Wege nach Deutschland. Der erste war zweifellos bisher der vorherrschende: Asylsuchende, Bürgerkriegsflüchtlinge, nachziehende Familienmitglieder, Aussiedler und Kontingentflüchtlinge sind gekommen. Das wird und muss auch in Zukunft möglich sein. ({14}) Ob und wie wir nun den zweiten Weg öffnen - durchaus auch aus eigenen Interessen, die demographisch, beschäftigungspolitisch und humanitär begründet sind -, wird in naher Zukunft zu entscheiden sein - wenn möglich, im Konsens der Demokraten. Konfuzius ist einmal gefragt worden, was er als Erstes täte, wenn er die Regierungsgewalt übernehmen könnte. Er hat geantwortet: Ich würde zuerst die Begriffe richtig stellen. Jetzt hören Sie bitte gut zu; denn es ist klar, was er meinte, Herr Kollege Marschewski. Er meinte, man müsse richtige und einfache Namen benutzen, um im Kopf und im Herzen Ordnung zu schaffen. ({15}) Nur so kann man die Köpfe und Herzen anderer Menschen erreichen und vermeiden, dass mit Schlagworten Missbrauch betrieben wird. Ich glaube, Sie wissen, worauf ich in meiner Schlussanmerkung hinaus möchte, nämlich auf den Appell, liebe Kolleginnen und Kollegen, das Wort „Leitkultur“ aus dem Verkehr zu ziehen, ({16}) und zwar ganz und gar, egal, ob man nun zwischen „deutsch“ oder „in Deutschland“ unterscheidet. Nach allem, was bei uns geschehen ist, einschließlich der barbarischen Zerstörung kultureller Vielfalt in der NS-Diktatur, sollten wir nicht mehr „leiten“ wollen. Mit einer Kultur der Bescheidenheit kommen wir sehr viel besser zurecht. Herr Kollege Westerwelle, eines möchte ich Ihnen zum Schluss noch ganz kurz sagen: Richten Sie Ihr flammendes Plädoyer für eine günstigere Gebühr für die Einbürgerung ausländischer Kinder unter zehn Jahren - darin stimmen wir alle, auch wir im Bundesinnenministerium, überein - doch bitte auch an die Länder und gewinnen Sie sie dafür, indem sie mit Verantwortung tragen! Dann kämen wir vor allen Dingen in der Verwaltungspraxis, die dies unter bestimmten Voraussetzungen ermöglicht, sehr viel weiter und könnten in den verbleibenden sechs Wochen, die diese gesetzliche Regelung noch vorsieht, vielen Kindern die Einbürgerung zu erträglichen Bedingungen ermöglichen. Danke schön. ({17})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Wolfgang Bosbach.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In leicht modifizierter Form liegt uns heute der recycelte Gesetzentwurf der F.D.P. aus den Jahren 1997 und 1998 vor - damals noch mit dem viel versprechenden Titel „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“, jetzt mit der neuen Überschrift „Gesetz zur Regelung der Zuwanderung“. Das bietet Anlass, auch im Deutschen Bundestag einmal über die Themen zu sprechen, über die in den vergangenen Wochen öffentlich heftig diskutiert wurde. Asylrecht, Zuwanderungspolitik, Integration und Staatsangehörigkeit sind wichtige Themen - und das zu Recht; denn es sind Megathemen mit Bedeutung für die Zukunft unseres Landes. Es geht um die Chancen und Perspektiven, die sich aus einer vernünftigen, die Interessen unseres Landes hinreichend berücksichtigenden Zuwanderungspolitik ergeben, und um die Vermeidung der Risiken, die zwangsläufig mit einer ungesteuerten und nach derzeitiger Rechtslage nur sehr begrenzt steuerbaren Zuwanderung verbunden sind. Es geht auch darum, wie wir die vielfältigen Integrationsprobleme lösen und dadurch die Lebensperspektiven der rechtmäßig und dauerhaft hier lebenden Ausländer spürbar verbessern können. Es geht dabei um ein friedliches und soweit wie möglich konfliktfreies Miteinander aller Menschen in unserem Lande, gleichgültig, welcher Hautfarbe, Nationalität oder Religion sie sind. Merkwürdigerweise halten wir uns immer noch viel zu lange mit der Erörterung der angeblich so wichtigen Frage auf, ob Deutschland nun ein Einwanderungsland sei oder nicht. Gegenfrage: Welche neue Erkenntnis gewinnt man eigentlich dadurch, dass man diese Frage - je nach Einschätzung und Interesse - mit Ja oder Nein beantwortet? ({0}) Wer die Ansicht vertritt, jedes Land, in das Menschen einwandern, sei ein Einwanderungsland, wird selbstverständlich zu der Auffassung gelangen, Deutschland sei ein Einwanderungsland. Wer meint, dass man zutreffenderweise nur solche Länder als Einwanderungsländer bezeichnen könne, die sich gezielt um Einwanderung bemühen, der wird die Bundesrepublik selbstverständlich nicht als Einwanderungsland bezeichnen, da wir seit dem Jahre 1973 aus guten Gründen nicht mehr um Zuwanderung werben. Nicht zuletzt durch die Erörterung dieser Frage drehen wir uns jetzt seit vielen Jahren rhetorischkraftvoll im Kreis und kommen keinen Meter von der Stelle. Vor wenigen Wochen begann eine erregte öffentliche Debatte über die Frage, ob man denn auch in Wahlkampfzeiten über Zuwanderungspolitik sprechen darf. Rot-Grün fürchtet diese Debatte offensichtlich deshalb, weil viele inhaltliche Positionen in der Bevölkerung nicht mehrheitsfähig sind. ({1}) Die Themen eines Wahlkampfes bestimmt der Wähler nach den politischen Herausforderungen der Zeit und nach seinen Problemen und Anliegen. Wer in die Wahlkabine tritt, der muss wissen, für welche Politik, aber auch gegen welche Politik er sich mit seiner Stimmabgabe entscheidet. Natürlich sind ausländer- und asylpolitische Themen gleichermaßen wichtig wie sensibel. Diese Feststellung kann aber im Umkehrschluss nicht bedeuten, dass sensible Themen im Wahlkampf nicht erörtert werden dürfen. ({2}) Ich ahne schon, was kommt: Die Rente ist so wichtig und die Gesundheitspolitik ist so kompliziert; deswegen darf die Union darüber nicht sprechen. Es kann doch nicht darauf ankommen, ob man über derartige Themen spricht, sondern darauf wie: mit welchen Worten, mit welchen Argumenten und welche politischen Ziele man vertritt. ({3}) Wenn sich demokratische Parteien verabreden würden, ausländerpolitische Themen in Wahlkämpfen zu tabuisieren, dann begingen wir einen verhängnisvollen Fehler. Wir würden dann ungewollt jene extremen politischen Kräfte stärken, die wir alle gemeinsam bekämpfen wollen. ({4}) In punkto Sensibilität muss sich die Abteilung RotGrün jedenfalls um CDU und CSU keine Sorgen machen. Falls gewünscht, bin ich gerne bereit, zu zitieren, wie sich der Wahlkämpfer Gerhard Schröder im letzten Bundestagswahlkampf dem Thema „Ausländer und Kriminalität“ mit der ihm eigenen Sensibilität genähert hat. ({5}) Was wäre eigentlich passiert, wenn sich ein Politiker der Union so wie der Wahlkämpfer Gerhard Schröder über das Thema Ausländerkriminalität geäußert hätte? Ein Sturm der Entrüstung wäre durch unser Land gegangen. Warum hat es eigentlich zum Thema „deutsche Leitkultur“ nicht schon im Juli 1998 einen Sturm der Entrüstung gegeben? Theo Sommer schrieb in der „Zeit“ vom 16. Juli 1998: Die überwölbende Gemeinschaft erträgt durchaus lebendige Untergemeinschaften - aber die Vielfalt hat sich in der Einheit zu bewähren. Ein Deutschland, das aus lauter Gettos besteht, ein paar für Türken, ein paar für Griechen, ein Dutzend für die Deutschen, kann nicht das Ziel sein. Töricht ist auch der Einfall, den Türken etwa formellen Minderheitenschutz zu gewähren wie den Dänen, den Sorben oder Friesen. Er liefe auf eine künstliche Absonderung hinaus, wo Integration angestrebt werden sollte - und Integration bedeutet zwangsläufig ein gutes Stück Assimilation an die deutsche Leitkultur und deren Kernwerte. ({6}) Warum hat sich keiner aufgeregt, als Professor Schmid von der Universität Bamberg das Gleiche mit anderen Worten in der Sachverständigenanhörung des Deutschen Bundestages zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes gesagt hat? Kein Einziger hat sich darüber aufgeregt. Es wäre nicht nur ungerecht, es wäre geradezu töricht, Theo Sommer und Professor Schmid wegen dieser Meinungsäußerungen zu unterstellen, sie seien latent ausländerfeindlich oder Stichwortgeber für den Rechtsextremismus. Das wäre einfach absurd. Wir von der Union sagen unmissverständlich: Integration ist weder einseitige Assimilation noch unverbundenes Nebeneinander auf Dauer. Multikulti und Parallelgesellschaften sind kein Zukunftsmodell. Unser Ziel muss eine Kultur der Toleranz und des Miteinander auf dem Boden unserer Verfassungswerte und im Bewusstsein der eigenen Identität sein. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn die Beachtung dieser Werte als Leitkultur in Deutschland bezeichnet wird. ({7}) Die verehrte politische Konkurrenz hat sich an der Debatte zum Thema Leitkultur in den letzten Wochen unter anderem mit den Begriffen „Pickelhaube“, „Entenhausen“ und „Erbsensuppe“ beteiligt. Es wäre nett, wenn Sie heute einmal in ganzen Sätzen mitteilen könnten, was Sie eigentlich daran stört, dass wir von der Union von denjenigen, die zu uns kommen und hier auf Dauer leben wollen, zwar nicht die Aufgabe der eigenen kulturellen oder religiösen Prägung, aber doch die Bejahung und Einordnung in den bei uns für das Zusammenleben geltenden und wichtigen Werte- und Ordnungsrahmen verlangen. ({8}) Wenn wir jetzt die notwendige Gesamtbetrachtung der Thematik vornehmen, kann zwangsläufig kein Teilaspekt - auch nicht das Asylrecht - außen vor bleiben. Die Probleme der Asylpraxis sind allen bestens bekannt, aber die Bereitschaft der Parteien, die Probleme zu lösen, ist unterschiedlich ausgeprägt. Unser Problem sind nicht die tatsächlich politisch Verfolgten; unser Problem sind diejenigen, die sich zu Unrecht auf politische Verfolgung berufen und dennoch über Jahre hinweg - nicht wenige sogar auf Dauer - in der Bundesrepublik Deutschland bleiben. Deswegen ist es schlichtweg falsch zu sagen, das Asylrecht habe nichts mit Zuwanderung zu tun. Diese Aussage ist jedenfalls angesichts der gegenwärtigen Asylpraxis falsch. Deswegen wird sich die Union intensiv mit der Frage beschäftigen, wie wir diese Probleme so gut wie möglich lösen können. Ob hierfür Änderungen im Grundgesetz notwendig sind, muss in Ruhe erörtert werden. ({9}) Die Zuwanderungsdebatten der letzten Jahre waren überwiegend von Zahlen geprägt. Zahlen sind wichtig, aber nicht alles. Wir sollten auch einmal über Ziele sprechen und zugeben, dass wir auch in Zukunft auf Zuwanderung angewiesen sein werden, und zwar nicht nur aus volkswirtschaftlichen Gründen. ({10}) Die Welt ändert sich in einem dramatischen Tempo. Nicht nur Firmen und Konzerne, sondern auch Volkswirtschaften stehen in einem scharfen internationalen Wettbewerb. Deswegen muss sich auch die Bundesrepublik Deutschland am Wettbewerb um die besten Köpfe beteiligen. Die besten Köpfe werden wir nur dann in unser Land bekommen, wenn hier kein ausländerfeindliches Klima existiert. ({11}) Deswegen müssen wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Ausländerfeindlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland keine Chance hat. Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist eine vernünftige Ausländerpolitik, ({12}) die die Aufnahmebereitschaft und die Aufnahmefähigkeit unseres Landes berücksichtigt. Man muss offen darüber sprechen dürfen, dass Zuwanderung immer auch mit Belastungen verbunden ist und dass mehr Integration wichtiger ist als mehr Einwanderung. ({13}) Wir können nicht alles so lassen, wie es ist, und dann im geltenden Recht einen neuen Zuwanderungstatbestand nach dem anderen schaffen. Eine solche Politik entspräche weder den Interessen unseres Landes noch gäbe es hierfür eine Mehrheit in der Bevölkerung. Wenn es irgendein politisches Gebiet gibt, auf dem ein breiter gesellschaftlicher Konsens wichtig wäre, dann ist es der Bereich der Zuwanderungspolitik. Voraussetzung für einen gesellschaftlichen Konsens ist eine vernünftige, die Interessen unseres Landes ausreichend berücksichtigende Politik. Dafür steht die Union. ({14})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Marieluise Beck.

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt wohl kaum eine Debatte, die so von Mythen, auch von falschen Vorstellungen, von Emotionen, von Ängsten, von Bedrohungsgefühlen geprägt ist wie die Debatte um Ausländer und um Einwanderungspolitik. Das heißt, wir haben auch seitens der Politik eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, immer sachlich zu bleiben, rational zu argumentieren und nicht Stimmungen und Vorurteile zu schüren, wo es doch so verlockend ist, dies zu tun. ({0}) Wie viel sich an Vorstellungen und Fantasien zusammenbraut, belegen Umfragen, denen zufolge zum Beispiel in Ostdeutschland zwei Drittel der Bevölkerung meinen, es gebe zu viele Ausländer in ihrem Land, obwohl wir alle wissen, dass dort 2,1 Prozent der Menschen Ausländer sind. Offensichtlich gehen Gefühle und Realitäten oftmals sehr stark auseinander. Deutschland hat aber eine Geschichte der Einwanderung und Auswanderung. Seit 1959 sind 30 Millionen Menschen aus dem Ausland nach Deutschland gekommen, 21 Millionen sind wieder weggezogen. 9 Millionen Menschen sind hier geblieben. Damit ist Deutschland immer ein Einwanderungsland gewesen. Nun kann man sagen, der Streit um diesen Begriff sei ein Streit um des Kaisers Bart. ({1}) Das glaube ich deswegen nicht, weil man, wenn man kein Einwanderungsland sein will, keine Einwanderungspolitik und auch keine systematische Integrationspolitik betreibt, sondern Ausländerpolitik. Das hat die Haltung und auch die Stimmung in der Bevölkerung dahin gehend geprägt, als hätten wir es eigentlich gar nicht mit Einwanderung zu tun. Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts mit der Einführung des Geburtsrechts hat genau das aufgenommen. Die jungen Menschen werden jetzt qua Geburt Teil dieser Gesellschaft. Sie bekommen damit Rechte, müssen aber auch Pflichten für diese Gesellschaft übernehmen. Das ist der Inhalt des Geburtsrechts. ({2}) Nun wird in der Einwanderungsdebatte immer der Eindruck erweckt, die Zuwanderung erfolge im Augenblick vollkommen unkontrolliert und ungesteuert. Das ist nicht richtig. Wir haben durchaus viele Einwanderungs- und Zuwanderungstatbestände. Nur sind sie so kompliziert, so wirr, so unsystematisch, so bürokratisch, dass sie einer modernen Einwanderungsgesellschaft nicht mehr entsprechen. Wir stehen an einer neuen Schwelle: Deutschland muss die Einwanderung nicht mehr abwehren. Wir müssen uns vielmehr Mühe geben, zu werben und Menschen zu bekommen, die wir auch aus eigenem Interesse hier haben wollen. Die IT-Zuwanderung läuft ja schleppend. ({3}) Es ist also durchaus nicht so, dass uns die Menschen, die wir auch aus wirtschaftlichen Gründen bei uns haben wollen, das Land „einrennen“. Wir müssen um sie werben. ({4}) Es wird in Zukunft schon deshalb eine höhere Zahl an Einwanderern geben, weil die Europäische Union 25 Länder umfassen wird. Man muss sich vorstellen, was das an Mobilität und Zuwanderungsbewegungen bedeuten wird. Die Freizügigkeit gilt für alle Unionsbürger. Das wird eine große Herausforderung für die deutsche Gesellschaft werden. Die ökonomischen Veränderungen erfordern mehr Mobilität von den Menschen, weil die Wirtschaft zunehmend grenzüberschreitend agiert, weil es einen Kampf um die besten Köpfe gibt und weil sich auch schon ein Arbeitskräftemangel in einzelnen Segmenten der Wirtschaft abzeichnet. Wir müssen aber auch die Tatsache ernst nehmen, dass die politische Debatte, die jetzt unter den Eliten geführt wird, zum Teil auf Unverständnis bei den Menschen stößt, die selber arbeitslos sind und die manchmal das Gefühl haben: Wird eigentlich auch noch über mich gesprochen oder wird nur noch über diejenigen gesprochen, die zuwandern sollen? Wir müssen beides zusammenbringen, nämlich durch Qualifikation denjenigen, die schon hier leben, den Anschluss an den Arbeitsmarkt zu ermöglichen und gleichzeitig diejenigen zu unterstützen, die zuwandern wollen. Wenn wir das nicht schaffen, wird die Abwehrhaltung der Bevölkerung gegenüber den Zuwanderern zu groß. ({5}) Auch gegen die demographische Entwicklung, also gegen die aus dem Gleichgewicht geratene Balance zwischen Alt und Jung, ist Zuwanderung kein Allheilmittel. Wir werden keine Demographen finden, die uns exakt sagen können, wie viele Menschen in dieses Land zuwandern müssen, damit die Balance wieder hergestellt wird. Die Zahl derjenigen, die in ein Land integriert werden können, richtet sich nach dem Gefühl der Gesellschaft - das ist eine Frage der Verständigung -: Wie viele Zuwanderer können wir sozial integrieren? Wie viele Begleitmaßnahmen vor Ort, in den Ländern, in den Kommunen, in den Schulen, und wie viele Qualifikationsmaßnahmen im Hinblick auf den Arbeitsmarkt können wir vorhalten? Wir haben mit Ihnen von der F.D.P. einen Dissens, wenn es um die Gesamtquoten geht. Die Tatsache, dass es Zuwanderung aufgrund der innerhalb der Europäischen Union gewährten Freizügigkeit, aufgrund rechtlich verbriefter Ansprüche - dazu gehört die Familienzusammenführung - und auch aus humanitären Gründen geben wird, die weder Sie noch wir von den Grünen infrage stellen, bedeutet, dass dann, wenn eine Gesamtquote für die Zuwanderung festgelegt werden soll, die Zahl der indischen IT-Fachleute, die von der Wirtschaft gewünscht werden, mit der Zahl der Schutzsuchenden, die vor der Grenze stehen, verrechnet werden muss. Das geht nicht. Das ist auch nicht flexibel. Das wäre kein modernes Einwanderungskonzept. ({6}) Ich gehe davon aus, dass über diesen Punkt noch einmal verhandelt wird. Integration und Einwanderung gehören also zusammen. Das ist sozusagen die tibetanische Gebetsmühle aller Ausländerbeauftragten seit Heinz Kühn. Heute liegt der Vierte Bericht der Ausländerbeauftragten vor, der en detail Vorschläge und Leitlinien zur Integrationsförderung beinhaltet. Wenn man sich die große Zahl derjenigen, die nach Deutschland zuwandern, klarmacht, muss man sagen: Obwohl es große Mängel in der Integrationspolitik gegeben hat, ist die deutsche Zuwanderungsgeschichte eine Erfolgsstory. Es gibt ja auch unglaublich vieles, was unseren Städten und Gemeinden gut gelingt. Wir sollten uns nicht immer nur auf die Probleme konzentrieren. ({7}) Die Gesellschaft hat eine enorme Integrationsleistung vollbracht. Es gibt eine enorme Selbstverständlichkeit im Alltag von denjenigen, die hinzugekommen sind, und denjenigen, die hier schon gelebt haben. Es gibt eine Fülle von Belegen für gelungene Integration. Ich weise auch auf den Sechsten Familienbericht hin, in dem das sehr eindeutig belegt wird. Aber natürlich geht Integration nicht ohne Konflikte und Probleme vonstatten. Auch darauf muss man hinweisen. Ein Blick in den Bildungsbereich, in die Schulen und in den Ausbildungsbereich, zeigt das. Wir haben Konflikte natürlich auch in den Stadtvierteln. Deswegen: Wer Einwanderung haben möchte, muss Integrationspolitik gestalten. Wer Integration fordert, muss sie auch fördern. Hier gibt es viele Defizite. Die Ausländerbeauftragten sagen, „Frühzeitigkeit“ sei das Stichwort für jede Integrationspolitik: Frühzeitigkeit beim Spracherwerb, also in den Kindergärten, in den Schulen, Frühzeitigkeit bei der Förderung von Seiteneinsteigern und Frühzeitigkeit bei denen, die neu hierhin kommen, bei Sprach- und Orientierungskursen. ({8}) Ein Blick über die Grenzen zeigt uns, dass sich der holländische Staat diese Integrationspolitik eine Menge kosten lässt. ({9}) 12 000 Gulden pro Einwanderer für eine umfassende Beratung. Was Zugänge zum Arbeitsmarkt, was das SichOrientieren im jeweiligen Land und die Sprachförderung anlangt, bin ich dafür, dass wir uns für die Bewältigung dieser zentralen Aufgaben zwischen Bund und Ländern verständigen, wenn wir diese Integrationspolitik gemeinsam wollen. Die Ausländerbeauftragte steht hier an der Spitze. ({10}) Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit ist die Sprachförderung von der Bundesregierung neu geordnet worden. Übernommen hat sie ein Wirrwarr von Sprachförderung, die in vier verschiedenen Ministerien für unterschiedliche Migrantengruppen geregelt war. Durch die Zusammenführung der Sprachförderung wird der Kreis derjenigen, die berechtigt sind, am Sprachunterricht teilzunehmen, deutlich erweitert. Wir werden etwa 110 000 Menschen pro Jahr mit Sprachkursen fördern. Das gilt auch für Menschen, die nicht aus EU-Ländern kommen. Dies gilt auch für GFK-Flüchtlinge. Das ist ein guter Schritt. ({11}) Marieluise Beck ({12}) Ich wünsche mir, dass die Öffentlichkeit diesen Schritt auch wahrnimmt und würdigt. Zum Schluss noch ein Wort zur Debatte um den Begriff „Leitkultur“. Dieser Begriff ist mit Inhalt offensichtlich schwer zu füllen. ({13}) Wir können in den Berichten der Ausländerbeauftragten schon lange finden, dass es bei Einwanderung um eine gemeinsame Grundlage gehen muss. Dies bezieht sich auf die Werte des Grundgesetzes und die Sprache. Die Botschaft, die mit dem Begriff „Leitkultur“ vermittelt worden ist, lautet: Diejenigen, die zu uns kommen, müssen sich anpassen. Das erzeugt die Illusion in der Bevölkerung, dass Einwanderung ersparen könnte, dass sich beide Seiten verändern müssen. Einwanderung bedeutet eine Veränderung für die Gesellschaft, weil andere Kulturen dazukommen, weil man sich immer wieder neu verständigen muss und alte Gewissheiten zum Teil verloren gehen. Diese kulturelle Verständigung ist ein Prozess, meine Damen und Herren. Deutschland hat sich durch Einwanderung verändert. Es wird sich weiter durch Einwanderung verändern. Das ist nicht immer leicht. Wir Politiker sind gut beraten, dies auch offen und ehrlich auszusprechen. Schönen Dank. ({14})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dirk Niebel das Wort.

Dr. h. c. Dirk Niebel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003198, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegin Beck, Sie haben in Ihrem durchaus nachdenkenswerten Bericht, der meines Erachtens eine längere Debattenzeit in diesem Hause erfordert hätte, um ihm gerecht zu werden, ({0}) aber auch in Ihrem Redebeitrag unter anderem die Akzeptanz der Zuwanderung und die Integration von Menschen nicht deutscher Nationalität in diesem Land angesprochen. Ich möchte auf beides kurz eingehen. Was erstens die Akzeptanz angeht, ist es für mich sehr verwunderlich, dass der Antrag der Freien Demokraten im Haushaltsausschuss, Ihren Haushalt um 1 Million DM zu erhöhen, um die Ergebnisse der Zuwanderungskommission in der Öffentlichkeit transparent zu gestalten, damit die Akzeptanz von Zuwanderung im Vorgriff auf eine gesetzliche Regelung erhöht wird, von Ihren eigenen Parteifreunden im Haushaltsausschuss abgelehnt worden ist. Das ist mir unbegreiflich. Ich finde, dass es der Sache, für die Sie kämpfen, nicht zuträglich ist. ({1}) Das Zweite ist die Frage der Integration. Sie haben zu Recht gesagt, dass Integration zwingend notwendig ist. ({2}) - Ich wäre den Kollegen der Union dankbar, wenn sie mir die Gelegenheit gäben, die wenige Zeit auszunutzen, die für eine Kurzintervention zur Verfügung steht. Eine wesentliche Voraussetzung für Integration ist natürlich auch der Zugang zum Arbeitsmarkt. Sie erinnern sich sicherlich sehr gut an unseren Antrag zur Abschaffung der Arbeitsgenehmigungspflicht, der dafür sorgen sollte, dass Menschen, die sich in diesem Land aufhalten dürfen, für die Dauer des erlaubten Aufenthalts ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können, um nicht am Tropf der Sozialkassen hängen zu müssen, ({3}) was außer von der PDS von allen Fraktionen hier abgelehnt worden ist. Unser Antrag hat aber insofern etwas bewirkt, als dass eine Arbeitsgruppe im Bundeskanzleramt getagt hat, die zu dem Ergebnis gekommen ist, das generelle Arbeitsverbot für Asylbewerber, die nach dem Mai 1997 eingereist sind, aufzuheben und durch eine zwölfmonatige Wartefrist - so nennen Sie es; ich sage: durch ein zwölfmonatiges Arbeitsverbot - zu ersetzen. Das wäre ja im Grunde ein Schritt in die richtige Richtung gewesen. Aber es ist nun Monate her, dass dieses Ergebnis erzielt worden ist, und es ist einfach nicht umgesetzt worden. Die Menschen in diesem Land warten darauf, dass Sie Ihren Ankündigungen Taten folgen lassen und dass sich auch der große Koalitionspartner einmal ein Stück weit bewegt. Wenigstens diese Ergebnisse sollten umgesetzt werden, damit wir einen Schritt weiterkommen. Einen letzten Punkt möchte ich ansprechen: Die badenwürttembergischen Liberalen haben im Bereich der Integration eine Initiative gestartet, für die ich um Ihre Unterstützung werben will. Es geht um die Bürgerkriegsflüchtlinge, die hier in jeder Gemeinde im Handwerk, im Gewerbe, in der Gastronomie integriert sind, die inländische Arbeitsplätze stabilisieren, die niemals einen Pfennig an Sozialleistungen bezogen haben und die jetzt in ihr Heimatland zurückgeführt werden sollen, obwohl sie den Aufbau dort bereits durch Überweisung von Geld unterstützen. Warum sollten wir nicht eine Möglichkeit im Ausländerrecht schaffen, diesen Menschen, die hier wirklich integriert sind, einen dauernden Aufenthaltsstatus zu geben? Es macht doch keinen Sinn, bei uns integrierte Menschen zurückzuschicken und stattdessen nicht integrierte ins Land zu holen. Lassen Sie uns mit denen beginnen, die schon im Land sind. Vielen Dank. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zur Erwiderung Frau Kollegin Beck, bitte. Marieluise Beck ({0})

Marieluise Beck-Oberdorf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002624, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Kollege Niebel, zu den Haushaltsberatungen: Ich bin natürlich immer froh, wenn sich jemand über die Stärkung der Ausländerbeauftragten Gedanken macht. Das ist ja ein Thema, dass alle Beauftragten, egal, welcher Regierung sie zugeordnet sind, beschäftigt. ({0}) Zu meiner großen Freude hat es in dieser Haushaltsrunde durchaus eine Stärkung der Beauftragten gegeben. Der Arbeitsstab der Beauftragten wird personell aufgestockt, um unter anderem das Sekretariat der Zuwanderungskommission besetzen zu können. ({1}) - Weniger bescheiden als meine Vorgängerin, kann ich nur sagen, wenn ich mir das Büro der Beauftragten anschaue; ({2}) denn es ist in den letzten beiden Jahren zu meiner Freude ganz erklecklich gewachsen. Zum Bereich Arbeitsmarktpolitik: Sie wissen, dass zu der Zeit, als die F.D.P. die Beauftragte stellte und mit in der Regierung war, sogar ein völliges Arbeitsverbot für Flüchtlinge eingeführt worden ist. ({3}) - Sie wollte es nie; das ist mir bekannt. - Vonseiten der Bündnisgrünen wären wir gerne noch ein Stück weiter gegangen und hätten noch kürzere Fristen oder eigentlich gar keine Fristen bevorzugt, allenfalls die im Gesetz vorgesehene dreimonatige Wartefrist. Sie wissen aber auch, dass es in jeder Koalition Aushandlungsprozesse gibt. ({4}) Deswegen ist das, was wir jetzt vereinbart haben, ein guter Schritt. Es gibt für Flüchtlinge kein totales Arbeitsverbot mehr. Sie haben die Möglichkeit, nach einem Jahr - unter Wahrung des Vorrangprinzips - auf den Arbeitsmarkt zu gehen. Ich gebe Ihnen Recht - das ist auch ein Teil unserer Leitlinien; hier fangen übrigens die Differenzen darüber an, was Integration eigentlich ist -, dass die Möglichkeit, durch Arbeit selbst den eigenen Unterhalt zu verdienen, ein zentraler Teil von Integrationspolitik ist. ({5}) Das Spannende ist, dass zum Beispiel die Union immer davon redet, sie wolle Integration, aber dann, wenn es darum geht, den Zugang zum Arbeitmarkt zu ermöglichen, die Werbetrommel gegen einen solchen Zugang rührt. Genau das zeigt uns, dass wir uns hinsichtlich der Ausgestaltung von Integrationspolitik gar nicht in allen Punkten einig sind. ({6}) Damit bin ich bei den von Herrn Niebel angesprochenen bosnischen Bürgerkriegsflüchtlingen. Die BundLänder-Innenministerkonferenz wird sich in zehn Tagen mit dem Antrag der Bundesregierung befassen, dass den wenigen verbliebenen bosnischen Bürgerinnen und Bürgern - sie sind oft schwer traumatisiert; viele von Ihnen sind gut integriert - endlich ein Bleiberecht gewährt wird. Es waren CDU-Bürgermeister, die gesagt haben: Ihr dürft doch meinem Handwerksmeister nicht den Mitarbeiter wegnehmen. ({7}) - Ich kann Ihnen viele nennen, zum Beispiel den aus Arnsberg. Andere kommen aus Baden-Württemberg. Ich hoffe nur, dass der baden-württembergische Innenminister - in Baden-Württemberg regiert Ihre Partei - auf der Bund-Länder-Innenministerkonferenz nicht zu den Blockierern dieses Antrags gehören wird. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie in diesem Sinne heftig drücken und schieben und am besten auch den Minister Beckstein einfangen. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Petra Pau für die PDSFraktion.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bericht der Bundesbeauftragten für Ausländerfragen hätte es verdient, seriös und nicht nur als Anhängsel - oder über den Weg des Vortragens von Kurzinterventionen - hier behandelt zu werden; zumal in diesem Bericht drängende Probleme kompetent beschrieben werden, die genauso kompetent gelöst werden müssen. Gleiches gilt für unseren Antrag zur Namensgebung. Auch hierzu werden wir uns äußern. Ich bedaure das gewählte Verfahren und die damit unweigerlich verbundene Missachtung der Ausländerbeauftragten. Liebe Kolleginnen und Kollegen der F.D.P., gelegentlich werde ich gefragt, ob ich auf dem Boden des Grundgesetzes stehe. Ich bekenne: Ja. Ich füge in aller Bescheidenheit hinzu: Keine Partei verteidigt das Grundgesetz derzeit mehr als die PDS. ({0}) Das war beim großen Lauschangriff wie bei der Verteidigung des Asylrechts so und das ist auch so, Kollege Marschewski, wenn wir eine anmaßende Leitkultur ablehnen. ({1}) Nun führt die F.D.P. mit ihrem Antrag ein neues Gelöbnis ein. Die F.D.P. fragt: Stehen Sie hinter der „Berliner Rede“ des Bundespräsidenten, insbesondere hinter jenen Passagen, die wir - gemeint ist die F.D.P. - so und so verstanden haben? - Ich finde, dass Sie dem Bundespräsidenten Unrecht tun, wenn Sie seine Rede so selektieren. Sie machen sich selbst ganz niedlich, wenn Sie solche Autoritätsbeweise brauchen. ({2}) Bei uns ist es üblich, Reden zu hören, Nachdenkliches mitzunehmen und Anregendes aufzunehmen - auch von der F.D.P.; es muss ja nicht aus dem Big-Brother-Container sein, Kollege Westerwelle. ({3}) - Ich muss da nicht hinein; denn im Gegensatz zu ihm habe ich es nicht nötig. - Wir brauchen aber keine Abstimmung im Bundestag über diese Rede. Das mag etwas mit Selbstbewusstsein, aber auch mit Respekt vor dem Bundespräsidenten zu tun haben. Stellen Sie sich doch nur einmal eine Minute lang vor, die Mehrheit dieses Hauses sage zu der vorgelegten Redemitschrift einfach: Nein, wir haben etwas anderes verstanden. Glauben Sie, das gefiele dem Bundespräsidenten? ({4}) Wir debattieren heute unter anderem über einen Antrag der F.D.P. zur Frage der Einwanderung. Wir tun das vor dem Hintergrund zahlreicher Erklärungen und Papiere zu diesem Thema. Ich begrüße es durchaus, dass wenigstens Sie von der F.D.P. keine Leitkultur erfunden haben; zumal Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes besagt: Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. ... ({5}) Mit einem Wort, Herr Kollege Bosbach: Das Grundgesetz beschreibt mitnichten eine Leitkultur. Es folgt einem universellen Ansatz. Das Wort „multikulturell“ war seiner Zeit wahrscheinlich noch nicht erfunden. ({6}) Gleichwohl folgt der Antrag der F.D.P. einem Muster, das in Papieren von Bündnis 90/Die Grünen bis hin zur CSU zu finden ist. Ihr Vorschlag läuft auf eine Quotenregelung hinaus, die Kapitalinteressen als Gebot annimmt und humane wie kulturelle Gewinne letztendlich opfern wird. Um nicht missverstanden zu werden: Das Drei-Säulen-Modell von Bündnis 90/Die Grünen ist nicht mit den zwölf Thesen der CSU gleichzusetzen. Nur, wer, wie auch Sie in Ihrem Antrag, anfängt, Einwandernde, Asylsuchende und Bürgerkriegsflüchtlinge mit konjunkturellen Wünschen von Wirtschaftsverbänden zu verbandeln, ist auf dem Holzweg. Nehmen Sie doch einmal zur Kenntnis, was umgangssprachlich alles in dieser Debatte im Moment mitschwingt. Welche Botschaft verbreiten wir eigentlich, wenn wir von „unnützen“ oder uns „ausnützenden“ Einwanderern reden? ({7}) Die CSU hat jetzt das Zwölf-Thesen-Papier mit den Worten vorgestellt, es sei prägnanter als das der CDU. Fürwahr: Die Botschaft der CSU ist, Ausländerinnen und Ausländer sowie Einwanderinnen und Einwanderer sind Klötze am deutschen Bein, es sei denn, sie spielen Fußball oder bringen auf andere Weise schnell klingende Münze ins Land. ({8}) Meine Grundbotschaft lautet: Ohne Ausländer und Ausländerinnen sowie Einwanderer und Einwanderinnen - das gilt über Jahrhunderte hinweg - wäre Deutschland arm dran. ({9}) Wer im parteiinternen Gerangel bei der CDU, um auch Ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, nun tatsächlich obsiegt hat, weiß ich noch nicht: die Liberalen oder die Nationalen. ({10}) Bei der CSU ist es deutlich: Die Bornierten haben gewonnen. ({11}) Nun zum letzten Punkt. Liebe Kollegen von der F.D.P., Sie haben Recht: Es gibt politischen Handlungsbedarf. Die Bürger an den viel zitierten Stammtischen müssen ebenso wissen, was Recht und was gewollt ist, wie jene, die sich der Bundesrepublik Deutschland zuwenden wollen. Beide müssen sich arrangieren. Das derzeitige Recht leistet dies noch nicht, weil es unübersichtlich, willkürlich, bürokratisch und eben nicht menschlich ist - leider. Damit hinkt die Politik den Realitäten und übrigens auch internationalen Ansprüchen hinterher.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin. ({0})

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Gerne, aber die Zeit, die hier aufleuchtet, hätte ich gerne noch ausgenutzt.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Sie sind jetzt eine Minute über der Zeit.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Integration kann es übrigens nur auf gleicher Augenhöhe, von Mensch zu Mensch geben. Allein vor dem Hintergrund der Gefahren für Würde und Leben, die hierzulande von Rechtsextremisten ausgehen, wäre anderes als das geboten gewesen, was bisher auf dem Tisch des Hauses liegt. Dazu gehört auch die Einbeziehung der Betroffenen in die zahlreichen Kommissionen. Auch dazu werden wir Vorschläge unterbreiten. Danke schön. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Michael Bürsch von der SPDFraktion.

Dr. Michael Bürsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003018, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei dem Streit um Begriffe soll das Positive nicht verloren gehen. Die Diskussion um Zuwanderung ist in Bewegung geraten. Dazu hat die F.D.P. beigetragen, dazu hat der Bundespräsident beigetragen, vielleicht auch nicht unwesentlich der Bundeskanzler mit der Green-Card-Initiative. Kurzum: Die Diskussion ist in Bewegung. Ich werde versuchen, das Positive zu betonen, und will sehen, wie wir daraus vielleicht gemeinsam ein Konzept für Zuwanderung und Integration entwickeln können. Ich nenne fünf zukunftsgerichtete Eckpunkte, über die wir uns vielleicht jenseits der Begriffsstreitigkeiten verständigen könnten und die aus Sicht der SPD maßgeblich sind: Erstens. Wir werden die Strukturen unseres Zuwanderungs- und Ausländerrechts grundlegend reformieren müssen. Dabei spielen die Frage der Zuwanderung und ihrer Steuerung, die Frage der Arbeitsberechtigung für die bei uns lebenden Ausländer, die Internationalisierung der Hochschulen und der Wirtschaft und verstärkte Integrationsbemühungen für 7 Millionen Ausländer eine Rolle. Auf all diesen Feldern muss in den nächsten Jahren auf bestehende Defizite und neue Herausforderungen reagiert werden. Zweitens. Zuwanderung nach Deutschland hängt direkt mit der Integration der Menschen, die zu uns kommen, zusammen. Anders gesagt: Zuwanderung und Integration sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Dabei kommt der Sprachförderung, wie wir wissen, große Bedeutung zu. Das holländische Modell des Integrationsvertrages - es wurde schon mehrfach genannt - ist vielleicht nachahmenswert. Drittens. Wir können Deutschland nicht durch eine nationale Zuwanderungsregelung abschotten. Wir brauchen eine abgestimmte Migrations- und Asylpolitik auf europäischer Ebene. ({0}) Hier bleibt bis zum Jahr 2004 noch viel zu tun, um die Vorgaben des Amsterdamer Vertrages zu erfüllen. Hier wird auch, Herr Kollege Westerwelle, ein Defizit Ihres Vorschlages deutlich: Dieser Punkt ist darin nicht enthalten. Viertens. Der grundgesetzlich geschützte Familiennachzug, die verfassungsrechtlich und völkerrechtlich garantierte Gewährung von Schutz für politisch Verfolgte und Flüchtlinge, die Freizügigkeit für EU-Bürger und eine Vielzahl rechtlicher Normen, die Rechtsansprüche für dauerhafte Zuwanderung und zeitweilige Aufenthalte gewährleisten, dürfen durch eine Zuwanderungsregelung nicht ausgehebelt werden. Das ist der Punkt, der uns wichtig ist. Für die SPD steht insbesondere fest: Das Grundrecht auf Asyl muss unangetastet bleiben. ({1}) Fünftens. Ein zentrales Problem ist die Akzeptanz einer Zuwanderungsregelung in der Bevölkerung. Ich sage es einmal vorsichtig: Die Integrations- und Aufnahmebereitschaft der Deutschen ist noch verbesserungsfähig. Ich sehe es, wenn wir denn an einer Lösung interessiert sind, als unsere gemeinsame Aufgabe an, Ängste abzubauen und Integration nachhaltig zu fördern. ({2}) Da, Herr Bosbach, ist die vorsichtige Frage zu stellen, ob Wahlkämpfe dafür geeignet sind, dieser Aufgabe, Ängste abzubauen und für Integration nachhaltig zu werben, wirklich gewissenhaft und seriös nachzukommen. Schon vor über 300 Jahren gab es mit dem so genannten Potsdamer Edikt von Kurfürst Friedrich Wilhelm ein herausragendes Modell für gelungene Zuwanderung ({3}) und Integration von 20 000 französischen Hugenotten hier nach Berlin und Brandenburg. Ein Zeitzeuge schrieb damals begeistert - bitte, Herr Marschewski, genau für Ihre Ohren -: Wir haben ihnen, den Zugewanderten, unsere Manufakturen zu danken. Sie gaben uns die erste Idee vom Handel, den wir vorher nicht kannten. Berlin verdankt ihnen seine Polizei, ({4}) einen Teil seiner gepflasterten Straßen, seine Wochenmärkte. Die Zugewanderten haben Überfluss und Wohlstand eingeführt, diese Stadt zu einer der schönsten Städte Europas gemacht. ({5}) Durch sie kam der Geschmack an Künsten und Wissenschaften zu uns. Sie milderten unsere rauen Sitten, ({6}) sie setzten uns in den Stand, uns mit den aufgeklärtesten Nationen zu vergleichen. Was lernen wir aus diesem Teil der deutschen Geschichte? Wir lernen zumindest: Toleranz hat Tradition in Deutschland. Im Übrigen bringt Zuwanderung Nutzen für Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst, und speziell in Bayern hilft Zuwanderung, die rauen Sitten zu mildern. ({7}) Es könnte helfen, Herr Zeitlmann, es könnte helfen. An die Adresse des Antragstellers F.D.P. eine klare Aussage: Die SPD, die selbst durch den Innenminister eine Kommission und eine Arbeitsgruppe eingesetzt hat, die sich mit den Themen Zuwanderung und Integration befassen, wird im nächsten Jahr einen verbindlichen Entwurf zur Regelung der Zuwanderung und Integration vorlegen. Gesagt, getan. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt Kollege Wolfgang Zeitlmann von der CDU/CSUFraktion.

Wolfgang Zeitlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002588, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Bürsch, ich will Ihrem Bild von den bayerischen rauen Sitten Rechnung tragen und Ihnen etwas mehr Klarheit über das verschaffen, was in Ihrem Kopf über Bayern oder über die CDU/CSU anscheinend herumgeistert. ({0}) Wir diskutieren zwei Dinge, zum einen einen F.D.P.Gesetzentwurf und zum anderen den Antrag der F.D.P., eine Rede des Bundespräsidenten umzusetzen. Ich habe mir die Freiheit erlaubt, einmal aus dem Ticker herauszuholen, was der Bundespräsident in den letzten vier Wochen alles erklärt hat, und rate der F.D.P., wenn sie solche Anträge stellt, aufzupassen, dass sie nicht gelegentlich in Zugzwang kommt; denn da gibt es eine ungeheure Menge an Erklärungen im Detail, zum Beispiel zur Wehrpflicht ({1}) und dazu, dass die Ostförderung genauer greifen müsse, ({2}) dazu, dass man Oppositionellen mehr Gehör verschaffen müsse. ({3}) Ich habe ja nichts dagegen, aber ich warte darauf, dass der Bundespräsident sich vielleicht auch einmal zu Legehennen oder zu sonstigen Details äußert. ({4}) Ein Bundespräsident, der über den Parteien steht - d’accord -, aber wenn er sich in die Tagespolitik einmischt, dann muss er auch damit rechnen, dass er in der Tagespolitik kritisiert wird. ({5}) Ich kritisiere jetzt nicht den Bundespräsidenten, sondern Ihren Antrag. Ich habe die Rede des Bundespräsidenten nicht nachgelesen, ({6}) sondern ich gehe von Ihrem Papier aus. Dort schreiben Sie: Einwanderung darf nicht dem Zufall überlassen bleiben. Sie muss geprägt sein von den sozialen und wirtschaftlichen Interessen unserer Gesellschaft. Diesen beiden Punkten könnte ich schon zustimmen. Aber wenn Sie dann im vorvorletzten Spiegelstrich schreiben, das Grundrecht auf Asyl solle nicht zur Disposition gestellt werden, dann wird eine hehre Monstranz - Kollege Uhl nennt das so - vor uns her getragen. Im Ergebnis bin ich völlig offen. Ich teile die Meinung des Kollegen Bosbach, dass wir alles prüfen müssen. Wir haben im Innenausschuss zigmal über das Thema diskutiert, und da wurde immer wieder wie eine Monstranz vor uns hergetragen: „Aber dieses muss so bleiben“, als würde der staunende deutsche Betrachter verstehen, was damit gemeint ist. Ein subjektives Grundrecht ist eine Rechtsform, und eine Institutsgarantie ist auch nur eine Rechtsform. Es wird hier alles so vermengt, als wollten die, die für eine Änderung des Grundrechts in eine Institutsgarantie sind, das Ganze abschaffen und die wilden Sitten Bayerns einführen, um Ihr Bild zu nutzen. Diese Semantik, wie sie in der Politik augenblicklich herrscht, halte ich für bedenklich. Auch hier spielt immer wieder das Thema Leitkultur eine Rolle. Es gibt heute, am 16. November, in der „Zeit“ einen wunderschönen Artikel von Herrn Joffe mit dem Titel „Lust auf Leit“, den Sie nachlesen müssen. „Ohne Leitkultur kommt ein Land nicht aus“, heißt es im Untertitel. ({7}) Ich sage nur: Wenn man sich an einem Begriff wie Leitkultur seit Tagen und Wochen in der politischen Debatte festbeißt, zeigt mir das, dass etwas in diesem Land kurios läuft. Es kann doch nicht sein, dass eine Selbstverständlichkeit - Kollege Bosbach hat davon gesprochen; ich habe Ihnen gerade gesagt: „Die Zeit“ sieht es völlig anders als Sie - verschleiert wird. Da wird doch um den heißen Brei herum geredet. Für mich ist das Thema Leitkultur genauso, als wenn ich sage: Ich lade jetzt Menschen zu mir ins Haus ein - ({8}) - Ich habe Sie ja nicht eingeladen. Sagen Sie doch nicht „danke“, bevor ich Sie einlade. Aber wenn ich es täte, dann würde meine Hausordnung gelten. Etwas anderes ist auch eine Leitkultur nicht. ({9}) - Herr Westerwelle, wenn Sie kämen, würde ich mir eine zulegen - damit das klar ist. ({10}) Meine Damen und Herren, es ist immer wieder, wenn es um die Frage der Zuwanderung geht - auch in den eigenen Reihen -, die Rede davon: Assimilation wollen wir nicht. Im „Duden“ steht, was „Assimilation“ ist, was damit gemeint ist: Anpassung, Angleichung. Wenn ich morgen nach Amerika auswandern würde, hätte ich überhaupt kein Problem damit, mich der amerikanischen Hausordnung oder Leitkultur - was auch immer Sie wollen - anzupassen. ({11}) Ich meine, auch die Marschewskis und die Lafontaines sind einmal eingewandert und haben sich angepasst. ({12}) Beim Kollegen Özdemir habe ich nicht das Gefühl, dass er nicht assimiliert ist. Und auch ein Henry Kissinger ist in den USA wohl assimiliert. Meine Damen und Herren, aber eines sage ich Ihnen dazu: Es geht nicht, dass Sie uns mit Begriffen in dieser Weise jagen und hektisch argumentieren und ich dann lese: „Der grüne Parteirat hat eine multikulturelle Demokratie gefordert“ und „Die PDS hat einen Rechtsanspruch auf Einwanderung formuliert“.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Zeitlmann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Marschewski?

Wolfgang Zeitlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002588, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich ahne, was er will. Deswegen gerne, ja.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege Zeitlmann, Sie als Bayer haben vielleicht nicht die entsprechenden historischen Kenntnisse. Trotzdem muss ich Sie fragen: Sind Sie wirklich der Meinung, dass Ostpreußen Ausland war? ({0})

Wolfgang Zeitlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002588, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Marschewski, ich habe meine Aussage, die „Marschewskis“ und „Lafontaines“ seien auch einmal zugewandert, nicht auf Ostpreußen bezogen. Ich habe mich vielmehr auf den Namensursprung bezogen. In Ihrem Namen erkenne ich slawische Ursprünge ({0}) und in dem Namen unseres Exkollegen Lafontaine den Ursprung aus dem französischen Raum. Die deutsche Gesellschaft hat den Begriff Assimilation nie so negativ gesehen, wie er jetzt von einigen betrachtet wird. Einen Punkt muss ich noch erwähnen. Wer einen Rechtsanspruch auf Einwanderung fordert, der braucht sich überhaupt nicht zu wundern, wenn dazu in dieser Republik unterschiedliche Auffassungen bestehen. ({1}) Denjenigen, die wie die Grünen das Asylrecht auf nichtstaatliche und auf geschlechtsspezifische Verfolgung erweitern wollen und die - wie Frau Beck vor ein paar Minuten - sagen, auch die Bevölkerung habe einen Anpassungsprozess durchzumachen, muss ich sagen: In diesem Punkt werden Sie Widerspruch erfahren. Ich teile nicht die Meinung, dass sich die Masse der Deutschen anpassen muss. Ich glaube vielmehr, dass sich primär derjenige, der zuwandert, anpassen muss und nicht umgekehrt. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Beck, melden Sie sich zu einer Kurzintervention? - Das ist also nicht der Fall. Jetzt hat die Kollegin Leyla Onur von der SPD-Fraktion das Wort.

Leyla Onur (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002747, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin sehr froh darüber, dass wir den Bericht der Ausländerbeauftragten nicht erst zu später Stunde, sondern schon heute Nachmittag diskutieren können. ({0}) Allerdings gehe ich davon aus, dass das nicht die letzte Debatte zu diesem Thema sein darf. Ich finde den Beitrag von Herrn Zeitlmann dem Thema nicht angemessen. ({1}) Die fünfte Jahreszeit hat zwar begonnen, wie wir auch in Norddeutschland festgestellt haben. Es ist aber einfach unerhört, zu diesem Thema eine Büttenrede abzuliefern. ({2}) Wir behandeln heute also auch den Bericht der Ausländerbeauftragten. Ich freue mich sehr, dass über diesen Bericht im Plenum und nicht nur in den Fachausschüssen diskutiert wird und dass daraus Folgerungen gezogen werden. Die Berichte der heute schon mehrfach gelobten Kollegin Cornelia Schmalz-Jacobsen wurden zwar auch zur Kenntnis genommen - von uns intensiver behandelt und genauer bewertet als von der damaligen Regierungsmehrheit -, aber Schlussfolgerungen aus diesen Berichten wurden in der Regel nicht gezogen. ({3}) Wir können sagen, dass aus dem Bericht der Ausländerbeauftragten Marieluise Beck schon jetzt entsprechende politische Konsequenzen gezogen worden sind. Das kann ich Ihnen an drei Beispielen deutlich machen. Wir haben festzustellen, ({4}) dass in Ihrer Regierungszeit zwar vollmundige Ankündigungen gemacht wurden, aber nie politische Taten gefolgt sind. Wir haben ferner festzustellen, dass es 16 Jahre Stillstand in der Migrationspolitik gab. ({5}) Nach Ihrer Philosophie war es ganz einfach: Deutschland durfte kein Einwanderungsland sein; deswegen durfte es keine ernsthaft betriebene Integrationspolitik geben. ({6}) Wenn wir heute trotzdem Integrationserfolge in den Ländern und Kommunen feststellen können, dann sind sie nicht auf Ihre Politik zurückzuführen, sondern auf die Politik engagierter Menschen in den Kommunen und Ländern. Dafür sei ihnen ausdrücklich Dank gesagt. ({7}) Am 27. September 1998 hat in Deutschland eine neue Politik für Migranten und Migrantinnen begonnen. Das ist von diesen sehr wohl bemerkt worden. Es hat in der Tat entsprechend unserer Koalitionsvereinbarung ein Paradigmenwechsel stattgefunden. In unserer Koalitionsvereinbarung heißt es: Wir erkennen an, dass ein unumkehrbarer Zuwanderungsprozess ... stattgefunden hat, und setzen auf die Integration der auf Dauer bei uns lebenden Zuwanderer, die sich zu unseren Verfassungswerten bekennen. Nicht zu deutscher Leitkultur, sondern zu unseren Verfassungswerten! ({8}) Wenn Sie heute so tun, als ob man diesen Begriff verharmlosen könne - Sie sind ja eifrig zurückgerudert; das haben wir durchaus beobachten können -, ({9}) dann sollten Sie sich bitte auch klarmachen, ({10}) wer diesen Begriff in die politische Diskussion eingebracht hat und welche Wirkung dieser Begriff der deutschen Leitkultur nicht nur auf die Migranten und Migrantinnen hat, die hier in Deutschland leben, sondern ganz besonders auf unsere europäischen Nachbarn. Das nehme ich Herrn Merz besonders übel, weil er innerhalb von fünf Jahren im Europäischen Parlament gelernt haben müsste, wie man in der Europäischen Union, in ganz Europa miteinander umgeht, wie sensibel gerade unsere Nachbarn sind, wenn es um solche Fragen und Begriffe geht. Da kann ich nur feststellen: Diesen Begriff hat er ganz bewusst geprägt, um auf diese Weise am rechten Rand auf Wählerstimmenfang zu gehen. ({11}) Ich komme zurück zu dem Bericht der Ausländerbeauftragten. Es ist ein hervorragender Bericht mit hervorragenden Anregungen, Forderungen und auch Herausforderungen für uns alle. Dabei muss ich jedoch feststellen, dass wir natürlich nicht alles buchstabengetreu umsetzen können und werden. ({12}) Das weiß auch Frau Beck. Denn wenn Sie als Ausländerbeauftragte hier einen Forderungskatalog aufstellen, ist das nur die eine Sichtweise. Wir, die wir uns damit zu beschäftigen und auseinander zu setzen haben, haben dabei die gesamtpolitische Situation zu berücksichtigen. Aber das haben wir bisher immer gemeinsam in Gesprächen zu regeln verstanden. Deswegen haben wir schon heute Erfolge vorzuweisen. Sie hatten in 16 Jahren überhaupt nichts zu bieten. ({13}) Wir haben bereits nach der Hälfte der Legislaturperiode ganz konkrete Ergebnisse, die sich wahrlich sehen lassen können. Ein Ergebnis ist die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts. ({14}) - Ich will Ihnen einmal Folgendes sagen: Wenn die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts leider nicht so gelungen ist, wie wir uns und insbesondere die Migranten und Migrantinnen sich das gewünscht haben, liegt das auch an der F.D.P. ({15}) Nichtsdestoweniger sage ich: Dieses neue Staatsbürgerschaftsrecht ist, wie Frau Beck einmal gesagt hat, ein Meilenstein, ein riesengroßer Fortschritt. Es ging dabei tatsächlich um die Frage: alles oder nichts. Aus der Kenntnis heraus, dass wir nach 16 Jahren Stillstand endlich Fortschritte erzielen mussten, haben wir diesen ersten großen Schritt mit Ihnen gemeinsam getan. Das ist auch richtig so. Das heißt aber nicht, dass aus meiner Sicht in Zukunft nicht weitere Schritte folgen sollten und müssten. ({16}) Insbesondere für die hier geborenen Kinder bedeutet die Reform eine große Chance. Ich fordere auch von hier aus nochmals auf, die Fristen, die zum Ende des Jahres ablaufen, einzuhalten, damit bis zum 31. Dezember 1999 in Deutschland geborene Kinder, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht das zehnte Lebensjahr vollendet hatten, von der Möglichkeit Gebrauch machen können, neben der Staatsbürgerschaft der Eltern die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen. Ich appelliere an alle, dafür zu sorgen, dass dieser Teil des Staatsbürgerschaftsrechts ein Erfolg wird. Meine Damen und Herren, als ein weiterer großer Erfolg - wenn auch für viele vielleicht nur eine Kleinigkeit ist die Änderung des § 19 des Ausländergesetzes zu nennen, ({17}) die es Ehegatten endlich möglich macht - in erster Linie sind davon die Frauen betroffen -, schon nach zwei Jahren und in Härtefällen auch noch früher einen eigenständigen Aufenthaltsstatus zu erlangen. ({18}) Dagegen haben Sie sich mit Händen und Füßen gewehrt. Wir haben es getan. Darauf muss man nicht stolz sein. ({19}) Denn es ist ganz selbstverständlich, dass man seine Ankündigungen einhält. ({20}) Herr Niebel, der jetzt nach seiner Kurzintervention verschwunden ist, ({21}) ist auf das Arbeitserlaubnisrecht eingegangen. Ich darf Ihnen hier mitteilen, dass wir im Hinblick auf den CleverErlass - man muss hinzufügen: den blümschen Clever-Erlass; denn Norbert Blüm hat dafür gesorgt, dass Asylbewerber und Bürgerkriegsflüchtlinge seit 15. Mai 1997 mit einem generellen Arbeitsverbot belegt worden sind - in schwierigen Verhandlungen - das ist in der Tat so - zu einem vernünftigen und wirkungsvollen Ergebnis gekommen sind. Bestellen Sie bitte Herrn Niebel: Ich habe damals den Antrag, den Sie eingebracht haben, als solchen entlarvt, wie er wirklich zu bewerten ist: Es ging Ihnen nie darum, Menschen die Chance zu geben ({22}) zu arbeiten. Vielmehr ging es Ihnen darum, diesen Menschen nur zu Niedriglöhnen eine Möglichkeit auf dem Arbeitsmarkt einzuräumen. Das habe ich damals sehr ausführlich hier erläutert. Dazu stehe ich auch heute noch. ({23}) Ich stelle abschließend fest, dass das neue Sprachförderungskonzept, das nun endlich vorliegt, nur ein Modul eines vernünftigen zukunftsorientierten Integrationskonzeptes ist. Die Sprachförderung ist dabei ein ganz wichtiger Baustein. Aber es fehlt noch die Ausfüllung der anderen Bausteine. Dies wird in den kommenden Monaten und Jahren erfolgen. Wir setzen auf ein Integrationskonzept 2000. Ich sage Ihnen: Es wird kommen. Wir erfüllen damit einen weiteren Teil dessen, was wir den Bürgerinnen und Bürgern vor der Wahl versprochen haben und jetzt hiermit einhalten. Danke schön. ({24})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Johannes Singhammer von der CDU/CSU-Fraktion.

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 9. Februar dieses Jahres ist der Bericht der Ausländerbeauftragten erschienen. Kaum sind neun Monate ins Land gegangen, wird nun - innerhalb weniger Minuten - über diese Problematik diskutiert. Das zeigt, welche Dringlichkeit und welchen Stellenwert Rot-Grün diesem Thema beimisst. Lassen Sie mich zu diesem Bericht drei Bemerkungen machen: Erstens. Deutschland ist ein ausländerfreundliches Land. Wir haben nach den Zahlen, die Sie als Anlage beigefügt haben, in den Jahren 1995 bis 1999 10,5 Millionen Menschen aufgenommen. 7,2 Millionen haben Deutschland wieder verlassen. Immer dann, wenn irgendwo eine Katastrophe eingetreten ist bzw. ein Flüchtlingsproblem bestand, haben die Deutschen ein weites Herz bewiesen. ({0}) Deutschland hat im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg auf dem Balkan mehr bosnische Flüchtlinge aufgenommen als die großen Nationen Frankreich, Großbritannien und andere insgesamt. Das sollte hier zuallererst einmal festgestellt werden. ({1}) Zweitens. Es gibt in unserem Land eine Minderheit, die Taten begeht, die wir alle mit Entschiedenheit bekämpfen. Sie haben Ihrem Bericht eine Anlage beigefügt, in der Sie Zahlen bezüglich der 1997 und 1998 begangenen fremdenfeindlichen Straftaten nennen. Logischerweise können Sie darin nicht die von diesem Jahr berücksichtigen. Trotzdem sind diese Zahlen interessant: So lässt sich feststellen, dass in diesem Zeitraum zum Beispiel in Niedersachsen eine Zunahme von 10,9 Prozent und in Nordrhein-Westfalen eine Zunahme von 3,1 Prozent zu verzeichnen ist, während in den unionsregierten Ländern Bayern und Baden-Württemberg eine Abnahme von 14,4 Prozent bzw. eine Verringerung von 11,5 Prozent zu verzeichnen ist. Offensichtlich ist in diesen Ländern die Bekämpfung fremdenfeindlicher Straftaten erfolgreicher gelaufen als in den Ländern, in denen Rot-Grün das Sagen hat. ({2}) Es ist unredlich, wenn hier von einigen eine UrsacheWirkungs-Kette konstruiert wird, die lautet: Wer sich gegen den Doppelpass ausspricht, wer gegen eine unbegrenzte Zuwanderung ist, der bereitet dem Rechtsextremismus den Nährboden. - Umgekehrt wird ein Schuh daraus: ({3}) Wer die Probleme im Zusammenleben von Deutschen und Ausländern tabuisiert oder verdrängt, wer es als politisch unkorrekt ansieht, darüber zu sprechen, der schafft die Probleme mit. Deshalb möchte ich hier ausdrücklich dem Innenminister Recht geben, der gesagt hat: Es muss erlaubt sein, offen darüber zu sprechen. Es ist übrigens auch nicht ausländerfeindlich, darauf hinzuweisen, dass Integrationsbereitschaft selbstverständlich gerade jene zeigen müssen, die nach Deutschland kommen. Hier enthält der Bericht, Frau Beck, einiges, was der Wirklichkeit nicht entspricht. Die Wirklichkeit in Großstädten wie München oder Berlin sieht anders aus. Was ist bei der Integration in den letzten Jahren schief gelaufen? Wir stellen fest, dass sich die Integration generell nicht in günstiger Weise entwickelt hat, sondern dass zunehmend Probleme auftauchen. Es entwickelt sich eine Parallelgesellschaft. Wir stellen fest, dass in bestimmten Vierteln unserer großen Städte und in machen Schulen ein Anteil von 80 Prozent an Nichtdeutschen vorhanden ist. Es gibt Klassen in München, in denen es noch ein, zwei deutsche Kinder gibt. Hier stellt sich doch die Frage: Wer integriert wen? Das sind die Probleme vor Ort. Die Eltern reagieren darauf so, dass sie ihre Kinder von den Schulen nehmen oder mit dem Umzugslaster gegen diese Orte abstimmen. Das sind die Probleme, denen wir uns stellen müssen, die aber in Ihrem Bericht allenfalls am Rande auftauchen. Ich sage Ihnen deshalb im Zusammenhang mit der Leitkultur noch etwas: Ein Nebeneinanderexistieren von beliebigen Arten von Kulturen ohne gemeinsame Basis ist höchst gefährlich. ({4}) Wir erleben jetzt eine Entwicklung hin zu Parallelkulturen. Diese haben die Tendenz in sich, sich weiter auseinander zu entwickeln. Das bedeutet letztendlich, statt miteinander zu leben, wird nebeneinander, im schlimmsten Fall gegeneinander gelebt. Das sind die Probleme, die wir lösen müssen. Deshalb müssen wir zunächst einmal die Integrationsanstrengungen vermehren und verbessern und danach erst können wir über weitere Zuwanderung sprechen. Zuerst müssen wir die Integrationsaufgaben lösen. Das Kardinalproblem besteht in den mangelnden Sprachkenntnissen. Wir sehen mit Sorge, dass so genannte Sprachinseln entstehen, das heißt, man versteht sich nicht mehr. ({5}) Wenn jemand 20 Jahre in Deutschland lebt und immer noch nicht in der Lage ist, sich einigermaßen auszudrücken und mit seinen Nachbarn zu verständigen, dann schließt er sich selber von der Gemeinschaft aus. Umgekehrt müssen wir ihm sagen, dass es seine erste Pflicht ist, Deutsch zu lernen, damit er sich hier wirklich verständigen kann. ({6}) Wichtig ist - das sage ich abschließend -, dass diese Thematik in seriöser Weise und nicht unter Zeitdruck, wie es heute geschieht, diskutiert wird. Es hätte auch nicht diese Verzögerungen geben dürfen, schließlich ist dieser Bericht schon neun Monate alt. Ich hoffe, wir können das in geeigneter Weise nachholen ({7}) und Klarheit über die Positionen schaffen. Vor allem müssen wir sagen, was wir von denen erwarten, die zu uns gekommen sind.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Özdemir?

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, klar, selbstverständlich.

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herzlichen Dank, Herr Kollege Singhammer. Sie haben gerade gesagt, von demjenigen, der seit 20 Jahren hier lebt, kann man erwarten, dass er Deutsch kann. Sind Sie mit mir darin einig, dass man natürlich von Menschen, die hier das Licht der Welt erblickt haben, erwarten muss, dass sie Deutsch können? Stimmen Sie mit mir auch überein, dass für die Generation meiner Eltern, die vor 30, 40 Jahren über die Anwerbeabkommen hierher geholt wurde, weder die Entsendeländer noch wir als Empfängerland irgendeine Art von Vorkehrung getroffen haben, geschweige denn, sie auf das vorbereitet haben, was sie erwartet hat? Sind Sie weiter bereit, mir zuzustimmen, dass es beispielsweise in den 70er-Jahren in Betrieben Überlegungen gab, Sprachkurse einzurichten, und viele Arbeitgeber gesagt haben: Mein Ali kann genau so viel Deutsch, dass er am Fließband die drei Handgriffe machen kann, die er machen muss; mehr Deutsch braucht er nicht, weil das eine Geldverschwendung wäre? Sind Sie nicht auch dann der Meinung, dass es undankbar gegenüber diesen Menschen ist, die in diesem Land alt und krank geworden sind, jetzt zu sagen: Ihr könnt nicht genügend Deutsch? ({0})

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Özdemir, wenn sich jemand 20 Jahre in Deutschland aufhält und im Berufsleben integriert ist, wenn er hier seinen Lebensmittelpunkt hat, ({0}) dann halte ich es für selbstverständlich, dass er wenigstens so weit Deutsch kann, dass er sich mit seinen Nachbarn verständigen kann und sich nicht selbst dadurch ausschließt, dass er die Sprache des Landes, in dem er seit 20 Jahren lebt, nicht beherrscht. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Onur das Wort.

Leyla Onur (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002747, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Singhammer, Sie können es wohl nicht lassen. Sie sind nicht in der Lage, einen Appell aufzunehmen. Dieser kommt schließlich nicht von mir. Wir kennen uns aus dem Ausschuss. Ich will mich nicht zu unserem Verhältnis äußern. ({0}) Hören Sie doch einfach einmal zu, was Herr Paul Spiegel auf der Demonstrationskundgebung gesagt hat: ({1}) Dann aber möchte ich alle Politiker in die Pflicht nehmen, sie auffordern, ihre populistische Sprache zu zügeln... Auch heute haben Sie wieder das Unwort „Doppelpass“ und das Unwort „deutsche Leitkultur“ benutzt. Lassen Sie davon ab. Sie wissen doch, was Sie damit herausgefordert haben. Anständige Demokraten, Herr Singhammer, sammeln keine Unterschriften gegen Ausländer. ({2}) Anständige Demokraten arbeiten nicht mit ausländerfeindlichen Begriffen und machen damit Ausländerfeindlichkeit salonfähig. ({3}) Das Ergebnis der Kampagne vor der Hessenwahl erleben wir jetzt. Sie haben wir alle nicht vergessen. ({4}) Deswegen noch einmal von mir die herzliche und ernst gemeinte Bitte: Hören Sie mit missverständlichen Begriffen auf, um auf dem rechten Rand nach Stimmen zu schielen. ({5}) Versuchen Sie wirklich, als anständiger Demokrat gemeinsam mit uns eine konsensuale Integrations- und Einwanderungspolitik zu gestalten. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kollege Singhammer.

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Onur, die Verwendung der Begriffe „Leitkultur“ oder „Doppelpass“ werden weiterhin erlaubt sein und haben nicht den von Ihnen kritisierten Effekt. Auch werden wir nicht vorher bei Ihnen um eine Genehmigung nachfragen, ob wir diese Begriffe weiter verwenden dürfen. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/3679, 14/3697, 14/2674 und 14/3749 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- schlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 c sowie 28 a und 28 b auf: 29 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zuordnungsrechtes - Drucksache 14/757 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({0}) Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Joachim Günther ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Für einen offenen und partnerschaftlichen Dialog mit Namibia - Drucksache 14/4414 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({2}) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin Kortmann, Adelheid Tröscher, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack, Ekin Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kinderrechte schützen - Kinderhandel wirksam bekämpfen - Drucksache 14/4152 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({3}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Tourismus 28 a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der UVPÄnderungsrichtlinie, der IVU-Richtlinie und weiterer EG-Richtlinien zum Umweltschutz - Drucksache 14/4599 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger, Ulrike Flach, Horst Friedrich ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Umsetzung der IVU-Richtlinie - Umweltgesetzbuch auf den Weg bringen - Drucksache 14/3397 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschla- gen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführ- ten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstan- den? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 30 a und 30 c sowie den Zusatzpunkten 3 a und 3 b. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aus- sprache vorgesehen ist. Ich rufe zunächst den Tagesordnungspunkt 30 a auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des Euro im Sozial- und Arbeitsrecht sowie zur Änderung anderer Vorschriften ({7}) - Drucksachen 14/4375, 14/4388 ({8}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({9}) - Drucksache 14/4633 Berichterstattung: Abgeordneter Heinz Schemken Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der F.D.P. bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist der Gesetzentwurf mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 30 c auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({10}) zu der Verordnung der Bundesregierung Erste Verordnung zur Änderung der Batterieverordnung - Drucksachen 14/4303, 14/4440 Nr. 2.1, 14/4600 Berichterstattung: Abgeordnete Marion Caspers-Merk Werner August Wittlich Birgit Homburger Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 14/4303 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmig angenommen. Ich rufe Zusatzpunkt 3 a auf: - Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Gemeinsamen Protokoll vom 21. September 1988 über die Anwendung des Wiener Übereinkommens und des Pariser Übereinkommens ({11}) - Drucksache 14/3953 ({12}) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes ({13}) - Drucksache 14/3950 ({14}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({15}) - Drucksache 14/4617 Berichterstattung: Abgeordnete Horst Kubatschka Kurt-Dieter Grill Winfried Hermann Eva Bulling-Schröter Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Gemeinsamen Protokoll über die Anwendung des Wiener und des Pariser Übereinkommens, Drucksache 14/3953. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 14/4617 unter Ziffer 1, den Gesetzentwurf mit einer redaktionellen Änderung der deutschen Fassung der Überschrift des Gemeinsamen Protokolls anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Atomgesetzes, Drucksache 14/3950 und 14/4617. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 14/4617 unter Ziffer 2, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen. Ich rufe Zusatzpunkt 3 b auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Zusammenlegung des Bundesamtes für Wirtschaft mit dem Bundesausfuhramt - Drucksache 14/3951 ({16}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({17}) - Drucksache 14/4615 Berichterstattung: Abgeordneter Erich G. Fritz Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen. Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 4 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verantwortung der früheren Bundesregierung für die Erteilung einer Unbedenklichkeitserklärung für das atomare Endlager Morsleben Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Bundesminister Jürgen Trittin das Wort. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms

Jürgen Trittin (Minister:in)

Politiker ID: 11003246

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Zustand im Atommüllendlager Morsleben ist dramatisch. Dort lagern rund 37 000 Tonnen Atommüll, gut 10 000 Tonnen davon lagern in den akut gefährdeten Räumen. In diesem Bereich im Südfeld können nach Einschätzungen der Fachleute jederzeit bis zu 1 000 Tonnen schwere Salzbrocken von der Decke auf den dort lagernden Atommüll fallen. Untersuchungen haben im Südfeld in den Deckenbereichen zwischen den Hohlräumen Risse bis zu 16 cm Breite nachgewiesen und dies ausgerechnet in jenem sensiblen Bereich, in dem der Atommüll nicht einmal gestapelt, sondern einfach nur in Einlagerungskammern abgekippt, gestürzt worden ist. Alle, die sich länger mit diesem Problem beschäftigen, wissen, dass die Sicherheit des Endlagers Morsleben von Geologen, Umweltpolitikern und Umweltverbänden schon seit Jahren bezweifelt wird. Dennoch haben wir es damit zu tun, dass die frühere Bundesregierung dort trotz Tropfstellen und Rissen über Jahre hinweg weiter Atommüll einlagern ließ. ({0}) In - wie ich finde - skandalöser Weise setzte sich die Regierung Kohl über alle Sicherheitsbedenken hinweg. ({1}) Die Geschichte der Atommüllkippe Morsleben ist eine finstere Fortsetzungsgeschichte deutsch-deutscher Art eines verantwortungslosen Umgangs mit Atommüll. ({2}) So richtig es ist, dass das erste Kapitel dieser finsteren Geschichte des verantwortungslosen Umgangs mit Atommüll die SED geschrieben hat, so richtig ist auch, dass die Fortschreibung dieser Geschichte vom Kanzler der Einheit, Helmut Kohl, und seiner Umweltministerin Angela Merkel betrieben worden ist. Zuerst wurde per Einigungsvertrag dafür gesorgt, noch zehn Jahre - bis zum Jahr 2000 - einlagern zu können; 1998 setzten Sie in der Novelle des Atomgesetzes sogar einen Weiterbetrieb dieses Endlagers bis zum Jahr 2005 durch. Sie taten dies, obwohl Sie wussten, dass diese Anlage nach bundesdeutschem Recht nie genehmigungsfähig gewesen wäre. Ich behaupte sogar, Sie taten das nicht, obwohl sie nie genehmigungsfähig gewesen wäre, sondern gerade weil sie nie genehmigungsfähig gewesen wäre; Sie hofften, auf diese Weise ein akutes Problem zur Seite zu schieben, da es damals kein Endlager für schwach- und mittelaktiven Müll gab. Deshalb wurde von Ihnen in vier Jahren mehr Atommüll als zu Zeiten der DDR in dieses Lager eingebracht. Sie haben damit - CDU/CSU und F.D.P. - dort mehr abgekippt als die SED. ({3}) Noch 1998, als sich die bundeseigenen Geologen schon seit über zwei Jahren von der Annahme der langfristigen Standsicherheit der Grube verabschiedet hatten, wurden Kritiker, die auf die Einsturzgefahr - gerade in dem jetzt gefährdeten Bereich - hinwiesen, von der damaligen Ministerin Merkel der Panikmache bezichtigt. ({4}) Schlimmer noch: Ihre Ministerin hat damals die Genehmigungsbehörden daran gehindert, tätig zu werden. 1995 wurde ein vom sachsen-anhaltinischen Umweltministerium verhängtes Versturzverbot für diesen Abschnitt kurzerhand per Bundesweisung von Ihnen kassiert. ({5}) Es bedurfte des Antritts dieser neuen Regierung, um diesem Treiben durch eine Aufhebung der Weisung durch mich endlich ein Ende zu bereiten. ({6}) Aus den neuen Erkenntnissen der Rissbildung hat das Bundesamt für Strahlenschutz als Betreiber des Endlagers nunmehr Konsequenzen ziehen müssen. Der Präsident des Amtes hat als Sofortmaßnahme die Sperrung bestimmter Bereiche des Südfeldes angeordnet. Eine mögliche unzulässige Freisetzung radioaktiver Stäube in die Umgebung wird durch geeignete technische Maßnahmen im Zusammenhang mit der Belüftung - die Bergleute sagen dazu Bewetterung - verhindert. Als wichtigste Maßnahme wird umgehend - voraussichtlich wird damit noch in der nächsten Woche begonnen - die Verfüllung der Resthohlräume in den beiden betroffenen Einlagerungskammern in Angriff genommen. Ich bin den Behörden des Bundes und des Landes dafür dankbar, dass es möglich gewesen ist, sowohl die bergrechtlichen als auch die atomrechtlichen Voraussetzungen für diese Sofortmaßnahme innerhalb von drei Tagen genehmigungsfest zu schaffen. ({7}) Eines aber steht uns noch bevor: der zügige, sichere und dauerhafte Einschluss der in Morsleben lagernden radioaktiven Abfälle. Es ist leider wahr, dass durch Ihr Taktieren mit möglichst langer Offenhaltung viel Zeit vergangen ist. Aber wir werden in enger Abstimmung mit dem Bergamt und der atomrechtlichen Planfeststellungsbehörde des Landes Sachsen-Anhalt Wege finden, dieses Problem mit der gleichen Geschwindigkeit zu lösen, wie wir das aufgrund der akuten Notsituation hier getan haben. Sie haben unter Ihrer Verantwortung mit dem Weiterbetrieb von Morsleben dem nationalen, aber auch dem internationalen Ansehen der bundesdeutschen Sicherheitsphilosophie in Endlagerfragen einen denkbar schlechten Dienst erwiesen. ({8}) Die Vorfälle in Morsleben belegen zudem einmal mehr, dass das alte, von Ihnen zu verantwortende Entsorgungskonzept gescheitert ist. ({9}) Sie belegen, dass die Endlagerung radioaktiver Abfälle auf eine neue Basis gestellt werden muss. Dem haben wir mit einem neuen Konzept der direkten Endlagerung und dem Ein-Endlager-Konzept Rechnung getragen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Franz Obermeier von der CDU/CSU.

Franz Obermeier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003201, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion der Bündnisgrünen gibt uns heute Gelegenheit, wieder einmal aufzuzeigen, wie schwach ({0}) Rot-Grün im Umgang mit atomrechtlichen Fragen und mit praktischen Dingen des Lebens ist. ({1}) Man müsste sich eigentlich dafür bedanken, dass man wieder ein paar Minuten Zeit hat, die Dinge aufzuzeigen. ({2}) Wenn man sich mit den Themen beschäftigt, kommt man darauf, dass es vielleicht doch um ein Ablenkungsmanöver - Stichworte: Ministerrücktritt, Parteienfinanzierungsprobleme - geht. ({3}) Nein, diese Ablenkung lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Wir setzen uns mit der inhaltlichen Frage auseinander. ({4}) Herr Bundesminister, Sie haben wohlweislich verschwiegen, was Sie unter einer Unbedenklichkeitserklärung verstehen, die man aus dem Finanzamtsbereich und aus den Sozialversicherungen kennt. Das, was Sie hier damit meinen, lassen Sie weg. Meinen Sie vielleicht die Stellungnahme der Reaktorsicherheitskommission? Oder was meinen Sie mit „Unbedenklichkeitserklärung“? Es sieht danach aus, als würde Rot-Grün die Gelegenheit nutzen, der Allgemeinheit ein neues Horrorszenario in Sachen Atom unterzujubeln. ({5}) Ich darf mich mit der Vergangenheit beschäftigen, weil der Herr Minister auch dies weggelassen hat: Nach der Wiedervereinigung hat sich die Bundesregierung sehr verantwortlich um die kerntechnischen Einrichtungen und Altlasten in den neuen Ländern gekümmert - ich erinnere an Greifswald, ich erinnere an die Bergbaubetriebe Wismut und an Morsleben - und ist hier ihrer Verantwortung sehr gerecht geworden. Anders als bei Greifswald entschied man sich, das Endlager Morsleben in Betrieb zu halten, und zwar aus gutem Grund. Man wusste, ({6}) dass man durch den Rückbau von Greifswald und ähnlicher kerntechnischer Anlagen eine ganze Reihe von Lagermöglichkeiten braucht. Das war der Grund, warum man die Dinge so geregelt hat. ({7}) Im Übrigen darf ich Ihnen sagen, dass die Bundesregierung umfangreiche Sicherheitsanalysen durch BGR und GRS in Auftrag gegeben hat und dass die sicherheitstechnischen Nachrüstungen im Umfang von mehreren 100 Millionen DM auch durchgeführt wurden. Alle Maßnahmen wurden seinerzeit im Einvernehmen mit den zuständigen Bergbehörden des Landes durchgeführt. Ein Weiterbetrieb erfolgte zunächst auf der Grundlage der in der DDR erteilten Genehmigung, deren Geltung im Einigungsvertrag fortgeschrieben wurde. Man hat dann 1992 - ich betone: 1992 - ein Planfeststellungsverfahren für den Betrieb der Anlage und für die Stilllegung beantragt. Später, 1997, hat man den Antrag zum Planfeststellungsverfahren auf Stilllegung eingeschränkt. ({8}) - Wir wissen schon, dass Sie das, was wir sagen, nicht interessiert. Man hat ein paar Tage vor der Wahl 1998 die Einlagerung in Gorleben eingestellt. Insofern ist es einfach nicht richtig, wenn Sie, Herr Trittin, behaupten, dass Sie die Einlagerung per Weisung eingestellt haben. Ich verstehe nicht, wie ein Bundesminister so etwas behaupten kann. ({9}) Es bedurfte auf alle Fälle nicht der Weisung des grünen Umweltministers, um die Anlage stillzulegen. Noch ein paar Bemerkungen zu den technischen Voraussetzungen, mit denen Sie vermutlich nicht sehr viel zu tun haben: Das Bundesamt für Strahlenschutz hat am 9. Mai 1997 festgestellt, dass über den Antrag auf Stilllegung im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens entschieden werden soll. Bis zum heutigen Tage ist über die Planfeststellung nicht befunden worden. Wenn Ihnen das tatsächlich ein so wichtiges Anliegen gewesen wäre, dann muss ich Sie fragen, was Sie in den zwei Jahren Ihrer Amtszeit eigentlich getan haben. Sie haben nichts getan. ({10}) Die Reaktor-Sicherheitskommission hat nach einer Begehung, die vor wenigen Tagen stattfand, festgestellt, dass es zu Abschieferungen kommt. Die Fachleute sagen, dass dies in solchen Bergwerken üblich ist. Das wusste man auch schon vorher. Jetzt wird ein Horrorszenario an die Wand gemalt, obwohl der Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz bestätigt hat, dass eine akute radiologische Gefährdung nicht zu befürchten ist. ({11}) Ich gebe Ihnen den Rat: Kümmern Sie sich rasch um einen Planfeststellungsbeschluss bezüglich der Stilllegung des Endlagers. Wenn Sie das tun würden, dann hätten Sie ein gutes Werk getan. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Reinhard Weis von der SPD-Fraktion.

Reinhard Weis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002457, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in diesem Jahr mehrmals Anlass gehabt, den Prozess „Zehn Jahre deutsche Einheit“ positiv zu würdigen und auch Erfolge festzustellen. Aber die Geschichte des Endlagers Morsleben gehört nicht zu dieser erfolgreichen Bilanz. ({0}) Ich war 1990 als Abgeordneter der SPD-Fraktion Mitglied im Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Energie und Reaktorsicherheit der letzten demokratisch gewählten Volkskammer. Mit meiner Fraktion hatte ich versucht, die Geltung der DDR-Betriebsgenehmigung für das Endlager Morsleben für radioaktive Abfälle nicht ungeprüft im Einigungsvertrag festschreiben zu lassen. Das ist uns leider nicht gelungen. Ich bin mit dem Vorsatz in den Bundestag eingezogen, entweder die Eignung des Salzstockes Morsleben, der ja nicht unberührt war, sondern in dem aktiv Bergbau betrieben wurde, in einem ordentlichen Planfeststellungsverfahren nachweisen oder, wenn dies nicht gelingen sollte, die Betriebsgenehmigung widerrufen zu lassen. Die damalige Bundesregierung kannte wie wir unzählige Beispiele dafür, dass Genehmigungsverfahren in der DDR nicht immer rechtsstaatlichen Kriterien genügten und dass auch die zugrunde liegenden Standards nicht geeignet waren, die Schutzziele der Bundesrepublik zu erfüllen. Dass ausgerechnet auf dem Gebiet des Strahlenschutzes, bei der Bewertung eines Endlagers, das ja für Tausende Jahre Sicherheit gewähren soll, alle Bedenken wider besseres Wissen weggewischt wurden, hatte nicht nur bei mir, sondern auch bei vielen anderen zur Folge, dass die Umweltpolitik von Herrn Töpfer und später von Frau Merkel an Glaubwürdigkeit verloren hat. Natürlich gab es aus der Sicht der Befürworter der Kernenergienutzung einen plausiblen Grund für die Augen-zu-und-durch-Politik. Von Herrn Obermeier haben wir gerade die Wiederholung der Argumente gehört. Sie wussten genau, dass für die Errichtung eines Endlagers keine Zustimmung in der Bevölkerung zu erhalten war. Deshalb war das Endlager Morsleben im Gegensatz zu anderen Hinterlassenschaften in den Augen der Koalition von CDU/CSU und F.D.P. keine Erblast, sondern höchst willkommen. Der Einigungsvertrag hat die Betriebsgenehmigung nicht unbefristet festgeschrieben, sondern nur bis zum 31. Juni 2000. Wenigstens dieses Ergebnis hat die Debatte in der Volkskammer gehabt. Ich habe gehofft, dass diese Debatte einige Zweifel in den Köpfen hinterlässt. Aber Herr Töpfer und später Frau Merkel haben die Chancen für einen fachlich korrekten Schritt, nämlich die Einführung, die zügige Abarbeitung und Ermöglichung eines Planfeststellungsverfahrens zur Überprüfung der Betriebsgenehmigung des Endlagers und seiner geologischen Bedingungen und die Erarbeitung eines Konzeptes für die Nachbetriebsphase trotz unserer Entschließungsanträge und Anfragen im Parlament nicht genutzt. Auch die Expertisen von Wissenschaftlern und die Haltung der Landesregierung in Sachsen-Anhalt haben kein Nachdenken bewirkt. Es wurde schon nachgedacht, aber eher darüber, wie die Öffentlichkeit einzulullen sei und wie der Druck aus der Opposition und der Fachwelt zu entkräften sei. Dazu musste auch ein höchstrichterliches Urteil herhalten, in dem aber nur formalrechtlich der Fortbestand der Betriebsgenehmigung durch den Einigungsvertrag festgestellt wurde. Grundlage für die Urteilsbegründung war keine fachliche Würdigung der Verhältnisse und der Einsprüche. Der Gipfel der Ignoranz gegenüber allen Warnungen - Herr Minister Trittin hat es auch schon festgestellt - war 1998 die Entscheidung der Regierung Kohl mit der Umweltministerin Frau Merkel, entgegen dem Einigungsvertrag durch die Atomgesetznovelle ohne jegliche fachliche Begründung die Betriebsgenehmigung formal bis zum Jahre 2005 zu verlängern. Kommen Sie mir nicht mit der Mär, Herr Obermeier, das sei notwendig gewesen, damit schließlich ein Planfeststellungsverfahren für die Stilllegung gemacht werden könnte. Dafür hätte es andere Wege und frühere Zeitpunkte gegeben. ({1}) Zu dieser Mär passt überhaupt nicht die bundesaufsichtliche Weisung an die Landesregierung von SachsenAnhalt, die gestoppte Einlagerung wieder aufzunehmen, die Frau Merkel verfügt hat. Sie haben sich über alle Sicherheitsbedenken von Fachleuten hinweggesetzt und sie ignoriert, genauso wie Sie die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung ignoriert haben. Bis heute ignorieren Sie sie, wenn wir die Rede von Herrn Obermeier ernst nehmen wollen. ({2}) Wahrlich, die Geschichte der Behandlung des Endlagers Morsleben ist in der Phase der Verantwortung von Kohl, Töpfer und Merkel kein Ruhmesblatt der deutschen Strahlenschutz- und Atomsicherheitspolitik und gehört nicht in die Erfolgsbilanz des Einigungsprozesses. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgit Homburger von der F.D.P.Fraktion.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein Kollege Westerwelle hat 1997 den Spruch geprägt, die F.D.P. und die Grünen, das sei wie Aufklärung und Romantik. Das passt auch auf den Gegenstand der heutigen Aktuellen Stunde, und zwar deshalb, weil ich vonseiten der F.D.P., um unnötige Panikmache zu vermeiden, jetzt erst einmal sage, was das Bundesamt für Strahlenschutz als zuständige Behörde und als Betreiber des Endlagers gerade gestern mitgeteilt hat. Das BfS hat mitgeteilt, dass wegen der Sperrung bestimmter Bereiche im betroffenen Südfeld längst Sofortmaßnahmen getroffen worden sind. Durch eine Anpassung der Belüftung sei sichergestellt, dass eine gesundheitsgefährdende Freisetzung von radioaktivem Staub nicht stattfinden kann, auch dann nicht, wenn tonnenschwere Salzbrocken in dieser Minute abstürzen sollten. Außerdem wird schon in wenigen Tagen mit der Verfüllung der restlichen Einlagerungskammern begonnen. Die Standsicherheit des Südfeldes sei nicht gefährdet, auch eine gesundheitsgefährdende Situation bestehe nicht. Das Planfeststellungsverfahren zur Verschließung des Salzstocks läuft seit langem. - So viel zu den aktuellen Tatsachen, wie sie vom BfS, geführt von einem grünen Behördenchef, dargestellt werden. ({0}) Die Sperrung des gesamten Endlagers Morsleben gehörte übrigens im Eindruck einer gerichtlichen Eilentscheidung zu den letzten Amtshandlungen der damaligen Bundesumweltministerin Merkel. Das Hauptverfahren dazu ist zwar bis heute nicht abgeschlossen, aber die rotgrüne Bundesregierung hat ja ohnehin entschieden, die Einlagerung radioaktiven Abfalls dort nicht mehr aufzunehmen. Diese Entscheidung halte ich durchaus für richtig. ({1}) Eines sollte man dennoch festhalten, Herr Trittin: In Morsleben lassen sich immerhin geeignete Sofortmaßnahmen ergreifen. Ich frage mich allerdings, welche Sofortmaßnahmen Sie einleiten wollten, wenn sie bei Castoren notwendig werden sollten, die auf der grünen Wiese stehen, weil die Bundesregierung über kein tragfähiges Endlagerkonzept verfügt. ({2}) Sie haben ohnehin ein gewisses Faible für Atommüllzwischenlager, Herr Trittin. Zwischenlager sorgen aber nicht zuletzt mit Blick auf La Hague für ein ungutes Gefühl. Dies haben wir gestern im Rahmen der Aktuellen Stunde schon einmal diskutiert, und ich habe darauf hingewiesen, dass noch eine ganze Menge Atommüll aus Frankreich zurückgenommen werden muss. ({3}) - Es ist nett, dass Sie das dazwischenrufen, Frau Kollegin Ganseforth. Ich will Ihnen noch einmal sagen, wer die Verantwortung dafür trägt, dass das Zeug noch in Frankreich steht. ({4}) Das war nämlich nicht die alte Bundesregierung; sie hat transportieren wollen. Verantwortlich, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, sind diejenigen, die seinerzeit demonstriert haben, die die Transporte blockiert haben, ({5}) die sich auf Schienen angekettet haben. Dieser Bundesumweltminister war dabei; also ist er mitverantwortlich dafür, dass diese Transporte nicht stattgefunden haben. ({6}) Sie sind also für diese unerträgliche Situation mitverantwortlich, Herr Trittin. Sie haben damals demonstriert. ({7}) Heute haben Sie die unbequemen Demonstrationsmärsche mit einem bequemen Ministersessel vertauscht. Aber die Ziele, die Sie verfolgen, sind immer noch dieselben. Wir kritisieren vonseiten der F.D.P. schon lange, dass die dringend erforderliche Entsorgung von Atommüll dem tagespolitischen Opportunismus von Rot-Grün geopfert wird. Statt Atommüll unterirdisch an sorgfältig dafür ausgewählten Stellen sicher zu lagern, erzwingt die Bundesregierung oberirdische Provisorien ohne Rücksicht auf riskante Langfristfolgen. ({8}) Die Suche nach fragwürdigen Alternativen für die Endlagerprojekte Schacht Konrad und Gorleben ist außerdem eine groteske Geldverschwendung. Die F.D.P. hat deshalb parlamentarisch beantragt, diesem Unsinn Einhalt zu gebieten. Die F.D.P. fordert Sie auf, Herr Minister Trittin, dem Parlament ein schlüssiges Endlagerkonzept vorzulegen, anstatt den Deutschen Bundestag mit Schuldzuweisungen aufzuhalten, wo es keine Schuld zuzuweisen gibt. ({9}) Lassen Sie den Versuch, Ängste der Bevölkerung populistisch zu nutzen, und tun Sie bitte endlich Ihre Arbeit. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter von der PDSFraktion.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei einer Rückblende vergangener Taten und Unterlassungen will ich namens der PDS eingestehen, dass die Genehmigung von Morsleben im Jahre 1986 durch die damals verantwortlichen Stellen der DDR ein Fehler war. Es hätte erkannt werden müssen, dass in einem weiträumig ausgehöhlten Kalibergwerk schwer vorhersagbare Verformungen auftreten und Einbrüche von Schweben erwartet werden können. Vergleichbare Erfahrungen wurden im damaligen Westen auch im so genannten Versuchsendlager Asse gemacht, das ebenso ein Kalibergwerk war. Nun droht der Absturz der Decke über einer Einlagerungskammer. Unzweifelhaft ist auch, dass sich die frühere Bundesregierung für den Betrieb des atomaren Endlagers Morsleben eingesetzt hat. So erteilte Bundesumweltministerin Angela Merkel im Juni 1995 eine Weisung zum Weiterbetrieb des Lagers, nachdem das Land einen teilweisen Einlagerungsstopp verfügt hatte. Aber auch die Abgeordneten aus CDU/CSU und F.D.P. förderten den Weiterbetrieb. Durch die am 1. Mai 1998 in Kraft getretene Atomrechtsnovelle wurde die Betriebsgenehmigung für Morsleben um fünf Jahre, also bis zum 30. Juni 2005, verlängert. ({0}) Morsleben wurde auch von Atomanlagen genutzt, die in SPD-geführten Ländern liegen. So genehmigte das rot-grün regierte Nordrhein-Westfalen die Verbringung von Abrissabfällen des AKW Würgassen nach Morsleben. Die Bundesanstalt für Strahlenschutz hat unter Herrn König die Zwischenlagerung von Abfällen, darunter Cobalt-60-Strahlenquellen, legalisiert. Diese Abfälle dürfen in Morsleben aber nicht endgelagert werden. Mit dieser Legalisierung hat Herr König faktisch auf der besagten „Unbedenklichkeitserklärung“, um die es in dieser Aktuellen Stunde geht, aufgebaut. Ich fordere den Bundesumweltminister bei dieser Gelegenheit auf, die zwischengelagerten Abfälle aus der Grube entfernen zu lassen. - Er hat gerade genickt. ({1}) Auch wenn die Risse schon seit längerem bekannt sein sollten, erscheinen mir Maßnahmen zur Abwehr der Gefahr des Absturzes von 10 000 Tonnen Salzgestein in einen ungeordneten Haufen von Atommüllfässern plausibel. Wenn die Fachleute der Bundesregierung auf Gefahrenabwehr plädieren, dann kann ich zunächst nicht anders, als der Bundesregierung Glauben zu schenken. Auch ohne das Vorliegen von gesetzlich geforderten Planunterlagen zum Abschluss der Grube muss mit den Sicherungsarbeiten unverzüglich begonnen werden. Ich teile jedoch nicht die Auffassung von Sachsen-Anhalts Umweltminister Konrad Keller und seinem niedersächsischen Kollegen Jüttner, dass - ich lese aus einer Tickermeldung vor - die bisherigen Zeitpläne des Bundesamtes zur Stilllegung als zu langfristig bezeichnet werden müssen. Keller und Jüttner monieren, dass das Planfeststellungsverfahren zur Verschließung des ehemaligen Salzstocks bereits seit mehr als acht Jahren laufe. Nach meinen Informationen ist es nämlich nicht so, dass Antragsteller und Genehmigungsbehörde trödelten; vielmehr haben sie eher über Zeitdruck zu klagen. Ein Problem scheint zu sein, dass bisher keines der betrachteten Verschlusskonzepte in Bezug auf seine technischen Folgen hinreichend erprobt worden ist und dass die Abwägung der günstigsten Variante deshalb Schwierigkeiten macht. Eine sorgfältige Abwägung ist jedoch erforderlich, da im Rahmen der gesetzlich geforderten Beteiligung der Bürger und der Träger öffentlicher Belange vertretbare Planunterlagen öffentlich ausgelegt werden müssen. Ich kann die Bundesregierung an dieser Stelle nur eindringlich davor warnen, im Zuge der Sicherungsmaßnahmen die Öffentlichkeitsbeteiligung zu beschneiden. Der Verdacht darf nicht aufkommen, dass hier ohne Beteiligung einfach Fakten geschaffen werden sollen. Zum Schluss: Das BfS ist gleichzeitig Aufsichtsbehörde und Betreiber von Morsleben. Es wäre zu überlegen, ob diese Verantwortlichkeiten für die Zukunft nicht getrennt werden. Danke. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat die Kollegin Steffi Lemke vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen und Kolleginnen! „Morsleben ist sicher“ - mit dieser Durchhalteparole haben uns CDU/CSU und F.D.P., an ihrer Spitze die ehemalige Umweltministerin Merkel, jahrelang einzubläuen versucht, dass dort ein vollkommen sicheres Endlager existiert, in das man bedenkenlos radioaktiven Müll einlagern kann. Wer anderes sagte, dem wurde - wahlweise - Panikmache, Unfähigkeit oder ideologische Verbohrtheit vorgeworfen. ({0}) Das eigentliche Problem dieser ganzen Geschichte war meiner Ansicht nach aber, dass die alte Bundesregierung das wider besseres Wissen getan hat. Frau Merkel war bekannt, dass die ehemalige Betriebsgenehmigung aus DDR-Zeiten immer auf unsicheren Füßen stand. Frau Merkel wusste, dass es bereits zu DDR-Zeiten Sicherheitsbedenken selbst von offiziellen Stellen gab. Frau Merkel wusste, dass die Gefahr von Wassereinbrüchen und Deckgebirgszusammenbrüchen nicht auszuschließen war. ({1}) Dies war durch Gutachten belegt. Trotzdem wurde Morsleben genutzt; trotzdem wurde in Morsleben eingelagert. Trotzdem haben CDU/CSU und F.D.P. die Einlagerung in Morsleben sogar massiv ausgeweitet und die Einlagerung von schwachradioaktivem Material wurde um mittelradioaktiven Müll erweitert. Noch im Jahre 1998, als die Spatzen schon von den Dächern pfiffen, dass Morsleben Schäden aufweist, haben Sie mit einer bloßen Gesetzesänderung ohne Sicherheitsüberprüfung entschieden, die Genehmigung zur Einlagerung bis 2005 zu verlängern. Das heißt, wenn es nach Ihnen gehen würde, würde heute dort immer noch lustig weiter eingelagert werden und würden weiterhin alle Sicherheitsrisiken ignoriert werden. ({2}) Frau Homburger, Sie haben sich ja um das Thema der heutigen Aktuellen Stunde fein säuberlich herumgedrückt. Sie haben zu dem Anteil Ihrer Fraktion an den Entscheidungen der damaligen Bundesregierung nichts gesagt. ({3}) Ich möchte Ihnen zur Auffrischung Ihres Gedächtnisses ein Zitat Ihres ehemaligen Staatssekretärs im Umweltministerium, Hirche, vorlesen, der im April 1998 - nicht 1970 oder sonst wann - hier im Deutschen Bundestag ausgeführt hat: Es liegen keinerlei Sicherheitsdefizite oder bedenkliche Mängel vor, die zur Einstellung des Betriebes in Morsleben führen könnten. Andere Behauptungen wurden als falsch oder als Panikmache abqualifiziert. Wir brauchen dieses Endlager, ({4}) - so lauteten die Ausführungen Ihres Fraktionsmitgliedes weiter weil wir die Abfälle, die für dieses Endlager vorgesehen sind, eben auch unterbringen müssen. ({5}) Von Sicherheitsüberprüfungen keine Spur. ({6}) Morsleben kam Ihrer Atompolitik so gelegen, weil man in grenznahem Gebiet in einem Endlager mittel- und schwachradioaktiven Müll einlagern konnte. Da die Einlagerung von Atommüll dort so einfach aussah, sollte der Eindruck erweckt werden, dass irgendwann auch die Entsorgung von hoch radioaktivem Müll ohne Probleme möglich sein würde und dass man dafür unproblematisch ein Endlager finden würde. Sie wussten, dass im ehemaligen Grenzgebiet zwischen Ost und West der Widerstand gegen ein solches Lager eher gering sein würde. Frau Merkel als Ostdeutsche wusste sehr gut, dass in einer Region mit hoher Arbeitslosigkeit kritische Fragen, Proteste oder gar der Widerstand gegen einen der größten Arbeitgeber vor Ort kaum zu erwarten waren. ({7}) Deshalb haben Sie Untersuchungen zur späteren Stilllegung von Morsleben und damit zur Langzeitsicherheit hinausgezögert, um die Sicherheitsprobleme dabei nicht öffentlich werden zu lassen. Herr Obermeier, wir wollen hier noch einmal klarstellen: Nicht Frau Merkel hat den Einlagerungsbetrieb beendet, sondern er musste beendet werden, weil ein Gericht einer Klage stattgegeben hat. Dadurch wurden Sie gezwungen, kurz vor der Bundestagswahl den Einlagerungsbetrieb zu beenden. ({8}) Frau Merkel hat parallel angekündigt, den Einlagerungsbetrieb wieder aufzunehmen und fortzuführen. Während Ihrer Regierungszeit hat es kein Bewusstsein für die Sicherheitsprobleme gegeben. ({9}) Hätte nicht Umweltminister Trittin nach dem Regierungswechsel den Einlagerungsbetrieb beendet, würden Sie heute dort noch weiter Einlagerungen zulassen. Für Sie stellt es offensichtlich kein Problem dar, dass dort irgendwelche Bröckchen von der Decke gestürzt sind. ({10}) Wir stehen heute beim Endlager Morsleben vor zwei großen Problemen: Erstens muss der akuten Einsturzgefahr einiger Hohlräume im Endlager begegnet werden und zweitens müssen wir die Aufgabe angehen, ein Schließungskonzept für das Endlager zu erstellen, das langfristig Sicherheit bietet. Das ist angesichts dieser maroden Anlage wirklich eine äußerst schwierige Aufgabe. Wir brauchen also einerseits Maßnahmen zur akuten Gefahrenabwehr. Diese hat der Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz bereits angeordnet. Hier geht es nicht um akute Panikmache, Frau Homburger. Sie haben es überhaupt nicht begriffen, dass wir in der Öffentlichkeit eine sehr sachliche und zielorientierte Diskussion führen. ({11}) Andererseits müssen diese Sofortmaßnahmen in Übereinstimmung mit dem langfristig bestmöglichen Schließkonzept gebracht werden. Um diese Aufgabe beneide ich die Experten beim Bundesamt für Strahlenschutz wirklich nicht. Die rot-grüne Bundesregierung wird diese Aufgaben mit Augenmaß, Verantwortungsbewusstsein und einer eindeutigen Orientierung am Sicherheitsbedürfnis vornehmen und vollenden. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Paul Laufs von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Prof. Dr. Paul Laufs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001293, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Aktuelle Stunde gehört zur finsteren Fortsetzungsgeschichte der irrationalen Anti-Atom-Agitation, die zum rot-grünen Markenzeichen geworden ist. ({0}) Das neue Katastrophengemälde, das von Morsleben gezeichnet wird, hat nichts mit der Wirklichkeit und überhaupt nichts mit den Fakten zu tun. ({1}) Es geht wieder einmal allein um destruktive Stimmungsmache in der Erwartung, dass diese von den Massenmedien ignorant und wohlwollend verbreitet wird. Ich komme zu den Fakten. Das von Ihnen problematisierte Südfeld des Endlagers Morsleben - das sollten Sie, Herr Bundesumweltminister, wissen - wird seit Jahren intensiv geotechnisch überwacht. In den Hohlräumen dieses ehemaligen Salzbergwerkes in rund 500 Metern Tiefe werden ständig Höhen-, Konvergenz- und Extensometermessungen so wie Oberflächenradarmessungen durchgeführt. Es gibt außerdem eine mikroakustische Überwachung. Es gibt die Beobachtung von Rissen mit entsprechenden Meßgeräten und Gipsmarken. Es wurden geomechanische Modellrechnungen vorgenommen. Die Ergebnisse aller dieser Untersuchungen sind bis heute unbestritten und eindeutig: ({2}) Die großflächige Standsicherheit der Abbaue im Südfeld ist langfristig garantiert. Diese Tatsache wird auch durch gelegentlich lokal auftretende Ablösungen von Steinsalzbrocken aus den Deckenbereichen nicht infrage gestellt, wie sie etwa durch Radarmessungen im März dieses Jahres im Abbau 8 a, zweite Sohle möglicherweise zu erwarten sind. Die jetzt angekündigten Verfüllungen der Resthohlräume von zwei Einlagerungskammern ist von den Fachleuten bereits 1996 empfohlen worden. Mit Ihrer Klage, Herr Trittin, können Sie vielleicht Ihre Anhänger beeindrucken, aber nicht die sachkundigen Kollegen hier in diesem Hohen Hause. ({3}) Vor einem Jahr, im Sommer 1999, hat die von Ihnen, Herr Minister Trittin, neu eingesetzte Reaktorsicherheitskommission das Endlager Morsleben vor Ort besichtigt. Über die Befunde gibt es einen Bericht des Bergamtes Staßfurt, der vom Bundesamt für Strahlenschutz akzeptiert wurde. Niemand sah eine Veranlassung zum Handeln, auch Sie nicht, Herr Trittin. ({4}) Wer erlaubt Ihnen eigentlich, wer gibt Ihnen das Recht, mit spitzem Finger auf Töpfer und Merkel zu zeigen? ({5}) Die Situation vor Ort ist seit Jahren unverändert. Auch heute stellt das Bundesamt für Strahlenschutz klar: Selbst wenn ungewöhnlich große Löser auf die dort lagernden schwach und mittelradioaktiven Abfälle stürzen sollten, würde keine unzulässige Freisetzung radioaktiver Stäube in die Umgebung stattfinden. ({6}) Die Einlagerung von Abfällen in Morsleben wurde nicht von Ihnen, Herr Trittin, sondern noch vor der Bundestagswahl 1998 aufgrund eines Gerichtsbeschlusses eingestellt, ({7}) der überhaupt nicht mit sicherheitstechnischen, sondern allein mit rechtlichen Defiziten begründet wurde. ({8}) - Ja, nicht mit sicherheitstechnischen Problemen, Herr Trittin. ({9}) Der Beschluss wurde mit rechtlichen Problemen begründet, die es gibt und denen man durch Einstellung der Einlagerung entsprechend Genüge tun musste. Meine Damen und Herren, der Zweck dieser wenig aktuellen Debatte ist wieder einmal der Versuch, das Argument von der ungeklärten Endlagerung radioaktiver Abfälle zu bemühen. Mit diesem Argument wird der Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie begründet, was unlogisch und unsinnig ist; ({10}) denn die sichere Endlagerung ({11}) radioaktiver Abfälle ist eine Aufgabe, die auf jeden Fall gelöst werden muss, ({12}) weil großen Mengen aus der Medizin, aus der Industrie und aus kerntechnischen Anlagen in deutschen und ausländischen Zwischenlagern verwahrt werden. Diese Aufgabe ist lösbar und wir in Deutschland waren sehr nahe an der Lösung, als die Regierung Schröder/Trittin weitere Fortschritte aus rein parteipolitischen Gründen verhinderte. ({13}) So wird das unbestritten geeignete und fertig gestellte Endlager Konrad nicht in Betrieb genommen. Das wäre die Lösung für die Endlagerung schwach- und mittelradioaktiver Abfälle. Die Erkundungsarbeiten in Gorleben wurden eingestellt. ({14}) Die Genehmigung für den Transport von abgebrannten Brennelementen und Glaskokillen aus Frankreich wird verweigert, obwohl keine Sacheinwände dagegen vorgebracht werden können. Nicht das Entsorgungskonzept früherer Bundesregierungen, sondern Ihre Politik, Herr Trittin, ist unverantwortlich und in der Sache absolut inkompetent. ({15})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Waltraud Wolff von der SPD-Fraktion.

Waltraud Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Obermeier! Sehr geehrter Herr Laufs! Mich wundert, dass Ihre Fachexpertin und Ex-Umweltministerin, Frau Merkel nicht hier ist und sich dieser Diskussion stellt. ({0}) Es wundert mich auch, dass noch kein einziger Kollege danach gefragt hat. Aber schönen Dank, dann konnte ich das tun. Vielleicht sitzt Frau Merkel in ihrem Büro und schaut zu; die heutige Debatte ist auch für sie gedacht. Morsleben - 381 Einwohner, ein idyllisch gelegenes Dorf im Allertal. Dieses Dorf ist Teil des Ohre-Kreises, des Landkreises, aus dem auch ich komme. Der Ort ist bundesweit bekannt, aber nicht, weil Morsleben eben ein so kleines, schönes Dörfchen ist, sondern weil diese unselige Geschichte des Atomendlagers durch ganz Deutschland geistert. In der DDR war Morsleben im Bereich des Sperrgebietes. Das heißt, ich selbst kannte dieses Dorf nur vom Hörensagen; ich konnte dieses Dorf zu DDR-Zeiten nicht kennen lernen. Als 1970 Morsleben aus neun verschiedenen Gruben als Endlager ausgewählt wurde, sind die Bürgerinnen und Bürger des Ortes nicht gefragt worden. Das war zu DDR-Zeiten eben so. Nach der Wende war die Bundesregierung froh, endlich einen Ort für atomare Abfälle „beigetreten“ bekommen zu haben. ({1}) - Ja, genauso ist das. Welch glücklicher Zufall, kann man da nur sagen. Natürlich wurde weiter eingelagert; der Einigungsvertrag gab das schon her. Die Bevölkerung wurde nicht gefragt. Das war eben wieder so. Alle Bedenken und alle Einwände des Umweltministeriums von Sachsen-Anhalt wurden ausgehebelt. Frau Merkel, die Fachfrau für atomare Endlagerung, schlug Gutachten und Expertenmeinungen in den Wind und entschied: Das Endlager ist sicher, keine Gefahr. Sie schaffte es sogar, die Parteikollegen vor Ort zu überzeugen, sodass auch unser Landrat in Morsleben einfuhr und sagte: keine feuchten Stellen; das Endlager ist sicher. Selbstredend ist auch er Fachmann für Atomendlager, ganz logisch. Was haben die Menschen in Morsleben getan? Die haben gehört, was sie hören wollten. Das ist vorhin schon einmal angesprochen worden. Die Arbeitsplatzsicherung stand nämlich im Vordergrund. Das war eine ganz menschliche Regung, die ich auch verstehen kann. Sie haben das Wort „Sicherheit“ gehört und haben es auch so aufgenommen. Wir haben gestern Abend in Morsleben eine öffentliche Bürgerveranstaltung durchgeführt. Unserer Einladung folgte neben dem Umweltminister aus Sachsen-Anhalt auch der Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz, Wolfram König, der heute hier ist. ({2}) Die Stimmungslage gestern Abend war eine ganz andere als noch vor ein oder zwei Jahren. Damals galt nämlich der Arbeitsplatzerhalt; aber gestern Abend sind in den Fragen auch die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger zutage getreten. ({3}) - Was heißt: „Da seid ihr erfolgreich“? Nicht nur da, Herr Obermeier. ({4}) Bürgerinitiativen, kritische Fachleute, Umweltverbände, Gutachten - die alte Regierung hat alles in den Wind geschlagen. Niemand hat sich mit den Folgen auseinander gesetzt, auf Kosten der Bevölkerung und auf Kosten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Endlagers Morsleben. Das werfe ich der alten Regierung und Frau Merkel vor. Nicht Unwissenheit führte dazu, dass wir heute mit der Einsturzgefahr zu kämpfen haben. Nein, so ist es nicht. In der Zeit von Sommer 1995 bis zum Regierungswechsel 1998 sind alle Verfügungen, die das Land Sachsen-Anhalt ausgesprochen hat, von Frau Merkel außer Kraft gesetzt worden. Frau Merkel hat wider besseres Wissen gehandelt. ({5}) Sie ist ein zu großes Risiko eingegangen - auf Kosten ihrer Mitmenschen. ({6}) Mir persönlich läge an einer Aufarbeitung dieser Vorgänge und auch der gutachterlichen Stellungnahmen. Ich bin froh und dankbar, dass Umweltminister Trittin mit Schreiben vom 4. Mai dieses Jahres alle diese Anweisungen außer Kraft gesetzt hat. Nun kann - fast schon zu spät - das Land Sachsen-Anhalt mit dem Bundesamt für Strahlenschutz gemeinsam an die Bewältigung des Schadens gehen. Ich hoffe, dass ab kommenden Montag die schon angesprochenen vorgezogenen Verfüllmaßnahmen durchgeführt werden. Ich möchte ganz deutlich sagen: Hier ist Gefahr im Verzuge. Es geht um Gefahrenabwehr. Es handelt sich nicht um eine Gefahr, die eventuell eintreten könnte, sondern es handelt sich um eine Gefahr - da können Sie den Präsidenten des Bundesamtes für Strahlenschutz fragen -, die im Verzuge ist. Das muss deutlich gesagt werden. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Waltraud Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Zum Schluss habe ich die Bitte, dass alle notwendigen Unterlagen, die für das Planfeststellungsverfahren erforderlich sind und die der Bund liefern muss, dem Land Sachsen-Anhalt unverzüglich zur Verfügung gestellt werden, und zwar zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger von Morsleben und auch der gesamten Region. Schönen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Ulrich Klinkert von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Ulrich Klinkert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001134, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist gewährleistet, dass aus dem Endlager Morsleben keine unzulässige Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Umgebung stattfindet. Die Standsicherheit des Südfeldes wie des gesamten Bergwerkes ist nicht gefährdet. - Diese Erkenntnis aus jüngster Zeit stammt nicht von mir, sondern vom Präsidenten des Bundesamtes für Strahlenschutz, Wolfram König, der sich auf wissenschaftliche Untersuchungen des BfS und der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe stützt. Wenn dem so ist, woran kein Zweifel besteht, dann muss ich feststellen, dass der Bundesumweltminister im Zuge Panikmache hier und heute dem Parlament die Unwahrheit gesagt hat. ({0}) Wenn man die Worte des Präsidenten des BfS, Herrn König, hört, dann fragt man sich allerdings: Warum diese Aufregung? Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Herr König ist nämlich in eine von ihm selbst aufgestellte Falle getappt. Die Erkenntnis, dass es Risse im Südfeld gibt - übrigens weit oberhalb der infrage kommenden Einlagerungsräume und auch noch seitlich versetzt, sodass diese Räume nicht betroffen sein können -, ist überhaupt nicht neu. Diese Risse und mögliche Lösen werden von den Fachleuten als gefahrlos beherrschbare Erscheinung angesehen. Nicht neu ist auch, dass schon lange geplant ist, die drei Einlagerungsräume zu verfüllen bzw. - wie der Bergmann sagt - zu versetzen. Diese Maßnahme ist vom BfS - übrigens lange bevor Herr König dort Präsident wurde - in die Wege geleitet worden. Unbekannt ist vielleicht die Tatsache, dass sich das damals grün-geführte Umweltministerium des Landes Sachsen-Anhalt immer gegen einen solchen Versatz gesperrt hat und die dafür notwendigen Genehmigungen verweigert hat. Interessant ist ferner, dass Herr König selbst in diesem sachsen-anhaltinischen Umweltministerium als Staatssekretär gearbeitet hat, also für diese Verweigerung auch persönliche Mitverantwortung tragen muss. Man hätte folglich schon längst und in Ruhe, spätestens aber seit 1998, verfüllen bzw. versetzen können. Wie gesagt: Die Risse stellen keine akute Gefahr dar; sie sind spätestens seit 1996 bekannt. ({1}) Dann wollte Herr König in seiner Eigenschaft als Präsident des BfS offensichtlich Entschlossenheit und Durchsetzungsvermögen dokumentieren und den Versatz einleiten. Nebenbei wollte er - dagegen ist nichts zu sagen - die dort Beschäftigten mit dieser Aufgabe betrauen, weil durch die Verweigerungshaltung der Landesregierung erstens das Einlagern nicht mehr möglich ist und zweitens auch ein Versatz nicht mehr durchgeführt werden kann. Nach dem Motto „Die Geister, die ich rief, werd’ ich nun nicht wieder los“ hat die sachsen-anhaltinische Landesregierung die Genehmigung für einen Versatz weiterhin nicht erteilt. Um dennoch tätig werden zu können, musste eine Gefahr für die Bergsicherheit konstruiert werden. Dabei hat Herr König im Rückgriff auf altbekannte Tatsachen völlig überzogen; im Übrigen hat er wahrscheinlich nicht mit der Reaktion der Medien gerechnet. Die Panikmache hat dazu geführt, dass die Medien ihn mit „akuter Einsturzgefahr“, „Wassereinbruchsgefahr“ und anderen Katastrophenszenarien zitieren, die dann wiederum zur Verunsicherung der Bevölkerung vor Ort geführt haben. ({2}) Waltraud Wolff ({3}) Um diese Verunsicherung wenigstens etwas zu egalisieren und den von ihm angerichteten Schaden ein wenig auszugleichen, ist Herr König gestern nach Morsleben gefahren. Ich habe zwar noch nichts gehört, hoffe aber sehr, dass er die Situation ein wenig realistischer dargestellt hat, ({4}) dass er gesagt hat, dass keine Gefahr des Austretens unzulässiger Konzentrationen besteht, dass die Salzbarriere des Endlagers sicher ist, dass es nicht zu akutem Herabfallen von großen Lösen mit Einwirkungen auf die endgelagerten Stoffe kommen kann und dass auf keinen Fall die Gefahr eines Einsturzes des Bergwerkes bzw. von Teilen des Bergwerkes besteht. Herr König sollte auch darstellen, dass die sachsen-anhaltinische Landesregierung den Versatz sowohl vor dem Regierungswechsel als auch danach zunächst verweigert hat und dass die unseriöse Panikmache zu einer Verunsicherung der Bevölkerung geführt hat. Aber es hat ja bei Rot-Grün Methode, dass man versucht, die Kernenergienutzung durch die Blockade des Entsorgungspfades und durch Panikmache insgesamt zu diskreditieren. ({5}) Insgesamt betrachte ich diese Aktuelle Stunde als Eigentor von Rot-Grün. Vielen Dank. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Michaele Hustedt von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist in der Tat schade, dass man keine ehemalige Ministerin herbeizitieren kann, damit sie sich ihrer Verantwortung stellt. ({0}) Denn es war die ehemalige Umweltministerin und heutige CDU-Chefin Frau Merkel, ({1}) die das Atomlager gegen alle Kritik, die es schon damals gab, und alle Analysen verteidigt hat, obwohl sie gewarnt war. Sie hat immer wieder alles abgebügelt, indem sie gesagt hat: Morsleben ist sicher. Sie hat den Weiterbetrieb ohne neues Genehmigungsverfahren bis 2005 durchgesetzt und ist - das möchte ich hier nochmals sagen - erst durch einen Gerichtsbeschluss gestoppt worden. Es hat des Regierungswechsels bedurft, ({2}) damit ein neuer Umweltminister, nämlich Umweltminister Trittin, die Bundesweisung von Frau Merkel zurücknehmen konnte. ({3}) Wenn sich Frau Merkel und Herr Hirche ihrer Verantwortung hier nicht stellen, so sind heute wenigstens die ehemaligen parlamentarischen Staatssekretäre Herr Laufs und Herr Klinkert da, die beide die Verantwortung mitzutragen haben. Nur, wie sie das hier tun, verschlägt mir wirklich schlichtweg die Sprache. ({4}) Mir wird noch nachträglich angst und bange, wenn ich mir überlege, dass solche Menschen wie Sie ({5}) Verantwortung für die Sicherheit von Atomkraftwerken, für die Sicherheit von Transporten und für die Sicherheit von End- und Zwischenlagerstandorten getragen haben. ({6}) Wenn Sie es normal finden, dass Teile des Lagers - Gott sei Dank nicht das ganze Lager - zusammenbrechen, und wenn Sie es normal finden, dass dort zentimetergroße Risse auftreten, ({7}) und uns Panikmache vorwerfen, wenn wir sagen, dass da jetzt etwas getan werden muss, dass gehandelt werden muss, dass man es gar nicht so weit hätte kommen lassen dürfen, ({8}) dann kann ich nur sagen: Sie haben es noch immer nicht kapiert. ({9}) Das wirft die interessante Frage auf: Warum ist es denn bei Ihnen immer so, dass Sie die Gefahren verharmlosen? ({10}) Das tun Sie ja nicht nur bei Morsleben, sondern auch bei der Wiederaufbereitung, die im Prinzip eine illegale Zwischenlagerung ist, die Sie befördert haben. ({11}) Das tun Sie auch in Bezug auf Gorleben, auf den Schacht Konrad und auf Asse. Ich nehme einmal das Beispiel Gorleben, weil Sie in dem Zusammenhang immer sagen: Wir haben doch eigentlich ein Endlager. Viele Wissenschaftler sagen, Gorleben sei nicht für die Lagerung von radioaktivem Müll, der dort im Umfang von 10 000 Tonnen eingelagert werden soll, geeignet. ({12}) Denn aufgrund mikrobieller anaerober Tätigkeiten könnten sich Gase entwickeln, die dieses Gestein nicht durchlässt, ({13}) was zu Rissen führen könnte. Das Deckgebirge könnte dann nicht mehr ausreichen. ({14}) - Das ist für Sie natürlich wieder Panikmache, weil Sie verharmlosen. Dies müssen Sie tun, weil Sie in Bezug auf die Atomkraft kein Entsorgungskonzept haben. ({15}) Sie mussten die Wiederaufbereitung, die im Prinzip eine illegale Zwischenlagerung ist, genehmigen, weil Sie ansonsten keinen Entsorgungsnachweis hätten vorlegen können. ({16}) Obwohl es berechtigte Zweifel an der Geeignetheit von Gorleben gegeben hat, haben Sie die Erkundung nur deshalb weiter betrieben, weil Sie sonst keinen Entsorgungsnachweis gehabt hätten. ({17}) Ihr gesamtes Gebäude der Pro-Atomkraftpolitik wäre wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen, wenn Sie nur den geringsten Zweifel an der Sicherheit von Morsleben bzw. Gorleben oder an der Wiederaufbereitung zugelassen hätten. ({18}) Das ist der Grund dafür, dass Sie in dieser Art und Weise verharmlosen, wie Sie es tun. ({19}) Ich kann nur feststellen: Es wurde Zeit, dass Menschen an die Regierung kommen, die nicht verharmlosen und die nicht ideologisch verblendet sind, sondern sich ernsthaft Gedanken um die Sicherheit der Atomkraft und um die Entsorgung des Mülls machen ({20}) und versuchen, die Fehler, die Sie gemacht haben, wieder gutzumachen. ({21})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Monika Ganseforth von der SPDFraktion.

Prof. Monika Ganseforth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Es gibt viele Gründe dafür, dass sich der Regierungswechsel gelohnt hat. Die heutige Debatte hat mir einen weiteren deutlich gemacht: Es ist unverantwortlich, was ich von Ihrer Seite gehört habe, als stimme es gar nicht, dass das Lager Morsleben nicht für Atommüll geeignet ist und auch nie gewesen ist. Das ist das Thema, mit dem wir uns heute befassen müssen, und nicht die Verfüllung oder sonst etwas. Dass das Ministerium in Bezug auf Morsleben mit großer Verantwortung vorgeht, damit die Menschen keine Angst haben müssen, das hat nichts damit zu tun, dass es unverantwortlich war und ist, in dieses Bergwerk Atommüll einzulagern. ({0}) Wir haben es hier wieder mit einer der üblichen Altlasten zu tun. Hier besteht sogar eine doppelte Altlast: eine Altlast aus der ehemaligen DDR, die nahtlos von der Regierung aus CDU/CSU und F.D.P. fortgeführt worden ist. Sie haben ja immer das fortgeführt, was in Ihr Konzept passte, während Sie andererseits alles andere, was die Kommunisten gemacht haben, furchtbar fanden. Wenn es aber in Ihr Konzept passte, war es immer vom Besten. Sie haben das dann unbesehen und in unverantwortlicher Weise übernommen. ({1}) Dabei gab es von Anfang an große Bedenken gegen die Langzeitsicherheit von Morsleben. Dort hätte nie Atommüll gelagert werden dürfen. ({2}) Zum Beispiel haben Wissenschaftler des Brennstoffinstituts in Freiberg im Erzgebirge schon in den 70er-Jahren in einem offiziellen Zwischenbericht im Zusammenhang mit einer staatlichen Sicherheitsstudie formuliert - jetzt sollten Sie zuhören -: Der zentrale Teil der Grube lässt wahrscheinlich keine ausreichende Standsicherheit erwarten. Das war damals schon bekannt. Trotzdem hat die ehemalige DDR ab 1986 mit der Einlagerung von Atommüll begonnen. Das ist schlimm genug. Unverantwortlich ist aber, dass Sie das nach der Vereinigung nahtlos fortgesetzt haben. ({3}) Schon am 2. Oktober 1990 hat das Bundesumweltministerium verfügt, ({4}) dass das Endlager Morsleben ab 3. Oktober als „Anlage des Bundes“ weiterbetrieben wird. Die Regierung Kohl - verantwortlich war Frau Merkel - hat sogar noch versucht, eine Verlängerung des Betriebes bis zum Jahre 2005 durchzusetzen. Gerade Frau Merkel hätte doch aus eigener Erfahrung wissen müssen, wie in Ostdeutschland mit Sicherheitsstandards umgegangen, wie wenig dort auf die Bevölkerung Rücksicht genommen und wie viel geheim gehalten worden ist. Aber wenn es ins Konzept passt, dann wird es nicht mehr wie sonst bei jeder Gelegenheit angeprangert, sondern aus ideologischen Gründen einfach in Kauf genommen. Sie haben es ja heute auch gesagt: Sie mussten irgendwo hin mit dem Atommüll. Sie haben also die Augen zugedrückt und die Genehmigung des Unrechtsregimes einfach übernommen. ({5}) Wie verblendet muss man sein, ja wie leichtfertig und fahrlässig, so etwas zu machen und so mit der Sicherheit der Menschen umzugehen! ({6}) Das richtet sich nicht nur an die Regierung Kohl, Merkel & Co. - von ihr sitzen hier einige -, sondern ich finde auch, dass die Genehmigungsbehörden und die Experten in den Ministerien dafür zur Rechenschaft gezogen werden müssten oder sich fragen lassen müssten, ob sie wirklich alles berücksichtigt haben und ob sie nicht auf Weisung von oben in vorauseilendem Gehorsam das eine oder andere unterstützt haben. Es gab genug Warnungen. Die Regierung von Sachsen-Anhalt hat sich gewehrt und versucht, die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung in den Mittelpunkt zu stellen. ({7}) - Doch. Frau Merkel hat per Weisung die Lagerung von Atommüll durchgesetzt. Es kam Atommüll aus Gundremmingen, von Isar 1 und Isar 2, aus dem Versuchsatomkraftwerk Kahl, aus Würgassen, aus Hamm-Uentrop usw. Es sind Atommüllmengen in das Lager hereingekommen - der Minister hat es gesagt -, die mehr waren als zu Zeiten der DDR. Erst mit dem Regierungswechsel wurde ein Schlussstrich unter diese unverantwortliche Praxis gezogen. ({8}) Natürlich haben die Gerichte auch etwas dazu gesagt. Aber es sind acht Jahre verloren gegangen, und es wurde weiter Atommüll eingelagert. Das hätten wir nicht gemacht. Der eingetretene Schaden ist groß genug. Man muss sich das einmal vorstellen: Die Salzbergwerke sind über 100 Meter lange Hallen, 25 Meter hoch; das sind Riesenhallen. Da ist die Standsicherheit nicht gegeben, es können die Brocken herunterfallen, es sind Risse drin. ({9}) Als wir gesagt haben, dass wir damit aufhören, kam von Ihrer Seite - auch heute haben Sie das wiederholt die Frage, welche neuen fachlichen Erkenntnisse dahinter steckten. Herr Laufs hat es wiederholt: Es ist alles in Ordnung, man könnte so weitermachen. - Das zeigt, wie ignorant Sie sind. ({10}) Die Zeiten der leichtfertigen Weisungen und dieser Genehmigungen sind vorbei. Wir von der SPD und vom Bündnis 90/Die Grünen werden uns - anders als die Regierung Kohl, Merkel & Co. - frei von ideologischen Festlegungen und ohne Abstriche bei der Sicherheit, an die Lösung der Aufgabe der Endlager machen. Schönen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Klaus Lippold von der CDU/CSU. ({0})

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben von der früheren DDR-Regierung, ({0}) von der SED-Politik in Sachen Kernenergie ein schlimmes Erbe übernommen. ({1}) Unter unserer Regierung mit ihrer verantwortungsvollen Politik sind wir darangegangen, das zu ändern. ({2}) Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, Frau Ganseforth, dann hätte der DDR-Staat fortbestanden und dann hätten wir diese Risiken heute noch. ({3}) Wir haben das beendet, Das sage ich, damit das klar ist! Jetzt will ich Ihnen sagen: Wir haben die unsicheren Reaktoren in Greifswald abgeschaltet. Dazu haben Sie nie etwas gesagt. ({4}) Wir haben Wismut mit einem Riesenaufwand saniert und wir haben dafür gesorgt, dass auch von Morsleben keine Gefahr für die Bevölkerung ausgeht. Ich will auch hier noch einmal in aller Deutlichkeit sagen: Sie greifen wieder auf die alte Politik der Panikmache zurück. Man sieht es ja auch bei der Besetzung der Grünen hier und heute. ({5}) Herr Loske, der gesagt hat: „Wir müssen zu einer anderen Politik kommen und dürfen nicht immer die Leute mit Katastrophen verängstigen, ({6}) insbesondere dort, wo sich dies nicht halten lässt“, er ist heute nicht hier. Heute sitzen hier die, die mit den Ängsten der Bevölkerung spielen, die Katastrophen an die Wand malen, obgleich die Experten sagen, dass es keine Gefährdung gibt. ({7}) Machen wir uns nichts vor: Experten sind doch nicht Frau Hustedt und nicht Frau Ganseforth und Experte ist auch nicht Herr Trittin. Die Experten sitzen in der Reaktor-Sicherheitskommission. Sie haben bestätigt, dass das Vorgehen verantwortungsvoll ist. Die Experten sitzen im Bundesamt für Strahlenschutz. Auch die haben das über die ganzen Jahre hinweg bestätigt. Die Experten sitzen im zuständigen Bergamt. Auch sie haben gesagt, es gebe keine Gefährdung. Sie wollen mit der alten Masche der Verängstigung Politik machen. ({8}) Sie wollen von den Schwächen Ihrer derzeitigen Politik ablenken. Das ist der Punkt. ({9}) Wenn sich der Minister darauf versteift, das Endlagerkonzept der alten Bundesregierung sei gescheitert, dann ist dies eine Form der Heuchelei, die wirklich nicht zu überbieten ist. Erst tun Sie alles, damit das Endlagerkonzept nicht zum Tragen kommt, und hinterher sagen Sie, es sei noch nicht realisiert. - So geht es nicht, Herr Trittin. Das ist Heuchelei. Sie lassen wir Ihnen nicht durchgehen. ({10}) Sie brauchen sich gar nicht so gelassen zurückzulehnen, als sei das alles irrelevant. Das hat auch Herr Klimmt gemacht, bis der Kanzler gesagt hat, er stütze ihn. Irgendwann wird er auch Sie stützen. Ich sagte ausdrücklich: stützen. - Die Folge ist die gleiche. ({11}) Ein weiterer Punkt. Ausgerechnet dieser Minister, der das Endlagerkonzept für gescheitert erklärt, fängt auf einmal an, Transportbehälter auf die grüne Wiese zu stellen, nennt das Zwischenlager und sagt dann noch, die anderen seien dafür, dass die Bevölkerung ein Risiko erdulden muss. Wenn sichere Endlagerkonzepte nicht hinreichend sind, wieso reden Sie dann von Zwischenlagern? Heute haben Sie sich verplappert. Sie haben gesagt, Sie wollten bei den Kraftwerken die direkte Endlagerung. Da sieht man es doch: Sie haben das Endlagerkonzept abgeschrieben. Sie wollen den Leuten in den Dörfern die Container auf die grüne Wiese stellen. Das ist Ihre Form von Sicherheitsphilosophie. ({12}) Ich bin gespannt, Herr Trittin, was die Anti-KernkraftBewegung von Ihrer Philosophie vor Ort halten wird, wenn Sie mit den dezentralen Zwischenlagern, die Sie zu Endlagern machen wollen, anfangen. ({13}) Dafür werden Sie die Quittung bekommen. ({14}) Bei einem Thema wie dem heutigen wollen Sie doch nur Ihrer eigenen Klientel signalisieren, Sie seien noch auf dem Anti-Kernkraft-Pfad. Der Kanzler hat Ihnen in dieser Frage mehrfach das Rückgrat gebrochen. Die Kernkraft wird zu Recht weitergeführt, weil sie sicher ist. ({15}) Wir werden mit dem unsinnigen Beschluss, aus der Kernkraft auszusteigen, nach der nächsten Wahl Schluss machen. Damit werden wir eine vernünftige Klimaschutzpolitik erreichen, ({16}) die Sie nicht garantieren können, weil Sie auf den falschen Feldern und auch mit einer falschen Politik arbeiten. Herzlichen Dank. ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner in der Aktuellen Stunde hat der Kollege Ulrich Kasparick von der SPD-Fraktion das Wort. Dr. Klaus W. Lippold ({0})

Ulrich Kasparick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003158, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, insbesondere von der CDU! Herr Dr. Laufs, wir haben gestern in der EnergieEnquete-Kommission mit Ihrem verehrten Kollegen Professor Töpfer zusammengesessen, dem Leiter des Umweltprogramms der Vereinten Nationen. Es war für mich eine Wohltat, Herrn Töpfer zuzuhören. Nach dem, was ich von Ihnen erleben musste, möchte ich Ihnen dringend empfehlen, einmal einen Töpfer-Kurs zu belegen. ({0}) Seine Beiträge waren um Welten besser als das, was Sie heute hier vorgetragen haben. Ich will Sie kurz zitieren. Sie haben uns, Herr Dr. Laufs - ich kenne Sie aus der Energie-Enquete-Kommission, das war unter Ihrem Niveau, das können Sie besser -, irrationale Anti-Atom-Agitation vorgeworfen. ({1}) Es ist völlig unter Ihrem Niveau, solche Vorwürfe zu machen, noch dazu, wenn sie nicht belegt werden. ({2}) Herr Klinkert hat gesagt: Das ist alles nicht neu. Wir wissen das alles. Die Risse stellen keine akute Gefahr dar. Das ist alles erfunden. ({3}) Das ist alles Panikmache. - Das Schönste war für mich, dass er den Präsidenten des Bundesamtes, der hier heute die ganze Zeit sehr aufmerksam zuhört, angreift ({4}) und ihm vorwirft, dass er, der als Staatssekretär im Umweltministerium in Magdeburg derjenige gewesen ist, der am engagiertesten für die Schließung gekämpft hat, das ganze Verfahren verzögere. Das ist reichlich unverschämt. ({5}) Ich will deshalb einen weiteren Punkt aufgreifen. An Argumenten ist schon viel genannt worden. Worum geht es? Es geht um 10 000 Kubikmeter mittelradioaktives Material, das noch nicht einmal gestapelt ist, sondern aus 20 Meter Höhe einfach in den Berg geworfen worden ist. Das liegt jetzt dort unten und es besteht die Gefahr, dass Salzbrocken darauf fallen und radioaktiver Staub entsteht. Das ist die Gefahr, um die es geht. Trotzdem sagen Sie hier: Es ist alles harmlos, wir wissen das seit Jahren. Sie zitieren die berühmten Experten, auf die ich noch einmal zu sprechen kommen wollte. Sie behaupten, diese Experten hätten Ihnen gesagt, alles sei sicher. Sie haben damals selber das Bundesamt für Strahlenschutz gebeten, ein Gutachten in Auftrag zu geben. Seit 1994 wissen Sie, dass Wasser eintreten kann. Was machen Sie denn mit den Gutachten dieser Experten? Sie wischen sie einfach vom Tisch. Das ist Ihr Problem. Sie nehmen die Gutachten nicht ernst. ({6}) Als ich mich auf diese Rede vorbereitet habe, bin ich richtig zornig geworden: Wir müssen nämlich Ihren Müll wegräumen, ({7}) den Müll einer verfehlten Energiepolitik. Das, was da liegt, ist der Müll Ihrer verkehrten Energiepolitik. Wir sind ausgesprochen dankbar dafür, dass damit jetzt endlich Schluss ist und dass wir in Deutschland einen vernünftigen Energiepfad gehen. Ich wünsche mir - das betrifft insbesondere die beiden früheren Parlamentarischen Staatssekretäre -: Lassen Sie uns doch einmal zur Sache reden. Kommen Sie nicht immer mit den Argumenten, wir würden eine irrationale Anti-Atom-Diskussion führen. Es geht um ein Gefährdungspotenzial, nämlich um 10 000 Kubikmeter strahlendes Material, das verkippt im Berg liegt und gesichert werden muss. Ich bin dem Umweltminister und dem Bundesamt für Strahlenschutz sehr dankbar, dass sie jetzt endlich die notwendigen Schritte einleiten. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Aktu- elle Stunde ist beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 a bis c auf: a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({0}) - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Agrarbericht 2000 Agrar- und ernährungspolitischer Bericht der Bundesregierung - zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Agrarbericht 2000 Agrar- und ernährungspolitischer Bericht der Bundesregierung - zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Matthias Weisheit, Brigitte Adler, Ernst Bahr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken, Steffi Lemke, Kerstin Müller ({1}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Agrarbericht 2000 Agrar- und ernährungspolitischer Bericht der Bundesregierung - Drucksachen 14/2672, 14/3380, 14/3391, 14/4236 - Berichterstattung: Abgeordnete Meinolf Michels Marita Sehn b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Vergütung der Mineralölsteuer für die Land- und Forstwirtschaft ({2}) - Drucksachen 14/4218, 14/4294 ({3}) aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({4}) - Drucksache 14/4616 - Berichterstattung: Abgeordneter Norbert Schindler bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 14/4619 - Berichterstattung: Abgeordnete Hans Jochen Henke Hans Georg Wagner Oswald Metzger Dr. Uwe-Jens Rössel c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Marita Sehn, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Tanken von eingefärbtem Agrardiesel unbürokratisch ausgestalten - Drucksachen 14/3105, 14/4605 Berichterstattung: Abgeordneter Holger Ortel Zum Agrardieselgesetz liegt ein Änderungsantrag der PDS-Fraktion vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat Kollege Holger Ortel von der SPD-Fraktion das Wort.

Holger Ortel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003203, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident, mit Ihrer freundlichen Erlaubnis darf ich einige Gäste, die diese Debatte verfolgen, herzlich begrüßen, zum Beispiel den Geschäftsführer des niedersächsischen Landvolkes, Herrn Dr. Sohn, Herrn Scholten, den Präsidenten der Landwirtschaftskammer Weser-Ems, Herrn Hensel, den Vizepräsidenten der Landwirtschaftskammer Hannover, und den Kreislandwirt Kai Seeger aus dem Landkreis Oldenburg. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir beraten heute in verbundener Debatte über den Agrarbericht 2000 und das Agrardieselgesetz. Ich möchte diese Beratung etwa sechs Wochen vor dem Jahreswechsel in den Zusammenhang folgender aktueller Themen von grundsätzlicher Bedeutung stellen: Erstens. Die seit Jahren andauernde BSE-Krise hat sich dramatisch zugespitzt. In Frankreich häufen sich die BSE-Fälle. Die dortige Bevölkerung verzichtet auf den Verzehr von Rindfleisch, seitdem das Fleisch aus einer Herde, in der BSE festgestellt wurde, in Verkehr gelangt ist. Die Regierung hat ein Bündel von Maßnahmen beschlossen, wobei ich vor allem auf das vorläufige Verbot der Tiermehlverfütterung hinweisen möchte. Spanien hat ein nationales Einfuhrverbot für Rinder aus Frankreich erlassen. ({0}) Auch in Österreich und Italien überlegt man sich solche Schritte. Die gemeinsame Agrarpolitik droht wegen des BSE-Skandals auseinander zu brechen. In Frankreich ist der Rindfleischmarkt zusammengebrochen. Die Preise für die Erzeuger sind drastisch zurückgegangen. Das darf bei uns nicht passieren. Deshalb bitte ich die Bundesregierung, im Interesse des Verbraucherschutzes, aber auch zum Schutze der Landwirte zu handeln. Beschließen Sie, Herr Bundesminister Funke, im Agrarrat am Montag mehr Tests zum Schutz der Verbraucher. Sorgen Sie dafür, dass für den Umgang mit Tiermehl EU-weite Beschlüsse gefasst werden und prüfen Sie die Forderungen des Europäischen Parlaments nach einem Verfütterungsstopp. Wenn die Schutzmaßnahmen EU-weit verschärft werden, brauchen wir keine nationalen Einfuhrverbote. Zweitens. Im Zusammenhang mit dem Schutz vor BSE und dem drohenden Rückfall in nationalstaatliches Handeln fordere ich die EU-Kommission und die Regierungen der Mitgliedstaaten auf, in der Europäischen Union vergleichbare Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. Es ist nicht hinnehmbar, dass die Mitgliedstaaten bei der Festsetzung von Steuersätzen für Energie nahezu völlige Freiheit haben. ({1}) - Herr Kollege Carstensen, es wäre gut, wenn Sie mit Ihren Zurufen etwas aus der Flachwasserzone herauskämen. ({2}) Bei landwirtschaftlichem Dieselkraftstoff tritt das Problem besonders deutlich zutage. Deshalb muss hier zuerst und ganz schnell etwas getan werden; (Beifall der Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] der Korridor für nationale Maßnahmen muss sehr viel enger werden. Hier sind nicht nur der Rat der Agrarminister und der Landwirtschaftskommissar gefordert; um diese Fragen muss sich endlich auch der Wettbewerbskommissar kümmern. ({3}) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Ich begrüße die gestrige Meldung, die Kommission wolle Steuerbefreiungen im Mineralölbereich abschaffen. Wir haben immer gesagt, dass das Agrardieselgesetz und die Einführung eines besonderen Steuersatzes für landwirtschaftlichen Dieselkraftstoff von einer EU-Initiative begleitet werden müssen. Wir verabschieden jetzt das Gesetz und setzen darin einen Steuersatz von 57 Pfennig je Liter Diesel fest, werden aber in diesem Parlament ständig nachhaken, was sich in Brüssel tut. ({4}) Wir brauchen in der EU vergleichbare und faire Wettbewerbsbedingungen für unsere Landwirte. Das bedeutet aber keinen Abbau von Umweltstandards, das darf nicht heißen: weniger Tierschutz oder weniger Verbraucherschutz. ({5}) Deshalb geht auch die Forderung des Bauernverbandes, statt Diesel Heizöl zu tanken, ins Leere. ({6}) Unsere gemeinsame Devise muss sein: gleiche Wettbewerbsbedingungen mit ökologischer Vernunft. ({7}) All diejenigen, die meinen, Landwirtschaftspolitik sei eine Politik nur für Bauern, irren. Diese Annahme ist falsch, entspricht nicht unserem Verständnis und wäre auch nicht zukunftsorientiert. Wir sind der Auffassung, dass die Landwirtschaftspolitik in eine Politik für den ländlichen Raum eingebettet sein muss, Umwelt- und Naturschutz zwar nicht gegen die Bauern durchgesetzt werden dürfen, aber eine herausragende Aufgabe für die Agrarpolitik der Zukunft darstellen, ({8}) dass Tierschutz immer wichtiger wird und Konsumenten und Bauern in einem Boot sitzen; deshalb müssen Bauern die besseren Verbraucherschützer sein. ({9}) Um es ganz deutlich zu machen: Wenn wir über vergleichbare und faire Wettbewerbsbedingungen für unsere Landwirte reden, meinen wir nicht weniger Umwelt-, Tier- oder Verbraucherschutz. ({10}) Ich bitte deshalb den Bundesminister, den Agrarbericht nicht als Bericht über oder für die Landwirtschaft aufzufassen; der Bericht muss sich noch mehr als bisher an die Konsumenten richten und umfassend über Umwelt-, Tiersowie Verbraucherschutz berichten. Wir helfen unseren Landwirten und deren Familien mehr, wenn einer breiten Bevölkerung bewusst wird, wie schwer, aber auch wie gut und verantwortungsvoll auf deutschen Bauernhöfen gearbeitet wird. ({11}) Lassen Sie mich zum Schluss eine Bemerkung machen: Ich habe mir den Entschließungsantrag der CDU/CSU-Fraktion angeschaut. ({12}) - Das kann durchaus so sein, Herr Kollege. - Was Sie im Grunde genommen in Ihrem Antrag fordern, ist, Steuern und Abgaben zu senken und gleichzeitig die Zuschüsse zu erhöhen. Bei dieser Rechenkunst würde sich der alte Adam Riese im Grabe herumdrehen. Herzlichen Dank. ({13})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSU-Fraktion gebe ich nunmehr dem Kollegen Peter Harry Carstensen das Wort.

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident Seiters! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe gestern eine Pressemitteilung erhalten, der zufolge der ehemalige Bundesminister Ertl einen schweren Unfall gehabt hat, und ich möchte ihm, wenn Sie gestatten, auch im Namen des Agrarausschusses, beste Genesungswünsche übermitteln. ({0}) Wir wissen, wie engagiert er in der Landwirtschaft gewesen ist, und wir wissen auch, was er für die Landwirtschaft getan hat. Es ist manchmal erstaunlich, dass nicht gesehen wird, dass die größte ökologische Leistung der Landwirtschaft in dieser Welt und insbesondere auch in Deutschland die Ernährung der Menschen ist. In Deutschland ackert einer und 110 werden satt. ({1}) - Es mag auch sein, dass es mehr sind. - Dies ist in dieser Zeit der Arbeitsteilung in unserer Gesellschaft notwendig. Man lebt in den Städten und lässt sich aus dem Land, von dem Bauern ernähren. Ich glaube, es ist angebracht, auch einmal Dank dafür zu sagen. ({2}) Denn die Landwirtschaft liefert nicht nur Nahrung, sondern betreibt auch Natur- und Landschaftspflege, pflegt Erholungsräume und sorgt für gute Luft. ({3}) Dies wird neben der Nahrungsmittelerzeugung umsonst oder zu günstigen Kosten geliefert. Auch dafür ein herzliches Dankeschön. Die Landwirtschaft ist nicht nur Wirtschaft. In manchen Ländern heißt Landwirtschaft Agrarkultur, Agrikultur. Das zeigt, dass wir es mit einem Kulturraum, mit einer ländlichen Kultur zu tun haben, die bodenständig und konservativ im guten, bewahrenden Sinne ist. Auf den ländlichen Raum kann man sich verlassen, wenn der ländliche Raum von Landwirtschaft und von Landwirten bestimmt wird. Auch für diese Leistung ist den Landwirten, den Bauern und ihren Familien, aber auch den Fischern und Förstern Dank auszusprechen. Ich sage das deswegen, weil zur Kulturleistung auch der Erhalt von regionalen Sprachen gehört, über die wir hier schon einmal diskutiert haben. Wo wäre wohl das Friesische, das Plattdeutsche, ({4}) das Sorbische, wenn es nicht draußen auf dem Lande von den Bauern gepflegt würde? Also, meine Damen und Herren, sollte unserer Landwirtschaft, unserem ländlichen Raum Dank und Unterstützung gelten. ({5}) Die Landwirtschaft geht in eine schwer werdende Zukunft. Sie wird in Deutschland und in Europa mit neuen Herausforderungen fertig werden müssen. WTO und Osterweiterung sind nur zwei Stichworte. Ich stelle fest: Von Rot-Grün ist keine Hilfe dazu zu erwarten, dass sich die Landwirtschaft auf diese Herausforderung einstellen kann, ganz im Gegenteil: Rot-Grün ist die größte Belastung, die die Bauern je ertragen mussten. ({6}) Rot-Grün raubt mit der Politik, die durch Minister Funke vertreten wird, vielen die Chance, sich ordentlich auf die Herausforderungen der nächsten Jahre vorzubereiten. Anstatt dass man den Bauern Hilfe in einem schwerer werdenden Wettbewerb leistet, werden ihnen durch nationale Entscheidungen zusätzliche Belastungen aufgebürdet. Für mich ist es schon bedauerlich, dass Minister Funke weiß, was das bedeutet, und sich nicht durchsetzen kann, dass Minister Funke ein Minister ist, der nicht handeln darf, dass Minister Funke in eine Regierung eingebunden ist, die für die Landwirtschaft nichts übrig hat. ({7}) Die Arbeit von Funke, die Arbeit des Landwirtschaftsministeriums machen deutlich, was Staatssekretär Wille schon zu Beginn der Legislaturperiode ausgesprochen hat. Er sagte am 22. Januar 1999 in Berlin: Die Agrarwirtschaft hat bei der neuen Bundesregierung einen nicht so hohen Stellenwert wie bisher. Das hat er im März dieses Jahres beim Kreisverbandstag in Herford noch einmal verdeutlicht, indem er auf das Wahlergebnis von 1998 hinwies und sagte: Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass sich das gesamte politische Umfeld für die Landwirtschaft in Deutschland und in der EU geändert hat. Gartenbau und Landwirtschaft täten gut daran, sich rechtzeitig darauf einzustellen. Herr Staatssekretär und Herr Minister, wir haben das zur Kenntnis genommen. Auch unsere Bauern merken inzwischen schmerzlich, dass von dieser Bundesregierung keine Hilfe für die Landwirtschaft zu erwarten ist. ({8}) Das „Landwirtschaftliche Wochenblatt“ beginnt seinen Bericht über die Veranstaltung, über die ich gerade gesprochen habe, mit folgenden Worten: Gäbe es eine Auszeichnung für das Schönreden einer besch… Lage, könnte der Staatssekretär im Bundeslandwirtschaftsministerium ({9}), Dr. Martin Wille, gewiss mit einem Preis rechnen. Ich füge hinzu: Dies könnte nur die Silbermedaille sein, weil die Goldmedaille für das Schönreden dem Minister selbst vorbehalten ist. ({10}) Welchen Stellenwert die Landwirtschaft bei dieser Bundesregierung hat, wird auch deutlich, wenn der Kanzler den demonstrierenden Bauern im Allgäu sagt: Warum soll ich mich um euch kümmern? Ihr wählt uns ja doch nicht! - Von einer Regierung, die nichts für die Landwirtschaft übrig hat, kann man keine Hilfe und keine optimale Vorbereitung auf die schwieriger werdende Zukunft erwarten. Funke war früher die einzige Hoffnung, an die sich die Bauern beim Regierungswechsel zu Rot-Grün klammerten. Sie sind inzwischen von diesem Landwirtschaftsminister tief enttäuscht und - ich glaube, mich trügt mein Eindruck nicht - auch der Minister ist von seiner Arbeit und von den ihm gegebenen Möglichkeiten enttäuscht. Auf eine der peinlichsten Erfahrungen und Enttäuschungen - seine und unsere -, nämlich auf das Agrardieselgesetz, komme ich noch zu sprechen. Ich habe in den letzten Wochen mit den Landwirten, mit Mitgliedern und Nichtmitgliedern des örtlichen Bauernverbandes, intensiv gesprochen und gefragt, was in den letzten 24 Monaten bei ihnen geschehen sei, und zwar vor dem Hintergrund zu erwartender Änderungen durch WTO und Osterweiterung, die eine Stärkung und nicht die Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft dringend notwendig machen. Ich habe festgestellt, dass insbesondere aufgrund der Vielzahl von Steueränderungen und -reformen sowie Haushaltskürzungen die Bundesregierung und sicherlich auch einige Landesregierungen - ich denke dabei an Schleswig-Holstein dafür gesorgt haben, dass die deutsche Landwirtschaft in ihrer Wettbewerbskraft erheblich geschwächt und im Vergleich zu der Landwirtschaft in anderen Mitgliedstaaten unangemessen benachteiligt wird. Dies ist offensichtlich. Die Zahlen sprechen für sich. Wirtschaftsinstitute wie das RWI und der Wissenschaftliche Beirat des BML bestätigen dies. Peter H. Carstensen ({11}) Ich weise beispielhaft auf Folgendes hin: Die Agenda2000-Beschlüsse kosten die deutsche Landwirtschaft mindestens 1,5 Milliarden DM pro Jahr; Kürzung des Agrarhaushaltes um bis zu 1,4 Milliarden DM; Kürzung der Gasölverbilligung von ehemals 835 Millionen DM auf 375 Millionen DM und im Jahr 2001 sogar auf null; Gewährung eines so genannten Ausgleichs durch das Agrardieselgesetz, in dem vorgesehen ist, die Landwirtschaft mit einem Steuersatz von 57 Pfennig pro Liter Dieselkraftstoff zu belasten - nicht etwa mit 47 Pfennig, wie wir noch vor 14 Tagen gedacht haben, und auch nicht mit 50 Pfennig, wie wir noch vor einer Woche gedacht haben -, weil sich derjenige, der eigentlich zuständig ist, nicht durchsetzen konnte. Die Belastung der Landwirtschaft durch die Ökosteuer steigt auf 911 Millionen DM. Ich muss die Liste nicht fortsetzen, weil der Kollege Deß sicherlich auch noch darauf eingehen wird. Ich möchte aber nicht nur die allgemeinen Positionen deutlich machen, sondern auch darauf hinweisen, dass uns die Landwirte vor Ort auf ihre Probleme aufmerksam machen. Ich habe zwei Landwirte danach gefragt, wie es bei ihnen aussieht: Der entwicklungsfähige Betrieb von Hans Friedrichsen - den kennen Sie, Herr Bundesminister; er war derjenige, der Ihnen auf dem Bauerntag in Nordfriesland gesagt hat: Herr Bundesminister, wenn Sie die jetzigen Vorschläge zur Steuerreform gemacht haben, dann haben Sie sich nicht für die Landwirtschaft eingesetzt, und wenn Sie diesen Vorschlägen zugestimmt haben, müssten Sie zurücktreten, auch wenn Sie sie nicht gemacht haben - hat zusätzliche Belastungen nur durch die höhere Agrardieselsteuer, die jetzt kommt, von 7 500 DM. Es ist ein durchschnittlicher Familienbetrieb, auf dem viele Stunden gearbeitet wird und von dem die Familie ernährt werden muss. Der Landwirt Gerhard Volquardsen aus dem SönkeNissen-Koog - kernige Böden; kerniger Junge; er hat in meiner Landwirtschaftsschule die Ausbildung gemacht; vielleicht ist er deswegen so gut - hat 200 Hektar spitzenmäßigen Ackerboden, der sich intensiv bewirtschaften lässt. Er wird eine zusätzliche Belastung allein durch die höhere Agrardieselsteuer von 1 200 DM pro Monat bzw. 14 400 DM pro Jahr haben. Dafür sind Sie verantwortlich. Die Agrardieseldebatte und der uns heute vorliegende Beschlussvorschlag bedeuten eine der peinlichsten Niederlagen für den Minister Funke. Nachdem der Minister angekündigt hatte, dass der Steuersatz beim Agrardiesel bei 47 bzw. 50 Pfennig liegen werde, ist er ausgetrickst worden. Ich sage Ihnen, Herr Minister: Ich habe es auch nicht verstanden, dass Sie gerade in der hohen Zeit der Debatte, in der vielleicht noch etwas zu retten und in der der Minister gefordert gewesen wäre, nicht hier im Land waren, sondern sich auf eine Reise begeben haben. Ich gönne sie Ihnen zwar - es ist ja gut, wenn man einmal auf Reisen geht -, aber hier wäre es notwendig gewesen, mit dem Finanzminister und dem Koalitionspartner zu sprechen. Aber offensichtlich steht Resignation schon auf der Tagesordnung. Sie haben nicht für sich, sondern für die Bauern hier im Land zu arbeiten. Sie haben dafür zu sorgen, dass die Bauern bessere und nicht schlechtere Wettbewerbsbedingungen erhalten. Aber das Ergebnis Ihrer Politik sind schlechtere Wettbewerbsbedingungen. Sie machen die Bauern nicht fit für den Wettbewerb. Sie behindern sie zunehmend in einer unerträglichen Art und Weise. Die Stellungnahme des Bauernverbandes zum Agrarbericht müsste Sie doch zum Handeln auffordern: Es wird Kritik an der Methode geübt. Es wird dargestellt, dass es in den Jahren 1998 und 1999 ein kräftiges Einkommensminus gegeben hat und die Hälfte der Haupterwerbsbetriebe, statt Eigenkapital zu bilden, es abgebaut hat. Die Verbindlichkeiten sind gestiegen. Im Durchschnitt der Betriebe gab es keine Nettoinvestitionen. Dies müsste doch dazu führen, dass man gerade jetzt, da man weiß, was in den nächsten Jahren auf die Landwirte zukommen wird, dafür sorgt, dass es zu einer besseren Situation in der Landwirtschaft, zu besseren Arbeitsbedingungen und zu besseren Situationen in Bezug auf Kosten und Auflagen kommt. Der Bauernverband schließt mit der Aussage: Die Steuer- und Ausgabenpolitik lässt die deutsche Landwirtschaft zum einseitigen Verlierer werden. Sie erfüllen die berechtigten Forderungen des Bauernverbandes zum vorliegenden Agrarbericht, den Abbau der Wettbewerbsverzerrungen sowie einen entsprechenden Ausgleich, in keiner Weise. Sie erfüllen noch nicht einmal Ihre eigenen Ansprüche, die in Ihrem Koalitionspapier niedergelegt sind, in dem Sie sagen, die ländlichen Räume sollen gestärkt, die Landwirtschaft soll gesichert und die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft einschließlich der vor- und nachgelagerten Bereiche soll gestärkt werden. Stattdessen bürden Sie den Landwirten eine Ökosteuer und eine Erhöhung der Mineralölsteuer auf. Mit dem Steuerentlastungsgesetz kommt es nicht zu einer Entlastung, sondern zu einer Belastung. In Bezug auf die Unternehmensteuerreform fallen die Landwirte zurück. Im Haushaltssanierungsgesetz gibt es Belastungen. In die „Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ nehmen Sie weitere Fördertatbestände auf, die Ihnen Ihr Koalitionspartner mit aufdrückt, ({12}) und mit der Agenda 2000 sorgen Sie für weitere Belastungen.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Carstensen, Sie haben die Chance, Ihre Redezeit zu verlängern, indem Sie eine Zwischenfrage zulassen.

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, das möchte ich gerne tun. Wenn diese Frage von einem ausgewiesenen Agrarexperten gestellt wird, nehme ich dieses Angebot gerne an. ({0})

Detlev Larcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001290, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Im Namen der Bevölkerung bedanke ich mich schon jetzt. Ich möchte fragen: Peter H. Carstensen ({0}) Wollen Sie im Ernst behaupten, dass Landwirte durch die Unternehmensteuerreform keine steuerlichen Entlastungen erhalten haben?

Peter H. Carstensen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000323, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Im Steuerentlastungsgesetz besteht eine Schieflage zugunsten der Kapitalgesellschaften und zulasten der Einzelunternehmen und Personengesellschaften. ({0}) Herr Kollege von Larcher, das werden Sie nicht bestreiten können. ({1}) - Ja? - Nun gut, Herr Kollege von Larcher, vielleicht werden Sie dann auch das Folgende bestreiten - vielleicht haben Sie es geändert, das weiß ich nicht, ich gebe nur meinen Kenntnisstand wieder -: Mit einer Entlastung ist erst ab dem Jahre 2005 zu rechnen. Zuvor ist eine Belastung für die Landwirtschaft in Höhe von ungefähr 300 Millionen DM aufzurechnen. ({2}) Das sind die Tatsachen. Vielleicht sollten Sie sich mit Ihrem Finanzminister noch einmal darüber unterhalten. ({3}) Gestern haben wir im Ausschuss eine Debatte geführt. Wir haben versucht, allgemeine Ziele der Agrarpolitik für die nächsten zehn Jahre zu formulieren. Es gab keine Antwort auf die Frage, wie Landwirtschaft in zehn Jahren aussieht. Die Beantwortung dieser Frage ist vielleicht auch zu schwierig. Das möchte ich gar nicht kritisieren. Aber wenn man dies nicht weiß und davon ausgehen kann, dass die Situation für die Landwirte durch die WTO und die Osterweiterung schwieriger wird, dann erfordert es doch allein das Vorsorgeprinzip, dafür zu sorgen, dass die Bauern auf die Herausforderungen vorbereitet werden. Man muss dafür sorgen, dass die Bauern fit gemacht werden: durch Kostenentlastungen statt durch Kostenbelastungen, durch Unterstützung statt durch zusätzliche Auflagen. Nein, im Moment stellen wir das Gegenteil fest. Herr Bundesminister, dies entspricht auch nicht Ihren eigenen Äußerungen. Sie selbst haben in „top agrar“ gesagt - das ist in der Ausgabe 11/98 nachzulesen -: „Steuerliche Mehrbelastungen sind für die Landwirtschaft in der jetzigen Situation nicht verkraftbar. Dies will die SPD auch nicht.“ Was haben Sie seit dieser Zeit bloß gemacht? Sie sollten sich eines merken: Sie haben den Bauern etwas vorgekaspert und sie im Regen stehen lassen. ({4}) Sie sind ein Erfüllungsgehilfe eines landwirtschaftsfeindlichen Finanzministers, eines landwirtschaftsfeindlichen Koalitionspartners und eines landwirtschaftsfeindlichen Bundeskanzlers. Das haben die Bauern nicht verdient. ({5}) Um der Bauern in Deutschland willen kann ich Sie nur auffordern, das zu beherzigen, was im Buch der Sprüche des Alten Testaments in Kapitel 8 steht. Überschrieben ist es mit „Die Weisheit als Gabe Gottes“. Dort heißt es in Vers 5: „Ihr Unerfahrenen, werdet klug, ihr Törichten, nehmt Vernunft an.“ ({6})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe nunmehr der Kollegin Ulrike Höfken für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man muss sicherlich einmal darüber nachdenken, warum Peter Harry Carstensen nicht Landwirtschaftsminister in SchleswigHolstein geworden ist. ({0}) Es packt einen doch der blanke Zynismus, wenn man der Rede meines Vorredners folgt. Das Landwirtschaftsressort ist von uns in einer Situation übernommen worden, in der die Landwirtschaft nun wahrhaftig keine gute Ausgangslage hatte. Allein die beim Regierungswechsel nicht vorhanden gewesenen Vorbereitungen auf die Agenda 2000 sprechen dafür, dass Sie die Vorwürfe, die Sie jetzt Herrn Minister Funke machen zu können glauben, dem Ex-Landwirtschaftsminister Borchert hätten machen müssen. ({1}) Vielleicht sollten Sie sich auch überlegen, bevor Sie hier immer die Agenda 2000 angreifen, dass die Auswirkungen der Agenda 2000 auf den ländlichen Raum Grund genug sind, sie zu unterstützen. Auch sollten Sie einmal bei Ihrem eigenen Verband nachfragen, ob dies nicht eine bessere Strategie zur Unterstützung der deutschen Landwirtschaft wäre. ({2}) Die Lage der Landwirtschaft ist nach wie vor nicht rosig. Der Strukturwandel hat sich im Zeitraum 1998/99, auf den sich dieser Agrarbericht bezieht, in der Größenordnung der letzten zwei Jahrzehnte fortgesetzt. Bei den Haupterwerbsbetrieben musste ein Gewinnrückgang von 7,3 Prozent konstatiert werden; die wichtigsten Gründe dafür waren der Verfall der Schweinepreise und - dies spielt immer noch die Hauptrolle - das miserable Preisniveau im Lebensmitteleinzelhandel, wo im Zuge einer totalen Monopolisierung die Preise gedrückt werden, worüber der Handel selbst auch nicht froh und glücklich ist. Die Folgen einer jahrzehntelangen Fehlentwicklung und einer falschen Agrarpolitik können nicht innerhalb weniger Monate behoben werden. ({3}) Aber die Situation ist nicht nur schlecht. Die Erzeugerpreise haben im Jahr 2000 erheblich angezogen. Auch der Agrarexport steigt auf hohem Niveau weiter, wie Sie in der Agrarausschusssitzung selbst betont haben. Im Wirtschaftsjahr 1999/2000 wird mit einer Einkommensverbesserung gerechnet. Die Arbeitnehmerzahlen in der Landwirtschaft sind zum ersten Mal seit Jahren wieder gestiegen. ({4}) Wir glauben an die Zukunft der Landwirtschaft. Wir haben trotz Spar- und Konsolidierungszwängen den Agrarhaushalt auf hohem Niveau halten können. Wir haben die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe, die die alte Bundesregierung kontinuierlich gekürzt hat, stabilisiert und bei 1,7 Milliarden DM erhalten. Zusammen mit den Kofinanzierungen kommen den Landwirten und den ländlichen Räumen 2,8 Milliarden DM direkt zugute. Wir haben das Bündnis für Arbeit im ländlichen Raum aufgelegt und gerade neu die Mittel für zukunftsweisende Modellprojekte im Haushalt verdoppelt. Wir machen konkrete Vorschläge, wie die Probleme der Landwirtschaft gelöst werden können. ({5}) Selbstverständlich sind Wettbewerbsverzerrungen ein Thema, das aber vornehmlich von den Nachbarländern in der Europäischen Union an uns herangetragen wird. Hier müssen Sie sich vorhalten lassen, dass Sie die Möglichkeit zu Wettbewerbverzerrungen geschaffen haben. Sie hätten sie lange beheben müssen. ({6}) Stattdessen haben Sie dafür gesorgt, dass diese Flanke offen geblieben ist. Das gilt auch für die Subventionen, die die Niederländer den Gärtnern geben. Diese Subventionen sind nicht rechtmäßig und hätten nicht notifiziert werden dürfen. Sie aber haben sie schlicht und ergreifend geduldet. ({7}) Aber es bewegt sich etwas auf der europäischen Ebene. Das ist natürlich eine Folge des intensiven Engagements unseres Ministers. Die Kommission hat gestern verkündet, die Befreiungen und die Sondergenehmigungen bei der Mineralölsteuer mittelfristig abzuschaffen. ({8}) Einige Regelungen sollen kurzfristig aufgehoben werden. Endlich wird auch das Flugbenzin einbezogen. Das ist eine alte, gemeinsame Forderung von Grünen und Bauern, damit die Wettbewerbsverzerrung durch Dumpingangebote aus aller Welt endlich aufhört. ({9}) Wir unterstützen die Bundesregierung massiv, auf der EU-Ebene zugunsten der Harmonisierung der Treibstoffbesteuerung zu intervenieren ({10}) und den Rückhalt der anderen EU-Länder bis Ende dieses Jahres zu erlangen. Wir fordern die EU-Mitgliedsländer selbstverständlich auch auf, den Vorschlag, den Agrardiesel einzubeziehen, mitzutragen und damit europaunverträglichen Auseinandersetzungen - zwischen den Mitgliedstaaten untereinander bzw. zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen und der Landwirtschaft - entgegenzutreten. Die alte Gasölbeihilfe lösen wir heute endlich durch eine Regelung zum Agrardiesel ab, ({11}) ein Instrument, das die Landwirtschaft steuersystemkonform und mit gesellschaftlicher Akzeptanz mit 460 Millionen DM - bis 2003 steigt die Summe auf 700 Millionen DM an - bei den Produktionskosten entlastet. Der Gesetzentwurf muss heute im Bundestag verabschiedet werden, um die alte Regelung aus dem Jahre 2000 - auch Sie wollen sie nicht mehr haben - übergangslos zum 1. Januar 2001 zu ersetzen. Der Agrarhaushalt wird so um diese Summe entlastet. Die damit eingesparten Gelder kommen wiederum der Landwirtschaft zugute. Aber - das ist richtig - die Kosten für die Landwirtschaft müssen weiter verringert werden. ({12}) Wir wollen den Steuersatz für den Agrardiesel so gestalten, dass die reale Besteuerung pro Liter Treibstoff für die Landwirte deutlich unter 57 Pfennig fällt, solange es keine Harmonisierung auf der EU-Ebene gibt. Ein gangbarer Weg wäre, wie vom Bauernverband gestern vorgeschlagen, den Treibstoffverbrauch von jetzt 2 Milliarden Liter auf 1,6 Milliarden Liter pro Jahr zu senken. Das ist möglich. ({13}) Es gibt durch entsprechende Bewirtschaftung die Möglichkeit, ein Drittel einzusparen. Es gibt die Substitution durch Pflanzenöle - eine Beimischung von 20 oder 30 Prozent -, die bei den allermeisten Motoren möglich ist. Es ist also realistisch, die 47 Pfennig zu erreichen und auf diesem Weg ökologisch sinnvoll zu handeln. Durch Einsparungen und Substitutionen, die vorgenommen werden können, kann so eine Einkommenswirksamkeit erzielt werden. ({14}) - Das geht nicht so schnell. - Mit dieser Intention werden wir uns an dieser Diskussion weiterhin beteiligen. Für diese Strategie werden wir werben, und zwar als Koalition insgesamt. Dem Unterglasanbau helfen wir mit einem Überbrückungsprogramm und mit einem Energieinvestitionsprogramm für Gartenbau und Landwirtschaft. Damit sich die Landwirtschaft mittelfristig von den Kosten des Mineralöls weitestgehend unabhängig machen kann, haben wir ein ambitioniertes Förderprogramm für biogene Treib- und Schmierstoffe aufgelegt. Noch stärker wird die Einführung regenerativer Energien unterstützt; allein für die Energiegewinnung aus Biomasse stehen jährlich 70 Millionen DM zur Verfügung. Hinzu kommt der Etat der Fachagentur nachwachsender Rohstoffe. Durch den gesamten Bereich nachwachsender Rohstoffe sind weitere Einsparungen und zusätzliche Einkommen der Landwirtschaft möglich. ({15}) Auch die Entfernungspauschale, über die wir heute noch diskutieren werden, zählt zu den Entlastungsvorschlägen der Bundesregierung für den ländlichen Raum. Gerade CDU/CSU und F.D.P. bekämpfen diese Entfernungspauschale und ihre Möglichkeiten der Realisierung ganz besonders. In dieser Frage stehen die Länder in der Verantwortung. ({16}) Die Wertschätzung der Lebensmittel ist ein wichtiges Thema. Noch einmal: Wir tun alles zum Wohle von Verbrauchern und von Landwirten. Es geht darum, die Wertschätzung unserer Lebensmittel wiederzugewinnen. Herkunftskennzeichnung bei Rindfleisch, neue Legehennenverordnung, Kennzeichnung von Eiern zum Ende des Jahres, Aktionsprogramm „Umwelt und Gesundheit“ - dies sind nur einige Beispiele für die Aktivitäten der rot-grünen Regierung. Aktuell werden alle mit der BSE-Problematik verbundenen Vorschläge - Holger Ortel ist darauf schon intensiv eingegangen - zum Schutz von Verbrauchern und Landwirtschaft aufgegriffen. Wir Grüne machen diese Vorschläge schon seit Jahren: flächendeckende Anwendung von Tests - vor allem bei allen Schlachttieren -, Herausnahme von Tierkadavermehlen aus der Futterkette, offene Deklarationen, strenge Überprüfung bei Import. Alle diese Forderungen sind auch schon von den Bundesländern, dem Europäischen Parlament und der EU-Kommission aufgegriffen worden. Auch wir werden diese Forderungen nachdrücklich vertreten, wie auch die Gesundheitsministerin Andrea Fischer erklärt hat. Wertschätzung heißt für uns aber auch, dass für Qualitätslebensmittel entsprechend faire Erzeugerpreise gezahlt werden und die Anstrengungen, die die Landwirtschaft für den Verbraucherschutz und den Tierschutz unternimmt, entsprechend honoriert werden. Die Verbraucher werden bei entsprechender Aufklärung dazu auch bereit sein; ihre Bereitschaft dazu wird auch noch zunehmen, denn wir haben die Haushaltsmittel im Bereich der Verbraucheraufklärung entsprechend erhöht. Die Ausgaben der Verbraucher für Lebensmittel sind, wie Sie wissen, auf unter 13 Prozent gesunken. Unser Ansatzpunkt ist, über Verbraucherschutz und mehr Qualität zu einer faireren Nachfragesituation zu kommen. ({17}) Ein letztes Thema: die ökologische Produktion. Der ökologischen Produktion gehört die Zukunft. Ökolandbau ist eine der Wachstumssparten in der Landwirtschaft. Dieser Markt, auf dem eine starke Nachfrage herrscht, wurde von der alten Bundesregierung sträflich vernachlässigt. ({18}) Die Konsequenz war, dass 80 Prozent der Nachfrage vom Ausland bedient wurden. Wir werden ein Aktionsprogramm Ökolandbau auflegen, um einen Anteil von 10 Prozent Ökolandbau in den nächsten fünf Jahren zu erreichen. Das ist auch das Programm der Bundesregierung. Einiges haben wir auf den Weg gebracht. Weiteres werden wir tun. Dazu zählt zum Beispiel auch eine Imagekampagne für den ökologischen Landbau und seine Produkte. Dieses wird auch auf der Grünen Woche 2001 vonseiten des Bundeslandwirtschaftsministeriums thematisiert werden. Der Ökolandbau ist ein sehr guter Ansatz, um von der Billigschiene herunterzukommen und die Wertschätzung von Lebensmitteln weiterzuentwickeln und voranzutreiben. Vielen Dank. ({19})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich erteile das Wort der Kollegin Kersten Naumann für die Fraktion der PDS.

Kersten Naumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003197, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Eine Odyssee soll heute ihr Ende finden. Ob es ein gutes oder ein schlechtes Ende wird, das entscheiden Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen. Bereits zur ersten Lesung des Agrardieselgesetzes habe ich bekräftigt, dass die Fraktion der PDS einen höheren Mineralölsteuernettosatz vom Grundsatz her auch in der Land- und Forstwirtschaft für gerechtfertigt hält. Wir treten allerdings nicht für 57 Pfennig, sondern für 47 Pfennig je Liter Agrardiesel ein. Auch dies würde ja bekanntUlrike Höfken lich eine Erhöhung der Nettosteuerbelastung bedeuten. Bevor ich auf unseren Antrag eingehe, möchte ich mich deutlich von der Forderung der CDU/CSU nach 12 Pfennig je Liter abgrenzen. Diese Forderung ist in meinen Augen nichts anderes als demagogischer Populismus. ({0}) Meine Fraktion beantragt 47 Pfennig je Liter Agrardiesel. Letztendlich ist dies ein Kompromiss zwischen der Forderung nach Abbau der Subventionen und dem Anreiz zum sparsamen Umgang mit den immer knapper werdenden Mineralölressourcen. Wir alle wissen, dass ohne finanziellen Druck die Alternativen Biodiesel bzw. reines Rapsöl im einzelnen Agrarbetrieb gar nicht erst auf die Tagesordnung gesetzt würden. Es gehört jedoch auch zur politischen Redlichkeit, anzuerkennen, dass zum Zeitpunkt der Beschlussfassung über die Ökosteuer keineswegs mit dem inzwischen eingetretenen hohen Anstieg der Mineralölpreise gerechnet werden konnte. Das heißt, wir haben für die heute zu treffende Parlamentsentscheidung eine andere Geschäftsgrundlage. In diesem Sinne muss die Politik auch flexibel reagieren, Herr Funke. ({1}) Die durch den Anstieg der Energiepreise bedingten zusätzlichen Belastungen sind in Anbetracht der allgemeinen unbefriedigenden Einkommenssituation der Landwirtschaft nicht akzeptabel. Das gilt übrigens auch mit Blick auf das Landwirtschaftsgesetz, mit dem ja bekanntlich das Ziel verfolgt wird, die Teilhabe der Landwirtschaft an der allgemeinen Einkommensentwicklung zu gewährleisten. Genau darum geht es in unserem Antrag. ({2}) 47 Pfennig je Liter Agrardiesel sind auch aus Gründen der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft auf dem EU-Binnenmarkt und damit für die Sicherung von Arbeitsplätzen und Einkommen in den ländlichen Räumen das Mindeste, was wir heute hier beschließen sollten, insbesondere, weil offenkundig kurzfristig keine Chancen für eine Harmonisierung der Steuern der Mitgliedsländer der EU bestehen. Selbst mittelfristig kann ich, obwohl ich Optimistin bin, kaum eine Aussicht auf Erfolg diesbezüglicher Bestrebungen erkennen. Übrigens wird in der Begründung unseres Änderungsantrages ein Weg gewiesen, wie die 10 Pfennig Differenz je Liter Agrardiesel gegenüber dem Regierungsentwurf, also der Einnahmeausfall von rund 200 Millionen DM, zumindest kurzfristig ohne zusätzliche Belastung des Bundeshaushaltes finanziert werden könnten: Laut EUKommission werden im Jahr 2000 fast 1 Milliarde Euro des EU-Agrarbudgets eingespart, die an die Mitgliedsländer zurückfließen. Natürlich ist damit derzeit nur für 2001 eine sichere Finanzierungsquelle aufgezeigt; aber ich bin überzeugt, dass auch im Ergebnis der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik bei den folgenden Haushaltsberatungen Deckungsmittel erschließbar sind, es sei denn, Ihre Wirtschaftsprognosen sind nur Zweckoptimismus. Im Übrigen muss ich unseren Antrag nicht weiter begründen: Auch die Agrarminister forderten einmütig 47 Pfennig, und das wohl nicht nur aus einer plötzlichen Laune heraus. Selbst das von Vertretern der Koalitionsfraktionen ausgelöste Wirrwarr ständig neuer, sich widersprechender Presseverlautbarungen mit Varianten von 50 bzw. 47 Pfennig, teils an neue Obergrenzen gekoppelt, ist ein deutlicher Beleg dafür, dass Handlungsbedarf gesehen wurde. Noch bis vor wenigen Tagen sah ich darin zumindest die Artikulation von Unbehagen. Inzwischen habe ich jedoch großen Zweifel an der Ernsthaftigkeit der in die Welt gesetzten Änderungsvorschläge; denn Tatsache ist, dass weder von den Koalitionsfraktionen noch von den Oppositionsfraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. Alternativvorschläge zum Regierungsentwurf in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht wurden. Und gestern Abend, welch ein Wunder, wieder ein neuer Verwirrungsvorschlag der Grünen: Die Bauern sollen demnach eine Rückerstattung auf ihren betrieblichen Dieselverbrauch bekommen, die aus dem Einsparvolumen der Landwirtschaft insgesamt bei Unterschreitung des angesetzten Jahresverbrauchs von 2 Milliarden Litern finanziert werden soll. Natürlich bin auch ich für einen ökonomischen Anreiz bei der Energieeinsparung, aber dann muss derjenige, der einspart, auch den Nutzen haben und darf nicht zittern müssen, ob auch alle Bauern ausreichend sparen. Solch einen Unsinn hätte sich nicht einmal die DDR-Plankommission einfallen lassen. ({3}) Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ich weiß nicht, wie groß Ihre argumentativen Geschütze gegenüber dem Bundeskanzler waren, um sich in der eigenen Koalition durchzusetzen. Zumindest haben Sie eines erreicht, nämlich sagen zu können: Das wollten wir nicht. Doch, meine Damen und Herren, wem nützt das? Werden wir heute 57 Pfennig beschließen, drängt sich mir wieder einmal die Frage auf: Welches Verhältnis hat diese Bundesregierung eigentlich zur Landwirtschaft? ({4}) Danke. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die F.D.P.-Fraktion spricht nun Kollege Ulrich Heinrich.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute den Agrarbericht 2000. Ich hätte mir eigentlich gewünscht, dass Sie, Herr Minister Funke, hier die Eingangsrede halten, ({0}) den Agrarbericht vorstellen und uns gewissermaßen einen Weg weisen. Stattdessen sind Sie als letzter Redner in der Debatte aufgeführt. Ich finde das einfach nicht gut. Wir sollten wieder zum alten Brauch zurückkehren, nach dem der Bundesminister seinen Agrarbericht selbst vorstellt und bei einer so wichtigen Agrardebatte als Erster redet. ({1}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute den Agrarbericht der Bundesregierung, in dem ja einiges Bemerkenswertes steht. Wir nehmen vieles zur Kenntnis, wenn auch nicht mit Freude; aber wir müssen akzeptieren, dass die Entwicklungen in der Vergangenheit so waren, wie sie waren. Die Landwirtschaft steckt ja schon lange in der Umstrukturierungskrise; die Landwirtschaft ist schon lange der Bereich, der wie kein zweiter einen Strukturwandel aus eigener Kraft durchstehen muss. Insofern war es und ist es nicht zu rechtfertigen, was die Bundesregierung ihr in den letzten zwei Jahren an zusätzlichen Erschwernissen auferlegt hat. ({2}) Wir wären ja schon froh, wenn wir die Verhältnisse von 1998 hätten; aber die Verhältnisse von 1998 sind laufend verschlechtert worden. ({3}) Das Agrardieselgesetz stellt den derzeitigen Schlusspunkt dar: Mit diesem Gesetz wird die Steuerbelastung auf 57 Pfennig je Liter Dieselkraftstoff festgeschrieben. Ausgehend von einer Steuerbelastung von 26 Pfennig bedeutet dies mehr als eine Verdoppelung und, je nach Betriebsstruktur und Betriebsart, eine zusätzliche Belastung von etwa 80 bis 120 DM pro Hektar, die niemand ausgleichen kann, die auch Sie nicht mit diesen wohlfeilen Ratschlägen ausgleichen können, die jetzt Herr Berninger und Frau Kollegin Höfken geben. Frau Kollegin Höfken, was Sie sich dabei gedacht haben, diesen Vorschlag aufzugreifen, ist mir völlig schleierhaft. Sie fordern die Landwirtschaft auf, sparsam mit dem Kraftstoff umzugehen - als ob ein Bauer mit seinem Traktor spazieren fahren und nur zum Spaß Dieselöl verbrauchen würde! Er hat längst alle Reserven mobilisiert, um Dieselöl einzusparen, und er hat längst dort, wo es der Boden zulässt, die Minimalbodenbearbeitung umgesetzt. ({4}) Sie tun so, als wären alle Belastungen durch Einsparungen mit moderner Technik zu kompensieren. Denn jetzt kommt es: Gleichzeitig verlängert diese Bundesregierung die Abschreibungszeiträume. Den Einsatz moderner Technik fordern und die Abschreibungsfristen verlängern, das ist ein Widerspruch in sich. So einen Quatsch haben wir überhaupt noch nicht gehört. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Heinrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höfken?

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte sehr.

Ulrike Höfken-Deipenbrock (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002680, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Kollege Heinrich, haben Sie zur Kenntnis genommen, dass sich die Wettbewerbsbedingungen im Bereich von Treibstoffen dahin gehend verändert haben, dass die pflanzlichen Öle, besonders die Direktöle, wettbewerbsfähig geworden sind und von daher der Anreiz eines Wechsels logische Konsequenz sein kann, ohne dass wir dabei die Vermutung anstellen müssten, dass die Landwirte zu ihrem Vergnügen auf den Äckern oder Straßen herumfahren, sondern dass das ausschließlich auf die veränderte Wettbewerbssituation zurückzuführen ist, die sich jetzt ganz anders darstellt, nämlich zugunsten des Pflanzenöls, und ganz neue Möglichkeiten bietet?

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank für diese Frage. Sie gibt mir die Möglichkeit, darauf hinzuweisen, dass wir diesen Weg schon in der alten Bundesregierung eingeschlagen haben. Dass Sie ihn fortsetzen, kritisiere ich auch nicht, da lobe ich Sie direkt. Aber ein Ergebnis in diesem Bereich, das sich flächendeckend auswirkt, kann nur mittel- bis langfristig erreicht werden, nicht aber so kurzfristig - gewissermaßen über Nacht -, wie Sie die Steuern verändern. Kein Mensch kann in dieser Geschwindigkeit seine Betriebe umstellen, dass er davon profitieren kann. Diese Technologie ist erst im Anlaufen, hier müssen wir noch Erfahrungen sammeln. Zudem muss erst die breite Einsatzmöglichkeit dieser Technik gegeben sein. Es muss geklärt werden, wie weit die Motoren das aushalten und wie weit nicht. Das ist doch der Punkt. ({0}) Wir können und wollen diese Technik nicht klein reden, aber wir können nicht so tun, als sei das alles heute schon Stand der Technik, als müssten die Bauern nur umschalten und könnten voll davon profitieren. So ist es leider Gottes nicht. ({1}) Meine Damen und Herren, ich habe leider nur sieben Minuten Redezeit und kann deshalb nur ganz schwerpunktartig auf die Probleme eingehen. ({2}) - Wenn Sie ruhig sind, bin ich auch etwas leiser, Herr Kollege Weisheit. Wenn wir die Regierungstätigkeit insgesamt sehen, ist das Agrardieselgesetz nur der letzte Punkt. Es hat schon sehr viel früher angefangen, mit der sogenannten Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Im Haushalt gab es gravierende Einschnitte, und auch das Steuerreformgesetz, das für alle anderen einen positiven Effekt hat, bedeutet für die Landwirtschaft in den nächsten vier Jahren eine Zusatzbelastung von jährlich rund 100 MilliUlrich Heinrich onen DM. Ich habe die Frau Staatssekretärin im Finanzministerium - leider Gottes ist sie jetzt weg ({3}) kürzlich schon danach gefragt, aber sie hat ausweichend geantwortet. Sie hat gesagt, die in der Landwirtschaft Tätigen profitierten ja auch von der Erhöhung des Kindergeldes und von der Absenkung des Mindeststeuersatzes. Wohl wahr, aber selbst wenn ich das in Ansatz bringe, bleibt eine Zusatzbelastung von 100 Millionen DM im Jahr. Erst in den Jahren 2005 und 2006 gibt es einen Gleichstand und eine Verbesserung. ({4}) Diese Belastungen bringen Sie hier noch zusätzlich ein, ganz abgesehen davon, dass im agrarsozialen Bereich die Belastungen, die die gesamte Gesellschaft zu tragen hat, natürlich ebenfalls zu spüren sind. Bei einer Erhöhung der Beiträge in der gesetzlichen Rentenversicherung kommt es parallel selbstverständlich auch zu einer Erhöhung der Beiträge in der landwirtschaftlichen Alterssicherung. Insofern gibt es zwar einen Gleichklang, aber die Einsparungen im landwirtschaftlichen Sozialbereich gehen noch zusätzlich zulasten der Landwirte. Man kann also nicht so tun, als wäre man auf dem besten Weg, die Landwirtschaft in den Stand zu versetzen, in Zukunft im Wettbewerb - Stichwort Osterweiterung und Stichwort WTO - bestehen zu können. Es ist ein Riesenfehler von Ihnen, dass Sie die gegebenen Möglichkeiten nicht nutzen. Ein weiteres Beispiel. Der Herr Umweltminister Trittin will bei der Umweltverträglichkeitsprüfung eine Verschärfung um 25 Prozent einführen - wir haben heute über diesen Gesetzentwurf in erster Lesung nicht debattiert - und er will damit die Anhebung auf das europäische Niveau, die wir in der letzten Legislaturperiode durchgesetzt haben, wieder rückgängig machen. ({5}) - Das stimmt. Sie haben ja nachher die Möglichkeit, Gegenargumente anzuführen. Angesichts der Tatsache, dass Minister Trittin 10 Prozent der Fläche der Bundesrepublik als Biotopvernetzungsfläche ausweisen will, haben wir Wettbewerbsverzerrungen zu erwarten. Wir werden sehen, was es heißt, die Verbandsklage zuzulassen. Wir werden sehen, welche Auswirkungen sich bezüglich des Eigentums ergeben, wenn wir die zusätzlichen Lasten, die zugunsten der Gesellschaft getragen werden müssen, einseitig auf den Berufsstand abwälzen, der unsere Kulturlandschaft erhält und pflegt. Es ist eine Herabwürdigung der Arbeit, die wir doch von den Landwirten fordern, wenn wir ihnen immer wieder Prügel zwischen die Beine werfen. Das ist nicht in Ordnung. ({6}) Ganz zu schweigen von den Haken, die die Ministerin Fischer bei der Zulassung des Bt-Maises schlägt! Es ist keine Wettbewerbsgleichheit, sondern eine Erschwernis, wenn wir in Zukunft mit der gentechnischen Entwicklung nicht Schritt halten können; denn früher oder später wird es einen Wettbewerb in diesem Bereich geben. Dann sehen wir alt aus, weil wir Minister haben, die ihre Politik aus dem Bauch heraus betreiben und die sich nicht an den Empfehlungen des wissenschaftlichen Beirats, den sie selber eingesetzt haben, orientieren, sondern genau das Gegenteil machen. Das ist die Politik dieser Bundesregierung. ({7}) Meine letzte Bemerkung: Es ist wenig glaubhaft, wenn im Entschließungsantrag der Regierungskoalition steht, dass man die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirte stärken will. Was Sie bis jetzt vorgelegt haben, bewirkt in Bezug auf das Schaffen von Rahmenbedingungen im nationalen Zuständigkeitsbereich genau das Gegenteil. Herzlichen Dank. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Detlev von Larcher.

Detlev Larcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001290, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mein Kollege Ortel hat schon eine Reihe bedeutender Landwirte in diesem Hause begrüßt. Ich möchte den Kreislandwirt aus dem Landkreis Diepholz, Herrn Lothar Lampe, und seine liebe Frau begrüßen. Ich gehe einmal davon aus, dass Minister Funke nachher davon spricht, dass die EU-Osterweiterung eine Chance für die deutsche Landwirtschaft bedeutet und nicht nur eine Gefahr, die Sie immer an die Wand malen. ({0}) Deswegen will ich zu diesem Punkt nichts sagen. Ich möchte Sie daran erinnern, dass zurzeit in Den Haag der Weltklimagipfel stattfindet. Dabei geht es unter anderem darum, gegenüber den USA und Japan durchzusetzen, dass wenigstens ein Teil der Verpflichtungen zur CO2-Minderung im jeweiligen Land selbst erbracht werden muss. Es geht darum, durchzusetzen, dass sich kein Land einfach von seiner Verantwortung für das Weltklima freikaufen kann. Diese Position hat auch die frühere Bundesregierung vertreten. Gleichzeitig lassen Sie, meine Damen und Herren von der rechten Seite des Hauses, schon seit Monaten keine Gelegenheit aus, mit plattem Populismus gegen eines der wichtigsten Instrumente zur Verringerung des Energieverbrauchs zu Felde zu ziehen. Ihre Doppelzüngigkeit ist wirklich unerträglich. ({1}) Wir bleiben dabei: Die ökologische Steuerreform ist ein sehr wichtiges Instrument, den Energieverbrauch langfristig zu senken ({2}) und Bürgern und Unternehmen Anreize und vor allem eine verlässliche Planungsgrundlage für Investitionen in Energie einsparende Technik zu geben. ({3}) Wir alle wissen, dass Sie das jenseits Ihrer taktischen Überlegungen genauso sehen. Nun könnte ich eigentlich wieder einmal die ganze lange Latte von Zitaten bringen, von Frau Merkel, von Herrn Schäuble, von Herrn Repnik. Das will ich mir sparen. Ich möchte nur ein Zitat von Herrn Repnik bringen, weil man dieses Zitat so selten hört. Er erklärte nämlich im „Tagesspiegel“ vom 2. Mai 1995: Umweltverbrauch zu billig, Arbeit zu teuer Deutschland muss notfalls im Alleingang die Ökosteuer einführen und die Lohnkosten senken. ({4}) Wo er Recht hat, hat er Recht. Wir haben immer Wert darauf gelegt, die Ökosteuer so maßvoll zu erheben, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen nicht beeinträchtigt wird. Das gilt auch für die Landwirtschaft. ({5}) - Das ist überhaupt kein Quatsch. Sie leugnen ja die ganzen Effekte unserer Steuerpolitik. Wenn man diese alle nicht berücksichtigt, immer nur die Erhöhung betont und dann noch so tut, als sei die Ökosteuer an den gegenwärtigen Preissprüngen schuld, dann kommt man zu solchen komischen Zwischenrufen wie vonseiten der F.D.P.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege von Larcher, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schindler?

Detlev Larcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001290, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielleicht wartet er noch ein bisschen und stellt sie dann. ({0}) - Also, dann bitte, schwarzer Bruder. ({1})

Norbert Schindler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002776, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege - oder auch: roter Bruder; warum denn nicht -, trotz allem menschlichen Verständnis und der guten Freundschaft - das soll auch bei aller Unterschiedlichkeit in der Debatte zum Ausdruck kommen - möchte ich Sie fragen: Bestätigen Sie, dass die deutsche Landwirtschaft, wie das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung festgestellt hat, durch die Ökosteuer mit 1,1 Milliarden DM belastet wird? Bestätigen Sie weiterhin, dass die Rücknahme der Gasölverbilligung aus 1998 - da war sie mit 850 Millionen DM noch voll erhalten - in der energiepolitischen Gesamtbilanz, die wir jetzt nach zweieinhalb Jahren Rot-Grün ziehen müssen, dazu führt, dass wir 1,1 bis 1,2 Milliarden DM netto drauflegen müssen? Dass noch Haushaltskürzungen aufgrund der ersten Stufe der Steuerreform, bei der die Erhöhung des Kindergeldes so groß verkündet wurde, und der zweiten Stufe der Steuerreform in diesem Sommer hinzukommen, will ich jetzt nicht bewerten. Bleiben wir bei der energiepolitischen Debatte! Bestätigen Sie weiterhin, dass die Anhebung des Steuersatzes von 23 Pfennig auf 57 Pfennig eine Erhöhung um über 100 Prozent darstellt?

Detlev Larcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001290, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, ich könnte jetzt fast meine gesamte Rede, die ich vorbereitet habe, als Antwort auf die Zwischenfrage vorlesen. Dann blieben noch sechs Minuten übrig. ({0}) - Und das ist zu viel. Ich bestätige das natürlich nicht, lieber schwarzer Bruder, vor allen Dingen die 1,1 Milliarden DM nicht. Dass 23 Pfennig weniger als die Hälfte von 57 Pfennig sind, ist nach Adam Riese natürlich richtig. Aber ich habe ja gesagt, Sie sollten vielleicht ein bisschen warten und erst dann Ihre Frage stellen; denn mit diesen Punkten will ich mich gerade auseinander setzen. Vor dem Hintergrund, dass die Landwirtschaft in den meisten EU-Staaten Diesel zu zum Teil stark ermäßigten Steuersätzen bezieht, ist es notwendig, auch den deutschen Agrarbetrieben verbilligten Kraftstoff zur Verfügung zu stellen. Dies werden wir ab dem 1. Januar 2001 mit dem Agrardieselgesetz tun. Für die Landwirtschaft wird damit - darum geht es doch - die Mineralölsteuerbelastung des Dieselkraftstoffs auf 57 Pfennig pro Liter begrenzt und damit von den beschlossenen weiteren Stufen der Ökosteuer ausgenommen. Auch deshalb sind Sie mit Ihren ständigen Attacken gegen unsere ökologische Steuerreform schief gewickelt. Richtig ist, dass die Landwirte in einer Reihe von EUMitgliedstaaten noch billiger tanken können. Auch wir hätten uns durchaus eine niedrigere Belastung für den Agrardiesel gewünscht. Wir haben hin und her überlegt, ob wir das schaffen können. Aber ich muss Ihnen leider sagen, dass Sie von der CDU/CSU diejenigen waren, die das unmöglich gemacht haben. ({1}) Ihnen steht es nicht an, „Haltet den Dieb!“ zu rufen; denn der Dieb sind Sie selber. Sie waren es doch, die den Bundeshaushalt mit einer völlig verfehlten Finanzpolitik in eine so katastrophale Lage hineinmanövriert haben, ({2}) dass wir im letzten Jahr ein Haushaltssanierungsgesetz auflegen mussten. Sie waren es, die den größten Schuldenberg hinterlassen haben, den es je in Deutschland gegeben hat. ({3}) Sie sind verantwortlich dafür, dass die Gasölbeihilfe in der bis 1999 geltenden Höhe nicht mehr zu halten war. Wir mussten hier wie auch in vielen anderen Bereichen schmerzhafte Einschnitte machen. Ich will Folgendes ganz leise anmerken: Niemand außer den Landwirten hätte es verstanden, wenn nicht auch sie ihr Scherflein zur Haushaltssanierung hätten beitragen müssen. Ich kenne die Debatte sehr wohl; ich wohne schließlich in einem ländlichen Wahlkreis. Ich weiß, wie unterschiedlich die Debatte in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen geführt wird. ({4}) Auch unabhängig von den enormen Belastungen für den Haushalt kann es keine vernünftige Lösung sein, die Besteuerung des Diesels für die Landwirtschaft weiter zu senken oder gar die Verwendung von Heizöl zu gestatten. Wir wollen doch auf europäischer Ebene eine Beendigung des steuerlichen Subventionswettlaufs erreichen. Unsere Bemühungen würden nicht glaubwürdiger, wenn wir in diesem Wettlauf jetzt einen Gang höher schalten würden. ({5}) - Sie schreien „Fangen Sie an“! Sehen Sie sich doch einmal an, was Finanzminister Eichel macht! Und Sie geben uns den Rat, beim Wettbewerb einen Zahn zuzulegen? Wenn es nach Ihrer Logik ginge, würden wir zu einem Nullsteuersatz kommen und müssten am Schluss noch Zuschüsse zahlen. Deswegen bin ich dafür, dass wir unsere Bemühungen in der Europäischen Union koordinieren und dafür sorgen, dass dieser ruinöse Steuerwettbewerb nicht stattfindet.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege von Larcher, der Kollege Heinrich möchte seinem „roten Bruder“ eine Frage stellen.

Detlev Larcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001290, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich lasse jetzt keine Frage mehr zu. ({0}) - Wenn Sie ein bisschen zuhören würden, würden Sie merken, dass ich wirklich zur Sache spreche und dass es nicht angemessen ist, - ({1}) - Lassen wir das! Ich halte also fest: Das Agrardieselgesetz ist ein Kompromiss, der die Landwirtschaft gegenüber der Ausgangssituation im nächsten Jahr um knapp 500 Millionen DM und im Jahr 2003 sogar um 700 Millionen DM entlastet. Es ist ein Kompromiss, der die Landwirtschaft auf mittlere Sicht vor weiteren Mineralölsteuererhöhungen schützt. Ein Kompromiss ist selten ein Grund zum Jubeln. Aber dieser Kompromiss ist erst recht kein Grund, in Gejammer zu verfallen. Es wurden hier schon Landwirte zitiert; ich erwähne nur den Landwirt Gerd Brünning aus Kirchweyhe, der sagt: Es ist nicht schön, was ihr macht, aber so schlimm ist es auch wieder nicht. ({2}) - Kommen Sie mit! Er wird es Ihnen bestätigen. ({3}) - Das ist eine Unverschämtheit! Hier reden Sie immer über die gute Arbeit der Landwirte; das bestätige ich. Aber dieser Zwischenruf ist eine Unverschämtheit gegenüber den Landwirten. ({4}) Nun darf man für den Vergleich der ökonomischen Situation der Landwirte in den verschiedenen Ländern nicht nur den Dieselpreis heranziehen. Für die deutschen Landwirte ist der Agrarsozialbereich besonders wichtig. Da müssen gerade wir Sozialdemokraten uns nicht verstecken; denn unsere Landwirte sind sehr zufrieden damit. Ich erinnere an die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“. In diesem Programm steckt zum Beispiel ein Teil der Mittel, die vorher durch die Gasölbeihilfe gebunden waren. Ich erinnere auch an das Programm „Proland“; so heißt es in Niedersachsen. Mit EU-Geldern und Geldern aus den Landeshaushalten verbessern wir die Struktur des ländlichen Raumes insgesamt und tun damit natürlich auch etwas für die Landwirtschaft und für die Landwirte, die ja in diesem Raum leben. Außerdem nenne ich das Gesetz zur Förderung erneuerbarer Energien. Darauf ist schon hingewiesen worden. Das sind nur einige Beispiele. Man müsste noch viele aufzählen, um zu einem zutreffenden Vergleich der Situation unserer Landwirte mit denen in anderen europäischen Ländern in der Lage zu sein. Guckt man dagegen nur auf den Kraftstoffpreis, dann bekommt man ein einseitiges und schiefes Bild. Deswegen fordere ich Sie, meine Damen und Herren von der F.D.P. und von der CDU/CSU, auf: Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu! ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe dem Kollegen Albert Deß für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident Seiters! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Hier wurde mehrmals die Staatsverschuldung angesprochen. Deswegen möchte ich hierzu einige Zahlen ins Gedächtnis rufen: 1982 haben wir von der SPD-geführten Bundesregierung eine Staatsquote von 50,1 Prozent übernommen. Der Haushaltsanteil am Bruttoinlandsprodukt lag bei 15,4 Prozent, und das ohne Wiedervereinigungskosten. 1998 haben wir die Regierung mit einer Staatsquote von 48 Prozent, also 3 Prozent niedriger als 1982, und einem Haushaltsanteil am Bruttoinlandsprodukt von 12 Prozent, also 3,4 Prozent niedriger als 1982, übergeben. Das muss hier endlich einmal zur Kenntnis genommen werden. ({0}) Wenn man hier nur absolute Zahlen nennt, dann muss man wissen, dass sich 1998 das Bruttoinlandsprodukt gegenüber 1982 um das Dreifache erhöht hat. Meine sehr verehrten Damen und Herren, jetzt möchte ich - mit Genehmigung des Herrn Präsidenten - aus einem parteiinternen Papier der SPD zitieren. In diesem Papier vom 10. November 1999 heißt es: Liebe Genossinnen und Genossen, die Auswirkungen der Beschlüsse zur Haushaltssanierung und zur Ökosteuer auf die Landwirtschaft sind beträchtlich. Die meisten landwirtschaftlichen Familien werden mehr oder minder deutliche Einkommenseinbußen haben. Auf acht Seiten wird dann der ganze Horrorkatalog der nationalen Belastungen für die deutsche Landwirtschaft dargestellt. Am Ende wird festgehalten - ich zitiere wieder -: Die Koalitionsfraktionen haben deshalb die Bundesregierung aufgefordert, bis zum Februar 2000 Vorschläge zu erarbeiten, wie die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Agrarwirtschaft weiter verbessert, die Land- und Forstwirtschaft im Vergleich zu anderen Wirtschaftszweigen angemessen entlastet und die Entwicklung der ländlichen Räume gesichert werden können. Das ist ein sehr deutlicher Auftrag an die rot-grüne Bundesregierung. Und was hat diese rot-grüne Bundesregierung, was hat Minister Funke getan, um diesen Auftrag zu verwirklichen? - Nichts, was der eigenen Zielsetzung entspricht. Mit dem Agrardieselgesetz wird klar, dass es bezüglich der Umsetzung der eigenen Zielsetzungen eine totale Fehlanzeige gibt. Dieser Minister ist zum Null-Erfolg-Minister dieser Bundesregierung geworden. ({1}) Harry Peter Carstensen hat bereits aus dem „TopAgrar“-Interview vom November 1998 zitiert. Ich wiederhole es, damit es in der Bevölkerung entsprechend bekannt wird. Darin hat Minister Funke angekündigt: Steuerliche Mehrbelastungen sind für die Landwirtschaft in der jetzigen Situation nicht verkraftbar und dies will die SPD auch nicht. Ich muss sagen: Dieser Minister ist laufend umgefallen. Er ist umgefallen bei der Senkung der Vorsteuerpauschale von 10 auf 9 Prozent, er ist umgefallen bei der ersten und zweiten Steuerreform, er ist umgefallen bei der Ökosteuer und er ist umgefallen beim Agrardieselgesetz. ({2}) Wenn man die ganze Entstehung des Entwurfs eines Agrardieselgesetzes betrachtet, ({3}) kann man nur noch von einem politischen Theater sprechen. Eine andere Aussage ist hier nicht möglich. Zuerst wurde für das laufende Jahr der Haushaltsansatz für die Steuerrückvergütung gewaltig gekürzt. Dann wurde von 57 Pfennig pro Liter gesprochen, dann von 47 Pfennig, dann von 50 Pfennig; dann sprechen die Grünen wieder von einem anderen Steuersatz mit Unter- und Obergrenzen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Tatsache ist und bleibt: Rot-Grün verteuert den Treibstoff. ({4}) Lieber Kollege Ulrich Heinrich, du hast die damalige Steuerbelastung noch zu hoch dargestellt. In unserer Regierungszeit, noch 1998, betrug diese - ohne Mehrwertsteuer - 21 Pfennig. Seitdem Scharping brutto mit netto verwechselt hat, müssen wir da aufpassen. Wenn dieses Gesetz beschlossen wird, werden ab 2001 57 Pfennig gezahlt werden müssen. Wenn man sich ansieht, welchen Unterschied das zu anderen Staaten ausmacht, wird die Wettbewerbsverzerrung deutlich: Ein französischer Kollege wird nach dem jetzigen Steuersatz bei nur 10 000 Liter Dieselverbrauch im nächsten Jahr circa 500 DM Steuern zahlen. Ein deutscher Landwirt wird bei 10 000 Litern 5 700 DM bezahlen. Wenn das keine Wettbewerbsverzerrung ist, dann weiß ich nicht, was Wettbewerbsverzerrung bedeutet. ({5}) Wenn ich von einem durchschnittlichen Einkommen der deutschen Landwirte ausgehe, bedeutet dies eine Gewinnminderung von etwa 10 Prozent allein durch die Verteuerung der Energie in dem Bereich, den die Regierung zu verantworten hat. Wie soll die deutsche Landwirtschaft so wettbewerbsfähiger werden, wozu sie von dieser Bundesregierung dauernd aufgefordert wird? Ich halte es auch für eine Verhöhnung, wenn in der Öffentlichkeit davon gesprochen wird, dass die Landwirtschaft mit dem heutigen Gesetz eine Entlastung von 700 Millionen DM erfährt. Tatsache ist, dass die deutschen Bauern über 1 Milliarde DM mehr bezahlen als die französischen Bauern. ({6}) Das ist meiner Ansicht nach nicht hinnehmbar. Davon zu reden, dass diese Regelung in Brüssel novelliert werden muss, finde ich schon hanebüchen. Sicher ist der Ansatz richtig, dass in Brüssel ein Agrardieselgesetz auf europäischer Ebene erlassen werden müsste. Aber ich kann doch die Verantwortung nicht nach Brüssel schieben, wenn ich national verantwortlich bin und es zulasse, dass die Steuersätze in Deutschland so massiv erhöht werden. Das ist meines Erachtens nicht mehr als ein billiges Ablenkungsmanöver. ({7}) Ich finde es schon gravierend, dass sich unser Bundeslandwirtschaftsminister nicht einmal in seiner eigenen Fraktion bzw. gegenüber den Grünen durchsetzen konnte. Zu einem Minister, der so wenig Durchsetzungsvermögen besitzt, hat die deutsche Landwirtschaft das Vertrauen verloren. ({8}) Im Agrarbericht 2000 ist nachzulesen: Von herausragender Bedeutung ist dabei die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft, damit sie sich im europäischen und internationalen Wettbewerb behaupten kann. Die Bundesregierung hat Recht, wenn sie dies schreibt. Aber weil sie anscheinend merkt, dass sie diese Ziele nicht vertritt, heißt es im gleichen Agrarbericht, dass eine Überprüfung der nationalen Agrarpolitik notwendig sei. Diese Überprüfung ist in der Tat notwendig. In diesen zwei Jahren sind Kürzungen im Agrarbereich vorgenommen worden - dies war ein reiner Horrorkatalog - zum Nachteil der deutschen Landwirtschaft. Das kann nicht hingenommen werden. Die CDU/CSU hat daher einen Antrag eingebracht, in dem sehr deutlich die Punkte aufgeführt sind, die verwirklicht werden müssen, damit die deutsche Landwirtschaft wettbewerbsfähiger wird. Denn ich halte es nicht für angebracht, wie diese Bundesregierung die deutschen Bauern und auch die deutschen Bäuerinnen behandelt, die Enormes leisten, damit unsere wertvolle Kulturlandschaft gepflegt wird. Wenn es Bundesländer gibt, die ihre Bauern unterstützen, was die Honorierung der Erfüllung von Umweltauflagen anbelangt, dann sind es der Freistaat Bayern und das Land Baden-Württemberg, vielleicht auch noch einige andere Bundesländer. Rot-grün-regierte Länder sind aber nicht darunter. Daran sieht man am besten, welchen Stellenwert die Landwirtschaft bei Rot-Grün hat. ({9}) Für mich war es von vornherein klar: Wenn Rot-Grün die Bundesregierung stellt, dann werden die Benachteiligungen für die Landwirtschaft genauso fortgesetzt, ({10}) wie sie bereits in den rot-grün-geführten Bundesländern erfolgt sind. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe nunmehr dem Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Karl-Heinz Funke, das Wort. Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorab will ich auf zwei Vorhaltungen eingehen, die jenseits der Thematik gemacht worden sind. Der erste Vorwurf war, ich sei in Australien gewesen, als man über Agrardiesel diskutiert habe, und ich hätte hier bleiben sollen. Erstens habe ich die Gespräche selbstverständlich vorher und nachher geführt. Das weiß jeder, der einigermaßen Bescheid weiß. Zweitens will ich deutlich sagen: Angesichts der Tatsache, dass frühere Bundesregierungen internationale Kontakte sträflichst vernachlässigt haben, ist es notwendig, diese Kontakte wieder aufzubauen, zu beleben und auszudehnen. ({1}) Das sage ich als jemand, der nachweislich dafür bekannt ist, dass er gar nicht so gerne reist. Damit auch das einmal klar ist. Es gibt auf europäischer Ebene eine Absprache, dass wir uns gerade wegen der WTO-Verhandlungen, dass wir uns auch wegen des Werbens für das Modell der europäischen Landwirtschaft, für die Multifunktionalität kennzeichnend sein soll, auf diese Reisen begeben, um in der Cairns-Gruppe und in Amerika das, was wir wollen, durchsetzungsfähig zu machen. Ich halte das für notwendig und befinde mich damit im großen Chor derer, die das - Gott sei Dank - tun. ({2}) - Warum sind denn die Kollegen, die vorher in diesem Amt waren, nie in Australien gewesen? Australien ist wortführendes Mitglied der Cairns-Gruppe, Herr Kollege Carstensen. Ich habe heute nur eine Debatte über Subventionen gehört - das ist bedauerlich - und keine Debatte über Strukturen, über den internationalen Handel und Marktchancen. ({3}) Wer so über Agrarpolitik redet, hat wesentliche Elemente verschwiegen ({4}) und - da wissen Sie, Herr Kollege Carstensen, genau Bescheid - reduziert auf das, was seiner Ansicht nach kritikwürdig ist. Das hat mit der Realität und der Zukunft der Landwirtschaft in Deutschland und Europa verdammt wenig zu tun. Das muss ich ganz deutlich sagen. ({5}) Einen zweiten Punkt - er ist nicht so wichtig - will ich nur am Rande erwähnen. Herr Kollege Heinrich, ich habe den Agrarbericht natürlich vor der Beratung in den Ausschüssen selbst eingebracht. Mir ist gesagt worden - ich will das aber gerne nachprüfen -, das sei auch so üblich. Deshalb habe ich heute nicht als Erster hierzu gesprochen. Das war auch vorher nicht anders. ({6}) Aber daran soll es nicht liegen. Ich bin kein Freund übertriebener Formen. Aber wenn es der Höflichkeit dient, bin ich beim nächsten Mal gerne bereit, die Sache anders zu handhaben; das ist gar keine Frage. Aber für entscheidend halte ich es nicht - Sie wahrscheinlich auch nicht. ({7}) Ich sprach es eben schon an: Dies ist von Ihrer Seite eine Debatte über Subventionen und nicht über Strukturen. Kollege Deß, von mir aus kann man ja über Landwirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit auch im Rahmen staatlicher Unterstützung reden. Aber bitte nehmen Sie doch auch einmal zur Kenntnis, was die Wissenschaft und Gutachten belegen! Es besteht nämlich die Notwendigkeit zur strukturellen Veränderung, um die deutsche und die europäische Landwirtschaft wettbewerbsfähig zu machen. ({8}) Ich kann das jetzt angesichts der knappen Zeit nicht näher ausführen; das habe ich im Ausschuss getan. Aber da wird mir nicht geantwortet, weil Sie wissen, dass es stimmt. ({9}) Wer zum Beispiel bei der Einführung der Milch bei der Börse in Bayern sieben Bezirke einrichtet - mit all den Auswirkungen auf die Angebote -, muss mir nicht etwas über die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft, in diesem Fall der Bauern, die melken, erzählen. ({10}) Das ist wirklich jenseits aller Ökonomie. Nun erwarte ich nicht, dass Sie hier etwas über Ökonomie sagen. Nur, dann muss man das, was man vorträgt, auch als Lyrik deklarieren. ({11}) Reden wir jetzt einmal über Strukturen und schauen wir nach Bayern! Warum wird denn dort festgestellt - nicht von mir, ich zitiere nur; man kann es in regierungsamtlichen Berichten nachlesen -, dass es dort einen so genannten Strukturstau gibt? Ich würde mich damit einmal auseinander setzen, bevor ich mich derartig zur Wettbewerbsfähigkeit äußere, Kollege Deß. Herr Carstensen, ich gehöre nicht zu denen, die behaupten, dass es ausschließlich das Verdienst dieser Bundesregierung sei, dass die Landwirte am Markt gegenwärtig mehr Einkommen erzielen. Ich habe früher nämlich immer kritisiert, wenn ein Bundesminister das für sich in Anspruch nahm. Aber dass auch die Agenda in ihrer Anlage mit dazu beiträgt, dass wir, was Angebot und Nachfrage anbelangt, bessere Marktbedingungen haben und dass die Gewinnmöglichkeiten am Markt für die Landwirtschaft gegenwärtig besser sind, ist auch Wahrheit. ({12}) Die Marktentlastung erfolgt durch den Abbau der Preisund Marktstützung, verbunden mit zusätzlichen Ausgleichszahlungen, auch aufgrund des Euro-Dollar-Verhältnisses, aber vor allen Dingen durch die Agenda. ({13}) Das fällt Gott sei Dank alles zusammen. Dies wird Ihnen auch von allen bestätigt werden, die das agrarökonomisch untersuchen. Ich lege nur Wert darauf, festzustellen, dass das so ist. Ich meine damit gar nicht die Schweinepreise. Ich denke gegenwärtig an die Rinder- und die Milchpreise, weil wir in dem Fall - auch bei Weizen und Gerste - ohne Exporterstattung exportieren können. Dadurch haben wir bessere reale Marktpreise. ({14}) - Lesen Sie das bitte nach! Ich bin bisher davon ausgegangen, dass Ihnen die Zusammenhänge zwischen Preisund Marktstützung und Exporterstattung sehr wohl bekannt sind. Das ist eigentlich das Einmaleins europäischer Agrarpolitik, seitdem wir eine gemeinsame Marktordnung haben. ({15}) Ich will noch etwas zur Steuerreform sagen. Es ist ja bemerkenswert, dass diese eigentlich nicht mehr kritisiert wird, seitdem die Landwirte mit ihren Steuernberatern darüber geredet haben. Sie haben hier Landwirte zitiert. Ich kann auch Landwirte von Spitzenbetrieben zitieren, die schon nach dem ersten Referentenentwurf bei mir waren. Diese haben mir gesagt: Ändert bloß nichts mehr! Ich habe die Sache einmal prüfen lassen. Ich komme gut weg dabei. - Ich halte es allerdings nicht für möglich, solche Einzelaussagen - weder Ihre noch meine - zu generalisieren. Aber ich will auf etwas zu sprechen kommen, was in der Steuerdebatte immer wieder verwechselt wird, wenn man, wie heute wieder geschehen, darauf hinweist, dass die Körperschaften entlastet würden. Ich meine sogar, hier am Rednerpult wäre schon einmal die Rede davon gewesen, dass man einen Grenzsteuersatz nicht mit einem Definitivsteuersatz verwechseln darf, was leider ständig in dieser Debatte getan wurde. ({16}) Die Körperschaften werden mit einem feststehenden Steuersatz von 25 Prozent besteuert, und zwar ohne die Möglichkeit, die Gewerbesteuer gegenzurechnen. Der mittelständische Bereich wird von einem Grenzsteuersatz von 42 Prozent - die Gewerbesteuer wird dabei gegengerechnet - betroffen. Grenzsteuersatz bedeutet in diesem Fall, an der Höchstgrenze mit 42 Prozent belastet zu werden. Frau Staatssekretärin Hendricks bestätigt mir das in diesem Fall. Das heißt, bei niedrigerem Einkommen ist auch die Belastung niedriger, sodass allenfalls ein Durchschnittssteuersatz ermittelt werden könnte; dieser würde auf jeden Fall unter 42 Prozent liegen. Das bedeutet, dass derjenige, der unterhalb des Eingangsfreibetrages liegt, keine Steuern zahlt. Das ist gerade die Bedeutung des Grenzsteuersatzes. Ich gebe zu, dass man es nur verstehen kann, wenn man es weiß und die betriebswirtschaftlichen Feinheiten kennt. Sonst redet man an der Sache vorbei. ({17}) Die grundlegende Ausbildung in Agrarökonomie umfasst, Herr Kollege Carstensen, mindestens ein Semester Steuerlehre. Das war zumindest zu meiner Zeit noch so. Sie aber haben Jura studiert; da soll angeblich alles besser gewesen sein. Aber Landwirte wissen, wie das mit der Steuer funktioniert, nachdem sie sich entsprechend haben beraten lassen. In diesem Zusammenhang will ich ein Weiteres aufgreifen: Sie haben davon gesprochen, wir würden den ländlichen Raum total vernachlässigen, gleichsam ausbluten lassen. ({18}) - Sie, Herr Kollege Carstensen, haben das gesagt; Sie haben auf den ländlichen Raum verwiesen. ({19}) - Entschuldigung, dann nehme ich auch zurück, dass Sie der Auffassung sind, wir hätten mit der zweiten Säule der Agenda und den finanziellen Hilfen, die wir erreicht haben, auf europäischer Ebene ein für Deutschland hervorragendes Verhandlungsergebnis erzielt und würden damit eine Stärkung des ländlichen Raumes erreichen, wie sie vorher nie da gewesen ist. ({20}) Ich bin den Ländern - von Bayern bis Schleswig-Holstein - dafür sehr dankbar, dass sie die ihnen gewährten Programme auch umsetzen. ({21}) - Herr Kollege Heinrich, ich freue mich sehr, dass Sie sich melden. Ich kann Ihnen im Vorgriff bereits mitteilen, dass die südlichen Länder - Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz - überdurchschnittlich begünstigt werden, weil dort eine nebenerwerblich strukturierte Landwirtschaft vorhanden ist. Im Übrigen ist der ländliche Raum auf diese Mittel angewiesen.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Da Herr Minister Funke die Zwischenfrage zugelassen hat, erteile ich Ihnen das Wort.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, ich wollte Sie nicht dafür loben, dass Sie mit dafür gesorgt haben, die zweite Säule der Agenda 2000 zu stärken, ({0}) obwohl ich gerne bestätige, dass die zweite Säule zunehmend an Bedeutung gewinnt und die Länder - nicht zuletzt Baden-Württemberg - die Förderung gerne annehmen. Wir haben im Rahmen der zweiten Säule ein Programm im Umfang von 300 Millionen Mark aufgelegt. Daran können sich andere Bundesländer nördlich des Mains ein Beispiel nehmen. ({1}) Ich komme zu meiner Frage: Sie haben eingangs gesagt, wir hätten alle so getan, als wären wir nicht in der Lage, über Strukturen und marktwirtschaftliche Entwicklungen zu reden, sondern würden ausschließlich über Subventionen und andere staatliche Hilfen sprechen. Geben Sie mir darin Recht, dass die Bundesregierung mit den von ihr durchgeführten Maßnahmen - heute werden wir das Agrardieselgesetz verabschieden - die Landwirtschaft zusätzlich belastet, ({2}) und stimmen Sie mir darin zu, dass die Opposition besonders verpflichtet ist, auf Verschlechterungen, die einen Teil der Bevölkerung betreffen, hinzuweisen?

Karl Heinz Funke (Minister:in)

Politiker ID: 11005303

Herr Kollege Heinrich, ich bestätige Ihnen ausdrücklich, dass wir auf dem Energiesektor - in diesem Fall bei der Dieselbesteuerung - in der Landwirtschaft gegenüber Konkurrenzländern Wettbewerbsnachteile haben. ({0}) - Das haben hier alle bestätigt. Ich habe nicht eine Rede gehört, in der etwas anderes behauptet worden wäre. Ich bestätige das und bedanke mich bei den Fraktionen ausdrücklich dafür, dass wir gemeinsam darüber nachdenken können, wie wir zumindest einen Teil dieser Wettbewerbsverzerrungen wieder gutmachen können. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf das, was die Kollegin Naumann - so glaube ich zumindest - gesagt hat. Als wir das Agrardieselgesetz debattierten, hätten wir andere Schwerpunkte setzen müssen, wenn wir gewusst hätten, dass sich angesichts der Marktverhältnisse im Energiesektor andere Bedingungen stellten. Ich will Ihnen aber gerne bestätigen, dass wir hier in einer Verpflichtung stehen.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Minister, gestatten Sie auch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Deß?

Karl Heinz Funke (Minister:in)

Politiker ID: 11005303

Ja.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, Sie haben die zweite Fördersäule angesprochen. Zuvor gab es ja die Maßnahme der EU-Verordnung 2078/92. Können Sie mir erklären, warum von der Gesamtsumme, die zwischen 1993 und 1997 für Deutschland zur Verfügung gestellt worden ist, 0,6 Prozent nach Schleswig-Holstein, 1,7 Prozent nach Niedersachsen, 0,9 Prozent nach NordrheinWestfalen und 5 Prozent nach Hessen - alles damals SPDregierte Länder -, in das CSU-regierte Bayern aber 35 Prozent und nach Baden-Württemberg 22 Prozent geflossen sind? Kann das damit zusammenhängen, dass die rot-grünen Länder keine Kofinanzierungsmittel hatten?

Karl Heinz Funke (Minister:in)

Politiker ID: 11005303

Nein, Herr Kollege Deß. ({0}) - Nein. Da muss ich Sie nun wirklich völlig enttäuschen. In den Gesprächen, die wir mit den Landesministern zur Verteilung dessen, was von Europa kam, geführt haben, haben selbst jene Länder, die jetzt niedrige Prozentsätze aufzuweisen haben, anerkannt, dass aufgrund der Strukturen in Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen das, was im Rahmen der zweiten Säule der Agenda kommt, unbestritten dorthin muss und nicht in erster Linie in die anderen Länder. Nur ganz nebenbei: Niedersachsen hat das Doppelte wie bei Ihrer Regierung das Doppelte -, weil wir durch entsprechendes Verhandeln aus Brüssel mehr Geld als vorher bekommen. ({1}) Daraus, meine Damen und Herren, mögen Sie ersehen, dass diese Regierung nach objektiven Kriterien und nicht nach den politischen Verhältnissen in den jeweiligen Ländern geht. ({2}) Die Verteilung dieser Mittel hat mit Kofinanzierung überhaupt nichts zu tun. Ich weiß von meinem eigenen Land, von Niedersachsen - in den anderen Ländern überschaue ich das nicht; das will ich aber gerne nachprüfen -, dass dort jede Mark, die im Rahmen der zweiten Säule der Agenda zur Verfügung steht, kofinanziert wird. Das ist schlichtweg so. Ich muss jetzt leider diesen Teil verlassen. Ich hätte mich gerne noch ein bisschen mit den Größenordnungen, was die Wettbewerbsfähigkeit anbelangt, beschäftigt und darauf hingewiesen, dass wir uns auch damit zu befassen haben, wie wir die so genannten variablen Kosten der Betriebe, die im europäischen Vergleich bei uns überdurchschnittlich hoch sind, reduzieren können. Ich könnte auch über das reden, was uns die Maschinenringe richtigerweise zu der Frage sagen, wo wir gemeinsam mit den Ländern noch etwas tun müssen. Ich will dies jetzt nicht tun. Die Probleme, die wir haben, löst man jedenfalls nicht alleine dadurch, dass man darauf verweist, was tatsächlich oder vermeintlich weniger an Subventionen gezahlt wird. Auf die Notwendigkeit, die Haushaltslage in Ordnung zu bringen, ist in diesem Sinne hingewiesen worden. Aber, meine Damen und Herren, wenn ich mir die Haushaltsanträge der CDU/CSU ansehe, will ich doch noch eines sagen - das wird man im Rahmen der Debatte über den Agrarbericht ja sagen dürfen -: Beim Agrardiesel müssten Sie, wenn Sie mit steuerbegünstigtem Heizöl fahren lassen wollen, rund 1,6 Milliarden DM auf den Tisch legen. 450 Millionen DM für die Alterssicherung, 200 Millionen DM für die Unfallversicherung, 150 Millionen DM für den Vorruhestand, 100 Millionen DM für die Gemeinschaftsaufgabe, obwohl die Kosten des Vorruhestandes im Rahmen der zweiten Säule der Agenda von den Ländern übernommen werden könnten. Das ist eigentlich ein Sammelsurium von Zahlen - das macht, wenn ich auf die Schnelle richtig gerechnet habe, 2,8 Milliarden DM aus -, bei dem am Ende jeder weiß, dass das unseriös ist. ({3}) Es wird Ihnen draußen garantiert nicht abgenommen, dass dies angesichts der Haushaltssituation, der Notwendigkeiten, die heute, gesamtökonomisch gesehen, bestehen, zu vertreten wäre. Ich muss in diesem Zusammenhang die F.D.P. loben: Sie hat solche Forderungen in diesem Umfange bisher nicht gestellt, sondern wesentlich geringere Forderungen erhoben. Meine Damen und Herren, ich will in diesem Zusammenhang ein Stichwort aufgreifen und auch dies noch zum Agrarbericht sagen: Ich bin froh, dass der Agrarbericht, der heute diskutiert wird, in seiner Prognose die Einkommensentwicklung für das gegenwärtige Wirtschaftsjahr unterschätzt hat. Gott sei Dank steigen die Einnahmen der Landwirte, bei all dem, was wir heute sagen können, mehr als im Agrarbericht angenommen. Ich bin froh darüber, weil dies Einkommen ist, das über den Markt erzielt wird und somit - bei allen Schwankungen, unabhängig von politischen Lagen - eine dauerhafte Größe ist. Das ist gut und zukunftsträchtig für die Landwirtschaft, sodass ich auch optimistisch und positiv darüber denke, was uns der Agrarbericht 2000 bringen wird. Ich kann jetzt nicht mehr auf die Fragen zur Osterweiterung und auf andere Fragen eingehen. Aber Sie kennen meine Meinung hierzu bereits, auch darüber, wie ich die Welternährung einschätze und die Chancen, die die deutsche Landwirtschaft in diesem Sinne hat. Herr Kollege Heinrich, zur Gentechnologie will ich ausdrücklich sagen: Ich glaube, der Weg, das, was die Regierung auch in Absprache mit den Industrieunternehmen gemacht hat, ist richtig. Wir müssen doch wissen, dass es diesbezüglich Ängste der Verbraucherschaft gibt, dass wir die Akzeptanz erhöhen müssen, wenn wir dem in Zukunft eine Chance als Schlüsseltechnologie einräumen wollen. ({4}) Ich glaube, das kann man nur gemeinsam schaffen, indem man mit Offenheit und mit der Absicht, aufklärend im besten Sinne des Wortes zu wirken, an dieses Problem herangeht. Ich möchte mich - Sie haben das Bundesnaturschutzgesetz angesprochen - ausdrücklich - das mag den einen oder anderen überraschen - bei den Vertretern der Grünen-Fraktion für die bisherigen Gespräche bedanken, insbesondere beim Kollegen Trittin, der auch der Meinung ist, dass Vertragsnaturschutz oberste Priorität haben muss. Damit können wir vielen in der Fläche Betroffenen ihre subjektiven Ängste nehmen. Das ist ganz wichtig. Dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken. ({5}) Das, was wir bei der UVP und IVU gemacht haben - ich sage das, damit hier kein Popanz aufgebaut wird -, ist besser als das, was bisher für die Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe vorgesehen war. Schauen Sie sich bitte die Zahlen an! Ich möchte mich - damit komme ich zum letzten Punkt und auch zum Schluss - beim Kollegen Ortel für das bedanken, was er über das Problem des Tiermehls gesagt hat. Ich möchte Ihnen ganz offen sagen - wir haben uns damit in den letzten Tagen intensiv beschäftigt -, dass die Franzosen nach unserer Meinung dieses Problems durch das von heute auf morgen ausgesprochene Verbot der Tiermehlverfütterung nicht Herr werden. Das Tiermehl wird in Frankreich zu Lagerungszwecken einfach auf einen Haufen geschüttet. Es soll - ich sage ausdrücklich: soll - bereits ein Fluss durch Ausschwemmungen verseucht worden sein. Wir haben in Briefen an den zuständigen EU-Kommissar Byrne und den französischen Landwirtschaftsminister Glavany unsere Meinung zum Ausdruck gebracht, dass angesichts der obwaltenden Umstände ein Exportverbot für französisches Tiermehl erlassen werden muss. Das ist notwendig, Herr Kollege Ortel. Wir werden am kommenden Montag im EU-Agrarrat beschließen, dass die Europäische Union ein solches Exportverbot erlassen soll. Das verseuchte Tiermehl darf nicht nach Deutschland importiert werden. Wenn die Europäische Union ein solches Verbot nicht erlässt, dann müssen wir auch über nationale Maßnahmen, zum Beispiel über eine Eilverordnung, nachdenken. Wir nehmen dieses Problem sehr ernst; denn Deutschland ist sauber. Das Tiermehl wird bei uns entsprechend den Vorschriften hergestellt und verwendet. Wir können uns keine Verwirrung leisten. ({6}) - Vielen Dank, Herr Kollege Heinrich. Ich möchte an die Adresse der Verbraucher sagen: In Deutschland sind sehr viele Schnelltests durchgeführt worden bzw. werden auch noch viele durchgeführt. Deutschland ist Gott sei Dank BSE-frei. Deswegen gibt es keinen Grund, in irgendeiner Form an der Qualität der deutschen Rindfleischproduktion zu zweifeln. Zu deutschem Rindfleisch kann man Vertrauen haben. Man kann es mit Genuss essen. ({7}) Herr Kollege Carstensen hat in dieser Woche zum zweiten Mal aus der Bibel zitiert. Die Tatsache, dass Ihr Schwiegersohn erfolgreich das Studium der Theologie absolviert hat ({8}) - die Tochter studiert auch Theologie! -, scheint wahre Wunder zu wirken. Ich als praktizierender Protestant freue mich natürlich darüber. Ich bitte Sie, mein Bibelzitat - mir fiel während Ihrer Rede, die in meinen Augen ein bisschen scharf war, kein besseres ein - so zu nehmen es ist auch humorvoll gemeint -, wie es ist. Ich möchte Jesaja Kap. 41 Vers 24 zitieren - ein sehr berühmtes Zitat -: Ihr seid nichts und Euer Tun ist auch nichts und Euch zu wählen ist ein Gräuel. ({9}) Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich habe Sie, Herr Minister Funke, zwar nicht unterbrochen, weil ich Sie nicht um das Zitat bringen wollte. Aber ich möchte grundsätzlich feststellen: Natürlich haben die Mitglieder der Bundesregierung das Recht, am Schluss einer Debatte zu sprechen und so lange zu sprechen, wie sie möchten. ({0}) Da auch bei der nächsten Debatte Mitglieder der Bundesregierung sprechen werden, möchte ich diese auf §§ 28 und 44 der Geschäftsordnung hinweisen. Danach könnte die Aussprache wieder eröffnet werden, wenn ein Mitglied der Bundesregierung nach Schluss der Aussprache oder nach Ablauf der beschlossenen Redezeit das Wort ergreift. Das möchte ich nicht anregen. Ich möchte allerdings dem Kollegen Ronsöhr das gewünschte Wort zu einer Kurzintervention erteilen.

Heinrich Wilhelm Ronsöhr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002766, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Peter Harry Carstensen das Bibelzitat vorgetragen hat, haben die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen es auf ihn bezogen. Mit dem gleichen Recht beziehen wir Ihr Bibelzitat, Karl-Heinz Funke, auf Sie. Dann stimmt es auch; denn die Bauern werden danach handeln. Ich finde es etwas eigenartig, dass die Darstellung der steuerliche Entwicklung beim Agrardiesel in den Ausführungen des Ministers Funke nur eine sehr untergeordnete Rolle gespielt hat. Ich möchte nun auf die Steuerreform zu sprechen kommen. Natürlich hat eine Steuerreform unterschiedliche Auswirkungen auf Betriebe. Aber der Bauernverband hat eindeutige Berechnungen vorgelegt. Die landwirtschaftlichen Buchstellen und deren Organisationen taten dies auch. Beide kommen bis zum Jahre 2005 auf eine jährliche Mehrbelastung für die deutsche Landwirtschaft in Höhe von 100 Millionen DM. ({0}) - Nicht im Jahre 2001; da haben Sie Recht. Es fängt im Jahre 2002 an und trifft auch für die Jahre 2003, 2004 und 2005 zu. ({1}) - Herr von Larcher, ich habe Sie ausreden lassen. ({2}) Von daher finde ich, dass man diese Zahlen zur Kenntnis zu nehmen hat und nicht immer von einer Entlastung der Landwirtschaft sprechen sollte. Wenn wir hier über Strukturentwicklungen sprechen, dann muss man feststellen, dass Strukturen auch von Steuern geprägt werden. Landwirte bilden häufig GbRs, um eine bestimmte Strukturentwicklung und bestimmte Kosten abzufangen. Bei dieser Steuerreform ist es nicht gelungen, die Rücknahme des Unternehmererlasses in Gänze wieder vorzunehmen. Wenn wir schon über die Schaffung von modernen Strukturen sprechen, dann müsste es auch von der Bundesregierung wieder ermöglicht werden, dass man nicht mit einem Mitunternehmererlass zu rechnen hat, wenn man GbRs gründet, und dass man nicht steuerlich abgestraft wird, wenn man sie wieder auflöst. Sie haben gesagt, hier werde ständig von Subventionen gesprochen. Herr Funke, eines finde ich typisch: Wieso sind die 400 Millionen DM, die wir im letzten Jahr der Knappschaft für die Alterssicherung der Bergleute haben zukommen lassen, keine Subventionen? Warum aber sind die 377 Millionen DM für die landwirtschaftliche Alterskasse eine Subvention? Diesen Widerspruch lassen wir Ihnen - sowohl von der F.D.P. als auch von der CDU/CSU - nicht durchgehen. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Zu einer Erwiderung hat Bundesminister Funke das Wort.

Karl Heinz Funke (Minister:in)

Politiker ID: 11005303

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Ronsöhr, erstens hätte ich nach Ihrer Einschätzung vielleicht mehr über Agrardiesel sagen sollen. Aber ich habe auf die Zwischenfrage von Herrn Heinrich alles gesagt, was man dazu sagen kann. Sonst wäre es ohnehin dazu gekommen. ({0}) Es ist nur so: Wenn Sie glauben, dies sei das einzige Problem der Landwirtschaft und gehöre in das Zentrum der Erörterung, ({1}) dann - ich weiß gar nicht, wer da „Richtig!“ gerufen hat; aber derjenige scheint mir eine einigermaßen seltsame Sichtweise von Landwirtschaft zu haben ({2}) ist darauf aufmerksam zu machen, dass es gravierendere Probleme gibt. Agrardiesel ist ein Problem unter anderen. Wenn Sie es so hervorheben, in den Mittelpunkt stellen und glauben, ({3}) dass alles andere, was wir gesagt haben - auch das, was Frau Höfken zum Thema Landwirtschaft als Energielandwirtschaft gesagt hat -, unbedeutsam sei, dann kann ich nur feststellen: Wenn Sie Agrardiesel für das einzige Problem überhaupt halten, dann haben wir an sich einen glücklichen Zustand. ({4}) Aber ich verstehe, dass man als Opposition so vorgehen muss. Ich freue mich ja im Grunde, dass die Oppositionszeit bei Ihnen dazu geführt hat, dass Sie jetzt zu solchen Einsichten kommen. Denn als Sie die Mineralölsteuer erhöht haben, haben Sie nicht für den entsprechenden Ausgleich für die Landwirtschaft gesorgt. Unter diesem Gesichtspunkt besteht für Sie also überhaupt kein Grund, über diesen Aspekt hier so umfassend und intensiv zu reden. ({5}) - Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Jetzt werden Sie aber unverschämt, Herr Minister!) Meine Damen und Herren, Herr Ronsöhr, was Sie zum Thema Subventionen gesagt haben, möchte ich ausdrücklich teilen: Darüber, dass die Tatbestände, die Sie als Beispiele genannt haben, auch Subventionen bzw. Unterstützungen sind, brauchen wir gar nicht zu reden. Damit habe ich überhaupt keine Schwierigkeiten. Damit wir uns auch darüber verständigen, möchte ich klarstellen: Ich vertrete und verteidige diese so genannten Subventionen. ({6}) Ich habe lediglich gesagt - dazu stehe ich -: Eine Debatte über die Zukunft der Landwirtschaft und über den Agrarbericht ist total verkürzt, wenn sie sich auf das Thema Subventionen reduziert und sich nicht mit Fragen der Strukturen beschäftigt. Darum geht es; dazu stehe ich. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Tagesordnungspunkt 6 a. Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 14/4236. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Agrarbericht 2000 der Bundesregierung auf Drucksache 14/2672 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Frage nach der Gegenprobe muss ich, glaube ich, nicht stellen. Das Haus nimmt den Agrarbericht einstimmig zur Kenntnis. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung, den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/3380 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung, den Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/3391 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen. Tagesordnungspunkt 6 b. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Agrardieselgesetzes, Drucksachen 14/4218, 4294 und 4616. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/4621 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der F.D.P. gegen die Stimmen der PDS abgelehnt. Ich bitte nunmehr diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalition gegen die übrigen Stimmen des Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Der Gesetzentwurf ist mit der gleichen Stimmenmehrheit wie in der zweiten Beratung angenommen. Tagesordnungspunkt 6 c. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 14/4605 zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „Tanken von eingefärbtem Agrardiesel unbürokratisch ausgestalten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3105 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen der F.D.P. und der CDU/CSU angenommen. Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Norbert Lammert, Bernd Neumann ({1}), Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Hauptstadtkulturförderung - Drucksachen 14/3182, 14/4597 ({2}) Berichterstattung: Abgeordnete Eckhardt Barthel ({3}) Bernd Neumann ({4}) Hans-Joachim Otto ({5}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Das Haus ist damit einverstanden. Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner dem Kollegen Dr. Norbert Lammert für die CDU/CSUFraktion das Wort.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hat in den letzten Tagen zwei spektakuläre kulturpolitische Entscheidungen getroffen, von denen die erste Respekt und jede Unterstützung verdient, während die zweite hochproblematisch ist. Beide Entscheidungen bzw. Initiativen haben bezeichnenderweise nichts mit dem Hauptstadtkulturvertrag zu tun, über den wir nun seit Monaten reden und verhandeln. Sie haben aber natürlich erheblich etwas mit Hauptstadtkultur und Bundesförderung in der Hauptstadt zu tun. Was die Sicherung der Berggruen-Sammlung für Berlin und damit für Deutschland angeht, will ich all denjenigen, die sich darum offenkundig seit geraumer Zeit mit Erfolg bemüht haben, ausdrücklich gratulieren. Obwohl ich, wie ich an anderer Stelle deutlich gemacht habe, das Verfahren unter Nichtbeteiligung des zuständigen Ausschusses des Bundestages nach wie vor weder für vertretbar noch für hinreichend begründet und deswegen auch nicht für akzeptabel halte, stehe ich nicht an, zu sagen, dass meine Freude und Begeisterung in der Sache meinen Ärger über das Verfahren kompensieren. Sie, Herr Staatsminister, haben die Verfahrenskritik auch als berechtigt akzeptiert. Damit ist der Vorgang für mich erledigt. Die CDU/CSU-Fraktion hat mit ihrem Antrag zur Hauptstadtkulturförderung, den wir im Frühjahr dieses Jahres eingebracht haben, zwei Ziele verfolgen wollen. Erstens. Wir wollten die bereits begonnenen Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und dem Berliner Senat und die damit verbundene öffentliche Auseinandersetzung in dieses Parlament hineinholen. Zweitens. Wir wollten eine möglichst breite parlamentarische Grundlage für eine solide Formulierung des Verhältnisses von Bund und Hauptstadt in Fragen der Kulturförderung erreichen. Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters Beides ist gelungen. Wir stimmen nach der heutigen Debatte über eine Beschlussempfehlung des Ausschusses ab, die deutlich macht, dass wir in der grundsätzlichen Frage des Verhältnisses zwischen Bund und Hauptstadt, was die Unterstützung von kulturellen Institutionen, Projekten und Anstrengungen angeht, ein hohes Maß an Übereinstimmung haben und dass es in dieser Hinsicht überhaupt keinen Streit gibt. Der Kulturstaat Deutschland muss unter Wahrung der originären Verantwortlichkeit der Länder und ihrer beispielhaften kulturellen Vielfalt ganz besonders in der Hauptstadt erkennbar sein. Dabei darf sich - das sage ich mit der gleichen Selbstverständlichkeit - die Kulturpolitik des Bundes selbstverständlich nicht auf die Hauptstadtförderung reduzieren. In beiden Fragen besteht zwischen uns Übereinstimmung. Ich glaube, dass das für die weitere Arbeit eine ganz wichtige Basis - über den unmittelbar zur Entscheidung anstehenden Hauptstadtkulturvertrag hinaus - ist. ({0}) Die CDU/CSU stimmt wie die anderen Fraktionen der Absicht von Bundesregierung und Berliner Senat ausdrücklich zu, einen Vertrag zur Kulturfinanzierung in der Bundeshauptstadt abzuschließen. Gegen die konkret vorgesehenen Vereinbarungen des ausgehandelten Vertrages haben wir allerdings erhebliche Einwendungen und Bedenken. Die vom Bund übernommenen Verpflichtungen lassen weder überzeugende Prioritäten noch inhaltliche Konzeptionen für diejenigen Institutionen erkennen, die in Zukunft ganz in der Verantwortung des Bundes geführt werden sollen. Ich finde es ausgesprochen schade, dass die bei der Einbringung dieses Antrages in der Debatte im Mai von mir für die Fraktionen markierten offenen Fragen in der Zwischenzeit entweder nicht beantwortet oder in einer leider sehr unglücklichen Weise behandelt worden sind. Ich kann das im Rahmen der mir zur Verfügung stehenden Redezeit nur stichwortartig belegen. Sie werden sich daran erinnern, dass ich bereits damals darauf hingewiesen habe, dass selbstverständlich neu darüber nachgedacht werden muss, welche Aufgaben die Berliner Festspiele in Zukunft haben sollen, nachdem sich der Zweck, zu dem sie zu Beginn der 50er-Jahre gegründet worden sind, ganz offensichtlich verbraucht hat. Uns liegt bis heute nur eine einzige Auskunft zu diesem Thema vor, nämlich dass der Bund die Verantwortung dafür in Zukunft alleine übernehmen will. Wir wissen, wer in Zukunft anstelle des langjährigen, verdienstvollen Leiters die Führung dieser Festspiele übernehmen soll. Weder von der Bundesregierung noch vom ernannten Leiter ist bisher irgendeine Auskunft über die Absicht zu hören gewesen, was mit diesem Instrument dann erfolgen soll. ({1}) Wir fühlen uns insofern in der Vermutung sehr bestätigt, dass unter den Bedingungen einer vitalen, wirklich ausstrahlenden Kulturmetropole Berlin für eine solche Institution eigentlich überhaupt keine, schon gar keine zwingende Notwendigkeit mehr besteht und dass man dieses Geld an anderer Stelle - für eine Stärkung der Kulturinstitutionen in Berlin - sinnvoller einsetzen könnte. ({2}) Herr Kollege Barthel, ich fühle mich in dieser Einschätzung durch eine kürzlich erfolgte, sehr bündige Auskunft des gegenwärtigen Leiters der Berliner Festspiele ausgesprochen bestätigt. Wir haben in der damaligen Debatte bereits darauf hingewiesen, dass das Engagement des Bundes für das Jüdische Museum, für das sich gute Gründe anführen lassen, nur dann plausibel wird, wenn es im Kontext eines geschlossenen Konzepts nationaler Gedenkstätten erfolgt, und dass die Beliebigkeit, das Jüdische Museum ohne rechtliche Verpflichtung zu übernehmen, das Mahnmal aufgrund der Entscheidungen des Bundestages zu bauen und die Topographie des Terrors irgendwo im Unverbindlichen stehen zu lassen, nicht akzeptabel ist. Wir haben dafür bisher keine plausible Begründung gehört. Vermutlich gibt es nur einen schlichten Grund: dass die verfügbaren Mittel für ein weiteres Engagement nicht ausreichen, was, mit Verlaub, bei anderen Engagements, die eingegangen werden, keine überzeugende Begründung ist. ({3}) Wir haben schon damals darauf hingewiesen, dass wir sehr für einen Hauptstadtkulturfonds sind, der neben Institutionen herausragende Projekte fördert. Wir können nicht erkennen, dass der gegenwärtige Hauptstadtkulturfonds, der zwischen den beiden Partnern ausgehandelt wurde, diesen Ansprüchen genügt. Dieser Hauptstadtkulturfonds unterstützt vielfältige Initiativen, von denen ich die allermeisten für sinnvoll und einige für zwingend notwendig halte. Aber darunter ist fast nichts, was nicht in genau der gleichen oder in einer sehr ähnlichen Weise in mehreren Dutzend deutscher Städte auch stattfände. Nur: Dort kommt niemand auf die Idee, dafür eine Förderung aus Haushaltsmitteln des Bundes zu beantragen. ({4}) Die Förderung herausragender Projekte mit Ausstrahlungskraft von Berlin weit hinaus nicht nur in den Rest der Republik, sondern über die Landesgrenzen hinaus, ist auf diesem Wege eben nicht zu erreichen. Schließlich muss ich aus gegebenem Anlass an den Hinweis, Herr Staatsminister, erinnern, den ich bezüglich der Bemühungen der Bundesregierung, die Berliner Philharmoniker in die eigene Verantwortung zu übernehmen, gegeben habe. Ich habe damals darauf hingewiesen, dass es nicht plausibel sei, dass sich der Bund massiv direkt und indirekt in die Förderung der Berliner Orchesterszene einschalten will, aber jegliche Verantwortung für Musiktheater und Sprechtheater kategorisch ablehnt. Ich habe hinzugefügt: Da ist das Interesse am Glanz und am Vermeiden von Risiken offenkundig ausgeprägter als an der Aufstellung eines konsistenten Konzeptes; ein solches ist ja sowieso nur schwer erkennbar. ({5}) Ich hätte diese Äußerungen heute gerne zurückgenommen und bin jetzt ausgesprochen betrübt, dass sich die Besorgnisse, die wir damals vorgetragen haben, nun gerade durch die Ereignisse der letzten Tage in einer besonders drastischen Weise bestätigt haben. Was den ausgehandelten Vertrag angeht, muss ich ausdrücklich noch einmal darauf hinweisen, dass ich es überhaupt nicht akzeptabel finde, dass der Bund mit rund der Hälfte der von ihm insgesamt eingesetzten verfügbaren Haushaltsmittel, wenn man den Hauptstadtkulturfonds miteinbezieht, originäre Finanzverpflichtungen des Landes Berlin übernimmt. Hierbei handelt es sich um Verpflichtungen, die Berlin aufgrund geltender Verträge gegenüber der Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat. Mit diesen Geldern könnte folglich der Bund in der Hauptstadt Berlin Akzente setzen. ({6}) Das tut er nicht, weil er an dieser Stelle Verpflichtungen von Berlin übernimmt. ({7}) Das ist, mit Verlaub gesagt, Herr Staatsminister, unvernünftig. Es ist im Übrigen, selbst wenn sich hier drin der gute Willen Berlin gegenüber ausdrückt, auch deshalb unvernünftig, weil eine unsägliche Praxis Berliner Kulturund Finanzpolitik auf diese Weise durch die Bundespolitik geradezu sanktioniert wird. Das können und dürfen wir nicht tolerieren. ({8}) Ich komme nun, Frau Kollegin Vollmer, auf die allerjüngste Entwicklung zu sprechen: Die handstreichartige Zusage von 3,5 Millionen DM für die Staatskapelle bzw. die Staatsoper Unter den Linden ist bestenfalls ein Zeichen des schlechten Gewissens. Der einzig freundliche Aspekt, den ich diesem Vorgang abgewinnen kann, ist die offensichtlich allmählich sich breit machende Einsicht bei Ihnen bzw. bei der Bundesregierung - in welcher Reihenfolge auch immer -, dass die Position, die dogmatisch eine Mitverantwortung des Bundes für die Lösung der Strukturprobleme der Berliner Opernszene ablehnt, offenkundig nicht zu halten ist. Alle anderen damit zusammenhängenden Absichten sind, mit Verlaub gesagt, unseriös. Mit dieser einmaligen finanziellen Zuwendung nach der Methode von Sonnenkönigen werden überhaupt keine Probleme gelöst. Es werden die notwendigen Strukturveränderungen in der Berliner Opernszene nicht befördert, sondern behindert. Es wird mit dieser einmaligen Finanzspritze des Bundes weder die Zukunft dieses einen Opernhauses und/oder Orchesters noch die aller in Rede stehenden Opernhäuser und ihrer Orchester gesichert. Damit findet eine gravierende Ungleichbehandlung Berliner Opernorchester ohne jede kulturpolitische Begründung geschweige denn durch irgendeine kulturpolitische Befassung oder Evaluierung veranlasst statt. Man gibt das ungelöste Problem im Herbst nächsten Jahres auf höherem Kostenniveau, nämlich in Form eines um 3,5 Millionen DM gestiegenen Ansatzes, beim Berliner Senat wieder ab. ({9}) Dies ist das genaue Gegenteil einer nachhaltigen Kulturpolitik, Herr Naumann, die einem Mindestanspruch an Ernsthaftigkeit genügt. ({10}) Niemand von uns weiß, woher das Geld dafür auf einmal kommt und welche Löcher es an anderer Stelle reißt. Weder der Berliner Kultursenator noch die Intendanz der Staatsoper können mir jedenfalls die Frage beantworten, an wen eigentlich auf welcher haushaltsrechtlichen Grundlage und mit welcher Zweckbestimmung diese Mittel weitergereicht werden. Sie werden uns sicher gleich erläutern, ({11}) ob das eine Spende der Bundesregierung an die Berliner Staatsoper oder ans Orchester oder an ihren Dirigenten oder was auch immer ist. Jedenfalls ist bisher überhaupt keine rechtliche Verpflichtung des Bundes für eine solche Aktivität zu erkennen, und Sie haben bislang kategorisch auch nur den Gedanken einer solchen Inpflichtnahme des Bundes zurückgewiesen, ganz im Unterschied zu uns, die wir mehrfach die Bereitschaft zu einer solchen wirklich strukturellen Lösung angeboten haben. ({12}) - Wenn sie jetzt da ist, dann nehme ich Sie sofort beim Wort, denn ich habe gerade von einer strukturellen Lösung gesprochen. Der offensichtliche Versuch der Einflussnahme auf Berliner Personal- und Strukturentscheidungen ohne erkennbare Bereitschaft zu einem dauerhaften kulturpolitischen Engagement des Bundes wäre jedenfalls geradezu peinlich. Er würde geradezu den Rest an Reputation einer Kulturpolitik zerstören, die nicht an billigen Showeffekten, sondern an der Sache orientiert ist und an für die Zukunft tragfähigen Lösungen interessiert sein muss. Damit würden Sie, Herr Naumann, den ich nicht für den Erfinder dieses Handstreichs halte, der Sie aber als Vollstrecker dieser Schnapsidee auftreten, ({13}) Ihre Reputation nachhaltiger gefährden als mit dem albernen Übermut Ihrer völlig unnötigen Auseinandersetzung über Kulturföderalismus und Verfassungsfolklore. ({14}) Ich habe, lieber Herr Naumann, mit großem Interesse vor wenigen Tagen in einer bedeutenden Berliner Zeitung den Abdruck einer sicher auch bedeutenden Rede gelesen, die Sie vor geraumer Zeit bei einer wiederum sicher bedeutenden Konferenz gehalten haben. Sie hat mindestens in der Zeitung - weil Sie zu Recht Wert darauf legen, für Überschriften nicht in Anspruch genommen zu werden die Überschrift „Vom Sinn des Regierens“ und beginnt mit dem Satz: Wir treiben Politik ohne Anspruch auf Wahrheit. ({15}) Das glaube ich Ihnen aufs Wort, und es ist im Übrigen auch richtig. Wahrheitsansprüche darf die Politik nicht erheben. ({16}) Aber den Anspruch auf Vernunft, den Anspruch auf Ernsthaftigkeit, den Anspruch auf Verlässlichkeit, den Anspruch auf Kultur in der Kultur, den dürfen wir und den werden wir nicht aufgeben. ({17})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht Kollege Eckhardt Barthel.

Eckhardt Barthel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003032, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Bei den letzten Sätzen mit ihrem Pathos ist es mir richtig ein bisschen warm ums Herz geworden. ({0}) Es war ja eine seltsame Konstruktion einer Rede. Am Anfang habe ich mich gefreut. Ich dachte; Jetzt redet Herr Lammert zu dem, was eigentlich vorliegt, nämlich dass es eine gemeinsame Position gibt. Aber am Schluss waren Sie weg von dem, was wir heute gemeinsam beschließen, und haben auf eine Einzelmaßnahme geschossen. Dessen ungeachtet, dass ich mich darüber nicht gefreut habe, will ich es mir nicht verkneifen, da Sie ja heute Geburtstag haben, Ihnen nicht nur zu gratulieren, sondern Ihnen auch alles Gute zu wünschen. Aber das bezieht sich nur auf Ihr persönliches Wohlergehen. ({1}) - Das haben Sie befürchtet. Meine Damen und Herren, ich sage das wegen der Bedeutung des Themas und weil ich besonders froh bin, dass wir diesen Antrag, diese Beschlussempfehlung heute hier gemeinsam unterstützen. Sie haben das im ersten Teil Ihrer Rede auch sehr stark hervorgehoben, wobei ich einmal sagen möchte: Dieser Ansatz, wie Sie es interpretiert haben, beginnend damit, dass Sie eine Position in das Parlament hineinbringen, damit dann die Regierung entsprechend handelt, müsste eigentlich umgekehrt sein. Das Interessante für uns, als wir Ihren Antrag lasen, war ja, dass wir plötzlich das, was wir schon zwei Jahre machen, wiederfanden. Deswegen gab es auch keine Probleme für uns, dem zuzustimmen, weil es eigentlich eine Unterstützung dieser rot-grünen Koalition und auch der Politik Naumanns darstellt. Erfreulich an diesem Antrag ist ja auch die Klarheit, mit der hier das besondere Interesse und die besondere Verantwortung des Bundes an der Kulturlandschaft der Hauptstadt festgeschrieben wird. Es gibt sogar den Begriff des Bekenntnisses gleich am Anfang. Ich sage: Ich finde dieses gut, weil es deutlich macht, dass dieses nicht nur eine Aufgabe Berlins, sondern auch des Bundes ist. Worum geht es dabei? Es geht darum, die in der Tat wohl beispielhafte kulturelle Vielfalt dieser Stadt zu erhalten und weiterzuentwickeln. Wir wissen, wie sie entstanden ist: preußisches Erbe, aber auch die Funktionszuschreibung der Teilstädte in Ost und West mit den Begriffen „Schaufenster der freien Welt“, aber auch „Repräsentative Hauptstadt der DDR“. Wenn wir über die Vielfalt der Kultur in der Hauptstadt sprechen, denken die meisten oder diejenigen, die die Stadt nicht so gut kennen, an die Museumsinsel und an die Opern, die ja durch den Streit jetzt wieder ganz bekannt geworden sind. Ich glaube, man sollte, wenn man von Vielfalt redet, auch einmal versuchen, sie darzustellen. Ich habe mir von der Kulturverwaltung eine Auflistung besorgt: Was gibt es eigentlich? Was macht diese Vielfalt der Kultur in der Hauptstadt aus? Es sind nur Zahlen, aber vielleicht geben sie doch einen Eindruck von der Vielfalt, um die es hier geht. Berlin hat circa 170 Museen, drei Opernhäuser, zwei Institutionen der leichten Muse, drei staatliche Sprechtheater, zwölf private Sprechtheater. Jetzt kommen Gruppen, die im Zusammenhang mit der Frage Kulturfonds wichtig sind: In der Stadt arbeiten circa 450 freie Gruppen, wir haben 200 bis 250 aktive Off-Theater, zwei subventionierte Kinder- und Jugendtheater, 84 öffentliche Bibliotheken, circa 250 Galerien, circa 880 Chöre und 15 Orchester. Das ist in der Tat eine Vielfalt, die es zu erhalten und - wenn es nach uns allen ginge - zu erweitern gilt. Es wäre wohl unverantwortlich, wenn mit der deutschen Einheit, mit der Wiedervereinigung der Stadt, diese kulturelle Vielfalt verloren ginge oder zumindest verringert würde. Nur wissen wir alle: Die Stadt Berlin kann diese Aufgabe nicht allein leisten. Selbst wenn wir den kulturbeflissensten Finanzsenator oder den kulturbeflissensten Kultursenator hätten, ihnen beiden sind sehr enge Grenzen gesetzt. Sie kennen die finanzielle Situation der Stadt. Deshalb ist eine Hauptstadtkulturförderung auch weiterhin - ich sage: weiterhin, denn sie wird ja nicht neu erfunden - unverzichtbar. Gleichzeitig aber - das deutete sich ganz klar auch im so genannten Opernstreit an - sind Reformen im Land Berlin auch in diesem Kulturbereich überfällig. ({2}) Es geht bei der Frage der Hauptstadtkulturförderung nicht um ein Notopfer Berlin, es geht auch nicht um Subventionierung, sondern es geht um Investitionen im Interesse des Bundes und der Länder. Eine Hauptstadt wirkt nach außen, und eine Hauptstadt wirkt auch nach innen. Nach außen wirkt sie in der Ausstrahlung, und nach innen - ich möchte das wirklich nicht unterschätzen - ist die Kultur in einer Hauptstadt auch wichtig für die Identifikation der Bevölkerung in Deutschland mit ihrer Hauptstadt. Ich möchte gern, dass diese Identifikation über Kultur geschieht und nicht über Pickelhauben. ({3}) Eine Hauptstadtkulturförderung - das erleben wir immer wieder in der Diskussion - bedarf natürlich auch der Akzeptanz. Insofern ist für mich die Frage der Hauptstadtkulturförderung ein sehr sensibles Thema, mit dem man vorsichtig umgehen sollte, übrigens auch im Dialog zwischen dem Land Berlin und dem Bund. Ich habe den Eindruck, dass sich seit der Zeit, als hier das letzte Mal darüber gesprochen wurde, dieser Dialog zwischen dem Bund und dem Land Berlin verbessert hat. ({4}) Meine Damen und Herren, es ist richtig, ja, ich halte es für selbstverständlich, dass die Hauptstadtkulturförderung nicht zulasten der Länder geht. Eine der interessantesten Aussagen von Vertretern der Länder und der Kommunen bei der Anhörung zur Haupstadt-Kulturförderung war für mich: Sie geht nicht zulasten der Länder, sondern hier wird im Gegenteil ein erwünschter kultureller Wettbewerb in die Wege geleitet. Auch in der Politik der Länder und Kommunen wird der Stellenwert der Kultur erhöht. Eine letzte Bemerkung zum Hauptstadtkulturvertrag, von dem ich hoffe, dass er bald unterschrieben wird. Wir wollten - da war eigentlich Konsens - Klarheit haben, wohin die Mittel gehen, die vom Bund gegeben werden. Wir wollten Transparenz haben und wir wollten weg von der Mischfinanzierung. Darüber waren sich alle Fraktionen einig. Wenn Sie, Herr Lammert, jetzt die Tatsache kritisieren, dass vier Institutionen in die Verantwortung des Bundes genommen werden sollen, kann man sagen: Es gibt in der Tat auch andere Möglichkeiten. Einige Ihrer Vorschläge würden aber bewirken - das haben Sie als einer der schärfsten Kritiker bisher immer bemängelt -, dass es wieder weniger Transparenz geben würde und dass in den bezuschussten Häusern die Problematik wieder zu finden wäre, die wir eigentlich gemeinsam vermeiden wollten. ({5}) Man sollte eine Anhörung nicht der Anhörung wegen durchführen. Ich fand es deshalb ganz interessant, was der sächsische Staatsminister Professor Meyer während der Anhörung zu dieser Frage gesagt hat. Er sagte: Betrachtet diese Angelegenheit nicht ideologisch, sondern geht ganz pragmatisch vor! Ich glaube, er hat Recht. Diese Auffassung findet sich auch im Hauptstadtkulturvertrag wieder. Ich bin besonders froh - ich betone, dass es nicht nur um Opernhäuser geht; ich habe ja vorhin bewusst die gesamte Liste vorgelesen -, dass es die vielen kreativen und innovativen Projekte in dieser Stadt gibt. Gott sei Dank, Herr Lammert, es gibt sie auch woanders. Wir wollen ja keine Kulturhauptstadt, was in der Tat dem Föderalismus widerspräche. Ich lege aber Wert darauf, dass die für diese Projekte vorgesehenen 20 Millionen DM nicht anderweitig veranschlagt werden. In diesem Punkt muss es eine Kontrolle geben. ({6}) Ich möchte auch nicht, dass der Bund bestimmt, wer gefördert wird. Deshalb gibt es den Beirat, den ich für eine gute Konstruktion halte. Mit unserem Entschließungsantrag bekennen wir uns zur besonderen Verantwortung des Bundes für Berlin ohne Verringerung der Kompetenzen der Länder. Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen: Dies ist auch eine Bestätigung und Unterstützung der Politik, die wir in diesem Bereich schon gemacht haben. Ich danke Ihnen. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun für die F.D.P.-Fraktion der Kollege Dr. Günter Rexrodt.

Dr. Günter Rexrodt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002759, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch die F.D.P.-Bundestagsfraktion begrüßt, dass es diese gemeinsame Entschließung zur Hauptstadtkulturförderung gibt. Es ist dringend erforderlich, dass nach dem Regierungsumzug nach Berlin eine Regelung für das finanzielle Engagement des Bundes in Berlin gefunden wird. Diese Förderung ist auch vor dem Hintergrund dringend erforderlich, dass das Land Berlin, ein mittelgroßes Bundesland, die Aufgaben hinsichtlich des kulturellen Potenzials nicht allein schultern kann. In Berlin befindet sich das Erbe Preußens und das kulturelle Erbe der DDR. Hier gibt es auch das Erbe der hochsubventionierten, aber über weite Strecken enorm leistungsfähigen Kulturlandschaft des alten West-Berlins. Die Aufgaben in diesem Bereich allein von dem Bundesland Berlin schultern zu lassen wäre unmöglich. Das will auch niemand. Verantwortliche Kulturpolitik, zwischen Bund und Land abgestimmt, ist aber nicht nur ein Streit um Subventionen oder auch die Suche nach Einsparmöglichkeiten. Der Deutsche Bundestag kann und darf dem Land Berlin die Entscheidung darüber nicht abnehmen, wie die Kulturpolitik in Berlin im 21. Jahrhundert aussehen muss. Berlin muss das selbst entscheiden. Die große Koalition muss aus ihrer Lethargie erwachen. Große Koalitionen tun sich erheblich schwerer als andere Konstellationen. Aber es führt kein Weg daran vorbei, dass endlich etwas geschehen muss. Berlin hat einen neuen Kultursenator - parteilos und unverbraucht, wie immer gesagt wird. Er muss eine wichtige und überfällige Aufgabe schultern, was nicht ganz einfach ist; denn viele Berliner Kulturinstitutionen befinden sich in einer Krise. Die Bannerträger der Berliner Kulturpolitik im Opernbereich sind in die Jahre Eckhardt Barthel ({0}) gekommen. Es gibt eine Reihe von einstmals namhaften Berliner Ballettgruppen, von denen man nichts mehr hört. Die großen Sprechtheater - ich nehme einmal die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz aus - sind auch nicht in allerbester Verfassung. Es gibt Nachfolgeprobleme. Das Deutsche Theater hat mit zwei Verantwortlichen eine schwierige Phase durchzumachen. Das ist nie gut. Ich erinnere mich noch an die Zeit, als ich in Berlin Landespolitik gemacht habe. Da gab es beim Schillertheater drei Intendanten. Das war grauenhaft. Am Ende ist das Schillertheater auch geschlossen worden. Das ist während jener Zeit eingeleitet worden. Trotz hoher Subventionen - allein für die Opern wurden 240 Millionen DM bereitgestellt - hört man überwiegend von Etatproblemen, nicht aber von wegweisenden Neuinszenierungen. Bei den großen Orchestern der Stadt wurde nach der Wende - alle existierten weiter, alle hatten ihre Lobbys und Fanklubs - mit Fusionen und Kooperationen, die nicht durchführbar waren, die unpraktikabel waren, ein enormer Dilettantismus an den Tag gelegt. Die Probleme sind bis heute nicht gelöst. Auch das, was Herr Stölzl hier vorgelegt hat, funktioniert nicht. Ich bin auf eine Weise froh, dass wir für die Staatskapelle in der Staatsoper heute im Haushaltsausschuss 3,5 Millionen DM bereitgestellt haben. Das war dringend erforderlich. Die Staatsoper kann und soll mit anderen Opern kooperieren, sie darf aber nicht ihre künstlerische Unabhängigkeit verlieren. Deshalb war es notwendig, für die Kapelle einen Betrag zur Verfügung zu stellen. Ich habe hier nur eine sehr beschränkte Redezeit. Ich will aber einen Lichtblick zur Sprache bringen. Ich meine die Museumslandschaft Berlins, die in Deutschland, vielleicht sogar in Europa einmalig ist. Ich bin sehr froh - ich sage das auch mit Blick auf die Koalition -, dass die Rekonstruktion der Museumsinsel, wo es Sammlungen von Weltrang gibt, beschleunigt worden ist. Die Museumsinsel wird noch circa zehn Jahre durch Gerüste geprägt sein, aber es ist allerhöchste Zeit und enorm gut, ({1}) dass es ein Konzept zur Erschließung der Museumsinsel durch eine neue Ebene gibt. Das ist das eine. Das andere ist das Stadtschloss; ich kann es aus zeitlichen Gründen hier nur erwähnen. Hier muss dringend eine Entscheidung gefällt werden. Die Diskussion hat lange genug gedauert. Ich gebe zu, dass über die Wiedererrichtung nicht aus dem Stegreif oder in kürzester Zeit entschieden werden kann; aber es wird schon zehn Jahre und länger darüber diskutiert. Nun ist wieder eine Kommission eingesetzt worden. Eine Kommission wird immer nur dann eingesetzt, wenn man eine politische Entscheidung verschieben will. Aber diese politische Entscheidung ist auch dann fällig, wenn die Kommission ihre Arbeit geleistet hat. Also hätte man die Entscheidung auch jetzt fällen können. ({2}) Man hätte sie - das ist meine Meinung - so fällen sollen, dass das Stadtschloss in seiner historischen Fassade wieder entsteht. Der Präsident weist mich auf das Überschreiten der Zeit hin. Ich komme mit meinen Ausführungen zum Schluss. Die Abstimmung ist dringend erforderlich. Der Kulturhaushalt Berlins muss auf einer sicheren finanziellen Basis stehen. Es muss ein Kassensturz gemacht werden und es muss geprüft werden, inwieweit kulturelle Einrichtungen erhalten oder geschlossen werden sollen und wie rationalisiert werden kann. Dass wir diesen Antrag heute gemeinsam verabschieden, ist eine wichtige Etappe auf diesem Wege. Schönen Dank. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Antje Vollmer, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, dass wir heute nicht nur dem Kollegen Lammert zum Geburtstag - dem auch ich gratulieren will -, sondern eigentlich uns allen gratulieren können. Ich glaube, in den vergangenen zwei Jahren, seit es den Kulturausschuss und einen Kulturstaatsminister, der Michael Naumann heißt, gibt, hatten wir im Deutschen Bundestag mehr Kulturdebatten als in den zwei Legislaturperioden vorher. ({0}) Ehrlich gesagt finde ich, dass wir auch ganz schön viel bewegt haben. Es war nicht immer einfach. Ich denke zum Beispiel an die Debatte über das Holocaust-Mahnmal, aber auch das haben wir einer Entscheidung zugeführt. Auch im Kulturbereich haben wir Geld bewegt. Ich denke an die Stiftungsdebatte, ich denke aber auch an das, was wir heute gemeinsam in Bezug auf die Hauptstadtkulturförderung verabschieden. Neu und meistens sehr erfreulich bei den Debatten im Kulturausschuss ist: Es gibt ungeheuer viele Gemeinsamkeiten. Die Grundhaltung, dass es gemeinsame Anliegen gibt, ist ehrenvoll für den Parlamentarismus. Zu dem, was es in Berlin an Kulturpolitik gibt und was noch möglich ist, gehen die Linien und Meinungen - bis hin zu kritischen Äußerungen - in den Fraktionen hin und her. Das begrüße ich außerordentlich. Das Parlament ist manchmal langweilig genug geworden. Ich finde es gut, dass wir bei solchen neuen Fragen einen neuen Wind haben. ({1}) Das, worüber wir heute diskutieren, nämlich über die Grundlagen der Hauptstadtkulturförderung, und das, was wir demnächst bei der Debatte über den Haushalt haben werden, ist ein großer Entwurf mit Mut zur Klarheit. Diesen Mut zur Klarheit brauchte es. Wir müssen in Berlin endlich die Grauzone von unterschiedlichen Verantwortlichkeiten, bei denen man nicht genau wusste, wo die Gelder wirklich landen und wer im Zweifel wirklich dafür verantwortlich gemacht werden kann, aufheben. Der Bund finanziert das Jüdische Museum, den Martin-Gropius-Bau, das Haus der Kulturen der Welt und die Berliner Festspiele. Das sind natürlich Lasten für den Bund, Herr Lammert. Es wäre viel einfacher gewesen, bei dem Festbetrag von 100 Millionen DM zu bleiben, als die Verantwortung für die Häuser mit allen Konsequenzen zu übernehmen. Sie wissen so gut wie wir, dass bei manchen Häusern erhebliche Folgekosten entstehen können. Dabei denke ich vor allem an das Jüdische Museum und an die Berliner Festspiele. In Bezug auf die Berliner Festspiele war ich erstaunt - ich will das im Protokoll nachlesen -: Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie für die Auflösung der Berliner Festspiele sind? Dafür werden Sie in Berlin nicht allzu viele Freunde finden. Da bin ich mir ziemlich sicher. ({2}) - Ich habe Sie so verstanden, als ob Sie die Institution insgesamt infrage stellen wollen. Das fand ich erstaunlich. Die Festspiele sind in Berlin ja sehr populär. Ich glaube, dass sie mit einer neuen Handschrift neuen Glanz bekommen werden. Ich habe bis jetzt über die uns durchaus bewussten Folgen auch hinsichtlich der Verantwortung für den Bund gesprochen. Was aber kommt auf Berlin zu? Da kann ich mich Ihren Worten, Herr Lammert, nur anschließen: Ich glaube, dass die Reformen in Berlin sehr schwer sind; da machen wir uns alle keine Illusionen. Ich meine aber, dass sie notwendig sind. Berlin hat, wie ich glaube, mit dieser klaren Zuständigkeit die Chance, diese Reformen anzugehen. In diesem Zusammenhang will ich etwas zu den Zuwendungen in Höhe von 3,5 Millionen DM für die Staatsoper unter Daniel Barenboim sagen, die auch mich überrascht haben. Jede Förderung, die von Berlin nicht geleistet werden kann, begrüße ich außerordentlich. Bei allem Kritischen in dieser Debatte sollten wir alle doch darauf achten, dass die Bereitschaft, Berlin zu unterstützen, dabei nicht verloren geht. Das wäre sehr kontraproduktiv. ({3}) Wir werden erst einmal die Reformpläne des Berliner Kultursenators abwarten müssen. Ob der Drahtseilakt der Opernreform wirklich gelingt, ist und bleibt trotz der Bemühungen um die Staatskapelle eine Aufgabe, die nur vom Berliner Kultursenator und vom Berliner Senat gelöst werden kann. Diese Verantwortung möchte ich ihnen auch nicht abnehmen. Nur durch sie kann die Problematik der Opern geklärt werden. Würde sich der Bund um die Thematik der Opern kümmern, dann würde er die Kritik zu hören bekommen, dass er sich in kommunale oder Länderzuständigkeiten einmischt. Der Bund kann nur die Bedeutung der Opern, deren problematische Situation und das, was das Leiten eines solchen Opernhauses so schwierig macht, thematisieren. Wir könnten darüber zum Beispiel eine Anhörung machen. Aber eine Lösung der Probleme mit den Opern in Berlin können wir vom Bund nicht leisten. ({4}) Wenn man die 100 Millionen DM für die Förderung der Hauptstadtkultur ({5}) und die 27 Millionen DM für die Baumaßnahmen zusammennimmt, dann ist das noch längst nicht alles, was der Bund für Berlin tut. Deswegen zähle ich das, was wir für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz tun, zu den Glanzlichtern. Da werden in den nächsten zehn Jahren noch einmal 250 Millionen DM zusätzlich aufgestockt werden. Ich finde, das ist außerordentlich beachtlich. Ich kann auch sagen, dass das, was da auf der Museumsinsel entsteht, großartig wird. Das wird ein richtiger Traum. Es wird auch ein ganz großer Publikumsmagnet. Andere Metropolen werden uns um diese Möglichkeit, die wir da im Weltkulturerbe haben, wirklich beneiden. Ich kann nur alle auffordern, mit dahin zu gehen. Das ist schon jetzt in der Planungsphase grandios, sehr kreativ und interessant. ({6}) Wenn wir da einen Schwerpunkt haben - und auch ich habe die Einschätzung, dass wir große positive Schwerpunkte bei der bildenden Kunst haben -, so stehen dem aber große Schwierigkeiten zum Beispiel in der Theaterlandschaft entgegen. Gerade deswegen ist dieser Sauberzweig-Fonds der 20 Millionen DM so wichtig, weil das das Geld ist, mit dem wir auch die jungen Künstler und die Avantgarde in der Stadt zu halten versuchen. Berlin hat eine unglaubliche Attraktivität auf junge Künstler ausgeübt. Die sind in einem Maße hierher gekommen, wie man es nicht für möglich gehalten hat. Das muss auch leben. Die brauchen auch die Möglichkeit, an bestimmte Subventionen heranzukommen. Deshalb ist dieser 20-Millionen-Fonds so außerordentlich wichtig, und wir sollten ihn sehr unterstützen. ({7}) Als Letztes möchte ich sagen: Wir sollten uns damit auch die Möglichkeit erhalten, etwas so Großartiges wie die Jahrhundertinszenierung von Peter Stein von Faust I und II in Zukunft zu unterstützen. Wenn wir hier über die Berliner Kulturpolitik sprechen, dann gibt es da auch ein Trauerspiel, nämlich die Kulturkritik, die nicht begriffen hat, was für eine einzigartige künstlerische und auch Intendantenleistung Peter Stein mit dieser Inszenierung geschaffen hat. Da meine Redezeit zu Ende ist, möchte ich doch wenigstens die Kolleginnen und Kollegen darauf hinweisen, dass sie sich von der Kritik nicht abhalten lassen sollten, sich dieses Stück deutscher Theatergeschichte persönlich anzusehen. Der Bund hat das auch ein bisschen mit gefördert. Es muss aber auch leben im Respekt vor dem Publikum. Das wäre mein letztes Wort, Sie dazu aufzufordern. Danke. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Diese Reklame, meine Damen und Herren, haben wir außerhalb der Redezeit laufen lassen. Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Heinrich Fink, PDSFraktion.

Prof. Dr. Heinrich Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003116, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Namen der Fraktion der PDS möchte ich an dieser Stelle unsere Freude zum Ausdruck bringen, dass es gelungen ist, in dieser so wichtigen Frage eine fraktionsübergreifende Beschlussempfehlung durch den Ausschuss für Kultur und Medien zu verabschieden. Die PDS ist der Auffassung, dass der Bund eine besondere Verantwortung für die Kultur in der Hauptstadt hat, dass er sich zu dieser bekennen und sie - bei Wahrung der originären Verantwortlichkeit des Landes und der Länder - wahrnehmen sollte. Wir halten ein Engagement des Bundes zum Erhalt der außerordentlichen kulturellen Vielfalt in dieser Stadt, die aus der Geschichte erwachsen ist, für erforderlich. In Bezug auf die Folgen der Einheit geht es uns sowohl um den Erhalt und die Weiterentwicklung der überlieferten kulturellen Substanz als auch um das, was an Neuem in verschiedener Trägerschaft nach 1989 entstanden ist. ({0}) Berlin allein ist mit der Aufgabe, diese Vielfalt zu erhalten, überfordert. Das Engagement des Bundes kann und soll aber der Stadt ihre Verantwortung nicht abnehmen. Die PDS begrüßt die Absicht von Bund und Land, einen Vertrag zur Kulturfinanzierung in der Bundeshauptstadt für den Zeitraum bis 2004 abzuschließen. Wir bewerten die mit dem Land erzielte Einigung als einen Schritt in die richtige Richtung. ({1}) Es ist ein Fortschritt, wenn der Bund ein Ensemble spezieller Kultureinrichtungen unterhält, das geeignet ist, eine repräsentative Gesamtdarstellung bundesdeutscher Kultur und Geschichte zu ermöglichen. Die Auswahl der Einrichtungen entspricht weitgehend unseren Vorstellungen. Positiv ist vor allem die Fortsetzung der Förderung im Rahmen des so genannten Hauptstadtkulturfonds. Trotz dieser Fortschritte gibt es aus Sicht unserer Fraktion weiteren konzeptionellen Klärungsbedarf. Die Kriterien der Förderung im Rahmen des Hauptstadtkulturvertrages sollten überdacht werden. Künftig sollte deutlicher zwischen gesamtstaatlichen Aufgaben, die der Bund auch dann zu erfüllen hätte, wenn Berlin nicht Hauptstadt wäre, und hauptstadtbedingten Aufgaben unterschieden werden. Wir könnten uns eine Erweiterung des Engagements des Bundes für solche gesamtstaatlichen Aufgaben durchaus vorstellen, sehen dabei den Weg aber nicht in einer Ausweitung des Hauptstadtkulturvertrages, sondern in der Stärkung der gesamtstaatlichen, teilweise gemeinsam mit den Ländern wahrgenommenen Aufgaben des Bundes in Berlin. In diesem Sinne halten wir auch ein Engagement des Bundes für weitere Einrichtungen, wie zum Beispiel die Staatsoper und das Konzerthaus, für möglich. ({2}) In Bezug auf die kulturelle Situation in Berlin weist unsere Fraktion erneut darauf hin, dass es hier nicht nur strukturelle Probleme gibt. Berlin braucht ein Kulturkonzept und kein Strukturkonzept. ({3}) Was fehlt, ist ein tragfähiges Gesamtkonzept für die Kulturentwicklung dieser Stadt: von den großen Einrichtungen über die freie Szene bis zur gemeinsamen kommunalen Kulturarbeit. Ich lebe seit 1954 in dieser Stadt und bin bekennender Berliner. Für mich ist die Faszination dieser Stadt genau dieser kulturelle Reichtum. ({4}) Ich nenne in diesem Zusammenhang ganz bewusst zwei Namen: Moses Mendelssohn und Daniel Barenboim. Zwischen diesen beiden könnte man viele nennen, die Kultur in Berlin bestimmen. Ich bitte Sie deshalb auch als Bürger dieser Stadt, der Beschlussempfehlung zuzustimmen. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile nun dem Staatsminister Dr. Michael Naumann das Wort.

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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich meine Rede in Erinnerung an einen Menschen beginnen, der gestern gestorben ist und der für das kulturelle Leben dieser Stadt - wie übrigens für die gesamte Bundesrepublik und darüber hinaus - eine ganz maßgebliche und stille Stimme war, der Herausgeber des „Kursbuch“, der Gründer der Wissenschaftsreihe des Suhrkamp-Verlages, einer der Erfinder der später etwas spöttisch hinterfragten und bekrittelten Suhrkamp-Kultur, Karl Markus Michel. Eine seiner Maximen war es: Wenn man über Kultur spricht, soll man seine Stimme nicht erheben. Alles in allem ist uns das heute Abend mehr oder weniger gelungen. Auch ich, obwohl es mir wohl am schwersten fällt und er mich deswegen öfter ermahnt hat, will mich daran halten. Was nun die Versuchung betrifft, etwas lauter zu werden, so nenne ich in diesem Zusammenhang, Herr Lammert - auch ich gratuliere Ihnen herzlich zum Geburtstag -, Ihren Parteikollegen Kampeter, der in den letzten Tagen mehrfach darauf hingewiesen hat, dass die Förderung der Berliner Staatsoper sinnlos, planlos, dilettantisch oder - in Ihren Worten - eine „Schnapsidee“ sei. Darauf möchte ich ganz einfach mit einer keineswegs anekdotisch gemeinten, sondern ernsthaften Schilderung eines Sachverhaltes begegnen, der sich am letzten Sonntag zugetragen hat. In der Staatsoper hörte die Parteivorsitzende der CDU in einem schicken neuen Kostüm - es war froschgrün „Tristan und Isolde“. Dort trafen wir uns. Am Montag rief sie mich an und bat mich, unbedingt etwas zu tun, um den möglichen Weggang von Barenboim, um den Niedergang der Staatsoper, um eine neuerliche Debatte über das angebliche Plattmachen ostdeutscher Künstler, Kapellen und Institutionen zu verhindern, also buchstäblich nach dem Notanker zu greifen. Das wäre dann Ihre „Schnapsidee“. Ich habe ihr antworten können: Sie rennen bei uns offene Türen ein, beim Bundeskanzler, bei der PDS - horribile dictu -, bei der F.D.P. und auch bei mir. Es ging nicht um eine strukturelle, der Stadt Berlin überlassene Förderung der Opernreform, sondern buchstäblich um eine - übrigens im Hauptstadtkulturfonds verstetigte Soforthilfe für die Staatskapelle.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Lammert?

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Ja, gerne.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatsminister, ich lasse einmal außen vor, dass ich den Hinweis auf die Bekleidung des einen oder anderen Opernbesuchers im Sinne der wohl beabsichtigten Beweisführung für ebenso unnötig wie deplatziert halte.

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Es war sehr schick!

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Für mindestens so illustrativ hätte ich es gehalten, wenn Sie die eigene Kostümierung vorgetragen hätten.

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Kein Smoking!

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Für noch weniger passend halte ich, dass ein Gespräch, das zwischen Ihnen und Frau Merkel stattgefunden hat und das, wie ich von ihr weiß, ausdrücklich als vertraulich vereinbart war, von Ihnen heute zum zweiten Mal - erst im Kulturausschuss und jetzt in der Plenardebatte des Deutschen Bundestages - angeführt wird. Was die Sache angeht, bestätige ich Ihnen ausdrücklich, was Sie auch monatelang von uns gehört haben: Wir halten die von Ihnen mehrfach vorgetragene kategorische Weigerung, als Bund eine Verantwortung für die Neuordnung der Berliner Opernszene zu übernehmen, für falsch und unhaltbar. Sie wissen, ohne dass ich Ihnen das noch einmal erläutern muss, dass ich nicht eine Hilfe des Bundes für die Staatsoper für eine Schnapsidee halte, sondern die jetzt vorgesehene Initiative. Denn sie löst keine Probleme, sondern schafft zusätzliche Probleme. Deswegen meine konkrete Frage: Ist über diese einmalige Finanzaktion hinaus - deren haushaltsrechtliche Konstellation Sie ja sicher nachher noch erläutern werden - eine verbindliche, auf Dauer angelegte, vertraglich zu vereinbarende Verbindung des Bundes mit diesem Opernhaus oder mit weiteren Berliner Opernhäusern geplant? ({0})

Not found (Gast)

Was die Vertraulichkeit betrifft, muss ich Ihnen sagen: Es ist normal, dass ich von Politikern angerufen werde und diese hinterher sagen, dass das Gespräch vertraulich gewesen sei. In diesem Fall war das aber nicht so. Es gab also keine Bitte um Vertraulichkeit. Vielmehr war es ein offenes politisches - und im Übrigen sehr heiteres Gespräch, weil wir uns ja beide in der Zielrichtung einig waren. Ich verrate hier also kein Geheimnis. Sie haben es ja auch bestätigt. Jetzt will ich zur eigentlichen Frage kommen, die Sie vorhin gestellt haben. Sie haben völlig zu Recht gefragt, wohin das Geld geht. Der Kultursenator Stölzl hat mir erklärt, dass er eine neue, sowieso geplante Rechtsform der Staatsoper beschleunigen wird, nämlich die Gründung einer GmbH - mit allen Rechten, auch mit einer Eigenbewirtschaftung als Abschied von den zum Teil in Berlin noch vorherrschenden kameralistischen Wirtschaftsprinzipien der Kulturinstitutionen. Mithin ist eine Überweisung aus dem Hauptstadtkulturfonds des Berlin-Kulturvertrags möglich. Diese 3,5 Milliarden DM sind insofern verstetigt, als sie einen Vertrag zwischen zwei föderalen Institutionen - zwischen Bund und Land - betreffen und Personalkosten sind. Der Bund kann mithin nicht eine Teilverpflichtung eingehen, von der er sich im nächsten Haushaltsjahr wieder verabschieden kann. Dadurch ist eine gewisse Kontinuität oder Verstetigung gewährleistet. So viel zu Ihrer Frage, wohin das Geld geht. ({0}) - 2001, 2002, 2003. - Darf ich fortfahren? (Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Jetzt wird es spannend! Da kommt er nicht mehr raus! 2004 werden wir weitersehen, Herr Abgeordneter. Ich habe aber große Hoffnungen und Berlin darf auch hoffen. ({1}) Wir sitzen hier im Deutschen Bundestag, dessen Adresse seit gut einem Jahr „Reichstag Berlin“ heißt. Das ist ein Umstand, den wir Ihnen, den Abgeordneten, zu verdanken haben. Es war eine Gewissensentscheidung, die die vom Volk gewählten Abgeordneten im Juni 1991 getroffen haben. Was die Staatsoper betrifft, sagen Kritiker - zum Beispiel Senator Stölzl, der mir das vorgeworfen hat, als Berlin noch einmal eine Zuwendung bekam -: Wer A sagt, der muss auch B sagen. Ich antworte ihnen: Vielleicht sagt einmal der Finanzsenator Kurth B. Es kann doch nicht wahr sein, dass jedes Mal, wenn die Stadt Berlin vom Bund aus guten Gründen eine Zuwendung bekommt, der automatische, geradezu pawlowsche Reflex ist: „Das ist viel zu wenig. Wie gesagt, wir brauchen mehr.“ Das kann so nicht weitergehen. Zwischen allen Fraktionen im Kulturausschuss bestand deshalb überhaupt kein Zweifel daran, eine hundertprozentige Finanzierung und keine Mischfinanzierung als bevorzugte Form der kulturpolitischen Zuwendungen des Bundes an Berlin anzustreben. ({2}) Herr Lammert, Sie beklagen die Beliebigkeit des Zuschnitts. Der Parameter war aber klar: 80 Millionen DM und nicht mehr. Der Bund hat keineswegs - dieser Mythos wird immer wieder beschworen - versucht, das Philharmonische Orchester zu übernehmen. In meinem Büro waren der Vorsitzende des Vereins der Freunde der Philharmoniker, Simon Rattle, Claudio Abbado sowie die beiden Vorsitzenden des Orchestervorstandes und allesamt wollten sie - aus guten Gründen - zum Bund. ({3}) - Ja, weil wir alle - auch Sie, Herr Lammert - verlässlich sind und uns bemühen, nicht als verlängerter Arm des Bundesfinanzministers wahrgenommen zu werden. In der Folge ist es dazu gekommen, dass Berlin seinen musikalischen Lokalpatriotismus entdeckt und gesagt hat: Die Philharmoniker bleiben bei uns. Das hat uns die Möglichkeit gegeben, dieses Paket einer hundertprozentigen Förderung in harmonischer Absprache mit dem Land Berlin und keineswegs in einem Prozess der Rosinenpickerei zusammenzustellen, sodass alle Beteiligten zufrieden sind. Zu meiner Überraschung fragen Sie nach der neuen Funktion der Festspiele. Meine Aufgabe ist es nicht, Intendant oder - wenn Sie so wollen - der inhaltliche Herr der Festspiele zu sein. Diese Aufgabe wird von dem neuen Festspielleiter wahrgenommen. Er hat eine ausführliche Pressekonferenz gegeben und mit den Mitgliedern des Rats der Künste und einigen anderen Herren gesprochen. Die Ergebnisse dieser Gespräche kann man nachlesen; ich habe keine Schwierigkeiten, Ihnen die entsprechenden Zeitungsausschnitte mit seinen Vorstellungen in Kopie zuzuschicken. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass das Jüdische Museum, die Topographie des Terrors und das Mahnmal sozusagen eine Trias des Gedenkens in Berlin darstellen. Was sagt der Bund nun zur Topographie des Terrors? Tatsache ist, dass sich der Bund seinerzeit gegenüber dem Land Berlin zu einer hälftigen Finanzierung verpflichtet hat. Entsprechende Ansätze sind in den Haushalt eingestellt worden. Allerdings, Herr Lammert, ist dann das geschehen, was Sie und wir alle in Berlin nur allzu gut kennen: Die Baukosten sind in einen inzwischen nicht mehr eruierbaren, geradezu galaktischen Raum der Unbestimmbarkeit entflohen. ({4}) - Herr Lammert, für das Mahnmal trifft das keineswegs zu. Das wissen Sie ganz genau, und ich fände es furchtbar, wenn Sie jetzt diese Diskussion wieder eröffnen wollten. Tatsache ist, dass in Berlin derzeit niemand weiß, was die Topographie des Terrors kosten wird. Ich muss ganz klar sagen: Der Bund wird keine Zusagen machen, solange nicht die architektonische und finanzielle Realisierbarkeit dieses heiklen Gebäudes feststeht. Ich glaube, Herr Lammert, dies ist auch in Ihrem Sinne. Ich hielte es für ungerecht, wenn Sie aus diesen Absichten unsererseits ein Zeichen der Schwäche ableiten wollten. Die kulturelle Förderung für Berlin für die Jahre 2001 bis 2004 lässt sich aus dem Haushaltsplan klar ablesen: 80 Millionen DM jährlich für die direkte Unterstützung wichtiger kultureller Einrichtungen, 23,5 Millionen DM unter der schönen Formel „Förderung hauptstadtbedingter kultureller Maßnahmen und Veranstaltungen in Berlin“. Der Betrag von 103,5 Millionen DM jährlich ist eine stolze Summe. Der Bund ist aber nicht nach Gutsherrenart - wie es oft heißt - bereit, diese Summe für Berlin zur Verfügung zu stellen; er tut dies vielmehr aus dem Bewusstsein heraus, dass erstens die Bundeshauptstadt Berlin das von Herrn Rexrodt völlig zu Recht beklagte historische Erbe und zweitens eine Funktion in der Repräsentation und Darstellung unseres Landes nach innen und außen hat. Dazu kommen weitere erhebliche Mittel aus dem Bundesetat von insgesamt weit über einer halben Milliarde DM jährlich, die der Berliner Kultur zugute kommen. Der Schwerpunkt liegt hier auf der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Sie werden verstehen, dass gerade diese Stiftung, der Masterplan und dieses Projekt der ganze Stolz unserer kulturpolitischen Arbeit der letzten zwei Jahre sind, und zwar nicht im zentralistischen, sondern im föderalistischen Sinne. Dies ist eine Institution, die von Bund und Ländern, inklusive und vor allem von Berlin, unterstützt wird. ({5}) In der Vergangenheit war dieses Bauprojekt, das Sanierungsprojekt, auf die wirklich legendäre Frist von 30 Jahren angelegt. Aber in unserer Regierungszeit ist zum einen eine Veränderung in der Führung in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz möglich geworden, und zum anderen hat sich die Regierung bereit erklärt, sich hier besonders stark finanziell zu engagieren. Da möchte ich durchaus auch einmal den Finanzminister loben und preisen und ihm danken. ({6}) Auch wenn er es mit zusammengebissenen Zähnen tut und wenn es ihm schwer fällt, so muss man doch sagen, dass 20 bis 30 Jahre „documenta“ an keinem Finanzminister spurlos vorbeigehen können. Meine Damen und Herren, das beliebteste Museum Berlins ist die Berggruen-Sammlung. Das können Sie auch an den Besucherzahlen feststellen. Ich glaube, wir alle sind Heinz Berggruen erstens zu außerordentlichem Dank verpflichtet. Zweitens schulden wir ihm aber auch ein paar Momente der Besinnung, wenn ich das sagen darf, Herr Lammert. Heinz Berggruen hat sich entschieden, der Stadt nach einer von uns Deutschen verursachten, keineswegs fröhlichen Exilgeschichte die Früchte seines Geistes, seiner Sammlerleidenschaft, seines Geschicks und dann am Ende doch auch seiner Liebe zu dieser Stadt - vielleicht auch zu Deutschland; ich weiß es nicht zur Verfügung zu stellen, und zwar für eine vergleichsweise lächerliche Summe, die er nicht selber kassiert, sondern die den Pflichtteil seiner Kinder ausmacht. Der wirklich bemerkenswerte Umstand dieser Sammlung ist nicht nur die Schönheit, nicht nur der Wert der Bilder, nicht nur der Geist der Sammlung, der sich gewissermaßen in der einmaligen Kombination von Picassos, Giacomettis, Matisses und Klees widerspiegelt. Die wirkliche Einmaligkeit liegt vielmehr in der Chance beschlossen, dass wir in Deutschland mit dieser minimalen Geste, wenn ich mir den Gesamtetat anschaue, versuchen können, die Geschichte der „entarteten Kunst“, die eine deutsche Geschichte ist, eine Geschichte der Ablehnung, der Zerstörung, der geistigen Dummheit, wiedergutzumachen. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun, Herr Staatsminister, muss ich Sie ganz behutsam auf die Redezeit aufmerksam machen.

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Das ist das Schöne bei der Kultur: Man kann meistens irgendwo in der Mitte aufbrechen, das Podium verlassen, ohne das Gefühl zu haben, man würde sich niemals wieder sehen. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Staatsminister, Sie sollten das, was Sie eben so literarisch dargeboten haben, auch einhalten: Da wir uns alle wieder sehen, auch in anderen Debatten, darf ich mir die Unbotmäßigkeit erlauben, Sie auf Ihre Redezeit hinzuweisen. ({0})

Not found (Gast)

Frau Präsidentin, ich sehe es ja blinken. ({0}) Ich höre jetzt ganz einfach auf, in der Hoffnung, Herr Lammert, Frau Vollmer, Herr Barthel, Herr Fink, dass wir uns bei nächster Gelegenheit in der Sammlung Heinz Berggruen wiedertreffen, zusammen mit dem Sammler, und ihm möglicherweise auch persönlich danken. - Ich danke Ihnen. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Wir kommen zur Abstimmung. Ihnen liegt die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der CDU/CSU zur Hauptstadtkulturförderung - Drucksache 14/4597 ({0}) vor. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. I seiner Beschlussempfehlung die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. II, den Antrag auf Drucksache 14/3182 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Auch diese Empfehlung ist einstimmig angenommen. Ich bitte Sie, noch einen Augenblick aufmerksam zu sein. Damit alles seine Ordnung hat, möchte ich Ihnen, Herr Dr. Lammert, im Namen des gesamten Hauses zu Ihrem heutigen Geburtstag gratulieren. ({1}) Im Übrigen möchte ich an die Adresse der Verwaltung eine Epoche machende Bemerkung richten. Unter der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien, die wir eben verabschiedet haben, steht: Vorsitzender Monika Griefahn. Ich rege an, dass zwischen der Vorsitzenden und dem Vorsitzenden unterschieden wird. Dann wären wir bei der Gleichberechtigung wieder ein Stückchen weiter. ({2}) Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 8 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Entfernungspauschale und zur Zahlung eines einmaligen Heizkostenzuschusses - Drucksache 14/4435 ({3}) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({4}) - Drucksache 14/4631 - Berichterstattung: Abgeordnete Ingrid Arndt-Brauer Jochen Konrad Fromme Carl-Ludwig Thiele b) Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 14/4632 Berichterstattung: Abgeordneter Hans Jochen Henke Hans Georg Wagner Oswald Metzger Dr. Barbara Höll Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel.

Hans Eichel (Minister:in)

Politiker ID: 11003522

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst: Ich wusste eben nicht so richtig, ob ich mich über das Lob von Staatsminister Naumann freuen sollte; denn Lob, insbesondere das von Kulturpolitikern, wird in der Regel teuer. Wenn der Finanzminister gelobt wird, ist mir das immer suspekt. ({0}) Abgesehen davon, gebe ich gern zu: Ich war fünf Jahre lang Kulturdezernent und 15 Jahre lang Vorsitzender des Aufsichtsrates der „documenta“. Herr Staatsminister, das war für meine Vorbereitung auf das Amt des Bundesfinanzministers eher hinderlich. ({1}) Wie gesagt, solche Debatten wie die eben zu Ende gegangene sind mir zwar lieb, aber sie werden auch teuer. ({2}) Nun zu dem Thema, über das ich eigentlich reden möchte: Gewährung einer Heizkostenpauschale und Einführung einer Entfernungspauschale. Ich werde das sehr kurz machen. Der Ölpreis ist in diesem Jahr wie schon in den 70er-Jahren in kurzer Zeit dramatisch angestiegen. Das hat in bestimmten Bereichen soziale Folgen, die nach Meinung der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen so nicht hingenommen werden können. ({3}) Wir wollen eine einmalige Heizkostenpauschale gewähren, weil sich der Preis für Heizöl von einer Heizperiode zur anderen mehr als verdoppelt hat, obwohl die Ökosteuer - ich kenne ja Ihre These, die Sie sicherlich gleich noch vortragen werden - gar nicht auf Heizöl erhoben wird. ({4}) Wir fühlen uns selbstverständlich für diejenigen ein Stück weit verantwortlich, die mit diesem Preisanstieg finanziell nicht zurechtkommen. Das ist für die Sozialhilfeempfänger gesetzlich geregelt. Wir wollen eine ähnliche gesetzliche Regelung auch für die Wohngeldempfänger und die BAföG-Bezieher treffen. Wir wollen, so ist es in der Vorlage vorgesehen, diesen Gruppen die Hälfte der Kosten, die ihnen durch die Verdoppelung des Heizölpreises entstanden sind, erstatten. Aus unserer Sicht ist es in keiner Weise vernünftig, wenn sich Bund und Länder weiter über die Aufteilung der Kosten streiten. Sie entstehen jetzt und müssen auch jetzt bezahlt werden. Sosehr ich - darauf komme ich gleich zurück -Verständnis auch für die Haushaltsnöte der Länder habe: Dieser Streit darf nicht fortgeführt werden. Deswegen bin ich über die Entscheidung der Koalition froh, die Zahlung eines einmaligen Heizkostenzuschusses von der Einführung einer Entfernungspauschale abzukoppeln, indem gesagt wird: Der Bund übernimmt die Kosten für den einmalig gewährten Heizkostenzuschuss. Dadurch kann mit der Auszahlung vor Weihnachten begonnen werden. Das ist ein vernünftiger Weg. Dafür sage ich den Koalitionsfraktionen ausdrücklich: Herzlichen Dank! ({5}) Zur Entfernungspauschale: Dieses Thema spielt in allen Parteiprogrammen eine Rolle. Alle Parteien haben in ihren Programmen die Umstellung vom Kilometergeld auf die Entfernungspauschale gefordert, und zwar mit dem ökologisch richtigen Argument, dass man nicht diejenigen benachteiligen dürfe, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln, also mit vergleichsweise umweltfreundlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren, unabhängig davon, dass viele, die mit dem Auto zur Arbeit fahren, gar keine andere Möglichkeit haben. Es geht ja nicht darum, diejenigen dafür zu bestrafen, sondern darum, diejenigen, die andere Verkehrsmittel - so sie Ihnen zur Verfügung stehen - wählen, nicht zu bestrafen. ({6}) Insofern sage ich zunächst, dass im Hinblick auf dieses Prinzip eigentlich Einvernehmen bestehen müsste. Es ist in allen Parteiprogrammen enthalten. Es steht übrigens da und dort auch in den Koalitionsvereinbarungen der Landesregierungen, so zum Beispiel in Rheinland-Pfalz. ({7}) Nun bleibt nur die Frage nach der Höhe der Entfernungspauschale. ({8}) Vizepräsidentin Anke Fuchs Hier haben wir vor dem Hintergrund der kräftigen Öl- und Kraftstoffpreissteigerungen, die wir in den letzten anderthalb Jahren in der Tat erlebt haben, vorgeschlagen, dass eine Erhöhung von 70 auf 80 Pfennig vorgenommen wird. Meine Damen und Herren, Folgendes ist ein interessanter Vorgang: Ich erinnere daran, dass auch im Steuerreformkonzept der Bundestagsfraktion der CDU/CSU eine Entfernungspauschale enthalten war. ({9}) - Ja, wunderbar. Sehr verehrter Herr Michelbach, die Ökosteuer war ja bereits eingeführt. Da kommen Sie nicht heraus. - Diese Entfernungspauschale betrug 50 Pfennig. Wir wollen den Autofahrern in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen ({10}) - zum Teil sind dort bald Wahlen; dort wird besonders laut gefordert, man müsse etwas für die Autofahrer tun; in anderen, auch in sozialdemokratisch geführten Ländern wird das ebenfalls gesagt ({11}) zu unserer großen Freude einmal ganz deutlich sagen, dass in Ihrem Steuerreformkonzept eine Entfernungspauschale in Höhe von 50 Pfennig vorgesehen war. ({12}) - Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ohne Ökosteuer!) Meine Damen und Herren, so brutal sind wir zu den Pendlern nicht. Auch wir glauben, dass an dieser Stelle angesichts der Entwicklung der Kraftstoffpreise etwas getan werden muss. ({13}) Das aber stößt zu einem Teil auf den Widerstand der Länder - auch auf den sozialdemokratisch geführter -, die argumentieren, ihre Kassen gäben das nicht mehr her. Meine Damen und Herren, im Prinzip habe ich für dieses Argument viel Verständnis. Denn im Zuge der Debatte um die Steuerreform habe ich immer wieder darauf hingewiesen, dass man auch die Länderhaushalte nicht überfordern darf; das ist wohl so. Nur weise ich die Länder darauf hin, dass der Bundeshaushalt schlechter strukturiert ist als alle Länderhaushalte. Diese Aussage muss ich mit einer kleinen Einschränkung versehen: Eine Ausnahme ist der Berliner Haushalt, der eine etwas noch ungünstigere Zinssteuerquote, das heißt, eine relativ höhere Verschuldung aufweist als der Bundeshaushalt. ({14}) Wenn aber der Bundeshaushalt diese Kosten tragen kann - wir wollen das, weil wir sagen, dass hier ein soziales Problem besteht, dem wir uns stellen müssen -, dann ist allerdings nicht einzusehen, warum nicht auch die Länderhaushalte ihren Teil - es gibt ja eine diesbezügliche Regelung im Einkommensteuerrecht - dazu beitragen können, nämlich ihre 42,5 Prozent. ({15}) Vor dem Hintergrund der Entscheidung, dass der Bund bereit ist, die Kosten für den Heizkostenzuschuss vollständig zu übernehmen, ist in Richtung der Länderseite zu apllieren, diesen Bereich nun nicht mehr auf die lange Bank zu schieben, sondern zu einem Ergebnis zu kommen. Wenn wir uns dann im Vermittlungsverfahren befinden, wird es ein konstruktives Mitwirken des Bundes geben. Aber, meine Damen und Herren, an einer Stelle sind die Prinzipien völlig klar: Die Finanzverfassung gilt. Das Einkommensteuerrecht ist in Bezug auf Einnahmen und Ausgaben so zu gestalten, wie es verfassungsmäßig vorgesehen ist. Der Bund und die Länder sind mit je 42,5 Prozent an den Kosten der Entfernungspauschale beteiligt. Dabei muss es bleiben. Deswegen richte ich die herzliche Bitte an die Verantwortlichen in den Ländern, ihre Position vor diesem Hintergrund noch einmal zu überdenken. Wenn der Bund den Heizkostenzuschuss gänzlich übernimmt, ist dies ein starkes Zeichen, das den Ländern deutlich macht: Der Bund ist kompromissbereit; aber die Finanzverfassung gilt. Der Bund legt sich krumm, um die stark gestiegenen Mineralölpreise dort, wo dies erforderlich ist, abzufedern. ({16}) Das muss man dann auch von den Ländern erwarten können. Meine Damen und Herren, deswegen bitte ich auch namens der Bundesregierung um Zustimmung zu diesen beiden Vorhaben. ({17})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat jetzt der Kollege Jochen-Konrad Fromme für die CDU/CSU-Fraktion.

Jochen Konrad Fromme (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003126, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns über die Inschrift für dieses Haus unterhalten. Es wäre besser gewesen, wir hätten ein Schild angebracht, auf dem geschrieben steht: „Reparaturwerkstatt der rot-grünen Regierungskoalition.“ ({0}) Einem Ihrer Reformgesetze folgen mindestens zwei Reparaturgesetze. Ich nenne die Stichworte: Heizkostenpauschale, Entfernungspauschale, Agrardiesel, Steuersenkungsgesetz, Steuersenkungsergänzungsgesetz, die Kirchen, die Aktien und Derivate sowie den Fallenstellerparagraph. ({1}) Sie sollten sich auch bei der Ökosteuer einer Totalreparatur nicht verschließen. Sie sollten sagen: Wir schmeißen sie über Bord; Abschaffung ist das einzig Richtige. ({2}) Sie wollen uns damit einfangen, dass Sie Gesetzentwürfe einbringen, die den Menschen etwas vermeintlich Gutes bringen, indem Sie ihnen eine bessere Entfernungspauschale und eine Heizkostenpauschale gewähren. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Sie wollen damit verschleiern, dass Sie die Ursache dafür geschaffen haben, dass die Kraftstoffpreise so gestiegen sind. ({3}) Sie argumentieren, der Anstieg der Rohölpreise sei dafür verantwortlich. ({4}) Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn Sie ständig die Abgaben auf den Verbrauch von Rohöl erhöhen, dann ist das eine Einladung an die Scheichs, auch ihre Preise zu erhöhen. Deshalb ist die Ökosteuer ein Treibsatz in Bezug auf die Heizöl- und Benzinpreise, nichts anderes. ({5}) Die OPEC hat ja im Zusammenhang mit der Erhöhung der Fördermenge eine Steuersenkung gefordert. Wir werden sehen, was da kommt. Es gibt noch etwas Wichtiges, das Sie mit zu verantworten haben, und zwar das Sinken des Euro-Kurses. Wenn sich der Kanzler der wichtigsten Volkswirtschaft in Europa hinstellt und sagt, ein niedriger Euro-Kurs sei ihm im Interesse des Exportes recht, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn die Welt den Euro so schlecht bewertet. ({6}) Die Quittung dafür werden Sie bekommen; die Quittung ist nämlich eine Steigerung der Inflationsrate in unserem Land. Wenn Sie einmal betrachten, dass wir im Monatsvergleich inzwischen bei einer Inflationsrate von 2,5 Prozent sind, dann werden Sie merken, was das für uns und was das insbesondere für die kleinen Leute bedeutet. Und das ausgerechnet von der SPD! ({7}) An der Ökosteuer wird die Politikmethode dieser Koalition doch recht deutlich: Such dir ein sympathisches Thema - ich tue etwas für die Umwelt, ich will die Rentenbeiträge senken -, vergiss dein Versprechen von gestern - „6 Pfennig Ökosteuer sind genug“; „nur im Rahmen von Europa gibt es Weiteres“ - und gib einigen Menschen unter einer anderen Überschrift - damit ja keiner merkt, dass das miteinander zusammenhängt - wieder ein Stück von dem zurück, was du ihnen genommen hast. In Wahrheit bleibt man aber unter dem Strich bei einem großen Opfer, das die Menschen aufbringen müssen. Meine Damen und Herren, das ist „linke Tasche, rechte Tasche“, aber doch keine vernünftige Politik. Sie nehmen den Menschen auf Dauer mehr, als Sie ihnen geben. ({8}) So ist das doch auch bei der Ökosteuer und der Entfernungspauschale bzw. dem Heizkostenzuschuss: Erst haben Sie die Preise hochgetrieben und dann geben Sie ein Stück weit etwas zurück. ({9}) Am Ende bedeutet das, dass Sie mit Ihren Reparaturmaßnahmen - abgesehen davon, dass sie völlig ungeeignet sind - auch noch eine riesige Bürokratie erzeugen, die keine Gerechtigkeit bringt. Denn was ist denn mit der Rentnerin, die sich mit einer kleinen Wohnung bescheidet, für die sie kein Wohngeld benötigt? - Sie hat wegen der gestiegenen Heizölpreise höhere Heizkosten, bekommt aber keinen Ausgleich dafür. ({10}) Sie verfahren nach dem Motto - Herr Finanzminister, das muss man einmal deutlich sagen -: Der Bund kassiert die Mineralölsteuer allein. An der Reparaturmaßnahme sollen sich dann die Länder und die Gemeinden beteiligen. So kann es nicht gehen. ({11}) Weil Sie merken, dass Sie die Rechnung ohne den Wirt Bundesrat gemacht haben, haben Sie Ihre Vorhaben jetzt plötzlich in zwei Gesetzentwürfe aufgeteilt. Sie übernehmen den kleineren Teil der Kosten, weil Sie meinen, Sie könnten damit den Druck auf die Länder erhöhen. Ich hoffe, dass die Länder hart bleiben und Ihnen einen Strich durch die Rechnung machen. So kann das nicht gehen. Entweder kassieren wir alle - dann müssen wir alle uns auch an der Entlastung beteiligen - oder nur der Bund kassiert und trägt die Kosten für die Entlastung allein. Die Ökosteuer war schon im Ansatz völlig falsch. ({12}) Sie haben eine Verbindung zwischen einer Lenkungsabgabe und einer Daueraufgabe gesucht. Eine Lenkungsabgabe hat das Ziel, den Verbrauch zu senken. Wenn ihr Ziel erreicht würde, würde das bedeuten, dass das Aufkommen aus der Ökosteuer eines Tages null wäre. Nur dann wäre sie als Lenkungsabgabe geeignet. ({13}) Auf der anderen Seite wollen Sie mit dieser Abgabe die Daueraufgabe der Finanzierung der Renten lösen. Sie produzieren ein Haushaltsloch. Ihre Politik ist es doch, nur das Heute, aber nicht das Morgen zu sehen. So kann es wirklich nicht gehen. ({14}) - Wir machen deshalb eine Anhörung, damit jedermann deutlich wird, welchen Mist - um Ihr Wort aufzugreifen Sie hier angerichtet haben. ({15}) Eines haben Sie mit der Ökosteuer allerdings erreicht: ein rapides Ansteigen der Energiepreise für Heizöl, Strom und Gas. ({16}) Das ist klar. Wenn Sie Ihre eigene Koalitionsvereinbarung ernst genommen hätten, dann hätten Sie Ihr Ziel erreicht und dann müssten Sie schon aus diesem Grunde die Ökosteuer abschaffen. Aber das tun Sie natürlich nicht. Sie wollten über die Ökosteuer Arbeitsmarkteffekte erzielen. Messbare Wirkungen - das hat die Anhörung ergeben gibt es nicht. Die statistischen Verbesserungen rühren wohl eher von Ihren statistischen Tricks im Umgang mit den 630-Mark-Beschäftigungen als daher, dass auf diesem Gebiet wirklich etwas geschehen ist. ({17}) Aus der doppelten Dividende, die Sie den Menschen versprochen haben, ist ein doppeltes Opfer geworden. Die Menschen bekommen 300 DM mehr; gleichzeitig muss beispielsweise ein durchschnittlicher Haushalt zusätzlich 1 000 DM zahlen. Was ist mit den Rentnern, mit den Arbeitslosen und mit den Sozialhilfeempfängern, die durch Ihre Maßnahmen nicht entlastet werden? Es werden lediglich Berufspendler und Wohngeldempfänger entlastet. ({18}) Wenn Sie es mit Ihrem ökologischen Ansatz ernst gemeint hätten, dann hätten Sie beim Schadstoffausstoß und nicht einfach beim Verbrauch einer Menge anknüpfen müssen. ({19}) Wenn es Ihnen um den ökologischen Ansatz gegangen wäre, dann hätten Sie den Kernkraftstrom steuerfrei stellen müssen; stattdessen steigen Sie aus dieser relativ umweltschonenden Form der Energieerzeugung völlig aus. Sie erreichen mit Ihrer Politik das Gegenteil von dem, was Sie unter ökologischen Gesichtspunkten erreichen wollen. Wenn Sie die deutsche Wirtschaft im Alleingang mit einer Ökosteuer belasten, dann steigen die Kosten. Das bedeutet: Ausländische Produkte werden wettbewerbsfähiger und die Menschen kaufen diese ausländischen Produkte, die - im Vergleich zu den im Inland erzeugten Produkten - mit mehr Energie und im Rahmen schlechterer Umweltbestimmungen erzeugt werden. ({20}) Es ist völlig systemwidrig, wenn Sie etwas gegen den Schadstoffausstoß tun wollen und dabei die Großbetriebe außer Acht lassen. ({21}) Dazu waren Sie unter Wettbewerbsgesichtspunkten natürlich gezwungen; aber es macht doch deutlich, dass Ihnen von Anfang an klar war, dass Ihre Ökosteuer ein völlig falscher Ansatz ist. Ihre Art von Ökosteuer ist eine einzige Bereicherung für den Staat. ({22}) Allein durch die 33 Milliarden DM, die die Wirtschaft und die Menschen für ihre Energieversorgung mehr aufwenden müssen, entstehen zusätzliche Einnahmen im Rahmen der Mehrwertsteuer in Höhe von 4,2 Milliarden DM, die nicht eingeplant waren und die Sie einfach einsacken. ({23}) - Ich brauche nicht rot zu werden. Außerdem bin ich schwarz bis in die Seele. ({24}) Des Weiteren verwenden Sie das vollständige Ökosteueraufkommen gar nicht zur Senkung der Rentenbeiträge. ({25}) Ich verweise nur auf das, was das Karl-Bräuer-Institut in der Anhörung am Mittwoch dieser Woche sehr eindrucksvoll dargetan hat: ({26}) Sie stecken zwar einen Großteil der Einnahmen in den Rententopf; aber gleichzeitig nehmen Sie an anderer Stelle aus dem Rententopf Milliarden heraus, sodass keine Senkung in vollem Umfang stattfindet. Wäre dies nämlich geschehen, dann hätten Sie den Rentenbeitrag auf 17,9 Prozent senken können. ({27}) Ich zitiere mit Erlaubnis der Frau Präsidentin aus dem Gutachten des Karl-Bräuer-Instituts: Im Ergebnis fließen vom kumulierten Mehraufkommen aus den weiteren Stufen der „Ökosteuer“-Reform ab 2000 ({28}) netto weniger als 40 % zusätzlich an die Rentenversicherung. Die übrigen Mittel dienen überwiegend dem Ausgleich von Mindereinnahmen der Rentenversicherung, die wiederum aus Kürzungen im Bundeshaushalt resultieren. Da der Saldo der zusätzlichen Zahlungen des Bundes an die Rentenversicherung geringer ist als die Summe seiner zusätzlichen Einnahmen aus der Fortführung der „Ökosteuer“-Reform, fällt auch die Entlastung der Beitragszahler notwendigerweise geringer aus ... Das ist die Wahrheit. ({29}) Sie gehen schlicht und einfach nach dem Motto vor: Die Vorgänge sind so kompliziert, dass sie keiner durchschaut; deswegen kann ich Nebelkerzen werfen, indem ich den Topf an der einen Stelle auffülle und an anderer Stelle etwas aus ihm herausnehme. ({30}) Diese Steuererhöhungen sollen weitergehen. Herr Trittin hat schon gesagt, dass die Ökosteuer auch nach 2003 steigen muss. Sie nähern sich planmäßig Ihrem Ziel von 5 DM pro Liter Benzin. Das ist gegen die Menschen in diesem Lande gerichtet. Deswegen fordere ich Sie noch einmal auf: Nehmen Sie von diesem Unsinn Abstand! Folgen Sie unserem Antrag auf vollständige Abschaffung der Ökosteuer! ({31}) Auch die Wirtschaftsinstitute, meine Damen und Herren, haben eine Reform der Ökosteuer gefordert. Aber eine Reform hat überhaupt keinen Sinn; hier hilft nur eine Totalreparatur. Wir wissen es auch: Auch der Bundeskanzler ist gegen die Ökosteuer. Er traut sich nur nicht wegen seines Koalitionspartners, das zu sagen. ({32}) Deshalb fordere ich den Bundeskanzler auf, dass er hier einmal „Basta!“ sagt. Dabei sollte er allerdings ein wirkungsvolles Konzept in der Hand haben; vielleicht nimmt er ja unser Konzept auf. ({33}) Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({34})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile nun das Wort der Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/Die Grünen.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte schon fast Entzugserscheinungen bekommen. Nun bin ich aber froh, dass uns die CDU/CSU wieder einmal zum wöchentlichen Ökostammtisch einlädt. ({0}) Versammeln wir uns also fröhlich! Leider gibt es auf diesem Stammtisch nur Selters. ({1}) Ein anständiges Bier wäre mir lieber. ({2}) Ich verstehe ja, liebe Kolleginnen und Kollegen und lieber Herr Fromme, dass Sie seit zwei Jahren auf der Suche nach Ihrer neuen Rolle sind. Ich verstehe aber wirklich nicht, dass Sie das Heil Ihrer Partei nur noch in systematischer Volksverdummung und in Stammtischparolen suchen. Sie, Herr Fromme, haben uns heute ein perfektes Beispiel dafür geliefert. Langsam macht es uns Sorgen, in welche Richtung Sie hier argumentieren. ({3}) Eigentlich hatten wir, nachdem Ihre Fraktion noch in der letzten Woche zur Klimakonferenz in Den Haag einen relativ verantwortungsbewussten Antrag gestellt hat, gedacht, dass die Kollegen vielleicht doch noch einmal zum Nachdenken kommen und merken, dass der Weg weg vom Öl sowohl aus Klimaschutzgründen als auch aus Gründen der Endlichkeit des Rohstoffes eingeschlagen werden muss. Heute habe ich wieder gemerkt, dass Ihr Antrag nur so eine Art Flyer für verantwortungsbewusstes Reden in der einen Sitzungswoche war, Sie in der nächsten Sitzungswoche dann aber wieder praktisch auf Stammtischniveau diskutieren wollen. Ich würde Sie bitten, einmal darüber nachzudenken, wie Ihre politische Linie aussehen soll. Ich möchte jetzt doch zur Tagesordnung sprechen, was Sie offenbar nicht für nötig gehalten haben. ({4}) Alle wollten die Entfernungspauschale, auch Sie, wie uns unser Minister eben berichtet hat. Nun führen wir sie ein. Sie und 13 Millionen Berufspendler werden Nutznießer dieser Regelung und endlich auch diejenigen, die mit Bahn, Bus und Fahrrad fahren. ({5}) Man muss Sie immer wieder auf Ihre eigenen Beschlüsse verweisen. Ich verstehe überhaupt nicht, warum Sie heute gegen die Entfernungspauschale polemisieren. ({6}) Ich würde ja verstehen, wenn Sie jetzt sagen würden, Sie wollten statt der 80 Pfennig lieber eine Entfernungspauschale von 50 Pfennig, die Sie damals gefordert hatten. Dafür hätte ich als Grüne sogar eine gewisse Sympathie. Obendrein hätte ich endlich das Gefühl: Die Partei bleibt wenigstens einmal in einem Punkt ihren alten Beschlüssen treu. Aber nein, Sie müssen ständig Ihre alten Positionen räumen, weil Sie nicht mehr wissen, was Sie der Gesellschaft eigentlich vermitteln wollen. Beim Heizkostenzuschuss muss ich Sie auch noch auf einen Punkt aufmerksam machen: Es geht nicht nur um einen Heizkostenzuschuss für Wohngeld- und BAföGEmpfänger, was ja alleine schon toll wäre. Vielmehr werden wir hier heute mit unserer Mehrheit beschließen, dass auch andere Haushalte mit dementsprechend niedrigem Einkommen den Heizkostenzuschuss bekommen können. Deswegen sind hierfür mittlerweile 1,4 Milliarden DM veranschlagt. - Ich bitte Sie, Herr Fromme, das zur Kenntnis zu nehmen, damit Sie nicht auf dem nächsten Stammtisch wieder falsche Parolen verbreiten, sondern endlich auch einmal selbst über die Sachverhalte informiert sind und weitere Kolleginnen und Kollegen informieren können. Das könnte Ihren Wählern eigentlich nur gut tun. Dass das Geld hierfür vom Bund aufgebracht wird, sollten nicht nur Sie registrieren und entsprechend positiv bewerten, sondern auch die Länder. Von daher würde ich schon gerne wissen, wie Sie es Ihren Wählern vermitteln wollen, dass Sie gegen diese Heizkostenpauschale stimmen. Offenbar gönnen Sie sie den Menschen nicht. ({7}) - Ach, Sie haben die bessere Alternative? Ich habe ja eben gemerkt, wie Ihre Alternative aussieht. So ganz hat zumindest mich das nicht überzeugt. ({8}) Ich möchte noch zu einem weiteren Punkt etwas sagen, damit wir nicht nur auf dem jetzigen Niveau diskutieren. Es ist ein toller und wichtiger Schritt, wie ich finde, dass wir heute diese beiden Entscheidungen hier fällen. Das gilt insbesondere für den Umstieg von der Kilometerpauschale auf die Entfernungspauschale. Ich möchte aber eines feststellen, was gerade mir als Stadtplanerin und für die Stadtentwicklungspolitik Engagierte wichtig ist: Bei allem Verständnis für die Berufspendler glaube ich, dass wir längerfristig schon dahin kommen müssen, dass wir nicht einseitig mit der Entfernungspauschale - denn sie wirkt da letztlich genauso wie die Kilometerpauschale - die weitere Zersiedlung unserer Landschaft vorantreiben. ({9}) Vielmehr müssen wir eine Gleichheit zwischen den Bewohnern des ländlichen Raums und denen, die in der Stadt wohnen, die Verkehrslärm, Verkehrsgefahren, Emissionen usw. täglich überstehen müssen und für die das Wohnen teurer ist als für diejenigen, die auf dem Land leben, herstellen. Von daher möchte ich - nicht unbedingt in dieser Legislaturperiode, aber langfristig -, dass wir eine Diskussion über ein schrittweises Zurückführen der Entfernungspauschale führen, um Gerechtigkeit zwischen Fernpendlern und Stadtbewohnern, für die weniger Verkehrsbelastung entsteht, wieder herzustellen. Danke schön. ({10})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt erteile ich Kollegin Professor Gisela Frick für die F.D.P.-Fraktion das Wort.

Prof. Gisela Frick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002656, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Fromme, Sie können sich vorstellen, dass ich Ihnen gern zustimmen würde, wenn Sie sagen, das sei ein einziger Reparaturbetrieb, was uns hier in den beiden Gesetzentwürfen vorgelegt wird. ({0}) Aber Reparaturen sollen ja etwas verbessern, und insofern kann ich diesen Begriff leider nicht übernehmen; denn das, was uns hier in den beiden Gesetzentwürfen vorliegt, ist jedenfalls in meinen Augen und in den Augen meiner Fraktion nur eine Verschlimmbesserung, ({1}) mit der alle die Fehler, die mit der Ökosteuer gemacht worden sind, nicht etwa beseitigt, sondern noch verschlimmert worden sind. Zunächst einmal zum Lenkungscharakter, zum umweltpolitischen Ansatz dieser Steuer. Wir haben es eben von Kollegin Eichstädt-Bohlig gehört: Für diese Funktion ist die Entfernungspauschale schlicht und einfach zu hoch. Wir haben in unserem Einkommensteuerreformgesetz eine Entfernungspauschale vorgesehen, die wesentlich geringer war und im Übrigen den Nahbereich von 15 Kilometern nicht berücksichtigte. Das ist ein riesiger Unterschied. ({2}) Die Entfernungspauschale ist deshalb zu hoch, weil sie vielleicht bei den Autofahrern gerade einmal die höheren Kosten deckt, aber alle anderen, die andere Verkehrsmittel benutzen, natürlich eine Gießkanne bedeutet, mit der Wohltaten ausgeschenkt werden, die in keiner Weise zu begründen sind. ({3}) Das ist der eine Punkt. Die sozialpolitische Seite, die Sie immer so betonen, ist erst recht verfehlt. Damit rächt sich natürlich auch der Konstruktionsfehler Ihrer Ökosteuer. Wir können nicht mit der Rentenfinanzierung umweltpolitische Ziele verknüpfen. Das klappt nicht; das hat Herr Kollege Fromme sehr deutlich ausgeführt. ({4}) Das haben beide Herbstgutachten, sowohl das der fünf Wirtschaftsweisen als auch das der Wirtschaftsinstitute, ganz deutlich festgestellt. Diese Konzeption ist verfehlt; denn es besteht eine große Asymmetrie zwischen denjenigen, die durch die Ökosteuer belastet werden, und denen, die - von einer Senkung kann man ja kaum sprechen - von dem Einfrieren der Beiträge zur Rentenversicherung profitieren. ({5}) Wir haben das hier schon x-mal gesagt; aber ich wiederhole es noch einmal: Von dieser Entlastung profitieren nicht die Rentner, die Studenten, die Arbeitslosen und auch nicht die einkommensschwachen Familien. Wenn Sie jetzt an der Entfernungspauschale herumdoktern, dann erwischen Sie die Gruppe der Arbeitnehmer, diejenigen, die Arbeit haben, die wenigstens in etwa eine gewisse Entlastungswirkung durch Ihre Konzeption der Ökosteuer in Verbindung mit der Rentenfinanzierung haben. Nur die begünstigen Sie. Alle anderen entlasten Sie nicht. ({6}) Das heißt, alle anderen Personengruppen haben überhaupt nichts davon, dass die Entfernungspauschale angehoben wird, sodass wir sagen können: Sie ist nicht nur umweltpolitisch, sondern auch sozialpolitisch verfehlt. ({7}) Insofern ist es ganz konsequent, dass wir jetzt sagen: An dieser Stelle ist die Entfernungspauschale, die wir dem Grunde nach durchaus bejahen, in der von Ihnen vorgelegten Form ganz eindeutig und klar abzulehnen. ({8}) Das Gleiche gilt übrigens auch für den einmaligen Heizkostenzuschlag. Was soll denn ein einmaliger Heizkostenzuschlag? Als Juristin, als Verfassungsrechtlerin, habe ich Probleme damit, dass so etwas in einem eigenen Gesetz geregelt werden soll; denn eigentlich ist das ein Haushaltsansatz. Wir brauchen kein generell abstraktes Gesetz dazu, um einen solchen einmaligen Heizkostenzuschlag einzuführen. ({9}) - Ja, Wahrscheinlich noch früher, nehme ich einmal an. Schon das ist bedenklich. Aber gut, ich setze mich über die Bedenken hinweg und widme mich dem Inhalt: Gezahlt werden soll dieser einmalige Heizkostenzuschuss nur an die Menschen, die sowieso schon staatliche Transferleistungen erhalten. Warum erhöht man denn nicht die Transferleistungen, wenn man sieht, dass der Bedarf höher ist? ({10}) Warum macht man hier nur eine einmalige Geschichte? ({11}) - Herr von Larcher, ich kann das an Sie weitergeben. Ich freue mich über das Bedauern in Ihrer Stimme. Leider wird mir schon signalisiert - denn ich habe nur eine sehr kurze Redezeit -, dass ich zum Ende kommen muss. Der Heizkostenzuschuss als einmaliger Zuschuss ist umweltpolitisch und sozialpolisch total verfehlt. ({12}) Deshalb müssen wir auch diesem eine Absage erteilen. Danke schön. ({13})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Ostrowski, PDS-Fraktion.

Christine Ostrowski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001662, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine Tochter kostete das Auffüllen ihres Gastanks 2 300 DM, fast 1 000 DM mehr als im vergangenen Jahr. Sie hat kein üppiges Einkommen und muss sowieso schon ungefähr 50 Prozent davon für die Wohnkosten zahlen. Sie arbeitet in Schicht und ihr Arbeitsort ist mehrere Kilometer von ihrem Wohnort entfernt. Der Heizkostenzuschuss und die Entfernungspauschale helfen ihr also über das Schlimmste hinweg; das ist zunächst erst einmal so. Das hilft nicht nur ihr. Beim Heizkostenzuschuss betrifft es ungefähr 5 Millionen Menschen und bei den Pendlern ungefähr 13 Millionen. Schon allein aus diesem Grund wird die PDS den beiden Gesetzentwürfen zustimmen. ({0}) Ich wundere mich wirklich - ich finde Ihre Argumente bezüglich der Ökosteuer zynisch und im Übrigen abgelutscht -, dass Sie diesen beiden Maßnahmen, die Verbesserungen für Millionen von Menschen bringen, nicht zustimmen. Machen Sie das bitte mit sich selbst und mit Ihrer Wählerschicht aus. ({1}) - Unsere Position zur Ökosteuer kennen Sie. Wir halten sie ebenfalls für unsozial und für nicht ökologisch. ({2}) Das hindert uns aber nicht daran, einer Verbesserung, die Millionen Menschen zugute kommt, zuzustimmen. ({3}) Trotzdem ist auch bei uns nicht nur Jubel angesagt. Was den Heizkostenzuschuss anbelangt, so müsste er eigentlich - das hat der Mieterbund berechnet - nicht bei nur 5 DM liegen, sondern bei 9 DM. Die Einmaligkeit des Zuschusses - da haben Sie Recht, Frau Frick - ist ein Problem. Aber das eigentliche Problem liegt ganz woanders: Was kann ein Mieter oder Hauseigentümer dafür, dass die Weltwirtschaft vom Öl abhängig ist? Was kann er für die Preispolitik der Ölkonzerne? Er muss den Preis zahlen, er ist der Letzte in der Kette, er ist ihnen ausgeliefert. In anderen Fällen ist er beispielsweise kommunalen Versorgungsbetrieben oder Kommunen ausgeliefert. Von 17 Positionen im Bereich der Wohnnebenkosten kann der Mieter keine einzige Position allein beeinflussen; nur sieben kann er mit beeinflussen. Es muss Schluss sein - das könnte ein Signal sein - mit der Tatsache, dass der Mieter Kosten zu bezahlen hat, die er nicht verursacht hat und die er entweder gar nicht oder nur gering beeinflussen kann. Ich fordere Sie aus diesem Anlass dringend auf, die so genannte zweite Miete einer grundlegenden Neuordnung zuzuführen. Sie haben das beispielsweise bei der Mietrechtsreform versäumt. Zur Entfernungspauschale: Die Umwandlung ist klar, sie steht in allen Parteiprogrammen. Die PDS hatte dies übrigens schon 1995 hier eingebracht; dies wurde damals abgelehnt. Das Gute an der Entfernungspauschale ist, dass sie alle Pendler gleichstellt, egal, ob sie das Auto, das Fahrrad oder den öffentlichen Nahverkehr benutzen. Man kann hoffen, dass es dadurch vielleicht in geringem Maße zu einem Umsteigen auf den öffentlichen Nahverkehr kommt. Auch das Schummeln wird sich vielleicht etwas legen. Sie haben unseren Entschließungsantrag gelesen. Manche wundern sich, dass wir diese beiden so überschaubaren Maßnahmen zum Anlass nehmen, hier einen sehr komplexen Antrag bezüglich einer ökologischen Verkehrswende einzubringen. Wir unterscheiden uns da eben von Ihnen. Sie meckern hier nur und hacken auf der Ökosteuer herum, ({4}) wohingegen wir die Ökosteuer ebenfalls grundlegend kritisieren, den beiden jetzt vorgesehenen Maßnahmen aber zustimmen und trotzdem gleichzeitig ein umfassendes Konzept vorlegen, ({5}) nach dem beispielsweise, Frau Eichstädt-Bohlig, die Entfernungspauschale in späteren Jahren zurückgeführt werden kann, damit sie eben nicht als Zersiedlungspauschale wirkt. ({6}) Die Entfernungspauschale allein bremst nicht das Anwachsen des Autoverkehrs und bringt dem öffentlichen Verkehr keinen Vorrang. Sie löst auch nicht das Desaster der Bahn und schafft kein Investitionsprogramm für die Schiene. Deshalb fordern wir Sie mit unserem Antrag auf, die gegenwärtige Situation zu nutzen, um diese Schritte endlich anzugehen. Zuletzt ein sehr erfreulicher Punkt. Die PDS hatte als erste und übrigens als einzige Fraktion im Haushaltsausschuss schon vor Wochen beantragt, dass der Heizkostenzuschuss allein vom Bund bezahlt wird. Wir mussten uns für diesen Antrag beschimpfen lassen - das sind wir ja gewöhnt - und er wurde abgelehnt. ({7}) Jetzt machen Sie es doch. Das finde ich hervorragend. ({8}) Ich würde Ihnen aber empfehlen, es auf direktem Wege zu machen, indem Sie unserem Entschließungsantrag zustimmen. Vielen Dank. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Als Letzter in dieser Debatte erteile ich das Wort der Kollegin Ingrid ArndtBrauer von der SPD-Fraktion.

Ingrid Arndt-Brauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003422, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, wir haben heute ein inhaltlich sehr überschaubares und leicht verständliches Gesetz vor uns. ({0}) Deshalb brauche ich nicht mehr viel dazu zu sagen. Ich möchte aber noch ein paar Worte auf meine Vorredner bzw. Vorrednerinnen verwenden. Es hat mich nicht überrascht, dass Herr Fromme wieder auf die Ökosteuer zu sprechen kam. ({1}) - Ja, das war zu erwarten. - Ich darf in diesem Zusammenhang kurz Klaus Töpfer zitieren, der gesagt hat: Wer die Ökosteuer als K.o.-Steuer bezeichnet, hat es nicht verstanden. - Ich möchte dieses Zitat nicht auf Sie persönlich anwenden; aber ich denke, dass es aussagekräftig ist. ({2}) Sie haben von einem Reparaturbetrieb gesprochen. Das trifft in gewisser Weise zu. Aber ich denke, es liegt daran, dass wir eine Baustelle von Ihnen übernommen haben, wobei die Grundmauern leider schon standen. Wir konnten es prinzipiell nicht anders bauen, als es von Ihnen angefangen wurde. Ich will nicht alles aufführen, was wir von Ihnen übernommen haben. ({3}) Wir werden versuchen, das Beste daraus machen. ({4}) Ihr Rundumschlag, angefangen bei den 630-Mark-Jobs bis hin zur Ökosteuer, war deshalb nicht ganz gerechtfertigt. Ich möchte Ihr Wahlprogramm zitieren - dieser Punkt ist eben schon angesprochen worden -, in dem steht, dass es eine Entfernungspauschale von 50 Pfennig ab 15 Kilometern geben soll. ({5}) Ich als Münsterländer Radfahrerin und Abgeordnete wäre damit durchaus einverstanden. Aber die Bürger des Münsterlandes, die als Pendler weite Strecken zurücklegen müssen und die mich ebenfalls in den Bundestag gewählt haben, um die Interessen dieser Region zu vertreten, können damit leider nicht leben. Deswegen ist es sinnvoll, dass wir die Entfernungspauschale auf 80 Pfennig festlegen. ({6}) Das müsste für Sie eigentlich nachvollziehbar sein, weil Sie teilweise ebenfalls aus ländlichen Regionen kommen und von den Menschen dort ähnliche Beschwerden hören können. Über die Höhe der Entfernungspauschale kann man streiten. Aber was ich nicht verstehe, ist Ihre Weigerung, dem Heizkostenzuschuss zuzustimmen. ({7}) Wenn ich ein wenig mehr Redezeit hätte, würde ich eine Gedenkminute einlegen, in der Sie einmal an zwei oder drei kleine Leute, wie Sie sagen, aus Ihrem Wahlkreis denken können, ({8}) die Sie in den nächsten Wochen fragen werden: Warum seid ihr eigentlich dagegen? Das Problem ist das Folgende: Sie reden immer von der Ökosteuer auf dem Heizöl. Wir haben einmalig 4 Pfennig draufgeschlagen. ({9}) Bei einer Tankfüllung für eine Wohnung oder ein kleines Haus von 2 000 Litern würde sich eine Ersparnis von 80 DM ergeben, wenn wir die Erhöhung um 4 Pfennig zurücknehmen würden. Wir aber geben den Leuten wesentlich mehr. ({10}) Wir geben ihnen 5 DM Zuschuss pro Quadratmeter. Für Studenten und Sozialhilfeempfänger macht dies im Durchschnitt 300 DM aus. ({11}) Auch den Menschen, die weder Wohngeld noch Sozialhilfe empfangen - dazu gehört die Rentnerin, die Sie eben erwähnt haben -, geben wir einen Zuschuss. ({12}) - Nein, das ist nicht richtig. Sie wissen selber, dass die Ökosteuer keinen Einfluss auf die Entscheidungsprozesse der OPEC hat. ({13}) - Wie meine Kollegin gerade sagt: 80 DM sind weniger als 300 DM. Der durchschnittliche Heizkostenzuschuss, den die Sozialhilfeempfänger bekommen, beträgt 300 DM. ({14}) Die Anzahl der Haushalte von Sozialhilfeempfängern beträgt 1,5 Millionen. Sie bekommen, wie gesagt, im Durchschnitt 300 DM Heizkostenzuschuss.Da dieser auf die Sozialhilfe angerechnet wird, kommt er nicht den Sozialhilfeempfängern direkt - sie zahlen die Miete und die Heizkosten ja nicht -, sondern den Kommunen zugute. Das heißt, die Kommunen werden durch unseren Bundeszuschuss um 450 Millionen DM entlastet. ({15}) - Nein, sie müssen uns nicht auf Knien danken. Denn wir tun hier unsere Arbeit. Wir tun sie, so gut wir können. ({16}) Es wäre schön, wenn Sie uns gerade bei diesem Vorhaben unterstützen würden. Ich denke, das würde auch Ihrer Klientel und Ihren Wählern gut tun. ({17})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Einführung einer Entfernungspauschale und zur Zahlung eines einmaligen Heizkostenzuschusses, Drucksache 14/4435. Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4631, den Gesetzentwurf in den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Entfernungspauschale in der Fassung der Anlage 1 der Beschlussempfehlung und in den Entwurf eines Gesetzes zur Gewährung eines einmaligen Heizkostenzuschusses in der Fassung der Anlage 2 aufzuspalten und diese beiden Gesetzentwürfe anzunehmen. Wir stimmen zunächst über den Gesetzentwurf zur Einführung einer Entfernungspauschale in der Ausschussfassung, Drucksache 14/4631, Anlage 1, ab. Ich bitte diejenigen, die diesem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ist der Gesetzentwurf damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. ({0}) Gegenprobe! ({1}) Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf zur Ge- währung eines einmaligen Heizkostenzuschusses in der Ausschussfassung, Drucksache 14/4631, Anlage 2, ab. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ist der Gesetzentwurf in zwei- ter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. ist der Gesetzentwurf damit an- genommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Ent- schließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/4650. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. ist der Ent- schließungsantrag abgelehnt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und b auf: 9 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge und zur Änderung und Aufhebung arbeitsrechtlicher Bestimmungen - Drucksache 14/4374 ({2}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Karl-Josef Laumann, Dr. Maria Böhmer, Rainer Eppelmann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Fortbestand befristeter Arbeitsverhältnisse - Drucksache 14/3292 ({3}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Irmgard Schwaetzer, Rainer Funke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Intensivierung der Beschäftigungsförderung - Drucksache 14/4103 ({4}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({5}) - Drucksache 14/4625 - Berichterstattung: Abgeordneter Franz Thönnes b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Maria Böhmer, Horst Seehofer, Peter Rauen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Teilzeitbeschäftigung wirtschaftsverträglich und familiengerecht fördern - Drucksache 14/4526 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({6}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. ({7}) - Sie können alle hier bleiben. Das ist ein interessantes Thema. Das gilt vor allen Dingen für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion. Ich erinnere mich an manchen Kampf um dieses Thema. ({8}) - So tragen wir unsere Geschichte mit uns, Herr Kollege. ({9}) Nun eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat für die SPD-Fraktion der Kollege Olaf Scholz.

Olaf Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003231, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute ist, glaube ich, ein für die Geschichte der Bundesrepublik ganz bedeutsamer Tag. ({0}) Wir befinden uns nämlich in einem Prozess des Aufholens. ({1}) Wir holen bei europäischen Entwicklungen auf, die die Bundesrepublik Deutschland über viele Jahre verschlafen hat und wo es notwendig war, dass wir endlich auf den Stand der Zeit kommen. ({2}) In unserem Land haben wir in den letzten Jahren über Vorbilder diskutiert, die wir nachmachen und deren Erfahrungen wir kopieren sollen. Eines dieser Länder, das immer wieder vorbildhaft erwähnt worden ist, sind die Niederlande. In den Niederlanden gibt es eine sehr moderne Arbeitsmarktpolitik. In den Niederlanden gibt es viele Dinge, die zu einer hohen Beschäftigungsquote geführt haben. ({3}) Ein wichtiger Punkt ist die Teilzeitarbeit. Teilzeitarbeit ist in den Niederlanden viel mehr ausgeprägt als in unserem Staate. Wie haben die Niederlande das gemacht? Sie haben im Juli dieses Jahres ein Gesetz verabschiedet, das die Teilzeitarbeit für die Beschäftigten mit einem Rechtsanspruch versieht. Wenn wir uns ansehen, was im November dieses Jahres im Deutschen Bundestag beschlossen wird, dann stellen wir fest, dass ein Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit in der Bundesrepublik Deutschland beschlossen wird. ({4}) Innerhalb von zwei Jahren ist es uns gelungen, einen 16-jährigen Stillstand zu beenden und mit den fortgeschrittensten Ländern Europas im Bereich der Arbeitszeit und der Arbeitsmarktpolitik gleichzuziehen. ({5}) Dabei muss man zugeben, dass die Niederländer natürlich nicht erst seit Juli einen solchen Rechtsanspruch haben; sie haben ihn durch Richterrecht schon früher gehabt. Aber nun gibt es auch ein Gesetz dieser Art. Hier wird immer so provinziell diskutiert. Wir haben uns nun ein Vorbild genommen. Viele der gesetzlichen Bestimmungen, die Sie im Gesetzentwurf finden, stammen aus den Niederlanden und sind, außer dass man sie in die deutsche Rechtssprache übersetzt hat, identisch. Insgesamt haben wir, so denke ich, einen Gesetzentwurf vorliegen, der sich auf zweierlei Weise mit dem Thema Flexibilität beschäftigt: Flexibilität, die für den Arbeitsmarkt wichtig ist, die keine einseitige Angelegenheit ist, muss, wenn sie für das arbeitsrechtliche Geschehen und für die Wirklichkeit in den Unternehmen und in den Betrieben bedeutsam werden soll, für beide Seiten, also sowohl für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als auch für die Arbeitgeber, gleichermaßen gelten. Der eine Teil des Gesetzentwurfes beschäftigt sich mit Flexibilität aus Sicht der Arbeitnehmer. Das ist der Rechtsanspruch auf Teilzeit, den wir hier festschreiben. Der zweite Teil des Gesetzentwurfes beschäftigt sich mit Interessen hinsichtlich der Flexibilität, die sich aus Sicht der Arbeitgeber ergeben. Das ist das, was zur befristeten Beschäftigung geregelt wird. Ich glaube, dass das deshalb ein sinnvoll kombiniertes Gesetz ist, weil es diese beiden Aspekte beschreibt und sinnvolle, lebenspraktische Regelungen für die Wirklichkeit in den Unternehmen aufzeigt. Nun will ich etwas zu den verschiedenen Einwendungen sagen, die gegen den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit vorgebracht worden sind. Ich spreche vor allem der größten Oppositionsfraktion, der CDU/CSU, ein Lob aus. Sie hat den heute nicht zur Beratung anstehenden Gesetzentwurf „Teilzeitbeschäftigung - wirtschaftsverträglich und familiengerecht fördern“ vorgelegt. Wenn man sich ihn ansieht, dann stellt man fest, dass dort nicht unser Weg gegangen wird. Es wird darin aber festgestellt, dass es einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit geben muss. Wir loben Sie dafür, dass Sie unsere Argumentation unterstützen. Einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit soll es geben. Er ist dort verankert. Was aber unterscheidet Sie von uns? - Sie sagen, diesen Rechtsanspruch soll es nicht für jede Frau und jeden Mann geben; Sie sagen, es sollen vielmehr nur bestimmte Bevölkerungsgruppen in bestimmten Fällen die Möglichkeit haben, diesen Rechtsanspruch durchzusetzen. Das ist nach all den Erfahrungen, die wir auf dem Arbeitsmarkt gemacht haben, eine schlechte Lösung. Wenn wir bestimmte Bevölkerungsgruppen mit dem Vorteil versehen, dass für sie besondere arbeitsrechtliche Bedingungen gelten, so birgt das immer auch die Gefahr in sich, dass sie bei der Einstellung deswegen nicht berücksichtigt Vizepräsidentin Anke Fuchs werden. Darum wäre Ihr Gesetzentwurf in der praktischen Wirkung, wenn man ihn beschließen würde, ein Gesetzentwurf zur Frauendiskriminierung; denn nur sehr fortschrittliche Unternehmer würden sich davon nicht abschrecken lassen. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb? ({0})

Olaf Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003231, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Bitte sehr, Herr Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es muss etwas Wichtiges gefragt werden. - Herr Kollege Scholz, Sie sind ja nicht wirklich so naiv, das zu glauben, was Sie gerade gesagt haben. Wie stehen Sie dazu, dass im „Spiegel“ - Heft 45/2000 - zu lesen ist: Im Ergebnis wird dies - ihr Gesetz dazu führen, dass die Unternehmen künftig schon bei der Einstellung solche Bewerber aussondern, die später häufig eine Teilzeitstelle wünschen - wie etwa Frauen mit Kindern. Ist nicht bei Ihrem Gesetz die Wirkung genau die gleiche wie bei dem der CDU/CSU?

Olaf Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003231, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich glaube, dass auch „Spiegel“Redakteure manchmal nicht jeden Satz überdenken, den sie schreiben. Dieser Satz jedenfalls ist nicht zu Ende gedacht. Es kann und wird nicht so sein, dass man jemandem ansieht, dass er eventuell einen Anspruch auf Teilzeitarbeit geltend machen wird - es sei denn, man unterstellte, dass bestimmte Gruppen von Menschen dies tun. Wir aber wollen erreichen, dass alle Menschen von diesem Recht Gebrauch machen. ({0}) Ich möchte auch noch Folgendes ergänzend sagen: Wir haben ja den Rechtsanspruch bereits im Zusammenhang mit dem Erziehungsurlaub geregelt. Das ist eine wichtige Vorerfahrung. Doch es geht natürlich nicht nur um die Periode, die dort geregelt ist, sondern um das ganze Leben. Wir werden auch erreichen müssen, dass fortschrittliche, moderne Familien die Möglichkeit haben, ihr Arbeitsleben und ihr Berufsleben miteinander in Einklang zu bringen. Ich glaube, viele Unternehmen werden uns in ein paar Jahren dafür loben, dass wir diesen Schritt hier gegangen sind. ({1}) Denn was soll geschehen? Wenn man zum Beispiel als Führungskräfte im Unternehmen auf Menschen zurückgreift, die mit anderen Menschen verheiratet sind oder zusammenleben, die ebenfalls als Führungskräfte infrage kommen, dann gibt es zwei, die ihre Interessen haben, was das private Zusammenleben und die berufliche Entwicklung betrifft. Das miteinander in Einklang zu bringen, neue Aushandlungsprozesse möglich zu machen, das alles geschieht mit diesem Gesetz. Darum glaube ich, dass wir eine gute Regelung zustande gebracht haben. Alle Arbeitgeberinteressen in diesem Zusammenhang sind berücksichtigt. Wenn es betriebliche Gründe gibt, die einer solchen Regelung entgegenstehen, dann kann das eben nicht realisiert werden. Mehr muss man und braucht man nicht zu regeln. Das ist meines Erachtens sehr sinnvoll geschehen. ({2}) - Es wird nicht eine Vielzahl von Prozessen geben, wie Sie immer sagen. Sie sind viel zu misstrauisch, was die Kultur und die Rechtskultur in unserem Lande betrifft. Gesetze werden in unserem Lande - das ist ein Vorzug unserer Kultur - meistens befolgt. Nur ein ganz kleiner Teil von Streitigkeiten - als Anwalt habe ich eine Zeit lang davon gelebt ({3}) wird vor Gericht ausgetragen. Die meisten Menschen halten sich einfach an die Gesetze. ({4}) Insofern wird dieses Gesetz auch meinungsbildend wirken. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?

Olaf Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003231, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Danach bitte ich, von Zwischenfragen abzusehen. Dann machen wir in unserer Debatte weiter. - Herr Hinsken, bitte sehr.

Ernst Hinsken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000906, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Scholz, Sie erwecken hier den Eindruck, als wenn Sie von dem Geschehen in den Betrieben viel verstehen würden. Ich möchte Sie einmal konkret fragen, wie das bei einem Betrieb ist, der bereit ist, den einen oder anderen Arbeitnehmer auf dessen Wunsch hin auf Teilzeit zu setzen und der dann plötzlich feststellt, dass die Aufträge mehr werden und er wieder Vollzeitbeschäftigte benötigt. Kann er dann den Arbeitsplatz wieder umwandeln, ihn länger beschäftigen, um der Auftragslage gerecht zu werden, oder nicht?

Olaf Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003231, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, er kann das nicht. Wir leben nämlich in einem Land, das es durch sein Grundgesetz verbietet, jemanden zu einer Arbeit zu zwingen, zu der er sich vertraglich nicht verpflichten möchte. ({0}) Aber es gibt die Möglichkeit: mit den Beschäftigen darüber zu reden, ob sie ihre Arbeitszeit wieder ausweiten möchten, zu sehen, ob unter den anderen Teilzeitbeschäftigen jemand ist, der das möchte, oder jemanden neu einzustellen. Es gibt also genügend flexible Reaktionsmöglichkeiten. Da muss das Gesetz keine Zwangsregelung zur Mehrarbeit beinhalten, wie Sie das offenbar vorschlagen. ({1}) Ich glaube auch - vielleicht sollte ich das noch ergänzend zu Ihrer Frage sagen -, dass man nicht unterstellen sollte, Arbeitgeber kämen mit ihren Arbeitnehmern nur klar, wenn sie sie zwingen können. Die meisten Arbeitgeber, die ich kenne, sind solche, die das auch ohne Zwang hinbekommen. Ich glaube, auch das gehört zu unserem Lande. ({2}) Der zweite Teil des Gesetzes beschäftigt sich mit der Befristung. Hier ist etwas geregelt, was 1985 seinen ersten Niederschlag in der Gesetzgebung gefunden hat, und ich will gerne zugeben, dass wir uns damals sehr gefürchtet haben. ({3}) Wir haben uns gefürchtet, weil wir annehmen mussten, die Etablierung einer sachgrundlosen Befristung in unserem Arbeitsrecht könne dazu führen, dass immer mehr Arbeitsverträge nur als befristete Verträge ausgestaltet werden. Wenn man das alles betrachtet, muss man im Nachhinein sagen, dass das nicht eingetreten ist. Die Zahl der befristeten Arbeitsverträge hat trotz des Beschäftigungsförderungsgesetzes und aller seiner Regelungen nicht zugenommen. Das hat uns ermutigt, den vielfältigen Wünschen nachzukommen und zu sagen: Wir wollen das Beschäftigungsförderungsgesetz in dem Teil der Möglichkeit einer sachgrundlosen Befristung verlängern, weil wir sagen: Es hat diese schlechten Wirkungen nicht gehabt und es ist ein unbürokratisches Flexibilitätsinstrument für Arbeitgeber gewesen. Schließlich hat das manchen Beschäftigtengruppen überhaupt erst den Eintritt in das Berufsleben ermöglicht. ({4}) Wir werden dieses Gesetz, das auch Sie immer zur Erprobung verlängert haben, jetzt endgültig beschließen und werden den Missbrauch, der sich mit diesen Regelungen verbunden hat, endgültig und wirksam unterbinden. Es ist eine gute Reaktion auf all die Erfahrungen, die man seit 1985 machen konnte, dass die langen Befristungsketten, die einige wenige Arbeitgeber unter dem Deckmantel des Beschäftigungsförderungsgesetzes realisiert haben, endgültig durchbrochen werden. Manche haben es nämlich tatsächlich so gemacht, dass sie Beschäftigte zwei Jahre mit einer sachgrundlosen Befristung beschäftigt haben, sie dann fünf Monate als Urlaubsvertretung eingesetzt haben, was eine sachlich begründete Befristung ist, dann für zwei Jahre wieder zu einer sachgrundlosen Befristung übergegangen sind, dann sie als Schwangerschaftsvertretung eingesetzt haben, danach sie wieder mit einer sachgrundlosen Befristung beschäftigt haben usw. Weil alle diese Missbrauchsmöglichkeiten natürlich nicht zugelassen werden sollen, haben wir jetzt einen Weg gefunden, dies in dem Gesetz zu unterbinden, indem man nur bei einer Neueinstellung die Möglichkeit hat, eine solche sachgrundlose Befristung zu wählen. Ansonsten ist man auf das angewiesen, was seit Anfang der 50er-Jahre in unserem Arbeitswesen immer möglich gewesen ist, nämlich Menschen befristet zu beschäftigen. ({5}) Ich habe mit Millionengehältern im Jahr bezahlte Unternehmensvorstände gesehen, die sich beklagt haben, es sei nach dem neuen Gesetzentwurf nicht mehr möglich, jedes Jahr im Dezember zu Weihnachten immer dieselben Verkäuferinnen, die damit einverstanden waren, befristet zu beschäftigen. - So ein Quatsch! Da geht natürlich immer noch. Das ging bis 1985. Aber einige haben zwischenzeitlich vergessen, dass es unser Recht schon immer zuließ, eine befristete Beschäftigung mit einem sachlichen Grund zu rechtfertigen. Deshalb ist diese Behinderung, die einige in dem neuen Gesetz vermuten, gar nicht gegeben. Es wäre hilfreich, wenn sich die Leute noch einmal anschauten, was in unserem Gesetz wirklich steht. ({6}) Ich glaube, dass wir im Übrigen auch sehr viel Servicearbeit für die Bürgerinnen und Bürger geleistet haben. Es kommt bei der Gesetzgebung auch darauf an, dass man den Menschen, die kein Jurastudium hinter sich gebracht haben, die Möglichkeit gibt, mit den Gesetzen umzugehen. Die meterdicke Rechtsprechung zur befristeten Beschäftigung durch das Bundesarbeitsgericht kann man nicht jemandem empfehlen, der sich fragt: Soll ich dort nun arbeiten oder nicht bzw. soll ich ihn nun einstellen oder nicht? ({7}) Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes über die Möglichkeiten einer sachlich begründeten Befristung sind ins Gesetz geschrieben worden. Das ist eine Hilfe, weil man nur noch in dieses Gesetz schauen muss. Auch sind die an vielen Stellen durcheinander geratenen Vorschriften darüber, was bei einem Streitfall passiert und welche Formvorschriften dabei einzuhalten sind, im Gesetz geordnet. Ich glaube, auch das ist eine sinnvolle Ergänzung, die unser Arbeitsrecht dringend benötigt hat. ({8}) Ich komme zu dem zurück, was ich eingangs versucht habe darzustellen: Die Bundesrepublik Deutschland hat hinsichtlich eines modernen Arbeitsrechts einen deutlichen Rückstand in Europa. Wir liegen hinter anderen Ländern zurück, die wir - das kann man in den Sonntagsreden aller Parteien hören - immer bewundern. Jetzt ist eine Regierung angetreten, die gesagt hat: Wir wollen den europäischen Standard erreichen. Wir haben uns bei der Frage der modernen Arbeitszeitregelung an das niederländische Vorbild mit dem Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit angekoppelt. Wir haben eine die Arbeitnehmer schützende und die Unternehmen mit ausreichender Flexibilität versehende Regelung für die befristete Beschäftigung gefunden. Wundern Sie sich nicht - Sie werden damit noch öfter konfrontiert werden -, dass wir auf dem Niveau Europas angekommen sind. Bedauern Sie nicht, dass wir nicht weiter mit Ihnen zurückbleiben wollen. Das ist nicht unsere Absicht. Schönen Dank. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile der Kollegin Brigitte Baumeister, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Brigitte Baumeister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000112, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Scholz, wenn ich die fünf Weisen von gestern richtig im Ohr habe, dann glaube ich, dass diese an Ihrem Entwurf wenig Freude haben werden. Das große Erwachen wird mit Sicherheit noch kommen. ({0}) Wer gehofft hatte, in dem Gesetzentwurf weniger statt mehr Regulierungen zum Arbeitsmarkt vorzufinden, der sieht sich enttäuscht; denn wir haben wesentlich mehr Regulierungen. Das ist der Grund, weshalb die CDU/CSUFraktion diesen Entwurf der Bundesregierung ablehnt. ({1}) Richtig ist: Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge sind ein wesentlicher Beitrag zur Verbesserung der Beschäftigungssituation. Über 6 Millionen Arbeitnehmer sind teilzeitbeschäftigt und rund 2,8 Millionen Arbeitnehmer haben ein befristetes Arbeitsverhältnis. Auch wir sprechen uns für eine Erweiterung der Teilzeitarbeit aus. Nur - das haben Sie zu Recht bemerkt und wir bedanken uns recht herzlich für Ihr Lob -, wir wollen das mit einer verbesserten Vereinbarkeit von Beruf und Familie verknüpfen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung will die Beschäftigung fördern, und dies besonders bei Frauen. ({2}) Vollzeitbeschäftigte und Teilzeitbeschäftigte sollen künftig gleichgestellt werden. So soll eine unterschiedliche Bezahlung bei gleicher Tätigkeit ausgeschlossen sein. Auch die Möglichkeit der Aus- und Weiterbildung soll gegeben sein. Das Wichtigste ist der einklagbare Rechtsanspruch. Ihn lehnen wir ab. Arbeitnehmer, die länger als sechs Monate zum Betrieb gehören, sollen künftig einen rechtlichen Anspruch auf die Verringerung ihrer vertraglichen Arbeitszeit haben. Dabei soll es ausreichen, wenn die Mitarbeiter ihrem Arbeitgeber die Absicht drei Monate im Voraus kundtun. Dies kann nur abgelehnt werden, wenn dem betriebliche Gründe entgegenstehen. Dazu gehören zum Beispiel Organisationsfragen, Planungssicherheit im Betrieb und unverhältnismäßig hohe Kosten. Ein Veto kann das Unternehmen zudem einlegen, wenn partout kein passender Ersatz gefunden wird, wobei die Beweislast freilich beim Arbeitgeber liegt. Ich denke, da werden schöne Verhältnisse auf uns zukommen. Ansonsten sind die Tarifpartner gefordert; denn sie sollen nach den Vorstellungen der Bundesregierung die Ausschlussgründe im Detail festlegen. Ich kann mir heute schon lebhaft vorstellen, zu welchen Diskussionen dies in den einzelnen Betrieben führen wird. Freie Stellen müssen innerbetrieblich oder öffentlich auch als Teilzeitarbeitsplätze ausgeschrieben werden. Teilzeitbeschäftigte, die auf eine freie Vollzeitstelle wechseln wollen, sind bevorzugt zu behandeln. - So der Gesetzentwurf. Nun freue ich mich natürlich, dass Sie einen Änderungsantrag eingebracht haben, der zumindest diese Widrigkeit in gewisser Weise abmildert. Kritik an dem Gesetzentwurf kommt von uns, weil die Unternehmen belastet werden und weil Ihr Gesetzentwurf - das ist eben nicht richtig, da Sie das Gegenteil gesagt haben - weit über die EU-Richtlinien hinausgeht, verehrter Herr Kollege Scholz. ({3}) Das Gesetz, von dem sich die Bundesregierung einen weiteren Teilzeitschub verspricht, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Bremse für Produktion und Beschäftigung. Denn der Gesetzentwurf trifft die Unternehmen an drei - so meine ich - ganz empfindlichen Stellen. Das Erste ist der Produktionsablauf; ich denke hier nur an Schichtarbeit. Das Zweite ist der Personaleinsatz; nicht jeder Mitarbeiter ist ohne weiteres ersetzbar. ({4}) Zum Dritten denke ich, die Firmen werden bei der Kapazitätsplanung vermehrt dazu übergehen, dass sie Überstunden anordnen und keine neuen Arbeitnehmer einstellen. So wird Ihr Gesetz ganz klar unterlaufen. Die Expertenanhörung hat ergeben, dass der uneingeschränkte Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit das gravierende Problem schlechthin ist. Der Rechtsanspruch bereits nach sechs Monaten - in den Niederlanden erst nach 12 Monaten - vorzusehen bedeutet einen Eingriff in die Vertragsfreiheit und in die unternehmerische Entscheidungshoheit. ({5}) Es gibt einen Reduzierungsanspruch bereits nach Ablauf der Probezeit, wobei weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer wissen, ob sich der Arbeitnehmer tatsächlich nach Ende der Probezeit voll in den Produktionsprozess integrieren kann. Auch ist nicht akzeptabel, dass der Verringerungsanspruch völlig unbegrenzt ist. Er liegt - von 0 Prozent bis 99 Prozent - völlig frei im Belieben des Arbeitnehmers. ({6}) Einer der wesentlichen Kritikpunkte der Sachverständigen ist, dass der Teilzeitarbeitnehmer de facto besser gestellt wird. Hier möchte ich noch einmal auf das Beispiel der Niederlande zu sprechen kommen, das Sie angesprochen haben, Herr Kollege Scholz. Ich glaube nicht, dass man das vergleichen kann; denn das ist ein Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen. Denn Sie wissen erstens, dass die Tradition in den Niederlanden eine völlig andere ist, und zweitens gibt es dort eine Grundrente. Daraus begründet sich auch dieses völlig veränderte Verhalten. Ein weiterer wesentlicher Kritikpunkt ist, dass eine Vielzahl arbeitsrechtlicher Verpflichtungen und mitbestimmungsrechtlicher Regelungen von der Zahl der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer abhängt. Dazu zählen bekanntlich auch Teilzeitkräfte. Die Arbeitnehmer haben es in bestimmten Konstellationen selbst in der Hand, die Betriebsgröße zu bestimmen und dem Arbeitgeber damit andere arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen aufzuzwingen. ({7}) Dies betrifft zum einen die Zahl der freigestellten Betriebsratsmitglieder und zum anderen die Schwellenwerte nach den verschiedenen Mitbestimmungsgesetzen. Die Folge ist, dass arbeitsrechtliche Regelungen ihre verfassungsrechtliche Legitimation verlieren. Dies könnte man auch unter dem Stichwort Manipulation einordnen. ({8}) Eine Verpflichtung des Arbeitgebers, jede Stelle bei der Ausschreibung auf ihe Eignung als Teilzeitbeschäftigung hin überprüfen zu müssen, ist zum Glück nicht mehr vorgesehen. Trotzdem bedeutet dieser Gesetzentwurf nach meiner Auffassung für den Arbeitgeber einen Verlust der Organisationshoheit und eine zusätzliche bürokratische Maßnahme. Zudem beschäftigt mich die Frage, wer über die Möglichkeit einer Teilzeitarbeit entscheidet, wenn mehrere Arbeitnehmer Teilzeit arbeiten wollen. Wer legt die Kriterien fest, gibt es eine Sozialauswahl und - wenn ja - wie funktioniert diese? Nach meiner Erfahrung funktioniert Teilzeitarbeit nur, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine einvernehmliche Klärung herbeiführen; weil der Arbeitgeber auf den Arbeitnehmer nicht verzichten will, wird er versuchen, zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen. Wir setzen auf Freiwilligkeit und auf flexible Vereinbarungen. Wir wollen - das haben Sie richtig erkannt - mehr Teilzeitarbeit zur Betreuung von Kindern, für Beschäftigte, die schwer pflegebedürftige Angehörige betreuen, sowie für Arbeitnehmer mit Erwerbsminderung. ({9}) Ich möchte nun noch kurz auf die befristeten Arbeitsverhältnisse eingehen: Diese sind - wenn ich mich recht erinnere - 1985 zur Flexibilisierung der Arbeitswelt und zur Abdeckung saisonaler Arbeitsspitzen ermöglicht worden. Dies hat auch die Bundesregierung erkannt und deshalb steht sie - im Gegensatz zu den Gewerkschaften - zu der gesetzlichen Regelung. Allerdings wollen Sie von der Koalition die Möglichkeit befristeter Arbeitsverhältnisse einschränken und haben in diesem Zusammenhang, Herr Kollege Scholz, von einem Missbrauch gesprochen. Einen solchen kann ich nicht erkennen. Ich denke, dass es höchstens in ganz wenigen Bereichen - auch Sie haben das zum Glück betont - einen Missbrauch gegeben hat. Dies rechtfertigt es aber nicht, die gesetzlichen Möglichkeiten derart zu beschränken, wie Sie es getan haben. Kernpunkte Ihres Entwurfs sind die Gleichbehandlung befristet beschäftigter Arbeitnehmer mit unbefristet Beschäftigten. Es ist klar, dass die Befristung eines Arbeitsvertrages grundsätzlich eines sachlichen Grundes bedarf. Ohne Vorliegen eines solchen sachlichen Grundes ist eine Befristung nur bei Neueinstellungen oder dann möglich, wenn der Arbeitnehmer älter als 58 Jahre ist. Es gibt eine Informationspflicht des Arbeitgebers sowie die Pflicht, Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen. Unsere Kritik bezieht sich auf die vermehrte Reglementierung und zunehmende Bürokratisierung sowie die zu erwartenden Mehrkosten; ich denke dabei, wie gesagt, an die Informationspflichten, an die Pflicht zur Ermöglichung von Weiterbildungsmaßnahmen sowie die Pflicht, Personalakten jahrzehntelang aufbewahren zu müssen. Eine Untersuchung von Infratest zum Beschäftigungsförderungsgesetz kam zu dem Ergebnis, dass der wesentliche Effekt der Beschäftigungsförderung gerade in einer erleichterten rechtlichen Handhabung besteht. Der Effekt des geplanten Gesetzes wird sein, dass die Arbeitgeber vermehrt auf Überstunden ausweichen. ({10}) Sinn und Zweck des ursprünglichen Gesetzes war es, den Unternehmern bei einer veränderten Auftragslage und bei Spitzenlasten mehr Flexibilität zu ermöglichen. Genau diesen Aspekt berücksichtigt der vorliegende Gesetzentwurf nicht. Nach der bisherigen Ausgestaltung ergab sich zudem die Chance, bei zusätzlich eingestellten Mitarbeitern zunächst zu beobachten, wie sie sich in den Betriebsablauf integrieren, und - ich habe schon mehrfach darauf hingewiesen Arbeitslosen die Möglichkeit einer erneuten Beschäftigung zu geben. Ich wiederhole mich hier, wenn ich sage, dass ich in großen Betrieben meines Wahlkreises erfahre, dass durch die Möglichkeit befristeter Arbeitsverhältnisse durchaus eine Reihe von unbefristeten Arbeitsverhältnissen entstanden ist. Die Befürchtung, dass in großem Umfang Befristungen ausgesprochen werden, um Stammpersonal durch befristet beschäftigte Arbeitnehmer zu ersetzen, kann ich nicht nachvollziehen. Denn der Anteil der befristet Beschäftigten ist seit 1992 kaum gestiegen, auch nicht in Ostdeutschland. Dass kaum von einer großflächigen Umwandlung von unbefristeten Arbeitsverträgen die Rede sein kann, zeigt auch die Differenzierung nach Altersgruppen. Diese haben zum Großteil Jüngere. Wenn ich darauf hinweise, dass aus jedem zweiten befristeten Arbeitsvertrag ein Vollzeitarbeitsvertrag wurde, so spricht dies für sich. Ich bin auch der Überzeugung - damit komme ich zum Schluss -, dass die Herabsetzung der Altersgrenze von 60 auf 58 Jahre an der Praxis kaum etwas ändern wird. ({11}) Da hätten Sie sich eigentlich schon etwas Besseres einfallen lassen müssen. Ich plädiere nachhaltig dafür, auf 55 Jahre zu gehen. Kurzum: Wir lehnen den Gesetzentwurf sowohl hinsichtlich der Teilzeit als auch hinsichtlich der Befristung ab. Ich denke, dass mit unserem Entschließungsantrag ein Zeichen dafür gesetzt wird, dass wir etwas für Familien tun, dass wir etwas für die Pflegebedürftigen tun und dass wir etwas für diejenigen tun, die Erwerbsminderung erfahren haben. Deshalb bitte ich Sie: Stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu! ({12})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun die Kollegin Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge war in den letzten Tagen doch wieder sehr umstritten. Beispielsweise ist der Sachverständigenrat als Kronzeuge aufgerufen worden, um am Modernisierungskonzept der Bundesregierung Kratzer zu entdecken. Frau Baumeister, Sie haben es gerade zitiert. Der Sachverständigenrat setzt Sie mit dem Vorschlag, den Sie gemacht haben, aber auf die gleiche Schulbank, auf die er uns setzen will. ({0}) Er bescheinigt Ihnen, dass es als Folge Ihres Vorschlages zur Diskriminierung von Frauen käme. Sie sollten an der Stelle ganz still sein und nicht den Sachverständigenrat aufrufen, um für sich Reklame zu machen. Ich sage Ihnen auch aus unserer Perspektive: Sie brauchen sich nicht zu grämen. Der Sachverständigenrat war beispielsweise ursprünglich auch gegen die Ökosteuer und hat sie heute als ein Konzept der Modernisierung erkannt und sogar dazu aufgefordert, sie einzuführen. ({1}) Der Sachverständigenrat ist lernfähig - und ich hoffe, auch die Arbeitgeber. ({2}) Die Arbeitgeber haben, denke ich, diese Debatte mit ihrer Kritik sehr überhöht. Wir haben das auch in der Anhörung erfahren. Da wurde beispielsweise vonseiten der BDA angedroht, diejenigen, die quasi teilzeitverdächtig sind, zukünftig nicht mehr einzustellen, zu diskriminieren. Das, meine Damen und Herren, erinnert eher an die 20er-Jahre, in denen es schwarze Listen gab, damals allerdings nicht für so genannte Teilzeitverdächtige, sondern für Gewerkschaftsmitglieder. Ich glaube, in der Debatte wird wirklich gnadenlos übertrieben. ({3}) Wir wissen alle, dass flexible Arbeitszeit, dass Zeitsouveränität und auch Teilzeit - sie gehört dazu Merkmale einer modernen Arbeitsgesellschaft und nicht rückwärts gewandt sind. Der Sachverständigenrat beispielsweise bestätigt, dass sowohl Globalisierung als auch technischer Fortschritt dazu führen werden, dass die Teilzeitarbeit zunehmend an Bedeutung gewinnt. Wenn wir die Bundesrepublik Deutschland beispielsweise mit Holland vergleichen, sehen wir, dass wir wirklich sehr großen Nachholbedarf haben. Das ist ein Grund für die Regelung, die wir vorschlagen. Ich möchte deswegen an einen Sachverständigen erinnern, den wir bei der Anhörung im Ausschuss gehört haben. Das war ein holländischer Vertreter. Er hat darauf aufmerksam gemacht, dass man sich in Holland fragt ({4}) - in den Niederlanden, Herr Kollege, Sie haben Recht -, ob Unternehmer wirklich auf der Höhe der Zeit sind, wenn sie gesetzliche Regelungen zur Teilzeitarbeit ablehnen, ob sie wirklich auf der Höhe der Zeit sind, wenn sie nicht erkennen, welch ökonomischer Vorteil in der Teilzeitarbeit liegt, auch in der zusätzlichen Motivation, die bei den Arbeitskräften durch sie ausgelöst wird. ({5}) Ich sage Ihnen: Moderne Arbeitgeber in der Bundesrepublik Deutschland haben das selbst erkannt und finden schon freiwillige Lösungen. Wer als Unternehmer in einer modernen Gesellschaft - zu Recht - Flexibilität von seinen Arbeitskräften fordert, muss selber flexibel genug sein, um Zeitsouveränität in den Betrieben möglich zu machen. Wir haben am Beispiel Holland gesehen, dass es möglich ist. Dort arbeiten immer mehr Männer teilzeit. Die Beschäftigungseffekte sind positiv. Eben ist schon darauf hingewiesen worden, dass wir Änderungen - dieses Recht hat auch die CDU/CSU bei ihrem Entwurf wahrgenommen - an unserem Gesetzentwurf vorgenommen haben. Selbstverständlich ist das Direktionsrecht der Arbeitgeber bezüglich der Bestimmung der Arbeitszeit erhalten. Wir haben Klarstellungen und Vereinfachungen vorgenommen. Dadurch ist das Gesetz handhabbarer geworden. Das Gleiche gilt für den Teil des Entwurfs zu den befristeten Arbeitsverträgen. Wir sind - das zeigen die Erfahrungen - in der Bundesrepublik Deutschland schon aus ökonomischen Gründen auf die Möglichkeit der Befristung von Arbeitsverhältnissen angewiesen, aber auch deshalb, weil befristete Arbeitsverhältnisse einen Einstieg für Arbeitslose in den Arbeitsmarkt sein können. In über 50 Prozent der Fälle wird ein befristetes Arbeitsverhältnis in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis umgewandelt. Das ist für die Arbeitslosen eine gute Brücke, um in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Deswegen erhalten wir die Möglichkeit der Befristung von Arbeitsverhältnissen. Wir haben allerdings dem Wildwuchs - Stichwort: Kettenverträge - einen Riegel vorgeschoben. Darüber hinaus haben wir mit unseren Änderungen Klarstellungen vorgenommen und Regelungen zur Entbürokratisierung eingebracht. Wir haben insbesondere mit der Regelung der Schriftform für eine Klarstellung gesorgt, die eine Erleichterung für die Arbeitgeber ist. Abschließend möchte ich sagen: Wir dürfen es uns nicht zu einfach machen und behaupten, eine moderne Arbeitsgesellschaft entstehe dann, wenn wir viel und möglichst überall deregulieren. Ich erinnere nur an den Bereich der Frauenerwerbstätigkeit. In der Verfassung ist schon seit langem die Gleichberechtigung der Frauen verankert. Trotzdem mussten wir mit Frauenförderplänen Druck machen, weil Frauen ansonsten nicht in die entsprechenden Positionen gekommen wären. ({6}) Ähnliches gilt vermutlich auch bei der Teilzeitarbeit. Wir leben in einer Gesellschaft, in der nicht mehr der vollzeit erwerbstätige Mann dominiert. Dieses Bild gehört in die Mottenkiste. Wir wollen eine flexible Arbeitsgesellschaft sein. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Für die F.D.P.-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Heinrich Kolb.

Dr. Heinrich L. Kolb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001171, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir stehen nur dreieinhalb Minuten Redezeit zur Verfügung, aber ich habe Stoff für 30 Minuten. Deswegen möchte ich meine Ausführungen stichwortartig gestalten. Ich finde, Dauer und Uhrzeit dieser Debatte sind der Bedeutung des Themas in keiner Weise angemessen, weil die hier zur Verabschiedung stehenden Gesetze einen wichtigen Einschnitt in die Praxis der Unternehmen unseres Landes bedeuten. ({0}) Wir haben vorhin 45 Minuten über die Hauptstadtkulturförderung debattiert. Jetzt hält es noch nicht einmal ein Vertreter der Bundesregierung für notwendig, das Wort zu ergreifen. Die Regierung geht auf Tauchstation. Das finde ich unerträglich. ({1}) Vielleicht scheuen Sie eine breitere Öffentlichkeit auch deshalb, weil Ihr Gesetz eine neue Flut an bürokratischen Vorschriften für die Unternehmen mit sich bringt. Ich bräuchte mindestens zehn Minuten, um die 15 neuen Vorschriften aufzuzählen, die regulierend wirken, vom § 7 Abs. 1 bis hin zum § 20. Ich möchte die Unausgewogenheit Ihres Gesetzentwurfes beispielhaft am § 8 Abs. 5, den Sie geändert haben, deutlich machen. Der Arbeitgeber habe die Pflicht, seine Entscheidung über den Wunsch des Arbeitnehmers, die Wochenarbeitszeit zu verringern, diesem spätestens vier Wochen vor dem Beginn der Verringerung schriftlich mitzuteilen. Eine Pflicht seitens des Arbeitsgebers zur Mitteilung bestehe auch hinsichtlich der Verteilung der Wochenarbeitszeit. Der Arbeitnehmer hingegen kann jederzeit, ohne die Schriftform einzuhalten, seinen Anspruch auf Teilzeitarbeit anmelden. Das heißt, wenn ich als Arbeitgeber demnächst durch meinen Betrieb gehe, muss ich immer mein Notizbuch für den Fall dabei haben, dass mir ein Arbeitnehmer zuruft: Ab 1. April nächsten Jahres arbeite ich nur noch 30 Stunden und mittwochs gar nicht. Ich muss dann daran denken, dass ich als Arbeitgeber dem Arbeitnehmer spätestens vier Wochen vor dem 1. April meine Entscheidung über seinen Wunsch, die Arbeitszeit zu verringern, mitteile. Wenn ich das nicht tue, hat der Arbeitnehmer automatisch einen Anspruch auf die von ihm gewünschte Verringerung der Arbeitszeit. Das halte ich für vollkommen unangemessen. ({2}) - Ganz genau! Sie gehen weit über das hinaus, was die EU gefordert hat; denn die EU hat vorgeschlagen, die Teilzeitarbeit auf freiwilliger Basis zu fördern. Sie haben einen vollkommen anderen Weg eingeschlagen. Deshalb bekommen Sie von vielen Verbänden Gegenwind, wenn ich etwa an die Stellungnahme des Bundesverbandes Druck denke, in der festgestellt wird: Wenn die jetzige Regelung tatsächlich umgesetzt wird, würden die Folgen eines geltend gemachten Teilzeitanspruchs in 80 Prozent der Betriebe allein durch Mehrarbeit der Mitarbeiter aufgefangen werden, da eine Einstellung zusätzlicher Fachkräfte nicht realisierbar ist. Es gibt Branchen, in denen der Arbeitskräftemarkt einfach leergefegt ist. Das muss man auch einmal ganz deutlich sagen. Wenn Sie nicht auf den „Spiegel“ und nicht auf die Arbeitgeberverbände hören wollen, dann frage ich Sie: Warum hören Sie nicht wenigstens auf den Sachverständigenrat? Dieser hat Ihnen, das muss man hier sehr deutlich sagen, eine Ohrfeige erteilt, indem er Ihnen Folgendes sehr deutlich ins Stammbuch geschrieben hat - ich muss das hier zitieren; er hat von der desolaten Lage auf dem Arbeitsmarkt gesprochen -: Der von der Bundesregierung geplante gesetzliche Anspruch auf Teilzeitarbeit sowie auf Rückkehr auf einen Vollzeitarbeitsplatz ist bedenklich - nicht nur, dass der Arbeitsvertrag mit einem zusätzlichen Risiko behaftet wird; die Möglichkeit, Wünsche aus betrieblichen Gründen abzulehnen, wird zu arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzungen führen. Ihr Gesetz ist also ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für Anwälte und nichts anderes. ({3}) Diese Ohrfeige des Sachverständigenrates spricht für sich. Zum Schluss meiner Rede - mehr Zeit habe ich leider nicht - möchte ich aus einem Brief meiner ortsansässigen Volksbank zitieren, die geschrieben hat, dass sie Teilzeitarbeit bisher freiwillig gefördert haben, dass ein Anteil von 23 Prozent an ihrem gesamten Mitarbeiterbestand auf Teilzeitbeschäftigte entfällt und dass sie damit weit über dem Durchschnitt liegen. ({4}) Sie schreiben an Bundesminister Riester: „Dies alles haben wir bisher freiwillig getan und stehen deswegen Ihrer Absicht, eine so genannte Teilzeitgarantie einzuführen, ablehnend gegenüber. Denn sie nimmt uns auch in diesem Bereich unsere unternehmerische Freiheit.“ Das ist das ganze Problem Ihres Ansatzes. ({5}) Sie haben immer noch nicht kapiert, dass man Arbeitsplätze nicht mit Gesetzen schaffen kann, sondern dass letztendlich nur Unternehmen - besser: Unternehmer Arbeitsplätze schaffen, ({6}) und zwar dann, wenn man ihnen die Freiheit dazu lässt und wenn es sich für sie lohnt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner dieser Debatte ist der Kollege Dr. Klaus Grehn für die PDSFraktion.

Dr. Klaus Grehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003135, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit ist ein richtiger Ansatz. Er wird von den Gewerkschaften gefordert und von der PDS seit langem unterstützt. So weit, so gut. Dem können wir folgen. Das Gleiche gilt für das Verbot der Diskriminierung von Teilzeitarbeit und befristeten Arbeitsverhältnissen. Wenn Sie diese Festlegung allerdings anschließend gleich wieder aushöhlen, indem Sie beispielsweise die Formulierung verwenden, dass sachliche Gründe eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen, dann ist das wenig wirksam. ({0}) Denn Sie sagen nicht, welche sachlichen Gründe die Ungleichbehandlung rechtfertigen und wer den Inhalt dieser sachlichen Gründe bestimmt. Sie haben ihn nicht bestimmt. Deshalb kritisieren wir an diesem Gesetzentwurf, dass Sie dem Recht auf Teilzeitarbeit kein Recht auf Rückkehr zur Vollzeitarbeit gegenüberstellen. Stattdessen enthält der Gesetzentwurf die bevorzugte Berücksichtigung des Wunsches. Von einem klaren Rechtsansatz ist das weit entfernt. Das ist Gummi, das ist Vertrösten auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. ({1}) Ich sage das angesichts der Tatsache, dass viele Frauen - beispielsweise in besonderen Familiensituationen Teilzeitarbeit in Anspruch nehmen müssen und wollen. Sie müssen zurückkehren können. Das muss ihnen gewährt werden und darf nicht dem Zufall überlassen werden. ({2}) Eine solche Regelung erschwert die Realisierung des Wunsches auf Teilzeitarbeit. Das wird dazu führen, dass sich Ihre großen Erwartungen nicht erfüllen werden. Statt in § 7 entsprechend den Forderungen der Gewerkschaften Verbesserungen vorzunehmen, wird die Regelung verwässert. Statt aus „betrieblichen Gründen“ für die Nichtausschreibung freier Arbeitsplätze als Teilzeitarbeitplätze „dringliche Gründe“ zu machen, formulieren Sie: wenn sich der Arbeitsplatz dafür eignet. Wann eignet er sich denn? Wer bestimmt, wann er sich eignet? Aus dem Mitwirkungsrecht der Betriebsräte wird die Information der Betriebsräte. Das gilt auch für die befristeten Arbeitsverhältnisse. Das höhlt die Stellung der Betriebsräte und die Arbeitnehmerschutzrechte in den Unternehmen aus. Ich frage Sie: Ist das ein Vorgriff auf die Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes, die Sie ja anstreben? Lassen Sie mich wenige Bemerkungen zu den befristeten Arbeitsverhältnissen machen. Beide Regelungen ermöglichen den Tarifpartnern, mittels Tarifvertrag schlechtere Regelungen auszuhandeln, als das Gesetz vorsieht. Auch das ist eine unmögliche Abweichung, die wir nicht mittragen können. Wir kritisieren, dass mit dem Gesetz und den darin angeführten sachlichen Gründen Kettenarbeitsverträge nicht vermieden werden; sie werden dadurch erst ermöglicht und sogar provoziert. Wir stimmen diesen Verschlechterungen nicht zu. Sie verbreiten mit den befristeten Arbeitsverhältnissen nicht weniger, sondern mehr Rauch. Sie werden damit keine Akzeptanz bei den Gewerkschaften finden. Sie wissen genau so gut wie wir, dass schon lange gefordert wurde, das Beschäftigungsförderungsgesetz ganz wegzulassen. Lösen Sie den Entwurf auf, stampfen Sie ihn ein, fangen Sie noch einmal von vorn an und bringen Sie etwas Vernünftiges auf die Reihe! ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf über Teilzeit- arbeit und befristete Arbeitsverträge und zur Änderung und Aufhebung arbeitsrechtlicher Bestimmungen, Druck- sache 14/4374. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialord- nung empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp- fehlung auf Drucksache 14/4625 die Annahme des Gesetzentwurfs in der Ausschussfassung. Ich bitte dieje- nigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen von CDU/CSU-, F.D.P.- und PDS-Fraktion angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stimmen von CDU/CSU-, F.D.P.- und PDS-Fraktion angenommen. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetz- entwurf der Fraktion der CDU/CSU zum Fortbestand be- fristeter Arbeitsverhältnisse auf Drucksache 14/3292. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 14/4625 unter Buchstabe b, den Gesetzent- wurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Wir stimmen ab über den Gesetzentwurf der Fraktion der F.D.P. zur Intensivierung der Beschäftigungsförde- rung auf Drucksache 14/4103. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 14/4625 unter Buchstabe c, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- len, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Ent- haltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be- ratung gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt auch hier nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/4526 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich bekomme gerade den Hinweis, dass der Kollege Ernst Hinsken eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung abgibt. Diese wird zu Protokoll ge- geben.1) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung zum Stand der Bemühungen um Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung der Streitkräftepotenziale ({0}) - Drucksache 14/3233 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({1}) Verteidigungsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin für die SPD-Fraktion ist die Kollegin Petra Ernstberger.

Petra Ernstberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002648, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Abrüstung hat in unserer Gesellschaft - das muss man leider so sehen - heute nicht mehr den Stellenwert, der ihr von ihrer Tragweite her eigentlich zukommen müsste. ({0}) Da die Bedrohung in Europa, insbesondere natürlich in Mitteleuropa, nach dem Fall des Eisernen Vorhanges nicht mehr existent ist, sehen viele unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger auch keine unmittelbaren Gefahren für sich selbst mehr. Dies ist natürlich durchaus erfreulich und ich beabsichtige nicht, diesen Umstand schlechtzureden. Es ist trotzdem wichtig, das weite Feld der Abrüstung in das Gedächtnis und in das Bewusstsein der Menschen zu rufen; denn Bedrohung kann überall und immer entstehen. ({1}) Der Abrüstungsbericht der Bundesregierung ist meiner Meinung nach ein Beitrag, um dieses Bewusstsein zu schärfen. ({2}) Der Abrüstungsbericht der Bundesregierung für das Jahr 1999 ist - wie die Berichte in den vergangenen Jahren - informativ, thematisch breit angelegt und stellt eine gute Grundlage für die Arbeit im Unterausschuss Abrüstung dar. Wie in den letzten Jahren ist der zeitliche Abstand zwischen der Abfassung des Berichtes und der parlamentarischen Behandlung viel zu groß. ({3}) 1) Anlage 2 Er ist leider zu groß, um genau die zeitnahe Arbeit des Unterausschusses für Abrüstung wirklich zu gewährleisten. Der im April dieses Jahres zugeleitete Bericht stellt die Entwicklung von Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung des Jahres 1999 dar. Er bezieht sich also überwiegend auf Ereignisse, die ein Jahr und länger zurückliegen. Der zu große Abstand zwischen der Veröffentlichung und der Debatte ist in diesem Jahr besonders spürbar geworden, weil in der Zwischenzeit ganz wichtige Veränderungen in zentralen Fragen der Abrüstung stattgefunden haben, darunter die Ratifizierung von START II durch das russische Parlament, die Verschiebung der amerikanischen Entscheidung zum Bau einer nationalen Raketenabwehr und das amerikanisch-russische Abkommen über die Umwandlung eines Teiles ihres Waffenplutoniums in MOX-Brennelemente. Auch die Rolle, die dabei das Hanauer Werk zur Herstellung von Brennelementen spielen könnte, musste in dem Bericht unberücksichtigt bleiben. Es wäre deswegen wirklich wünschenswert, wenn wir uns darauf verständigen könnten, die künftigen Abrüstungsberichte irgendwann im Mai oder Juni eines jeden Jahres zu beraten. Nun zur Thematik des Berichtes selbst. Es hat, wie ich schon erwähnt habe, im Bereich der Abrüstung im Berichtszeitraum einige positive Entwicklungen gegeben. START II wurde durch das russische Parlament, die Duma, ratifiziert. Das ist ein wesentlicher Fortschritt; denn damit ist der Weg frei, bis zum Jahre 2007 den Bestand strategischer atomarer Gefechtsköpfe von jeweils 6 000 - das ist das bislang geltende START-I-Limit - auf maximal jeweils 3 500 Gefechtsköpfe zu verringern. Gleichzeitig - das ist ein wichtiger Schritt - wurde durch die Ratifizierung die Tür für Verhandlungen über START III geöffnet. Dieser Vertrag hat das Ziel, die Anzahl der Gefechtsköpfe noch einmal zu senken, und zwar auf 2 000 bis 2 500. Im Zusammenhang mit der NMD-Debatte haben die USA eine noch weitgehendere Absenkung in Aussicht gestellt. Positives hat auch im Bereich der Abrüstung konventioneller Waffen stattgefunden. Der alte KSE-Vertrag vom November 1990, der noch von zwei einander gegenüberstehenden Militärblöcken ausging, wurde an die heutigen außenpolitischen Gegebenheiten in Europa angepasst und durch einen entsprechenden Änderungsvertrag ersetzt. Die Unterzeichnung dieses Änderungsvertrages fand am Rande des OSZE-Gipfels in Istanbul am 19. November 1999 statt. Allerdings wurde dieser Änderungsvertrag nie ratifiziert. Er ist damit eigentlich überhaupt nicht in Kraft, weswegen noch immer der alte Vertrag gilt. Der Grund dafür liegt im Tschetschenien-Krieg Russlands. Tschetschenien gehört nämlich zu der so genannten Flankenregion, für die es im alten wie im neuen Vertrag besondere Obergrenzen für schwere konventionelle Waffen gibt. Russland hat diese Grenzwerte vor allem in der Kategorie „gepanzerte Kampffahrzeuge“ erheblich überschritten. Sollte dies so bleiben, wäre der KSE-Vertrag insgesamt und damit ein Grundpfeiler der Sicherheit in Europa gefährdet. Die Bundesregierung ist deswegen aufgefordert, gegenüber Russland weiterhin darauf zu bestehen, seine Abrüstungsverpflichtungen wirklich einzuhalten. ({4}) Die Entsorgung von waffentauglichem Uran und Plutonium, das durch die Abrüstung atomarer Gefechtsköpfe frei geworden ist, ist Gegenstand intensiver Verhandlungen insbesondere zwischen den USA und Russland geworden. Auch das ist ein positiver Schritt, den wir unterstützen sollten. Wäre die Beantwortung dieser Frage weiter hinausgezögert worden, wäre die atomare Abrüstung zu einem immer größeren Risiko geworden, weil nämlich immer mehr Spaltmaterial aus den abgerüsteten Atomwaffen hinzugekommen wäre, für die es bislang keine langfristig sicheren Lagerungsmöglichkeiten gibt. Bei den jetzt intensivierten Verhandlungen über eine sichere Entsorgung ging es aber auch darum, das Uran und Plutonium so zu verändern, dass es für einen erneuten Einsatz in Waffen unbrauchbar wird. ({5}) Unbrauchbar bedeutet, liebe Kolleginnen und Kollegen, wiederum eine entscheidende Gefahrenverminderung. Aus rüstungskontrollpolitischen Gründen sind Entsorgungspläne grundsätzlich zu begrüßen, und zwar unabhängig davon, welche der vorgeschlagenen technischen Lösungen wir vorziehen würden. Negative und stagnierende Entwicklungen in der Rüstungskontrolle hat es natürlich auch gegeben. Sie waren und sie sind weiterhin Gegenstand von Diskussionen im Plenum, im Auswärtigen Ausschuss und im Unterausschuss Abrüstung, die sich vor allen Dingen auf die indischen und pakistanischen Atomwaffentests, auf das Scheitern der Ratifizierung des Vertrages über einen umfassenden Teststopp von Atomwaffen in den USA und auf die Blockade der Genfer Abrüstungskonferenz bezogen. Ich möchte hier noch eine andere Sorge thematisieren. Es geht um das sinkende Vertrauen in völkerrechtliche Vereinbarungen, wodurch die Rüstungskontrolle und das Abrüstungsregime mitten ins Herz getroffen werden. Die Frage, was wir tun, wenn internationale Rüstungskontrollabsprachen gebrochen werden, hat doch in den zurückliegenden Monaten die Diskussion mehr bestimmt, als es der Abrüstung gut tat. Sie hat nämlich gerade den Verfechtern unilateraler Aufrüstung und unilateraler Sicherheitsvorsorge Auftrieb gegeben. Die frühere Weigerung Nordkoreas, sich an die Regeln des Nichtverbreitungsvertrages zu halten, hat diesen Trend ebenso beschleunigt wie das Verhalten Iraks und der Nachfolgestaaten des früheren Jugoslawiens. Auf dem Balkan wurden die zahlreichen Vereinbarungen zu Waffenstillständen immer wieder verletzt. Dies hat zu der Wahrnehmung geführt, dass das Instrument von rechtlich bindenden Vereinbarungen über Sicherheitsfragen unwirksamer geworden ist. Die immer schon Miss-trauischen haben dadurch Bestätigung erfahren und ihre Forderung nach mehr Flexibilität für militärische Sicherheitsvorsorge leichter legitimieren können. Nur ist es ein Irrglaube, anzunehmen, damit Friedenssicherung betreiben zu können. Abrüstung und Rüstungskontrolle bedeuten immer auch Einschränkung militärischer Reaktionsmöglichkeiten. ({6}) Wir Abrüster sind davon überzeugt, dass diese Einschränkungen - wenn sie überprüfbar eingehalten werden - zu mehr Stabilität im zwischenstaatlichen Verhalten führen. Die amerikanischen Bemühungen um ein Raketenabwehrsystem, das notfalls auch unter Bruch des ABM-Vertrages realisiert werden soll, lösten schon deswegen so viel Besorgnis aus, weil sie als Schlag gegen die Grundphilosophie der Rüstungskontrolle und der auf sie gestützten Sicherheit wahrgenommen wurden. ({7}) Sicherheit als Ergebnis von völkerrechtlich verbindlichen Vereinbarungen, also auch als ein Ergebnis von Zusammenarbeit und Dialog, dieses seit den 60er-Jahren, also schon seit 40 Jahren erfolgreich praktizierte Konzept steht im Widerspruch zu der Überzeugung, alle verfügbaren Verteidigungsoptionen ohne Mitsprache anderer Staaten zu realisieren. ({8}) In diesem Zusammenhang ist auch der „Vertrag über den Offenen Himmel“, „Open Skies“, zu sehen, der eine vertrauensbildende Maßnahme ersten Ranges ist. Wir wünschen uns, dass die aus technischen und politischen Gründen erfolgte Aussetzung der NMD-Entscheidung dazu genutzt wird, für die Eindämmung von Proliferationsrisiken und neuen nuklearen Gefahren kooperative Lösungen zu finden. Im Verhältnis zu Korea ist bereits ein Anfang gemacht. Ähnliches sollte auch gegenüber dem Iran versucht werden. Beim Irak haben die andauernden Bombardierungen die rüstungskontrollpolitischen Möglichkeiten zwar zurzeit auf Null gefahren. Es sollte aber versucht werden, hier wieder sowohl im nuklearen als auch im chemischen Bereich sowie bei der Begrenzung der weitreichenden Raketen wieder anzusetzen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich denke, es bleibt in der vor uns liegenden Zeit viel zu tun: China muss stärker in die Abrüstung strategischer und substrategischer Waffen einbezogen werden. Russland muss im konventionellen Bereich die Voraussetzungen für das InKraft-Treten des angepassten KSE-Vertrages schaffen. Auch die Kleinwaffenproblematik - das möchte ich noch erwähnen - muss mit Nachdruck behandelt werden. All diese Punkte hat der Abrüstungsbericht der Bundesregierung angesprochen. Meine Fraktion nimmt diesen Bericht wohlwollend zur Kenntnis. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Hans-Dirk Bierling.

Hans Dirk Bierling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000179, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Ernstberger, Ihren ausführlichen Eingangsbemerkungen zum Zeitplan dieser Debatte stimme ich voll und ganz zu. Dabei sind wir ja in diesem Jahr schon etwas besser dran; denn wir müssen über den Abrüstungsbericht nicht erst nach Mitternacht debattieren. Allerdings fürchte ich, dass Sie in Ihrer Fraktion ein bisschen Ärger bekommen könnten. Sie hätten wahrscheinlich sagen müssen: wir Abrüster und Abrüsterinnen. ({0}) Aber Scherz beiseite! Meine Damen und Herren, das Jahr 1999 bietet international in Fragen der Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung ein wirklich ambivalentes Bild. Während es gelungen ist, nach mehrjährigen Verhandlungen den KSE-Änderungsvertrag auf dem Gipfeltreffen der OSZE im November zu verabschieden, kam es in anderen Bereichen der Abrüstung und der Nonproliferation zur Stagnation. So arbeitete im vergangenen Jahr das kommunistische Regime in Nordkorea weiter an der Entwicklung einer militärischen Rakete mit großer Reichweite. Ebenso war eine Einstellung der indischen und pakistanischen Nuklearwaffenprogramme nicht zu registrieren, auch wenn sich die weltweit verurteilten Atomtests des Jahres 1998 nicht wiederholt haben. Zudem ist es nicht gelungen, den bei der Genfer Abrüstungskonferenz bestehenden Stillstand zu überwinden und endlich ein Arbeitsprogramm zu verabschieden. Einer der schwierigsten Momente für die internationale nukleare Abrüstungsdiskussion war wohl die Nichtratifikation des Atomteststoppvertrages durch den USSenat im September 1999, was einen relativen Stillstand in dieser Frage nach sich zog. Dieser Zustand ist bis jetzt nicht überwunden, nicht zuletzt durch den Wahlkampf in den Vereinigten Staaten. Wie und wann der künftige Präsident der USA sich dieses Themas wieder annehmen wird, kann man heute nicht abschätzen. ({1}) Die Debatte über das nationale Raketenabwehrsystem der Vereinigten Staaten hemmte die abrüstungspolitische Diskussion zusätzlich, da insbesondere die russische Seite darin einen Verstoß gegen den ABM-Vertrag von 1972 sah. Der ABM-Vertrag, der die Anzahl von Raketenabwehrsystemen zwischen Russland und den USA begrenzt, ist einer der Eckpfeiler der internationalen strategischen Stabilität. Deshalb war es notwendig, sich vor der Konkretisierung US-amerikanischer Pläne für ein nationales Raketenabwehrsystem mit Russland zu verständigen. Das ist zum Teil geschehen. Wäre dies nicht geschehen, wäre die in diesem Frühjahr erfolgte Ratifizierung von START II durch die russische Duma gefährdet und damit die weitere Reduzierung der strategischen nuklearen Waffensysteme Russlands und der USA blockiert worden. Die Bundesregierung hat allerdings, wie ich meine, in diesem Zusammenhang bisher versäumt, sich mit den europäischen NATO-Partnern auf der Grundlage einer umfassenden Bedrohungsanalyse um gemeinsame europäische Positionen zu diesem Komplex zu bemühen. Das Entstehen verschiedener Sicherheitszonen innerhalb des atlantischen Bündnisses muss natürlich unbedingt verhindert werden. Russland muss in diesem Zusammenhang allerdings auch von uns verdeutlicht werden, dass sich die Pläne einer Raketenabwehr nicht gegen russische Raketen wenden, sondern dass sie mit der globalen Sicherheit verbunden sind. Wie sensibel das Verhältnis zu Russland ist, bewies der Kosovo-Konflikt im vorigen Jahr sehr deutlich. Nach dem Scheitern der Verhandlungen zwischen KosovoAlbanern und der Bundesrepublik Jugoslawien in Rambouillet im März 1999 und der drohenden völligen Vertreibung der albanischen Bevölkerung aus dem Kosovo war eine wirklich komplizierte Situation entstanden. Die internationale Gemeinschaft sah keine andere Möglichkeit als gezielte Luftangriffe der NATO gegen Serbien, um noch größeres menschliches Elend zu verhindern. Russland zeigte sich mit dem Vorgehen der NATO alles andere als einverstanden und brach daraufhin die Zusammenarbeit auf der Grundlage der NATO-Russland-Grundakte ab. Wie wir alle wissen, lenkte das Milosevic-Regime nach wenigen Wochen ein. Auf der Basis der Resolution 1244 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen kam es zum Einsatz der Friedenstruppe KFOR unter Führung der NATO, der letztlich trotz schwieriger Umstände doch eine Einbindung russischer Streitkräfte bei der Befriedung der Region gelang. Die Bundesrepublik unterstützte diese Friedenstruppe mit 6 000 Bundeswehrsoldaten, die zum Schutz der ethnischen Gruppierungen und zur Durchsetzung der Waffenruhe eingesetzt wurden. Damit sind wir wieder beim Thema der Abrüstung; denn eine Reduzierung des Besitzes von Kleinwaffen innerhalb der Zivilbevölkerung des Kosovo ist im Vergleich zu den anderen erreichten Zielen nur unzureichend gelungen und wird KFOR auch in Zukunft beschäftigen müssen, da das bestehende Kleinwaffenpotenzial schnell zu einer dauerhaften Destabilisierung der Region führen kann. Beispiele hierfür gibt es viele. Denken wir nur an Tschetschenien oder Angola! Die Regierung Kohl hat das Augenmerk der internationalen Staatengemeinschaft sehr frühzeitig auf das Problem der so genannten „small arms“ gelenkt. Deutschland brachte verschiedene Anträge mit Kleinwaffenbezug in die Generalversammlung der Vereinten Nationen ein, die letztendlich dazu beitrugen, dass die Vereinten Nationen im Jahr 1999, also im Berichtszeitraum, eine internationale Staatenkonferenz zu diesem Thema für 2001 einberiefen. Die amtierende Bundesregierung hat die deutschen Initiativen in dieser Richtung im Berichtszeitraum konsequent fortgesetzt; das ist erfreulich. So gelang es während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, die Ziele und Prinzipien der bereits Ende 1998 auf deutsche Initiative hin entstandenen gemeinsamen Aktion der EU auf die Entwicklungszusammenarbeit zu übertragen. Das stellt eine entscheidende Voraussetzung für praktische Schritte zur Reduzierung von Kleinwaffenpotenzialen und deren Kontrolle in den Entwicklungsländern dar. Eingang fanden die Parameter der gemeinsamen Aktion letztlich auch in die Arbeit des OSZE-Forums für Sicherheitskooperation, das OSZE-weite Maßnahmen gegen eine unkontrollierte Anhäufung bzw. unkontrollierte Verbreitung von Kleinwaffen erarbeitet. Auch in Zukunft sollte die Bundesregierung den eingeschlagenen Weg fortsetzen und sich weiter für eine Reduzierung der weltweiten Kleinwaffenarsenale engagieren. Dazu gehört natürlich auch eine intensive deutsche Vorbereitung auf die internationale Staatenkonferenz zum illegalen Handel mit Kleinwaffen im nächsten Jahr. Ein wichtiger Erfolg deutscher Außen- und Sicherheitspolitik ist die bereits von Frau Ernstberger erwähnte Unterzeichnung der Anpassung des KSE-Vertrages auf dem OSZE-Gipfel im November vorigen Jahres in Istanbul. Hierbei hat die Bundesregierung gut daran getan, den von der Regierung Kohl bereits 1996 aufgenommenen Verhandlungsprozess fortzuführen und so über Diskussion und Beratung innerhalb der Allianz und später der Gemeinsamen Beratungsgruppe der Vertragsstaaten in Wien zu Ergebnissen zu gelangen. An dieser Stelle könnten Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, ruhig einmal klatschen, da ich mich doch so schinde, die Regierung zu loben. ({2}) Die Modifizierung des KSE-Vertrages erhöht die Stabilität auf dem Gebiet der konventionellen Streitkräfte in Europa. An die Stelle zu verhindernder Überraschungsangriffe durch massive Streitkräftekonzentrationen ist nun die Verhinderung destabilisierender Streitkräftekonzentrationen getreten. Ein enges Regelwerk legt nationale Obergrenzen für einzelne Waffensysteme fest - Frau Ernstberger hat bereits darüber gesprochen - und macht den Vertrag verifizierbar. Aber - auch dies hat Frau Ernstberger schon angesprochen -: Deutschland und andere Staaten haben den KSEAnpassungsvertrag trotz Zustimmung zum Vertragstext bisher nicht ratifiziert, weil Russland derzeit noch die Vereinbarungen des Flankenabkommens durch den Tschetschenien-Einsatz verletzt. Bei einem derart konstitutionellen Vertragswerk ist es jedoch notwendig, dass wichtige Vertragspartner wie Russland von Beginn an vertragskonform handeln. Eine Ratifizierung des Vertrages durch die Bundesrepublik zum jetzigen Zeitpunkt würde einer Sanktionierung des russischen Handelns entsprechen und würde dem Vertragswerk nicht die ihm entsprechende Wertigkeit bzw. Bedeutung zuerkennen. Die Bundesregierung ist deshalb aufgefordert, sich bei anstehenden Gesprächen mit Vertretern der russischen Seite nachdrücklich dafür einzusetzen, die Kriterien des Abkommens einzuhalten. ({3}) Nur danach ist für die Bundesrepublik Deutschland eine Ratifizierung des KSE-Anpassungsvertrages möglich, ohne unsere gemeinsamen außenpolitischen Grundsätze zu verletzen. Welche Erfolge kontinuierliches Arbeiten erzielen kann, beweist das am 1. März 1999 in Kraft getretene Ottawa-Übereinkommen zu Antipersonenminen, das Deutschland bereits im Juli 1998 ratifiziert hatte. Es sieht ein umfassendes Verbot von Herstellung, Einsatz, Transfer und Lagerung aller Arten von Antipersonenminen vor und regelt die Zerstörung vorhandener Bestände. Außerdem sieht es ein überprüfbares Verifikationsregime vor. Ein erstes Treffen der Vertragsstaaten von Ottawa fand im Mai 1999 in Maputo statt. Einige bisherige Nichtzeichnerstaaten erklärten auf diesem Treffen ihre grundsätzliche Bereitschaft zum Beitritt, zum Beispiel die Türkei. Auf diesem Treffen wurden Modalitäten des Informationsaustausches festgelegt, die das auf deutschen Vorschlägen basierende Verifikationsregime operationell machen. Die politische Abschlusserklärung enthielt neben der Aufforderung zum Beitritt an die bisherigen Nichtzeichnerstaaten die Bestätigung, dass Zusammenarbeit bei Minenräumung und Unterstützung bei der Opferfürsorge vor allem den Staaten zugute kommen soll, die einen Einsatz von Antipersonenminen für immer ausgeschlossen haben. Deutschland ist eines der Länder, das sich dabei aktiv engagiert. Kontinuität auf dem Politikfeld von Abrüstung und Sicherheit - ich erwähnte es schon einmal - ist wichtig. In dieser Frage stimmen im Grunde alle Fraktionen des Hauses überein. ({4}) Das heißt, die Bundesregierung kann, wenn sie auf diesem Gebiet die Bemühungen ihrer Vorgängerin konsequent fortsetzt, was bislang in wesentlichen Punkten der Fall ist, mit der Unterstützung des ganzen Hauses und somit auch der CDU/CSU-Fraktion in Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie der Nonproliferation rechnen. Ich danke Ihnen. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nun spricht der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Ludger Volmer.

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die wichtigste Botschaft des Jahresabrüstungsberichts 1999 lautet: Neue Herausforderungen und Gefahren bei der Proliferation von Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägermittel wie auch bei konventionellen Waffen verlangen noch stärker nach politischen und vertraglichen Mitteln der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Deshalb haben wir - nun störe ich den Konsens - die Auflösung der Abrüstungsabteilung im Auswärtigen Amt, die durch die Vorgängerregierung eingeleitet worden war, Ende 1998 in letzter Minute verhindert. ({0}) Jetzt kommt wieder Konsens. ({1}) Nachdem die Fortschritte und Rückschritte insgesamt dargestellt worden sind, möchte ich auf einige Punkte eingehen, in denen die amtierende Bundesregierung besonders initiativ geworden ist. 1999 konnten in vielen Bereichen wichtige Fortschritte erzielt werden. Es ist ein bedeutender Erfolg der Außenund Sicherheitspolitik der Bundesregierung - darauf wurde eingegangen -, dass der KSE-Vertrag beim OSZE-Gipfel in Istanbul im November 1999 nach deutschen Vorschlägen an die veränderte Sicherheitslage und die sicherheitspolitischen Bedingungen in Europa angepasst wurde. Ich denke, hier sollten wir uns bei den Beamten des Auswärtigen Amtes bedanken, die sehr viel Kreativität investiert haben und sich letztlich auch durchgesetzt haben. ({2}) Die Stabilität im Bereich der konventionellen Streitkräfte ist dadurch entscheidend vergrößert. Verschärfte rüstungspolitische Beschränkungen und operative Flexibilitäten sind in eine angemessene Balance gebracht. Destabilisierende Streitkräftekonzentrationen werden überall im Vertragsgebiet verhindert. Verstärkungen zur Krisenprävention und -bewältigung bleiben möglich. Mit der Öffnung des KSE-Vertrages kann sich das Netzwerk einer deutlich erhöhten konventionellen Stabilität erstmals über ganz Europa bis zum Ural legen. Es kommt jetzt darauf an, dass alle Partner ihre Pflichten aus dem ursprünglichen Vertrag erfüllen, damit die allseitige Ratifikation des neuen KSE-Vertrags zügig erfolgen und der Vertrag möglichst rasch umfassend implementiert werden kann. Das gilt auch für Russland, dessen militärisches Engagement in Tschetschenien gegen den KSE-Geist und -Text verstößt. ({3}) Ebenfalls auf dem OSZE-Gipfel beschlossen und am 1. Januar 2000 bereits in Kraft getreten ist das Wiener Dokument 99, das das Wiener Dokument 94 über vertrauensbildende Maßnahmen unter den damals 54 Mitgliedstaaten an die neue Lage anpasst. Es enthält - das ist ein erheblicher Fortschritt - erstmals einen konkreten Katalog regionaler vertrauens- und sicherheitsbildender Maßnahmen. Die Bundesregierung hat sich in diesem Zusammenhang intensiv für die Stabilisierung der Krisenregion auf dem Balkan nach dem Ende des Kosovo-Konflikts eingesetzt. Die Bemühungen um regionale Abrüstung und Stabilität im Rahmen des Dayton-Abkommens werden intensiv weitergeführt. Im Rahmen des Stabilitätspakts werden zusätzliche Bemühungen zur Verbesserung der deHans-Dirk Bierling mokratischen Kontrolle der Streitkräfte, der militärischen Kontakte und der Transparenz sowie vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen zur Förderung einer friedlichen Entwicklung in der Region auf den Weg gebracht. Mit der Wahl des demokratischen Präsidenten Kostunica erhalten diese Bemühungen eine neue, optimistische Perspektive für die Rückkehr Jugoslawiens in die Völkergemeinschaft und die friedliche Entwicklung der gesamten Region. ({4}) Ich freue mich deshalb - dem gilt sicherlich auch Ihr Beifall -, dass Jugoslawien seit letzter Woche 55. Mitglied des Wiener Dokuments geworden ist. ({5}) Die Bundesregierung ist besonders besorgt um die Risiken der Proliferation von Massenvernichtungswaffen, die 1999 deutlich hervortraten. Das Problem wird verschärft durch die rasche Entwicklung weit reichender militärischer Trägertechnologie in mehreren Ländern, die damit ein weit über ihre eigene Region hinaus reichendes Bedrohungspotenzial erwerben können. Dieses Thema wurde übrigens beim letzten Besuch in Nordkorea offensiv angesprochen. Die Entwicklung von Raketenabwehrsystemen wird von der Bundesregierung kritisch bewertet. Ihre Realisierung könnte erhebliche Konsequenzen für das gesamte Gefüge von Abrüstung und Rüstungskontrolle haben. Die Perspektive weiterer Fortschritte der nuklearen Abrüstung und Rüstungskontrolle darf dadurch nicht verstellt werden. ({6}) Die Bundesregierung begrüßt deshalb ausdrücklich, dass Präsident Clinton weitere Entscheidungen über die Dislozierung vorläufig zurückgestellt hat. Die Bundesregierung hat sich intensiv gegen Massenvernichtungswaffen eingesetzt. Bei der 6. Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag im Mai dieses Jahres haben die Kernwaffenstaaten unzweideutig ihre Verpflichtung zur vollständigen nuklearen Abrüstung bekräftigt. Die Vertragsstaaten haben sich auf praktische Schritte zur Stärkung der nuklearen Nichtverbreitung und zur Fortsetzung der nuklearen Abrüstung verständigt. Forschungsreaktoren sollen auf deutsche Initiative hin von hoch angereichertem auf niedrig angereichertes Uran umgestellt werden. ({7}) Bei der Abrüstung von C- und B-Waffen sind weitere Fortschritte nötig: Der Chemiewaffenverbotsvertrag muss in allen Vertragsstaaten umfassend implementiert werden. Der Vertrag über das Verbot der biologischen Waffen sollte in den Genfer Verhandlungen um ein substanzielles Protokoll ergänzt werden, das ihn verifizierbar macht. Ich komme zum letzten Punkt. Die meisten Opfer sind in regionalen oder innerstaatlichen Konflikten auf den Gebrauch kleiner und leichter Kriegswaffen, auf so genannte „small arms“ zurückzuführen. Die Bundesregierung hat die Initiative ergriffen, die weltweit vagabundierenden Handelsströme von „small arms“ einzudämmen. Wie mehrere Redner angesprochen haben, ist es unser Ziel, bei der im kommenden Jahr stattfindenden UN-Konferenz zu kleinen und leichten Kriegswaffen verlässliche Regeln aufzustellen, die Waffenströme wirkungsvoll zu kontrollieren und möglichst viele Waffen zu vernichten. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Volmer, kommen Sie bitte zum Schluss.

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Frau Präsidentin, ich komme zum letzten Satz. - Das zentrale Ziel all dieser Bemühungen ist eine umfassende Politik der Konfliktprävention, das heißt: die Abwehr von Gefahren für die internationale Sicherheit und Stabilität durch Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung, über die dieses Haus vor einer Woche debattiert hat. ({0}) Sie wird im Interesse unserer Bürgerinnen und Bürger auch zukünftig eines der tragenden Elemente der kooperativen Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland bleiben. Ich danke Ihnen. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Hildebrecht Braun.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der vorliegende Bericht ist wohl die beste Übersicht über den Bereich der Abrüstungsbemühungen in deutscher Sprache. Er ist gut gegliedert, erstaunlich gut lesbar und daher ein ausgezeichnetes Hilfsmittel für all diejenigen, die ihr Augenmerk auf Fragen des Friedens und der Sicherheit in der Welt richten. Dennoch möchte ich zwei kritische Anmerkungen machen. Erstens. Der Bericht versucht, auch unerfreuliche Tendenzen wohlwollend zu beschreiben, statt deutliche Kritik zu üben. So heißt es gleich im ersten Abschnitt: Gleichzeitig konkretisierten sich amerikanische Pläne zum Aufbau eines nationalen Raketenabwehrsystems, die erst noch in das vertragliche Regime der nuklearen Abrüstung und Nichtverbreitung integriert werden müssen, wozu in einem ersten Schritt die Anpassung des ABM-Vertrages im EinStaatsminister Dr. Ludger Volmer vernehmen mit Russland notwendig ist. Dieser Vorgang zeigt zu viel Rücksichtnahme auf unseren großen amerikanischen Partner, lässt er doch jede Distanz zu der amerikanischen Planung vermissen. In einem deutschen Abrüstungsbericht hätte ich mir eine deutlichere Sprache gewünscht, mit der das ausgedrückt worden wäre, was dieses Parlament und was die Bundesregierung zu dem nationalen Raketenabwehrsystem der USA zu sagen haben, nämlich, dass wir dieses System für schädlich halten. ({0}) Zweitens. Der Bericht wäre noch besser, wenn nicht nur Zahlen über das Streitkräftepotenzial in Europa und in angrenzenden Regionen enthalten wären, sondern auch über Asien, insbesondere über den Fernen Osten. Unsere Sicherheit in Europa ist längst nicht mehr nur von der Situation der Streitkräfte in nahe gelegenen Regionen abhängig. Es gibt viele Gründe, weswegen wir mit großem Interesse auf die Entwicklung in China, in Korea, aber auch in Süd- oder in Südostasien blicken. Große Entfernungen haben eine immer kleiner werdende Bedeutung. Dass China zum Beispiel seine Ausgaben für das Militär - ich zögere, von Verteidigungsausgaben zu sprechen massiv erhöht, während nahezu die ganze Welt ihre Ausgaben reduziert, kann nicht ohne Beachtung in einem Bericht bleiben, der eine Übersicht über das gesamte Rüstungsgeschehen bieten soll. ({1}) Natürlich berichtet die Bundesregierung über die einzelnen Verträge, die zusammengenommen das internationale Abrüstungsregime ausmachen. Nur in wenigen Bereichen konnte von substanziellen Fortschritten berichtet werden. In den meisten Teilgebieten tritt man auf der Stelle, wie bei der ständigen Abrüstungskonferenz in Genf. Das Jahr 1999 war in der Geschichte der Abrüstung ein besonderes Jahr. Erstens. Das Übereinkommen über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Antipersonenminen und über deren Vernichtung, das Ottawa-Abkommen, ist in Kraft getreten. Das ist ein großer politischer Erfolg, der unsägliches Leid für unendlich viele Einzelpersonen, insbesondere für Kinder, verhindern wird. Zweitens. Im September ist die Ratifikation des Atomteststoppvertrages durch die Vereinigten Staaten gescheitert. Das ist ein herber Rückschlag für die internationalen Abrüstungsbemühungen mit gefährlichen Signalen in Richtung der Staaten, die diesen Vertrag deshalb nicht ratifiziert haben, weil sie eigene Atomwaffenarsenale aufbauen wollen, wie zum Beispiel Indien und Pakistan. Soweit erkennbar, hat die deutsche Bundesregierung im Jahre 1999 keine Abrüstungsinitiative ergriffen, die der Stärke unseres Landes entsprechend Wirkung gezeigt hätte. Stattdessen hat Außenminister Fischer durch seine Versuche, die NATO auf einen Verzicht der Erstschlagsoption festzulegen, international für Verwirrung und Irritation gesorgt. ({2}) In Sachen konkreter Abrüstungsschritte war die Bundesrepublik Mitläufer und nicht Mitgestalter. Das ist bedauerlich und das sollte sich ändern. ({3}) Deutschland wird in den vor uns liegenden Jahren von Trägersystemen aus dem Iran, aber wohl auch aus dem Irak, eventuell auch aus Libyen erreicht werden können. Allein dieser Punkt sollte die Bundesregierung dazu veranlassen, Schritte in Richtung eines internationalen Vertrages zum Verzicht auf den Bau oder den Erwerb, jedenfalls der Stationierung von Trägerraketen mittlerer und größerer Reichweite zu initiieren, die nicht unter internationaler Kontrolle stehen und ausschließlich für zivile Zwecke eingesetzt werden können. Gelingt es nicht, meine Damen und Herren, das Problem der in Entwicklung befindlichen Trägersysteme in den Griff zu bekommen, wird es kaum möglich sein, unsere Sicherheit vor Angriffen aus anderen, auch kleinen Staaten zu gewährleisten. Ich glaube, hier wäre ein Feld, auf dem die Deutschen initiativ werden könnten und sollten. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin ist die Kollegin Heidi Lippmann für die PDS-Fraktion.

Heidi Lippmann-Kasten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003173, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 70 Seiten Bericht in drei Minuten zu behandeln ist unmöglich. Ich verzichte daher auf das Lob, das der Bericht durchaus verdient hat, aber es kam ja schon zum Ausdruck. So beschränke ich mich auf Anmerkungen. Eine aktive Abrüstungspolitik der Bundesregierung kann nicht losgelöst von der Gesamtausrichtung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik diskutiert werden, die im Jahre 2000 aufrüstungs- statt abrüstungsorientiert ist. ({0}) Dies beweisen das neue strategische Konzept der NATO und die Defence Capability Initiative mit 58 Einzelmaßnahmen zur qualitativen Aufrüstung, die neue europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit ihrer 60 000 Mann starken schnellen Eingreiftruppe ebenso wie der Umbau der Bundeswehr von einer Verteidigungs- zur Interventionsarmee. ({1}) Im Bereich der nuklearen Abrüstung konnte sich zwar kürzlich die Resolution der New Agenda Coalition durchsetzen, doch sind wir weit entfernt von einem Verbot für Nuklearwaffen. Im Gegenteil, es sind eine weitere Proliferation und ein erneutes Wettrüsten zu befürchten, wofür auch - das wurde schon gesagt - die US-amerikanischen Hildebrecht Braun ({2}) Pläne für ein nationales Raketenabwehrsystem verantwortlich sind. Zwar gibt es immer mehr kernwaffenfreie Zonen auf der Welt, doch für Europa ist dies weiterhin Utopie. Nicht verschwiegen werden dürfen hier die nuklearen Sprengköpfe, die immer noch auch auf deutschem Boden stationiert sind. Im Bereich der B- und C-Waffen haben zwar mittlerweile überaus viele Staaten die Verbotsabkommen unterzeichnet, doch es gibt riesigen Handlungsbedarf sowohl bei der Entsorgung chemischer und biologischer Kampfstoffe als auch bei der Überprüfung der Forschung und Entwicklung zwecks möglicher Abwehrmaßnahmen. Allein 40 000 Tonnen chemischer Kampfstoffe in Russland sind ebenso eine tickende Zeitbombe wie die circa 120 vor der Kola-Halbinsel vor sich hindümpelnden Atom-U-Boote. Zwar unterstützt die Bundesregierung den Aufbau einer Vernichtungsanlage chemischer Kampfstoffe in Gorny, doch dies ist im Vergleich zum Bedarf ein Tropfen auf den heißen Stein. ({3}) So gut und wichtig das Ottawa-Abkommen ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen uns nicht auf das Verbot von Antipersonenminen beschränken, sondern müssen das Gleiche auch für die Antifahrzeugminen erreichen. ({4}) Riesigen Handlungsbedarf gibt es auch im Bereich der präventiven Rüstungskontrolle. Die Gefahren, die von den neuen Technologien ausgehen, sind dank engagierter Wissenschaftler und auch dank des Berichtes des Büros für Technikfolgenabschätzungen bekannt. Doch sie müssen auch entsprechend ernst genommen werden. Vieles, was heute noch als Science-Fiction wahrgenommen wird, kann morgen durchaus tödlich enden. Es gibt keine Hochtechnologie, die nicht militärisch gebraucht oder missbraucht werden kann, ob Kommunikations- oder Computertechnik, Elektronik, Sensorik, Mikro- und Nanotechnik oder Informationsverarbeitung. Der Cyberwar rückt in beängstigendem Maße näher, ebenso wie die Militarisierung des Weltraums. Wir fordern die Bundesregierung auf, ein eigenes Amt für Abrüstung, Konversion und präventive Rüstungskontrolle einzurichten und hierfür Mittel in signifikanter Höhe in den Haushalt einzustellen. ({5}) 10 Prozent der deutschen Rüstungsausgaben entsprechen nach NATO-Kriterien rund 6 Milliarden DM. Entsprechende Kürzungsvorschläge im Einzelplan 14 haben wir Ihnen vorgelegt. Darüber hinaus erwarten wir von der Bundesregierung, dass sie alles tut, um auch auf die neue US-Regierung Einfluss zur Verhinderung des National-Missile-DefenseProgramms zu nehmen und sich insbesondere von den europäischen regionalen Abwehrsystemen zu verabschieden. Als Programm für Ihre künftige Abrüstungspolitik empfehlen wir Ihnen das heute veröffentlichte Memorandum des Verbandes Deutscher Wissenschaftler, ein Plädoyer für ein europäisches „Diplomatie zuerst“. Ich erlaube mir, Ihnen ein Exemplar zu überreichen, Herr Staatsminister. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3233 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie den Zusatzpunkt 5 auf: 11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Blank, Dirk Fischer ({0}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Binnenschifffahrt erhalten und sichern - Drucksache 14/4387 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich ({2}), Hans-Michael Goldmann, Dr. Karlheinz Guttmacher weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Wasserstraßen ausbauen und Nachteile der Deutschen Flagge im EU-weiten Wettbewerb der Binnenschifffahrt beseitigen - Drucksache 14/4602 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({3}) Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kollegin- nen und Kollegen Annette Faße, Renate Blank, Helmut Wilhelm, Hans-Michael Goldmann sowie Dr. Winfried Wolf haben ihre Reden zu Protokoll gegeben1). - Ich sehe keinen Widerspruch im Saal. ({4}) Deshalb kommen wir gleich zu den Überweisungen. In- terfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/4387 und 14/4602 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. 1) Anlage 3 Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Namensaktie und zur Erleichterung der Stimmrechtsausübung ({5}) - Drucksache 14/4051 ({6}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({7}) - Drucksache 14/4618 Berichterstattung: Abgeordnete Bernhard Brinkmann ({8}) Dr. Susanne Tiemann Volker Beck ({9}) Dr. Evelyn Kenzler Es liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion der F.D.P. vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kollegin- nen und Kollegen Bernhard Brinkmann, Professor Dr. Susanne Tiemann, Margareta Wolf, Rainer Funke, Dr. Uwe-Jens Rössel sowie Professor Dr. Eckhart Pick ha- ben ihre Reden zu Protokoll gegeben1).({10}) Auch hierzu sehe ich keinen Widerspruch im Saal. Des- halb kommen wir sofort zu den Abstimmungen. Wir kommen zuerst zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Namens- aktiengesetzes, Drucksachen 14/4051 und 14/4618. Dazu liegen zwei Änderungsanträge der F.D.P. vor, über die wir zunächst abstimmen. Wir kommen zum Änderungsantrag auf Drucksache 14/4628. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist gegen die Stimmen von F.D.P. und CDU/CSU bei Ent- haltung der PDS-Fraktion abgelehnt. Ich rufe den Änderungsantrag auf Drucksache 14/4629 auf. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion und bei Ent- haltung der CDU/CSU- und der PDS-Fraktion abgelehnt. Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- chen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Ge- setzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stim- men der PDS-Fraktion angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung und Schlussabstimmung ge- gen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Günter Rexrodt, Hildebrecht Braun ({11}), Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des deutschen Rabattrechts an die EU-Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr ({12}) - Drucksache 14/4423 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({13}) Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer Funke, Rainer Brüderle, Hildebrecht Braun ({14}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des deutschen Zugaberechts an die EU-Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr ({15}) - Drucksache 14/4424 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({16}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kollegin- nen und Kollegen Birgit Roth, Dirk Manzewski, Hartmut Schauerte, Margareta Wolf, Gudrun Kopp, Rolf Kutzmutz sowie der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Eckhart Pick haben ihre Reden zu Protokoll gegeben2). - Auch hier sehe ich keinen Widerspruch im Saal. Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 14/4423 und 14/4424 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe dazu im Hause Einverständnis. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Erika Simm, Joachim Stünker, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck ({17}), Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller ({18}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes - Drucksache 14/3763 ({19}) - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes - Drucksache 14/4452 ({20}) Vizepräsidentin Petra Bläss 1) Anlage 4 2) Anlage 5 - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Wolfgang Bosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes ({21}) - Drucksache 14/4070 ({22}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({23}) - Drucksache 14/4622 Berichterstattung: Abgeordnete Erika Simm Wolfgang Götzer Volker Beck ({24}) Dr. Evelyn Kenzler Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache; denn irgendeine müssen wir heute ja noch haben. Als erster Redner spricht Kollege Joachim Stünker von der SPD-Fraktion. ({25})

Joachim Stünker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003244, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist fast 22 Uhr und ein Häuflein Aufrechter möchte sich noch mit dem Fünften Gesetz zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes beschäftigen. Diejenigen, die es eigentlich angeht, könnten die Debatte - selbst wenn sie im Fernsehen noch übertragen würde, nicht einmal mehr sehen, weil im Vollzug ab 22 Uhr Nachtruhe herrscht. Worum geht es? Es geht letzten Endes um die angemessene Entlohnung von Strafgefangenen für zugewiesene Pflichtarbeit im Vollzug. Der Anlass ist, dass das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 1. Juli 1998 aufgrund von diversen Verfassungsbeschwerden in den 90er-Jahren festgestellt hat, dass die geltende Regelung im Strafvollzugsgesetz mit den Grundnormen unseres Grundgesetzes nicht mehr vereinbar ist. Das heißt, die geltende Entlohnungspraxis - zurzeit monatlich 215 DM, also pro Tag 10 DM - ist verfassungswidrig, weil sie kein angemessenes Leistungsäquivalent darstellt. Mit diesem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht letztendlich die Notbremse gezogen, weil der Bundesgesetzgeber eigentlich schon seit 15, 16 Jahren verpflichtet gewesen wäre, den Intentionen des Strafvollzugsgesetzes aus dem Jahre 1977 folgend, angemessene Veränderungen vorzunehmen. Das Bundesverfassungsgericht hat uns ins Stammbuch geschrieben: Das Grundgesetz verpflichtet den Gesetzgeber zur Entwicklung und Umsetzung eines wirksamen Konzeptes der Resozialisierung im Strafvollzug. Arbeit im Strafvollzug dient der Resozialisierung. Sie muss daher angemessene Anerkennung erfahren, und zwar in dem Sinne, dass dem, der zur Arbeit verpflichtet ist, der Wert der Arbeit durch die Entlohnung für das künftige Leben in Freiheit auch vermittelt wird. ({0}) Ich darf das Urteil an dieser Stelle zitieren. Dort heißt es wörtlich: Arbeit im Strafvollzug, die dem Gefangenen als Pflichtarbeit zugewiesen ist, ist nur dann ein wirksames Resozialisierungsmittel, wenn die geleistete Arbeit angemessene Anerkennung findet. Diese Anerkennung muss geeignet sein, dem Gefangenen den Wert regelmäßiger Arbeit für ein künftiges eigenverantwortliches und straffreies Leben in Gestalt eines für ihn greifbaren Vorteils vor Augen zu führen. Nun ist es Bund und Ländern zwei Jahre nach diesem Urteil nicht möglich gewesen, sich darauf zu einigen, wie denn dieses Urteil letzten Endes in die Praxis umzusetzen ist. Aber das Bundesverfassungsgericht hat uns eine Frist gesetzt, nämlich bis zum 31. Dezember dieses Jahres. Wenn wir bis zu diesem Zeitpunkt keine Neuregelung des Strafvollzugsgesetzes haben, werden in jedem Einzelfall die Gerichte in Deutschland zu entscheiden haben, wie hoch die Entlohnung zu sein hat. Von daher haben wir es heute im Ergebnis - ich bedaure das sehr - mit drei Gesetzentwürfen zu tun, nämlich mit einem Entwurf der Koalitionsfraktionen, mit einem Entwurf der CDU/CSU-Fraktion und einem Entwurf des Bundesrates. ({1}) Wenn man diese Entwürfe vergleicht, fragt man sich: Worum geht es? Es geht letzten Endes ums Geld. Es geht wieder einmal darum, wie viel Geld wir in der Lage oder bereit sind, zur Verfügung zu stellen. ({2}) - Rein zufällig ist das vielleicht nicht, Kollege Brinkmann. Der Entwurf der Koalitionsfraktionen geht davon aus, dass wir die jetzt durchschnittliche Vergütung von 215 DM im Monat auf 660 DM erhöhen, während der Bundesrats- und der CDU/CSU-Entwurf einen Betrag von 320 DM vorsehen. Man wird das Ganze im Ergebnis nicht in Mark und Pfennig messen können. Wir haben die leistungsbezogene und formalisierte Anerkennung der Arbeitspflicht zu regeln. Ich sehe ebenso wie meine Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, dass wir uns in einem Spannungsverhältnis zwischen dem, was verfassungsrechtlich geboten ist und dem, was die Länder, die das Gesetz vollziehen müssen, finanziell werden leisten können, befinden. Nur, das verfassungsrechtliche Gebot der Resozialisierung ist keine sozialromantische Spinnerei, sondern folgt Vizepräsidentin Petra Bläss letztendlich Art. 2 und Art. 20 des Grundgesetzes. Von daher hoffe ich sehr und vertraue ein wenig darauf, dass in der Diskussion Vernunft einkehrt und wir im Vermittlungsausschuss, bei dem die ganze Angelegenheit landen wird, zu einer vernünftigen Lösung kommen werden. Schönen Dank. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Dr. Wolfgang Götzer.

Dr. Wolfgang Götzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000707, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute in zweiter und dritter Lesung über die Erhöhung der Gefangenenentlohnung. Uns allen ist dabei klar - Herr Kollege Stünker hat es schon angesprochen -, dass in der heutigen Debatte nicht das letzte Wort in dieser Sache gesprochen wird, sondern dass sich aller Voraussicht nach der Vermittlungsausschuss mit diesem Thema wird beschäftigen müssen. Ich kann mir jetzt ersparen, längere Zitate aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wiederzugeben, weil das bereits mein Vorredner getan hat. Im Übrigen hat es schon zwei Debatten zu diesem Thema gegeben, sodass man auf die Protokolle der damaligen Sitzungen verweisen kann. Die gestrige Diskussion im Rechtsausschuss - ich glaube, das war allgemeine Überzeugung - war sachlich und zielorientiert. Ich möchte mich in diesem Zusammenhang besonders bei Frau Ministerin Schubert für ihre Ausführungen zu diesem Thema bedanken, die unseren Ansichten sehr nahe gekommen sind bzw. ihnen entsprochen haben. Gleichwohl sind - ich sage das mit Blick auf die Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition - die Unterschiede zwischen Ihrem Gesetzentwurf, dem der CDU/CSU-Fraktion und dem des Bundesrates deutlich geworden. Die Regierungsfraktionen wollen eine Verdreifachung der Gefangenenentlohnung, das heißt eine Erhöhung von 5 Prozent der Bezugsgröße auf 15 Prozent der Bezugsgröße. Sie wollen diese Erhöhung auf sämtliche Gefangenengruppen erstrecken und sehen dabei keine immaterielle Vergütung vor. Der Entwurf der CDU/CSU dagegen sieht gegenüber dem bisherigen Zustand eine Steigerung um 40 Prozent vor, allerdings begrenzt auf die zur Arbeit verpflichteten Gefangenen, und beinhaltet außerdem als weitere Kompetente nicht monetäre Maßnahmen. Das bedeutet konkret die Möglichkeit, dass Gefangene bis zu sechs zusätzliche Freistellungstage pro Jahr ansparen können, um diese dann als Hafturlaub oder zur Vorverlegung des Entlassungszeitraumes nutzen zu können. Dieses Kombinationsmodell orientiert sich am einmütigen Beschluss der Justizminister der Länder vom 10. November 1999 und beschränkt sich auf das von der Verfassung her gebotene Maß einer Erhöhung der Gefangenenentlohnung. Der Entwurf des Bundesrates - für den ich spreche - deckt sich im Wesentlichen hinsichtlich des Umfangs der Erhöhung der Gefangenenentlohnung und der Ermöglichung nicht monetärer Maßnahmen mit unserem Entwurf. Was ist unsere Kritik am Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen? Zum einen kritisieren wir die geplante Verdreifachung der bisherigen Gefangenenentlohnung. Damit schießt dieser Entwurf weit über die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts hinaus. Das wird zu einer erheblichen Verteuerung der Arbeitsleistungen führen. In diesem Punkt darf ich auf das verweisen, was gestern im Rechtsausschuss die sachsen-anhaltinische Ministerin Schubert erklärt hat. Viele Privatbetriebe und erst recht die Eigenbetriebe der Justizvollzugsanstalten werden nicht mehr wirtschaftlich arbeiten können, wenn tatsächlich eine Verdreifachung der Gefangenenentlohnung vorgesehen wird. Wenn die Arbeit zu teuer ist, wird Arbeitsleistung nicht mehr nachgefragt; es ist leider so. In der Folge wäre ein massiver Abbau von Arbeitsplätzen in den Justizvollzugsanstalten zu befürchten. Das läuft dem Resozialisierungsgedanken diametral entgegen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat dem Bemühen um Verbesserung der Bedingungen der Resozialisierung in seinem Urteil breiten Raum eingeräumt. Das wird mit diesem Entwurf der Regierungskoalition gerade nicht erreicht. Außerdem wird dieser Entwurf, wenn er denn Wirklichkeit werden sollte, zu erheblichen Spannungen unter den Gefangenen führen. Frau Ministerin Schubert hat davon gesprochen, dass es dann ein Zweiklassensystem, sozusagen eine Zweiklassengesellschaft, in den Gefängnissen geben würde, und zwar eine Klasse derjenigen, die Arbeit haben, und einer Klasse derjenigen, die keine Arbeit haben. ({0}) Nachdem selbst eine SPD-Ministerin in dieser Hinsicht keine Klassengesellschaft will, wollen wir uns in diesem Punkt anschließen. ({1}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, die ganze Diskussion dreht sich ja um die Frage: Was ist eine angemessene Entlohnung? Das ist, denke ich, nicht allein eine Frage der prozentualen Erhöhung. Die Angemessenheit kann sich nicht alleine im Wettlauf um eine prozentuale Erhöhung darstellen. Auch darüber haben wir ja gestern im Rechtsausschuss debattiert. Deswegen gehe ich nicht davon aus, dass man mit den 15 Prozent, die Sie planen, gegenüber dem Entwurf von Union und Bundesrat sozusagen auf der sichereren verfassungsrechtlichen Seite wäre. Denn wenn in den Justizvollzugsanstalten die Schere zwischen denen, die Arbeit haben, und denen, die keine Arbeit haben, immer weiter auseinander geht, wenn die Zahl derjenigen, die Arbeit haben, immer geringer wird, und diese dann dreimal so viel Geld bekommen wie bisher, so stellt sich in diesem Zusammenhang entsprechend das verfassungsrechtliche Problem der Gleichheit. Die Verdreifachung der Gefangenenentlohnung wäre im Übrigen ein verheerendes Signal an die Opfer von Straftaten. Vizepräsidentin Petra Bläss ({2}) - Nein, das ist alles andere als absurd. Das ist im Gegenteil eine sehr nahe liegende Gefahr, verehrter Herr Kollege Beck. - Wenn außerdem davon gesprochen wird, dass, wenn die Gefangenen mehr Geld bekämen, möglicherweise auch mehr Geld für die Resozialisierung zur Verfügung stünde, möchte ich dazu sagen: Es kann ja wohl nicht sein, dass die Justizvollzugsanstalten und letztlich damit der Steuerzahler die Resozialisierung der Gefangenen übernehmen soll. ({3}) - Dass der Steuerzahler für die Resozialisierung aufkommt, ist ein neuer Gesichtspunkt. Das kann ja wohl nicht sein, außer natürlich, wenn ich vom totalen Staat ausgehe. Verehrter Kollege von der PDS, mit Ihrem Staatsverständnis kann ich das in Einklang bringen; aber ich glaube nicht, dass das der Sinn sein kann. Unverständlich ist, dass der Entwurf der Regierungskoalition keine nicht monetären Maßnahmen enthält, obwohl das Urteil des Bundesverfassungsgerichts dies ausdrücklich als Möglichkeit anspricht. ({4}) - Ich weiß nicht, ob Sie Jurist sind, Herr Kollege. Dann sollten Sie sich besser nicht dazu äußern. - Ich trete gerne in einen Disput mit Ihnen ein; aber ich weiß nicht, welche Ausbildung Sie genossen haben. ({5}) Ich komme nun noch zu einem Thema, das ebenfalls erwähnt werden muss, nämlich die finanzielle Belastung der Länder. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, allein der bayerische Staatshaushalt hätte Mehrkosten in Höhe von etwa 33 Millionen DM zu tragen, würde dieses Gesetz Wirklichkeit. ({6}) - Bayern ist ein wirtschaftlich sehr solides Land, Herr Kollege Stünker. Ich habe Ihren Einwurf sehr wohl verstanden. Dennoch wäre dieser Betrag faktisch nicht verkraftbar. Darüber haben wir gestern gesprochen. ({7}) Die anderen Länder, auch die SPD-regierten Länder, machen ähnliche Rechnungen auf. Bundesweit müssten die Länder in der Summe etwa 230 Millionen DM ausgeben, wenn Ihr Gesetzentwurf in die Tat umgesetzt würde. Ich darf zusammenfassen. Der Gesetzentwurf der Regierungskoalition schießt weit über die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtsurteils hinaus. Er vernichtet Arbeitsplätze in den Justizvollzugsanstalten. ({8}) Er belastet die Länder unzumutbar und er setzt ein verheerendes Signal für die Opfer. Dass nicht nur wir das so sehen, sondern auch die Länder den Entwurf ablehnen, haben Sie ja an dem einmütigen Votum der Länder erkennen können. Die „Frankfurter Rundschau“ schreibt dazu: 16:0 gegen die Bundesjustizministerin! So etwas hat es noch nie gegeben! ({9}) - Wenn es nur um Eishockey ginge, wäre dieses Ergebnis rechtlich folgenlos, Herr Kollege Hartenbach. ({10}) Der Entwurf der CDU/CSU und auch der des Bundesrates sehen eine maßvolle Erhöhung der Löhne für Strafgefangene vor, die aber immerhin bei 40 Prozent liegt, und zwar in Kombination mit nicht monetären Maßnahmen. Mit diesem Kombinationsmodell tragen wir den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls Rechnung, allerdings beschränken wir uns auf das von Verfassungs wegen gebotene Maß. Wir verhindern mit unserem Vorschlag den Abbau von Arbeitsplätzen in den Justizvollzugsanstalten und halten die finanzielle Belastung der Länder in einem erträglichen Rahmen. Sie würde nach unseren Vorstellungen bei nur etwa 40 Millionen DM liegen, während nach dem Entwurf der Regierungskoalition Mehrkosten in Höhe von über 230 Millionen DM auf die Länder zukommen. Die Beratungen im Rechtsausschuss haben gezeigt, dass die Regierungskoalition eingesehen hat, dass sie nicht in der Lage ist, ihren Gesetzentwurf gegen die geschlossene Front der Länder durchzudrücken. Unsere Hoffnung richtet sich deshalb jetzt auf das Vermittlungsverfahren. Vielen Dank. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Volker Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Götzer, ich finde es verkehrt, wenn wir in dieser Debatte die notwendige Resozialisierung der Täter - damit hat Karlsruhe sein Urteil begründet - gegen die berechtigten Interessen der Opfer von Straftaten ausspielen. ({0}) Das ist der falsche Zungenschlag und nützt auch den Opfern nichts. ({1}) Wenn man für die Resozialisierung der Täter nichts macht, weil man für die Verbesserung der Situation der Opfer auch nichts tut - das ist die Bilanz Ihrer Rechtspolitik, die Sie 16 Jahre betrieben haben -, dann macht man einen Riesenfehler. Die jetzige Regierungskoalition macht genau das Gegenteil. Wir werden durch die Reform des rechtlichen Sanktionensystems erstmals die Opferhilfe in diesem Land stärken. ({2}) Es ist in der Tat ein Skandal, dass die Finanzierung der Opferhilfe, der Hilfe für traumatisierte Verbrechensopfer, bisher keine rechtliche Grundlage in diesem Land hat. ({3}) Das werden wir ändern. Das hilft den Opfern tatsächlich. ({4}) Der Täter, der durch Resozialisierung dazu gebracht wird, künftig keine Straftaten mehr zu begehen, und der den Wert der Arbeit im Strafvollzug kennen und schätzen gelernt hat, ({5}) der ist für die Gesellschaft und auch die potenziellen Opfer die beste Sicherheit. Herr Geis, reden Sie bitte nicht die ganze Zeit dazwischen. Ich habe im Moment überwiegend das Wort im Parlament. ({6}) Der Stundenlohn von Strafgefangenen liegt gegenwärtig bei 1,72 DM. Karlsruhe ist 1998 der Geduldsfaden gerissen und hat an die Adresse des Gesetzgebers gesagt: Dieser Zustand ist nicht mehr haltbar. Die Koalition hat also die Zahlen nicht ausgewürfelt. Wir setzen vielmehr die Vorgaben des Verfassungsgerichtsurteils um. Der Vater des Urteils von 1998, der ehemalige Verfassungsrichter Kruis, hat gesagt: Eigentlich müsste das Niveau der Strafgefangenenentlohnung auf 20 Prozent angehoben werden. Wir sind - mit Rücksicht auf die Finanzen der Länder - dieser Empfehlung nicht gefolgt und haben mit unserem Vorschlag das Lohnniveau auf 15 Prozent angehoben. Wir haben einen moderaten Weg gewählt. Aber eines hat Kruis uns auf den Weg gegeben: Zweistellig müsste die Erhöhung schon ausfallen. Damit ist ganz klar: Der Gesetzentwurf, den die Union vorgelegt hat, und leider auch der Vorschlag der Länder bewegen sich nicht mehr auf der verfassungsrechtlich sicheren Seite. Das ist bedauerlich. So können wir mit dem höchsten Gericht in unserem Lande nicht umgehen. ({7}) Die höhere Entlohnung der Gefangenen ({8}) - Herr Geis, ich lasse keine Zwischenfragen zu; es ist spät genug; wir haben darüber lange im Ausschuss und mehrmals im Plenum diskutiert; Sie würden heute Abend auch nichts dazulernen, wenn ich Ihre Zwischenfrage zuließe; denn Sie wollen gar nichts dazulernen ({9}) bedeutet nicht, dass sie mehr Hausgeld zur Verfügung haben, um im Strafvollzug mehr einkaufen zu können. Darum geht es hier nicht. Deshalb geht auch das Argument der Zweiklassengesellschaft an der Sache vorbei. Ich fand die Vorstellung interessant, dass die Union jetzt von einer klassenlosen Gesellschaft träumt. Zu Ende gedacht ließe Ihr Vorschlag, Herr Götzer, dass wir keinem Gefangenen etwas zahlen. Denn die Differenzierung zwischen denen, die Arbeit haben, und denen, die keine haben, besteht schon heute. ({10}) Wie können die Menschen lernen, dass die Arbeit, die sie leisten, etwas wert ist, wenn sie dafür keine vernünftige Entlohnung erhalten? ({11}) Meine Damen und Herren, die Entlohnung der Gefangenen dient aber auch den Opfern. Denn die Opfer, die Wiedergutmachungsansprüche zivilrechtlicher Art gegen die Täter stellen, können nur etwas bekommen, wenn die Täter auch über Einkommen verfügen. ({12}) Deshalb ist es ganz entscheidend, dass sie Arbeit haben, dass sie Geld verdienen, damit Wiedergutmachung an die Opfer zahlen und ihre Schulden abzahlen können. Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe hat festgestellt, dass drei Viertel der Strafgefangenen überschuldet sind. Wenn wir in dieser Situation nicht helfen, dass sie durch Arbeit selber etwas ändern können, rutschen diese Leute, wenn sie aus dem Strafvollzug kommen, erneut in die Kriminalität ab, weil sie keine Perspektive sehen, mit einem Leben in Legalität und frei von Straftaten einen Weg zurück in die Gesellschaft mit neuen Startchancen zu finden. ({13}) Meine Damen und Herren, wir müssen auch an die Kinder und Ehefrauen von Strafgefangenen denken. Es handelt sich ja mehrheitlich um Männer; deshalb formuVolker Beck ({14}) liere ich es auch so. Denn die Angehörigen haben Unterhaltsansprüche. Diese gilt es zu realisieren. Auch diesem Zweck dient der erhöhte Strafgefangenenlohn. Deshalb ist der Vorschlag der Koalition ausgewogen. Er ist verfassungsrechtlich geboten. ({15}) Ich hoffe, dass die andere Seite des Hauses und auch der Bundesrat sich im Vermittlungsausschuss auf unseren Vorschlag zubewegen werden. ({16})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Kollege Jörg van Essen für die F.D.P.-Fraktion.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin ganz sicher, dass der Vermittlungsausschuss zu einem anderen Ergebnis kommen wird. Mit Interesse werde ich die Reden, die wir hier heute Abend von den Vertretern der Koalition gehört haben, dann, wenn wir dieses Ergebnis haben, nachlesen. ({0}) Denn dann wird die Koalition nämlich auf einmal bei einem Ergebnis zustimmen, das mit Sicherheit unter dem liegen wird, was die Koalition hier heute vorschlug. Ich bedauere es ganz außerordentlich, dass wir ein Gesetz verabschieden, von dem wir schon vorher wissen, dass es so nicht in Kraft treten wird, weil das eine Art von Gesetzgebung ist, die ich mir für den Bundestag gerade nicht wünsche. ({1}) Ich denke, dass alle Gelegenheit gegeben wäre, zu einem Übereinkommen mit den Ländern zu kommen; denn die Zeit drängt. Das Bundesverfassungsgericht hat uns eine klare Frist gesetzt. Am 1. Januar des nächsten Jahres muss eine Regelung stehen. Bei uns in der Fraktion hat es - das will ich gar nicht verschweigen - eine heftige Debatte gegeben. Viele der Argumente, die heute Abend eine Rolle gespielt haben, haben auch Kolleginnen und Kollegen in meiner Fraktion überzeugt. Sie haben sich für eine deutliche Erhöhung der Gefangenenentlohnung ausgesprochen. ({2}) Ich selbst habe zu denen gehört, die dafür plädiert haben, den Ländern zu folgen. Für mich war die erste und wichtigste Frage dabei, weil ich der Auffassung bin, dass wir das, was uns das Bundesverfassungsgericht auferlegt, auch umsetzen müssen: Ist das, was die Länder vorschlagen, verfassungsgemäß? Vom Kollegen Götzer ist ja hier schon ausgeführt worden - ich denke, auch Frau Ministerin Schubert wird dazu gleich etwas sagen -, dass das Bundesverfassungsgericht das, was die Länder beabsichtigen, ausdrücklich zulässt. Es macht nämlich klar, dass den Vorgaben des Verfassungsgerichtes nicht nur durch monetäre Leistungen, sondern auch durch andere Maßnahmen entsprochen werden kann. Das ist der erste Punkt. Der zweite Punkt, der mir wichtig war, ist, dass wir zu einer wirklichen Verbesserung für die Gefangenen kommen. Denn alles, was wir hier gehört haben - bessere Resozialisierung, bessere Unterhaltsleistungen und bessere Leistungen an die Opfer -, wird illusionär, wenn die Wirklichkeit dazu führt, dass weniger arbeiten. Wenn die Arbeit in den Justizvollzugsanstalten so drastisch teurer wird, wie es die Koalition vorschlägt, dann hat das zur Konsequenz, dass wir in den Anstalten weniger Arbeit anbieten können. Wenn einem der Gedanke der Resozialisierung wichtig ist - ich gehöre zu diesen Personen -, dann muss man doch feststellen, dass der Nachweis von permanenter Arbeit und das Gewöhnen an die Prozesse von Arbeit, was ja bei vielen Strafgefangenen vor ihrer Inhaftierung nicht der Fall war, die besten Vorbereitungen auf die Freiheit sind. Deshalb scheint mir der Weg, den die Länder gehen, ein vernünftiger zu sein. Ich habe zwar das Gefühl, dass die Position der Länder natürlich auch von monetären, von finanziellen Gesichtspunkten beeinflusst ist. Ich denke aber, dass, wenn man abwägt, der Weg der Länder so, wie sie ihn vorschlagen - ein Weg der Vernunft ist, weil er möglichst viel Arbeit für die Strafgefangenen in den Justizvollzugsanstalten erhält. Ich komme zu meiner letzten Überlegung. Herr Beck hat von den Opfern gesprochen und die wirklich abstruse Behauptung aufgestellt, dass jetzt zum ersten Mal etwas für Opfer getan werde. Wir haben - Gott sei Dank - in der letzten Legislaturperiode unter dem Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jortzig erhebliche Fortschritte in der Frage der Opferentschädigung erzielt. Wenn ich vor der Entscheidung stehe, wo Verbesserungen für mich den Schwerpunkt haben sollten, dann muss ich sagen: bei den Opfern. Es gehört auch zur Ehrlichkeit, zu sagen, dass wir dann, wenn wir mehr Geld geben, immer noch unter den Pfändungsfreigrenzen sind und es dann immer noch von der Entscheidung der Strafgefangenen abhängt, ob die Opfer tatsächlich mehr Geld bekommen. ({3}) Mir ist aber klar: Wenn der Strafvollzug teurer wird, dann ist in den Länderhaushalten, insbesondere in den Justizhaushalten, weniger Geld für Opfer vorhanden. Auch das macht meine Entscheidung leicht, mich für den Entwurf der Länder auszusprechen. Vielen Dank. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Jetzt hat die Kollegin Ulla Jelpke für die PDS-Fraktion das Wort.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich meine, dass wir heute ein trauriges Kapitel der Strafvollzugsgeschichte erneut diskutieren. Herr Stünker, bereits 1977, also vor genau 23 Jahren, als man Volker Beck ({0}) die große Strafvollzugsreform hier im Hause verabschiedet hat, wurde eine Erhöhung der Gefangenenlöhne auf 40 Prozent des Tariflohns bis zum Jahr 1986 vorgesehen. Schon damals haben Experten gesagt, dass es eigentlich 75 Prozent sein müssten. Auch die Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe sowie Justizvollzugsanstaltsleiter - die Strafgefangenen natürlich sowieso - fordern, dass auf jeden Fall eine Erhöhung, die an den Tariflohn heranführt, durchgesetzt werden müsste. Es gibt Anstaltsleiter, die davon sprechen, dass eine Entlohnung unter 20 Prozent verfassungswidrig ist. ({1}) Ich weise darauf hin, dass die Bundesrepublik hinsichtlich der Gefangenenentlohnung den neunten Platz unter den europäischen Ländern einnimmt. Ich möchte ebenfalls darauf hinweisen, dass wir in den vergangenen Legislaturperioden immer wieder Anträge eingebracht haben, die eine tarifliche Entlohnung der Gefangenen und deren Einbeziehung in die gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung fordern. Diese Forderung ist bis heute nicht annähernd erfüllt. ({2}) Auch wenn die SPD und die Grünen heute hier sagen, dass sie einen verfassungsgemäßen Antrag einbringen wollen, in dem sie gerade einmal 15 Prozent fordern, wird das dem, was notwendig ist, nicht gerecht. ({3}) Ich will die einzelnen Anträge nicht noch einmal vorstellen; dazu reicht meine Zeit gar nicht. Einen Gedanken will ich aber doch noch aufgreifen. Es geht hier darum, den Gefangenen zu ermöglichen, mehr Schadenswiedergutmachung und Opferentschädigung zu leisten, als sie es bisher können. Die meisten können es bisher gar nicht, weil sie arbeitslos sind. Die Arbeitslosigkeit ist in deutschen Gefängnissen extrem hoch; das ist zweifellos richtig. Der Resozialisierungsgedanke - der Kollege Beck hat es schon erwähnt - ist meines Erachtens aber ganz wesentlich. Erst in der vergangenen Woche haben wir hier über Verbrechensbekämpfung diskutiert. Es wird immer wieder darüber geklagt, dass die Rückfallquote der Gefangenen sehr hoch ist. Resozialisierung bedeutet, Menschen in die Lage zu versetzen, ein neues Leben zu beginnen. Wenn Sie sich einmal anschauen, was der Bundesrat fordert, nämlich dass den Gefangenen im Monat ein Lohn von 320 DM gezahlt wird - davon müssen sie Tabak und alles Mögliche im Monat bezahlen -, dann erkennen Sie: Davon bleibt so gut wie gar nichts übrig. Das heißt, wenn die Entlassung ansteht, dann ist im Grunde genommen überhaupt kein Geld vorhanden, um das neue Leben straffrei zu führen. Mit einer solchen Entlohnung ist das Ansteigen der Rückfallquote vorprogrammiert. Das Herstellen von Lebensbedingungen mit Arbeit und Wohnung ist nach dem Absitzen einer Strafe so gar nicht möglich. ({4}) Ein weiterer Punkt kommt hinzu: Die meisten Gefangenen sind in der Tat - das Statistische Jahrbuch spricht von Verbindlichkeiten in Höhe von 45 000 DM - hoch verschuldet. Auch an diesem Punkt muss Hilfe geschaffen werden. Es kann nicht angehen, dass man so ignorant mit Strafgefangenen umgeht.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Jelpke, Sie müssen zum Schluss kommen.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja, ich komme zum Schluss. Noch etwas zu Ihnen, Herr Götzer: Ich halte Ihr Rechenbeispiel zu Arbeitsplätzen, die angeblich geschaffen werden, indem man die Löhne niedrig hält, für absolute Demagogie. Es gibt Möglichkeiten, mit mehr Initiativen seitens der staatlichen Einrichtungen, aber auch durch Werbung Arbeitsplätze in den Gefängnissen zu schaffen. Das, was in den Gefängnissen gegenwärtig geschieht, ist ein Skandal. ({0}) Es wird in den Gefängnissen auch keine Besserungen geben, wenn Sie es weiterhin so handhaben.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Jelpke, bitte.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Einen Satz noch. - Ein Gefangener hat zu mir gesagt: Wie kann man Resozialisierung in einer asozialen Umwelt erleben? Diese Frage stelle ich auch Ihnen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Justizministerin des Landes Sachsen-Anhalt, Karin Schubert. Karin Schubert, Ministerin ({0}) ({1}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin über all das, was von den einzelnen Fraktionen hier bereits gesagt worden ist, froh. An den Anfang meiner Rede möchte ich ein ganz kleines Bonmot stellen: Herr Kollege Stünker, Sie haben davon geredet, dass in den Anstalten um 22 Uhr das Licht ausgeht. Ich kann mir vorstellen, dass alle hier heute gerne um 22 Uhr das Licht ausgemacht hätten. ({2}) In den Anstalten wird nicht nur ohne Ende Licht gewährt; man kann auch Kabelfernsehen, zum Beispiel den Kanal Phoenix, empfangen. Vielleicht sehen uns die Insassen heute Abend sogar. ({3}) Wir haben folgendes Problem: Die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung von 1998 hat angeprangert, dass die jetzige Lösung der Gefangenenarbeitsvergütung so nicht verfassungsgemäß ist. Man hat uns aufgefordert, bis zum Jahresende eine Lösung für das Problem einer angemessenen Entlohnung der Gefangenen zu finden. Nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts muss diese Lösung nicht ausschließlich in monetären Maßnahmen bestehen; vielmehr hat man ganz bewusst offen gelassen, wie eine angemessene Anerkennung von Gefangenenarbeit aussehen darf. Vorgesehen ist eine Verdreifachung der Vergütung. Es handelt sich nicht um eine Anhebung der jetzigen Vergütung um 15 Prozent, wie die Kollegin Jelpke eben gesagt hat, sondern um eine Anhebung um 200 Prozent. Ich möchte nicht die finanziellen Aspekte der Länder in den Vordergrund stellen; denn nicht in erster Linie diese haben den Bundesrat bewogen, einen eigenen Gesetzentwurf einzubringen. Wir haben uns überlegt, wie man die Verfassungswidrigkeit der jetzigen Anerkennung der Arbeit ausschalten kann. Wir haben festgestellt, dass die realen Verhältnisse hinter den Mauern, was die Arbeit von Gefangenen angeht, leider nicht so aussehen, wie es das Strafvollzugsgesetz vorsieht. Richtigerweise wird der Arbeit der Gefangenen ein hoher Resozialisierungsfaktor beigemessen. Wir wünschen uns, dass für jeden die §§ 37 und 41 des Strafvollzugsgesetzes umgesetzt werden. Es geht darum, den Gefangenen Arbeit anzubieten, weil jeder Gefangene nach dem Strafvollzugsgesetz zur Arbeit verpflichtet ist. Leider ist das Vorhandensein von Arbeitsmöglichkeiten für Strafgefangene nicht überall der Fall. In keinem Land der Bundesrepublik liegt die Beschäftigungsquote über 50 Prozent. Mit Beschäftigungsquote meine ich nicht nur die wirtschaftlich ergiebige Arbeit, sondern auch all die Verdrängungsmaßnahmen, die in Strafanstalten unternommen werden, um die Insassen überhaupt zu beschäftigen. Ich denke an die so genannte wirtschaftlich nicht ergiebige Arbeit, Hausarbeit usw., an Arbeitstherapie und auch an die Aus- und Fortbildungsverhältnisse. All das wird bei der Beschäftigungsquote mitgezählt. Trotzdem kommen wir nicht über 50 Prozent. Wir haben darüber nachgedacht, wie man die Verfassungswidrigkeit im Bereich der Gefangenenarbeit, die deswegen besteht, weil nur die Hälfte der inhaftierten Gefangenen Arbeit haben kann, so aufhebt, dass man allen irgendetwas bietet. Das Bundesverfassungsgericht hat uns hierfür den Weg vorgegeben. Wir müssen nicht rein monetäre Maßnahmen vorsehen. Wir können auch nichtmonetäre Maßnahmen vorsehen. Das haben wir getan. Man kann sich in der Tat Gedanken darüber machen, ob die nichtmonetäre Maßnahmen, die wir jetzt vorsehen, ausreichen. Der Weg zur Beratung hierüber ist ja vorgezeichnet: Im Vermittlungsausschuss können wir uns darüber Gedanken machen, wie wir beides kombinieren. Bedenken Sie bitte, was heute richtigerweise angeklungen ist: Opfer wollen, dass ihr Schaden wiedergutgemacht wird, Familien wollen ihren Unterhalt haben. Welches Opfer hat es denn verdient, dass der Täter keine Arbeit bekommt? Dieses hätte dann überhaupt keine Chance auf Entschädigung. Welche unterhaltsberechtigten Familienangehörigen hätten es denn verdient, dass nun gerade das zu Unterhaltszahlungen verpflichtete Familienmitglied keine Arbeit hat? Hier liegt die große Schwierigkeit bezüglich der Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Wir Länder haben gesagt: Die Möglichkeit, dass eine weitere Klage derer, die nicht in den Genuss irgendwelcher monetärer Maßnahmen kommen, erhoben wird, liegt auf der Hand. Was macht man nun angesichts dieses Ganges zwischen Skylla und Charybdis? Eine angemessene monetäre Leistung ist ganz bewusst vom Bundesverfassungsgericht nicht vorgeschrieben worden. ({4}) Dort hat man sich nicht mit Zahlen befasst, weil man wusste, wie die realen Verhältnisse sind. Man hat aber einen Hinweis auf das Strafvollzugsgesetz gegeben. Dort sah man 1977 in der Tat eine Erhöhung von 5 Prozent auf 40 Prozent bis 1986 vor. Nun könnte man sagen, damit sei ein Schlusspunkt erreicht. In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes steht aber drin, dass das nur bei rein monetären Maßnahmen gilt, die im Gesetzentwurf der Länder gerade nicht im Vordergrund stehen. Zum einen steht die Frage im Raum, was vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben wird, zum anderen sind wir in Eile. Wir müssen noch in diesem Jahr einen Gesetzentwurf vorlegen, denn sonst befinden wir uns ab 1. Januar 2001 im rechtsfreien Raum. ({5}) Das können wir uns nicht leisten; auch das wäre verfassungswidrig. Deshalb sollten wir alle uns Gedanken machen, wie wir damit umgehen, wie wir am Besten dem Gedanken der Resozialisierung gerecht werden können und wie wir auch den Gefangenen zu einem einigermaßen würdigen und der Resozialisierung dienenden Leben hinter Mauern verhelfen können. Da meine Redezeit schon überschritten ist, möchte ich nur noch einen Satz sagen: Wir haben festgestellt, dass die Unternehmer, die uns jetzt Arbeit zu Löhnen, die das Lohnniveau um über 50 Prozent unterschreiten, anbieten, in Niedriglohnländer abwandern werden. Uns sind schon entsprechende Hinweise gegeben worden. Das würde bedeuten, dass noch weniger Gefangene in den Genuss von Anerkennung aufgrund einer angemessenen Arbeit kommen. Ich möchte Sie deswegen bitten, sich noch einmal Gedanken zu machen, wie wir allen gleichermaßen helfen können. Danke schön. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesjustizministerium, Eckhart Pick.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001715

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es geht hier nicht um die Frage von Böse und Gut Ministerin Karin Schubert ({0}) oder darum, wer mehr Lohn geben kann und wer nicht imstande ist, das zu tun. Es geht vielmehr um die Frage, wie das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes angemessen und adäquat umgesetzt werden soll. Dieses beinhaltet auch die Abwägung der finanziellen Möglichkeiten der Länder, verehrte Justizministerin des Landes SachsenAnhalt. Wir müssen darüber entscheiden, ob wir uns in dem Rahmen bewegen, den das Bundesverfassungsgericht vorgegeben hat oder nicht. Es ist sicher richtig, dass vom Bundesverfassungsgericht nicht nur die monetären Leistungen zur Disposition gestellt worden sind und eine Verbesserung dieser Leistungen angemahnt worden ist. Nichtsdestoweniger ist die finanzielle Seite eine ganz wichtige. Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass der Entwurf der Koalitionsfraktionen, der sich auf die monetäre Seite beschränkt, den Maßstäben, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil gesetzt hat, gerecht wird. Wir haben den Eindruck, dass eine Erhöhung von 5 auf 7 Prozent der Bezugsgröße, flankiert von der Möglichkeit einer Haftverkürzung von sechs Tagen pro Jahr Arbeit, nicht ausreicht und damit der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts nicht entsprochen wird. Ich denke, dass auch richtig ist, noch einmal darauf hinzuweisen, dass man natürlich nicht so argumentieren kann: Je höher die Gefangenenentlohnung ist, um so weniger Arbeit steht zur Verfügung. Dann müsste ja das umgekehrte Argument gelten: Je mehr die Gefangenenentlohnung gegen Null strebt, um so mehr Arbeit ist da, und damit wäre den Gefangenen geholfen. ({1}) Auch diese Rechnung, Herr Kollege Geis, geht natürlich nicht auf. ({2}) Deswegen geht es um die Frage, wie hoch angemessenes Entgelt ist. Darüber kann man natürlich streiten. ({3}) Ich fand übrigens den Hinweis von Herrn van Essen sehr ehrlich, der ja gesagt hat, dass dies in seiner Fraktion sehr umstritten gewesen ist. Ich denke, das zeigt auch, dass man sehr unterschiedlicher Meinung über diese Frage sein kann. ({4}) Aber eines - das möchte ich doch am Schluss noch sagen - will mir gar nicht einleuchten. Sowohl in dem Entwurf des Bundesrates - da allerdings etwas zurückhaltender - als auch im Entwurf der CDU/CSU-Fraktion werden bestimmte Gefangene ausgegrenzt, ({5}) bei Ihnen zum Beispiel die Untersuchungsgefangenen, zum Beispiel die jungen Gefangenen. Ich denke, das ist gerade der falsche Ansatz. ({6}) Gerade in den Bereichen der Jugendlichen, meine Damen und Herren, ist es erforderlich, dass diese jungen Leute die Chance bekommen, den Wert der Arbeit zu erleben. Insofern habe ich persönlich kein Verständnis für die Ausgrenzung gerade der Gefangenen, die besonders den Wert der Arbeit erfahren müssen. Insofern denke ich, das ist ein Webfehler, den man deutlich machen muss. ({7}) In einer etwas geringeren Form gilt das natürlich auch für den Bundesratsentwurf, der ebenfalls nicht alle Gefangenen einbezieht. Insofern ist es meines Erachtens wirklich wichtig, dass in dem Verfahren im Vermittlungsausschuss noch vor Ende des Jahres ein Ergebnis erzielt wird. ({8}) Es wäre in der Tat blamabel für den Gesetzgeber, wenn an seine Stelle schließlich die Gerichte mit unterschiedlichen Wertungen treten müssten. ({9}) Ich finde, das sollte ein Argument sein, lieber Herr Geis, dass wir uns alle anstrengen, einen Kompromiss zu finden. ({10}) - Der Herr Geis verdient manchmal auch den Begriff „lieb“, ({11}) insbesondere wenn er sich so verhält wie heute. ({12}) Deswegen denke ich, wir sind alle aufgerufen, an einem Ergebnis mitzuwirken, ({13}) das dann zum einen den Forderungen des Bundesverfassungsgerichts entspricht, zum anderen aber auch dem, was wir den Gefangenen und letztlich ebenso den Opfern, finde ich, die ja mit diesen Mitteln auch Genugtuung erfahren können, schuldig sind. Vielen Dank. ({14})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zunächst zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes, Drucksachen 14/3763 und 14/4622. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie vorhin angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes des Bundesrates zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes auf Drucksache 14/4452. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4622 unter Buchstabe b, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung gegen die Stimmen den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. ({0}) Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes auf Drucksache 14/4070. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4622 unter Buchstabe c, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der F.D.P.-Fraktion abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung auch hier eine weitere Beratung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Norbert Hauser ({2}), Norbert Röttgen, Ilse Aigner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Sicherung der außeruniversitären interdisziplinären Grundlagenforschung in der Informations- und Kommunikationstechnik - zu dem Antrag der Abgeordneten Maritta Böttcher, Rolf Kutzmutz, Ursula Lötzer und der Fraktion der PDS Keine Fusion des GMD-Forschungszentrums für Informationstechnik und der Fraunhofer-Gesellschaft ({3}) zulasten der IuK-Grundlagenforschung - Drucksachen 14/3097, 14/4037, 14/4373 - Berichterstattung: Abgeordnete Jörg Tauss Norbert Hauser Hans-Josef Fell Cornelia Pieper Angela Marquardt Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Auch hier kann ich Sie beglücken. Die Kolleginnen und Kollegen Jörg Tauss, Norbert Hauser, Hans-Josef Fell, Ulrike Flach, Maritta Böttcher sowie der Parlamentarische Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen geben ihre Re- den sämtlich zu Protokoll.1) ({4}) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- zung auf Drucksache 14/4373. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Fraktion der CDU/CSU zur Sicherung der außeruniversitären interdisziplinären Grundlagenfor- schung in der Informations- und Kommunikati- onstechnik, Drucksache 14/3097. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen. Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der PDS mit dem Titel „Keine Fusion des GMD- Forschungszentrums für Informationstechnik und der Fraunhofer-Gesellschaft zulasten der IuK-Grundlagen- forschung“, Drucksache 14/4037. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c auf: a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi Lippmann, Wolfgang Gehrcke, Dr. Gregor Gysi, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Transparenz und parlamentarische Kontrolle bei Rüstungsexporten - Drucksache 14/4349 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5}) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik für konventionelle Rüstungsgüter im Jahr 1999 ({6}) Vizepräsidentin Petra Bläss 1) Anlage 6 - Drucksache 14/4179 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7}) Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({8}) zu dem Antrag der Abgeord- neten Heidi Lippmann, Fred Gebhardt, Wolfgang Gehrke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Keine Lieferung von Panzern und anderen Rüstungsgütern und Lizenzen an die Türkei - Drucksachen 14/3004, 14/4487 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Ditmar Staffelt Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kollegin- nen und Kollegen Dr. Ditmar Staffelt, Erich Fritz sowie Claudia Roth haben ihre Reden bereits zu Protokoll gege- ben.1) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die PDSFraktion hat die Kollegin Heidi Lippmann.

Heidi Lippmann-Kasten (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003173, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Vielen Dank, liebe Kolleginnen. Meine Damen und Herren! Welchen Stellenwert die Rüstungsexportpolitik in diesem Hause einnimmt, zeigt sowohl die mitternächtliche Stunde als auch die Tatsache, dass der Rüstungsexportbericht als Anhängsel zu zwei PDS-Anträgen auf der Tagesordnung steht. Ist dies Ausdruck der viel gepriesenen und lautstark geforderten Transparenz? - Wohl kaum. Vielmehr ist es der Versuch, ein unliebsames Thema, das immer wieder zu Koalitionsstreitigkeiten geführt hat, aus dem Rampenlicht der Öffentlichkeit zu nehmen. ({0})) Zur Abstimmung steht heute unser Antrag, keine Panzer und sonstigen Rüstungsgüter und Lizenzen in die Türkei zu liefern. Was die mögliche Lieferung von 1 000 Panzern betrifft, ist dieses Thema zwar zumindest vorübergehend auf Eis gelegt, doch nichtsdestotrotz ist es skandalös, dass nach wie vor in großem Ausmaß Waffen und Kriegsgüter, Lizenzen für Munition und vieles andere geliefert werden, obwohl die Menschenrechtssituation in der Türkei nach wie vor katastrophal ist. ({1}) Allein 1999 gingen 24 Prozent der deutschen Rüstungsexporte im Wert von 645 Millionen DM in die Türkei. ({2}) In dem „Regelmäßigen Bericht 2000 der Europäischen Kommission über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt“ vom 8. November dieses Jahres heißt es unter anderem, dass sich, verglichen mit dem Vorjahr, die Situation nicht grundlegend verbessert hat und die Türkei lediglich „Grundmerkmale eines demokratischen Systems“ aufweist. Zwar werde die Todesstrafe in der Praxis nicht vollstreckt, „doch die Gesamtsituation bei den Menschenrechten bleibt Besorgnis erregend. Folter und Misshandlung sind noch lange nicht verschwunden“, die „Haftbedingungen haben sich nicht verbessert“, es kommt „regelmäßig zu Beschränkungen der Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit“. Die „Situation bei den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten hat sich nicht verbessert“ und die „Lage im Südosten, wo die Bevölkerung vorwiegend kurdisch ist, hat sich nicht wesentlich geändert“. All dies ist bekannt und kann durch unzählige weitere Berichte anderer Institutionen ergänzt werden. Doch reicht es Ihnen, Kolleginnen und Kollegen, immer noch nicht aus, daraus ein vollständiges Rüstungsexportverbot abzuleiten. ({3}) Dieses ist insbesondere für Ihre Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ein Armutszeugnis. ({4}) Liest man den Rüstungsexportbericht 1999, dann wird dies an vielen Beispielen deutlich: Während 1998 Rüstungsgüter im Wert von 1,34 Milliarden DM exportiert wurden, waren es 1999 effektiv 2,84 Milliarden DM. ({5}) Das ist ein Anstieg von 117 Prozent. Außerhalb der NATO und der EU lag Israel mit 940 Millionen DM an der Spitze. Das Geld wurde hauptsächlich für U-Boote ausgegeben, für die sich Israel anlässlich des kürzlichen Kanzlerbesuchs herzlich be- dankte. Welchen Einfluss dieses Geschäft auf die ange- spannte Lage im Nahen Osten hat, zeigt die Empörung in den arabischen Staaten. Alarmierend ist, dass Kleinwaffen und Munition in zum Teil großer Menge an Staaten geliefert wurden, in de- nen massive Menschenrechtsverletzungen nachgewie- sen wurden, zum Beispiel an Ägypten, Georgien, Indien, Indonesien, Iran, Kroatien, Südkorea, Mazedonien, Nepal, die Philippinen, Sambia und Senegal. Missachtet wurden sogar die Embargos bezüglich der Bundesre- publik Jugoslawien, Äthiopien, Kroatien, Bosnien-Herze- gowina und - last, not least - Sierra Leone. Von den 1999 weltweit mindestens 100 000 in bewaff- neten Konflikten getöteten Menschen starben nach Anga- ben des Instituts für Strategische Studien 60 000 allein in Bürgerkriegen südlich der Sahara. In drei Vierteln der schwarzafrikanischen Länder wurden seit vergangenem Oktober bewaffnete Konflikte ausgetragen, ein Großteil mit deutschen Waffen. Nicht erwähnt wird im Bericht die Ausfuhr von Elek- troschockwaffen, einen beliebten Folterwerkzeug, oder von Fesselwerkzeugen. Ebenso fehlen wichtige Bereiche wie die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit, der Transfer von Know-how, die Lizenzvergabepraxis in der Vizepräsidentin Petra Bläss 2) Anlage 7 Rüstungskooperation und Exporte von zur militärischen Nutzung geeigneten Dual-Use-Gütern. In vielen Fällen fehlen Angaben zur Art der Rüstungsgüter, sodass man nur spekulieren kann, was im Wert von 13,2 Millionen DM nach Liechtenstein exportiert wurde und wie der Endverbleib geregelt ist. Erwähnt werden auch nicht die liefernden Firmen und die konkreten Empfänger, da die Geheimhaltungspflicht für Rüstungsgeschäfte natürlich wichtiger ist als Transparenz. Dieses beweist die Schieflage bei der Abwägung der Rechtsgüter und macht deutlich, dass der Regierung Profit und Privateigentum wichtiger sind als Menschenrechte und Menschenleben - im Zweifelsfall zugunsten der Wirtschaft. ({6}) Ein aktiver Beitrag zum präventiven Schutz der Menschenrechte und zur Konfliktvermeidung wäre ein konsequentes Rüstungsexportverbot. Wir wissen, dass dieses bei einem großen Teil des Hauses politisch nicht durchsetzungsfähig ist. Doch wir hoffen, dass Sie wenigstens unseren Antrag zu mehr Transparenz und parlamentarischer Kontrolle bei Rüstungsexporten unterstützen werden. ({7}) Eine Mitberatung in den Ausschüssen ist zwar keine Garantie dafür, dass künftig auch nur eine Waffe weniger geliefert wird. Doch es kann dann keiner mehr behaupten, er habe von nichts gewusst. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Hildebrecht Braun.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese Bundesregierung und insbesondere ihr grüner Teilhaber verstricken sich immer mehr in Widersprüche. ({0}) Einerseits genehmigen sie die Lieferung einer Munitionsfabrik, andererseits wollen sie den Bau von Leopard-Panzern vor Ort verhindern. Nüchterne Beobachter der Szene verstehen diesen Eiertanz nicht, was auch kein Wunder ist, da die Akteure ihr eigenes Handeln selbst nicht verstehen. Mit Munition für Kleinwaffen kann man die Opposition im eigenen Land, insbesondere ethnische Minderheiten, in der Tat niederhalten. Dies zu verhindern ist eines der selbstverständlichsten Ziele der Bundesrepublik Deutschland, deren Politik auf die Wahrung der Menschenrechte in Europa und überall ausgerichtet ist. Lassen Sie mich eines in aller Klarheit sagen: Die F.D.P. bleibt bei ihrer Grundhaltung, große Zurückhaltung bei Waffenexporten zu üben. ({1}) Wir alle wissen, dass mit Waffenlieferungen Kriege oft erst ermöglicht oder verlängert werden. Die F.D.P. ist auch weit davon entfernt, die Frage der Waffenexporte primär unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsplätze im eigenen Land zu sehen. ({2}) Diese stellen nur ein Argument unter mehreren dar, wobei andere Argumente sehr wohl stärkeres Gewicht haben können. So würden wir nie Minen produzieren wollen, mit denen in anderen Ländern unendliches Elend angerichtet wird. Nun aber zum Thema Leopard und Türkei. Wir plädieren für den Export dieser Panzer in die Türkei bzw. für die Zustimmung zur Errichtung eines Leopard-Werkes in der Türkei. Die Gründe: Erstens. Mit dem Leo 2 werden Leoparden der ersten Generation ersetzt, die wir bereits vor zehn Jahren dorthin exportiert haben. Zweitens. Wenn wir den Leoparden nicht liefern, dann werden mit großer Freude die Franzosen, die Amerikaner, die Ukrainer, die Kanadier oder wer auch immer liefern. Drittens. Die Türkei soll im internationalen Rahmen gestärkt werden, da sie in ihrer Region eine wichtige positive Rolle spielt. Sie kooperiert mit Israel und sorgt damit dafür, dass arabische Hardliner in der Region den Friedensprozess nur in geringerem Umfange stören können. ({3}) Viel wichtiger erscheint uns aber, dass die Türkei bei allen Mängeln, die wir sehr wohl sehen, als ein laizistischer Staat den Fundamentalisten des Irak und des Iran, aber auch den Traditionalisten in Syrien ein Gesellschaftsmodell entgegenstellt. ({4}) Entscheidend ist für uns die neue geopolitische Lage, die sich durch eine erhebliche Zahl von jungen Staaten im südlichen Bereich der ehemaligen Sowjetunion auszeichnet, deren Bevölkerung ganz oder teilweise islamischen Glaubensrichtungen angehört und die zum Teil auch eine ethnische Nähe zur Türkei haben. Diese jungen Staaten suchen Orientierung, suchen die Möglichkeit einer Anlehnung. Natürlich kommt das im Norden gelegene Russland nach den Erfahrungen der vergangenen 80 Jahre hierfür nicht infrage. Als Alternativen bleiben der Iran, eventuell Afghanistan und eben die Türkei. Wir Deutschen, wir Europäer müssen ein großes Interesse daran haben, dass diese jungen Staaten enge Beziehungen zur Türkei aufnehmen, die damit in ihrer Region - und zwar weit in den asiatischen Bereich hinein - eine völlig neue strategische Rolle übernehmen kann und soll. Auch deshalb müssen wir die Türkei stark machen. ({5}) Rot-Grün fordert die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union, die auch wir Liberalen langfristig für richtig halten. Es ist aber geradezu abenteuerlich, diesem Staat eine nahe Zukunft in der EU zu signalisieren und gleichzeitig die innerhalb der NATO selbstverständliche Lieferung von Waffensystemen blockieren zu wollen. ({6}) Die Türkei ist seit Jahrzehnten ein verlässlicher Partner in der NATO, der seine Aufgabe an den Dardanellen, aber auch gegenüber den östlich angrenzenden Ländern immer wahrgenommen hat. Wer die Türkei in der von Rot-Grün beabsichtigten Weise brüskiert, schadet den deutschen und den europäischen Interessen. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/4349 und 14/4179 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- ses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Keine Lieferung von Panzern und anderen Rüstungsgütern und Lizenzen an die Türkei“, Drucksache 14/4487. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3004 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 a und 18 b auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2001 ({0}) - Drucksache 14/4299 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, Dr.Christa Luft, Ursula Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS ERP-Sondervermögen für Mittelstandsförderung erhöhen - Drucksache 14/4556 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2}) Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Sigrid Skarpelis- Sperk, Dagmar Wöhrl, Hans-Josef Fell, Gudrun Kopp und Rolf Kutzmutz sowie der Parlamentarische Staatsse- kretär Siegmar Mosdorf haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1). - Auch hier sehe ich Einverständnis im gesamten Haus. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/4299 und 14/4556 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Hier gibt es keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martin Mayer ({3}), Bernd Neumann ({4}), Sylvia Bonitz, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/CSU Sachgerechter Schutz der Rechte für Software - Drucksache 14/4384 - Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kolleginnen und Kollegen Hubertus Heil, Dirk Manzewski, Margareta Wolf und Angela Marquardt so- wie der Parlamentarische Staatssekretär Professor Dr. Eckhart Pick haben ihre Reden bereits zu Protokoll ge- geben2). Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Martin Mayer.

Dr. Martin Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001448, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Anlass für den Antrag und die heutige Debatte ist die Diplomatische Konferenz zur Revision des Europäischen Patentübereinkommens, die vom 20. bis 29. November dieses Jahres in München stattfindet. Dabei ist vorgesehen, Programme für Datenverarbeitungsanlagen, also Software, aus der Ausnahmevorschrift Art. 52 Abs. 2 des Europäischen Patentübereinkommens zu streichen und damit die Tür für weitere Möglichkeiten der Patentierung von Software aufzumachen. In ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der F.D.P. behauptet die Bundesregierung zwar, dass diese Streichung die gegenwärtige Rechtspraxis eigentlich gar nicht berühre, weil auch die bisherige Regelung die Patentierung von Software nicht ausschließe. Diese Meinung teile ich nicht; denn die Streichung der Software aus der Ausnahmevorschrift könnte sehr wohl ein Signal für die Gerichte sein. Als Folge könnte eine unabsehbare Ausweitung der Patentierungsmöglichkeiten bei Software eintreten. Eine zentrale Frage für die Zukunft der Informationsgesellschaft kann aber nicht durch Richterrecht entschieden werden. Hier muss der Gesetzgeber tätig werden. ({0}) Hildebrecht Braun ({1}) 1) Anlage 8 2) Anlage 9 Software im weiteren Sinne ist nach der Lexikondefinition der nicht gerätemäßige Teil einer Datenverarbeitungsanlage wie Programme und Daten. Im engeren Sinne werden darunter allerdings nur die Programme verstanden. Der Antrag und meine Rede beziehen sich ausschließlich auf die Programme. Dabei ist mir bewusst, dass es bei den Daten, also den Inhalten, beim Schutz der Rechte gegenwärtig noch größere Herausforderungen gibt als bei der Programmsoftware, um die es heute geht. Unsere Fraktion hatte dazu heute eine Anhörung. Computersoftware bestimmt den technischen Fortschritt in unserer Informationsgesellschaft maßgeblich mit. Sie begegnet uns im Alltag oft unmerklich auf Schritt und Tritt: vom Computer und vom Telefon bis hin zum Auto und zur Waschmaschine. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Die Software dringt mehr und mehr in Produktionsprozesse, Dienstleistungen und Konsumgüter ein. Dieser technische Fortschritt ist natürlich nicht umsonst zu haben. Der Aufwand der Softwareentwicklung wird nur dann betrieben, wenn er sich für den Entwickler und die Firma lohnt. Dass er sich lohnt, wird im Allgemeinen durch Schutzrechte gesichert. Für mich lautet daher nicht die Frage, ob Software geschützt werden muss; diese Frage wird fast jeder mit Ja beantworten. Die Frage ist vielmehr, mit welchem Rechtsinstrument Software angemessen geschützt werden kann. Heute unterliegt Software automatisch dem Urheberschutz. Zum Teil ist bestimmte Software auch patentierbar. Das Urheberrecht, das ursprünglich zum Schutz von schriftstellerischen und künstlerischen Werken geschaffen wurde, schützt allerdings nicht die Idee, die hinter einer bestimmten Software steckt, sondern nur den Wortlaut des jeweiligen Programms. Es schützt damit nicht vor der Verwendung gleicher Befehlsformen durch andere, sofern diese keine Kopie sind. Das ist ähnlich wie bei schriftstellerischen Werken. Das Urheberrecht schützt den Softwareentwickler damit nur unzureichend. Auf der anderen Seite steht der Patentschutz, der unter bestimmten Voraussetzungen auch in Deutschland bei Softwareprogrammen Anwendung findet. Programme müssen, um patentierbar zu sein, den generellen Anforderungen eines Patentschutzes genügen; das heißt, die Technizität und die Erfindungshöhe müssen erfüllt sein. Der Patentschutz billigt dem Erfinder ein Ausschließungsrecht zu. Dadurch, dass kein anderer seine Erfindung, das heißt sein Programm, benutzen darf und auch keine ähnlichen Produkte zugelassen werden, würde der technische Fortschritt, so befürchten die Kritiker, nicht gefördert, sondern gehemmt. In den USA kann Software auch dann patentiert werden, wenn ihr lediglich ein Algorithmus, das heißt eine Rechenregel, oder eine Geschäftsidee zugrunde liegt. Die Regelung in den USA birgt die Gefahr in sich, dass einfache Befehlsfolgen, sofern sie die übrigen Bedingungen erfüllen, patentiert werden können. Für Einzelprogrammierer und Kleinbetriebe wird es dann immer schwieriger, bei allen verwendeten Programmbausteinen zu überprüfen, ob sie bereits dem Patentschutz unterliegen. Deshalb wird nicht zu Unrecht befürchtet, dass die Ausweitung der Möglichkeiten des Patentschutzes auf alle Softwareprodukte zu einem Erliegen der Arbeit freier Programmierer führt und Softwareherstellung nur noch in großen Weltunternehmen mit entsprechenden Rechtsabteilungen möglich ist. ({2}) Der größte Widerstand gegen eine Ausweitung der Möglichkeiten der Patentierung von Software kommt gegenwärtig von der Open-Source-Bewegung. Die OpenSource-Bewegung ist ein Netzwerk von Softwareprogrammierern, die den Quellcode ihrer Programme für andere offen legen und kostenlos ins Netz stellen. Für die Weiterentwicklung ist dann Bedingung, dass auch die Neuentwicklung mit offenem Quellcode und kostenlos ins Netz gestellt wird. Jeder kann so die entwickelte Software kostenlos aus dem Netz beziehen. Die Entlohnung der Softwareentwickler soll dann nicht durch den Verkauf der Programme, sondern durch die Anpassung der Software an den konkreten Bedarf von Nutzern erzielt werden. Das Geschäftsmodell von Open-Source-Software trägt zum Teil sozial-romantische Züge. Ob und in welcher Form es sich durchsetzt, wird die Zukunft zeigen. Tatsache ist aber, dass aufgrund dieses Konzepts der freien Verfügbarkeit des Programmtextes besonders in Deutschland eine innovative Softwareindustrie entstehen konnte. Auf dem bislang von Microsoft dominierten Feld der Betriebssysteme hat Linux als Open-Source-Betriebssystem eine echte Alternative gebracht. Die Bundesregierung muss daher dafür Sorge tragen, dass die OpenSource-Bewegung nicht durch eine Ausweitung der Patentierbarkeit von Software behindert oder gar abgewürgt wird. ({3}) Das gilt auch auf EU-Ebene, wo gegenwärtig an einem Vorschlag für eine Richtlinie zur Softwarepatentierung gearbeitet wird. Die Frage, wie Rechte von Softwareentwicklern geschützt werden, ist kein Randthema, sondern eine zentrale Frage im Informationszeitalter. Es geht letztlich um den Lohn für die Arbeit von Softwareprogrammierern und das Eigentum an Programmen. Eigentum wird vom Grundgesetz ausdrücklich geschützt. Eigentum verpflichtet aber auch: „Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Der Schutz der Rechte für Software muss deshalb so gestaltet sein, dass die Softwareentwickler einerseits die Früchte ihrer Arbeit ernten können, aber andererseits das Ergebnis ihrer Arbeit auch dem Wohl der Allgemeinheit dient. Der Rechtsschutz für Software darf deshalb den Fortschritt nicht behindern, sondern muss ihn fördern. ({4}) Er darf auch nicht zur ungerechtfertigten Behinderung von einzelnen Softwareentwicklern und kleinen Unternehmen führen. Dr. Martin Mayer ({5}) Die Tatsache, dass sich Linux in Europa und nicht etwa in den USA entwickelt hat, kann als Beweis dafür gewertet werden, dass das Ausmaß der Möglichkeit, Software zu patentieren, einen beachtlichen Einfluss auf die Entwicklung von Software in einem Land hat. Aus dieser Erfahrung lässt sich auch der Schluss ziehen, dass ein optimaler Softwareschutz noch günstigere Bedingungen für Wettbewerb und Fortschritt schaffen würde. Ob eine bessere Anpassung des Schutzes von Software an die Erfordernisse von Eigentumsschutz und Fortschrittsförderung im Patentrecht, im Urheberrecht oder in einer eigenen Kategorie erfolgen kann, muss noch diskutiert werden. Bei dieser Diskussion müssen Gegenstand, Umfang und Art des Schutzes ebenso auf den Prüfstand wie die Laufzeiten, die viel zu lang erscheinen. Bei Patenten betragen sie 20 Jahre. Das Urheberrecht hat bis 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers Geltung. In Ihrer Antwort auf die bereits zitierte Anfrage der F.D.P. sagt die Bundesregierung zu einem Begehren auf Änderung der Laufzeit von Patenten, das sei nicht möglich, weil im WTO-Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte geistigen Eigentums, WTO-TRIPS-Übereinkommen, 20 Jahre festgelegt seien. Wer so argumentiert, der hat schon verloren; der hat schon aufgegeben, bevor das Spiel beginnt. Er ignoriert vor allem, dass es auch in anderen Ländern, vor allem in den USA, eine Diskussion darüber gibt, für welche Art von Software die Patentierung als Schutz der Eigentumsrechte geeignet ist. Ich nenne hier Robert Young von Red Hat - er spricht in gewisser Weise in eigener Sache -, aber auch Nicolas Negroponte vom MIT, die beide eine sehr kritische Haltung zur gegenwärtigen Ausgestaltung der Schutzrechte für Software in den USA einnehmen. Wenn es uns also wirklich darum geht, welche Rechte nun für einen speziell auf die Software zugeschnittenen Schutz am besten geeignet sind, dann muss eine Grundsatzdebatte geführt werden. Ein erster Schritt dazu wäre eine Vorlage der Bundesregierung, in der die Grundlagen dargelegt werden, wie es in dem Antrag gefordert wird. Dann muss ein intensiver internationaler Dialog zwischen den Fachleuten und den Politikern geführt werden. Eine grundlegende Frage wie die Grenze zwischen Eigentumsrechten und Sozialpflichtigkeit des entscheidenden Produktionsfaktors im Informationszeitalter kann nicht durch einsame Entscheidungen eines Richters beantwortet werden. Sie muss vielmehr zuerst in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert werden. Deshalb habe ich heute einmal eine Rede zu diesem Thema im Deutschen Bundestag gehalten; denn es ist besser, zu später Stunde über dieses Thema zu reden, als gar nicht. ({6}) Die Frage muss in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert und dann von den gewählten Parlamentariern entschieden werden. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Rainer Funke.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach der Grundsatzrede von Herrn Dr. Mayer kann ich mich relativ kurz fassen. Der Antrag der CDU/CSU zum sachgerechten Schutz der Rechte für Software mag auf den ersten Blick ganz überzeugend klingen. Als ich ihn das erste Mal gelesen habe, fand ich ihn recht eingängig. Ich muss jedoch sagen, dass dieser Antrag in den Ausschussberatungen noch einmal sehr gründlich überarbeitet werden muss; ({0}) denn in der Zielrichtung, Softwareprogramme, insbesondere aus dem mittelständischen Bereich, besser als bisher zu schützen, sind wir uns sicherlich einig. Aber diese Probleme sind - das haben Sie deutlich gemacht - national nicht lösbar. Wir haben heute ein so genanntes gespaltenes Schutzrechtssystem: Wir haben zunächst für die technischen Programme den Patentschutz und für den eigentlichen Softwarebereich den Urheberrechtsschutz. Es klingt sicherlich gut, de lege lata einen wirksamen immateriellgüterrechtlichen Schutz von Computerprogrammen durch die Schaffung eines dritten Rechtsschutzbereichs zu gewährleisten. Dem stehen aber die gesamten internationalen Übereinkommen entgegen; denn diese sehen einen solchen dritten Rechtsschutzbereich nicht vor. Wir müssen also versuchen, uns in diesem internationalen Schutzbereich zu bewegen. Hierbei müssen wir sehen, dass der reguläre Urheberrechtsschutz von Computerprogrammen in Art. 10 des TRIPS-Abkommens und in der EG-Softwarerichtlinie geregelt ist. Der ergänzende Patentschutz technischer Programme ergibt sich aus Art. 52 Abs. 2 c des Europäischen Patentübereinkommens - Sie haben es zitiert - und mittelbar auch aus Art. 27 Abs. 1 des TRIPSAbkommens. Was ich juristisch etwas trocken ausdrücken wollte, war: Wir müssen international miteinander verhandeln. Wir müssen die Beispiele aus den USA, die Sie eben genannt haben, betrachten. Wir müssen die Schlussfolgerungen aus internationalen Übereinkommen finden. Das ist völlig richtig. Man kann sicherlich auch über die Frage sprechen, ob nun 20 Jahre oder eine kürzere Zeit angemessen sind. Aber wir müssen uns, wenigstens noch zurzeit, im internationalen Bereich so bewegen, wie wir die Abkommen auch in diesem Hause mit beschlossen haben. ({1}) Wir teilen mit Ihnen die Auffassung, dass der Schutz der Rechte von Programmierern und Unternehmen so gestaltet sein muss, dass diese die Früchte ihrer Arbeit auch ernten können, und dass die mittelständischen Unternehmen auf diesem Gebiet nicht durch große Konzerne gefährdet werden dürfen. ({2}) Deswegen hat die F.D.P. - bereits einen Monat vor Ihrer Aktivität - einen entsprechenden Antrag in Form einer Dr. Martin Mayer ({3}) Kleinen Anfrage eingebracht. Diese ist von der Bundesregierung, wie ich meine, richtig beantwortet worden. Wir werden jetzt anhand der Antwort auf unsere Kleine Anfrage sowie aufgrund Ihres Antrages im Bundestag und natürlich anschließend im Rechtsausschuss mit Ihnen hierüber beraten. Vielen Dank. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Drucksache 14/4384 zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Kultur und Medien sowie zur Mitbera- tung an den Rechtsausschuss, den Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für die Ange- legenheiten der Europäischen Union und den Haushalts- ausschuss zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Über- weisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf: 20 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus Meckel, Uta Zapf, Peter Zumkley, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Friedrich Merz, Michael Glos und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Angelika Beer, Kerstin Müller ({0}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Dirk Niebel, Günther Friedrich Nolting, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion der F.D.P. 46. Plenartagung der Parlamentarischen Versammlung der NATO ({1}) vom 17. bis 21. November 2000 in Berlin - Drucksache 14/4601 - Beschlussfassung b) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS Europäische Sicherheit und NATO - Drucksache 14/4598 - Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kolleginnen und Kollegen Angelika Beer, Ulrich Irmer und Wolfgang Gehrcke haben ihre Reden bereits zu Protokoll gegeben1). Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPDFraktion hat der Kollege Markus Meckel.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu später Stunde wol- len wir uns im Bundestag daran erinnern, dass ab morgen die Parlamentarische Versammlung der NATO hier in Berlin tagt. Es ist das zweite Mal nach dem Jahr 1990, nach einer völlig veränderten Situation in Europa. Dies haben wir zum Anlass genommen, parteiübergreifend ei- nen Antrag einzubringen, der uns heute vorliegt und den wir diskutieren wollen. Ich möchte nun nicht die verschiedenen Aussagen die- ses Antrages, die ja grundsätzlichen Charakter haben, im Einzelnen diskutieren. Ich möchte aber doch daran erin- nern, dass die Parlamentarische Versammlung der NATO ein ganz wesentliches Forum ist, schon aufgrund der Tat- sache, dass sie unmittelbar nach 1990 Parlamentarier der Staaten Ost- und Mitteleuropas als assoziierte Mitglieder und Beobachter aufgenommen hat. Seit zehn Jahren wird in der Versammlung eine ge- samteuropäische und gleichzeitig transatlantische Dis- kussion geführt. Das Forum war deshalb ungeheuer wich- tig, weil es durch diese unmittelbaren Kontakte von Parlamentariern aus ganz Europa, nicht nur der NATO- Staaten, sondern auch der anderen Staaten des früheren Ostblocks, möglich war, Fragen der Sicherheit zu disku- tieren und zu oft ähnlichen Positionen - bei gewiss auch unterschiedlichen Vorstellungen - nach und nach zu ähn- lichen Positionen zu kommen. Wir haben wesentliche Fragen diskutiert, die für unsere europäische Sicherheit eine wichtige Rolle spielen. Wir werden dies auch bei der Versammlung in Berlin tun. Wir haben zum Beispiel verschiedene Berichte über die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, über die wir miteinander reden wollen und müssen. Wir können feststellen, dass wir da in den letzten anderthalb Jahren unglaublich vorangekommen sind. Niemand hätte vor fünf Jahren geglaubt, dass das so schnell möglich ge- wesen wäre. Das ist natürlich auch eine Folge des Einsat- zes der NATO im Kosovo und der Erfahrung, dass wir Eu- ropäer dabei nicht so wahnsinnig gut ausgesehen haben - sowohl in Bezug auf die Art und die Dimension unserer Beteiligung als auch in Bezug auf die Entscheidung über die Art der Luftangriffe, bei der man durchaus manche Frage stellen konnte. Hier werden wir wesentlich vorankommen. Es ist deut- lich geworden, dass sich allein im Laufe dieses Jahres manche - auch manche skeptische - Position der Ameri- kaner verändert hat. Heute gibt es in Amerika mehr Ak- zeptanz in diesem Bereich. Auch gibt es eine klarere Ab- stimmung zwischen den europäischen Initiativen, der NATO und den europäischen Nicht-EU- bzw. -NATO- Staaten. Das heißt: Hier ist in den letzten zwölf Monaten eine ganze Menge Arbeit geleistet worden. Eine andere wesentliche Frage, mit der wir uns be- schäftigen werden, sind die amerikanischen Pläne für eine nationale Raketenverteidigung. Wir wissen, dass es dazu noch großen Diskussionsbedarf gibt und dass sich die USA wegen technischer Probleme eine endgültige Entscheidung vorbehalten haben. In Bezug auf konkrete Akzentuierungen wird einiges davon abhängen, welcher der beiden Präsidentschaftskandidaten ein paar Hundert Stimmen mehr hat und Präsident wird. Der Trend in Ame- rika geht aber klar dahin, dieses Projekt umzusetzen. In diesem Zusammenhang wird noch über einiges zu disku- tieren sein. Für uns ist wichtig - dies ist sowohl in Berichten als auch in Resolutionsentwürfen enthalten -, über dieses 1) Anlage 10 Problem gemeinsam in der NATO zu diskutieren und uns über die Konsequenzen hinsichtlich der Proliferation von Massenvernichtungsmitteln Gedanken machen. Wir müssen fragen, welche Gefahren mit einem Wettrüsten verbunden sind. In diesem Zusammenhang stehen nicht nur das Verhältnis zu Russland sowie der Bestand des ABM-Vertrages zur Debatte, sondern auch die Frage, wie Staaten wie etwa Indien oder China auf ein solches Wettrüsten reagieren. In diesem Zusammenhang besteht durchaus die Gefahr einer Aufrüstung. Die Frage, was uns wirklich sicherer macht, ist ein zentrales Problemfeld. Die Europäer haben sehr viel Zurückhaltung und Skepsis gegen diese Pläne zum Ausdruck gebracht, aber bisher noch keine wirklich abgestimmten Positionen eingenommen. An der geplanten Parlamentarischen Versammlung der NATO wird auch eine Delegation der Duma teilnehmen. Ich denke, das ist ein ganz wesentlicher Aspekt. Nachdem Vertreter der Duma nach dem Kosovo-Krieg nicht an solchen Versammlungen teilgenommen haben, wird die Duma nun das erste Mal wieder eine Delegation schicken. In der Zwischenzeit war eine Delegation des Föderationsrates anwesend, sodass der Dialog zwischen der NATO und Russland auch in dieser Zeit fortgeführt worden ist. Es ist aber wichtig, dass wir mit den Parlamentariern der Duma die Diskussion weiterführen, und zwar durchaus auch vor dem Hintergrund unterschiedlicher Perspektiven. Denn es ist immer gut, durch gemeinsame Gespräche Sicherheit zu schaffen; denn eines wissen wir alle: Ohne Russland wird es eine europäische Sicherheit von dauerhaftem Bestand nicht geben. Obwohl es heute noch kein aktuelles Thema ist, wird nach dem Abschluss der amerikanischen Präsidentschaftswahl unter dem neuen Präsidenten die Frage der Öffnung der NATO wieder auf dem Prüfstand stehen. Es gibt eine Vereinbarung, bis zum Jahre 2002 zu neuen Entscheidungen zu kommen. Die Versammlung der Parlamentarier der NATO war im nordatlantischen Dialog das Gremium, das sich auch in den vergangenen Jahren intensiv für eine Öffnung der NATO eingesetzt hat; wir haben heute drei neue Mitglieder. Die Parlamentarierversammlung setzt sich dafür ein, den Prozess der Öffnung fortzusetzen. Ich glaube, das ist richtig und angemessen, weil sowohl die Fortsetzung der Bemühungen um Öffnung als auch die Kooperation mit Russland zu den Säulen einer künftigen europäischen Sicherheit gehören. Ich will als Letztes kurz das Problem eines gemeinsamen Engagements in Bosnien und im Kosovo ansprechen. Für das Kosovo ist das ganz aktuell: Wir haben nach dem Sturz Milosevics in Serbien einen wesentlichen Erfolg erreicht. Unter der Bezeichnung „wir“ verstehe ich natürlich zuallererst die Serben, das heißt die Demokraten in Serbien und das serbische Volk. Ich denke, für uns als Europäer in einer euro-atlantischen Allianz entsteht dadurch ein Vorteil. Denn das letzte Bollwerk einer Diktatur im Zentrum Europas ist überwunden worden. Aber unsere Aufgaben bleiben natürlich weiterhin groß. Es sind nicht nur Aufgaben, die die NATO zu bewältigen hat. Gerade ein Fortschritt in der zivilen Entwicklung dieser Region ist von besonderer Bedeutung. Aber eines ist auch klar: Ohne eine Präsenz der NATO wird der Prozess einer zivilen Entwicklung nicht vorankommen. Wir sollten uns dessen bewusst sein und deutlich feststellen, dass im Kosovo eine langfristige NATOPräsenz nötig sein wird, um dort eine friedliche Entwicklung gewährleisten zu können. Wir sollten in aller Deutlichkeit sagen - wir sind froh, dass eine große amerikanische Delegation an der Versammlung teilnehmen wird -, dass wir künftig im Kosovo auch die amerikanische Präsenz brauchen. Wir sollten uns gemeinsam verpflichten, diesen Friedensprozess durch die Präsenz der NATO und der KFOR abzusichern. Ich möchte meine Rede schließen, indem ich die Hoffnung äußere, dass wir gerade in der Form der Kommunikation, wie sie in der Versammlung stattfindet, sehr deutlich machen, dass Sicherheit nicht mehr national zu gewährleisten ist, sondern nur noch in Absprachen zwischen der Allianz, mit einer weiteren Integration und einer verbindlichen Kooperation mit den Staaten Osteuropas, mit Russland und mit der Ukraine. Dafür sind Grundlagen geschaffen und dies gilt es zu implementieren. Wir müssen weiterhin miteinander reden und streiten, weil dies die Grundlage für Sicherheit in Europa ist, die wir miteinander verbindlich gewährleisten müssen. Ich danke Ihnen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte und am heutigen Tag ist der Kollege Karl Lamers für die CDU/CSU-Fraktion.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege Markus Meckel hat Recht, wenn er sagt, dass die NATO als Lichtgestalt sicherlich auch das Licht einer Tagesdiskussion verdient hätte, insbesondere im Hinblick auf die Parlamentarische Versammlung, die morgen hier in Berlin stattfindet. Aber ich glaube, die NATO überstrahlt auch so das Dunkel dieser Nacht. ({0}) Die Parlamentarische Versammlung der NATO, das NATO-Parlament, wird am kommenden Wochenende hier in der deutschen Hauptstadt Berlin ihre 46. Plenartagung abhalten. Dies geschieht zehn Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Zehn Jahre sind auch vergangen, seit die NATO-Partner auf dem Londoner Gipfel im Juli 1990 den ehemaligen Gegnern des Warschauer Paktes die ausgestreckte Hand der Freundschaft anboten. Zehn Jahre ist es auch her, dass dem vereinigten Deutschland in den so genannten Zwei-plus-vier-Verhandlungen das Recht zugestanden wurde, seine Bündniszugehörigkeit frei zu bestimmen. Neun Jahre sind vergangen, seit die NATO 1991 den Nordatlantischen Kooperationsrat gründete und die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten sowie die Nachfolgestaaten der Sowjetunion als Kooperationspartner aufnahm. Die Kooperation der NATO im Nordatlantischen Kooperationsrat, im Programm „Partnership for Peace“, im NATO-Russland-Rat und in der NATO-Ukraine-Kommission ist seither zentraler Punkt der Außenpolitik der Bündnispartner. Heute, zehn Jahre nach dem Beginn dieser Politik, können wir sagen, dass die Gräben der Konfrontation, die in 40 Jahren Kalten Krieges entstanden waren, eingeebnet wurden. Europa ist heute - zum Glück weitgehend frei von den alten Klischees des FreundFeind-Denkens. ({1}) Die 1990 und 1991 oft gehörte Meinung, nicht nur der Warschauer Pakt, sondern auch die NATO müsse aufgelöst werden, ({2}) wird heute nurmehr noch von den Unbelehrbaren der PDS vertreten und artikuliert. ({3}) - Ich freue mich, wie lebendig Sie noch zu dieser späten Stunde sind. Großartig! - Die Geschichte ist zum Glück darüber hinweg gegangen. Denn die NATO hat gezeigt, dass sie mit ihrer Stabilitätspolitik und dem von ihr gesicherten Stabilitätsraum unverzichtbar für den Weltfrieden ist. ({4}) Ja, viele Länder möchten nach wie vor möglichst schnell unter den Schutzschirm der NATO kommen und ich meine, sie alle haben einen guten Grund. Sie haben auch nichts gegen den Stabilitätsexport. Denn das ist es, was viele Länder seit 1990 wollen: innere und äußere Stabilität, um in Frieden und Freiheit leben zu können. ({5}) Auf zwei weitere Entwicklungen seit 1990/91 möchte ich hinweisen: Erstens. Die NATO nahm auf ihrem Jubiläumsgipfel in Washington im Jahre 1999 die am weitesten fortgeschrittenen Reformstaaten des ehemaligen Ostblocks als gleichberechtigte Mitglieder auf: Polen, die Tschechische Republik und Ungarn. Gleichzeitig beschloss sie, dass die Tür für weitere Mitglieder offen bleiben soll und muss. Zweitens. Die NATO griff im Auftrag der Vereinten Nationen zweimal auf dem Balkan ein: zum einen in die laufenden Bürgerkriegsauseinandersetzungen in Bosnien-Herzegowina und zum anderen im Kosovo, um die ethnischen Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen zu beenden sowie Frieden und Wiederaufbau voranzubringen. Dies sind die ersten Out-of-area-Einsätze des Bündnisses gewesen. Die SED-Nachfolgepartei PDS behauptet in ihrem Antrag, ({6}) dies sei „militärisch gestützte Machtpolitik“ gewesen. ({7}) Meine Kolleginnen Renate Diemers und Ursula Lietz hatten durchaus Recht, als sie vorhin in der Diskussion sagten, sie seien über eine solche Äußerung empört. ({8}) Ich muss sagen: Das, was hier betrieben wird, ist geradezu Geschichtsfälschung; denn die NATO musste handeln, nachdem sich die UNO im Weltsicherheitsrat trotz massivster Menschenrechtsverletzungen selbst blockierte. Wäre man der Linie der PDS-Altkommunisten gefolgt, ({9}) dann hätte man dem Völkermord der Serben tatenlos zusehen und auf ein Eingreifen der OSZE warten müssen. Wir alle wissen, das wäre das Todesurteil für weitere Hunderttausende Menschen auf dem Balkan gewesen; denn die serbische Diktatur war weder durch Gebete - mit denen haben Sie es sowieso nicht so - noch durch gute Worte zu beschwichtigen. ({10}) - Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so aufregen, wenn ich hier die Fakten aufzähle. ({11}) Die OSZE ihrerseits war der konkreten Herausforderung in diesem Moment in keiner Weise gewachsen. Die OSZE ist zwar ein wichtiger Teil der europäischen Sicherheitsarchitektur. Aber zu der Absicht, den Grundsatz „OSZE first“ baldmöglichst durchzusetzen, vielleicht auch noch auf Kosten der NATO - das ist eine Forderung, die auch in diesem Hause immer wieder erhoben wird -, möchte ich klar sagen: Für uns gilt ohne jede Einschränkung, dass die NATO zentrales Instrument der Sicherheitsarchitektur in Europa ist und bleibt. Sie allein ist Garant des Friedens. ({12}) Sie sorgt nicht nur mit Worten, sondern vor allem auch mit Taten für die Einhaltung der Menschenrechte. ({13}) - Das ist ein guter Begriff. ({14}) Die Parlamentarische Versammlung der NATO, früher NAV genannt, hat bei all diesen Epoche machenden Entwicklungen und Ereignissen, die ich angesprochen habe, wesentliche Schrittmacherdienste geleistet, ja, sogar eine Vorreiterrolle gespielt. Ich denke an die parlamentarische Einbindung der ehemaligen Ostblockländer. Wichtig ist nicht nur, dass Beschlüsse auf Gipfelkonferenzen von Regierungen gefasst werden, sondern auch, dass wir uns auf parlamentarischer Ebene mit den Dingen befassen und über sie diskutieren. Das NATO-Parlament ist so zu einem wichtigen Faktor für die Meinungsbildung im Bündnis geworden und stellt das parlamentarische Gleichgewicht zu den Beschlüssen der Bündnisregierungen und Ministerräte her. Trotzdem bleibt noch viel zu tun. Eine zentrale Herausforderung für das Bündnis und auch für die Parlamentarische Versammlung der NATO ist das Verhältnis zu Russland. ({15}) - Sehr richtig, das haben auch Sie begriffen. - Ohne eine funktionierende Zusammenarbeit mit Russland kann weder die neue europäische Sicherheitsarchitektur noch die Friedenssicherung in der Welt funktionieren. Das erfolgreiche Eingreifen der NATO im Kosovo hat das Verhältnis zu Russland belastet. Aber nachdem es einen Machtwechsel in Russland gegeben hat und Vladimir Putin Präsident wurde, gibt es glücklicherweise Anzeichen für einen Neustart in der Zusammenarbeit. Ein weiteres Feld ist das Verhältnis zwischen NATO und Europäischer Union. Die Entscheidungen für eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik, für eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, für eine Integration der WEU in die EU und für die Errichtung einer neuen Krisenreaktionsstreitmacht in Europa sind Meilensteine auf dem Weg, an dessen Ende die Europäer einen größeren Beitrag zur Sicherung des Friedens in der Welt als bisher übernehmen werden. ({16}) Sowohl der NATO als auch der Europäischen Union ist klar: NATO und europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind kein Widerspruch. Sie sind zwei Seiten einer Medaille. Die EU wird künftig mehr Verantwortung für die Sicherheit in Europa übernehmen müssen. Wir erwarten insbesondere vom bevorstehenden Gipfeltreffen in Nizza weit reichende Entscheidungen zur gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das Thema „National Missile Defense“ - Markus Meckel hat es angesprochen - hat in der Parlamentarischen Versammlung der NATO zu einer intensiven Diskussion geführt. Wir werden auch am Wochenende darüber sprechen, um hier zu einem gemeinsamen Vorgehen zwischen unseren amerikanischen Freunden und den Europäern zu gelangen. Meine Damen und Herren, am Herzen liegt uns auch die Fortführung des Stabilitätsexports der NATO, das heißt die Fortsetzung der Politik der offenen Tür. ({17}) Über unser Verhältnis zu Russland habe ich bereits gesprochen. Zugleich geht es uns aber auch darum, nukleare Abrüstung zu forcieren und den Anti-Ballistic-MissileVertrag, obwohl dieser teilweise als überholt gelten muss, ({18}) auch für die Zukunft als rüstungskontrollpolitisches Element zu erhalten. Deswegen erscheint es uns notwendig, dass wir insbesondere mit den Russen ins Gespräch kommen, um eventuell im Wege einer Modifizierung zum Erhalt des ABM-Vertrages beizutragen. ({19}) Meine Damen und Herren, schließlich fordern wir eine gemeinsame Strategie der Allianz zur Eindämmung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen und der entsprechenden Trägertechnologie. Die Parlamentarische Versammlung der NATO fordern wir auf, ihre vorandrängende Rolle bei der Öffnung des Bündnisses für weitere Mitglieder auch weiterhin wahrzunehmen. Wir laden die russische Staatsduma ausdrücklich ein, an der Plenartagung der Parlamentarischen Versammlung der NATO teilzunehmen und die parlamentarische Diskussion über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und in der Welt aufzunehmen, sich in diese Diskussion hineinzubegeben und so den Versuch zu machen, das von uns als richtig Erkannte mit zu verwirklichen, nämlich einen gemeinsamen Weg zu finden. Frieden und Sicherheit durch Kooperation sowie demokratische Stabilität in ganz Europa zu fördern ist und bleibt unser großes Ziel. ({20}) Meine Fraktion ist bereit, die geeigneten Maßnahmen mitzutragen, die uns diesem Ziel gemeinsam näher bringen. Ich danke Ihnen. ({21})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell ist vereinbart, dass die Anträge auf Drucksachen 14/4601 und 14/4598, anders als in der Tagesordnung vorgesehen, nicht überwiesen werden, sondern sofort zur Abstimmung gestellt werden. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Wir kommen deshalb gleich zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. zur 46. Plenartagung der Parlamentarischen Versammlung der NATO in Berlin. Wer stimmt für diesen Antrag auf Drucksache 14/4601? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Antrag ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Europäische Sicherheit und NATO“. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 14/4598? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Antrag ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich bedanke mich ausdrücklich bei allen Kolleginnen und Kollegen für die Geduld und das Vermögen, hier bis zu dieser späten Stunde auszuharren, und wünsche Ihnen allen eine gute Nacht. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 17. November 2000, 9.00 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.