Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Tagesordnung weist heute einige Punkte auf, die uns nicht zufrieden stellen können.
Ich will den Bericht der Ausländerbeauftragten ansprechen, der erst zu später Stunde behandelt wird. Wir als
F.D.P.-Fraktion hätten uns gewünscht, dass wir diesen Bericht umfassender und vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt, wenn auch die Öffentlichkeit Gelegenheit hat, sich
die Debatte darüber anzuhören, diskutieren könnten.
({0})
Das aber mag das Problem der Koalition sein. Wir bitten jedenfalls darum, einen anderen Zeitpunkt für den Bericht der Ausländerbeauftragten, den wir für wichtig halten, zu finden, und darum, die Debatte darüber, für die
jetzt 45 Minuten vorgesehen sind, zu verlängern.
Der Grund unseres Geschäftsordnungsantrags ist: Wir
werden heute etwa gegen 18 Uhr über das Thema Abrüstung und um Mitternacht über das Thema Rüstungsexport
debattieren. Wir als F.D.P.-Fraktion sind der Auffassung,
dass wir über beides zusammen diskutieren könnten, wobei wir die jeweils vorgesehene halbe Stunde Debattenzeit
zusammennehmen möchten, sodass eine einstündige Diskussion möglich wird.
Denn, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Koalition
von Rot-Grün muss sich schon fragen lassen, warum, seit
sie regiert, über Themen wie Rüstungsexporte oder Menschenrechte in China ständig in den Nachtstunden debattiert wird.
({1})
Man muss fast fragen: Warum scheuen Sie das Tageslicht
beim Thema Rüstungsexport?
({2})
- Aufgrund der Zurufe der Sozialdemokraten sage ich Ihnen, warum. Ich zitiere aus der „Welt“ vom 3. November
2000. Da hieß es unter der Überschrift „Bombengeschäft“:
Die deutschen Kriegswaffenexporte, von denen es
immer heißt, sie seien restriktiv, haben sich im vergangenen Jahr im Vergleich zu 1998 mehr als verdoppelt. Von Beschränkung kann keine Rede sein.
Das ist der Sachverhalt. Sie haben uns neue Rüstungsexportrichtlinien auf den Tisch gelegt. Das ist wunderbar,
darüber können wir sprechen. Aber das soll nur der Befriedigung der grünen Wähler draußen dienen. Vor allem
die Grünen wandern draußen mit der Friedenspalme
durch die Gegend und hier beschließen sie über Exporte
noch und noch.
({3})
Es wird deutlich: Früher haben Sie uns, die alte Koalition, bei den Rüstungsexporten kritisiert. Heute exportieren Sie viel mehr, als es die alte Koalition von F.D.P. und
CDU/CSU getan hat.
({4})
Darüber wollen wir zu passender Zeit diskutieren, damit
auch die deutsche Bevölkerung davon Kenntnis nehmen
kann. Wir wollen das nicht um Mitternacht tun. Ich sage
es noch einmal: Scheuen Sie nicht das Tageslicht! Diskutieren Sie mit uns zu einer angemessenen Zeit! Wir
schlagen vor, die beiden Tagesordnungspunkte zusammenzufassen.
({5})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Wilhelm Schmidt, SPD-Fraktion.
Guten Morgen,
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon
merkwürdig, dass vonseiten einer der OppositionsfraktioPräsident Wolfgang Thierse
nen, nachdem wir über drei Wochen über die heutige Tagesordnung gesprochen haben, solche Geschäftsordnungsanträge gestellt werden, aber nicht mit entsprechenden Anträgen aufgewartet wird.
({0})
Ich frage mich: Wo sind die Anträge der F.D.P. zu den
Themen Rüstungsexport und Abrüstung, die uns dazu gebracht hätten, diese Themen früher auf die Tagesordnung
zu setzen, wie Sie es soeben verlangt haben?
({1})
Insofern handelt es sich um eine ganz einfache Kiste. Sie
hätten alles in der Hand gehabt, aber Sie haben sich vorher nicht gemeldet. Von daher sehen wir Ihren Antrag
nicht ein.
Wir sehen auch keinen inneren Zusammenhang zwischen beiden Themen. Das sage ich sehr nachdrücklich.
({2})
Sie ressortieren in zwei unterschiedlichen Ministerien
und das allein zeigt schon, dass es keinen direkten Zusammenhang gibt.
Von daher werden wir Ihren Geschäftsordnungsantrag
ablehnen, auch wenn Sie sehr vordergründig versuchen,
daraus noch einmal in polemischer Weise etwas zu machen.
Ich schlage den Mitgliedern unserer Fraktion und dem
Haus im Übrigen an dieser Stelle vor, die Tagesordnung
ein wenig zu entschärfen und zusammenzufassen, indem
ich den Antrag stelle, den Tagesordnungspunkt 5 - Regelung der Zuwanderung und die Umsetzung der „Berliner
Rede“ des Bundespräsidenten - mit dem Tagesordnungspunkt 16 - Bericht der Ausländerbeauftragten - unter dem
Punkt 5 des heutigen Tages zusammenzufassen.
({3})
- Nein, das haben wir mit Rücksicht auf Sie bisher nicht
gemacht; aber nun entschärfen wir die Lage und sorgen
dafür, dass die Debatte über den Rüstungsexport früher
stattfinden kann. Das ist unser Antrag, den ich hier stelle.
Ihren Antrag werden wir ablehnen.
({4})
Ich erteile dem Kollegen Eckart von Klaeden das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren Kollegen! Der heutige Donnerstag hat für die Regierungskoalition schlecht begonnen. Auch die weitere Tagesordnung verspricht keine
Besserung. Daher ist es verständlich, dass Sie die Fragen
um den Rüstungsexport und die Abrüstung voneinander
trennen wollen. Ihr widersprüchliches Verhalten in der
Rüstungsexportpolitik soll nicht bei Tage, sondern in der
Nacht besprochen werden.
({0})
Dass Rüstungsexporte und Abrüstung nichts miteinander zu tun haben, entspricht von der intellektuellen Qualität her den Verteidigungsleistungen des - jetzt wohl ehemaligen - Bundesverkehrsministers Klimmt, die wir in
den letzten beiden Tagen leider haben erleben müssen.
({1})
Dass ein sachlicher Zusammenhang besteht, darauf haben
Sie in der letzten Legislaturperiode immer wieder hingewiesen.
Dass Rüstungsexporte und Abrüstung zusammen behandelt werden müssen, bedarf keiner weiteren Begründung. Ich will nur einmal darauf hinweisen, dass Sie sich
in der vergangenen Legislaturperiode in über 20 Kleinen
Anfragen, Änderungsanträgen bei der Beratung des
Bundeshaushalts und selbstständigen Anträgen gerade
zum Zusammenhang von Rüstungsexport und Abrüstung
geäußert haben.
Sie haben die Sorge, dass insbesondere Ihre widersprüchliche Rüstungsexportpolitik im Verhältnis zur Türkei zur Sprache kommt. Dabei wollen wir nicht mitmachen. Wir unterstützen den Antrag der F.D.P.
({2})
Ich erteile der Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
({0})
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ihr Antrag in
Ehren; aber Wilhelm Schmidt hat darauf hingewiesen,
dass wir über die heutige Tagesordnung sehr lange diskutiert haben. Sie haben vorher diese Punkte nicht vorgeschlagen und sich selber nicht engagiert.
Ich will Ihnen, ohne auf den Inhalt einzugehen - das
gehört nicht in eine Geschäftsordnungsdebatte -, dazu nur
eines sagen: Im Unterschied zu Ihrer Koalition diskutieren wir offen und ehrlich über Rüstungsexporte.
({0})
- In der Tat ist das so. Die neuen Exportrichtlinien sind ein
klares Zeichen dafür. Was Sie angeht, so haben wir noch
heute mit einem Untersuchungsausschuss zu tun, der
Fuchs-Panzerlieferungen zum Gegenstand hat. Das ist der
Unterschied.
Die beiden Debatten gehören nicht zusammen: In der
einen Debatte geht es um außenpolitische Aspekte. Bei
Wilhelm Schmidt ({1})
dem anderen Punkt geht es um deutsche Rüstungsexporte.
Wir werden das unabhängig voneinander debattieren.
Aber wir haben Ihnen einen Vorschlag gemacht, wie
wir früher am Abend darüber reden können. Wir wollen
über zwei andere Tagesordnungspunkte, die wirklich zusammengehören, zusammen debattieren.
({2})
Damit erreichen wir eine zeitliche Entspannung. So können wir früher am Abend über die Rüstungsexporte sprechen.
Vielen Dank.
({3})
Ich erteile der Kollegin Heidi Knake-Werner, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich ist das Anliegen der F.D.P.-Fraktion berechtigt. Ich finde es gar nicht
verwerflich, dass die F.D.P.-Fraktion dabei die PDS unterstützt. Das ist eine neue Situation im Hause.
Natürlich gibt es einen inhaltlichen Zusammenhang
zwischen dem Jahresabrüstungsbericht der Bundesregierung und unseren Anträgen zu Rüstungsexporten. Insbesondere gibt es diesen Zusammenhang, da sich offensichtlich auch in der neuen Regierungskoalition die
Auffassung durchsetzt, dass man Abrüstung am besten
dadurch bewerkstelligt, dass man die Rüstungsexporte
verstärkt. Das finden wir nicht. Deshalb lohnt es sich,
diese Fragen zusammen zu diskutieren.
Der zweite Punkt, den wir natürlich ebenfalls unterstützen, ist, dass solche wichtigen Themen, nämlich die
Kontrolle von Rüstungsexporten, Transparenz bei Rüstungsexporten und Waffen- und Panzerlieferungen in die
Türkei, nicht in Mitternachtsrunden gehören. Ich weiß,
dass diese Themen der Regierungskoalition im Moment
nicht besonders angenehm sind; denn es kracht ja ohnehin
schon ziemlich im Gebälk. Sie in nächtlichen Stunden zu
debattieren finden wir völlig unangemessen, weil sie zu
diesen Zeiten der Öffentlichkeit meist verborgen bleiben.
Das mag ja vielen von Ihnen recht sein, aber uns ist es
überhaupt nicht recht. Deshalb finden wir es richtig, das
zu verändern. Ich kann Ihnen nur empfehlen: Mehr Licht,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition!
({0})
Es gibt natürlich auch einen ganz eigennützigen Grund
der PDS: Sie wissen sehr wohl, dass es uns Woche für Woche nervt, dass ausgerechnet unsere Tagesordnungspunkte zu oft sehr wichtigen Themen immer in die Stunden vor oder kurz nach Mitternacht geschoben werden.
Dann haben wir natürlich immer die Situation, dass wir
nicht mehr diskutieren. Um diese Zeit haben viele Kollegen gute Gründe - manchmal auch nicht so gute Gründe -,
ihre Debattenbeiträge zu Protokoll zu geben. Das führt
natürlich dazu, dass Sie uns mit unseren schlauen Überlegungen alleine lassen. Es führt auch dazu, dass der Ideenwettstreit mit der linken Opposition in diesem Parlament
kaum mehr stattfindet. Ich finde, das macht den politischen Diskurs ärmer. Auch auf diese Weise kann man
Minderheitenrechte verhunzen.
Um es noch einmal deutlich zu sagen: Über das Problem „Panzer in die Türkei - ja oder nein“ und über andere Probleme des Rüstungsexportes um 18 Uhr statt, wie
heute geplant, um 23 Uhr zu diskutieren, finden wir spannender. Deshalb werden wir dem Antrag der F.D.P. zustimmen.
Ich will im Zusammenhang mit dem Antrag der SPD
einen weiteren Punkt nennen. Die F.D.P. hat erstmals einen eigenen Tagesordnungspunkt zu einer vernünftigen
Zeit, nämlich zur Kernzeit, einbringen können, wie das
für die kleinen Fraktionen ja wirklich die Ausnahme ist.
Deshalb hat es die F.D.P. in der Runde der parlamentarischen Geschäftsführer abgelehnt, den Bericht der Ausländerbeauftragten zu diesem Tagesordnungspunkt hinzuzunehmen.
({1})
- Nein, das ist nicht völlig sachfremd. Wenn Sie so vorgehen, werden auch Minderheitenrechte verletzt.
({2})
Denn die Regierungskoalition kann diese Debattenpunkte
der Oppositionsfraktionen - insbesondere der kleinen Oppositionsfraktionen - dann immer mit eigenen Themen
dominieren. Das wollen wir nicht. Deshalb werden wir
Ihren Antrag diesbezüglich ablehnen.
Eine letzte Klarstellung: Wenn die Punkte so zusammengelegt werden, wie es die SPD beantragt, dann wird
natürlich die Debatte um die Rüstungsexporte noch weiter in die Nachtstunden geschoben. Die Debatte wird dadurch nicht verkürzt - das ist doch völlig eindeutig -, weil
sich die Redezeiten zu den vorherigen Punkten automatisch verändern. Das zur Klarstellung.
Ich danke Ihnen.
({3})
Wir kommen zur Ab-
stimmung. Wer dem Geschäftsordnungsantrag der F.D.P.
auf Zusammenlegung der Tagesordnungspunkte 10 und
17 zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. -
Wer stimmt dagegen? - Das Letzte war die Mehrheit. Da-
mit ist der Geschäftsordnungsantrag abgelehnt.
Wir kommen zum Geschäftsordnungsantrag der SPD
auf Zusammenlegung der Tagesordnungspunkte 5 und 16.
Wer stimmt diesem Antrag zu? - Wer stimmt dagegen? -
Dieser Antrag ist mit den Stimmen des ganzen Hauses ge-
gen die Stimmen der PDS-Fraktion und von Teilen der
F.D.P.-Fraktion angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 a bis c sowie Zu-
satzpunkt 2 auf:
3 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD
und BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der
gesetzlichen Rentenversicherung und zur Förderung eines kapitalgedeckten Altersvorsorgevermögens ({0})
- Drucksache 14/4595 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
gemäß § 96 GO
b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
- Drucksache 14/4230 ({2})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des
Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
({3})
- Drucksache 14/4630 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Meckelburg
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({4}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 14/4634 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Christa Luft
Dr. Konstanze Wegner
Antje Hermenau
c) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Neuordnung der Versorgungsabschläge
- Drucksache 14/4231 ({5})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses
({6})
- Drucksache 14/4620 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Peter Kemper
Meinrad Belle
Dr. Max Stadler
ZP 2 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die gesetzliche
Rentenversicherung, insbesondere über die Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben, der
Schwankungsreserve sowie des jeweils erforderlichen Beitragssatzes in den künftigen 15 Kalenderjahren gemäß § 154 SGB VI ({7})
- Drucksache 14/2116 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({8})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
Zum Gesetzentwurf zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit liegen ein Änderungsantrag
der Fraktion der CDU/CSU, zwei Änderungsanträge der
Fraktion der PDS sowie jeweils ein Entschließungsantrag
der beiden genannten Fraktionen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Walter Riester, das
Wort.
Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung ({9}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über
die Probleme der Rentenkassen wurde schon seit Jahren
nur gesprochen. Wir haben bereits im letzten Jahr entschlossen gehandelt: Wir haben die versicherungsfremden Leistungen aus der Rentenkasse herausgenommen
und die Beitragssätze gesenkt. Heute leiten wir den Gesetzgebungsprozess ein, indem wir über Lösungen diskutieren, um dann entschlossen zu handeln.
({10})
Dabei geht es uns zunächst darum, einen fairen Ausgleich zwischen den Generationen zu finden. Das ist unser Weg und wir meinen, dass das der einzig gangbare
Weg ist. Wir haben einen Lösungsvorschlag auf den Tisch
gelegt, der diesem Anspruch gerecht wird. Bei unserer
Rentenreform sind Junge und Ältere gleichermaßen Gewinner. Wir schaffen Gerechtigkeit zwischen den Generationen, wir setzen auf Solidarität mit Gewinn sowie auf
Sicherheit und Bezahlbarkeit. Deswegen konzentrieren
wir uns auf vier Schwerpunkte:
Erstens. Wir ergänzen die gesetzliche Rente mit einer
zusätzlichen kapitalgedeckten Rente und werden damit
das Rentenniveau - insgesamt dauerhaft anheben.
Zweitens. Wir werden den Weg, die Rentenversicherungsbeiträge zu senken, konsequent fortsetzen und zu einer Stabilisierung der Beiträge und damit zu einer Begrenzung der Lohnnebenkosten kommen.
({11})
Präsident Wolfgang Thierse
Drittens. Wir werden insbesondere die Menschen - das
betrifft vor allem Frauen - unterstützen, die durch Unterbrechung ihrer Erwerbstätigkeit oder aufgrund einer geringeren Bezahlung infolge Kindererziehung letztlich
niedrigere Renten haben. Damit muss Schluss sein!
({12})
Viertens. Wir möchten die verschämte Altersarmut in
diesem Land beenden, weil die Politik nicht darauf setzen
darf, dass ältere Menschen aus Scham oder weil sie den
Rückgriff auf die Kinder scheuen, ihre berechtigten Ansprüche nicht anmelden. - Das sind unsere Ziele.
Das Herzstück unseres Gesetzentwurfs ist die Förderung des Aufbaus eines zusätzlichen Altersvermögens.
Diese Altersvorsorge ist freiwillig und zusätzlich. Sie ist
also kein Ersatz, sondern eine Ergänzung der gesetzlichen
Rente. Wir werden den Aufbau dieser zusätzlichen Altersvorsorge durch umfassende staatliche Zulagen
unterstützen. Wir haben das Ziel, das Versorgungsniveau
im Alter insgesamt zu erhöhen. In Zukunft soll die gesetzliche Rente als Basis durch eine zusätzliche Rente ergänzt werden.
Damit die Möglichkeit eines zusätzlichen Vermögensaufbaus kein Privileg von wenigen wird, starten wir
das größte Programm zur Förderung eines Altersvorsorgevermögens, das jemals in dieser Republik aufgelegt worden ist. Wir wollen, dass alle Rentenversicherten
die Möglichkeit erhalten, sich ergänzend abzusichern.
Dies betrifft vor allem die Menschen, die nicht viel verdienen oder mittlere Einkommen haben - also vor allem
junge Familien mit Kindern -, die im Gegensatz zu Besserverdienenden eine zusätzliche Altersvorsorge bislang
nicht betreiben können.
Dieses Ziel ist uns fast 20 Milliarden DM jährlich wert;
der Startschuss soll im Jahr 2002 fallen. Damit niemand
finanziell überfordert wird, beginnen wir im ersten Jahr
mit einem Beitrag von 1 Prozent des Bruttoentgelts. Der
Staat gibt von Anfang an Geld dazu. Der Beitrag steigt in
insgesamt vier Schritten alle zwei Jahre um jeweils 1 Prozent und erreicht im Jahre 2008 insgesamt vier Prozent
vom Bruttoentgelt.
Vom Staat werden all diejenigen gefördert, die in die
gesetzliche Rentenversicherung einzahlen. Nach der Anlaufphase bekommen Alleinstehende 300 DM im Jahr,
Verheiratete 600 DM und für jedes Kind gibt es 360 DM.
Ich mache dies deutlich am Beispiel einer Familie mit
zwei Kindern und einem Jahresverdienst von durchschnittlich 50 000 DM: Wenn diese Familie jährlich
680 DM für die Altersvorsorge aufwendet, dann gibt der
Staat 1 320 DM dazu, nämlich 300 DM für den Ehemann,
300 DM für die Ehefrau, 360 DM für das erste Kind und
360 DM für das zweite Kind. Das ist die breite Förderung
durch die von allen gewünschte ergänzende Altersvorsorge.
({13})
Wer monatlich auf seinen Lohnzettel schaut, der weiß,
dass die Schmerzgrenze bei den Abgaben längst erreicht
ist. Deswegen sind Fragestellungen, die die Abgaben betreffen, für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land
ein zentraler Punkt. Auch für die Betriebe ist das wichtig.
Wir haben sehr schnell erste Schritte eingeleitet und haben den Rentenversicherungsbeitrag auf 19,3 Prozent abgesenkt. Gestern hat das Kabinett beschlossen, ab dem
1. Januar nächsten Jahres den Rentenversicherungsbeitrag erneut um 0,2 Prozentpunkte auf 19,1 Prozent abzusenken.
({14})
Noch wichtiger aber ist es, diese Beiträge langfristig
zu stabilisieren und auf niedrigem Niveau zu halten. Deswegen werden wir durch diese Reform sicherstellen, dass
der Beitragssatz mindestens zehn Jahre unter 19 Prozent
und mindestens 20 Jahre unter 20 Prozent bleibt. Auf
Jahre hinaus bedeutet dies, dass die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer mehr Geld in den Taschen haben und
dass die Unternehmer mehr Spielraum haben, um zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen. Denn immer weiter steigende Beitragssätze hätten negative Konsequenzen
für die Zahl der Arbeitsplätze in diesem Lande.
Die Senkung des Rentenversicherungsbeitrages von
20,3 Prozent auf 19,3 Prozent, die wir schon vorgenommen haben, bringt für die Arbeitgeber und für die Arbeitnehmer eine Entlastung von insgesamt rund 16 Milliarden DM. Dabei entfallen 8 Milliarden DM auf die
Beschäftigten und 8 Milliarden DM auf die Betriebe. Dieser Weg wird weitergegangen.
In vielen Gesprächen mit älteren und jüngeren Menschen wurde ich immer wieder besorgt gefragt, wie viel
Geld die Rentner in Zukunft zur Verfügung haben werden.
Dazu muss man Folgendes ganz klar sagen: Für die heutigen Rentner wird sich nichts ändern. Ihre Renten werden
ab dem 1. Juli nächsten Jahres an die Lohnentwicklung
kontinuierlich angepasst. Dies wird sich nicht ändern.
({15})
Auch für diejenigen, die 55 Jahre und älter sind, wird sich
nichts ändern. Sie werden ihre Renten auf gleichem Niveau bekommen und sie werden bis zum Ende ihres Rentenbezuges entsprechend der Lohnentwicklung angepasst. Bei den Jüngeren ist dies so nicht zu verwirklichen.
Die Menschen werden älter; darüber freuen wir uns.
Durch die längere Lebenserwartung werden sie ein Mehr
an Rentenleistung bekommen, da sie länger Rente beziehen. Allerdings werden wir einen Ausgleichsfaktor einführen, der dieser Entwicklung ab dem Jahr 2011 in beschränktem Umfang Rechnung trägt: Der Ausgleichsfaktor
beginnt mit 0,3 Prozentpunkten ab dem Jahr 2011. Es wird
im Jahr 2030 bei 6 Prozentpunkten begrenzt. Dennoch erhalten die Rentner durch die verlängerte Bezugszeit der
Rente ein insgesamt größeres Rentenvolumen.
Unhabhängig davon ist es wichtig, Vorsorge zu treffen. Das ist der entscheidende Ansatz. Damit die Menschen dies leisten können, bauen wir die ergänzende, kapitalgestützte Vorsorge auf und unterstützen das gerade
für Personen mit geringerem und mittlerem Verdienst sowie für Familien mit Kindern in ganz erheblichem Maße.
Ein weiterer Punkt: Wir werden mit der Rentenreform
dafür sorgen, dass das fortwährende Ärgernis der Existenzgefährdung vieler Menschen im Alter, weil sie in ihrer Erwerbsbiografie Unterbrechungen wegen der Erziehung ihrer Kinder haben, beendet wird. Wir werden mit
dieser Reform dafür sorgen, dass die niedrigeren Verdienste derjenigen, die Kindererziehung mit Erwerbstätigkeit verbunden haben, rentenrechtlich höher bewertet
werden, und zwar maximal bis zum Durchschnittsverdienst aller Versicherten. Die rentenrechtlichen Anwartschaften werden bis zum zehnten Lebensjahr des Kindes
höher als bisher bewertet. Das betrifft im Regelfall die
Frauen.
Nun gibt es Fälle, in denen mehrere Kinder gleichzeitig erzogen werden und eine Erwerbstätigkeit deswegen
gar nicht möglich ist. Wir werden auch die Rentenansprüche derjenigen, die zwei oder mehr Kinder gleichzeitig erzogen haben, höher als bisher bewerten und für
diese - das sind im Regelfall Frauen - erstmals sicherstellen, dass Arbeitsunterbrechungen wegen Kindererziehung nicht im Rentenalter zu Armut führen.
({16})
Wir wissen um die Schwierigkeiten gerade der Menschen, die behinderte Kinder erziehen. Deswegen wollen
wir sicherstellen, dass diejenigen, die ein behindertes Kind
erziehen und deswegen häufig nicht erwerbstätig sein können, nicht im Alter bestraft werden. Wir werden die Rentenansprüche im Fall der Erziehung eines behinderten
Kindes in den ersten 18 Lebensjahren höher als bisher bewerten, sodass die Menschen, die die anspruchsvolle Aufgabe übernommen haben, ein behindertes Kind zu erziehen, nicht im Alter bestraft werden.
({17})
Wir werden darüber hinaus dafür sorgen, dass der Staat
junge Menschen unterstützt, die nicht gleich in das Erwerbsleben eintreten können und deswegen Lücken in ihrer Erwerbsbiografie haben. Auch für diese werden wir
rentenrechtliche Lücken schließen. Damit stellen wir uns
konsequent der Aufgabe, dass Unterbrechungen zu Beginn des Arbeitslebens im Falle von Frühinvalidität nicht
zu Armut führen.
({18})
Nun möchte ich auf ein Thema zu sprechen kommen,
das mich sehr bewegt, das sehr ernst zu nehmen ist und
um das immer wieder öffentlich gestritten wird, nämlich
die Frage: Wie können wir verschämte Altersarmut
bekämpfen bzw. dafür sorgen, dass sie erst gar nicht auftritt? Wir alle wissen, dass die Statistiken die Altersarmut
nur unzureichend ausweisen. Viele ältere Menschen mit
geringen Renten und ohne Rücklagen scheuen den Gang
zum Sozialamt. Viele ältere Menschen haben auch
Angst - aus welchen Gründen auch immer -, dass ein
Rückgriff auf die Kinder mit dem Hinweis auf die Unterhaltspflicht erhebliche Probleme aufwerfen könnte. Darauf, dass Menschen aufgrund ihrer Ängste auf eine Existenzsicherung im Alter verzichten, darf Politik nicht
setzen, zumindest möchte ich keine Politik vertreten, mit
der bewusst oder unbewusst darauf gesetzt wird.
({19})
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grund?
Ja.
Herr Minister, Sie bringen heute eines der wichtigsten Reformvorhaben der rotgrünen Bundesregierung ein. Wie bewerten Sie eigentlich
die Tatsache, dass bei Ihrer Einbringungsrede nur ein
Minister auf der Regierungsbank anwesend ist und der
Bundeskanzler während Ihrer Rede den Plenarsaal verlassen hat?
({0})
Ich darf Ihnen versichern, dass wir gestern
im Kabinett gerade über das jetzige Thema sehr intensiv
diskutiert haben und geschlossen der Meinung waren:
Dieser Gesetzentwurf wird in dieser Form eingebracht.
({0})
Ich habe, bevor ich unterbrochen wurde, über die Menschen gesprochen, die unserer Unterstützung im besonderen Maße bedürfen.
({1})
- Vielleicht kann man sich wieder auf die Aufgabe konzentrieren, den Menschen zu helfen, die unserer Unterstützung bedürfen. Damit ist es mir sehr ernst.
({2})
Wir wollen zwei Dinge zur Vermeidung von verschämter Armut sicherstellen: Die Rentenversicherungsträger sollen hierzu Information und Beratung bei der Antragstellung verbessern und damit unterstützende und
ergänzende Hilfen anbieten. Wir wollen zweitens auf den
Unterhaltsrückgriff bei Kindern und bei Eltern verzichten. Dies ist ein richtiger Schritt, um auch diesen
Menschen Sicherheit im Alter und bei dauerhafter Erwerbsminderung zu gewähren.
Wir haben heute die zweite und dritte Lesung zu den
Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten. Ich habe in
der ersten Lesung darauf hingewiesen, dass wir zwar die
grundlegende Richtung des Rentenreformgesetzes 1999
in Bezug auf die Frage der Erwerbsunfähigkeit mittragen,
dass wir aber entscheidende soziale Schieflagen korrigieren. Wir korrigieren die Schieflage, dass Menschen, die
noch teilerwerbsfähig sind und zwischen drei und sechs
Stunden arbeiten können, aber arbeitslos sind und in der
Regel keine Chance haben, einen Arbeitsplatz zu bekommen, nicht rentenrechtlich abgestraft werden, sondern
weiterhin eine volle Erwerbsunfähigkeitsrente erhalten.
({3})
Wir stellen sicher, dass die 40-Jährigen und Älteren
nicht, wie von der früheren Regierung vorgesehen, sofort
ihren Berufsschutz verlieren, sondern dass sie weiterhin
bei Berufsunfähigkeit eine Teilrente wegen Berufsunfähigkeit erhalten.
Wir stellen sicher, dass die Schwerbehinderten bei der
Heraufsetzung des Rentenzugangsalters eine weitere Frist
bekommen, bei der die 50-Jährigen und Älteren weiterhin
nach altem Recht mit 60 Jahren ohne Rentenabschläge in
den vorgezogenen Altersruhestand gehen können. Das ist
für diese Menschen ganz entscheidend.
({4})
An diesem Punkt hatte ich in der ersten Lesung den
Eindruck - das wurde auch in vielen Punkten signalisiert -, dass zumindest hier ein breiter Konsens im Parlament vorhanden ist und wir die Zustimmung der Opposition gewinnen können. Es wird sich heute zeigen, ob die
Opposition in dieser Frage zumindest die Kraft hat, in dieser entscheidenden Frage mitzustimmen.
({5})
Unsere Reform hat viele Gewinner. Deshalb werden
wir die vier Ziele, die ich vorgetragen habe, unbeirrt
durchsetzen. Die Gewinner sind alle heutigen Rentner.
Ihre Renten werden gesichert. Sie werden kontinuierlich
entsprechend der Lohnentwicklung angehoben. Sie wissen auch, dass sie bezahlbar bleiben.
({6})
Die Gewinner sind vor allem auch die jüngeren Menschen, die Beitragszahler, weil sie wissen, dass die
Beiträge nicht kontinuierlich ansteigen, dass die Lohnnebenkosten begrenzt werden und dass sie gleichzeitig eine
breite soziale Unterstützung bekommen zum Aufbau einer ergänzenden kapitalgedeckten Vorsorge. Sie wissen,
dass die Gesamtvorsorge im Alter stabil ist.
({7})
Die Gewinner sind Frauen und kinderreiche Familien,
die im besonderen Maße durch die Reform besser gestellt
sind. Die Gewinner sind vor allem sozial Schwache, auf
deren Situation sich diese Reform einstellt. Sie bietet
Hilfe an.
({8})
Deswegen ist diese Reform viel mehr als eine überfällige und notwendige Reparatur. Diese Reform ist eine zukunftsweisende Reform über mehrere Jahrzehnte. Die
Rentenversicherung wird um eine zusätzliche Altersvorsorge ergänzt: Wir kombinieren Solidarität mit Eigenverantwortung. Mit staatlicher Förderung starten wir das
größte Programm zum Aufbau von Altersvermögen. Wir
setzen auf Solidarität mit Gewinn, und wir setzen auf Sicherheit und Bezahlbarkeit. Es lohnt sich, an diesem Konzept festzuhalten und dies auch gegen Widerstände durchzusetzen. Denn dies ist eine Reform, die viele Gewinner
hat. Die neue Rente vereint, was allen nützt: Solidarität
mit Gewinn.
Es ist lange geredet worden. Jetzt muss gehandelt werden, und zwar zügig.
({9})
Die Weichen sind gestellt, der Zug setzt sich in Bewegung. Die heutige Verabschiedung der Reform der Erwerbsunfähigkeitsrenten ist die erste Station auf dem Weg
zu einer großen Rentenreform.
({10})
Ich lade auch die Union ein, einzusteigen; bevor das Signal ertönt: Die Türen schließen selbsttätig.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich erteile dem Kollegen Horst Seehofer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion führt zurzeit einen intensiven rentenpolitischen Dialog mit allen gesellschaftlichen Gruppen. Bei unserem gestrigen Gespräch
haben uns alle Verbände die Frage gestellt: Wozu sollen
wir eigentlich Stellung nehmen? Der Gesetzentwurf, der
heute vorliegt, gilt in seinen wesentlichen Bestandteilen
bereits nicht mehr. Er soll geändert werden und das, was
neu kommen soll, ist nicht bekannt. Niemand in der Republik weiß noch, was auf ihn zukommt, weder die Rentner noch die Beitragszahler.
({0})
Chaos ist bei dieser Koalition Programm. Nicht die Gewerkschaften, nicht die Sozialverbände, nicht die Opposition, sondern die ständigen taktischen Haken des Bundesarbeitsministers haben Beitragszahler und Rentner in
der Bundesrepublik Deutschland verunsichert.
({1})
Ich nehme als Beispiel die Rentenformel, die Vertrauensgrundlage unserer gesetzlichen Rentenversicherung.
Danach bestimmen sich die jährliche Rentenanpassung
und das Rentenniveau. Ich möchte Ihnen einmal aufzählen, was die Regierung in den letzten zwölf Monaten
hier angestellt hat: 1999 Anpassung nach der Nettolohnentwicklung. Im Jahr 2000 gab es einen doppelten Wortbruch: Anpassung - entgegen den Wahlversprechungen nach Inflationsrate, nicht nach Nettolohnentwicklung.
Die dabei zugrunde gelegte Inflationsrate war nicht von
diesem Jahr, sondern vom letzten Jahr. Dafür hat sich der
Bundeskanzler bei den Rentnern entschuldigt. Für das
nächste Jahr steht eine Anpassung nach Inflationsrate im
Gesetz, was jetzt wieder in Nettolohnanpassung geändert
werden soll. Im Jahre 2002 soll ein modifiziertes Nettolohnprinzip gelten. Herausgerechnet werden soll die dann
erfolgte Steuersenkung, was inzwischen aber in der Regierung wieder umstritten ist. Darüber, wie die Rentenanpassung im Jahr 2002 erfolgen soll, wird diskutiert.
So geht es lustig weiter: Für 2003 ist die nächste Runde
der Änderungen angesagt. Dann soll die Rentenanpassung doppelt modifiziert werden. Herausgerechnet werden die Steuersenkung und der 2002 eingeführte 1-prozentige Beitrag zur privaten Altersvorsorge. Im Jahre
2004 wird wieder geändert. Da wird der private VorsorBundesminister Walter Riester
gebeitrag erneut zur Hälfte angerechnet, obwohl im Jahre
2003 ein Vorsorgebeitrag überhaupt nicht anfällt.
Meine Damen und Herren, in sechs Jahren sechs Änderungen der Rentenformel! Am schönsten hat es die
„Frankfurter Rundschau“ kommentiert:
Wer das jetzt nicht verstanden hat, braucht deshalb
nicht an seiner Intelligenz zu zweifeln. Entstanden ist
ein bürokratischer Albtraum.
({2})
Ich füge hinzu: Innerhalb von sechs Jahren sechs Änderungen, das ist ein Weltrekord der Pfuscherei.
({3})
Herr Bundeskanzler, den bisherigen Rekord hält auch
diese Regierung. Aufgestellt wurde er vor einem Jahr von
der Bundesgesundheitsministerin, die hier eine Reform
vorlegte, die sie gar nicht wollte. Der Ausschuss legte einen ganz anderen Reformvorschlag vor, als die Regierung
beabsichtigt hatte.
Dies erwähne ich zum Stichwort Verunsicherung, weil
der Arbeitsminister dazu neigt, uns vorzuhalten, die Opposition, Gewerkschaften und Sozialverbände seien bösartig und verstünden das nicht. Nein, diese pausenlose
Taktiererei und der pausenlose Zickzackkurs haben zu einer Verunsicherung bei 18 Millionen Rentnern und
30 Millionen Beitragszahlern geführt, wie es in der Geschichte der Rentenversicherung nie zuvor der Fall war.
({4})
Nun wird die Beitragssatzstabilität groß gefeiert. Dabei wird verschwiegen, dass die Beiträge zur gesetzlichen
Rentenversicherung langfristig auf 22 Prozent ansteigen.
Der Öffentlichkeit wird pausenlos verschwiegen, dass die
Ökosteuer die Menschen zusätzlich belastet, obwohl die
damit verbundenen Einnahmen des Staates der Rentenversicherung zugeführt werden. Die Ökosteuer ist in
Wahrheit nichts anderes als der Rentenbeitrag an der
Tankstelle.
({5})
Man muss beides zusammenzählen: Die Kombination
aus steigenden Rentenversicherungsbeiträgen und Ökosteuer wird die Menschen bei der Finanzierung der gesetzlichen Alterssicherung in Zukunft mehr belasten als je
zuvor. Zum Dank dafür bekommen sie weniger Rente
denn je. Das - mehr zahlen und weniger Rente - ist die
Folge Ihrer Politik!
({6})
Ich habe gerade gehört, es gebe nur Gewinner.
({7})
Ich beginne mit dem so genannten Ausgleichsfaktor. Obwohl der Arbeitsminister und die Koalition am Dienstag
beschlossen haben, dass der Ausgleichsfaktor verändert
werden soll, gehe ich von dem aus, was heute vorliegt:
Ausgleichsfaktor heißt, dass für die Menschen, die ab
dem Jahre 2011 in Rente gehen, 20 Jahre lang jährlich
0,3 Prozent, insgesamt also 6 Prozent, von der Rente abgezogen werden. Es handelt sich um einen semantischen
Trick: Es ist kein Ausgleichsfaktor, sondern ein Kürzungsfaktor.
Der Kürzungsfaktor trifft nur die junge Generation. Je
später ein Angehöriger dieser Generation in Rente geht,
desto höher ist der Abzug. Herr Bundeskanzler, das ist ein
Programm zur Frühverrentung, weil künftig derjenige der
Dumme ist, der länger arbeitet; denn dann bekommt er einen Rentenabschlag.
({8})
Diese Rentenreform bürdet den heute 20-, 30- und
40-Jährigen überproportionale Lasten auf. Deshalb, Herr
Arbeitsminister, ist die junge Generation der Verlierer dieser Reform.
({9})
Ihr Rentenniveau liegt um 13 Prozentpunkte niedriger als
das heutige. Dazu kommt eine Beitragssteigerung von
heute 19,1 Prozent auf 22 Prozent. Außerdem werden
sie in den nächsten 30 Jahren bis zu 4 Prozent ihres Einkommens für die private Altersvorsorge aufbringen müssen. Ich stelle fest: höhere Beiträge, geringeres Rentenniveau. Der Bundesfinanzminister hat in einer Rede in der
Humboldt-Universität diese Woche gesagt, dass diese Generation zwei Jahre länger arbeiten soll.
({10})
Trotz höherer Beiträge, eines geringeren Rentenniveaus
und einer längeren Lebensarbeitszeit stellt sich der Arbeitsminister hier hin und behauptet, es gebe Gewinner
bei dieser Reform. In Wirklichkeit gehört die junge Generation zu den großen Verlierern dieser Reform.
({11})
Ich möchte Ihnen heute wieder ein Angebot machen:
Alle, der Verband der Rentenversicherungsträger, der
VdK - das ist die Vertretung der Rentner -, die Opposition, insbesondere die Union, die Gewerkschaften und die
Arbeitgeber fordern seit Wochen und Monaten, mit dieser
sozialen Schieflage, mit dieser Ungerechtigkeit aufzuhören. Die Forderung lautet: Weg mit dem Ausgleichsfaktor und her mit dem einzigen gerechten Instrument,
dem Demographiefaktor!
Damit Sie den Verantwortungswillen der Opposition
sehen, sage ich: Wir sind bereit, bei einem Demographiefaktor mitzumachen, wie ihn die Gewerkschaften
und die Arbeitgeber im Zusammenhang mit den Gesprächen beim VDR vorgeschlagen haben. Dieser Demographiefaktor soll ab dem Jahre 2011 für alle, für diejenigen im Rentenbestand und für diejenigen im Rentenzugang, gelten. Die Anpassung der Renten soll sich
nach den Lohnsteigerungen richten. Zum Ausgleich für
die steigende Lebenserwartung und die längere Rentenlaufzeit soll ein Abschlag von 0,25 Prozentpunkten erfolgen. Doch das würde bedeuten, dass alle Generationen an
der Finanzierung der steigenden Lebenserwartung gerecht beteiligt werden. Außerdem hätte dieser Weg den
großen Vorteil, dass das Rentenniveau in den Jahren 2020
bis 2030 sogar höher läge, als Sie es vorsehen. So sieht
unsere Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung
aus.
({12})
Unsere Vorschläge scheitern bisher nur daran, dass Sie
sich auf Gedeih und Verderb dem - richtigen - Demographiefaktor von Norbert Blüm nicht annähern wollen.
({13})
Herr Bundeskanzler, ich mache Ihnen das Angebot:
Übernehmen Sie diese Zahlen und nennen Sie den Faktor
meinetwegen anders! Sie können ihn Riester-Faktor,
VdK-Faktor oder DGB-Faktor nennen.
({14})
Wichtig ist, dass es zu einer gerechten Lastenverteilung
zwischen Jung und Alt kommt.
({15})
Das Herzstück ist die private Vorsorge. Ich darf darauf
hinweisen, dass die Fraktion der CDU/CSU die erste
Fraktion des Deutschen Bundestags war, die dazu einen
ganz konkreten Vorschlag gemacht hat. Wir haben öffentlich gesagt, dass die gesetzliche Rente durch private und
betriebliche Altersvorsorge ergänzt werden muss und dass
man den Familien und den kleinen Leuten bei der Finanzierung der Vorsorgebeiträge helfen muss. In der Grundidee stimmen wir überein. Aber ich muss sagen: Handwerklich ist es äußerst miserabel umgesetzt worden.
({16})
Ich möchte das auch begründen: Der Grundfehler besteht
darin, dass die gleiche Regierung, die uns monatelang
aufgefordert hat, schnell zu einem Konsens zu kommen,
damit es möglichst schnell zu einer Regelung der privaten Vorsorge - dem Herzstück der Reform - kommen
kann, jetzt das In-Kraft-Treten der privaten Vorsorge um
ein Jahr verschiebt. Je rascher wir eine Regelung zur Vorsorge umsetzen, meine Damen und Herren, desto günstiger ist es für die Menschen. In diesem Bereich gilt wirklich der Satz: Verlorene Zeit ist verlorenes Geld.
({17})
Deshalb ist es ein fataler Fehler, dass Sie die Einführung
der privaten Vorsorge um ein Jahr verschieben.
({18})
Bei dieser Regierung muss man ja immer ein wenig
hinterfragen, ob die vorgetragenen Argumente zutreffen.
Die Verschiebung wurde mit Barmherzigkeit gegenüber
den Ländern begründet. Die Haushalte der Länder seien
jetzt durch die Steuerreform finanziell belastet, die private
Vorsorge müsse verschoben werden, weil die Länder nicht
auch noch die Einführung der privaten Vorsorge im Jahre
2001 mitfinanzieren könnten. Ich habe einmal in den
Regierungsmaterialien nachgeschaut, in welcher Form
die Bundesländer durch die steuerliche Begünstigung der
privaten Vorsorge und die Zulagenförderung im Jahre
2001, würde sie denn schon im Jahre 2001 eingeführt
- ich hoffe, das wird noch erfolgen -, betroffen wären.
Insgesamt würden die Belastungen im Rechnungsjahr
2001 für Bund, Länder und Kommunen 537 Millionen
DM ausmachen. Davon entfielen auf die Länder 216 Millionen DM. Bei 16 Bundesländern entfielen auf jedes
Bundesland durchschnittlich 13 Millionen DM. Glaubt
diese Regierung wirklich, sie könne uns wegen einer
durchschnittlichen Belastung eines jeden Bundeslandes in
Höhe von 13 Millionen DM verkaufen, dass die Einführung der privaten Vorsorge vom Jahre 2001 auf das
Jahr 2002 verschoben werden muss? Nein, das ist nicht
der wahre Grund.
Der wahre Grund ist, dass Sie im Jahre 2002 den Menschen erneut die Unwahrheit sagen wollen, so wie Sie es
1998 bei der Rente auch gemacht haben.
({19})
- Liebe Frau Schmidt, ich lese Ihnen gerne vor, was die
Fraktionschefin der Grünen, Kerstin Müller, am Dienstagvormittag im Hessischen Rundfunk
({20})
- in dieser Woche - gesagt hat:
({21})
Die Taktik, die Einschnitte auf die Zeit nach der Bundestagswahl 2002 zu verschieben, sei doch durchsichtig. Das
geschehe, so sagte sie, aus wahltaktischen Gründen. Am
Vormittag sagt sie das, bekommt aber dann in wenigen
Stunden so viel Geschmack daran, den Wählern die Wahrheit vorzuenthalten. Herr Schlauch, einen Menschen, der
so kraftvoll wie Sie angetreten und angelaufen ist, dann
aber so kurz springt, nennt man in Oberbayern einen
„Spargeltarzan“.
({22})
Vormittags wird von den Grünen gesagt, ein solches Vorgehen sei reine Wahltaktik, nachmittags aber stimmt man
diesem Wählerschwindel zu. Das sind die Grünen des
Jahres 2000.
({23})
Die Wahrheit ist, dass die Koalition - dafür kämpft sie
jetzt - im Wahljahr Wohltaten verteilen will, aber dann,
wenn die Stimmabgabe erfolgt ist, Rentenkürzungen beabsichtigt.
Herr Riester, es ist nicht wahr, dass die Bestandsrentner nicht betroffen sind.
({24})
Durch die Verringerung der Rentenanpassungen in den
nächsten acht Jahren in Höhe der Vorsorgebeiträge, die
völlig systemfremd sind, werden den Rentnern, die heute
schon Rente bekommen, bei den Rentenanpassungen
4 Prozent ihrer Rente weggenommen. Bei jemandem, der
2 000 DM Rente als langjährig Versicherter bekommt,
machen 4 Prozent 80 DM im Monat aus.
({25})
Was für ein Zirkus ist in Deutschland wegen 5 DM Selbstbeteiligung veranstaltet worden? Jetzt werden 100, 80
bzw. 60 DM im Monat einfach abgeräumt.
({26})
Die Ausgestaltung der privaten Vorsorge ist geradezu
ein Treppenwitz. Bei dem Spitzengespräch beim Bundeskanzler, wo er auf einem Wisch hierfür 19,5 Milliarden DM angeboten hat, war noch keine Rede von einer
Kinderkomponente. 30 DM pro Kind im Monat war unser Vorschlag. Monatelang ist uns gesagt worden, das sei
nicht finanzierbar; diese Forderung zeuge von einer unverantwortlichen Handlungsweise der Opposition.
(Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das war
völliger Quatsch!
Im September dann haben Sie sich diesem Gedanken
genähert. Das einzige Beispiel, das Sie jetzt als soziale
Ausgestaltung der Vorsorge bringen, ist immer das Beispiel von Familien mit Kindern. Sie verschweigen, dass
die Kinderkomponente auf Forderung der CDU/CSUBundestagsfraktion zustande kommt. Das ist das einzige
positive Beispiel, das Sie nennen können.
Alles andere, Herr Riester, werden Sie mit Sicherheit
fundamental verändern müssen, zum Beispiel die betrieblichen Altersversorgungen, die Ihre Bundestagsfraktion mit Priorität versehen will. Kein einziger wesentlicher Durchführungsweg der betrieblichen Altersversorgung fällt heute nach Ihrem Regierungsentwurf unter die Förderung.
({27})
Die betrieblichen Altersversorgungen bieten im Regelfall
Schutz bei Tod und Invalidität. Sie schreiben jetzt aber ins
Gesetz, dass eine betriebliche Altersversorgung nur gefördert wird, wenn sie nicht vor dem 60. Lebensjahr ausbezahlt wird. Wenn nun aber dummerweise jemand vor
Erreichen des 60. Lebensjahres stirbt oder erwerbsunfähig wird, dann bekommt er nichts. Das ist doch ein
Treppenwitz!
Das Wohneigentum ist nicht in die Förderung einbezogen, genauso wenig wie die Altverträge der Lebensversicherungen. Wie soll denn das gehen, wenn jemand
aus einer Hypothek, die er für den Kauf einer Eigentumswohnung für seine Familie aufgenommen hat, eine Belastung von 1 500 DM hat? Die berücksichtigen Sie nicht
als Altersvermögensbildung. Sie verpflichten den noch,
4 Prozent seines Einkommens in die Riester-Altersvermögensbildung zu zahlen.
({28})
Auch wenn jemand seit 20 Jahren in die Lebensversicherung einbezahlt hat und noch weitere 20 Jahre verpflichtet ist, zählt das nach Ihrem Konzept nicht zur Altersvermögensbildung. Jetzt haben Sie über Nacht noch
etwas zusammen geschustert, von dem uns gestern die
Verbände sagten: Das ist absolut nicht zu praktizieren.
Angenommen, eine Familie mit zwei Kindern hat Verpflichtungen aus der Lebensversicherung. Jetzt kommt
der Herr Riester und sagt: 4 Prozent zusätzlich! Wenn
diese Familie zudem ein unterdurchschnittliches Einkommen hat, ist sie durch Ihre Rentenkürzung ohnehin besonders betroffen. Wie soll denn das gehen?
Ich sage Ihnen: Erstens. Sie müssen zwingend einen
Weg finden, damit die betriebliche Altersversorgung in
die Förderung hereinkommt. Im Moment fällt kein
Durchführungsweg der betrieblichen Altersversorgung
unter die Förderung. Zweitens. Sie müssen Lösungen finden für die Altverträge bei Lebensversicherungen und anderen Verträgen.
({29})
Drittens. Sie müssen Lösungen finden für das Wohneigentum.
({30})
An die Sozialdemokraten, die ja so sozial sein wollen,
gewandt, sage ich: Im Jahre 2002 - wenn es dabei bleibt;
es kann ja nächste Woche schon wieder anders sein - muss
1 Prozent des Einkommens gespart und kann dann gefördert werden. Das führt bei denen, die 30 000 DM verdienen, zu einer jährlichen Förderung von 75 DM im Jahre
2002. Der Chef dieser Angestellten, der 100 000 DM verdient, bekommt eine Förderung von 450 DM. Meine Damen und Herren, eine solche Spreizung werden Sie nicht
durchhalten. Der eine bekommt 75 DM, der andere, obwohl er das Dreifache verdient, bekommt die sechsfache
Förderung, nämlich 450 DM.
Ich bitte Sie dringend, die Struktur dieser Förderung
noch einmal zu überdenken. Wenn die kleinen Leute
- diejenigen, die 30 000, 40 000 oder 50 000 DM brutto
verdienen -, im Jahr 2002 mit einer solchen Förderung abgespeist werden, wird das, so befürchte ich, ein Flop.
Denn die private Vorsorge ist kein Erfolg, wenn diejenigen, die ohnehin schon sparen, weil sie es vom Gehalt her
können, noch Mitnahmeeffekte bei der Steuer haben, sondern sie ist nur ein Erfolg, wenn diejenigen, die unterdurchschnittlich verdienen, auch finanziell in der Lage
sind, diese Vorsorge zu betreiben.
({31})
Jede Wette, Herr Bundeskanzler: Das werden Sie ändern,
das werden Sie ändern müssen.
Sie werden auch das Rentenniveau ändern müssen.
Bei 45 Versicherungsjahren, bei einem erfüllten Erwerbsleben, kommt nach dem Willen dieser Regierung im Jahre
2030 ein Rentenniveau von 61 Prozent heraus. Ein solches Rentenniveau hatten wir zuletzt in den 60er-Jahren.
Das sind 13 Prozent weniger. Bei jemandem, der das
ganze Leben gearbeitet hat, sind es 260 DM weniger; bei
jemandem, der 28 oder 30 Versicherungsjahre hat, sind es
180 DM weniger. Und dann wird hier davon geredet, dass
es nur Gewinner gibt!
Wir bleiben bei dem, was wir vor der Bundestagswahl
verabschiedet haben: Das Rentenniveau kann nicht unter
64 Prozent sinken, weil Sie sonst durch die gesetzliche
Rentenreform eine Altersarmut produzieren. Es macht
keinen Sinn, zuerst Altersarmut herzustellen und anschließend die Kommunen aufzufordern, eine Grundrente
an diese Altersarmen zu bezahlen. Das macht keinen Sinn.
({32})
Vor der Bundestagswahl sagten Sie, Herr Bundeskanzler, die Absenkung des Renteniveaus auf 64 Prozent, wie
die CDU/CSU es wolle, sei unanständig. Ich sage Ihnen:
Die von Ihnen angestrebte Absenkung auf 61 Prozent ist
schamlos, gegenüber den Rentnern und der jungen Generation.
({33})
Damit Sie, meine Damen und Herren von der SPD,
wissen, wie überflüssig Ihre Reform ist, will ich Ihnen
Folgendes sagen: Wenn es beim geltenden Recht bliebe,
wenn also der demographische Faktor, den Sie nur ausgesetzt haben, wieder in Kraft träte - wir haben ihn noch vor
der Bundestagswahl eingeführt, weil wir den Menschen
anständigerweise noch vor der Wahl sagen wollten, wie es
nach der Wahl weitergeht -,
({34})
dann würde im Jahre 2030 der Beitragssatz in der gesetzlichen Rente aufgrund des von Norbert Blüm eingeführten Demographiefaktors nur um 0,2 Beitragspunkte
- das haben alle Verbände im Rahmen des Rentendialogs
gesagt; die Zahl wurden nicht von uns, sondern von den
Rentenversicherungsträgern berechnet - höher liegen, als
es nach dieser Reform der Fall wäre.
({35})
Weil man den demographischen Faktor nicht will,
macht man den ganzen Schwindel im Jahre 2002. Sie machen die ganzen Verdrehungen, nur weil Sie Gefangene
Ihrer eigenen Aussage sind, der demographische Faktor
komme nicht infrage. Ich sage Ihnen: Freunden Sie sich
mit dem demographischen Faktor an! Dann können Sie
sich den Diskurs in der Koalition sparen. Sie haben die
Probleme nicht gelöst. Sie haben sich um des Koalitionsfriedens willen verständigt, aber die Lösung der Probleme
auf die lange Bank geschoben.
({36})
Das Ganze ist deshalb so betrüblich, weil es im Grunde
eine erstklassige Idee im Rahmen der Sozialpolitik ist, die
gesetzliche Rente als Fundament in verschlankter Form
für die Alterssicherung aufrechtzuerhalten, eine private
und betriebliche Altersvorsorge aufzubauen und bei diesem Aufbau den kleinen Leuten und den Familien mit
Kindern zu helfen.
({37})
Diese erstklassige Grundidee ist von dieser Regierung
drittklassig umgesetzt worden. Die Reform ist verkorkst.
Ich sage es noch einmal: Chaos gehört zum Programm
dieser Regierung. Von Gerechtigkeit und Klarheit ist diese
Rentenreform so weit entfernt - Lichtjahre auseinander wie Karl Marx von Bill Gates.
({38})
Herr Bundeskanzler, wir warnen Sie, dieses Vorhaben
in drei Sitzungswochen im Zeitraum Dezember bis Januar
durchzusetzen, um dieses Thema möglichst aus den Wahlkämpfen in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz
zu halten. Sie wollen alles vorher sozusagen abgeräumt
haben. Sie können aber ein solch großes Reformwerk
nicht einfach durch den Deutschen Bundestag peitschen.
Wir sind nach wie vor bereit, konstruktiv an einer sozial
gerechten und tragfähigen Rentenreform mitzuwirken.
({39})
Aber diesem Werk können wir nicht zustimmen. Wenn
Sie mit dem Kopf durch die Wand wollen, wenn Sie diese
Reform gegen den Willen der Gewerkschaften, der Arbeitgeber, der Sozialverbände, der Opposition sowie der
Rentenversicherungsträger - und damit gegen den Willen
der Bevölkerung - durchsetzen wollen,
({40})
dann muss ich Ihnen sagen: Tun Sie es ruhig; Sie haben
die Mehrheit. Aber Sie müssen wissen, Herr Bundeskanzler, dass wir vom ersten Tag an nach Verabschiedung dieser Reform darum kämpfen, dass sie wieder rückgängig
gemacht wird.
({41})
Wir sind zu einem tragfähigen Konsens bereit, der gegenüber den Menschen sozialverantwortlich ist. Schauen
Sie sich die Umfragen an, wie die Menschen die Rentenreform beurteilen! Wenn Sie die Reform gegen den Rat
aller Fachverbände durchpeitschen wollen, dann werden
Sie schon bei den Wahlen in Baden-Württemberg und in
Rheinland-Pfalz erleben, wie sich die Menschen von dieser Reform und dieser Politik abwenden, indem sie einfach sagen: Mit uns nicht. Basta!
({42})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute über ein Gesetz, das in den letzten Monaten sehr umstritten war, das immer noch umstritten ist und
das in den letzten Tagen für Aufregung sorgte. Der Entscheidungsprozess um diesen Gesetzentwurf zeigt, welch
schwieriges Thema wir hier zu beraten haben, ein Thema,
das alle Beitrags- und Steuerzahler, das alle Rentner und
Rentnerinnen, die jetzigen und die potenziellen, angeht.
Deswegen ist bei diesem Thema sehr viel Sensibilität angesagt.
Ich will Ihnen in diesem Zusammenhang etwas zu der
Auseinandersetzung sagen, die Sie von der Union seit
Wochen und auch heute hier führen. Diese Auseinandersetzung ist aus meiner Sicht in erster Linie ein Nachklappen aus einem zwei Jahre zurückliegenden Wahlkampf
und ein Vorgeschmack auf die bevorstehenden Wahlkämpfe.
({0})
Die Grünen haben das Thema Generationengerechtigkeit bereits auf die Tagesordnung gesetzt, als das noch
etwas exotisch klang. Aber lassen Sie mich einmal feststellen, was aus meiner Sicht der Unterschied zwischen
der Union und der SPD ist. Die Union hat vor der Wahl
mit einer minimalen Reform versucht, über die nächsten
Jahre zu kommen. Diese Reform wurde mit dem Satz
flankiert, die Rente sei sicher, wohl wissend, dass dieser
Satz höchstens für die damalige Rentnergeneration galt.
Die Auswirkungen dieser Reform aber sollten im Wesentlichen nach der Wahl spürbar werden. Jetzt ergehen Sie
sich in wöchentlich neuen Forderungen, die erfüllt werden müssen, damit Ihre Mitarbeit nicht scheitert. Ich
finde, Ihre Haltung ist nicht sehr mutig und nicht sehr
ernsthaft.
Die SPD hingegen hat sich in einem sehr schwierigen
Prozess - dafür kann man nur Anerkennung finden - der
wirklichen Probleme angenommen und die notwendigen
Diskussionen, auch die langfristig notwendigen, geführt.
Wir haben dann gemeinsam über tragfähige Maßnahmen
geredet. Wir haben das - auch im Unterschied zu Ihnen in aller Offenheit getan und nicht über Hintertürchen. Was
wir als Koalition gemeinsam tun, ist deshalb glaubwürdig, weil wir Mut und Ehrlichkeit verbinden und weil wir
wissen, dass es darauf ankommen wird, unsere Versprechungen gemeinsam einzulösen.
({1})
Wir haben bis zum Schluss um entsprechende Regelungen gerungen. Mit dem Wissen darum werden wir in die
parlamentarischen Beratungen gehen.
Sie von der Union wissen längst, dass Sie dieser Reform eigentlich zustimmen müssten - zumindest, wenn
Sie Ihre eigenen Maßstäbe anlegen würden. Sie wissen
das genau; aber weil Ihnen die Themen für eine ernsthafte
und sachliche Auseinandersetzung fehlen, wollen Sie es
offenbar bei Verunsicherung und Verweigerung belassen.
({2})
Lassen Sie mich auch ein Wort an manche Gewerkschafter sagen. Ich verstehe die Angst, die dort artikuliert
wird. Diese Angst rührt von 16 Jahren Sozialabbau unter
Kohl her. Sie rührt vielleicht auch von der von vielen geteilten Annahme her, dass vieles einfach durch Umverteilung zu lösen sei. Nun haben wir aber in dieser konkreten
Situation eines gemerkt: Gerechtigkeit ist nicht eindimensional; Gerechtigkeit heißt: Die Sicherheiten, die der
Sozialstaat bietet und die die Gesellschaft braucht, müssen auch für die kommenden Generationen erhalten bleiben.
Das geht aber nur, wenn unser Vorgehen auf gegenseitigem Vertrauen basiert. Niemand, der dieser Koalition
angehört, will die sozialen Errungenschaften gefährden.
Im Gegenteil: Wir wollen sie erhalten und gestalten, über
heute und morgen hinaus. Wenn wir dieses Vertrauen zueinander haben - dafür gibt es, so glaube ich, jeden erdenklichen Grund -, dann können wir auch das Vertrauen
der Jüngeren und der Älteren gewinnen. Dieses Vertrauen
braucht die Gesellschaft, ein Vertrauen, das aber auch die
gesellschaftlichen Kräfte zeigen müssen, wenn sie den sozialen Zusammenhalt in dieser Gesellschaft weiter vorantreiben wollen. Ich würde die Gewerkschaften gerne
dafür gewinnen, für die Stärkung dieses sozialen Zusammenhalts gemeinsam einzutreten.
Lassen Sie mich deutlich machen, was diesen sozialen
Zusammenhalt der Generationen untereinander und innerhalb der jeweiligen Generation in diesem Gesetzentwurf ausmacht:
({3})
Einer tritt für den anderen ein, die Jüngeren für die Älteren. Die Jüngeren wollen sich natürlich darauf verlassen
können, dass das System noch funktioniert, wenn sie
selbst alt sind. Das ist der Grundgedanke unseres Rentensystems.
({4})
Wir alle wissen aber auch um den veränderten Altersaufbau, die demographischen Probleme dieses Landes.
Was tun wir? Wir sorgen dafür, dass die Generationen
nicht gegeneinander in Stellung gebracht werden. Zusammenhalt heißt hier: Jede Generation wird nach ihren
Möglichkeiten belastet. Die Lohnzusatzkosten, die die Erwerbstätigen zu zahlen haben, sind vor unserer Regierungszeit in die Höhe geschnellt. Das hat sich vor allem auf
den Arbeitsmarkt negativ ausgewirkt. Dem haben wir ein
Ende gesetzt. Durch die Ökosteuer haben wir die Rentenbeiträge gesenkt und senken sie weiter.
Dafür braucht es auch die Beteiligung der jetzigen
Rentnergeneration. Zwischen Großeltern und Enkeln
- das wissen wir - hat Solidarität schon immer funktioniert. Wir legen deshalb Wert darauf, dass die Rentenbeiträge, wie es vereinbart ist, in den nächsten Jahren
deutlich unter 19 Prozent sinken. Wir legen Wert darauf,
dass die Älteren wissen, was sie dazu beisteuern, und
zwar schon 2002.
Wir, Rot und Grün, werden es gemeinsam ganz sicher
nicht Ihnen von der Union überlassen, mit Hiobsbotschaften über exorbitante Kürzungen an die Menschen
heranzutreten, wie Sie das beim Inflationsausgleich gemacht haben. Nein, die Renten werden steigen, weil wir
eine positive Lohnentwicklung haben, und die jetzige
Rentnergeneration wird ihren Beitrag dazu leisten, dass
die Lohnnebenkosten auch weiter sinken werden.
({5})
Das ist gerecht, das ist fair und das ist ehrlich, auch deshalb, weil wir die nächsten 30 Jahre fest im Blick haben.
Das bedeutet, die Zukunftsfähigkeit des Systems zu gewährleisten.
Die gesetzliche Rentenversicherung wird auch in Zukunft den Hauptteil der Altersversorgung ausmachen. Wir
alle aber wissen: Das reicht nicht aus, um im Alter den
gleichen Lebensstandard wie im Berufsleben zu sichern.
Die Menschen sichern sich längst zusätzlich ab. Was also
tun wir? Zunächst sagen wir klar, wie viel private oder betriebliche Vorsorge nötig ist. Wir tun das übrigens sehr differenziert, weil wir nämlich wissen, dass 50-Jährige keine
Traumrenditen mehr erreichen können. Deshalb sagen
wir: Bei euch wird es ein eher kleiner Teil sein, den ihr
durch die private Altersvorsorge zusätzlich bekommt. Bei
den Jüngeren wird der Ertrag höher sein, wenn sie jetzt
mit der Vorsorge beginnen. Zugleich sagen wir den jetzigen Rentnerinnen und Rentnern: Das ist ein Betrag, der
den Jüngeren nicht im Portemonnaie verbleibt, der ihnen
nicht zur Verfügung steht; deshalb wird er bei der Nettolohnentwicklung nicht berücksichtigt. Dieser Beitrag
muss geleistet werden.
Übrigens, mit dem Geld, das durch eine Zusatzvorsorge in Bewegung gesetzt wird, wollen wir etwas gesellschaftlich Sinnvolles in Bewegung bringen. Deshalb ist es
wichtig, dass die Menschen wissen, wo sie ihr Geld anlegen, ob das Anlageformen sind, die nach ethischen, ökologischen und sozialen Kriterien aufgebaut sind. Gerade
da, wo der Staat nur begrenzt eintreten kann, macht das
Sinn und bringt uns gemeinsam voran.
Aber wir tun noch etwas. Natürlich sorgen die meisten
schon heute vor. Aber manche können das nicht: weil sie
niedrige Einkommen haben oder sagen, sie brauchen das
Geld für die Kinder. Deshalb unterstützen wir diejenigen,
die nicht aus eigener Kraft vorsorgen können. Wir greifen
den Leuten mit niedrigen Einkommen und den Familien
unter die Arme. 20 Milliarden DM stehen dafür zur Verfügung. Wenn ich Sie auf der rechten Seite des Hauses erinnern darf: Bevor Sie einen Gemischtwarenladen von
Forderungen aufgemacht haben, war das Ihr zentraler
Punkt.
Damit sind wir gleich bei einer anderen Frage. Gesellschaftlicher Zusammenhalt bedeutet auch: Frauen haben
ein Recht auf eine eigenständige Alterssicherung. Was tun
wir? Die Förderung der Zusatzvorsorge, die übrigens den
Frauen direkt zukommt, ist das eine. Vor allem aber machen wir Schluss mit einem Leitbild von Frauenbiografie,
das Sie, glaube ich, noch immer im Kopf haben, nach dem
Frauen nur von Männern abgeleitete Ansprüche haben.
Das ist übrigens ein eklatanter Unterschied zu Blüm. Zu
seinen Vorstellungen - das kann ich Ihnen ganz klar sagen, Herr Seehofer - wollen wir ganz sicher nicht zurück.
Frauen wollen heutzutage beides: berufstätig sein und
Kinder erziehen. Zwei von drei Müttern sind berufstätig.
Worauf kommt es also an, wenn wir von Rentenversicherung als Solidargemeinschaft reden? Die Solidargemeinschaft muss dort eintreten, wo Einbußen entstehen:
Wo Teilzeit gearbeitet wird, weil Kinder erzogen werden,
stocken wir die Anrechnung der Kindererziehungszeiten
auf. Wo Frauen in schlecht bezahlten Jobs arbeiten, um
Familie und Beruf verbinden zu können, müssen sie eine
Aufwertung ihres Gehalts bekommen.
Wenn wir sozialen Zusammenhalt ernst nehmen, müssen wir dringend einen weiteren Punkt ansprechen: Armut
- auch die Armut im Alter - ist einer Gesellschaft wie
der unseren unwürdig. Wir produzieren sie übrigens nicht
mit dieser Reform. Es wird nicht mehr, sondern weniger
Menschen, vor allem weniger Frauen geben, die in Zukunft von Sozialhilfe leben müssen. Das ist ein wirklicher
Erfolg.
({6})
Aber egal, wie viele davon betroffen sind, was tun wir?
Die Unterhaltspflicht von Kindern gegenüber ihren alten
Eltern soll wegfallen. Deshalb soll die Sozialhilfe im Alter in Pauschalen ausgezahlt werden. Das ist ein kleiner
Schritt. Ich bitte Sie, sich auf sachliche Weise sehr gut zu
überlegen, ob Sie diesen kleinen Schritt, der alten Menschen Selbstbestimmung und Würde zurückgibt, nicht gemeinsam mit uns gehen wollen, indem die von Ihnen regierten Länder zustimmen.
({7})
Sozialer Zusammenhalt, soziale Sicherheit bei der Altersvorsorge, das heißt noch einmal auf den Punkt gebracht:
niedrige Beiträge, Generationengerechtigkeit, langfristige
Absicherung der Altersversorgung, eigenständige Frauenrenten und Vermeidung von Armut.
({8})
Lassen Sie mich abschließend Ihnen von der Union sagen: All die Offenheit und die Auseinandersetzungen im
Zusammenhang mit dieser Reform waren geprägt von der
Suche nach dem besten Weg für das Erreichen eines in der
Koalition gemeinsam formulierten und gesellschaftlich
extrem relevanten Zieles. Sprechen Sie ruhig weiter von
Nachbessern und Chaos, Herr Seehofer. Ich spreche von
einer offenen Debatte, von Aufeinander-Hören, von einem Kraftakt, an dem viele gerade auch außerhalb dieses
Hauses beteiligt waren. Ich spreche von einer ehrlichen
gesellschaftlichen Debatte, an deren Ende die Menschen
wissen, was auf sie zukommt und worauf sie sich verlassen können. Vertrauen in die sozialen Sicherungssysteme
herzustellen und zu gewinnen, das schafft man eben nicht,
wenn man halbherzige Reformen macht. Vertrauen herstellen heißt, das zu tun, was notwendig ist. Haben Sie
diesen Mut! Wir haben ihn.
({9})
Ich erteile das Wort
Kollegin Irmgard Schwaetzer, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollegin GöringEckardt hat uns gerade aufgefordert, ehrlich zu sein. Das
wollen wir gerne tun. Nur, wenn wir das wirklich wollen,
müssten wir uns einmal über die Details der Rentenreform
unterhalten. Über Predigten zu diskutieren ist praktisch
unmöglich. Deswegen ist das, was Sie gerade gesagt haben, dafür keine gute Vorlage.
({0})
Herr Riester, als wir mit den Rentenkonsensgesprächen begonnen haben, da haben wir immer wieder betont, dass es in gewissen Fragen Übereinstimmung gibt,
nämlich in der Zielrichtung, die Altersversorgung langfristig zu sichern, und in der Erkenntnis, dass zu dieser
langfristigen Sicherheit eben nicht nur die gesetzliche
Rentenversicherung gehört, sondern notwendigerweise
auch eine kapitalgedeckte Vorsorge, die wir damals immer als Eigenvorsorge definiert haben.
Ihr neuester „Umfaller“ gegenüber den Gewerkschaften zeichnet sich ja dadurch aus, dass Sie nun doch wieder stärker statt auf individuelle Vorsorge auf tariflich gebundene und damit kollektive Vorsorge setzen. Dies ist
der neueste Haken im Zuge der gesamten Auseinandersetzung,
({1})
der es einem natürlich schwer macht, sich zu dem zu
äußern, was Sie - spät genug, nämlich erst gestern - auf
den Tisch gelegt haben. Aber wir wissen schon heute, dass
das - zumindest, was wichtige Einzelfragen anbelangt schon wieder mit einem täglichen Verfallsdatum versehen
worden ist.
({2})
Deswegen, Herr Riester, sage ich: Sie sind ganz gut gestartet; aber Sie sind schlecht gelandet. Das ist deswegen
so, weil Sie von Anfang an kein im Detail stimmiges Konzept hatten. Deswegen mussten Sie immer wieder im Detail nachbessern. Ich bin zwar nicht mit allem, was Herr
Seehofer soeben ausgeführt hat, einverstanden. Aber eines ist klar geworden: Wir müssen uns noch über viele
Fragen verständigen. Sie aber zwingen uns einen äußerst
engen Zeitplan auf, indem Sie die zweite und dritte Lesung bereits am 27. Januar vorsehen, und zwar nicht des
Jahres 2002 - dann wäre die Beratungszeit seriös -, sondern des Jahres 2001! Nicht einmal acht Wochen haben
wir nun für die Beratung über ein solches Reformwerk,
das 30 Jahre halten soll, zur Verfügung.
({3})
Deswegen, Herr Riester, sind Ihre Angebote zur Zusammenarbeit nur leeres Gerede. In acht Wochen kann
man eine solche Reform nicht seriös bearbeiten.
({4})
Aber das tun Sie natürlich auch nur, um Ihren mehrstufigen ungeordneten Rückzug ein wenig zu kaschieren. Deswegen wiederhole ich für die F.D.P.: Wir bestehen darauf,
dass wir eine langfristig sichere Altersvorsorge brauchen.
Herr Seehofer, an dieser Stelle ist auch Ihre Argumentation unseriös. Sie argumentieren praktisch ausschließlich mit einem Versorgungsniveau auf der Grundlage der
gesetzlichen Rentenversicherung. Das hat auch Herr
Blüm immer getan und wir wussten schon damals alle,
dass das nicht ausreichen wird. Es reicht auch jetzt nicht
aus. Wenn Sie das weiter behaupten, streuen Sie der jungen Generation Sand in die Augen. Das ist nicht vernünftig.
({5})
Sie kaschieren damit natürlich auch, dass Sie im
Grunde einen Beitragssatz in Höhe von 22 Prozent in der
gesetzlichen Rentenversicherung akzeptiert haben. Sie
sind an dieser Stelle schon längst auf das Riester-Konzept
aufgesprungen. 22 Prozent für die gesetzliche Rentenversicherung und 4 Prozent für die private Vorsorge - das
macht einen Beitragssatz von 26 Prozent. Herr Riester,
das ist keine Beitragssatzsenkung, das ist eine massive
Beitragssatzerhöhung, und zwar ab dem Tag, ab dem die
private Vorsorge so gefördert wird, dass sie - hoffentlich
tatsächlich auch von allen - in Angriff genommen wird.
Es ist und bleibt eine massive Beitragssatzerhöhung, die
die F.D.P. nicht mitmachen wird.
({6})
Unser Ziel ist nach wie vor - man könnte es erreichen,
wenn man seriös darüber debattieren und entscheiden
würde -, den Beitragssatz auf 20 Prozent zu begrenzen.
Das durchzustehen ist sicherlich schwierig, sowohl in den
Gewerkschaften als auch in der CDU. Es wäre aber ein Signal an die junge Generation. Das, was Sie machen,
spricht der Generationengerechtigkeit Hohn.
({7})
Zu den Grünen, die das Wort Generationengerechtigkeit im Munde führen, kann ich nur sagen: Mit dem, was
Sie jetzt schon mit der SPD vereinbart haben, verraten Sie
die junge Generation.
({8})
Noch ein Wort zur so genannten Beitragssatzsenkung,
Herr Riester. Der Kollege Metzger von den Grünen - im
Ausschuss hat mir gestern jemand gesagt, er sei ein Auslaufmodell; was eigentlich ganz schade wäre, denn er ist
vernünftig - hat ganz klar erkannt, dass das, was Sie in der
gesetzlichen Rentenversicherung gemacht haben, keine
wirkliche Beitragssatzsenkung, sondern eine schlichte
Umfinanzierung ist. Sie führen eine unsoziale Ökosteuer
ein, um damit argumentieren zu können, die Beitragssätze
in der gesetzlichen Rentenversicherung gesenkt zu haben.
Aber damit kaschieren Sie den Reformbedarf und das ist
der Fehler.
({9})
Professor Rürup - er war bereits bei Herrn Blüm Berater und ist jetzt der Hauptberater von Herrn Riester bei der
Gestaltung der Rentenreform - hat Ihnen gestern in seinem Gutachten und heute auf allen möglichen Wellen
im Radio noch einmal bescheinigt, dass die Lasten der
verlängerten Lebenserwartung in Ihrem Entwurf ungerecht verteilt sind. Heute Morgen hat er ganz klar gesagt,
man müsse sich im Grunde wieder dem demographischen
Faktor der alten Regierung - er hat es vornehm formuliert - annähern. Alles, was Sie in der jetzigen Koalition
bisher gemacht haben - Sie haben sich 1998 im Wahlkampf gegen den demographischen Faktor ausgesprochen
und haben deswegen jetzt Hemmungen, sich diesem
Thema wieder anzunähern -, ist Krampf.
({10})
Der Abschlagsfaktor - das bescheinigen Ihnen wirklich alle - bestraft diejenigen, die tatsächlich, wie wir das
alle wollen und vorgesehen haben, bis zum 65. Lebensjahr
arbeiten. Die werden nämlich weniger Rente erhalten als
diejenigen, die sich frühpensionieren lassen. Das kann
doch nicht wahr sein, das kann nicht wirklich Ihre Überzeugung sein.
Lassen Sie uns deshalb über etwas diskutieren, was der
VDR - der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger -, der VdK und andere Sozialverbände in die Diskussion eingebracht haben und was unserem alten Demographiefaktor verdammt nahe kommt.
Die private Vorsorge ist in der Tat die entscheidende
Neuerung dieser Rentenreform. Das war auch der Grund,
weshalb wir gesagt haben, wir steigen in die Konsensgespräche ein. Wir haben von Anfang an gesagt, dass sie
natürlich kapitalgedeckt sein muss; darüber herrscht inzwischen auch Konsens. Wir haben darüber hinaus immer
gesagt, dass das auf individueller Entscheidung beruhen
muss. Wir haben daher von Anfang an gesagt, dass es
nicht unser Ziel sein kann, große Geldtöpfe zu schaffen,
über die dann Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam entscheiden. In welchem Jahrhundert leben denn diejenigen, die so etwas machen wollen? Natürlich müssen
wir uns über die Altersversorgung von IT-Spezialisten
Gedanken machen, aber entscheiden tun sie selber. Nicht
Herr Zwickel von der IG Metall und genauso wenig die
Ideologen von der IG Medien werden diejenigen sein, die
darüber entscheiden, und in deren Tarifbereiche werden
viele dieser Spezialisten fallen. Das kann doch nicht im
Ernst ein moderner Weg, ein Weg des 21. Jahrhunderts
sein. Deswegen werden wir ihn nicht mitgehen.
({11})
In Ihrem Entwurf sind einige Punkte nicht enthalten,
die dringend erforderlich sind. Zum ersten Punkt, der
fehlt, sagte Ihnen Herr Rürup, der auch Ihr Berater ist,
dass Sie besser den Mut hätten haben sollen, ihn aufzunehmen, nämlich in allen Vorsorgebereichen, in der gesetzlichen Rentenversicherung, in der privaten und betrieblichen Altersversorgung, die Beiträge steuerfrei zu
stellen und auf die so genannte nachgelagerte Besteuerung, das heißt: die Besteuerung bei Auszahlung, überzugehen.
({12})
Im Finanzministerium liegt ein solcher Entwurf in der
Schublade. Aber Sie haben nicht den Mut aufgebracht,
dieses in das Gesetz aufzunehmen.
({13})
Wir werden weiterhin versuchen, Sie zu überzeugen,
dass es dringend eines Gesamtkonzeptes bedarf. In dem
Gesetzentwurf steht nicht, dass die selbst genutzte Immobilie ebenfalls gefördert wird. Das kann doch nur ein
Treppenwitz sein.
({14})
80 Prozent der Bevölkerung sehen das private Eigentum
in Form einer Immobilie als die beste Zusatzaltersversorgung an, die es überhaupt gibt. Sie hingegen sagen: Was
80 Prozent der Bevölkerung wollen, interessiert uns nicht;
wir machen andere Vorschriften.
({15})
Deswegen sage ich Ihnen: Auch das wird ein Thema im
Bundestag und im Bundesrat sein. Die Länder RheinlandPfalz, Baden-Württemberg, Bayern und - da bin ich ganz
sicher - noch viele andere Länder werden Sie zwingen,
diesen Aspekt zu berücksichtigen.
Unterm Strich enthält dieser Entwurf für die wichtige
private Vorsorge weder Anlagefreiheit noch Wahlrechte,
noch Wettbewerb. Damit ist er unzureichend. Sie wollen
zwar einen Schritt machen, aber in Ihrem Beglückungswunsch und Ihrem Regelungsdrang machen Sie alle guten
Ansätze wieder zunichte. Das werden wir nicht akzeptieren.
Wir werden uns darüber auch nach dem 27. Januar 2001 auseinander setzen. Wenn Sie auf Ihrem Zeitplan bestehen, dann ist die Diskussion schon heute beendet. Sie können davon ausgehen, dass Sie ständig werden
nachbessern müssen und nie etwas Vernünftiges zustande
bekommen. Wir werden versuchen, das zu verhindern.
Danke.
({16})
Ich erteile dem Kollegen Roland Claus, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute nun legen uns die Koalitionsfraktionen ein Reformpaket vor, das keiner so
recht haben will. Ich glaube, auch Sie selbst merken das,
weil Sie auf Dankschreiben von Gewinnern, auf die der
Minister verwiesen hat, nicht zurückgreifen können.
Diese Reform ist wie Ihre Ökosteuer ein Angebot ohne
Nachfrage.
({0})
Ich will Ihnen etwas erzählen: Ich war gestern bei einem wunderschönen Konzert von Angelo Branduardi.
({1})
- Sie sollten nicht neidisch sein, sondern stattdessen auch
wieder einmal in ein Konzert gehen; denn wenn man sich
nur mit Drucksachen und Paragraphen umgibt, dann
kommt so etwas heraus, wie Sie es heute vorgelegt haben.
({2})
Ich wollte Ihnen von dem Konzert erzählen:
Branduardi hat Geschichtenlieder vom heiligen Franz
von Assisi vorgetragen. Wenn es so etwas wie eine Botschaft des heiligen Franz gibt, dann ist es die: Man sollte
Wunder und andere Wohltaten nur dann vollbringen,
wenn sie das Volk auch versteht und gebrauchen kann.
Diesem Maßstab wird Ihr Rentenkonzept nicht gerecht.
({3})
Wie gehen Sie vor? Früher hätten Sie von einem Vermittlungsproblem gesprochen. Das machen Sie dieses
Mal nicht; denn der Minister hat alles hinreichend erklärt.
Ich weiß, wie gut er das kann. Ich sage Ihnen eines: Indem
Sie diesem Gesetzentwurf zustimmen, übernehmen Sie
eine Logik, die ich immer mit den Worten beschreiben
möchte: Sie verwechseln den Bundestag mit dem Leben.
Es gibt nämlich einen himmelweiten Unterschied zwischen „gut“ und „gut erklärt“.
({4})
So haben Sie mit großer Mehrheit beschlossen, sich dem
„Basta!“ des Bundeskanzlers anzuschließen. Wir sagen
Ihnen aber: Zukunftsfragen der Gesellschaft lassen sich
nicht mit „Basta!“ beantworten.
({5})
Wer heute Ja zur Rentenreform sagt, muss sich entscheiden zwischen der Solidargemeinschaft auf der einen Seite
oder der Ellenbogengesellschaft auf der anderen Seite,
zwischen der Formel: „Stärkere besiegen Schwächere“
oder der Formel: „Einer trage des anderen Last“. Wir finden, Sie haben sich bisher falsch entschieden.
({6})
Wir sagen es Ihnen deshalb ganz deutlich: Der unsoziale Ansatz dieser Reform gehört abgelehnt. Sie müssen
mit unserem Widerstand rechnen. Sie können nicht auf
uns zählen. Falls es notwendig sein sollte, dies noch einmal zu sagen: Die PDS-Fraktion ist nicht die Westentaschenreserve des Bundeskanzlers.
({7})
Ich will unsere Kritik wiederholen. Wir glauben, dass
Sie mit diesem Konzept keine Ergänzungsvorsorge einführen; vielmehr handelt es sich um einen teilweisen Ersatz der gesetzlichen Rente durch eine Privatvorsorge.
Es sind eben nicht die 4 Prozent als quantitativer Faktor,
über die man streiten müsste. Es geht vielmehr um den
Einstieg in den Ausstieg aus der gesetzlichen Rentenversicherung, und das von einer sozialdemokratisch geführten Regierung.
({8})
Sie geben die paritätische Finanzierung teilweise auf.
Minister Riester versucht, auch diese Kritik wegzurechnen, aber sie bleibt trotzdem bestehen. Sie wollen die
staatliche Förderung von Ungerechtigkeiten zwischen
Mann und Frau bei der Förderung privater Vorsorge festschreiben. Zu all dem sagen wir Nein.
Ich will den Unterschied zwischen der Kritik seitens
der CDU/CSU- und der PDS-Kritik deutlich machen.
Herr Seehofer hat gesagt: Das geht schon alles in die richtige Richtung. Ihr wart nur nicht konsequent und habt an
vielen Stellen falsch angesetzt. - Unsere Sicht auf die
Dinge ist: Im Konzept sind viele Fragen angesprochen
und zum Teil auch Verbesserungen vorgenommen worden, die wir anerkennen. Aber der Grundsatz, der Einstieg
in den Ausstieg aus der gesetzlichen Rentenversicherung
- und das von Sozialdemokraten und Grünen -, stellt den
falschen Weg dar.
({9})
- Zur Zukunftsfähigkeit und zu dem, was Sie darunter
verstehen, kommen wir noch.
Besonders bedrückend finde ich in diesem Streit die
Rolle der Grünen. Sie konnten ihre Position bei der Absenkung des Rentenniveaus nicht genug durchsetzen;
sie konnten sie nicht schnell genug betreiben. Ich sage Ihnen: Was die Grünen hier machen, ist ein unredliches
Spiel. Was sie Generationengerechtigkeit nennen, ist im
Grunde ein Setzen auf Generationenneid. Ich glaube, das
wird nicht funktionieren.
({10})
Jung und Alt werden den Grünen dafür die rote Karte zeigen, und die haben sie auch verdient.
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie wollten einen Rentenkonsens. Mit wem haben Sie den denn
jetzt erreicht? Mit sich selbst, vielleicht mit den großen
Wirtschaftsverbänden und mit den - das sagt man wohl
nicht immer so direkt - privaten Versicherungsträgern.
Sie wollten ja auch die CDU einbinden. Das hat sich jetzt
aber wohl gründlich erledigt. Damit ist doch eigentlich die
Geschäftsgrundlage für den Konsens, den Sie einmal angestrebt haben, entfallen. Das heißt, der Mitte-RechtsKonsens ist gescheitert. Nun stellen wir Ihnen die Frage:
Wenn parlamentarisch alles so offen ist, wie Sie immer sagen, warum in aller Welt versuchen Sie dann nicht, bei der
Rentenfrage einen Mitte-Links-Konsens zustande zu
bringen,
({11})
und zwar einen Konsens zwischen Ihnen und den Gewerkschaften, den Sozialverbänden, den Rentenversicherungsträgern, den Kirchen und - wir sind zwar bescheiden, aber so selbstlos nun auch wieder nicht - auch der
PDS? Wir sagen Ihnen: Es geht auch anders. Politik ist
immer Menschenwerk. Wenn Sie in Ihrem Gesetzentwurf
unter „Alternativen“ schreiben: „Keine“, dann ist das ein
großes Armutszeugnis. Das ist hier noch einmal zu konstatieren.
Unser Nein im Grundsatz wird dennoch eine ganze
Reihe von Vorschlägen zu Veränderungen in Einzelheiten
nach sich ziehen. Wir halten Nachbesserungen für dringend geboten und auch möglich, zum Beispiel bei der
Frage nach flexiblen Anwartschaften für alle. Sie haben
ja schon Verbesserungen bei den bis 25-jährigen erreicht;
wir wollen das gerne ausdehnen. Wir denken, dass der so
genannte Ausgleichsfaktor, der ja eigentlich ein Kürzungsbetrag ist, auf den Prüfstand gehört. Dort ist er ja
wohl auch gegenwärtig. Über diese Sache müssen wir
noch einmal reden.
Wir müssen diese Gelegenheit auch nutzen, um Ihnen
noch einmal zu sagen - obwohl es nicht Bestandteil dieses Reformgesetzes ist -: Wir brauchen endlich Wege zur
Rentenangleichung in Ost und West.
({12})
Das ist natürlich nicht einfach. Sie merken inzwischen,
dass sich dies nicht über eine Lohnangleichung regeln
lässt. Die Menschen müssen endlich wissen, wann dieser
Prozess beginnen und in welchen Schritten er ablaufen
wird. Sie wissen, dass die PDS bereit ist, an konstruktiven
Lösungen mitzuwirken. Letztendlich sei daran erinnert,
dass Sie noch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts
zur Beseitigung des Rentenstrafrechts umzusetzen haben.
Das ist noch eine von Ihnen einzulösende Bringeschuld.
Ich will noch ein Wort zu den Grünen sagen: Sie sprechen von Nachbesserungen im Gesetzgebungsverfahren.
Das sagt die Opposition natürlich auch, weil es ihr gutes
Recht ist. Die Grünen betreiben aber doch tatsächlich Opposition in der Koalition und der blanke Eigennutz von
Minister Fischer wird auch noch mit dem Begriff „professionelle Führung“ beschönigt.
({13})
Wir sagen Ihnen: So wird das Vertrauen in die Politik
nicht gestärkt, sondern zerstört. Sie standen einst für Demokratie von unten, jetzt betreiben Sie nur noch Machterhalt von oben.
({14})
Herr Bundeskanzler, Herr Minister Riester, Reformen
sind nur etwas wert, wenn sie bei den Bürgerinnen und
Bürgern auch ankommen, und zwar im positiven Sinn und
nicht als mit einem „Basta!“ verbundene Kürzungsmaßnahme. Die PDS-Fraktion wird sich dafür einsetzen, dass
diese Rentenreform nicht so umgesetzt wird, wie sie geplant ist.
({15})
Ich erteile der Kollegin Ulla Schmidt von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Seehofer, ich
kann verstehen, dass Ihnen das alles ein bisschen wehtut.
({0})
Es tut nicht nur weh, dass Ihre Parteiführung Sie aus dem
Konsensgespräch hinaus katapultiert hat. Es tut auch weh,
erleben zu müssen, dass in allen Umfragen allein den Sozialdemokraten und den Grünen Kompetenz bei der Lösung von Alterssicherungsproblemen zugeschrieben
wird.
({1})
Aus dem, was Sie gesagt haben, wird klar, dass es
schwer fällt, an diesem Reformentwurf wirklich Kritik zu
üben;
({2})
ich will gar nicht auf die Details eingehen. Ich schließe
mich der „Frankfurter Rundschau“ an und will nicht an
Ihrer Intelligenz zweifeln. Allerdings, Herr Kollege
Seehofer, muss ich Ihnen vorhalten: Sie haben den Gesetzentwurf nicht gelesen.
({3})
Hätten Sie ihn gelesen, wüssten Sie, dass er nicht sechs
verschiedene Formeln beinhaltet. Zu einer Formel gehört
- ich komme wieder zum Thema der Intelligenz -, dass
sie in sechs Jahren mit sechs unterschiedlichen Zahlen
aufgefüllt werden muss, weil die sich jeweils ändernden
Daten einbezogen werden müssen.
({4})
Ich könnte noch auf andere Dinge eingehen; alle relevanten Fragen - auch das Problem der Erwerbsunfähigkeit - sind geklärt. Lesen Sie unseren Entwurf! Dann unterhalten wir uns im Ausschuss darüber. Sie werden aber
zugeben müssen, dass Ihre Kritikpunkte nicht zutreffen,
und dann sind wir wieder ein Stück weiter.
Ich könnte auch an Ihr kurzes Gedächtnis erinnern.
({5})
Sie sagen, derjenige sei der Dumme, der länger in Arbeit
bleibt bzw. später in Rente geht, weil er dann den Ausgleichsfaktor zu spüren bekommt. Sie haben wohl vergessen, dass eine der letzten Handlungen Ihrer Regierung
war, für jeden, der nach dem Jahre 2002 vor dem Erreichen des 65. Lebensjahres in Rente geht, einen Abzug von
jeweils 3,6 Prozent vom Rentenanspruch für jedes Jahr
vor Erreichen der gesetzlichen Altersrente vorzusehen.
({6})
Jetzt sagen Sie mir einmal, was besser ist: 3,6 Prozent
oder 0,3 Prozent?
Herr Kollege Seehofer, all das hat etwas damit zu tun,
dass Sie die Reform des Arbeitsministers Riester als
Quantensprung bezeichnet haben. Dass Sie dies nicht im
Zusammenhang mit dem Reformgesetz von Norbert
Blüm gesagt haben, lässt vieles über die Qualität dieses
Entwurfes erahnen.
Deshalb, Frau Kollegin Schwaetzer, ist es kein Hohn,
wenn hier von unserer Seite von Generationengerechtigkeit gesprochen wird. Hohn ist - so empfinde ich das
oft -, wenn plötzlich von Mitgliedern der früheren Bundesregierung Tag für Tag von sozialer Gerechtigkeit und
von den Problemen von Einkommensschwachen gesprochen wird sowie die Frage aufgeworfen wird, was getan
werden müsse, um Frauen im Alter stärker abzusichern.
Das ist Hohn, weil Sie zur Umsetzung dieser Ziele
16 Jahre lang Zeit hatten.
({7})
({8})
Ich möchte Ihnen noch sagen, wer die Gewinnerinnen
und Gewinner unserer geplanten Reform sind. Gewinner
und Gewinnerinnen sind diejenigen, die nur über ein geringes Einkommen verfügen. Diese Menschen zahlen wegen ihres geringen Einkommens immer nur geringe
Beiträge in die Rentenversicherung. Am Ende ihres Erwerbslebens hätten sie eine geringe Rente bezogen, die
das Sozialhilfeniveau auch heute nicht erreicht. Diese
Menschen zählen deswegen zu den Gewinnerinnen und
Gewinnern, weil wir mit unserem Reformkonzept diesen
Kreislauf zum ersten Mal durchbrechen: Wir geben nämlich einkommensschwachen Personen und Personen, die
eine gebrochene Erwerbsbiografie haben, Geld in die
Hand, damit sie sich eine zweite Säule der Altersvorsorge
aufbauen können. Das ist Sozialpolitik! Das ist Bekämpfung von Altersarmut!
({9})
Ich nenne ein Beispiel, an dem ich das deutlich machen
kann. Eine allein erziehende Mutter mit zwei Kindern und
einem Bruttoeinkommen von 20 000 DM bekommt, auch
wenn sie ein Leben lang erwerbstätig war, nur eine geringe Rente. Angesichts ihrer Situation - 20 000 Bruttoeinkommen, zwei Kinder - raten wir ihr, sich eine
zweite Säule aufzubauen: 4 Prozent, das wären 800 DM
im Jahr. Und wir fördern sie: Für die beiden Kinder bekommt sie 720 DM im Jahr,
({10})
für sich selbst 300 DM. Insgesamt bekommt sie also
1 020 DM. Wir verlangen nur, dass sie 10 DM im Monat
selber dazu gibt, das kann jeder und jede. Wenn diese Frau
so angespart hat und in Rente geht, dann bekommt sie neben ihrer normalen Rente eine zusätzliche Rente, die man
heute auf fast 800 DM ansetzen kann. Das ist gelebte Sozialpolitik! Das ist eine Rentenpolitik, die Altersarmut
verhindert!
({11})
Herr Kollege Seehofer, Sie sind nie auf die Idee gekommen, so etwas zu machen. Dass das also wehtut, kann ich
verstehen.
Ein weiterer Punkt. Wir wollen verhindern, dass Menschen, weil sie Kinder erziehen, im Alter dafür bestraft
werden. Dies trifft vor allem Frauen; bei den Männern
sind es nur 2 Prozent. Wir wollen die Zeiten, die Menschen weniger arbeiten oder in denen Sie oft geringer verdienen, weil sie Kindererziehung und Familienarbeit
machen, höher bewerten. Auch hier möchte ich ein Beispiel nennen, damit deutlich wird, was dadurch erreicht
wird: Eine Mutter von einem Kind, die drei Jahre zu
Hause bleibt, bekommt drei Entgeltpunkte, die wir ihr als
eigenständige Beitragsleistung geben. Ab dem 4. Lebensjahr des Kindes geht sie wieder arbeiten und verdient
70 Prozent des Durchschnittseinkommens, etwas, was
heute bei Frauen leider noch immer normal ist. Wenn das
Kind zehn Jahre alt ist, hat die Frau allein aus diesen zehn
Jahren einen monatlichen Rentenanspruch von 490 DM.
Dies haben heute viele Frauen erst nach einem ganzen Arbeitsleben gehabt.
({12})
Damit machen wir deutlich, dass wir nicht wollen, dass
Frauen für die Erziehung von Kindern bestraft werden.
Auch sie zählen zu den Gewinnerinnen dieser Reform.
Ich könnte die Zahl der Beispiele fortführen. Eine Mutter von drei Kindern hat allein aufgrund der Tatsache, drei
Kinder großgezogen zu haben, einen Rentenanspruch von
über 500 DM. Das entspricht einer Beitragsleistung von
fast 120 000 DM.
({13})
Wer ein behindertes, pflegebedürftiges Kind erzieht
- Frau Böhmer, ich appelliere an Ihr christliches Gewissen -, bekommt heute über die Pflegeversicherung
0,75 Entgeltpunkte an Beitragsleistung. Durch unsere
Bemühungen bekommt derjenige bis zum 18. Lebensjahr
dieses Kindes die Beitragsleistung auf 1 Entgeltpunkt angehoben. Das sind nach heutigem Recht knapp 900 DM
an monatlichen Rentenleistungen. Das ist ein Erfolg. Ich
bin stolz darauf, dass wir das geschafft haben.
({14})
Der letzte Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifft
die soziale Grundsicherung im Alter, die Sie auch nicht
wollen. Für uns hat es etwas mit der Würde der Menschen
zu tun, dass sie im Alter nach dem Erwerbsleben nicht
zum Sozialamt gehen müssen, um ihre kleine Rente aufzubessern, dass sie, wenn sie 65 Jahre alt sind und mit eigener Erwerbstätigkeit nicht aus der Armut herauskommen, einen Anspruch auf eine soziale Grundsicherung im
Alter haben, ohne befürchten zu müssen, dass ihre Kinder
hierfür herangezogen werden. Ich frage Sie: Was hat es
mit dem christlichen Menschenbild zu tun, dass Sie dies
nicht wollen, meine Damen und Herren von der Union?
Was hat es mit dem christlichen Menschenbild zu tun,
dass Sie nicht wollen, dass wir die Rentenansprüche der
Eltern, die diese bei der Erziehung eines pflegebedürftigen behinderten Kindes in den ersten 18 Lebensjahren
erworben haben, höher als bisher bewerten und ihren
Ulla Schmidt ({15})
Kindern eine soziale Grundsicherung garantieren, um sie
wenigstens finanziell zu entlasten?
({16})
Angesichts der Debatte, die Sie zurzeit über die Frage
führen, wie der Begriff „Leitkultur“ inhaltlich auszufüllen
sei, empfehle ich Ihnen: Diskutieren Sie doch einmal über
die Fragen, wie sich die Armut von Menschen bekämpfen
lässt und wie die Würde von Menschen gewahrt werden
kann! Wenn Sie das tun, dann kommen Sie auch ein Stück
weiter.
Danke.
({17})
Ich erteile
das Wort nunmehr der Kollegin Dr. Maria Böhmer für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen
und Kollegen! Frau Ulla Schmidt sagte eben, es täte weh,
was hier geschieht. In der Tat, Frau Schmidt, es tut weh.
Aber wem tut es weh?
({0})
Es tut der Mehrzahl der Rentenempfänger in unserem
Land weh; denn zwei Drittel aller Rentenempfänger sind
Frauen.
({1})
Von 18 Millionen Rentenempfängern sind 11 Millionen
Frauen. Ihr Gesetzentwurf ist ein Schlag in das Gesicht
der Frauen in Deutschland.
({2})
Sie haben immer gesagt, Sie wollten die Nachteile für
Frauen in der Rente beseitigen. Aber wie sieht die Realität
aus? Die Kürzung des Rentenniveaus macht viele Rentnerinnen und Rentner zu Sozialhilfeempfängern. Das
wird besonders an der Tatsache deutlich, dass die durchschnittliche Frauenrente bei 900 DM pro Monat liegt. So
darf man mit Menschen, die ein Leben lang hart gearbeitet haben, in unserem Land nicht umgehen.
({3})
- Sie sprechen von Unwahrheiten? Ich sage Ihnen, wo ich
das gelesen habe: Ich habe das im Programm der SPD für
die Bundestagswahl 1998 gelesen. Und die SPD selbst bezeichnet dies als Unwahrheit? Sie sollten eigentlich wissen, was Sie den Menschen vor der Wahl versprochen haben.
({4})
Es ist nämlich so: Sie brechen Ihre Wahlversprechen und
würden die eigene Kritik von damals am liebsten im Tresor einschließen.
Was erreichen Sie mit Ihrem jetzigen Gesetzentwurf?
Sie schaffen schmerzliche soziale Ungerechtigkeiten für
Frauen in der gesetzlichen Rentenversicherung und in der
privaten Vorsorge und leiten mit Ihrem Rentenreformgesetzentwurf - das ist die Krönung, Herr Minister - das
Aus für die Witwenrente ein.
({5})
Aber viele Frauen sind auf Witwenrente angewiesen;
denn 70 Prozent der Frauen haben heute in Deutschland
eine eigene Rente, die niedriger ist als 1 200 DM. Wenn
Sie jetzt die Witwenrente wegreformieren, dann bedeutet
das, dass Sie die Frauen vor die Türen des Sozialamtes
schicken.
({6})
Damit bekämpft man nicht die Altersarmut. Damit produziert man vielmehr neue Altersarmut. Sie behaupten zwar,
dass die armen alten Frauen nicht zum Sozialamt gehen
müssen, weil der Regress in der Sozialhilfe beseitigt worden ist. Aber tatsächlich schicken Sie sie dorthin. Das ist
die Wahrheit.
({7})
Von zentraler Bedeutung ist die Frage: Wie wirkt sich
die Senkung des Rentenniveaus auf die Mehrzahl der
Rentenempfänger - das sind die Frauen - aus? Wir wissen aus gutem Grund, warum wir auf einem Rentenniveau
von 64 Prozent beharren. Aber jetzt spielt sich ein Drama
ab. Das Rentenniveau soll nur noch bei 61 Prozent liegen.
Der so genannte Eckrentner muss 45 Jahre lang Beiträge
dafür gezahlt haben. Aber welche Frau kann schon
45 Jahre Beitragszeiten aufweisen? In den alten Bundesländern liegen die durchschnittlichen Beitragszeiten bei
25 Jahren und in den neuen Bundesländern bei 37 Jahren.
Das bedeutet, dass das Niveau der Renten für Frauen auf
unter 50 Prozent fallen wird. Das ist ein Skandal ohnegleichen.
({8})
Diese Niveauabsenkung, liebe Kollegen von der SPD
und dem Bündnis 90/Die Grünen, trifft Frauen doppelt,
nämlich über die eigene Rente und über die Witwenrente.
Die Witwenrente berechnet sich aus der gekürzten Rente
des Mannes. Frauen sind also von der Rentenkürzung, die
Sie vornehmen, doppelt betroffen. Sie sind auch härter betroffen. Für denjenigen, der eine niedrigere Rente hat, ist
es wesentlich schmerzlicher, wenn das Rentenniveau
sinkt.
Wir müssen die Frage stellen, wie solche Versorgungslücken gefüllt werden können. Es ist wichtig, dass die private Vorsorge aufgebaut wird. Es muss aber auch die
Frage gestellt werden, ob die Betreffenden das leisten
können. Ich sehe immer wieder die Verkäuferin in der
Bäckerei vor mir, die einen Stundenlohn von 8 DM hat.
Das ist kein Einzelfall. Wie soll die Betreffende mit dem,
was Sie ihr bieten, klarkommen? Wie soll sie in der Lage
sein, die private Vorsorge mit dem minimalen Einstieg in
Ulla Schmidt ({9})
die private Vorsorge überhaupt zu leisten? Ich muss Ihnen
sagen: All das, was Sie heute an geplanten Neuregelungen
und Verbesserungen für die Frauen verkündet haben,
wirkt sich nicht zum Vorteil für die Frauen aus. Sie sprechen von der Aufwertung der Teilzeitbeschäftigung bei
der Rente. Dies führt tatsächlich zu einer leichten Verbesserung der Situation der Frauen.
({10})
- Ich werde nicht blass vor Neid, aber ich werde blass,
wenn ich sehe, was das unter dem Strich für Frauen bedeutet. Das will ich Ihnen einmal sagen.
({11})
Frau Kollegin Böhmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Lassen Sie mich zuerst diesen Gedanken zu Ende führen! Danach können Sie
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Eine Hausfrau, die fünf Jahre Vollzeit gearbeitet hat,
diese dann wegen Kindererziehung unterbrochen und danach acht Jahre Teilzeit gearbeitet hat, bekäme nach geltendem Recht 598 DM, eine katastrophal niedrige Rente.
Wenn sie die nach Ihrem Gesetzentwurf vorgesehenen
kindbezogenen Leistungen bekäme, hätte sie 662 DM.
Aber sie muss eine Verringerung des Rentenniveaus verkraften. Damit bekommt sie unterm Strich weniger als
heute.
Nehmen wir als weiteres Beispiel die Frau, die 39 Jahre
Teilzeit gearbeitet und zwei Kinder großgezogen hat.
Nach geltendem Recht bekäme sie 1 239 DM. Trotz der
Aufbesserung, die Sie für Teilzeitbeschäftigung vorsehen,
wird sie später 5 Prozent weniger haben. So sieht die
Rechnung aus. Das bedeuten Ihre angeblichen Verbesserungen für Frauen.
({0})
Gestatten
Sie jetzt die Frage des Kollegen Brandner?
Ja.
Frau Kollegin Böhmer, Sie
haben uns mitgeteilt, dass Sie das Wahlprogramm der
SPD gelesen haben, aber nicht, ob Sie auch den Gesetzentwurf zur Rentenreform kennen.
({0})
Ist Ihnen entgangen, dass der Gesetzentwurf vorsieht,
dass insbesondere die Entgelte von Frauen, die während
der Kindererziehungsphase Teilzeit arbeiten, rentenrechtlich über zehn Jahre so aufgewertet werden, dass diese
Frauen auf Rentenversicherungsbeiträge in Höhe des
Durchschnittsverdienstniveaus kommen, was letztlich erhebliche Rentensteigerungen zur Folge haben wird?
Herr Kollege, ich bin
zum einen etwas verwundert, dass Sie sagen, dass es
durchaus einen Unterschied zwischen dem Wahlprogramm der SPD und dem Entwurf, den Sie vorgelegt haben, geben könne. Das ist Ihre Aussage. Sie bestätigen
also noch die große Diskrepanz, die hier besteht.
Zum anderen habe ich gerade erläutert, dass die Höherbewertung der Teilzeitarbeit durch die Veränderungen des
Rentenniveaus für Frauen aufgefressen wird. Alles, was
Sie im Bereich der Teilzeitarbeit machen, wird durch die
Absenkung des Rentenniveaus für Frauen zunichte gemacht.
({0})
Frau Kollegin Böhmer, nun möchte Frau Schmidt eine Frage stellen.
Gestatten Sie diese?
Ja, bitte.
Frau Kollegin
Böhmer, ist Ihnen, wenn Sie den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung gelesen haben, aufgefallen, dass gerade der Rententeil, dem höher
bewertete Erziehungszeiten zugrunde liegen, bei der Kürzung durch den Ausgleichsfaktor ausgenommen wurde?
Frau Kollegin
Schmidt, ich habe mir genau diese Stelle sehr intensiv angesehen. Ich halte es für richtig, dass Sie das so machen.
Das ändert aber nichts daran, dass die Absenkung des
Rentenniveaus in dieser dramatischen Art und Weise nicht
durch die Aufwertung der Teilzeit kompensiert werden
kann.
({0})
Im Gegenteil, es kommt unter dem Strich trotz der Aufbesserung der Teilzeitarbeit zu einem Minus für die
Frauen.
({1})
- Frau Kollegin, ich möchte weiter antworten und bitte
Sie, so freundlich zu sein, meine Antwort auch entgegenzunehmen.
Sie haben die Aufwertung nur für die Teilzeitarbeit gemacht. Nur dort berücksichtigen Sie die Kindererziehungszeiten
({2})
und dann - lassen Sie mich erst zu Ende reden -, wenn jemand einen geringen Verdienst hat. Ich habe den Entwurf
weitergelesen. Wir haben Ihnen gesagt, dass es nicht nur
verfassungsrechtlich bedenklich, sondern auch sozial ungerecht sei, nur bei einer Gruppe von Frauen die Kindererziehungszeiten besser zu bewerten. Gerade die Frauen,
die wegen Kindererziehung ihre Erwerbstätigkeit unterbrochen haben, waren bei Ihnen zunächst außen vor. Als
Reaktion auf unseren harten Protest haben Sie erklärt, wer
zwei oder mehr Kinder habe, solle eine analoge Verbesserung erhalten. Entsprechendes haben Sie für behinderte
Kinder getan.
({3})
- Nein, das ist richtig. - Sie haben allerdings die Mütter
vergessen, die ein Kind großziehen. Ich frage mich noch
heute, worin die Rechtfertigung dafür liegt, dass Kindererziehung bei Ihnen ungleich behandelt wird.
({4})
Frau Schmidt, ich bin mit meiner Antwort noch nicht
fertig.
({5})
Ich muss Ihnen nämlich noch sagen, dass die Frauen, die
älter sind und ihre Kinder vor 1992 geboren haben - Sie
haben den Schnitt ab 1991 gemacht -, keinen Gewinn von
Ihren Vorschlägen haben, obwohl sie Teilzeitarbeit verrichten.
({6})
Das heißt, alle Frauen, die ihre Kinder vor 1992 geboren
haben, gehen bei Ihnen völlig leer aus.
({7})
Das ist der Skandal an diesem Gesetzentwurf.
({8})
Dies ist besonders dramatisch; denn diese Frauen bekommen geringere Renten, weil sie länger für die Familien da waren. Diese Frauen können keine private Vorsorge mehr aufbauen. Diese Frauen werden von der
Absenkung des Rentenniveaus getroffen, obwohl sie
dafür gesorgt haben, dass morgen Beitragszahler da sind.
So kann man mit der Leistung von Frauen in Deutschland
nicht umgehen.
({9})
Frau Schmidt, möchten Sie noch etwas fragen? Ich bin
gern zu weiteren Auskünften bereit.
({10})
- Sie können mich gern noch einmal fragen. Wir machen
das dann so wie in einer Prüfung. Ich werde Ihnen dann
gerne eine Antwort geben.
Ich komme nun zur Witwenrente und damit zu dem eigentlichen Drama. Der Begriff „Witwenrente“ ist bis
heute nicht angeklungen, obwohl 98 Prozent der Rentnerinnen in Deutschland auf sie angewiesen sind. Jetzt erfolgt eine Mehrfachkürzung bei der Witwenrente. Sie haben im letzten Jahr - das hat die „Bild“-Zeitung als
„Horrormeldung aus Bonn“ bezeichnet - angekündigt,
dass die Witwenrente gekürzt werden soll. Daraufhin haben wir mit Ihnen gekämpft. Ich habe Sie vor einem Rentenroulette gewarnt, als Sie eine Wahlmöglichkeit zwischen der Hinterbliebenenversorgung und einem
Splittingansatz eröffnen wollten.
({11})
Ich habe Ihnen immer gesagt, dass Sie die Finger davon
lassen sollen; denn nur derjenige, der weiß, wer in der Ehe
zuerst stirbt, kann sicher wählen, welches Modell - Hinterbliebenenversorgung oder Splitting - besser ist. Das
aber würde bedeuten, dass Sie den Menschen in Deutschland ein makaberes Vabanquespiel zumuten.
({12})
Wer glaubt, dass Sie aus unserem Vorschlag, die Witwenrente in eine eigenständige Sicherung umzuwandeln
und dabei die Kinderzahl zu berücksichtigen, gelernt hätten, muss erneut erkennen, dass sich bei Ihnen das Ganze
in Überschriften erschöpft. Sie gehen zwar so vor, dass
Sie die Höhe der Witwenrente nach der Kinderzahl staffeln; aber es ist wichtig - wie so oft bei der SPD - nachzurechnen. Nach der Neuregelung ist das Niveau der Witwenrente für eine Hausfrau, wie ich sie eben beschrieben
habe, und für eine Frau, die einer Teilzeitbeschäftigung
nachgeht, nicht höher als nach geltendem Recht; denn Sie
sehen eine Festschreibung des Freibetrages vor und Sie
wollen zukünftig alle Einkommen, also auch Sparguthaben - Geld, das man mühselig auf die hohe Kante gelegt
hat; ich erinnere an den Fall, dass man das Geld für eine
kleine Wohnung gespart hat, die man vermietet -, anrechnen. Ich kann allen in Deutschland nur raten, die Finger
von entsprechenden Sparplänen zu lassen; denn das, was
die SPD plant, ist völlig kontraproduktiv. Wer spart und
später eine Witwenrente bezieht, wird der Dumme sein.
({13})
Unter dem Strich bedeuten Ihre Pläne, dass die Hausfrau durch die Verrechnung bei der Witwenrente zukünftig 11 Prozent weniger bekommt. Eine Frau, die einer Teilzeitbeschäftigung nachgeht, bekommt 29 Prozent
weniger und eine Frau, die einer Vollzeitbeschäftigung
nachgeht, bekommt sogar 34 Prozent weniger. Obwohl es
Frauen gibt, deren Einkommen nach Ihren Plänen im Alter um ein Drittel niedriger ausfällt - das Minus im Portemonnaie kann bei 300 DM liegen -, verkaufen Sie den
Menschen draußen, dass Frauen die Gewinnerinnen der
Rentenreform sind. Lesen Sie erst einmal Ihren eigenen
Entwurf und dann reden wir weiter!
({14})
Unter diesem Gesichtspunkt kann ich Ihnen nur sagen:
Eine Rentenreform, die an der Mehrheit der Rentenempfänger vorbeigeht und die für zwei Drittel der Menschen,
die heute Rente beziehen, bzw. für die Mehrheit derjenigen, die zukünftig eine Rente beziehen werden, Ungerechtigkeit bedeutet, sowohl was die Gleichbehandlung
der Generationen als auch was die zukünftige Situation
der Frauen betrifft, verdient es nicht, „zukunftsorientiert“
genannt zu werden. Zur Verständigung über diese Reform
werden wir nicht die Hand reichen.
({15})
Ich gebe der
Kollegin Dr. Thea Dückert für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
Die Rentendebatte zeichnet sich schon seit Jahren durch
Wortungetüme und Zahlengestrüppe aus. Wer kennt den
„Eckrentner“ oder den „Standardrentner“? Wer in unserer
Bevölkerung kann glaubhaft nachvollziehen, dass die Behauptung von Herrn Seehofer, der demographische Faktor sei besser als der Ausgleichsfaktor, stimmt? Ich
glaube, dass noch nicht einmal Ihre Fraktion das wirklich
versteht.
({0})
Das heißt, das Problem ist schwer zu lösen. Niemand
versteht eine Fachdebatte, wie sie hier geführt wird. Die
Mehrheit der Bevölkerung versteht aber, worum es im
Kern geht. Der normale Menschenverstand legt einem eines nahe: Wer erlebt und weiß, dass die Bevölkerung insgesamt heutzutage eine höhere Lebenserwartung hat
- was zu begrüßen ist -, dass in dieser Gesellschaft aber
gleichzeitig weniger Kinder geboren werden, der kann an
fünf Fingern abzählen, dass es mit der Umlagefinanzierung Probleme geben muss und geben wird. Das haben
die Menschen erkannt. Aus eigener Anschauung wissen
sie, dass die gesetzliche Rentenversicherung einer
grundsätzlichen Reform bedarf. Wichtig ist vor allen
Dingen, dass sie ein zweites - kapitalgedecktes - Standbein bekommt.
Übrigens, Frau Schwaetzer, wir führen eine kapitalgedeckte Säule ein, die Sie zu Ihrer Regierungszeit nicht haben durchsetzen können.
({1})
- Das war mit Blüm nicht zu machen. Ich danke Ihnen. Gleichzeitig steigen wir - Sie haben das hier angezweifelt - in die nachgelagerte Besteuerung ein.
Ich freue mich, dass wir seit gestern nachlesen können,
dass der Sachverständigenrat, der der Arbeits- und Sozialpolitik der Bundesregierung ja nicht unbedingt immer
sehr positiv gegenübersteht, sagt, dass wir gerade an dieser Stelle Probleme der Zukunft aufgreifen und dass deswegen unser Handeln zukunftsfähig ist.
({2})
Es braucht Mut, das, was eigentlich so einfach nachzuvollziehen ist, auszusprechen und hier Wahrheiten zu benennen.
Die eine Wahrheit ist: Die gesetzliche Rente reicht in
der Zukunft nicht aus, um den Lebensstandard zu sichern.
Walter Riester hat vor anderthalb Jahren dieses das erste
Mal sehr deutlich gesagt. Diese Aussage ist in der „Bild“Zeitung, natürlich mit freundlicher Unterstützung der Opposition,
({3})
zerrissen worden. Seine Aussage ist mit Argumenten zerrissen worden wie: Den Rentnern wird in die Tasche
gegriffen. Seine Aussage meinte aber vielmehr, dass die
junge Generation wegen der demographischen Entwicklung zukünftig Probleme mit der Rente bekommen wird.
Das heißt, dass der jungen Generation Lösungen für die
Zukunft angeboten werden müssen, weil nicht die Generation, die schon in Rente ist, dieses Problem hat. Das
Problem entsteht dadurch, dass beispielsweise der Altersaufbau dieser Gesellschaft im Jahre 2030 völlig anders
aussehen wird.
Eine zweite Wahrheit, die wir im Zusammenhang mit
dieser Rentenreform benennen müssen, lautet, dass die
Belastungen steigen werden. Wir müssen darüber reden,
dass wir diese Belastungen gerecht und fair zwischen den
Generationen verteilen. Für uns, meine Damen und Herren, bedeutet das, dass auch die ältere Generation ihren
Beitrag leisten muss.
({4})
- Wir verraten Ihnen gerne, auf welche Weise: nämlich
durch einen geringeren und langsameren Anstieg der
Renten, und zwar schon in dieser Legislaturperiode. Das
ist der Beitrag der älteren Generation. Daraus haben wir
nie einen Hehl gemacht. Ich bitte Sie von der Opposition,
dieses endlich ehrlich und gemeinsam mit uns auszusprechen.
({5})
Frau Kollegin Dückert, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Knake-Werner?
Ja,
gerne.
Frau Kollegin
Dückert, könnten Sie mir die Frage beantworten, warum
Sie die zukünftige Rentenlast zwar gerecht zwischen den
Generationen, aber ganz offensichtlich nicht gerecht
zwischen Arbeitgebern und abhängig Beschäftigten verteilen wollen? Es ist ja wohl eindeutig, dass nach Ihrem
Konzept die Arbeitgeber künftig 11 Prozent in die Rentenversicherung einzahlen sollen, die abhängig Beschäftigten und damit die junge Generation aber 15 Prozent. Wie
erklären Sie sich denn diese Ungerechtigkeit? Ich finde,
das hat mit sozialer Gerechtigkeit nicht so viel zu tun.
Frau Knake-Werner, wir stimmen sicherlich in dem Punkt
überein, dass man unterschiedliche Perspektiven wählen
kann, um die Frage der sozialen Gerechtigkeit zu betrachten. Sie geben hier ein Argument zu bedenken, das
auch die Gewerkschaften vortragen, nämlich dass der
Einstieg in die private Vorsorge die paritätische Finanzierung sozusagen untergraben würde. Ich habe eben
vorgetragen, dass das Grundproblem darin besteht,
({0})
dass das zukünftige Rentenniveau der gesetzlichen
Rentenversicherung den Lebensstandard der jeweiligen
Generation nicht mehr sichern kann und wir deshalb
zusätzlich private Vorsorge brauchen. Die gesetzliche
Rentenversicherung ist paritätisch finanziert und wird
paritätisch finanziert bleiben. Aber wir besitzen die
Ehrlichkeit, der jungen Generation heute zu sagen: Liebe
Leute, wenn ihr euren heutigen Lebensstandard auch als
Rentner haben wollt, dann müsst ihr zusätzlich privat vorsorgen. Wir schreiben ihnen nicht vor, wie sie privat vorsorgen sollen - private Vorsorge heißt, einen eigenen
Beitrag zu leisten -, sondern wir geben ihnen einen
Zuschuss zur privaten Vorsorge. Sie müssen also nicht
alleine dafür sorgen, schon gar nicht die Bezieher kleiner
Einkommen.
Außerdem haben sie die Wahl zwischen der privaten
und der betrieblichen Vorsorge. Sie wissen, dass über Tarifverträge allerlei Zuschuss von Arbeitgebern für die betriebliche Vorsorge ausgehandelt werden kann bzw. auch
schon existiert.
Deswegen sage ich Ihnen: Es ist ein Abtauchen vor der
Realität, wenn Sie behaupten, dass wir hier Gerechtigkeit
untergraben. Nein, wir geben hier vielmehr eine Handlungsmöglichkeit gerade für die junge Generation, selbstständig mit Unterstützung des Staates ihre Rente zu sichern.
Frau
Dückert, gestatten Sie eine Zusatzfrage von Frau KnakeWerner?
Ja.
Außerdem
hat sich der Kollege Seehofer zu einer Zwischenfrage
gemeldet. Ihre Redezeit wird dadurch nicht beeinträchtigt.
Sie haben meine
Frage nicht beantwortet. Ich habe gefragt: Wie wollen Sie
denn eigentlich die Arbeitgeber in Ihr Konzept von
sozialer Gerechtigkeit einbeziehen? Darauf haben Sie
jetzt nicht reagiert. Das wüsste ich aber gerne, weil unser
Verständnis von Parität, von solidarischer Finanzierung
der Rentenversicherung, bisher ist, die Beiträge zwischen
Arbeitgebern und abhängig Beschäftigten aufzusplitten.
Jetzt haben Sie ein anderes Konzept gewählt: Absenkung des Rentenniveaus und ergänzende private Vorsorge, um so die heute bestehende gesetzliche Rente zu sichern. Da bleiben die Arbeitgeber vor der Tür. Wie wollen
Sie die Arbeitgeber in Ihr Konzept einbeziehen?
Frau Knake-Werner, es tut mit Leid, Sie haben mir vielleicht nicht richtig zugehört. Ich glaube, ich habe eindeutig und unmissverständlich gesagt, dass die gesetzliche Rentenversicherung in der Vergangenheit, zum
heutigen Zeitpunkt und in der Zukunft paritätisch finanziert wird, dass wir den Menschen aber sagen, dass wir
ihnen, wenn sie sich zusätzlich besser absichern wollen,
Hilfestellung geben. Ich denke, das ist, was Chancenverteilung anbelangt, eine angemessene, faire Reaktion
und auch eine gerechte Reaktion auf die Veränderungen in
dieser Gesellschaft.
({0})
Herr Kollege Seehofer.
Frau Kollegin Dückert,
Sie haben gerade gesagt, Sie wollten den Menschen nicht
vorschreiben, wie sie sparen und ob sie sparen. Das hat
mich jetzt doch etwas überrascht; denn wir haben heute
Nacht in Ihrem Gesetzentwurf einen neuen Satz gefunden, der da lautet:
Ob der Abschluss eines privaten Altersversicherungsvertrages obligatorisch vorgesehen werden
soll, ist im Laufe der weiteren Legislaturperiode zu
prüfen.
Das heißt, im Gegensatz zu allen bisherigen Gesprächen, die wir geführt haben, spielen Sie jetzt mit dem
Gedanken, in Deutschland einen Sparzwang einzuführen.
({0})
Sie schreiben ja von Prüfung in der „weiteren Legislaturperiode“. Haben Sie die Absicht - mich interessiert
jetzt die Meinung der Grünen -, das den Menschen noch
vor der Bundestagswahl zu sagen oder erst anschließend?
({1})
Herr Seehofer, ich antworte Ihnen gerne auf diese Frage,
aber ich muss zunächst darauf hinweisen: Sie haben
meine letzte Antwort missinterpretiert. Wenn ich von
Wahlfreiheit bei der privaten Vorsorge sprach, dann habe
ich von der Freiheit für den Arbeitnehmer und für alle anderen gesprochen, zwischen den Systemen privater und
betrieblicher Vorsorge und auch die Anlageform frei zu
wählen.
Die Frage, ob wir bei der zusätzlichen, kapitalgedeckten Vorsorge zukünftig zu einem Obligatorium kommen
müssen, ist im Moment abschließend nicht zu beantworten. Ich sage: Es kann sein. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass die Stütze, die wir als Hilfe für den Aufbau der
privaten Förderung geben, und zwar gerade Beziehern
kleiner Einkommen, gerade Menschen mit Kindern, zu einer privaten Vorsorge in jedem einzelnen Haushalt führen
wird. Und dann wird dieses Obligatorium nicht notwendig sein.
({0})
Meine Damen und Herren, ich möchte meine Rede
fortsetzen und dabei an eine Äußerung aus der CDU/CSU
anknüpfen. Herr Seehofer hat uns vorhin mit der Kritik an
unserem Konzept - es macht eben das, was er Quantensprung nennt, nämlich Aufbau der privaten Vorsorge, der
kapitalgedeckten Vorsorge - gesagt, dieses alles sei nicht
genug. Die CDU/CSU hat ihre Kritik formuliert: Es reicht
alles nicht; es reicht an keiner Stelle: Es reicht nicht bei
der Frauenförderung und so weiter. Herr Seehofer wollte
uns das blümsche Konzept verkaufen.
Meine Damen und Herren, wir können hier trefflich
über Faktoren streiten; dazu sagte ich eingangs etwas.
Aber wir können nicht darüber streiten, dass die Zukunftsfragen in der blümschen Rentenreform überhaupt nicht
angedacht worden waren.
({1})
Wo ist in der blümschen Rentenreform auch nur ansatzweise der Aufbau einer kapitalgedeckten Altersvorsorge sichtbar, was Sie, Herr Seehofer, heute als Quantensprung bezeichnen? Sie haben über das Ganze geredet,
getan haben Sie nichts; es war ein Nullangebot hinsichtlich der Zukunftsfragen.
({2})
Wo in Ihrem Konzept - Frau Schwaetzer hat es ja gerade zugegeben - ist zum Beispiel die nachgelagerte Besteuerung angegangen worden?
({3})
- Frau Schwaetzer, Sie wollen uns hier ein längst ausgelaufenes Modell als Rentenkonzept verkaufen.
({4})
Wir haben in der Zukunft ganz andere Probleme zu lösen
und dazu brauchen wir die kapitalgedeckte Altersvorsorge
und übrigens auch die nachgelagerte Besteuerung.
({5})
Sie haben genau diese Herausforderung verschlafen,
meine Damen und Herren.
({6})
Sie verlangen bei der privaten Vorsorge eine verstärkte
Förderung für Familien mit Kindern. Dazu möchte ich
zwei Dinge festhalten. Erstens. Wir sorgen nicht nur für
eine steuerliche Unterstützung, sondern wir haben für diejenigen mit kleinem Einkommen, die keine Steuern zahlen - weil wir eine gute Steuerreform gemacht haben -, einen direkten Zuschuss vorgesehen. Wir nehmen
viel Geld in die Hand, für den Zuschuss bei kleinen Einkommen beispielsweise 20 Milliarden DM.
Zweitens. Wir haben einen doppelten Kinderfaktor
vorgesehen, das heißt, je mehr Kinder jemand hat, desto
geringer wird der Mindestbeitrag, den er leisten muss, um
in die private Vorsorge zu kommen.
({7})
Aber nicht genug damit: Für jedes Kind gibt es
360 DM. Wir haben vorhin gehört, was das zum Beispiel
für eine Alleinerziehende mit zwei Kindern bedeutet, die
dann mit 10 DM Monatsbeitrag in eine mit über 2 000 DM
recht gut finanzierte private Altersvorsorge kommen
kann. Auch hier läuft Ihre Kritik vollständig ins Leere.
Allerdings haben wir für die Frauen an dieser Stelle
noch sehr viel mehr getan. Die Ehefrau zum Beispiel, die
nicht arbeitet, weil sie die Kinder erzieht, wird mit diesem
Konzept - das ist eingeklagt worden - eigenständig finanziert. Eine Frau mit zwei Kindern kann so 1 200 DM
als Zuschuss für die private Vorsorge für sich geltend machen. Das sind keine Peanuts, das ist nicht gar nichts, wie
Sie es uns geboten haben, sondern das ist ein reales Angebot an die Frauen.
({8})
Mich freut an dieser Stelle besonders, dass Alleinerziehende durch unseren Ansatz in den Genuss einer zusätzlichen Unterstützung kommen, nicht nur bei der privaten Vorsorge, sondern auch bei der Rente. Was Sie
vorhin diskutiert haben, nämlich dass jetzt endlich die Erziehung des Kindes während der ersten zehn Jahre quasi
mit zusätzlichen Beiträgen in die Rentenversicherung unterstützt wird, hilft gerade allein erziehenden Frauen.
Wenn eine Frau im vierten Lebensjahr ihres Kindes in Arbeit geht, Teilzeit oder Vollzeit, wird sie unterdurchschnittlich verdienen. Das ist in dieser Gesellschaft so, die
Frauen in dieser Weise diskriminiert. Aber sie wird, wenn
sie arbeiten geht, für die Jahre bis zum zehnten Lebensjahr des Kindes einen Beitragsgegenwert von etwa
22 000 DM bekommen. Ich frage Sie: Ist das nichts oder
ist das eine Unterstützung der allein erziehenden Frauen?
({9})
Frau Kollegin Dückert, Sie haben Ihre Redezeit jetzt deutlich überschritten. Ich schlage vor, dass Sie einen schönen Abschlusssatz formulieren.
({0})
Ich mache jetzt einen schönen Abschluss.
Erstens möchte ich, auch an Frau Böhmer gerichtet, sagen, dass wir eine ehrliche Debatte wollen. Dazu gehört
übrigens, dass Sie hier nicht verbreiten dürfen, dass Witwen heute eine gekürzte Hinterbliebenenrente bekommen.
({0})
Nur bei Frauen, die heute unter 40 Jahre sind, wird die
Regelung überhaupt greifen. Wir wollen auch nicht, dass
die Frauen am Kochtopf kleben bleiben.
({1})
Zweitens sage ich abschließend: Ich glaube, wir haben
ein rundes Konzept, das mutig ist, weil es Wahrheiten anspricht, das einen Quantensprung bedeutet, weil wir in die
private Vorsorge gehen,
({2})
das Frauen hilft, vor allem Alleinerziehenden, und das Erwerbsbiografielücken auffüllt.
Ich danke Ihnen.
({3})
Für die
F.D.P.-Fraktion spricht nun der Kollege Dr. Hermann Otto
Solms.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! In den vier
Minuten Redezeit, die mir verbleiben, kann ich mich auf
nur wenige Punkte konzentrieren.
Ich war ja doch überrascht, Frau Kollegin Dückert,
dass Sie jetzt wieder die nachgelagerte Besteuerung angemahnt haben. Sie hätten doch genug Zeit gehabt, dies in
der Koalition durchzusetzen.
({0})
Aber die Grünen haben ja folgendes Leitmotiv: Vorher
werden die Backen aufgeblasen und große Forderungen
gestellt. Dann gibt es dramatische Verhandlungen und
zum Schluss kommt das heraus, was die SPD schon vorher angekündigt hat. - Das haben wir in dieser Woche erlebt, als das neue Sprecherduo Kuhn/Künast erhebliche
Veränderungen gefordert hat und hinterher nichts herausgekommen ist. Sie sind als Sturmvögel gestartet und als
Teichhühner gelandet.
({1})
Das erleben wir die ganze Zeit: Die nachgelagerte
Besteuerung gilt nur für die private Vorsorge. Es bleibt,
wie Herr Riester vorgeschlagen hat, bei der Verschiebung
der privaten Vorsorge. Die Forderungen der Grünen sind
abgelehnt bzw. schubladiert worden.
Im Rahmen der Invalidenrente sollten ursprünglich
keine Kosten auf die Krankenversicherung übertragen
werden. Genau das Gegenteil ist jetzt eingetreten:
({2})
250 Millionen DM werden auf die Krankenversicherung
übertragen. Über die restlichen Kosten in Höhe von
50 Millionen DM ist noch nicht entschieden. Die werden
wahrscheinlich ein Jahr später bei der Krankenversicherung landen.
Die junge Generation soll geschont werden. Das ist
doch das Generalthema der Grünen; das ist übrigens auch
unser Generalthema. Nur, genau das Gegenteil tritt ein:
Wer kann mir erklären, wie die junge Generation geschont
wird, wenn deren Beiträge in Zukunft auf 26 bzw. 28 Prozent steigen? Genau das ist hier vorgesehen.
({3})
Herr Riester, davon zu sprechen, dass die derzeitigen
Beiträge von 19,1 gesenkt werden, das ist mathematisch
einfach nicht erklärbar, wenn sie nach Ihrem Plan auf
26 bis 28 Prozent steigen sollen.
({4})
Ein interessanter Punkt ist hier noch gar nicht angesprochen worden: In den Annahmen, die diesen Berechnungen zugrunde liegen, ist eine zehn- bis zwanzigjährige
Periode der Hochkonjunktur vorgesehen. Die Berechnungen, so wie sie jetzt durchgeführt worden sind, treten
nur dann ein, wenn dies auch so ist.
({5})
Wenn aber die Entwicklung so verläuft, wie sie immer
war, nämlich dass es auch einmal konjunkturelle
Rückschläge gibt, dann werden allein die Beiträge zur
gesetzlichen Rentenversicherung - das wird schon heute
von den Fachleuten so berechnet - auf etwa 23 bzw.
24 Prozent ansteigen. Kämen noch 4 Prozentpunkte für
die private Vorsorge hinzu, ergäbe sich ein Beitragsniveau
von 28 Prozent allein für die Rentenversicherung. Die
Beiträge für die Krankenversicherung und für die
Pflegeversicherung werden aller Voraussicht nach ebenDr. Thea Dückert
falls ansteigen. Wir erreichen somit ein Beitragsniveau,
das man jungen Menschen wirklich nicht mehr zumuten
kann.
({6})
Es wäre unverantwortlich, dem die Zustimmung zu
geben. Denn unser Grundanliegen ist: Die Lastenverteilung muss für die Generationen gerecht gestaltet werden.
Den gleichen Fehler begehen Sie bei dem von Ihnen
vorgesehenen so genannten Ausgleichsfaktor. Er kommt
zu spät, trifft einseitig die junge Generation und veranlasst
die Menschen, vorzeitig in Rente zu gehen. Er ist also völlig falsch angelegt.
({7})
Dies ist ein zweiter Punkt, bei dem deutlich wird, dass die
junge Generation die Hauptlasten zu tragen hat, dass die
Lasten steigen und dass von Generationengerechtigkeit
überhaupt nichts übrig bleibt. Ich möchte die Sprüche der
Grünen über das Erfordernis der Generationengerechtigkeit nicht mehr hören. Sie haben auf der gesamten
Front versagt und in den Rentenreformverhandlungen
überhaupt nichts durchgesetzt.
({8})
Lassen Sie mich abschließend ein Wort zur privaten
Vorsorge sagen: Der in diesem Zusammenhang vorgesehene Anlagekatalog wird von Verhandlungswoche zu Verhandlungswoche immer enger geschnürt. Jetzt wird er angeblich auch noch mit einem Tarifvorbehalt versehen.
Wenn Sie einen gesetzlichen Tarifvorbehalt einführen,
dann ist das eine Kriegserklärung gegen das Bündnis für
Arbeit. Das sage ich Ihnen voraus.
({9})
Dann brummt es aber in Deutschland. Das hieße ja, dass
die gesetzlich vorgesehene Förderung der Vorsorgebeiträge daran gebunden ist, dass sie in Tarifverträgen so
ausgehandelt wird. Da, wo dies nicht geschieht, würden
die Arbeitnehmer außen vor bleiben. Das kann doch wirklich nicht sein. Ich habe nichts dagegen, dass tarifvertraglich etwas vereinbart wird. Das entspricht ja auch der
Tarifautonomie. Aber die gesetzlichen Bedingungen können doch nicht an Tarifverträge geknüpft werden. Frau
Dückert, da hätten Sie verhandeln können. Dieser Punkt
ist jetzt plötzlich neu in der Öffentlichkeit bekannt gegeben worden. Ich frage mich, wo Ihr Einfluss geblieben ist.
Meine Damen und Herren, so, wie es jetzt vorgesehen
ist, ist das nicht zustimmungsfähig. Wir sind gern bereit,
an den Verhandlungen konstruktiv teilzunehmen, aber ich
sehe nicht, wie in den drei verbleibenden Sitzungswochen
- wenn Sie die Haushaltswoche ausklammern, bleiben
nicht mehr Sitzungswochen - eine grundsätzliche Verhandlung dieses sehr komplexen und komplizierten Sachverhalts durchgeführt werden kann.
({10})
Wir haben uns von Anfang an konstruktiv an den Verhandlungen beteiligt. Nach den vielen Haken, die Sie geschlagen haben, sind wir aber heute verwirrter als am Anfang der Diskussion. Ich bitte Sie, klären Sie erst einmal
die Meinungsverschiedenheiten in Ihren Reihen, danach
reden wir über das, was Sie als Vorschläge vorlegen. Mit
dem jetzt vorliegenden Gesetzentwurf wird das kaum
möglich sein.
Vielen Dank.
({11})
Für die
Fraktion der PDS spricht der Kollege Dr. Ilja Seifert.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Liebe Betroffene auf den Rängen und im
Lande! Wir reden heute nicht nur - in erster Lesung - über
das Rentenreformkonzept der Bundesregierung, sondern
wir sollen auch das Erwerbsminderungsrentenverschlechterungsgesetz verabschieden. Die PDS lehnt den
vorliegenden Gesetzentwurf ab. Ich hätte ungefähr
elfundneunzig Punkte, das hier zu begründen, werde mich
aber auf wenige beschränken, weil mich die Zeit dazu
zwingt.
Ihr eigener Entwurf, Herr Minister, entspricht weder
der Maßgabe der 1998 von Ihnen getroffenen Koalitionsvereinbarung, die vorsah, bis zum 31. Dezember dieses
Jahres eine Regelung für eine armutsfeste Erwerbsminderungsrente vorzulegen, noch - das ist für uns
wichtiger - entspricht er den Interessen der betroffenen
Menschen.
({0})
Mit der Erlaubnis von Herrn Jörg Rosin aus Kempen,
nahe der niederländischen Grenze, möchte ich daher aus
einem Schreiben an den Petitionsausschuss des Bundestages zitieren - ich glaube, es sagt genug aus -:
Ich möchte mich in einer besonderen Notlage an Sie
wenden und hoffe, dass Sie mir helfen können ...
Ich wurde am 17. 6. 1962 geboren. Seit 1981 bin ich
durch einen Verkehrsunfall querschnittsgelähmt und
ständig auf einen Rollstuhl angewiesen. Seit 1983
beziehe ich eine Erwerbsunfähigkeitsrente und gehe
„auf Kosten meiner Gesundheit“ einer Halbtagsbeschäftigung bei der Stadtverwaltung Kempen nach.
Dadurch habe ich Gesamteinkünfte von circa
3 400 DM brutto.
Durch die Rentenreform, die ab Januar 2001 für
mich gilt, ändert sich Folgendes: Zunächst einmal
wird die Erwerbsunfähigkeitsrente in eine um ein
Drittel niedrigere Berufsunfähigkeitsrente umgewandelt. Um diese voll zu erhalten, dürfte mein Einkommen allerdings 1 250 DM brutto nicht übersteigen.
Durch mein zu hohes Gehalt bei der Stadtverwaltung
({1}) bekomme ich ab Januar 2001 nur
noch ein Drittel der BU-Rente. In DM ausgedrückt
bedeutet das, dass ich ab Januar 2001 circa
1 900 DM Bruttogehalt plus circa 350 DM BURente bekomme.
Schätzungsweise wird ein Nettoeinkommen von
circa 1 920 DM übrig bleiben. Zudem wird mein
Krankenkassenbeitrag vom ermäßigten auf den normalen Beitrag angehoben.
Allein zum Wohnen muss ich monatlich circa
1 250 DM ({2}) aufbringen.
Demnach stehen meiner Frau und mir circa 670 DM
für Lebensmittel, Auto, Kleidung, Telefon, Versicherung usw. zur Verfügung.
Aufgrund meiner Behinderung gehe ich durch die
Halbtagsbeschäftigung über meine körperlichen
Möglichkeiten hinaus, weshalb es mir nicht möglich
ist, noch mehr zu arbeiten und mehr Geld zu verdienen.
Ich finde so eine Art der Rentenreform, gelinde gesagt, behindertenfeindlich, weil der Staat uns dadurch in eine Situation hineindrängt, aus der es keinen Ausweg gibt.
Würde ich meine Arbeit aufgeben, um die EU-Rente
in Anspruch zu nehmen, müsste ich mit circa
1 600 DM brutto auskommen. Das ist zudem ein
Schritt, den ich nicht gehen möchte, weil ich meine
verbleibende Arbeitskraft nutzen möchte, um so
auch am öffentlichen Leben teilzuhaben.
Wie ich die Sache auch drehe und wende, der Staat
hat mich durch diese Reform absolut ins finanzielle
Abseits gedrängt.
So weit der Brief von Herrn Rosin.
Ich fordere deshalb - jetzt spricht wieder der PDS-Abgeordnete - die Bundesregierung auf: Ziehen Sie dieses
Gesetz, das ein Erwerbsminderungsverschlechterungsgesetz ist, zurück! Heute haben Sie dazu noch die Chance.
Bleiben Sie bei der geltenden, für die Betroffenen günstigeren Rechtslage wenigstens noch für ein Jahr. Sie hätten,
auch die Möglichkeit, das RRG 99, das die CDU/CSUF.D.P.-Regierung beschlossen hat, abzuschaffen. Dann
würde der jetzige Zustand weiterhin gelten, der immer
noch besser als das ist, was Sie uns vorlegen.
Der jetzt geplante Ausstieg aus der Solidarität mit einer der schwächsten Gruppen in der Gesellschaft darf so
nicht durchgehen. Das betrifft sowohl Menschen, die
HIV-positiv sind, wie Menschen mit chronischen Krankheiten, etwa durch Arbeit verursacht oder durch Unfall
Geschädigte. Wir, die PDS, sagen dazu: Mit uns ist eine
derart unsoziale Regelung nicht zu machen.
({3})
Für die
SPD-Fraktion gebe ich nun dem Kollegen Horst Schild
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Lassen Sie mich am Anfang noch zwei oder
drei Anmerkungen zu dem machen, was der Kollege
Seehofer vorhin gesagt hat. Ich denke, es ist angemessen,
beim Vortragen des einen oder anderen Argumentes im
Umgang einigermaßen fair zu sein. Wenn Sie beispielsweise sagen, Kollege Seehofer, dass es lächerlich sei, wegen 13 Millionen DM die Förderung der zweiten und
dritten Säule um ein Jahr zu verschieben, dann weiß ich
nicht, wie Sie auf die 13 Millionen DM kommen.
({0})
Eines müssen wir vorab klarstellen - es ist hier nicht so
deutlich gesagt worden -: Es handelt sich um eine Verdopplung des Fördervolumens im ersten Jahr des Beginns
dieser Förderung.
({1})
- Es ist eine Verdopplung.
({2})
- Das ist klar. Darüber können wir reden. Aber wir müssen der Fairness halber sagen: Wenn ich insgesamt ein
Entlastungsvolumen von 20 Milliarden DM habe und
dies - bezogen auf acht Jahre - pro Jahr im Durchschnitt
2,5 Milliarden DM weniger Steuern einbringt, dann bedeutet natürlich auch die Verdopplung des Einstiegsvolumens einen zusätzlichen Ausfall von etwa 2,5 Milliarden DM. Darüber können Sie gerne einmal mit den Ihrer
eigenen Partei angehörenden Finanzministern sprechen.
Sie machen unserem Finanzminister und dem Deutschen
Bundestag Probleme, wenn es beispielsweise darum geht,
der Erhöhung der Fahrtkostenpauschale zuzustimmen.
Aber darüber kann man reden. Bloß muss dabei ehrlich argumentiert werden.
({3})
Ein zweiter Punkt: Es ist nicht zutreffend - ich rede
jetzt nicht über den Diskussionsentwurf, sondern über den
heute hier vorliegenden Gesetzentwurf -, wenn hier behauptet wird, die Durchführungswege der betrieblichen
Altersvorsorge seien in diesem Gesetz nicht enthalten. Es
ist eindeutig, auch wenn es im Detail noch Nachbesserungen geben mag: Die Direktzusage und die Pensionskasse als zwei Durchführungswege der betrieblichen Altersvorsorge sind durch diesen Gesetzestext erfasst.
({4})
Wir haben deutlich gesagt - das findet man in der Begründung des Gesetzentwurfes -, dass wir die weiteren
Durchführungswege, nämlich die Unterstützungskasse
und die Pensionszusage daraufhin prüfen werden, wie
weit gegebenenfalls diese Durchführungswege in dieses
Förderinstrumentarium eingefasst sind.
({5})
Frau Kollegin Schwaetzer, Sie haben vorhin gesagt:
Die Regierung und die sie tragenden Fraktionen haben
nicht den Mut gehabt, den Einstieg in die nachgelagerte
Besteuerung vorzunehmen.
({6})
- Nein, Sie haben vorhin gesagt, wir hätten nicht den Mut
gehabt, den Einstieg in die nachgelagerte Besteuerung
vorzunehmen.
({7})
Kollege Solms hat so getan, als sei es gar nichts, was man
hier gemacht hätte.
({8})
Ich freue mich, dass man mit diesem Gesetzentwurf
dem Hause offensichtlich als Neuigkeit den Einstieg in
die nachgelagerte Besteuerung verkünden kann, der in
der Tat - ich schränke das jetzt ein - im Bereich der zusätzlich geförderten Altersvorsorge erfasst ist. Sie müssen
auch einmal sehen, welches Fördervolumen einschließlich der Eigenbeiträge in den nächsten Jahren steuerfrei
gestellt wird. Niemand wird das heute sagen können. Wir
hoffen, dass ein Großteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des Personenkreises, der in diesem Gesetz genannt ist, diese Möglichkeiten in Zukunft auch nutzt.
Wenn sie genutzt werden, dann handelt es sich um ein
enormes Volumen, das steuerfrei gestellt wird. Es befindet sich mindestens im zweistelligen Milliardenbereich.
Man muss das Ganze natürlich ernsthaft prüfen.
({9})
- Ja, das ist etwas, worauf wir stolz sind, Herr Kollege.
Dieser Einstieg ist doch immer wieder gefordert worden, und zwar nicht nur von der Wissenschaft oder von
denen, die im Bereich der betrieblichen Altersvorsorge
tätig sind. Er ist doch auch von diesem Hause gefordert
worden.
({10})
- Herr Kollege Seehofer, eines müssen wir zur Kenntnis
nehmen: Wenn wir die nachgelagerte Besteuerung wollen, dann hat das auch Konsequenzen für die steuerliche
Behandlung der Ansparphase. Wir können uns doch nicht
jeweils nur die Rosinen herauspicken.
({11})
- Ich versuche gerade deutlich zu machen: Wir tun es ja.
Wir haben hier kein Förderinstrument eingesetzt, das alle
gleich behandelt.
({12})
- Herr Kollege Laumann, ich versuche, gleich darauf einzugehen. - Wir haben vielmehr ein Förderinstrument eingesetzt, das insbesondere auf Familien mit Kindern bei
kleinem und durchschnittlichem Einkommen abzielt.
({13})
Wenn Sie sagen: „Wir wollen in dieser Republik den
progressiven Steuertarif abschaffen“, dann mag man sich
darüber unterhalten, wie man bisweilen die Kluft zwischen Zulage und steuerlicher Entlastung schließt. Solange wir einen Steuertarif haben, der progressiv gestaltet
ist, geht das nicht - so schwer uns das auch ankommen
mag. Auch wir würden gerne die Lücke zwischen Kindergeld und steuerlicher Entlastung für Kinder schließen.
Das Problem werden wir erst dann lösen, wenn der Förderbeitrag so hoch ist, dass er an der Beitragsbemessungsgrenze dem Grenzsteuersatz entspricht. Eher geht
das nicht. Eher können wir die Lücke nicht schließen. Wir
müssen uns entscheiden, was wir wollen. Wir wollen in
der Ansparphase steuerfrei stellen.
Das hat auch Konsequenzen. Erstmalig werden die hier
im Gesetz genannten Durchführungswege bzw. Anlagemöglichkeiten alle gleich behandelt:
({14})
ob Lebensversicherung, ob Banksparplan, ob Investmentfonds. Es hat auch Konsequenzen im Hinblick auf das,
was sich in den Jahren aufbaut. Am Ende steht bei Eintritt
in die Rente ein viel größeres Volumen zur Verfügung, als
wenn wir beispielsweise in der Aufbauphase immer wieder einen steuerlichen Zugriff haben. Da kommt am Ende
mehr heraus. Das kann man gut nachrechnen. Darauf sind
wir stolz. Das Ganze hat natürlich auch Konsequenzen für
Überlegungen zur möglichen zukünftigen steuerlichen
Behandlung aller Alterssysteme.
Ich möchte abschließend noch darauf hinweisen: Wenn
wir einmal die Verbindung zwischen dem Steuerentlastungsgesetz und dem herstellen, was wir an zusätzlicher
Förderung in den Gesetzentwurf eingestellt haben, dann
stellen wir beispielsweise fest: Ein verheirateter Durchschnittsverdiener mit zwei Kindern wird im Jahre 2002
durch das Steuerentlastungsgesetz 3 000 DM weniger
zahlen und er erhält zusätzlich 328 DM Fördervolumen.
Das sind 3 328 Mark mehr als bisher. Im Jahre 2005 steigt
die Entlastung durch die Steuerreform auf 4 000 DM plus
657 DM aus dem Altersvermögensgesetz. Das sind Spielräume, die wir in der Vergangenheit nicht gehabt haben.
Ich denke, diese Spielräume werden in Zukunft dazu beitragen, dass diejenigen, die in der Vergangenheit nicht den
Spielraum hatten, über die zweite und dritte Säule für ihr
Alter vorzusorgen, in der Zukunft diese Möglichkeit haben werden. Darauf sind wir zu Recht stolz.
Ich danke Ihnen.
({15})
Für die
CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Andreas Storm.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Gegen das Schauspiel, das diese Koalition in den vergangenen Tagen, Wochen und Monaten
abgeliefert hat, ist die Echternacher Springprozession
eine geradezu vorbildlich geordnete Veranstaltung.
({0})
Der Arbeitsminister hat mittlerweile so viel Pirouetten gedreht, dass selbst die eigenen Parteigenossen und der Koalitionspartner längst nicht mehr durchblicken. Wenn wir
richtig gerechnet haben, liegt nach anderthalb Jahren mittlerweile das sechste Konzept vor. Frau Dückert, Sie haben
vorhin eines richtig dargestellt: Diese Vorlage sei mutig.
In der Tat ist diese Vorlage mutig, vor allen Dingen aber
ist sie chaotisch, handwerklich dilettantisch und unausgegoren.
({1})
Ich will Ihnen das Stück für Stück zeigen.
Das Herzstück einer jeden Rentenreform ist die Rentenformel. Nun haben Sie in der gesamten Fachwelt, bei
den Sozialverbänden und den Gewerkschaften, eine klare
Front, die sagt, der von Ihnen vorgelegte Ausgleichsfaktor
sei völlig inakzeptabel. Professor Ruland, der Chef des
Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, sagt Ihnen dazu:
Seine Bezeichnung ist eine Täuschung. Er gleicht
nichts aus. Er ist ein linearisierter Kürzungsfaktor,
der in den Jahren 2011 bis 2030 die Rente um jeweils
0,3 Prozent mindert...
Mit anderen Worten: Wer später in Rente geht, kriegt weniger Rente.
Mit diesem Ungetüm, Herr Minister, schaffen Sie nicht
nur einen massiven Anreiz zur Frühverrentung und bestrafen diejenigen, die bis zum 65. Lebensjahr arbeiten
wollen, Sie produzieren gleichzeitig 21 verschiedene
Rentenniveaus. Sie haben richtig gehört: 21 verschiedene
Rentenniveaus. Das bedeutet, dass im gleichen Zeitraum - das ist das Schlimme daran - durch gleiche Beiträge in gleicher Höhe erworbene Anwartschaften künftig
nicht mehr zu gleichen Rentenleistungen führen werden.
Das ist ein massiver Verstoß gegen einen tragenden
Grundsatz der Rentenversicherung.
({2})
Was das mit einer gerechten Lastenverteilung zwischen der älteren und jüngeren Generation zu tun haben
soll, müssen Sie uns einmal deutlich machen.
({3})
Der DGB-Vorstand bei den Rentenversicherungsträgern, Dr. Standfest, hat deswegen am Montag zum Ausgleichsfaktor gesagt:
Er sollte so nicht Gesetz werden, weil er zu einer
unvertretbaren Benachteiligung der jüngeren Generationen führt.
Das ist die Position der Gewerkschaften und das ist, nahezu deckungsgleich, auch die Position des Sachverständigenrates, der gestern sein Jahresgutachten vorgelegt hat.
Herr Riester, hören Sie auf die Experten und streichen Sie
diesen unsäglichen Willkürfaktor.
({4})
Ich komme zum nächsten Punkt, der so genannten modifizierten Nettolohnanpassung, das heißt, die Formel,
mit der die Renten angepasst werden sollen. Auch das ist
ein Etikettenschwindel. In Wirklichkeit werden die Rentner in den nächsten Jahren von der Nettoeinkommensentwicklung der Beitragszahler abgekoppelt. Die Rentenversicherer haben errechnet, dass allein durch die
modifizierte Nettolohnanpassung das Rentenniveau nach
konventioneller Rechnung von 70 Prozent auf 65 Prozent
sinkt. Wäre es eine Nettoanpassung, müsste das Rentenniveau gleich bleiben. Es ist also eine eindeutige Mogelpackung; der Inhalt hält nicht das, was der Titel verspricht.
Damit ist das Ende der Fahnenstange nicht erreicht:
Für die jüngere Generation, für diejenigen, die nach dem
Jahr 2030 in Rente gehen, sinkt das Rentenniveau auf
61 Prozent oder sogar noch tiefer.
({5})
Dies ist vor allen Dingen auch deswegen nicht akzeptabel,
weil beispielsweise die Erwerbsunfähigkeitsrente, die
eine abgeleitete Rente ist, für die junge Generation in eine
Dimension kommt, die mit sozialer Absicherung nichts
mehr zu tun hat.
({6})
Auch aus diesem Grunde ist eine Zustimmung zur Reform
der Erwerbsunfähigkeitsrente für uns nicht möglich.
Meine Damen und Herren, die Kollegin Schmidt hat
vorhin beim Stichwort Frauen- und Hinterbliebenenrente behauptet, für die heutige Frauengeneration sei alles halb so wild. Aber das ist es gerade nicht. Denn bereits
jetzt soll ja der Freibetrag für die Anrechnung anderer
Einkünfte eingefroren werden. Das bedeutet, dass die
Hinterbliebenenrente in Zukunft massiv an Wert verlieren
wird.
({7})
- Liebe Frau Schmidt, was übrigens die wenigsten bislang
wissen, ist, dass Sie auch andere Einkunftsarten anrechnen wollen, mit Ausnahme der Einkünfte, die den so genannten Riester-Kriterien entsprechen. Das bedeutet beispielsweise, dass Lebensversicherungen in Zukunft auf
die Hinterbliebenenrente angerechnet werden, weil sie im
Riester-Katalog nicht enthalten sind.
({8})
Wir wissen ja, Herr Arbeitsminister, dass Sie den demographischen Faktor scheuen wie der Teufel das
Weihwasser. Trotzdem führt kein Weg daran vorbei. Ihr
Weg, die Generationen ungleich zu behandeln, ist eindeutig ein Irrweg. Deshalb noch einmal unser Angebot: Wenn
Sie nicht den demographischen Faktor nehmen wollen,
der bereits jetzt im Gesetzblatt steht - man braucht ihn ja
nur wirksam werden zu lassen -, dann wären wir auch bereit, über alternative Vorschläge mit uns reden zu lassen.
Der Präsident des Sozialverbandes VdK, Walter
Hirrlinger, hat einen jährlichen, für alle Rentner einen einheitlichen Abzug vorgeschlagen. Das ist eine verlässliche
neue Rentenformel und wäre ein gangbarer Weg.
Die Rentenversicherungsträger haben zuletzt am Montag eine Rentenformel vorgeschlagen, die ebenfalls im
Sinne eines demographischen Faktors alle gleich behandelt. Diese Formel kann ja durchaus anders heißen. Das
Ergebnis ist, dass nach dem Vorschlag der Rentenversicherungsträger der Beitragssatz auf einem niedrigen Niveau gehalten werden kann, das Renteniveau für die junge
Generation aber um 3 Prozentpunkte höher liegt als bei
Ihrem Vorschlag. Warum laufen Sie eigentlich wie mit
Scheuklappen durch die Gegend und verschließen sich
diesen besseren Lösungen, die seit Wochen auf dem Tisch
liegen?
({9})
Meine Damen und Herren, nun zur Förderung der privaten und betrieblichen Vorsorge. Wir sind uns alle
einig, dass wir erreichen müssen, dass nach Möglichkeit
jeder ein zweites Standbein der Altersvorsorge bekommt.
({10})
Aber mit Ihrem Vorschlag erreichen Sie dieses gerade
nicht. Denn weder die bestehenden betrieblichen Altersvorsorgesysteme noch die gängigen Produkte der privaten
Vorsorge werden von den Riester-Kriterien erfasst. Das
bedeutet konkret, dass junge Leute, die im letzten oder im
vorletzten Jahr, weil alle Welt gesagt hat, man müsse privat vorsorgen, ein Vorsorgeprodukt erworben haben, einen Alterssparvertrag abgeschlossen haben, nun gesagt
bekommen: Das ist ja schön, dass ihr bereits vorsorgt.
Aber schließt bitte noch einen zweiten Alterssparvertrag
ab, weil dieser die Kriterien nicht erfüllt. So kann man mit
den Menschen nicht umgehen.
({11})
Sie haben bisher keine Regelungen vorgesehen, wie die
bestehenden Formen von ergänzender Vorsorge in die
neuen Formen der Vorsorge überführt werden können.
Was das Stichwort soziale Gerechtigkeit bei der privaten Vorsorge angeht, möchte ich Sie fragen: Halten Sie
es für in Ordnung, dass die steuerliche Förderung dynamisiert ist und damit Jahr für Jahr ansteigt - sie ist an die
Beitragsbemessungsgrenze gekoppelt -, während die Alterssparprämien für Geringverdiener eingefroren bleiben?
Das bedeutet, dass die Verkäuferin mit 1 700 DM netto im
Monat ab 2008 - nach der letzten Stufe - Jahr für Jahr
immer den gleichen Förderbetrag bekommt, während der
Marktleiter, der von der steuerlichen Förderung profitiert,
jedes Jahr eine höhere Förderung erhält. Die Schere geht
also auseinander.
({12})
Was das mit sozialer Gerechtigkeit zu tun haben soll,
müssen Sie mir wirklich einmal klar machen.
({13})
Noch ein Wort zum Zeitplan der Beratungen: Es war
eigentlich bis zum Sommer allgemeiner Konsens, dass
wir mindestens drei bis fünf Monate für die Beratung über
diese große Reform brauchen. Nun haben Sie aus rein
wahltaktischen Gründen erklärt, das Rentenreformgesetz
solle bis Ende Januar im Bundesgesetzblatt veröffentlicht
werden.
(Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Zwei
Sitzungswochen!
Das sind nur zwei Monate, in denen auch noch fünf Wochen parlamentarischer Weihnachtspause eingeschlossen
sind. Das bedeutet, eine seriöse Beratung über diese Rentenreform ist nicht machbar. Aber eine solche Beratung
durchzuführen - man kann gar nicht mehr anders, als dies
zu unterstellen - beabsichtigen Sie offenbar auch nicht.
Deswegen sage ich Ihnen jetzt voraus: Wenn Sie dieses
Gesetz mit aller Gewalt durch den Deutschen Bundestag
durchpeitschen wollen, dann kann man schon heute darauf wetten, ob die erste Nachbesserung bereits an Ostern
oder erst an Pfingsten fällig ist.
({14})
Ihr Weg ist ein Irrweg. Wir werden ihn nicht mitgehen. Es
ist Zeit für einen rentenpolitischen Neubeginn.
({15})
Nun spricht
für die SPD-Fraktion die Kollegin Erika Lotz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich habe den Eindruck: Aus der sehr heftigen Kritik der CDU/CSU und F.D.P. spricht eindeutig das
schlechte Gewissen,
({0})
weil sie eine vernünftige und zukunftsweisende Rentenreform nicht auf den Weg gebracht haben. Wenn Sie heute
kritisieren, unsere Vorschläge seien sozial ungerecht,
dann will ich Sie daran erinnern, wie sich Ihr Demographiefaktor ausgewirkt hätte: Die Renten wären schon
viel früher gekürzt worden und das Rentenniveau hätte
schon im Jahr 2015 bei 64 Prozent gelegen. Es gab aus
meiner Sicht keine Garantie, dass es nicht noch weiter gesenkt worden wäre.
({1})
Wenn Sie heute die eigenständige Vorsorge reklamieren, dann muss ich Sie fragen, Herr Storm: Was haben Sie
denn getan, damit die Menschen eigenständig vorsorgen
können?
({2})
Wir fördern die eigenständige Vorsorge und berücksichtigen dabei die Einkommenssituation derjenigen, die wenig
haben. Wir berücksichtigen dabei die Situation der Menschen, die Kinder erziehen. Sie alle wollen wir gesondert
fördern. Das machen wir auch.
({3})
Frau Kollegin Lotz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Blüm?
Ja, bitte.
Frau Kollegin, halten
Sie es im Sinne der eigenständigen Vorsorge für richtig,
dass Frauen bei gleich hohen Beiträgen eine niedrigere
Rente aus der Privatversicherung bekommen?
({0})
Herr Kollege Blüm, das, was Sie
behaupten, stimmt einfach nicht;
({0})
denn wir berücksichtigen auch die Einkommenssituation
der Frauen. Wir gehen davon aus - darauf zielt Ihre Frage
ab -, dass diejenigen, die später Produkte für die private
Vorsorge anbieten werden, Unisexverträge anbieten werden. Nun möchte ich mit meinen Ausführungen fortfahren.
({1})
Frau Kollegin Böhmer, ich fand es ein bisschen unverantwortlich, als Sie geschildert haben, wie die Hinterbliebenenregelung angeblich aussehen wird. Ich möchte
ganz deutlich sagen: Es wird sich für die jetzigen Witwen
nichts ändern.
({2})
Es wird sich auch nichts für die Paare ändern, bei denen
ein Partner 40 Jahre oder älter ist. Wir werden bei der
Neuregelung auch die Situation der Menschen berücksichtigen, die Kinder erziehen. Wir setzen darauf, dass die
Erwerbstätigkeit von Frauen, die schon zugenommen hat,
weiter steigen wird.
({3})
Wir setzen auf eine eigenständige Rentenversicherung für
Frauen und nicht auf eine abgeleitete Hinterbliebenenversorgung.
({4})
Frau Dr. Böhmer, wenn Ihnen das Wohl der Frauen so
am Herzen liegt, dann frage ich Sie: Wo war Ihr Protest,
als beispielsweise die Rentenanwartschaften, für die ersten Jahre der Berufstätigkeit, also die Ausbildung, gekürzt worden sind? Dort sind von einem Tag auf den anderen die Anwartschaften gekürzt worden.
({5})
Wo ist denn Ihr Engagement gewesen? Ich sage dazu nur:
1,5 Billionen DM Schulden und 82 Milliarden DM Zinsen jedes Jahr.
({6})
Ich nenne hier auch die Erhöhungen beim Bundeszuschuss. Das haben wir gemacht. Sie haben noch kein einziges Wort darüber verloren, dass alle Regelungen, die Sie
gemacht haben, etwa der demographische Faktor,
({7})
bei gleichzeitig steigenden Beiträgen eingetreten wären,
während wir die Beiträge zur Rentenversicherung gesenkt
haben.
({8})
Lassen Sie mich noch etwas zu dem Gesetz sagen, das
wir heute verabschieden werden, nämlich zum Gesetz zur
Reform der Erwerbsminderungsrente. Heute ist deshalb ein guter Tag für viele Menschen,
({9})
für Arbeitnehmer, die gesundheitlich angeschlagen sind.
Sie müssen jetzt, wenn sie teilerwerbsgemindert sind, also
noch eine Teilzeitarbeit leisten können, nicht mehr befürchten, in die Sozialhilfe abzurutschen. Wir wissen,
dass trotz der guten Politik von Rot-Grün Arbeitnehmern
mit gesundheitlichen Einschränkungen der Arbeitsmarkt
oft verschlossen bleibt und sie keine Arbeit bekommen.
Die Bundesregierung hat mit ihrem Korrekturgesetz die
Regelungen Ihres Rentenreformgesetzes 1999 bezüglich
Erwerbsunfähigkeits- und Berufsunfähigkeitsrenten ausgesetzt. Heute beschließen wir eine Verbesserung für die
Arbeitnehmer, die leistungsgemindert sind.
({10})
Diejenigen Arbeitnehmer, die zwischen drei und sechs
Stunden arbeiten können, aber arbeitslos sind, werden
eine volle Erwerbsminderungsrente bekommen. Wir lassen die Menschen nicht im Stich. Welche Chancen hat
denn zum Beispiel ein Bauarbeiter, wenn er noch täglich
vier Stunden arbeiten kann, aber keinen Arbeitsplatz findet? Wäre es nach Ihrem Willen gegangen, hätte er eine
Teilrente bekommen und ein Teilarbeitslosengeld. Aber
nach Auslaufen des Arbeitslosengeldes hätte es die bedürftigkeitsabhängige Arbeitslosenhilfe bzw. Sozialhilfe
gegeben. Dies wollen wir nicht, und das verstehen auch
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht; schließlich bezahlen sie in allen Sozialversicherungszweigen
ihre Beiträge.
Nach unserem Gesetz werden auch die Erwerbsminderungsrenten höher sein als nach dem Rentenreformgesetz
1999 von CDU/CSU und F.D.P., weil wir die Zurechnungszeiten vom 55. Lebensjahr auf das 60. Lebensjahr
ausdehnen und weil wir den demographischen Faktor ausgesetzt haben. Für die Arbeitnehmer, die noch sechs Stunden oder mehr arbeiten können, haben wir keine andere
Regelung vorgesehen als Sie.
Ich will noch auf zwei wichtige Neuregelungen eingehen. Nach der alten Regelung wären die Renten wegen
Berufsunfähigkeit ohne Übergangsfristen entfallen. Das
ist sehr heftig kritisiert worden. Wir sind der Auffassung,
dass man das nicht machen kann. Von einem Tag auf den
anderen kann eine solche Leistung, auf die viele Versicherte vertrauen, nicht einfach wegfallen. Deshalb haben
wir lange Übergangsfristen vorgesehen.
Dem Vertrauensschutz tragen wir auch bei den
Schwerbehinderten Rechnung. Bei den Versicherten, die
bereits das 50. Lebensjahr vollendet haben und berufsoder erwerbsgemindert sind, gilt weiterhin die Altersgrenze von 60 Jahren ohne Abschläge.
Lassen Sie mich zusammenfassen. Wir beschließen
heute eine notwendige sachgerechte Zuordnung der von
den einzelnen Sozialversicherungszweigen zu tragenden
Risiken.
({11})
Dieses Problem hatte auch die alte Koalition gelöst, aber
mit beachtlichen sozialen Härten für die Betroffenen. Das
machen wir nicht mit. Deshalb verändern wir dies. Es
wird also weiterhin Renten geben, die die Arbeitsmarktchance berücksichtigen. Die Erwerbsminderungsrenten
werden höher ausfallen. Es wird vernünftige Übergangslösungen für Berufsunfähigkeitsrenten geben. Bei den Altersrenten für Schwerbehinderte tragen wir dem Vertrauensschutz der Menschen Rechnung. Es gibt also viele
Verbesserungen für die Menschen, die unsere Solidarität
brauchen.
Zum Schluss möchte ich darauf hinweisen, dass ich
nicht verstehe, warum Sie unserem Gesetzentwurf nicht
zustimmen wollen. Gestern haben Sie, Herr Laumann, im
Ausschuss ausgeführt, dass die Gesetzesänderung 90 Prozent dessen beinhalte, was die alte Regierung beschlossen
habe.
({12})
Auch wenn die 10 Prozent Änderungen, die wir vornehmen, gewichtig sind, so versteht doch niemand, dass Sie
nicht bereit sind, diese Novelle mitzutragen. Sie suchen
billige Ausflüchte, Sie suchen ein Schlupfloch.
({13})
Für die weiteren Gespräche mag das ein Zeichen sein. Ich
fordere Sie aber noch einmal auf: Stimmen Sie diesen Verbesserungen zu! Es wäre gut für die Menschen
({14})
und es wäre auch gut für die weiteren Konsensgespräche.
({15})
Ich gebe
zunächst dem Kollegen Dr. Ilja Seifert und dann dem Kollegen Laumann das Wort zu Kurzinterventionen.
Vielen Dank, Herr Präsident. Frau Kollegin Lotz, Sie haben gerade sehr laut gesagt,
dass Sie die Erwerbsminderungsrente für schwerbehinderte Menschen gewaltig verbessern würden. Sind Sie bereit, der Ehrlichkeit halber zuzugeben, dass zum Beispiel
Menschen, die im Förderungsbereich einer Werkstatt für
Behinderte tätig sind - hier handelt es sich zweifellos um
sehr schwer behinderte Menschen -, nach Ihrem Modell
keinerlei Chance haben, auch nur die geringsten Rentenansprüche zu erwerben? Unter dem verlängerten Dach einer Werkstatt für Behinderte können sie sich nämlich
nicht nach zum Beispiel 20 Jahren eine gewisse Anwartschaft erarbeiten. Sind Sie bereit, dies wenigstens der Ehrlichkeit halber dazu zu sagen, damit die Menschen im
Lande, die uns zuhören und die aus Ihrer Rede Hoffnung
geschöpft haben, von der Realität nicht enttäuscht werden?
Herr Kollege Laumann.
Frau Kollegin
Lotz, es ist richtig, dass Sie bei der Erwerbsunfähigkeitsrente wesentliche Punkte der alten Regierung übernommen haben. Dies sind im Übrigen Punkte, die Sie seinerzeit
bekämpft haben. Auch ist die Einführung der arbeitsmarktbedingten Erwerbsunfähigkeitsrente richtig; das wird von
uns ausdrücklich anerkannt.
Aber es gibt zwei Gründe, warum wir schlicht und ergreifend nicht zustimmen können. In der Woche, in der
Sie das Gesetz zunächst verabschieden wollten, entbrannte in der Bundesregierung und in der sie tragenden
Koalition ein großer Streit darüber, wer die Zeche bezahlen soll. Erst am Montag ist dieser Streit in der Regierung
beigelegt worden. Im Ausschuss konnte uns die Bundesregierung nicht sagen, wie es bei Krankenkassenbelastungen von mehr als 250 Millionen DM laufen soll. Es gibt
keinen Antrag und somit auch keine gesetzliche Grundlage dafür, wie Mehrbelastungen den Krankenkassen erstattet werden sollen, sondern lediglich vage Andeutungen, dass man das Gesetz, das man heute reformiert, in
den nächsten Wochen kassieren und in einem entscheidenden Punkt ändern werde. Das hat die Parlamentarische
Staatssekretärin Mascher gestern im Ausschuss angekündigt.
({0})
Der zweite Grund: Wir hatten ein Rentenniveau von
64 Prozent als Grundlage auch für Erwerbsunfähigkeitsrenten. Sie haben eines von 61 Prozent.
({1})
Sie wissen jedoch ganz genau, dass diese Absenkung gerade bei den Erwerbsunfähigkeitsrenten noch stärker als
bei den Altersruherenten durchschlägt.
Sie können nun wirklich von keiner Opposition verlangen, einer Reform der EU-Renten zuzustimmen, bei
der die Finanzierung für die Krankenkassen nicht sichergestellt ist, bei der vor der Verabschiedung im Ausschuss
die zuständige Staatssekretärin schon Änderungsbedarf
anmeldet und bei der Sie schließlich auch das Rentenniveau nicht definieren können. So etwas ist einfach Pfusch.
Wir erleben heute wieder: Wenn Sie ein Gesetz machen
müssen, bekommen Sie es einfach nicht auf die Reihe.
({2})
Zur Erwiderung die Kollegin Erika Lotz.
({0})
Herr Seifert, ich beginne bei Ihnen.
Ich habe hier betont, dass wir das Rentenreformgesetz
1999 verbessern wollen. Das machen wir.
({0})
Es gab Bestimmungen, die wir ausgesetzt haben. Es wird
vernünftige Übergangsregelungen bei der Zahlung der
Berufsunfähigkeitsrente und eine Verbesserung bei der
Zahlung von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit geben.
({1})
In der gestrigen Ausschusssitzung haben Sie betont,
die Invalidenrente in der ehemaligen DDR sei besser als
das gewesen, was wir machen. Herr Seifert, ich habe mir
erlaubt, das noch einmal nachzulesen. Ich habe festgestellt: In der ehemaligen DDR galt die Regelung, dass
man, um eine Invalidenrente zu beziehen, zu zwei Dritteln
erwerbs- bzw. leistungsgemindert sein musste. Was daran
und an einer Mindestrente von 330 Mark besser sein soll,
das müssen Sie den Menschen einmal erklären.
({2})
Herr Laumann, die von uns beschlossene Regelung
stellt eine Verbesserung der Berufsunfähigkeitsrente dar.
Sie haben hier auf die Kosten hingewiesen, die auf die
Krankenkassen aufgrund der Zahlung von Renten auf Zeit
eventuell zukommen.
({3})
Diese Regelung haben Sie schon 1997 beschlossen.
({4})
Wir gehen davon aus, dass die Belastungen für die Krankenkassen nicht höher als 250 Millionen DM und von daher nicht beitragssatzrelevant sein werden.
({5})
Sie benutzen etwas, was Sie selbst schon längst beschlossen haben und was die Problematik überhaupt nicht
verändert, heute als Begründung, um dem Gesetzentwurf
zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht zuzustimmen. Das ist eine ganze billige
Ausrede und sonst nichts!
({6})
Als letztem
Redner in dieser Debatte - dann kommen wir zu den Abstimmungen - gebe ich dem Kollegen Franz Thönnes von
der sozialdemokratischen Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die wunderbare Verwandlung, die wir in der Debatte heute Morgen erleben,
ist schon erstaunlich: Die rechte Seite dieses Hauses versucht in ihren Redebeiträgen, sich selbst vom Bock zum
Gärtner zu machen, und vergisst, was in den Jahren ihrer
Regierungsverantwortung alles geschehen ist.
({0})
Die Altersgrenze ist 1996 vorzeitig - einseitig - auf
60 Jahre angehoben worden, was die Altersrente oder die
Altersteilzeit angeht.
({1})
Sie haben sich einseitig vom gemeinsamen Rentenkonsens von 1992 verabschiedet. Sie haben das Wachstumsund Beschäftigungsförderungsgesetz - mit Verschlechterungen bei den Zugangsvoraussetzungen und mit einer
nochmaligen Heraufsetzung der Altersgrenze - einseitig
durchgepaukt. Sie haben die Altersgrenze für den Bezug
der Altersrente von Frauen ab dem Jahr 2000 in monatlichen Stufen heraufgesetzt.
({2})
Sie haben die Altersgrenze für langjährig Versicherte ab
dem Jahr 2000 in monatlichen Stufen von 63 auf 65 Jahre
heraufgesetzt.
({3})
Sie haben das Rentenniveau einseitig abgesenkt - wir haben das vorhin gehört -: 64 Prozent für alle, und zwar bei
einem Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung von 24 Prozent im Jahr 2030. Dazu sage ich Ihnen:
Die Täter von gestern taugen nicht als Sanitäter von morgen.
({4})
Herr Kollege Thönnes, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schnieber-Jastram?
Ja.
Herr Kollege Thönnes, ich möchte nur Folgendes fragen: Warum
haben Sie das nicht zurückgenommen?
({0})
Sehr geehrte Frau SchnieberJastram, Sie stellen eine rhetorische Frage. Sie wissen genau, in welche Situation Sie die Rentenversicherung mit
Ihrer Politik gebracht haben:
({0})
die Zahlung von Fremdleistungen durch die Rentenversicherung; die Beitragszahler mussten Kosten der deutschen
Einheit tragen; kein anständiger Abbau der Arbeitslosigkeit,
Sie haben Scheinselbstständige und 630-Mark-Kräfte ausgeklammert. Vor diesem Hintergrund ist die gesamte Rentenversicherung in ein Dilemma geraten.
({1})
Am Ende Ihrer Regierungszeit sah die Situation so aus:
Während 1991 der Beitragssatz zur Rentenversicherung
bei 17,7 Prozent lag und die Reserve noch 26 Monatsausgaben betrug, war der Beitragssatz 1997 auf 20,3 Prozent
angestiegen und die Reserve betrug nur noch 0,6 Monatsausgaben. Sie haben bei der Renten-, der Finanz-, der
Steuer- und der Arbeitsmarktpolitik auf der ganzen Linie
versagt. Dafür haben Sie die Quittung von den Menschen
bekommen.
({2})
Gestatten
Sie, Herr Kollege Thönnes, zwei weitere Zusatzfragen?
Ja.
Erst die Kollegin Schnieber-Jastram, dann der Kollege Blüm.
Herr Kollege Thönnes, ich habe hierzu noch eine Frage: Sie haben
unsere Rentenreform zurückgenommen. Warum haben
Sie dann bei der Vorlage Ihrer Reform die Punkte, die Sie
gerade kritisiert haben, nicht zurückgenommen, sondern
beibehalten?
({0})
Frau Schnieber-Jastram, Sie
wissen genau, dass wir Punkte ausgesetzt haben, um die
Rentenversicherung jetzt auf ein solides und vernünftiges
Fundament zu stellen.
({0})
Es muss nämlich ein anständiger Ausgleich zwischen der
älteren und der jüngeren Generation erfolgen, weil Solidarität keine Einbahnstraße ist.
({1})
Kollege
Blüm.
Ich habe eine ganz
einfache mathematische Frage: Sie haben uns gerade
attackiert, weil der Rentenversicherungsbeitrag nach unserem Modell 2030 24 Prozent betragen hätte. Ist es richtig, dass hiervon die Arbeitnehmer 12 Prozent gezahlt hätten? Ihr Modell sieht einen Beitrag von 22 Prozent vor,
von dem die Arbeitnehmer 11 Prozent plus 4 Prozent als
private Vorsorge zahlen. Jetzt kommt meine mathematische Frage, die jeder Matheschüler aus dem zweiten
Schuljahr beantworten kann: Wenn der Arbeitnehmer
nach unserem Modell 12 Prozent und nach Ihrem 15 Prozent zahlt, wo ist dann die Belastung der Arbeitnehmer
höher? 15 oder 12? Zweites Schuljahr!
({0})
Werter Kollege Blüm, so einfach kann man natürlich Rechnungen aufmachen.
({0})
Dabei sollte man aber auch ein Stück weit ehrlich sein
({1})
und sagen, welche Unsicherheiten dies langfristig für die
Menschen bedeutet hätte.
({2})
Man sollte auch so ehrlich sein und ihnen sagen, dass wir
nach unseren Berechnungen am Ende wieder auf ein Rentenniveau kommen, das um die 70 Prozent liegt. Das ist
die Wahrheit. So müssen Sie rechnen.
({3})
Herr Kollege Thönnes, möchten Sie den Dialog fortsetzen?
Ich glaube, am Ende der Debatte sollte das jetzt eigentlich genügen. Ich mache jetzt
weiter.
({0})
Nun warten Sie doch einmal ab, welche Möglichkeiten
sich durch die Vorrangsregelung für Tarifverträge und
durch betriebliche Altersversorgung noch ergeben. Unserer und der Fantasie der Gewerkschaften ist an dieser
Stelle keine Grenze gesetzt.
({1})
- Nein, das hatte ich gerade gesagt. Irgendwann muss es
einmal gut sein. Ihr habt schon drei gestellt.
Man muss auch noch einmal sagen, dass Sie den Menschen mit Ihrer Politik etwas vorgegaukelt haben. Sie haben ihnen vorgegaukelt, dass die Renten sicher seien. Das
haben Sie allen Rentnerinnen und Rentnern auch noch
brieflich mitgeteilt. Es ist bis heute noch nicht geklärt, aus
welcher Kasse das Geld für diese Briefe gekommen ist.
({2})
Heute stellt sich der Kollege Seehofer hier hin und
sagt, die Frage der Erwerbsunfähigkeit sei in unserem Gesetzentwurf nicht geregelt. Ich kann Ihnen da nur empfehlen, auf die Seite 54, Abs. 2 Nr. 2, unseres Gesetzentwurfes zu schauen: Ein Altersvorsorgevertrag liegt vor,
wenn
Leistungen nicht vor Vollendung des 60. Lebensjahres
oder dem Beginn einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit oder Altersrente des Steuerpflichtigen
aus der gesetzlichen Rentenversicherung oder nach
dem Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte erbracht werden …
Ein bisschen Lesen hilft weiter und bewahrt einen vor
falschen Argumentationen.
({3})
Ein weiterer Punkt: Sie haben vorhin hier erklärt, dass
die Frauen dadurch benachteiligt werden, dass Kindererziehungszeiten erst ab dem Jahre 1992 angerechnet würden. Seien Sie wenigstens so ehrlich und sagen Sie, dass
diese Regelung auch für Kinder gilt, die bis dahin zehn
Jahre alt waren, also bis 1983 zurückreicht.
Betrachten wir einen anderen Punkt, den Sie hier angeschnitten haben. Sie sagen, das sei ein Programm, das
geradezu zur Frühverrentung einladen würde.
({4})
Die 3,6 Prozent, die von Ihnen als Abschlag eingeführt
worden sind, tragen in Verbindung mit dem 0,3 prozentigen Ausgleich doch wahrhaftig nicht dazu bei, dass jemand versucht, dies zum Anlass für eine Frühverrentung
zu nehmen.
({5})
Dummheit ist keine Alterserscheinung.
({6})
Ich sage Ihnen: Die älteren Menschen sind cleverer, als
Sie heute hier argumentieren.
({7})
Ich möchte hinzufügen: Wenn die Menschen sich ansehen, wie die Rentenentwicklung in den letzten Jahren
gewesen ist, wissen sie, dass sie bei dieser Regierung auf
der besseren Seite sind. Ihre Steuer- und Finanzpolitik sowie Ihr Versagen in der Wirtschaftspolitik haben mit dazu
geführt, dass die Belastungen für die Arbeitgeber und die
Arbeitnehmer immer weiter angestiegen sind und dass
letzten Endes auch die Steigerungsrate bei den Löhnen
nicht mehr eine solche gewesen ist, die als gute Grundlage
für eine Rentenanpassung hätte herhalten können.
({8})
Die älteren Menschen haben in den letzten Jahren Ihrer
Regierungstätigkeit immer eine Rentenanpassung bekommen, die unterhalb der Preissteigerungsrate lag. Die
Sozialdemokraten und die Grünen haben dafür gesorgt,
dass sie jetzt darüber liegt.
({9})
Auch hier gilt wieder: Die Täter von gestern taugen nicht
als Sanitäter von morgen.
Zum Abschluss möchte ich auf den Kollegen Claus von
der PDS zurückkommen, der Franz von Assisi zitiert hat,
indem er sagte: Man solle eine Reform machen, die die
Menschen brauchen,
({10})
man solle eine Reform machen, die auch verstanden wird.
({11})
Ich glaube, die Menschen verstehen diese Reform. Auch
in den nächsten Wochen werden wir mit den Gewerkschaften und den Sozialverbänden darüber diskutieren,
weil wir ein großes Interesse daran haben, sie in Gemeinsamkeit umzusetzen.
Ich möchte mit Franz von Assisi schließen, wenn schon
der Fraktionsvorsitzender der PDS meint, ihn zitieren zu
müssen. Ich sage Ihnen: Wir haben nicht mehr viel Zeit,
etwas zu tun.
({12})
Wir müssen das Rentenversicherungssystem jetzt auf eine
solide Grundlage stellen. Daher zitiere ich Franz von Assisi: „Brüder, so lange wir Zeit haben, lasst uns Gutes
tun.“ Das machen wir jetzt.
({13})
Ich bin versucht zu sagen: Liebe Brüder und Schwestern, ich schließe
die Aussprache.
({0})
Also, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Aussprache
ist geschlossen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 14/4595 zu überweisen zur federführenden
Beratung an den Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
und zur Mitberatung an die Ausschüsse Innen, Recht, Finanzen, Wirtschaft und Technologie, Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Gesundheit, Verkehr, Bau- und Wohnungswesen,
Angelegenheiten der Neuen Länder und an den Haushaltsausschuss gemäß § 96 der Geschäftsordnung. Anderweitige Vorschläge liegen nicht vor. - Die Überweisung
ist so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen von der SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Reform der Renten wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit, Drucksachen 14/4230
und 14/4630. Hierzu liegen mehrere Änderungsanträge
vor, über die wir zuerst abstimmen.
Zunächst stimmen wir über den Änderungsantrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/4636 ab. Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag ist mit
den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und
F.D.P. gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung
der Fraktion der PDS abgelehnt.
Wir kommen zum Änderungsantrag der Fraktion der
PDS auf Drucksache 14/4638. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen?
- Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses
gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.
Wir kommen zum Änderungsantrag der Fraktion der
PDS auf Drucksache 14/4639. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Auch
dieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses
gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen gegen
die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit der gleichen Stimmenmehrheit wie in der zweiten
Beratung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über zwei Entschließungsanträge, zunächst über den Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/4637.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer
stimmt dagegen? ({1})
Wer enthält sich? - Der Entschließungsantrag ist mit den
Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P.
bei Enthaltung der PDS und gegen die Stimmen der
CDU/CSU abgelehnt.
Ich lasse nun über den Entschließungsantrag der Frak-
tion der PDS auf Drucksache 14/4640 abstimmen. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist
mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS
abgelehnt.
Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 3 c, zur Ab-
stimmung über den von den Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur
Neuordnung der Versorgungsabschläge, Drucksachen
14/4231 und 14/4620.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzent-
wurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von
SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU bei Enthal-
tung der F.D.P. und gegen die Stimmen der PDS ange-
nommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit mit der gleichen Stimmenmehrheit wie in der
zweiten Beratung angenommen.
Zusatzpunkt 2: Interfraktionell wird die Überweisung
der Vorlage auf Drucksache 14/2116 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b auf:
4 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Neunundzwanzigster Rahmenplan der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ für den Zeitraum
2000 bis 2003 ({2})
- Drucksache 14/3250 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({3})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Klaus Hofbauer, Dagmar Wöhrl, Wolfgang
Börnsen ({4}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Zukunft der deutschen Regionalförderpolitik
im Zusammenhang mit der Reform des Strukturfonds der Europäischen Union
- Drucksachen 14/3353, 14/4112 Zur Unterrichtung durch die Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Das Haus ist damit
einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich darf diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die
nunmehr dieser Debatte nicht folgen möchten, bitten,
möglichst ruhig und zügig den Plenarsaal zu verlassen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst das Wort
dem Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, Siegmar Mosdorf.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“
hat seit vielen Jahren eine für unsere Volkswirtschaft
wichtige Zielsetzung, nämlich den Strukturwandel voranzubringen, die Modernisierung unserer Volkswirtschaft zu begleiten, die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft zu stützen und wettbewerbsfähige Arbeitsplätze
zu schaffen.
Die Gemeinschaftsaufgabe hat sich in den letzten
30 Jahren überparteilich bewährt. Wir haben gemeinsam
versucht, damit auch gleichwertige Lebensverhältnisse
im Bundesgebiet zu erreichen. Mit ihrem bundeseinheitlichen Regelwerk bietet die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ ausreichende Flexibilität für die konkrete Umsetzung in den
Ländern entsprechend den regionalen Erfordernissen. Der
Rahmenplan wird laufend überarbeitet. Im Planungsausschuss reden wir regelmäßig - zuletzt geschah das im
März 2000 - über die Förderregeln, die wir für wichtig
halten.
Die Förderregeln des Rahmenplans müssen seit dem
1. Januar 2000 mit beihilferechtlichen Vorgaben der Europäischen Kommission in Einklang stehen. Im Zuge der
beihilferechtlichen Prüfung hat die Kommission wiederholt Fragen gestellt, die eine Genehmigung des 29. Rahmenplans bisher verhindert haben. Die Bundesregierung
steht mit den Dienststellen der Europäischen Kommission
in intensiven Gesprächen, um die noch offenen Fragen zu
erörtern und möglichst bald eine entsprechende Genehmigung zu erreichen.
Bereits im März 1999 hat die Bundesregierung bei der
EU-Kommission die deutschen Fördergebiete für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ ab dem Jahr 2000 angemeldet. Während
die Kommission für die neuen Bundesländer im August
1999 die Genehmigung insgesamt erteilt hat, hat sie bezüglich der westdeutschen Länder und bezüglich Berlins
ein Hauptprüfverfahren zum Umfang des Fördergebiets
eröffnet. Mit ihrer Entscheidung vom 14. März 2000 genehmigte sie in Westdeutschland und Berlin eine uneingeschränkte Förderung nur in einem Fördergebiet, das
17,7 Prozent der deutschen Bevölkerung umfasst, obwohl
sie ursprünglich einen Fördergebietsumfang von
23,4 Prozent für Deutschland errechnet und auch akzeptiert hatte.
Gegen diese Entscheidung hat die Bundesregierung
nach einem entsprechenden Beschluss des GA-Planungsausschusses vom 16. Juni 2000 beim EuGH Klage eingereicht. Die Entscheidung der Kommission über die
Herabsetzung des Förderplafonds basiert auf einem Berechnungsverfahren, das nach Auffassung Deutschlands
gegen den in der Gemeinschaft geltenden Grundsatz der
Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten verstößt. Deshalb
hat die Bundesregierung die Klage eingereicht.
Im strittigen Gebietsumfang von circa 4,7 Millionen
Einwohnern bestehen derzeit nur eingeschränkte Fördermöglichkeiten. Die Bundesregierung bedauert dies und
drängt darauf, dass sich die Europäische Kommission angesichts des Handlungsbedarfs in diesem Feld möglichst
bald bereit erklärt, die entsprechenden Anträge zu genehmigen.
Natürlich musste auch die Gemeinschaftsaufgabe ihren
Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leisten. Sie alle wissen, dass wir dabei sind, auch in diesem Bereich zu sparen.
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Für die Gemeinschaftsaufgabe West stehen im Jahr 2000
gleichwohl Barmittel in Höhe von 242 Millionen DM und
damit etwas mehr als im Vorjahr zur Verfügung. Für das
Jahr 2001 sind von uns 285 Millionen DM vorgesehen. An
Verpflichtungsermächtigungen sind im Jahre 2000
255 Millionen DM verfügbar. Für das Jahr 2001 sind
260 Millionen DM vorgesehen.
Die große Bedeutung der Gemeinschaftsaufgabe für
die regionale Entwicklung sehen Sie daran, dass von Januar bis September 2000 in den alten Bundesländern für
rund 540 Anträge 350 Millionen DM GA-Mittel bewilligt
worden sind. Die dadurch ausgelösten Impulse sind bemerkenswert: In der gewerbliche Wirtschaft ist ein Investitionsvolumen von circa 2,2 Milliarden DM angestoßen
worden. Damit sind etwa 13 500 Dauerarbeitsplätze gesichert sowie 6 200 Dauerarbeitsplätze zusätzlich geschaffen worden. Ich finde, das ist ein großer Erfolg. Deshalb
müssen wir diesen Weg fortsetzen. Im Bereich der wirtschaftsnahen Infrastruktur sind Investitionen in Höhe von
rund 115 Millionen DM ausgelöst worden.
In den neuen Bundesländern ist die Gemeinschaftsaufgabe das wichtigste Instrument der Investitionsförderung
zum Aufbau einer wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstruktur überhaupt. Für die GAOst stellt der Bund im Jahr 2000
Barmittel in Höhe von 2,291 Milliarden DM und Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von 1,89 Milliarden DM zur Verfügung. Für das Jahr 2001 sind Barmittel
in Höhe von 1,992 Milliarden DM und Verpflichtungsermächtigungen in Höhe von 1,5 Milliarden DM vorgesehen.
Von Januar bis September 2000 sind für die rund
3 000 Anträge der gewerblichen Wirtschaft circa 2,1 Milliarden DM GA-Mittel bewilligt worden, die ein Investitionsvolumen von 8,5 Milliarden DM ausgelöst haben
und damit etwa 70 200 Dauerarbeitsplätze gesichert und
rund 18 600 neue Dauerarbeitsplätze geschaffen haben.
Für circa 230 Anträge zur wirtschaftsnahen Infrastruktur
sind rund 803 Millionen DM bewilligt worden, die investive Gesamtausgaben in Höhe von 1,2 Milliarden DM angestoßen haben.
Diese systematische Arbeit in der regionalen Wirtschaftsförderung steht vor neuen Herausforderungen. An
erster Stelle ist dabei die Herausforderung der Osterweiterung zu nennen, eine wichtige Veränderung der Architektur der Europäischen Union. Wir sind davon überzeugt,
dass die Osterweiterung insbesondere der deutschen Volkswirtschaft zugute kommen wird, nicht nur durch neue Formen der Arbeitsteilung, sondern auch durch mögliche Formen der Kooperation über die Grenzen hinweg. Wir sind
deshalb auch der Auffassung, dass wir alles tun müssen
- das war auch Gegenstand der Länderwirtschaftsministerkonferenz vor wenigen Tagen in Stuttgart -, um in den
Grenzgebieten bei dieser Erweiterung, die natürlich eine
Veränderung darstellt, zielgenau zu helfen. Man kann das
in etwa mit der Süderweiterung oder der Erweiterung in anderen Gebieten vergleichen. Unsere Zielvorstellung sieht
so aus, dass aus den Grenzgebieten im Osten, die in den
letzten Jahren hermetisch abgeriegelt waren, in Zukunft
Handelsdrehscheiben werden, von denen wir gemeinschaftlich profitieren.
In der bis Ende 2006 laufenden Strukturfondsförderperiode können in den Fördergebieten erhebliche EU-Mittel - allein circa 20 Milliarden Euro in den neuen Bundesländern - eingesetzt werden. Die Grenzregionen sind
bis Ende 2006 darüber hinaus Teil der EU-Gemeinschaftsinitiative Interreg, deren Mittelausstattung gegenüber der vorherigen Förderperiode deutlich erhöht worden ist.
Es gibt eine weitere Herausforderung für die regionale
Wirtschaftsförderung: Es stellt sich die Frage, was nach
2006, also nach der laufenden Förderperiode, passieren
soll. Wir sind auch als Nettozahler für den EU-Haushalt
entschieden dafür, weiterhin gezielt eine europäische Regionalförderung für die strukturschwachen Gebiete zu erhalten, um so unsere Hauptziele - Strukturwandel, Innovationsförderung, Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit nach 2006 fortsetzen zu können. Im Gegenzug muss - das
ist ganz klar - der nationale regionalpolitische Handlungsspielraum endlich erweitert werden. Wir müssen auch in
diesem Bereich mehr Subsidiarität erreichen. Das gilt
ebenso für viele andere Programme; aber hier brauchen wir
besonders dringend Flexibilität, weil wir so eine höhere Effektivität der Förderprogramme erzielen können.
Die Bundesregierung wird sich bei der anstehenden
Überarbeitung der Leitlinien für staatliche Beihilfen mit
regionaler Zielsetzung sowie des multisektoralen Regionalbeihilferahmens für große Investitionsvorhaben für
eine Flexibilisierung des Beihilferechts einsetzen.
({0})
Die Mitgliedstaaten müssen größere Spielräume in der
nationalen Regionalpolitik erhalten. Wir sollten diese
Spielräume im Sinne des Subsidiaritätsprinzips nutzen.
Ich glaube, wir sind uns auch einig, dass wir die jetzt
festgelegten Bedingungen nicht akzeptieren können.
Auch die deutsche Klage gegen die Reduzierung der GAFördergebiete durch die Europäische Kommission zielt
auf eine von uns gemeinsam beabsichtigte Positionierung.
Insgesamt werden wir versuchen, die EU-Osterweiterung
und die Weiterentwicklung des EU-Beihilferechts in den
folgenden Jahren in eine moderne regionalpolitische
Konzeption zu führen und damit auch unsere Handlungsfähigkeit zu erhöhen. Wir drängen nachdrücklich darauf,
dass wir als diejenigen, die für den Aufbau Europas, die
Integration und die Erweiterung Europas besonders engagiert eintreten, bei diesen regionalpolitischen Instrumenten von der Europäischen Kommission Unterstützung erfahren und nicht mit Hemmnissen konfrontiert oder
blockiert werden. Deshalb hoffen wir sehr, dass wir mit
unserer Klage erfolgreich sein werden.
Vielen Dank.
({1})
Ich gebe das
Wort dem Kollegen Klaus Hofbauer für die CDU/CSUFraktion.
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion will mit ihrer Großen Anfrage die regionale Strukturpolitik erneut in den Mittelpunkt der Diskussion stellen und deren Bedeutung in der Vergangenheit
und vor allen Dingen auch für die Zukunft unterstreichen.
Zunächst stelle ich fest - da stimme ich mit Ihnen, Herr
Staatssekretär, überein -: Die bisherige nationale Strukturpolitik, die durch europäische Programme unterstützt
worden ist, war äußerst erfolgreich. Wir haben in den
strukturschwachen Gebieten, insbesondere in den ländlichen Gebieten, großartige Erfolge erzielen können. Dabei
möchte ich nicht unerwähnt lassen - ich glaube, dass Sie,
Herr Staatssekretär, da mit mir übereinstimmen -, dass in
den strukturschwachen Gebieten sowohl unsere Unternehmer als auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entscheidend dazu beigetragen haben, dass
wir diese Erfolge erzielen konnten.
({0})
Leider müssen wir aber feststellen, dass wir immer
mehr von europäischen Bestimmungen gegängelt werden. Hier, Herr Staatssekretär, erwarten wir von der Bundesregierung etwas mehr Schwung. Wir fordern mehr Initiativen und Aktivitäten, um gegen diese Gängelung
vorzugehen.
({1})
Ich mache der rot-grünen Regierung zum Vorwurf, dass
sie gegen diese Bestrebungen nicht mit dem notwendigen
Nachdruck vorgeht.
({2})
Sie haben ja bereits die Reduzierung der Förderkulisse
angesprochen. Es kommt hinzu, dass selbst die in diesem
Zusammenhang bestehende Übergangsregelung über
Nacht gekippt wurde und dass es in den Arbeitsamtsbezirken keine Feinabgrenzung mehr gibt.
({3})
Herr Staatssekretär, ich habe schon ein wenig den Eindruck, dass Sie erst, als Sie parteiübergreifend im Wirtschaftsausschuss darauf hingewiesen wurden, dass diese
Probleme entstehen, eine entsprechende Klage beim
EuGH eingereicht haben. Sie hätten bereits bei den diesbezüglichen Verhandlungen die Interessen Deutschlands
besser und intensiver vertreten sollen.
({4})
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir eine weitere Bemerkung: Ich habe den Eindruck, dass unter der
jetzigen Bundesregierung die Regionalpolitik nicht mehr
die Rolle spielt, die sie in den vergangenen Jahren gespielt
hat. Der Bundeswirtschaftsminister hat sich zu diesen
Themen in den letzten Wochen und Monaten bzw. in den
letzten zwei Jahren überhaupt nicht geäußert. Bei den
Haushaltsberatungen hat der Bundeswirtschaftsminister
lediglich in einem Nebensatz zur Struktur- und Regionalpolitik Stellung bezogen.
({5})
Ich stimme mit Ihnen, Herr Staatssekretär, überein,
dass die größte Herausforderung der Strukturpolitik insgesamt die Osterweiterung sein wird. Die CDU/CSUFraktion tritt uneingeschränkt für die EU-Osterweiterung
ein. Denn wir sind der Meinung, dass sie eine Chance für
die Menschen in Deutschland und - das betone ich ausdrücklich - insbesondere für die Menschen in den grenznahen Zonen bietet. Die Menschen, die jahrzehntelang
Stacheldraht vor ihrer Haustüre hatten, erleben diese Freiheit sehr konkret und werden diese Chance besonders nutzen.
Nur, wir müssen die EU-Osterweiterung natürlich auch
aktiv aus der Region heraus und im Rahmen unserer Politik gestalten. Meiner Meinung nach fehlen Konzepte der
Bundesregierung, wie die Osterweiterung im Bereich der
Strukturpolitik gestaltet und nach vorne gebracht wird.
({6})
Die CDU/CSU-Fraktion wird deswegen einen Antrag
mit ganz konkreten Vorschlägen einbringen:
Erstens. Wir fordern einen nationalen Grenzgürtelaktionsplan. Dieser bezieht sich nicht nur auf die Finanzen. Vielmehr fordern wir eine Reihe von Aktivitäten, die
grenzüberschreitend gestaltet werden sollten, damit wir
die Aktivitäten der letzten zehn Jahre ausbauen können.
Zweitens. Wir brauchen ein Förderprogramm für die
deutschen grenznahen Regionen. Ich bitte Sie, nicht nur
davon zu sprechen, sondern den Vorschlag des Kommissars Verheugen aufzugreifen, ihn zu unterstützen und ihn
auch umzusetzen. Wir haben ja auch in den Ländern Verbündete. Denn es gibt in diesem Zusammenhang eine gemeinsame Initiative des Freistaates Sachsen, Mecklenburg-Vorpommerns, Brandenburgs, Berlins und des
Freistaates Bayern. Greifen Sie diesen gemeinsamen Vorschlag auf und setzen Sie ihn um!
({7})
Drittens. Wir fordern, dass im Zusammenhang mit der
EU-Osterweiterung nach dem Vorbild der Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“ ein Programm für dort erforderliche Verkehrsprojekte aufgelegt wird. Seit der Öffnung
der Grenze vor zehn Jahren hat zum Beispiel das Verkehrsaufkommen zwischen Bayern und Tschechien drastisch zugenommen, und es wird sich noch deutlich verstärken, wenn die Osterweiterung kommt. Wir müssen
deswegen die Verkehrsprojekte vorantreiben, und wir
brauchen Projekte analog zu den Projekten „Deutsche
Einheit“.
Viertens. Ich hatte schon erwartet, dass bei der heutigen Diskussion zur Anfrage der CDU/CSU-Fraktion ein
ganz klares Bekenntnis zur GA abgegeben wird. Sie sprechen davon, dass uns die Kommission in Brüssel einschränkt. Manchmal habe ich sogar den Eindruck, dass
dies der Bundesregierung Recht ist, um so einen Schuldigen zu finden und die Gelder reduzieren zu können. In der
mittelfristigen Finanzplanung werden die Mittel bis
2004 reduziert. Das ist kein Bekenntnis zur Gemeinschaftsaufgabe.
Meine fünfte Forderung hat bereits der Herr Staatssekretär angesprochen: Wie es mit der Strukturpolitik nach
2006 weitergehen wird, steht momentan in den Sternen.
Es soll bis 2003 eine ganz klare Position eingenommen
werden. Ich bitte dringend darum, dass die Beitrittsverhandlungen auch unter dem Gesichtspunkt der Strukturpolitik geführt werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Strukturpolitik wird auch in Zukunft notwendig sein. Deswegen
bin ich der Meinung, dass wir die Instrumente der EU und
die nationalen Instrumente verstärkt aufeinander abstimmen müssen. Dann werden wir auch eine Perspektive haben. In diesem Sinne treten wir gemeinsam für die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse ein, wie sie auch
im Grundgesetz festgeschrieben sind.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Werner
Schulz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach
einer spannungsgeladenen und äußerst kontroversen Debatte zur Rentenreform beraten wir jetzt mit der Unterrichtung durch die Bundesregierung zum 29. Rahmenplan
der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“ für den Zeitraum 2000 bis 2003 - ein
endlos langer Titel - ein offensichtlich weniger strittiges
Thema. Es ist ein Thema, bei dem sehr große Übereinstimmung herrscht, zumindest was den Erfolg dieses Instrumentariums betrifft.
Allein die Zahl 29 verweist darauf, dass wir es hier mit
einer sehr langen Tradition zu tun haben. Es geht um ein
Instrument, das immer wieder verbessert, präzisiert und
an die bestehenden Verhältnisse und Probleme angepasst
worden ist. Es ist ein Instrument, das sich bewährt hat und
ausgereift ist und das nie automatisch oder schematisch
fortgeschrieben worden ist. Betrachten wir allein die Gewährung von Lohnkostenzuschüssen. Diese haben gerade in den ostdeutschen Bundesländern gute Dienste geleistet. Das zeigt, dass die Fördermöglichkeiten den
Problemen angepasst, ausgeweitet und vertieft worden
sind.
Auch diesmal, bei der 29. Rahmenplanung, gibt es Änderungen, die die weitere Differenzierung der Förderung
betreffen. Wir haben die strikte Unterteilung, dass der
Osten praktisch in die Fördergebiete A und B aufgegliedert ist und der Westen in die Fördergebiete C und D.
Schon daran erkennt man die Priorität, die der Förderung
der strukturschwachen Regionen im Osten nach wie vor
eingeräumt wird und werden muss.
Wir haben bei der Beurteilung der Förderfähigkeiten
und der Investvorhaben Veränderungen vorgenommen.
Damit ist nicht mehr der Zeitpunkt der Antragstellung entscheidend. Jetzt wird zeitnah über die Sachlage entschieden. Damit können wir zielgenauer, effektiver und aktueller fördern. Somit haben wir eine Verbesserung des Instruments erreicht. So werden beispielsweise bei der Infrastrukturhilfe Missbrauch und Mitnahmeeffekte künftig
ausgeschlossen. In gewisser Weise sind Mängel behoben
worden.
Wir reden über ein Instrument, das sich bei der aktiven
Regionalpolitik vor allen Dingen im Osten bewährt hat.
Es ist neben der Investitionsförderung eine der tragenden
Säulen der Strukturhilfe beim Aufbau Ost.
Die Gemeinschaftsaufgabe ist mit großem Erfolg verbunden gewesen. Staatssekretär Mosdorf hat einige Zahlen schon vorgestellt. Allein in den Jahren 1997 bis 1999
haben Bund und Länder gemeinsam, wie sich das gehört,
durch ihre Unterstützung - sie betrug 16 Milliarden DM Investitionen in Höhe von etwa 60 Milliarden DM angestoßen. Das sicherte über 300 000 Arbeitsplätze. 110 000
neue Arbeitsplätze wurden auf diese Art und Weise durch
die Förderung neu geschaffen.
Ich will an dieser Stelle eines wirklich nicht verbergen - das ist ein kritisches Moment; deswegen liegt heute
ein Entschließungsantrag vor -: Beim Abbau der Arbeitslosigkeit gibt es noch immer eine Disproportion zwischen Frauen und Männern. Wir haben hier ein sehr
einschneidendes Problem. Die offiziell ausgewiesene Arbeitslosenquote liegt bei den Männern bei 15 Prozent und
bei den Frauen bei über 19 Prozent. Wir sind hierfür von
einer UNO-Kommission gerügt worden, die sich mit der
Diskriminierung von Frauen beschäftigt. Die Bundesrepublik wurde deshalb gerügt, weil die Förderung von
Frauen nicht in dem erforderlichen Maß geschieht, besonders in den ostdeutschen Bundesländern.
Deswegen haben wir einen Entschließungsantrag eingebracht, der die Bundesregierung in dieser Hinsicht besonders verpflichtet; denn man sieht die Disproportion bei
der GA auch dieses Mal. Im Westen werden demnächst
dreimal so viele Dauerarbeitsplätze für Männer wie für
Frauen entstehen. Im Osten ist diese Zahl doppelt so groß.
Das heißt, es werden im Osten bedeutend mehr Arbeitsplätze für Männer als für Frauen entstehen. Dies geschieht
vor dem Hintergrund der derzeitigen Problemlage, dass
viele Frauen vom Aufbau Ost ausgeschlossen sind. Der
Aufbau Ost findet zwar statt; aber er kann offensichtlich
Frauen nicht die erforderlichen Arbeitsplätze bieten. Das
dürfen wir nicht zulassen.
({0})
Ich will etwas zur Perspektive der Gemeinschaftsaufgabe sagen, die vor dem Hintergrund der internationalen
Wettbewerbsfähigkeit, der Globalisierung, der Beschleunigung des technischen Fortschritts, der EU-Osterweiterung und der Fortsetzung des wirtschaftlichen Aufholprozesses in Ostdeutschland stattfindet. Hier besteht auch
künftig ein enormer regionalpolitischer Handlungsbedarf.
Das heißt, dass die Akteure in den Regionen noch stärker
eingebunden werden müssen. Im Grunde genommen entscheidet sich letztlich vor Ort, ob der Strukturwandel
von Erfolg gekrönt ist. Deswegen geht es hier um eine
wesentlich bessere Abstimmung zwischen den Akteuren.
Ich will auf ein Problem eingehen, das mir wichtig erscheint: Es ist die Osterweiterung der EU und die damit
auf uns zukommenden Aufgaben, gerade für die neuen
Bundesländer. Wenn man so will, war die deutsche Vereinigung der erste Schritt auf dem Weg zur Osterweiterung,
den wir jetzt weitergehen müssen. Wir müssen diese Regionen noch wesentlich besser auf das vorbereiten, was
auf sie zukommt. Die Infrastruktur muss weiter ausgebaut
und verbessert werden; denn der eigentliche Tauglichkeitstest findet bei den neuen Strukturen in Ostdeutschland statt. Der Strukturwandel in den Regionen wird
durch die EU-Osterweiterung beschleunigt und erneut auf
den Prüfstand gestellt, sodass enormer regionalpolitischer
Handlungsbedarf besteht.
Wir gehen allerdings davon aus, dass gerade die Bundesregierung - das ist deutlich geworden - diese Aufgabe
voll erkannt und im Visier hat, dass sie ihrer Verantwortung nachkommen wird. Das erhoffen wir uns auch von
den regionalpolitischen Verantwortungsträgern; denn die
Entscheidungen müssen in den Ländern und Regionen getroffen werden. Es liegt vor allen Dingen im Interesse der
betroffenen Regionen, rechtzeitig auf den Wettbewerbsund Anpassungsdruck zu reagieren. Bei aller Unterstützung durch den Bund: Die Initiativen müssen vor Ort greifen.
Es wurde die Frage gestellt, wo die Zukunft der Strukturpolitik liegt. Kollege Hofbauer, Sie haben gesagt, sie
stehe in den Sternen; aber sie ist natürlich auch nach 2006
in den europäischen Sternen zu suchen. Das ist eindeutig.
Allerdings - diese Kritik sollten wir aufnehmen - muss
der nationale Handlungsspielraum erhalten bleiben. Die
restriktiven Maßnahmen der EU, mit denen wir zu tun haben, sind nicht in jeder Weise förderlich.
Bei diesen Aspekten müssen wir darauf achten, dass wir
in der europäischen wie in der nationalen Förderpolitik zu
einer Übereinstimmung kommen. Das heißt, 2006 stellt
sich nicht nur die Frage der europäischen Kongruenz,
sondern auch die Frage, wie wir das im eigenen nationalen
Rahmen weiterführen werden: Werden wir die Differenzierung zwischen Ost und West so beibehalten oder haben
wir mittlerweile eine solche Anpassung erreicht, dass auch
hier eine Neubestimmung der Gemeinschaftsaufgabe vonnöten ist? Sind wir mithilfe dieses Instruments nun so weit,
dass wir das, was wir unter einheitlichen Arbeits- und Lebensbedingungen in Deutschland verstehen, überall erreicht haben? Das heißt, der Handlungsbedarf - europäisch und national - ist nach 2006 in hohem Maße
gegeben.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort für die
F.D.P.-Fraktion hat der Kollege Rainer Brüderle.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Regionale Wirtschaftsförderung
bleibt nicht nur in Ostdeutschland, sondern auch in einigen Regionen der alten Bundesländer notwendig. Sie verfolgt das Ziel, schwach entwickelten oder ländlichen Regionen eine Entwicklungs- und Wachstumsperspektive zu
geben. Dafür steht ein regionalpolitischer Instrumentenmix zur Verfügung, der in aller Regel öffentliche Mittel
zur Anschubfinanzierung beinhaltet.
Regionale Wirtschaftsförderung ist insofern ein wichtiger Baustein der Wirtschaftspolitik. Für weniger entwickelte Regionen bedeutet regionale Wirtschaftspolitik
eine Chance auf bessere Wachstumsaussichten. Deshalb
muss strukturschwachen Regionen auch das Recht auf
eine eigenständige Regionalpolitik zugebilligt werden.
({0})
Vor diesem Hintergrund begrüße ich ausdrücklich,
dass die Bundesregierung auf Betreiben der 16 Länderwirtschaftsminister vor dem Europäischen Gerichtshof
gegen die willkürliche Beschneidung des deutschen
Förderplafonds klagt. Die Reduzierung des deutschen
Förderplafonds von 23,4 Prozent auf 17,6 Prozent der Gesamtbevölkerung durch die Europäische Kommission
verringert das GA-Fördergebiet automatisch um mehr als
2 Millionen Einwohner. Entsprechend schmälern sich die
Entwicklungs- und Wachstumschancen in strukturell benachteiligten deutschen Regionen.
Der Gang vor den Europäischen Gerichtshof sollte die
Bundesregierung und insbesondere Bundeswirtschaftsminister Müller, der wieder mal - wie jedes Mal, wenn
eine wichtige Debatte zu wirtschaftspolitischen Themen,
etwa zum Jahreswirtschaftsbericht, ansteht - sein Desinteresse durch Abwesenheit dokumentiert,
({1})
nicht davon entbinden, politisch weiter für die Sache der
regionalen Wirtschaftsförderung zu kämpfen. Ich will
hier nicht die Frage aufwerfen, ob sich der Wirtschaftsminister in Brüssel für die regionale Wirtschaftsförderung
ähnlich stark einsetzt wie beispielsweise für die Kohlebeihilfen. Aber ein politisches Einlenken der Europäischen Kommission wäre bei der Rücknahme der nicht
nachvollziehbaren Beschränkungen der Förderkulisse
und im Interesse der betroffenen Regionen in jedem Fall
wünschenswert.
Wir sind uns darin einig, dass wir einen europäischen
Wirtschaftsrahmen und eine Ordnungspolitik brauchen.
Das ergibt sich schon allein aus der Idee eines gemeinsamen Marktes. Wer Wettbewerb in Europa will, der muss
für diesen Wettbewerb auch einheitliche Spielregeln festlegen. Vorstöße, Herr Staatssekretär, wie bei der Forderung Ihres Ministers nach einem nationalen Energiesockel, sind dagegen nicht nur ordnungspolitisch mehr als
fragwürdig, sondern auch regionalpolitisch kontraproduktiv.
({2})
Sie stellen nämlich nicht nur die Waren- und Dienstleistungsfreiheit des europäischen Binnenmarktes infrage;
sie schwächen darüber hinaus das berechtigte Interesse an
regionalpolitischen Aktivitäten in Deutschland.
Werner Schulz ({3})
Die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ verfolgen im Gegensatz zu dem angedachten nationalen Energiesockel ein
anderes Ziel. Sie sind nämlich dazu gedacht, die Wettbewerbsfähigkeit in strukturschwachen Regionen zu fördern.
Sie sollen also Wettbewerb erst richtig möglich machen.
Dagegen soll der müllersche Energiesockel Wettbewerb
ausschließen.
({4})
Diesen Unterschied muss auch die Bundesregierung und
vor allen Dingen der Bundeswirtschaftsminister erkennen.
Es muss sichergestellt werden, dass eine eigenständige
regionale Politik möglich bleibt. Das gebietet auch das
Subsidiaritätsprinzip. Dieses Prinzip ist im Amsterdamer Vertrag ausdrücklich festgeschrieben; zudem ist es
wirtschaftspolitisch geboten. Der dahinter stehende Gedanke der Hilfe zur Selbsthilfe stärkt den Wettbewerb sowie die Zielgenauigkeit beim Einsatz der Mittel und verbessert damit auch die regionale Infrastruktur.
Regionale Wirtschaftsförderung soll langfristige Entwicklungs- und Wachstumsprozesse möglich machen. Es
geht deshalb nicht an, dass die Europäische Kommission
versucht, den Handlungsspielraum regionaler Wirtschafspolitik immer weiter einzuschränken. Dieser neue
europäische Zentralismus ist für die Chancen Europas
insgesamt kontraproduktiv.
({5})
Die Europäische Kommission will die Dinge bis ins
kleinste Detail regeln, und zwar starr und bürokratisch.
Die Regionen sind damit vor Ort nur noch ausführende
Organe der Zentrale in Brüssel. Das kann nicht der richtige Ansatz sein. Die Regionen haben damit kaum noch
die Möglichkeit, den Instrumentenmix subsidiär nach den
Gegebenheiten vor Ort selbst zu bestimmen, da bei kleinsten Abweichungen von den Vorgaben ein beihilferechtliches Verfahren durch die Europäische Kommission droht.
Damit werden die Wirkung der regionalen Wirtschaftsförderung nachhaltig geschwächt sowie die Zielgenauigkeit des Mitteleinsatzes und der Wettbewerb unterschiedlicher Ansätze untergraben. Das ist ein elementarer Verstoß gegen das Prinzip der Subsidiarität.
({6})
Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, sich in
Brüssel für eine wettbewerblich orientierte dezentrale Regionalpolitik stark zu machen. Eine europäische Ordnung
darf nicht den eigenverantwortlichen Einsatz der festgesetzten Mittel verhindern, sie muss ihn vielmehr fördern.
Um dem Prinzip des gemeinsamen Marktes zu entsprechen, reicht es, für die Regionen zentral ein bestimmtes
Budget zu fixieren.
({7})
Die Gestaltung des Mitteleinsatzes muss allerdings in regionaler Verantwortung bleiben.
({8})
Das schafft für die Kommunen und Regionen mehr Handlungsspielraum und stärkt somit das Subsidiaritätsprinzip. Wir sind angesichts der Erfolge der kommunalen
Selbstverwaltung davon überzeugt, dass dieser Grundsatz
richtig ist. Es hat seinen Grund, weshalb die Dinosaurier
erdgeschichtlich ausgestorben sind. Brüssel darf nicht der
neue Dinosaurier werden. Sie kennen diese Viecher: wenig Kopf und viel Hinterteil. Wir brauchen viel Kopf und
wenig Hinterteil.
({9})
Ohne eine selbstbestimmte Regionalpolitik wären Entwicklungsschübe wie in Irland oder in Spanien nicht denkbar gewesen. Die Ursachen für den Umstand, dass Irland
- gottlob - vom Sorgenkind zur Boomregion Europas aufgestiegen ist, liegen in europäischen Strukturmitteln, allerdings verbunden mit gekonnter ortsnaher Ansiedlungspolitik. Es zeigt, wie wichtig eine eigenverantwortliche
Handlungsweise ist.
Ich möchte zum Schluss kommen: Die Bundesregierung muss sich dringend weiteren Problemfeldern der Regionalförderung annehmen, etwa der Tatsache, dass die
europaweiten Spielregeln in unterschiedlichen Regionen
unterschiedlich eingehalten werden. Man hat manchmal
den Eindruck, dass die Europäische Kommission mit
zweierlei Maß zu messen scheint. So darf es zum Beispiel
nicht sein, dass in meinem Heimatland Rheinland-Pfalz
die Schuhindustrie in Pirmasens vor die Hunde geht, weil
andere Länder die Schuhproduktion europarechtswidrig
massiv subventionieren.
({10})
Das widerspricht zutiefst dem Wettbewerbsgedanken eines gemeinsamen Marktes. Deshalb muss sich die Regierung für eine einheitliche Anwendung der Spielregeln in
allen Regionen Europas einsetzen. Nur dann finden diese
prinzipiell sinnvollen Rahmenbedingungen auch eine Akzeptanz, die notwendig ist. Die Bedeutung des Wirtschaftsministeriums in der Regierung muss gestärkt werden; der Wirtschaftsminister muss mit seiner Lustlosigkeit aufhören und ins Parlament kommen, wenn er
gefordert ist.
({11})
Für die PDS-Fraktion
spricht der Kollege Rolf Kutzmutz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es hat manche Irritation gegeben
und deshalb will ich für meine Fraktion zu Beginn klarstellen: Auch wir setzen uns natürlich für die Erhaltung des
wichtigen Instruments der Wirtschaftsförderung, der Gemeinschaftsaufgabe, ein. Das Instrument muss aber zweifellos - das ist hier schon angesprochen worden - ständig
qualifiziert werden, damit es langfristig trägt. Dabei geht
es uns um drei Aspekte: Im diesjährigen Rahmenplan
sind Beiträge der GA für die Arbeitsmarktpolitik und die
Stadtentwicklung ausgebaut worden; die Förderung von
Frauen - Herr Kollege Schulz hat dazu etwas gesagt kommt neu hinzu.
Es gibt eine Reihe von Absichtserklärungen, zu denen
die PDS-Fraktion bekanntlich bereits in der vergangenen
Wahlperiode Taten gefordert hat. Aus diesem Grund werden wir den Koalitionsantrag zur Bekämpfung der
Frauenarbeitslosigkeit mithilfe der Gemeinschaftsaufgabe auch - trotz der Beweihräucherung der Bundesregierung - unterstützen. Hier liegt aber das erste Problem:
Der Rahmenplan ist sehr innovativ, das alltägliche Fördergeschäft verdient diese Bezeichnung aber aus meiner
Sicht noch nicht.
({0})
So wird im Rahmenplan ausdrücklich eine arbeitsmarktpolitische Initiative des Bundeslandwirtschaftsministeriums für die Landwirtschaft und den ländlichen
Raum erwähnt. In dessen Etat wird bereits - ich zitiere von in diesem Zusammenhang zu ergreifenden Maßnahmen durch das Wirtschaftsministerium gesprochen. Nur,
im Wirtschaftsetat findet sich dazu nichts. Unsere Nachfragen beantwortete das Wirtschaftsministerium mit der
lapidaren Feststellung, das GA-Fördersystem sei ohnehin
so breit angelegt, dass neben spezifischen regionalpolitischen Zielen auch andere Politikbereiche unterstützt werden könnten. Aber Sie wissen so gut wie ich, dass die bisherigen GA-Mittel allesamt schon durch traditionelle
Förderung gebunden sind. Insofern wären unsere entsprechenden Haushaltsanträge mit ihren bescheidenen Ansätzen wenigstens ein kleines Signal für dringend nötige
tatsächliche Vernetzungen regional wirksamer Maßnahmen.
({1})
Damit bin ich beim zweiten Problem angelangt. Das
Ziel der Gemeinschaftsaufgabe ist hier mehrfach beschrieben worden - insoweit gibt es auch Übereinstimmung -: regionale Wirtschaftsförderung, die zur Gleichbehandlung von strukturschwachen Regionen im regionalen Standortwettbewerb beitragen soll. Aber, was
passiert in der Praxis auch, und zwar, Herr Brüderle, eben
nicht nur zwischen Staaten, sondern auch innerhalb der
Bundesrepublik Deutschland?
Da verlagert beispielsweise - ich beschränke mich nur
auf eines von mehreren Beispielen - eine Zwiebackfirma
ihre Produktion aus einem strukturschwachen Gebiet
West, deshalb höchstgefördert, in ein für Ostverhältnisse
strukturstärkeres Gebiet, deshalb niedrig gefördert. Im
schwachen Westen werden 430 Arbeitsplätze vernichtet,
im nicht viel schwächeren Osten nur 100 neue geschaffen,
natürlich zu den vergleichsweise miserablen dortigen
Lohn- und Arbeitsbedingungen. Das Ganze wird dann
auch noch mit einem zweistelligen Millionenbetrag aus
den Mitteln der Gemeinschaftsaufgabe gefördert.
Nicht, dass wir von der PDS uns nicht über neue
Arbeitsplätze im Osten freuen würden. Das ist nicht die
Frage. Aber wenn die Angleichung der Lebensverhältnisse in den Regionen wie in dem geschilderten Fall auf
eine Angleichung nach unten hinausläuft, wird das ganze
Fördersystem diskreditiert.
({2})
Damit bin ich beim dritten Aspekt angelangt. Breiten
Raum sowohl in den Fragen der CDU/CSU als auch in
den Antworten der Regierung nimmt die Kritik an der
restriktiven Beihilfengenehmigung durch die EU-Kommission ein. Das hat heute ebenfalls eine Rolle gespielt.
Aber kann sich denn hierzulande über den - dieser Satz ist
nicht von mir; ich zitiere - multisektoralen Rahmen für
große Vorhaben in der Regionalförderung wirklich jemand ernsthaft wundern, wenn er sich Elf/Leuna, die Vulkan-Werften oder VW Mosel vor Augen hält?
Auch bei der Klage gegen die Beschränkung der westdeutschen Fördergebiete sollten wir zumindest keine trügerischen Illusionen aufkommen lassen. Mit der neuen
Härte hat die Kommission zwar ihre 30-jährige eigene
Praxis revidiert, aber faktisch nur eine rechtlich durch
nichts abgesicherte Privilegierung Deutschlands beendet.
Es wäre aus meiner Sicht abenteuerlich, im Rat auf Mehrheiten, geschweige denn Einstimmigkeit zur Änderung
der dem entgegen stehenden Beihilferichtlinie oder gar
des EG-Vertrages zu setzen.
Wir sollten, statt nur auf Brüssel zu schimpfen und zu
klagen, eine offensive Strategie für die Zukunft angehen.
Das heißt eben auch, zügig mit einer Reform der nationalen Regionalförderung zu beginnen. Zum einen müssen
im Rahmen der institutionellen Reform und der Osterweiterung der EU politische Freiräume für nationale
Politik errungen werden. Zum anderen sollte auch die Gemeinschaftsaufgabe selber im Rahmen der anstehenden
grundlegenden Reform der Bund-Länder-Beziehungen
- ich nennen nur Stichworte: Länderfinanzausgleich und
Solidarpakt - überprüft werden. So könnte sie vielleicht
auf eine reine Infrastrukturförderung, die jedoch im umfassenden Sinne auch den Kultur- und den Sozialbereich
beinhalten sollte, beschränkt werden. Die einzelbetriebliche Förderung läge dann in der Finanzhoheit der Länder.
Dies wiederum würde aber einen wirklich gerechten Länderfinanzausgleich voraussetzen, bei dem beispielsweise
die so genannten Geberländer bei der Finanzkraftermittlung auch die kommunalen Steuereinnahmen voll erfassen müssten.
Das sind natürlich nur erste Überlegungen zu einem
durchaus komplexen Thema. Statt aber nur zu klagen,
sollten wir tatsächlich mit diesen ernsthaften Überlegungen beginnen.
Danke schön.
({3})
Nächster Redner ist
der Kollege Christian Müller, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! An sich ist es ein
schöner Anlass, dass wir heute Gelegenheit haben, über
die Regionalförderung und die Gemeinschaftsaufgabe zu
diskutieren. Das Gute daran ist vielleicht auch, dass, bei
allen Versuchen mehr oder weniger berechtigter Kritik, in
bestimmten grundlegenden Positionen Gemeinsamkeiten
vorhanden sind. Diese möchte ich zunächst unterstreichen, weil sie uns schon deshalb verbinden, weil wir, so
hoffe ich, alle der Meinung sind, dass wir mit der Gemeinschaftsaufgabe ein modernes und leistungsfähiges
Instrument der Regional- und Wirtschaftsförderung vor
uns haben, das ausgebaut werden kann und bei dem wir
die Chance haben, all jene Disparitäten, über die heute
schon geredet worden ist, besser in den Griff zu bekommen.
({0})
Wir werden uns sicherlich auch auf eine gemeinsame
Position gegenüber der Europäischen Union verständigen können. Wir sollten die Bundesregierung unterstützen, Herr Hofbauer, anstatt sie der Nachlässigkeit zu zeihen. Das haben wir in diesem Jahr auch schon gemeinsam
im Wirtschaftsausschuss getan. Ich glaube nicht, dass Sie
ernsthaft der Meinung sind, die Bundesregierung habe das
Ganze schleifen lassen. Die Bundesregierung hat von Anfang an versucht, die bestehenden Handlungsspielräume
zu erhalten. Wir alle sollten die Bundesregierung in ihrer
Haltung gemeinsam bestärken.
({1})
Ich halte es auch nicht für richtig, wenn Sie der Meinung sind, dass der Gemeinschaftsaufgabe in der Bundespolitik nicht mehr die gleiche Bedeutung wie früher zukommt. Das Gegenteil ist der Fall: Wir alle sind uns ihrer
Bedeutung bewusst. Das gilt auch für das Bundeswirtschaftsministerium. Man sollte jetzt nicht etwas konstruieren, so wie Sie es getan haben, Herr Brüderle, um die
heutige Abwesenheit des Bundesministers für Wirtschaft
und Technologie zu erklären und auszunutzen.
({2})
Die Herausforderung Osterweiterung ist ein Thema,
das uns alle sicherlich stark beschäftigt. Die Frage nach
den Konzepten steht sehr wohl im Raum. Sie hat in der
Beantwortung der Großen Anfrage eine wesentliche Rolle
gespielt. Ich möchte unterstreichen, dass wir - das ist der
entscheidende Ansatz - die vorhandenen Instrumente von
der nationalen GA über die Strukturfonds bis hin zu den
Interreg-Programmen bis 2006 nutzen müssen, wenn wir
bessere Voraussetzungen für die Bewältigung der Herausforderung Osterweiterung schaffen wollen.
Ein anderer Punkt - darauf ist schon hingewiesen worden - ist genauso wesentlich: Wir müssen die nationalen
Handlungsspielräume auch für die Zeit nach 2006 erhalten oder, wenn sie verloren gegangen sind, zurückgewinnen. Das ist die wichtigste Aufgabe, bei deren Erfüllung wir alle - auch die Länder - die Bundesregierung
unterstützen sollten. Die Frage, was in diesem Zusammenhang zu tun ist, ist sicherlich auch von Bedeutung.
Deswegen sollten wir in Ruhe darüber nachdenken, was
es bringen soll, kostenträchtige Zusatzprogramme von der
Europäischen Union zu fordern, wenn vielleicht dadurch
Begehrlichkeiten anderer europäischer Länder geweckt
werden. Darüber sollten wir in Ruhe nachdenken. Wichtig ist, dass eine europäische Unterstützung für die
Freiräume, die wir zu gewinnen suchen, erfolgt. Das andere gehört sicherlich auch in den Kontext. Wir sollten
dies nicht aus den Augen verlieren.
Da ich gerade die Konzepte angesprochen habe,
möchte ich noch auf Folgendes hinweisen: Wir sollten alles tun, um die Funktion der Gemeinschaftsaufgabe, die
ohnehin politikfelderübergreifend angelegt ist, zu stärken.
Sie hat, wie ich schon gesagt habe, in der Tat das Zeug
dazu, ein universelles und vernünftiges Förderungsinstrument zu sein, und muss es auch bleiben. Wir müssen uns
alle darüber klar werden, dass die Verbindung verschiedener Politiken der entscheidende Ansatz sein muss. Es
kommt nicht immer nur auf Geld bzw. Haushaltsmittel an,
so wichtig es auch ist, dass eine Gemeinschaftsaufgabe
mit den entsprechenden Mitteln ausgestattet ist. Es
kommt darauf an, dass wir die Synergieeffekte, die durch
die Verbindung verschiedener Politiken entstehen, nutzen.
Das Problem besteht darin, dass wir in einer Region zu
wenig projekt- und problembezogene Politiken auf eine
Entwicklungsaufgabe hin organisieren können. Daran
werden wir vor allen Dingen arbeiten müssen. Ich denke,
dass wir das Thema „Entwicklung von unten“ noch einmal ins Auge fassen müssen. Entwicklung von unten ist
der entscheidende Ansatz, um Erfolge erzielen zu können.
Sie erinnern sich alle daran, dass wir das Thema der regionalen Entwicklungskonzepte, der integrierten Konzepte seit Jahren in den Rahmenplänen finden. Die praktischen Erfahrungen zeigen, dass in sehr vielen - vor
allem aber auch schwachen - Regionen sich bedauerlicherweise nicht die Kräfte befinden, die das vernünftig organisieren. Dies muss auch von unten ausgehen.
Bund und Länder sollten ein Stück mehr Verantwortung dafür übernehmen, die Konsensbildung in den Regionen anzustoßen und voranzubringen. Dies ist für die in
der Transformation befindlichen ostdeutschen Regionen
ein wichtiges Thema.
Sehen Sie sich einmal unseren Ansatz des regionalen
Managements an, der noch in den 29. Rahmenplan hineingebracht worden ist. Es ist ein vernünftiges Instrument. Mit diesem regionalen Management können wir
Defizite, die in den Landratsämtern und anderswo vorhanden sind, ausgleichen helfen. Wenn es uns gelänge, in
verschiedenen Modellprojekten Erfolge zu erzielen, wäre
das gut. Das ist eine unserer Initiativen, für die Sie uns loben könnten, meine Damen und Herren.
({3})
Ich darf noch etwas in diesem Zusammenhang erwähnen.
Christian Müller ({4})
Herr Kollege!
Ich will dies noch zu
Ende bringen, dann kann Herr Brüderle seine Frage stellen.
Wenn wir verschiedene Politiken miteinander verknüpfen wollen, um Synergieeffekte zu erzielen, kommt
der ostdeutsche Inno-Regio-Wettbewerb ins Spiel. Mit
diesem Anstoß zur Vernetzung haben wir die Möglichkeit,
eine Verbindung moderner, zeitgemäßer, innovativer Industrien bzw. Unternehmen zur Gemeinschaftsaufgabe
herzustellen und eine Verbesserung regionaler Wirtschaftsstrukturen zu erreichen. Es ist ohnehin klar, dass
durch Inno-Regio angestoßene Projekte in der zweiten
Phase in der Regel auch der Finanzierung durch Mittel der
Gemeinschaftsaufgabe bedürfen. Auch das gehört zu den
Konzepten, die wir verfolgen werden.
So, Herr Kollege Herr Brüderle, Ihre Frage.
Herr Kollege
Brüderle, Sie können Ihre Frage stellen.
Herr Kollege Müller, Sie
haben den Regionalmanager angesprochen. Muss nicht
ein Landeswirtschaftsminister Regionalmanager sein? Ist
es nicht ein Ausweis dafür, dass das Wirtschaftsministerium seine Aufgaben nicht anständig erfüllt, der Wirtschaftsminister sich nicht um seine Angelegenheiten
kümmert, wenn wir jetzt Ersatzmanager sein müssen?
Dann können wir den Wirtschaftsminister abschaffen.
Diese Aufgliederung verstehe ich nicht. Ein Wirtschaftsminister - ich war es zwölf Jahre lang - ist ein Regionalmanager. Wenn er es nicht ist, ist er fehl am Platz.
({0})
Lieber Herr
Brüderle, wir können gelegentlich bei einer Weinreise
durch Rheinland-Pfalz überprüfen, ob das so ist. Die Erfahrungen, die uns vorliegen, besagen, dass diese Art von
Management durch den Landeswirtschaftsminister nicht
zwangsläufig in allen Bundesländern in den bedürftigen
Regionen Wirkung zeigt.
Im Übrigen sind wir uns darin einig, wenn wir von integrierter Regionalentwicklung reden, dass es eine von
unten ist. Das heißt, die Konsensbildung in der Region ist
ein wesentliches Element. Die Regionalmanager sollen
zunächst einmal den Regionen helfen. Dass die Landesregierung und die Landeswirtschaftsminister als diejenigen, die Regionalförderungspolitik durchführen, in das
Boot gehören, versteht sich von selbst. Aber machen Sie
es nicht kleiner, als es ist. Es ist sicherlich nicht das Ei des
Kolumbus, aber es hilft in diesem Fall sehr, die regionale
Konsensbildung bei den Regionen, die es allein nicht
schaffen, anzustoßen und voranzubringen. Die stärkeren
Regionen brauchen das sicherlich nicht.
Nun möchte ich noch zwei Bemerkungen zu dem machen, was Sie, Herr Kutzmutz, angesprochen haben; das
schließt sich unmittelbar an die Frage von Herrn Brüderle
an. Sehr oft läuft das tägliche Fördergeschäft nicht so gut.
Jeder kann die Wirtschaftsförderung seiner eigenen Landkreise daraufhin überprüfen. Es ist ein ernsthaftes Handicap, wenn dort das nötige Engagement der Verantwortlichen nicht zustande kommt. Im Übrigen hat es auch etwas
damit zu tun, dass ein Landrat seinen Landkreis natürlich
als Region ansieht. Auch wenn dies nachvollziehbar sein
mag, entspricht es doch den Erfordernissen keinesfalls.
Da die Region mehr als nur ein Landkreis ist, muss mit
dem Regionalmanager ein zusammenführendes Element
eingebaut werden. Vielleicht kann man auf diese Weise
über die vielerorts anzutreffende Kirchturmspolitik hinwegkommen.
Sie haben auch die Reform der Bund-Länder-Finanzbeziehungen angesprochen. Wir müssen an dieser Stelle
gemeinsam daran arbeiten, dass uns die Gemeinschaftsaufgabe auch nach dieser Reform erhalten bleibt, weil sie
geeignet ist, als ein Ordnungsrahmen zu wirken, einen
Systemansatz beinhaltet, den Subventionswettlauf der
Regionen in geordnete Bahnen lenkt, die Koordinierung
der raumwirksamen Politiken verstärkt, die Bündelung
der Länderinteressen gegenüber Brüssel ermöglicht und
damit dem Verfassungsauftrag entspricht, der Herstellung
gleichwertiger Lebensverhältnisse näher zu kommen. Insofern ist eine Substitution durch die europäische Regionalförderung nicht möglich. Wir brauchen - das ist ganz
wichtig - die Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der
regionalen Wirtschaftsstruktur auch nach 2006,
({0})
weil unser regionalpolitischer Handlungsbedarf erhalten
bleiben wird. Wir dürfen sogar annehmen, dass er noch
zunimmt.
Meine Damen und Herren, dies ist Anlass genug, in
dieser Debatte festzuhalten, dass wir die Bundesregierung
in ihren Bemühungen unterstützen sollten, die notwendigen Handlungsspielräume zu gewinnen und zu erhalten.
Vielen Dank.
({1})
Es spricht jetzt der
Kollege Ulrich Klinkert für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wenn man den Verlauf der
Debatte verfolgt, stellt man fest, dass wir parteienübergreifend der Meinung sind, dass die regionale Wirtschaftsförderung eines der wichtigsten Instrumente ist,
um regionale Nachteile auszugleichen, vor allen Dingen
den ländlichen Raum zu fördern und die Strukturentwicklung voranzubringen. In den letzten Jahren wurde durch
dieses Instrument Beschäftigung gesichert, wurden in den
Regionen Tausende von Arbeitsplätzen geschaffen.
In den alten wie in den neuen Bundesländern wurde die
Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der
regionalen Wirtschaftsstruktur“ intensivst genutzt und
fast zu 100 Prozent abgeschöpft, wenn man einmal vom
Land Sachsen-Anhalt absieht, das es nur auf eine 78-prozentige Ausnutzung der zur Verfügung gestellten Mittel
gebracht hat.
({0})
Aber in diesem Bundesland werden die Schwerpunkte offensichtlich nicht auf Investitionen in Arbeitsplätze gelegt.
Wir haben auch gehört, dass die regionale Wirtschaftsförderung aus verschiedenen Gründen in Zukunft so wie
bisher leider nicht fortgesetzt werden kann. Die Brüsseler
Bürokratie verlangt eine Reduzierung des Bevölkerungsplafonds auf 17,6 Prozent bei der nationalen Förderung.
Dies betrifft vor allen Dingen die alten Bundesländer. Der
Unterausschuss „Regionale Wirtschaftspolitik“ hat ja parteienübergreifend die Bundesregierung ermuntert, rechtliche Schritte gegen Brüssel einzuleiten. Die Bundesregierung hat, was wir ausdrücklich unterstützen, eine
Klage beim Europäischen Gerichtshof eingereicht. Wir
erwarten aber von der Bundesregierung - darin stimme
ich dem Kollegen Hofbauer eindeutig zu -, dass sie sich
engagierter als bisher für die Interessen des Bundes, der
Länder und der deutschen Wirtschaft einsetzt.
({1})
Man hat den Eindruck, dass die rot-grüne Bundesregierung in Brüssel keine allzu große Autorität besitzt. Die
Folge ist die Beschneidung nationaler Spielräume. Aber
gerade für Gebiete, die von der EU-Osterweiterung besonders betroffen sein werden, sind eigenverantwortliche,
nationale Handlungsmöglichkeiten immens wichtig.
Deutschland hat jetzt nur noch die Chance, in den Beitrittsverhandlungen so aufzutreten, dass es einerseits anerkennt, dass EU-Strukturfondsmittel - wir haben sie
schließlich durch unsere Einzahlungen maßgeblich zur
Verfügung gestellt - sehr wohl in die Beitrittsländer weitergeleitet werden, dass es andererseits aber auch die
Möglichkeit hat, den Strukturwandel in den Grenzgebieten Deutschlands eigenverantwortlich weiterhin zu unterstützen. Es darf nicht sein, dass die Missbrauchskontrolle
der Europäischen Union zur Verhinderungsstrategie jeder
nationalen Förderung missbraucht wird.
({2})
Gerade in diesem Punkt erwarten wir - ich sage es noch
einmal - ein stärkeres Engagement der Bundesregierung.
Die Osterweiterung - daran soll nicht der leiseste
Zweifel bestehen - ist eine politische Notwendigkeit und
eine wirtschaftliche Chance. Aber wir dürfen auch deren
Risiken nicht übersehen, insbesondere diejenigen für die
grenznahen Regionen, sowohl in West als auch in Ost.
Wenn vermieden werden soll, dass es zu Standortverlagerungen oder zu Kundenbewegungen massiven Ausmaßes
in die Beitrittsländer kommt, dann muss sich die Regierung dafür einsetzen, dass die Strukturnachteile ausgeglichen werden können. Dabei ist die Wirtschaft in den
neuen Bundesländern in einer besonders kritischen Situation, weil in den Unternehmen oft finanzielle Rücklagen
fehlen - dadurch können Schwankungen schlecht ausgeglichen werden - und wir von einer wirtschaftlichen Stabilität insgesamt noch weit entfernt sind.
Allerdings hat die Bundesregierung gerade an dieser
Stelle die Weichen in die falsche Richtung gestellt. Anstatt
dass mit der GA die Wirtschaft weiter stabilisiert wird, erfolgt eine massive Kürzung der Wirtschaftsförderung in
den neuen Bundesländern, und zwar, um es in Zahlen auszudrücken, von 1998 bis 2004 um immerhin 42 Prozent,
({3})
das heißt von 2,94 Milliarden DM auf 1,7 Milliarden DM.
Ich halte dies schlicht für unverantwortlich.
({4})
Dabei müssten die Zahlen der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern bei der Bundesregierung die Alarmglocken klingeln lassen; denn das Wirtschaftswachstum fällt im Vergleich zu den alten Bundesländern und die Arbeitslosigkeit stagniert auf sehr hohem
Niveau.
({5})
Noch 1998 wollte sich der neu gewählte Bundeskanzler
an der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit messen lassen.
({6})
Wenn man sich die Ergebnisse in den neuen Bundesländern ansieht, dann erkennt man:
({7})
- Hören Sie mir doch erst einmal zu! Ich sage, wie die
Zahlen in der Realität aussehen.
1998 betrug die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern 17 Prozent. Im Jahr 2000 wird sie bei ungefähr 17,1 Prozent liegen. Im günstigsten Fall wird sie im
kommenden Jahr - auch nach Aussage der Wirtschaftsweisen - um 0,4 Prozentpunkte sinken. Anders ausgedrückt: Die Arbeitslosigkeit betrug 1997 im Osten ungefähr das 1,8fache der Arbeitslosigkeit im Westen. Sie wird
im Jahr 2001 das Zweieinhalbfache der Arbeitslosenquote
im Westen betragen. Wer dann noch davon spricht, dass
bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in den neuen
Bundesländern ein maßgeblicher Erfolg erzielt worden
ist, der verkleistert schlichtweg die Augen der Menschen.
({8})
Vor dem Hintergrund der Lage, in der sich die neuen
Bundesländer befinden, ist die massive Kürzung der Regionalförderung unverantwortlich. Im Entschließungsantrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu diesem Tagesordnungspunkt ist von „Verstetigung der Mittel“ oder
von einer „erfolgreichen Politik der Bundesregierung zur
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“ die Rede. Ich empfinde das als Verhöhnung der Menschen in den neuen
Bundesländern.
({9})
Meine Damen und Herren, wir brauchen eine Bundesregierung, die in der Lage ist, sich in Brüssel durchzusetzen. Wir brauchen aber mindestens genauso dringend eine
Bundesregierung, die im eigenen Land etwas bewegen
kann, statt es zu lähmen.
Vielen Dank.
({10})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Christel Humme für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Herr Klinkert, im Oktober hatten wir den niedrigsten Stand der Arbeitslosigkeit seit
sechs Jahren - gute Aussichten für das kommende Jahr.
({0})
Auch die fünf Weisen haben gestern einen weiteren
Rückgang der Arbeitslosigkeit um 200 000 Personen vorausgesagt. Gleichzeitig verzeichnen sie hohe Wachstumsraten der Wirtschaft von 3 Prozent in diesem Jahr und
im nächsten Jahr.
({1})
Das ist das Ergebnis der erfolgreichen Wirtschafts-,
Wachstums- und Beschäftigungspolitik der Bundesregierung. Auch die ostdeutsche Wirtschaft wächst. So ist dort
das verarbeitende Gewerbe mit einem Produktionszuwachs von 8,4 Prozent in 1999 erstmalig zum Träger von
Wachstum und Beschäftigung geworden.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, trotz - da gebe ich
Ihnen teilweise Recht - vieler anderer positiver Signale
profitieren die Arbeitsmärkte in den neuen Ländern noch
nicht in gleichem Maße wie die Arbeitsmärkte in den alten Ländern. Das ist korrekt. In Bezug auf die Arbeitslosenquote ist Deutschland immer noch in Ost und West gespalten. Deshalb begrüßen wir es ausdrücklich, dass
Bundesregierung und Bundesländer weiterhin auf die
Strukturpolitik setzen. Solange nämlich die Lebensverhältnisse gespalten sind, gibt es zur regionalen Wirtschaftsförderung, so wie sie hier mit dem 29. Rahmenplan
der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“ vorgelegt wurde, keine Alternative.
Eine effektive Strukturpolitik muss allerdings bestimmte Zielgruppen genauer ins Auge fassen. So zum
Beispiel die Zielgruppe der Frauen, die der Kollege
Werner Schulz dankenswerterweise bereits in seiner Rede
berücksichtigt hat. Kaum eine Gruppe in Deutschland ist
auf so bedrückende Weise von Arbeitslosigkeit betroffen
wie die Frauen in Ostdeutschland. Der Einbruch bei der
Beschäftigung nach der Wende traf Frauen in den neuen
Bundesländern besonders stark. Bis heute, zehn Jahre danach, stellt sich der Arbeitsmarkt für Frauen nach wie vor
weitaus ungünstiger dar als der für Männer. So liegt in den
neuen Bundesländern die Arbeitslosenquote von Frauen
im Jahre 1999 mit 19,8 Prozent deutlich höher als die der
Männer, die bei 15,5 Prozent liegt; nämlich um mehr als
ein Viertel.
Hinzu kommt, dass Frauen es immer noch sehr viel
schwerer haben, Arbeit zu finden. Nach Angaben der
Bundesanstalt für Arbeit lag die durchschnittliche
Dauer der Arbeitslosigkeit von Frauen mit 36 Wochen fast
50 Prozent über der der Männer, die bei 24,6 Wochen lag.
Im Vergleich zu den Frauen in den alten Bundesländern
schneiden die Frauen in den neuen Bundesländern
schlechter ab, denn sie sind mehr als doppelt so häufig arbeitslos.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, wir verzeichnen
also in einem doppelten Sinne gespaltene Lebensverhältnisse: zwischen den alten und den neuen Bundesländern
einerseits, zwischen Frauen und Männern in den neuen
Bundesländern andererseits. Wir stellen fest: Frauen sind
überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen. Von
den Erfolgen der regionalen Wirtschaftspolitik profitieren
sie aber nur unterdurchschnittlich.
Wir von SPD und Bündnis 90/Die Grünen stellen mit
unserem Entschließungsantrag auf eine zielgenaue Strukturpolitik ab. Deshalb wollen wir, dass künftig Förderkonzepte unter dem Gesichtspunkt entwickelt werden,
dass sie besser zur Überwindung der Frauenarbeitslosigkeit beitragen. Wir wollen im Rahmen einer Erfolgskontrolle die Maßnahmen ermitteln, die zur Überwindung der
Frauenarbeitslosigkeit besonders erfolgreich sind. Wir
wollen, dass künftig für die einzelnen Fördergebiete Arbeitsmarktdaten getrennt nach Frauen und Männern ausgewiesen werden.
Mit einer solchen zielgenaueren Zuschneidung der
Strukturpolitik leisten wir einen wesentlichen Beitrag zur
Effizienzsteigerung und zur Herstellung von Chancengleichheit. Das gebieten nicht nur das Grundgesetz und
der Amsterdamer Vertrag, das gebietet auch die ökonomische Vernunft. Das Potenzial unserer gut ausgebildeten
Frauen nicht richtig zu nutzen wäre nämlich eine
unglaubliche Verschwendung der einzigen Ressource, die
Deutschland hat: eine Verschwendung von Wissen, Bildung und Erfahrung. Deshalb bitte ich Sie, dem Ihnen
vorliegenden Entschließungsantrag zuzustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Letzter Redner in dieser Debatte ist Kollege Wolfgang Börnsen für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau
Präsidentin! Verehrte Kollegen! Verehrte Bürgerinnen
und Bürger!
Mir hat das Bild von Rainer Brüderle gut gefallen, die
EU-Regionalpolitik mit einem Dinosaurier zu vergleichen - kleiner Kopf und dicker Hintern, der alles platt
macht. Für mich ist die EU-Regionalpolitik eher noch wie
eine Krake. Sie erstickt immer mehr jede örtliche Initiative und das müssen wir gemeinsam ändern.
({0})
Die Regionalförderung der Vergangenheit, als es noch
mehr Mitsprache gab, war ein Erfolg, ablesbar besonders
an Arbeitsplätzen in den neuen Bundesländern. Von 1991
bis 1999 hat sie zur Sicherung von über 1 Million Arbeitsplätzen und zur Neuschaffung von 780 000 zusätzlichen Arbeitsplätzen beigetragen. Das ist ein großer Erfolg
für die regionale Strukturpolitik.
Die Regionalförderung hat Wachstumsimpulse gegeben und zu modernen Strukturen beigetragen. Wer mit offenen Augen durch die neuen Bundesländer fährt, erlebt,
dass sich eine ganze Region im Aufbruch befindet, hier
ein Modellraum entsteht, der Vorbild und Beispiel der europäischen Osterweiterung werden wird. Doch noch gibt
es strukturelle Verwerfungen, noch kann man von gleichen Lebensbedingungen in unserem Land nicht sprechen.
Für fast 40 Prozent der Bevölkerung gilt: Ihr Einkommen liegt bis zu 25 Prozent unter dem europäischen
Durchschnitt, so nachzulesen im Bericht der Bundesregierung zum 29. Rahmenplan. Er enthält weitere Feststellungen, die wir teilen: In den neuen Ländern ist die Aufholphase noch nicht abgeschlossen. Es gibt noch keinen
sich selbst tragenden Aufschwung am Arbeitsmarkt.
Und in den alten Ländern? Die Rahmenbedingungen
für schwach strukturierte Regionen haben sich eher verschärft als gemildert, der Anpassungsdruck für Schwachregionen hat zugenommen. Die krisenhafte Lage im
ländlichen Raum hat sich durch die EG-Agrarreform
wesentlich verstärkt. Sie belastet die deutsche Landwirtschaft in Zukunft mit 5 Milliarden DM zusätzlich. Das
Höfesterben nimmt zu. Aktuell kommt hinzu, dass der
Truppenabbau gerade in den Randräumen Deutschlands
eine folgenreiche zusätzliche Belastung mit sich bringt.
Doch trotz dieser Herausforderungen, die ein Mehr an
Maßnahmen und Mitteln erfordern, hat es in der regionalen Strukturpolitik eine Tendenz- und Wirkungswende gegeben. Tatsache ist: Seit dem 1. Januar 2000 ist der Förderumfang in Deutschland durch die EU-Kommission
drastisch reduziert worden, von 40,7 Prozent der Gesamtbevölkerung auf 34,9 Prozent, fast 6 Millionen Einwohner weniger. Bei Ziel-2-Gebieten hat Brüssel bei
10,3 Millionen Menschen Schluss gemacht, dass heißt:
um über 5 Millionen Einwohner reduziert.
Tatsache ist: Die Förderkulisse in Deutschland-West ist
auf dem niedrigsten Stand, den es je gab. Tatsache ist: Die
EU hält immer mehr das Heft des Handelns in der Hand.
Nationale Eigenständigkeit wird immer stärker zurückgedrängt. Brüssel diktiert das Geschehen, verbunden mit einem teilweise unvertretbaren bürokratischen Aufwand.
Tatsache ist schließlich, dass die Regierung in ihrer
Antwort mehr oder weniger verschlüsselt mitteilt: Mit einem Ende der Regionalförderung in Deutschland ist im
Jahr 2006 zu rechnen. Tatsache ist aber auch, dass nur
noch mit EU-Mitteln Regionen gefördert werden, in denen die Kaufkraftparität weniger als 75 Prozent des europäischen Gesamtdurchschnitts beträgt.
Erinnern wir uns: Für fast 40 Prozent der Bevölkerung
hat die Regierung Förderung von Brüssel gefordert. Das
bedeutet, dass fast 40 Prozent unserer Bevölkerung in
Einkommensverhältnissen leben, die unter dem europäischen Durchschnitt liegen. Es gibt also eine Wohlstandsgrenze in unserem Land, nicht nur zwischen Ost und
West, sondern noch mehr zwischen Ballungsräumen und
ländlichen Räumen, und sie wird durch steigende Energiekosten und durch die Ökosteuer immer weiter verschärft.
({1})
Wer Binnenwanderung verhindern will, die zu neuen
großen Problemen in unserem Land führen wird, muss zügig unserem Verfassungsauftrag zur Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse gerecht werden. Allein die
Binnenwanderung zwischen Ost und West betrug in den
letzten zehn Jahren 1 Million Menschen.
Die Regierung argumentiert: Die neuen Bundesländer
bleiben mit 20 Milliarden DM in der höchsten Förderstufe
bis 2006. 500 Millionen DM zusätzlich fließen jährlich in
die Strukturförderung. Deutschland erhält also noch einmal einen anständigen Schluck aus der Pulle, bis es in Sachen Regionalhilfe Tabula rasa gibt. Doch der Schluck
bleibt im Hals stecken, wenn man die Gesamtleistung
Deutschlands in Brüssel und die Rückflüsse vergleicht.
Im Einzelplan 60 unseres Haushalts ist nachlesbar:
Deutschland wird in diesem Jahr 42,8 Milliarden DM an
die EU abführen und erhält 21 Milliarden DM zurück, weniger als 50 Prozent. Für 2001 sind 44,9 Milliarden DM
vorgesehen, für 2002 45,9 Milliarden DM. Das sind fast
26 Prozent des EU-Haushalts, Tendenz steigend. Die
Rückflüsse dagegen stagnieren bei gut 21 Milliarden DM.
Von einer Steigerung der Strukturmittel ist keine Rede, sie
bleiben für sieben Jahre eingefroren.
Einen tatsächlichen Rückgang gibt es bei den nationalen Mitteln für die Gemeinschaftsaufgabe. Gab es in
Deutschland West 1991 noch 1 Milliarde DM, gibt es
heute im neuen Haushalt nur noch 242 Millionen DM,
also 750 Millionen DM weniger. Ich finde - da sind wir
uns ja auch alle einig -, dieser Abbau muss gestoppt werden.
Wir von der Union erwarten: Es darf zu keinem Ende
der Regionalförderung nach 2006 kommen.
({2})
Die Regionalförderung muss raus aus der europäischen
Zentralisierung, wieder zurück in nationale Kompetenz.
Es darf nicht bei dem alleinigen Initiativrecht der EU in
der Regionalpolitik bleiben. Den nationalen Regierungen
ist das Initiativrecht einzuräumen. Es muss auch nach
2006 ein Programm für periphere Regionen geben. Der
Antrag unserer Fraktion, ein Grenzlandgürtel-Aktionsplan, sollte eine breite Unterstützung erfahren. - Wir erwarten in diesen fünf Punkten aktives Regierungshandeln.
In der Regionalpolitik hat es in der Vergangenheit stets
eine breite parlamentarische Basis gegeben. Dabei sollte
es bleiben. Unsere überfraktionelle Initiative, für die armen Schlucker zu streiten, hat zweifellos dazu beigetragen. Für die Unterstützung dabei möchte ich mich besonders bei meinem Kollegen Christian Müller sowie bei der
APER bedanken, die mit Umsicht die Interessen der Region wahrnehmen.
Doch auch die APER ist der Auffassung, dass die Praxis der Regionalförderung eine Reform braucht. Eine Betriebsgründung in Neubrandenburg wird mit 50 Prozent
EU- und GA-Fördermitteln bezuschusst, in Berlin mit fast
30 Prozent, in meiner Heimatstadt Flensburg mit 15 Prozent, weil Schleswig-Holstein keine Ergänzungsmittel
aufbringen kann.
Herr Kollege, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich
komme zum Schluss. Alle Städte gehören zu Fördergebieten. Wie wird wohl ein Betriebsgründer bei diesen unterschiedlichen Bedingungen entscheiden?
Wir brauchen eine Veränderung dieser Bedingungen.
Wir brauchen ein Ende der Wettbewerbsverzerrung bei
der Regionalförderung. Wir brauchen mehr Gerechtigkeit.
Herzlichen Dank.
({0})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/3250 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Entschlie-
ßungsantrag auf Drucksache 14/4623 soll an dieselben
Ausschüsse überwiesen werden. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b und ,
wie heute Morgen beschlossen, die Tagesordnungspunkte
16 a und 16 b auf:
5 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Guido
Westerwelle, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Dr. Max
Stadler, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Regelung der Zuwanderung
- Drucksache 14/3679 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Guido
Westerwelle, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Dr. Max
Stadler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der F.D.P.
„Berliner Rede“ des Bundespräsidenten umsetzen - Zuwanderung nach Deutschland verbindlich regeln
- Drucksache 14/3697 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
16 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Beauftragten der Bundesregierung
für Ausländerfragen über die Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksache 14/2674 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik-
folgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Eva Bulling-Schröter, Roland Claus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Kurdische Namensgebung in der Bundesrepublik Deutschland ermöglichen
- Drucksache 14/3749 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen, wobei die F.D.P.Fraktion zehn Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Guido Westerwelle von der F.D.P.-Fraktion.
Wolfgang Börnsen ({4})
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will
zunächst eine Bemerkung zu der Tatsache machen, dass
wir eine verbundene Debatte führen. Unabhängig von
Geschäftsordnungsüberlegungen möchte ich mein persönliches Empfinden zum Ausdruck bringen, dass ich es
sehr bedauere, dass der Bericht der Ausländerbeauftragten, den ich für ein sehr bemerkenswertes Dokument
halte, sozusagen an diese Debatte angehängt beraten werden muss. Dieser Bericht hätte eine eigene Debatte in diesem Hause verdient,
({0})
weil eine Reihe von hervorragenden Anregungen in ihm
enthalten sind. Vieles, was dort enthalten ist, entspricht
nicht meiner Meinung und auch nicht der Meinung meiner Fraktion; aber darum geht es an dieser Stelle nicht.
Der Bericht wäre eine exzellente Diskussionsgrundlage
gewesen. Ich bedauere es nachdrücklich und halte dieses
Vorgehen für einen großen Fehler.
({1})
Wir reden in Deutschland auf der einen Seite immer
davon, dass die Migrationspolitik eine zentrale Aufgabe
für unsere Gesellschaft darstelle. Wenn aber der Bundestag durch eine entsprechende Debatte zum Ausdruck bringen kann, dass es sich um eine solch zentrale Angelegenheit unserer Gesellschaft für die Zukunftsfähigkeit
handelt, dann müssen wir auf der anderen Seite erleben,
dass die verschiedenen Punkte in einen Topf geworfen
werden, sodass eine Differenzierung kaum noch möglich
ist.
({2})
Wir Freien Demokraten legen heute zum zweiten
Mal einen entsprechenden Gesetzentwurf vor. Er wurde
erstmalig 1997 vom Bundesrat auf Initiative von Rheinland-Pfalz eingebracht. Dieser Gesetzentwurf trägt die
Handschrift des verstorbenen Justizministers von
Rheinland-Pfalz, Peter Caesar, der gewissermaßen noch
im Nachhinein ein großes Kompliment für seine Arbeit
bekommt. Denn dieser Gesetzentwurf ist auch heute noch
modern und zeitgemäß. Lange bevor in diesem Haus darüber diskutiert wurde, ob wir eine Zuwanderungsregelung brauchen, hat er das Problem erkannt und Lösungen vorgelegt. Lange Zeit gab es in diesem Hause keine
Bereitschaft - von der Bereitschaft Einzelner abgesehen -,
die Zuwanderungspolitik endlich als eine Chance und als
eine Notwendigkeit für die Politik zu begreifen. Es ist
wirklich bemerkenswert, dass Peter Caesar als Mitglied
der sozialliberalen Regierung von Rheinland-Pfalz schon
lange vor der Zeit einen solchen Gesetzentwurf vorgelegt
hat.
({3})
Heute diskutieren wir über diesen Gesetzentwurf, der
natürlich - das ist gut so - überarbeitet und aktualisiert
worden ist, um die Erkenntnisse aus den Debatten der
letzten Jahre aufzugreifen. Eine moderne Migrationspolitik muss nach Auffassung der Freien Demokraten auf
zwei Säulen stehen: Wir müssen erstens diejenigen, die in
Deutschland leben, auf vernünftige Weise integrieren,
und wir müssen zweitens denjenigen, die nach Deutschland kommen, ein geregeltes Zuwanderungsverfahren ermöglichen.
({4})
Jeder andere Ansatz wäre nicht zeitgemäß.
Wir haben in dieser Legislaturperiode - über die Parteigrenzen hinweg - schon ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht beschlossen, das ein Optionsmodell
beinhaltet. Dieses Optionsmodell kommt übrigens den
Regelungen sehr nahe, die die Landesregierung von
Rheinland-Pfalz und die wir als Freie Demokraten seinerzeit eingebracht hatten. Dieser Teil der in dieser Legislaturperiode anstehenden Aufgabe ist erledigt. Die Erledigung des anderen Teils liegt noch vor uns.
Es ist aus unserer Sicht ein Fehler, wenn Kommissionen - egal, ob es sich um eine Regierungskommission
oder um, wie bei der Union, eine parteigebundene Kommission handelt -, die sich mit einer modernen Zuwanderungspolitik beschäftigen, lediglich als Instrument der
Vertagung dienen.
({5})
Wir möchten mit unserem Gesetzentwurf parlamentarischen Druck aufbauen, damit noch in dieser Legislaturperiode ein modernes Zuwanderungsrecht im Interesse
aller in Deutschland Lebenden beschlossen wird.
Herr Kollege
Westerwelle, gestatten Sie Zwischenfragen der Kollegen
Cem Özdemir und Dieter Wiefelspütz?
Ja, selbstverständlich.
Ich
danke Ihnen, dass Sie uns die Möglichkeit geben, Zwischenfragen zu stellen.
Herr Kollege Westerwelle, angesichts der Tatsache
- Sie haben vorhin das Staatsangehörigkeitsrecht angesprochen und die Rolle von Rheinland-Pfalz bei dem Versuch, einen Kompromiss zu finden, erwähnt -, dass Ihre
Fraktion einen Antrag vorgelegt hat, der eine Gebührensenkung und eine Verlängerung der Frist beinhaltet, bis zu
der die Kinder nachträglich in den Genuss des Geburtsrechts kommen, möchte ich Sie fragen: Sind Sie mit mir
darin einig, dass die Tatsache, dass gerade die erste
Generation von dem Angebot des neuen Staatsangehörigkeitsrechts weniger Gebrauch macht, als es vor der Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts der Fall war, ein Beleg dafür ist, dass gerade die Teile, die Rheinland-Pfalz in
das Gesetz eingebracht hat, dazu beigetragen haben, dass
die Akzeptanz des Gesetzes bei denen, für die wir das Gesetz gemacht haben, nämlich den Nichtdeutschen, leider
nicht so ist, wie wir uns das wünschen sollten?
Nein, dieser Meinung bin ich nicht. Ich glaube auch, dass Sie da die Initiative der Freien Demokraten gründlich missverstehen
wollen.
Zunächst zur Frage hinsichtlich der ersten Generation.
Ich bin unverändert der Auffassung - das ist die Meinung
meiner Fraktion und es ist das, was der Deutsche Bundestag auf unsere Initiative hin beschlossen hat -, dass jemand, der seit Jahrzehnten in Deutschland lebt, beurteilen
kann, ob er die deutsche Staatsangehörigkeit braucht.
Wenn das so ist, braucht er keine zweite.
Das Zweite, was dazu gesagt werden muss, betrifft die
Kinder, die bereits geboren sind. Wir haben in unserem
Gesetz, das wir über die Parteigrenzen hinweg verabschiedet haben, beschlossen, dass sich die Kinder, die in
Deutschland geboren werden und mit dem deutschen Pass
groß werden, dann, wenn sie volljährig sind, entscheiden
müssen, ob sie den Pass ihrer Eltern oder den deutschen
Pass haben möchten. Denn wir sind der Meinung, Integrationspolitik setzt ein Integrationsangebot, aber auch
eine bewusste Integrationsentscheidung der Betroffenen
voraus.
Jetzt ging es um die Übergangsregelung für Kinder, die
bereits in Deutschland geboren wurden und für die wir im
Gesetz eine so genannte analoge Regelung beschlossen
haben. Die Praxis zeigt, dass zum Beispiel die Gebühren
in diesem Zusammenhang ein Hindernis für etwas sind,
was wir politisch erreichen möchten, nämlich dass möglichst viele Kinder die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen, damit sie sich hier integrieren. Wenn man nun
aufgrund der Erfahrungen mit dem Verwaltungsverfahren
nach einem Jahr zu neuen Erkenntnissen gelangt ist, dann
wäre es doch borniert, wenn der Deutsche Bundestag
diese nicht zur Kenntnis nehmen und seine gesetzgeberischen Konsequenzen nicht dementsprechend ziehen
würde.
({0})
Deswegen haben wir unseren Antrag vorgelegt.
Wenn Sie das genauso sehen, ist es mir gleichgültig, ob
Sie in der Debatte sagen: Das habe ich, Özdemir, schon
vor 80 Jahren gesagt. - Meinetwegen, Hauptsache, Sie
stimmen zu.
({1})
Herr Kollege
Wiefelspütz, Ihre Frage bitte.
Frau Präsidentin,
ich möchte ausdrücklich erklären: Ich wollte den Kollegen Özdemir nicht kränken, indem ich den Eindruck erwecke, er sähe aus wie 80.
({0})
Bitte, Herr Wiefelspütz.
Herr Kollege Westerwelle,
Sie haben gerade die so genannte Zuwanderungskommission als Verschiebebahnhof kritisiert, wenn ich das richtig
verstanden habe. Sind Sie denn ernsthaft der Auffassung,
Kollege Westerwelle, dass unsere frühere Kollegin Frau
Schmalz-Jacobsen, Ausländerbeauftragte der damaligen
Bundesregierung - von uns allen sehr geschätzt -, dieser
Kommission ihre Arbeitskraft, ihr Engagement, ihre Begabung, ihre schöpferische Leistung
({0})
in der Erkenntnis zur Verfügung stellt, dass dies ein Verschiebebahnhof ist? Das kann ich nicht glauben. Widerlegen Sie mir das bitte!
Zunächst einmal,
Herr Kollege, möchte ich ausdrücklich die positiven
Attribute, die Sie mit meiner Parteifreundin Cornelia
Schmalz-Jacobsen verbunden haben, unterstreichen.
({0})
Mir wäre es lieb gewesen, Sie hätten das schon in der alten Legislaturperiode öffentlich so gesagt.
({1})
Nun jenseits der Frotzelei mit großem Ernst: Nein, ich
bin nicht der Auffassung, dass diese Kommission ein Fehler ist, überhaupt nicht.
({2})
Im Gegenteil, wenn Sie, Herr Kollege, nachlesen, was ich
hier im Bundestag schon mehrfach gesagt habe, werden
Sie feststellen, dass ich immer der Meinung war, dass die
Einsetzung der Kommission sinnvoll ist. Meine Partei
will aber verhindern - deswegen machen wir parlamentarischen Druck -, dass diese Kommission lange als
Verschiebebahnhof gebraucht wird, weil man Angst vor
der eigenen Courage hat. Wir wollen, dass in dieser Legislaturperiode nicht nur getagt, sondern ein Gesetz verabschiedet wird.
({3})
- Das war die Arroganz der Macht, Herr Kollege
Wiefelspütz. Die sollten Sie sich nach zwei Jahren noch
nicht angewöhnen.
({4})
Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen,
auch der Herr Bundespräsident hat sich mit sehr klaren
Worten für eine gesetzliche Einwanderungsregelung ausgesprochen. Er hat am 12. Mai dieses Jahres eine bemerkenswerte Berliner Rede gehalten. Dort finden wir auch
Aussagen zur Notwendigkeit einer entsprechenden Einwanderungssteuerung. Wenn ein Verfassungsorgan, in
dem Falle unser Bundespräsident, diese in kurzen, prägnanten Worten als Notwendigkeit beschreibt, dann steht
es dem Deutschen Bundestag gut an, wenn er eine solche
Initiative des Bundespräsidenten begrüßt und damit zum
Ausdruck bringt, dass er in diesem Fall für uns alle gesprochen hat.
({5})
Deswegen rechne ich mit Ihrer Zustimmung, was den vorliegenden Antrag angeht. Ich glaube, das ist wirklich das
Mindeste, was man erwarten kann.
Ich möchte mich noch einmal an Sie von den Grünen
wenden - denn ich habe mir natürlich angeschaut, was Sie
in Ihrem Parteirat beschlossen haben, und in dem Papier
nachgelesen, das Sie in diesem Zusammenhang gemeinsam vorgelegt haben -: Sie müssen erkennen, dass die
Zeit, in der Sie in der Opposition waren, vorbei ist. Heute
erwartet man von Ihnen nicht Denkschriften, sondern Gesetzentwürfe.
({6})
Wenn Sie in der Regierung sind, können Sie nicht nur beschreiben und formulieren, was Sie gerne hätten. Vielmehr müssen Sie bereit sein, so mutig zu sein, den parlamentarischen Weg einzuschlagen. Sie haben bis heute
dazu keinen Gesetzentwurf eingebracht. Es ist traurig,
dass bis heute im Deutschen Bundestag nur ein Gesetzentwurf der F.D.P. bezüglich einer kontrollierten Zuwanderungssteuerung vorliegt.
({7})
Sie müssten meiner Einschätzung nach mehr machen, als
Sie bisher getan haben.
({8})
Aufsätze zu schreiben ist eine schöne Tätigkeit, Herr Kollege Özdemir. Das tue auch ich gelegentlich gerne. Aber
wir erwarten hier auch von Ihrer Fraktion Schwarzbrot.
({9})
Meine Damen und Herren, Kernpunkt einer Zuwanderungssteuerungspolitik muss sein, dass wir in Deutschland bereit sind zu quotieren. Wir müssen bereit sein,
Zuwanderungshöchstgrenzen festzusetzen. Der große
Unterschied zwischen Ihrer Politik und unserer Politik besteht derzeit darin, dass Sie eigentlich eine Politik einer
nach oben offenen Zuwanderung machen wollen,
({10})
während wir sagen: Zuwanderung braucht Höchstgrenzen
bzw. Höchstquoten und muss sich endlich auch an wohlverstandenen nationalen Interessen in unserem Lande
ausrichten.
({11})
Jedes Land in Europa und im Grunde genommen auch jedes andere Einwanderungsland geht einerseits den Weg
der Integration und andererseits vor allen Dingen auch
den Weg der gezielten Zuwanderungssteuerung. Wir in
Deutschland müssen selbstverständlich entscheiden, wen
wir zum Beispiel unter beruflichen Gründen, unter Bildungsgesichtspunkten und Altersstrukturgesichtspunkten
nach Deutschland einladen, wen wir hier haben möchten,
weil er, weil sie unser Land voranbringt. Das hat nichts
mit irgendwelchen humanitären Überlegungen zu tun und
nichts damit, dass Ansprüche aus Art. 16 des Grundgesetzes in irgendeiner Weise beschränkt werden sollen.
An die CDU/CSU gerichtet, möchte ich feststellen: Ich
halte es für einen großen Fehler der Konservativen, dass
sie die gesamte Diskussion über eine bessere Zuwanderungssteuerung, die heutzutage endlich geführt werden
muss, mit einer ziemlich platten Asyldiskussion verbinden.
({12})
Das Problem in Deutschland und das Problem unserer
Rechtslage ist nicht das Asylrecht. Wer, weil er verfolgt
und an Leib und Leben bedroht wird, in Deutschland
Schutz sucht, der muss in jedem Fall auch in Zukunft
Schutz finden.
({13})
Die Frage ist vielmehr: Haben wir nicht ein Vollzugsdefizit? Müssen die Länder nicht eine verbesserte Vollstreckung, was Abschiebungen angeht, durchführen? Ich
kann nicht akzeptieren, dass wir in Deutschland Asylbewerber haben, die rechtskräftig abgelehnt und sogar wegen Straftaten verurteilt wurden und dann anschließend
nicht in das Land zurückgeführt werden, aus dem sie kamen. Das gefährdet in Wahrheit die Akzeptanz des Asylrechts in Deutschland sehr viel mehr. Darüber muss meiner Einschätzung nach eine Diskussion geführt werden.
({14})
Pauschale Begriffe wie zum Beispiel „Leitkultur“ das Wort „Überlegenheitskultur“ würde sehr viel besser
passen ({15})
führen uns kein bisschen weiter. Sie müssen sich der sachlichen Auseinandersetzung stellen.
({16})
Wer nach Deutschland kommen will, der muss bereit sein,
sich zu integrieren, der muss natürlich unsere Sprache lernen,
({17})
sich auf den Boden unserer Verfassung begeben und unser Werteverständnis haben. Es ist ein Fehler, wenn Sie
diese ganze Diskussion beenden wollen, indem Sie ein
Schlagwort in die Welt setzen und mit einem Anspruch
der Überlegenheit jede differenzierte Diskussion erschlagen.
({18})
Das wollen wir als Freie Demokraten jedenfalls nicht.
Auch dies zeigt den Unterschied zwischen einer konservativen und einer modernen liberalen Partei.
({19})
Meine Damen und Herren, wir möchten - das ist eine
Diskussion, die wir in diesem Haus führen möchten und
müssen -, dass die Zuwanderungspolitik in Deutschland
auf ein gesetzliches Fundament gestellt wird.
({20})
Es ist für uns selbstverständlich, dass es humanitäre Ansprüche gibt. Es ist für uns selbstverständlich, dass Menschen, die verfolgt werden, Schutz brauchen. Aber ebenso
selbstverständlich muss sein, dass Deutschland berechtigt
ist, nach eigenem wohlverstandenen nationalen Interesse
selbst zu entscheiden, wer zu uns kommt und hier leben
soll. Integration gehört selbstverständlich dazu.
Diesen Weg werden Sie irgendwann - früher oder später - mitgehen. Sie werden behaupten, Sie hätten ihn erfunden. Sie werden diesen Weg mitgehen, da bin ich mir
ganz sicher.
({21})
Es spricht jetzt die
Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesinnenministerium, Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Westerwelle, ich glaube, niemand hier im Haus braucht
ein Patent darauf anzumelden, dass er der Erfinder eines
Einwanderungsgesetzes sei; denn bis auf CDU/CSU haben in den vergangenen Jahren alle Parteien, die hier
vertreten sind, ihre Konzepte entwickelt. Den Werdegang
in meiner Partei kenne ich nun wirklich genau.
({0})
Uns sollte nicht das Windhundprinzip leiten, sondern
die Einsicht, dass ein gutes Gesetz - ich betone: ein gutes
Gesetz ({1})
zur Steuerung der Zuwanderung sorgfältige Vorarbeit
voraussetzt: umfangreiche Datensammlungen und Prognosen, den Blick über den Tellerrand unserer nationalen
Grenzen hinaus, klare begriffliche Zuordnungen und
nicht zuletzt - das ist sehr wichtig - das Werben um die
Akzeptanz bei den Bürgern.
({2})
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., legen offenbar mehr Wert auf Profilierung als auf Konsens.
({3})
Das finde ich schade, denn einige Elemente Ihres Gesetzentwurfs sind erwägenswert und greifen Vorschläge auf,
die wir schon vor etlichen Jahren gemacht haben.
({4})
So bringt die F.D.P., Herr Zeitlmann, noch einmal die
Überlegung ein, die Entscheidung über die Aufnahme von
Zuwanderern in Deutschland nicht nur wirtschafts-, arbeitsmarkt- und entwicklungspolitisch, sondern auch unter Berücksichtigung humanitärer Gesichtspunkte zu treffen. - Herr Westerwelle, Sie haben offenbar übersehen,
dass es in Ihrem eigenen Entwurf auch um humanitäre
Aspekte ging. - Ich finde es ebenso richtig, dass man die
Vorbedingungen beim Namen nennt, die ein Interessent
erfüllen muss, damit sein Zuwanderungsantrag angenommen werden kann. Andere Teile dieses Gesetzentwurfs aber sind wenig durchdacht, sie sind bürokratisch
und setzen vor allem zu einseitig auf die Pflichten des Zuwanderers, anstatt ihm auch Angebote zu Hilfen und
Entgegenkommen bei der Eingliederung zu machen.
Die neuen Chancen, die die Bundesregierung ausländischen Computerspezialisten einräumt, als „kurzfristige
bereichsspezifische Spezialregelung“ abzutun, führt in
die Irre.
({5})
Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, welche Bresche die
Green-Card-Initiative der Bundesregierung in eine absolut festgefahrene und von Vorurteilen und Denkblockaden
überwucherte öffentliche Diskussion über Migrationsfragen geschlagen hat!
({6})
Die Wirkung war so stark, dass sich die CDU in ihrem
neuen Thesenpapier von dem Dogma, dem zufolge
Deutschland kein Einwanderungsland sei, gelöst hat
und zur - freilich sehr späten - Einsicht gekommen ist.
Das möchte ich Ihnen, den Kollegen von der Union, ausdrücklich bescheinigen. Sie haben sich bewegt, wenn
auch zehn bis 15 Jahre zu spät. Sie haben das zweifellos
in dem Bemühen getan, die tiefe Kluft zwischen sich und
der Wirtschaft ein bisschen zu überbrücken.
({7})
So weit, so gut. Es wäre alles ganz ordentlich gelaufen,
hätten sich nicht Herr Merz und Frau Merkel selber mit
der unseligen und unsäglichen Leitkultur-Debatte wieder in den Sumpf hineingezogen. Welch eine vertane
Chance! Es geht doch nicht an, dass Sie vormittags von
Weltoffenheit und Toleranz sprechen und Solidarität mit
den Minderheiten in unserer Gesellschaft bekunden und
abends mit deren Ausgrenzung auf Stimmenfang gehen.
Eine solche Politik darf es nicht geben.
({8})
Es geht auch nicht an, unsere christlich-abendländische
Tradition zum Fundament unseres Zusammenlebens zu
erklären, dabei aber völlig zu ignorieren, dass wir es mittlerweile auch mit Menschen anderer Religionsgemeinschaften zu tun haben, die friedlich und auf Dauer bei uns
leben wollen.
Professor Oberndörfer, Politologe und Vorsitzender
des Rates für Migration, schreibt:
Zur Kultur der Bundesrepublik Deutschland gehören
schon jetzt die religiösen Vorstellungen seiner jüdischen, muslimischen oder buddhistischen Staatsbürger. Einzelnen Minderheiten oder auch Mehrheiten
wird die Freiheit des Bekenntnisses und der Werbung für ihre jeweiligen kulturellen Werte eingeräumt. Deren Verbindlichkeit für die Gesamtheit
aber darf im modernen Verfassungsstaat nicht vom
Staat und seinen Organen eingefordert und erzwungen werden.
Ich glaube, Sie haben nicht erkannt, was dahinter steckt.
({9})
Da sich die CSU abermals vom Begriff des Einwanderungslandes Deutschland abgrenzt - wenn auch mit der
relativierenden Einschränkung „klassisch“ -, und zugleich mit ihrer Absicht, das Asylrecht zu beschneiden,
nicht hinterm Berg hält, während die CDU in dieser Frage
offen bleibt, haben wir es - leider - mit einer tief gespaltenen Union zu tun.
({10})
Das kann uns freilich nicht davon abhalten, in der Frage
der Zuwanderung nach einem breiten Konsens zu suchen;
dies halte ich für sinnvoll.
Die Bundesregierung hat großes Vertrauen in die Arbeit der kritisch gewürdigten Zuwanderungskommission unter Leitung von Frau Süssmuth. Auch die Bürgerinnen und Bürger begleiten diese Arbeit mit Sympathie.
Ich kann nur an alle im Bundestag vertretenen Parteien
ausdrücklich appellieren, die Empfehlungen, die diese
Kommission im nächsten Sommer vorlegen wird, zu beherzigen.
Wir kommen in der Debatte nur weiter, wenn wir Vorteile und Probleme der Migration offensiv und sachlich
beim Namen nennen. Der Beitrag des Zuwanderers für
unser gedeihliches Zusammenleben bezieht sich nicht nur
auf Arbeits- und Kaufkraft, auf Steuerzahlungen und Sozialversicherungsabgaben, sondern zum Beispiel auch auf
die Leistungen als Unternehmer und die integrationsfördernde Wirkung, die von ausländischen Familien ausgeht.
Zum Bericht der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung sage ich ausdrücklich, dass wir ihn im Unterschied
zur früheren Bundesregierung nicht cool-distanzierend
abtun, sondern als einen wertvollen Beitrag zur migrationspolitischen Debatte gewürdigt wissen wollen.
Ebenso wahr ist auch, dass nicht jeder Neuankömmling mit edlen Absichten hierher kommt, dass es Abschottungstendenzen und den Trend zu Parallelgesellschaften
gibt. Nicht ohne Grund stellt die Bundesregierung im
neuen Staatsangehörigkeitsrecht Anforderungen an
Sprachkenntnisse und an Verfassungstreue.
({11})
Ich glaube auch, dass wir künftig die auf Dauer angelegte
Zuwanderung mit klaren und verbindlichen Regelungen
für die Integration verknüpfen sollten. Dass sich Zuwanderer sprachlich schulen, beruflich orientieren und auf unser Grundgesetz einlassen sollen, halte ich für selbstverständlich.
({12})
Allerdings muss ihnen der aufnehmende Staat auch den
Weg dafür ebnen: mit erschwinglichen Sprachkursen sowie Rat und Betreuung. Vielleicht können wir uns vom
niederländischen Modell der Eingliederungsvereinbarung
anregen lassen, ohne es völlig zu kopieren.
Eines sollten wir in diesem Zusammenhang hier im
Parlament gemeinsam festhalten: Das verbale Sortieren
von Zuwanderern in solche, die uns nützen, und solche,
die uns ausnützen, ist menschenverachtend und gehört
nicht in diese Auseinandersetzung.
({13})
Der Bundespräsident hat andere, wie ich finde, sehr viel
treffendere Ausdrücke gewählt. Er sprach von Menschen,
die uns brauchen, und Menschen, die wir brauchen. Beides markiert die möglichen Wege nach Deutschland. Der
erste war zweifellos bisher der vorherrschende: Asylsuchende, Bürgerkriegsflüchtlinge, nachziehende Familienmitglieder, Aussiedler und Kontingentflüchtlinge sind gekommen. Das wird und muss auch in Zukunft möglich
sein.
({14})
Ob und wie wir nun den zweiten Weg öffnen - durchaus
auch aus eigenen Interessen, die demographisch, beschäftigungspolitisch und humanitär begründet sind -, wird in
naher Zukunft zu entscheiden sein - wenn möglich, im
Konsens der Demokraten.
Konfuzius ist einmal gefragt worden, was er als Erstes
täte, wenn er die Regierungsgewalt übernehmen könnte.
Er hat geantwortet: Ich würde zuerst die Begriffe richtig
stellen. Jetzt hören Sie bitte gut zu; denn es ist klar, was er
meinte, Herr Kollege Marschewski. Er meinte, man
müsse richtige und einfache Namen benutzen, um im
Kopf und im Herzen Ordnung zu schaffen.
({15})
Nur so kann man die Köpfe und Herzen anderer Menschen erreichen und vermeiden, dass mit Schlagworten
Missbrauch betrieben wird.
Ich glaube, Sie wissen, worauf ich in meiner Schlussanmerkung hinaus möchte, nämlich auf den Appell, liebe
Kolleginnen und Kollegen, das Wort „Leitkultur“ aus
dem Verkehr zu ziehen,
({16})
und zwar ganz und gar, egal, ob man nun zwischen
„deutsch“ oder „in Deutschland“ unterscheidet. Nach allem, was bei uns geschehen ist, einschließlich der barbarischen Zerstörung kultureller Vielfalt in der NS-Diktatur,
sollten wir nicht mehr „leiten“ wollen. Mit einer Kultur
der Bescheidenheit kommen wir sehr viel besser zurecht.
Herr Kollege Westerwelle, eines möchte ich Ihnen zum
Schluss noch ganz kurz sagen: Richten Sie Ihr flammendes Plädoyer für eine günstigere Gebühr für die Einbürgerung ausländischer Kinder unter zehn Jahren
- darin stimmen wir alle, auch wir im Bundesinnenministerium, überein - doch bitte auch an die Länder und gewinnen Sie sie dafür, indem sie mit Verantwortung tragen!
Dann kämen wir vor allen Dingen in der Verwaltungspraxis, die dies unter bestimmten Voraussetzungen ermöglicht, sehr viel weiter und könnten in den verbleibenden
sechs Wochen, die diese gesetzliche Regelung noch vorsieht, vielen Kindern die Einbürgerung zu erträglichen
Bedingungen ermöglichen.
Danke schön.
({17})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Wolfgang Bosbach.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In leicht modifizierter
Form liegt uns heute der recycelte Gesetzentwurf der
F.D.P. aus den Jahren 1997 und 1998 vor - damals noch
mit dem viel versprechenden Titel „Zuwanderungsbegrenzungsgesetz“, jetzt mit der neuen Überschrift „Gesetz
zur Regelung der Zuwanderung“. Das bietet Anlass, auch
im Deutschen Bundestag einmal über die Themen zu sprechen, über die in den vergangenen Wochen öffentlich heftig diskutiert wurde.
Asylrecht, Zuwanderungspolitik, Integration und
Staatsangehörigkeit sind wichtige Themen - und das zu
Recht; denn es sind Megathemen mit Bedeutung für die
Zukunft unseres Landes. Es geht um die Chancen und
Perspektiven, die sich aus einer vernünftigen, die Interessen unseres Landes hinreichend berücksichtigenden Zuwanderungspolitik ergeben, und um die Vermeidung der
Risiken, die zwangsläufig mit einer ungesteuerten und
nach derzeitiger Rechtslage nur sehr begrenzt steuerbaren
Zuwanderung verbunden sind.
Es geht auch darum, wie wir die vielfältigen Integrationsprobleme lösen und dadurch die Lebensperspektiven
der rechtmäßig und dauerhaft hier lebenden Ausländer
spürbar verbessern können. Es geht dabei um ein friedliches und soweit wie möglich konfliktfreies Miteinander
aller Menschen in unserem Lande, gleichgültig, welcher
Hautfarbe, Nationalität oder Religion sie sind.
Merkwürdigerweise halten wir uns immer noch viel zu
lange mit der Erörterung der angeblich so wichtigen Frage
auf, ob Deutschland nun ein Einwanderungsland sei
oder nicht. Gegenfrage: Welche neue Erkenntnis gewinnt
man eigentlich dadurch, dass man diese Frage - je nach
Einschätzung und Interesse - mit Ja oder Nein beantwortet?
({0})
Wer die Ansicht vertritt, jedes Land, in das Menschen einwandern, sei ein Einwanderungsland, wird selbstverständlich zu der Auffassung gelangen, Deutschland sei ein
Einwanderungsland. Wer meint, dass man zutreffenderweise nur solche Länder als Einwanderungsländer bezeichnen könne, die sich gezielt um Einwanderung
bemühen, der wird die Bundesrepublik selbstverständlich
nicht als Einwanderungsland bezeichnen, da wir seit dem
Jahre 1973 aus guten Gründen nicht mehr um Zuwanderung werben. Nicht zuletzt durch die Erörterung dieser
Frage drehen wir uns jetzt seit vielen Jahren rhetorischkraftvoll im Kreis und kommen keinen Meter von der
Stelle.
Vor wenigen Wochen begann eine erregte öffentliche
Debatte über die Frage, ob man denn auch in Wahlkampfzeiten über Zuwanderungspolitik sprechen darf.
Rot-Grün fürchtet diese Debatte offensichtlich deshalb,
weil viele inhaltliche Positionen in der Bevölkerung nicht
mehrheitsfähig sind.
({1})
Die Themen eines Wahlkampfes bestimmt der Wähler
nach den politischen Herausforderungen der Zeit und
nach seinen Problemen und Anliegen. Wer in die Wahlkabine tritt, der muss wissen, für welche Politik, aber auch
gegen welche Politik er sich mit seiner Stimmabgabe entscheidet.
Natürlich sind ausländer- und asylpolitische Themen
gleichermaßen wichtig wie sensibel. Diese Feststellung
kann aber im Umkehrschluss nicht bedeuten, dass sensible Themen im Wahlkampf nicht erörtert werden dürfen.
({2})
Ich ahne schon, was kommt: Die Rente ist so wichtig und
die Gesundheitspolitik ist so kompliziert; deswegen darf
die Union darüber nicht sprechen. Es kann doch nicht darauf ankommen, ob man über derartige Themen spricht,
sondern darauf wie: mit welchen Worten, mit welchen Argumenten und welche politischen Ziele man vertritt.
({3})
Wenn sich demokratische Parteien verabreden würden,
ausländerpolitische Themen in Wahlkämpfen zu tabuisieren, dann begingen wir einen verhängnisvollen Fehler.
Wir würden dann ungewollt jene extremen politischen
Kräfte stärken, die wir alle gemeinsam bekämpfen wollen.
({4})
In punkto Sensibilität muss sich die Abteilung RotGrün jedenfalls um CDU und CSU keine Sorgen machen.
Falls gewünscht, bin ich gerne bereit, zu zitieren, wie sich
der Wahlkämpfer Gerhard Schröder im letzten Bundestagswahlkampf dem Thema „Ausländer und Kriminalität“ mit der ihm eigenen Sensibilität genähert hat.
({5})
Was wäre eigentlich passiert, wenn sich ein Politiker der
Union so wie der Wahlkämpfer Gerhard Schröder über
das Thema Ausländerkriminalität geäußert hätte? Ein
Sturm der Entrüstung wäre durch unser Land gegangen.
Warum hat es eigentlich zum Thema „deutsche Leitkultur“ nicht schon im Juli 1998 einen Sturm der Entrüstung gegeben? Theo Sommer schrieb in der „Zeit“ vom
16. Juli 1998:
Die überwölbende Gemeinschaft erträgt durchaus
lebendige Untergemeinschaften - aber die Vielfalt
hat sich in der Einheit zu bewähren. Ein Deutschland,
das aus lauter Gettos besteht, ein paar für Türken, ein
paar für Griechen, ein Dutzend für die Deutschen,
kann nicht das Ziel sein. Töricht ist auch der Einfall,
den Türken etwa formellen Minderheitenschutz zu
gewähren wie den Dänen, den Sorben oder Friesen.
Er liefe auf eine künstliche Absonderung hinaus, wo
Integration angestrebt werden sollte - und Integration bedeutet zwangsläufig ein gutes Stück Assimilation an die deutsche Leitkultur und deren Kernwerte.
({6})
Warum hat sich keiner aufgeregt, als Professor Schmid
von der Universität Bamberg das Gleiche mit anderen
Worten in der Sachverständigenanhörung des Deutschen
Bundestages zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes
gesagt hat? Kein Einziger hat sich darüber aufgeregt. Es
wäre nicht nur ungerecht, es wäre geradezu töricht, Theo
Sommer und Professor Schmid wegen dieser Meinungsäußerungen zu unterstellen, sie seien latent ausländerfeindlich oder Stichwortgeber für den Rechtsextremismus. Das wäre einfach absurd.
Wir von der Union sagen unmissverständlich: Integration ist weder einseitige Assimilation noch unverbundenes Nebeneinander auf Dauer. Multikulti und Parallelgesellschaften sind kein Zukunftsmodell. Unser Ziel muss
eine Kultur der Toleranz und des Miteinander auf dem Boden unserer Verfassungswerte und im Bewusstsein der eigenen Identität sein. In diesem Sinne ist es zu verstehen,
wenn die Beachtung dieser Werte als Leitkultur in
Deutschland bezeichnet wird.
({7})
Die verehrte politische Konkurrenz hat sich an der Debatte zum Thema Leitkultur in den letzten Wochen unter
anderem mit den Begriffen „Pickelhaube“, „Entenhausen“ und „Erbsensuppe“ beteiligt. Es wäre nett, wenn Sie
heute einmal in ganzen Sätzen mitteilen könnten, was Sie
eigentlich daran stört, dass wir von der Union von denjenigen, die zu uns kommen und hier auf Dauer leben wollen, zwar nicht die Aufgabe der eigenen kulturellen oder
religiösen Prägung, aber doch die Bejahung und Einordnung in den bei uns für das Zusammenleben geltenden
und wichtigen Werte- und Ordnungsrahmen verlangen.
({8})
Wenn wir jetzt die notwendige Gesamtbetrachtung der
Thematik vornehmen, kann zwangsläufig kein Teilaspekt - auch nicht das Asylrecht - außen vor bleiben. Die
Probleme der Asylpraxis sind allen bestens bekannt, aber
die Bereitschaft der Parteien, die Probleme zu lösen, ist
unterschiedlich ausgeprägt. Unser Problem sind nicht die
tatsächlich politisch Verfolgten; unser Problem sind diejenigen, die sich zu Unrecht auf politische Verfolgung berufen und dennoch über Jahre hinweg - nicht wenige sogar auf Dauer - in der Bundesrepublik Deutschland
bleiben. Deswegen ist es schlichtweg falsch zu sagen, das
Asylrecht habe nichts mit Zuwanderung zu tun. Diese
Aussage ist jedenfalls angesichts der gegenwärtigen Asylpraxis falsch.
Deswegen wird sich die Union intensiv mit der Frage
beschäftigen, wie wir diese Probleme so gut wie möglich
lösen können. Ob hierfür Änderungen im Grundgesetz
notwendig sind, muss in Ruhe erörtert werden.
({9})
Die Zuwanderungsdebatten der letzten Jahre waren überwiegend von Zahlen geprägt. Zahlen sind wichtig, aber
nicht alles. Wir sollten auch einmal über Ziele sprechen
und zugeben, dass wir auch in Zukunft auf Zuwanderung
angewiesen sein werden, und zwar nicht nur aus volkswirtschaftlichen Gründen.
({10})
Die Welt ändert sich in einem dramatischen Tempo.
Nicht nur Firmen und Konzerne, sondern auch Volkswirtschaften stehen in einem scharfen internationalen Wettbewerb. Deswegen muss sich auch die Bundesrepublik
Deutschland am Wettbewerb um die besten Köpfe beteiligen. Die besten Köpfe werden wir nur dann in unser
Land bekommen, wenn hier kein ausländerfeindliches
Klima existiert.
({11})
Deswegen müssen wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Ausländerfeindlichkeit in der Bundesrepublik
Deutschland keine Chance hat. Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist eine vernünftige Ausländerpolitik,
({12})
die die Aufnahmebereitschaft und die Aufnahmefähigkeit
unseres Landes berücksichtigt. Man muss offen darüber
sprechen dürfen, dass Zuwanderung immer auch mit Belastungen verbunden ist und dass mehr Integration wichtiger ist als mehr Einwanderung.
({13})
Wir können nicht alles so lassen, wie es ist, und dann
im geltenden Recht einen neuen Zuwanderungstatbestand
nach dem anderen schaffen. Eine solche Politik entspräche weder den Interessen unseres Landes noch gäbe
es hierfür eine Mehrheit in der Bevölkerung. Wenn es irgendein politisches Gebiet gibt, auf dem ein breiter gesellschaftlicher Konsens wichtig wäre, dann ist es der Bereich der Zuwanderungspolitik. Voraussetzung für einen
gesellschaftlichen Konsens ist eine vernünftige, die Interessen unseres Landes ausreichend berücksichtigende Politik. Dafür steht die Union.
({14})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Marieluise Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Es gibt wohl kaum eine Debatte, die so von Mythen, auch
von falschen Vorstellungen, von Emotionen, von Ängsten, von Bedrohungsgefühlen geprägt ist wie die Debatte
um Ausländer und um Einwanderungspolitik. Das heißt,
wir haben auch seitens der Politik eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, immer sachlich zu bleiben, rational
zu argumentieren und nicht Stimmungen und Vorurteile
zu schüren, wo es doch so verlockend ist, dies zu tun.
({0})
Wie viel sich an Vorstellungen und Fantasien zusammenbraut, belegen Umfragen, denen zufolge zum Beispiel in Ostdeutschland zwei Drittel der Bevölkerung
meinen, es gebe zu viele Ausländer in ihrem Land, obwohl wir alle wissen, dass dort 2,1 Prozent der Menschen
Ausländer sind. Offensichtlich gehen Gefühle und Realitäten oftmals sehr stark auseinander.
Deutschland hat aber eine Geschichte der Einwanderung und Auswanderung. Seit 1959 sind 30 Millionen
Menschen aus dem Ausland nach Deutschland gekommen, 21 Millionen sind wieder weggezogen. 9 Millionen
Menschen sind hier geblieben. Damit ist Deutschland immer ein Einwanderungsland gewesen. Nun kann man
sagen, der Streit um diesen Begriff sei ein Streit um des
Kaisers Bart.
({1})
Das glaube ich deswegen nicht, weil man, wenn man kein
Einwanderungsland sein will, keine Einwanderungspolitik und auch keine systematische Integrationspolitik betreibt, sondern Ausländerpolitik. Das hat die Haltung und
auch die Stimmung in der Bevölkerung dahin gehend geprägt, als hätten wir es eigentlich gar nicht mit Einwanderung zu tun. Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts
mit der Einführung des Geburtsrechts hat genau das aufgenommen. Die jungen Menschen werden jetzt qua Geburt Teil dieser Gesellschaft. Sie bekommen damit
Rechte, müssen aber auch Pflichten für diese Gesellschaft
übernehmen. Das ist der Inhalt des Geburtsrechts.
({2})
Nun wird in der Einwanderungsdebatte immer der Eindruck erweckt, die Zuwanderung erfolge im Augenblick
vollkommen unkontrolliert und ungesteuert. Das ist nicht
richtig. Wir haben durchaus viele Einwanderungs- und
Zuwanderungstatbestände. Nur sind sie so kompliziert, so
wirr, so unsystematisch, so bürokratisch, dass sie einer
modernen Einwanderungsgesellschaft nicht mehr entsprechen. Wir stehen an einer neuen Schwelle: Deutschland muss die Einwanderung nicht mehr abwehren. Wir
müssen uns vielmehr Mühe geben, zu werben und Menschen zu bekommen, die wir auch aus eigenem Interesse
hier haben wollen. Die IT-Zuwanderung läuft ja schleppend.
({3})
Es ist also durchaus nicht so, dass uns die Menschen, die
wir auch aus wirtschaftlichen Gründen bei uns haben wollen, das Land „einrennen“. Wir müssen um sie werben.
({4})
Es wird in Zukunft schon deshalb eine höhere Zahl an
Einwanderern geben, weil die Europäische Union 25 Länder umfassen wird. Man muss sich vorstellen, was das an
Mobilität und Zuwanderungsbewegungen bedeuten
wird. Die Freizügigkeit gilt für alle Unionsbürger. Das
wird eine große Herausforderung für die deutsche Gesellschaft werden.
Die ökonomischen Veränderungen erfordern mehr Mobilität von den Menschen, weil die Wirtschaft zunehmend
grenzüberschreitend agiert, weil es einen Kampf um die
besten Köpfe gibt und weil sich auch schon ein Arbeitskräftemangel in einzelnen Segmenten der Wirtschaft abzeichnet.
Wir müssen aber auch die Tatsache ernst nehmen, dass
die politische Debatte, die jetzt unter den Eliten geführt
wird, zum Teil auf Unverständnis bei den Menschen stößt,
die selber arbeitslos sind und die manchmal das Gefühl
haben: Wird eigentlich auch noch über mich gesprochen
oder wird nur noch über diejenigen gesprochen, die zuwandern sollen? Wir müssen beides zusammenbringen,
nämlich durch Qualifikation denjenigen, die schon hier
leben, den Anschluss an den Arbeitsmarkt zu ermöglichen
und gleichzeitig diejenigen zu unterstützen, die zuwandern wollen. Wenn wir das nicht schaffen, wird die Abwehrhaltung der Bevölkerung gegenüber den Zuwanderern zu groß.
({5})
Auch gegen die demographische Entwicklung, also
gegen die aus dem Gleichgewicht geratene Balance zwischen Alt und Jung, ist Zuwanderung kein Allheilmittel.
Wir werden keine Demographen finden, die uns exakt sagen können, wie viele Menschen in dieses Land zuwandern müssen, damit die Balance wieder hergestellt wird.
Die Zahl derjenigen, die in ein Land integriert werden
können, richtet sich nach dem Gefühl der Gesellschaft
- das ist eine Frage der Verständigung -: Wie viele
Zuwanderer können wir sozial integrieren? Wie viele Begleitmaßnahmen vor Ort, in den Ländern, in den Kommunen, in den Schulen, und wie viele Qualifikationsmaßnahmen im Hinblick auf den Arbeitsmarkt können wir
vorhalten?
Wir haben mit Ihnen von der F.D.P. einen Dissens,
wenn es um die Gesamtquoten geht. Die Tatsache, dass
es Zuwanderung aufgrund der innerhalb der Europäischen Union gewährten Freizügigkeit, aufgrund rechtlich
verbriefter Ansprüche - dazu gehört die Familienzusammenführung - und auch aus humanitären Gründen geben
wird, die weder Sie noch wir von den Grünen infrage stellen, bedeutet, dass dann, wenn eine Gesamtquote für die
Zuwanderung festgelegt werden soll, die Zahl der indischen IT-Fachleute, die von der Wirtschaft gewünscht
werden, mit der Zahl der Schutzsuchenden, die vor der
Grenze stehen, verrechnet werden muss. Das geht nicht.
Das ist auch nicht flexibel. Das wäre kein modernes Einwanderungskonzept.
({6})
Ich gehe davon aus, dass über diesen Punkt noch einmal
verhandelt wird. Integration und Einwanderung gehören
also zusammen. Das ist sozusagen die tibetanische Gebetsmühle aller Ausländerbeauftragten seit Heinz Kühn.
Heute liegt der Vierte Bericht der Ausländerbeauftragten vor, der en detail Vorschläge und Leitlinien zur Integrationsförderung beinhaltet. Wenn man sich die große
Zahl derjenigen, die nach Deutschland zuwandern, klarmacht, muss man sagen: Obwohl es große Mängel in der
Integrationspolitik gegeben hat, ist die deutsche Zuwanderungsgeschichte eine Erfolgsstory. Es gibt ja auch unglaublich vieles, was unseren Städten und Gemeinden gut
gelingt. Wir sollten uns nicht immer nur auf die Probleme
konzentrieren.
({7})
Die Gesellschaft hat eine enorme Integrationsleistung
vollbracht. Es gibt eine enorme Selbstverständlichkeit im
Alltag von denjenigen, die hinzugekommen sind, und
denjenigen, die hier schon gelebt haben. Es gibt eine Fülle
von Belegen für gelungene Integration. Ich weise auch auf
den Sechsten Familienbericht hin, in dem das sehr eindeutig belegt wird. Aber natürlich geht Integration nicht
ohne Konflikte und Probleme vonstatten. Auch darauf
muss man hinweisen. Ein Blick in den Bildungsbereich,
in die Schulen und in den Ausbildungsbereich, zeigt das.
Wir haben Konflikte natürlich auch in den Stadtvierteln.
Deswegen: Wer Einwanderung haben möchte, muss
Integrationspolitik gestalten. Wer Integration fordert,
muss sie auch fördern. Hier gibt es viele Defizite. Die
Ausländerbeauftragten sagen, „Frühzeitigkeit“ sei das
Stichwort für jede Integrationspolitik: Frühzeitigkeit
beim Spracherwerb, also in den Kindergärten, in den
Schulen, Frühzeitigkeit bei der Förderung von Seiteneinsteigern und Frühzeitigkeit bei denen, die neu hierhin
kommen, bei Sprach- und Orientierungskursen.
({8})
Ein Blick über die Grenzen zeigt uns, dass sich der holländische Staat diese Integrationspolitik eine Menge kosten
lässt.
({9})
12 000 Gulden pro Einwanderer für eine umfassende Beratung. Was Zugänge zum Arbeitsmarkt, was das SichOrientieren im jeweiligen Land und die Sprachförderung
anlangt, bin ich dafür, dass wir uns für die Bewältigung
dieser zentralen Aufgaben zwischen Bund und Ländern
verständigen, wenn wir diese Integrationspolitik gemeinsam wollen. Die Ausländerbeauftragte steht hier an der
Spitze.
({10})
Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit ist die Sprachförderung von der Bundesregierung neu geordnet worden. Übernommen hat sie ein Wirrwarr von Sprachförderung, die in vier verschiedenen Ministerien für unterschiedliche Migrantengruppen geregelt war. Durch die
Zusammenführung der Sprachförderung wird der Kreis
derjenigen, die berechtigt sind, am Sprachunterricht teilzunehmen, deutlich erweitert. Wir werden etwa 110 000
Menschen pro Jahr mit Sprachkursen fördern. Das gilt
auch für Menschen, die nicht aus EU-Ländern kommen.
Dies gilt auch für GFK-Flüchtlinge. Das ist ein guter
Schritt.
({11})
Marieluise Beck ({12})
Ich wünsche mir, dass die Öffentlichkeit diesen Schritt
auch wahrnimmt und würdigt.
Zum Schluss noch ein Wort zur Debatte um den Begriff
„Leitkultur“. Dieser Begriff ist mit Inhalt offensichtlich
schwer zu füllen.
({13})
Wir können in den Berichten der Ausländerbeauftragten
schon lange finden, dass es bei Einwanderung um eine gemeinsame Grundlage gehen muss. Dies bezieht sich auf
die Werte des Grundgesetzes und die Sprache. Die Botschaft, die mit dem Begriff „Leitkultur“ vermittelt worden
ist, lautet: Diejenigen, die zu uns kommen, müssen sich
anpassen. Das erzeugt die Illusion in der Bevölkerung,
dass Einwanderung ersparen könnte, dass sich beide Seiten verändern müssen. Einwanderung bedeutet eine Veränderung für die Gesellschaft, weil andere Kulturen dazukommen, weil man sich immer wieder neu verständigen muss und alte Gewissheiten zum Teil verloren
gehen. Diese kulturelle Verständigung ist ein Prozess,
meine Damen und Herren. Deutschland hat sich durch
Einwanderung verändert. Es wird sich weiter durch Einwanderung verändern. Das ist nicht immer leicht. Wir Politiker sind gut beraten, dies auch offen und ehrlich auszusprechen.
Schönen Dank.
({14})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dirk Niebel das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegin
Beck, Sie haben in Ihrem durchaus nachdenkenswerten
Bericht, der meines Erachtens eine längere Debattenzeit
in diesem Hause erfordert hätte, um ihm gerecht zu werden,
({0})
aber auch in Ihrem Redebeitrag unter anderem die Akzeptanz der Zuwanderung und die Integration von Menschen nicht deutscher Nationalität in diesem Land angesprochen. Ich möchte auf beides kurz eingehen.
Was erstens die Akzeptanz angeht, ist es für mich sehr
verwunderlich, dass der Antrag der Freien Demokraten im
Haushaltsausschuss, Ihren Haushalt um 1 Million DM zu
erhöhen, um die Ergebnisse der Zuwanderungskommission in der Öffentlichkeit transparent zu gestalten, damit
die Akzeptanz von Zuwanderung im Vorgriff auf eine gesetzliche Regelung erhöht wird, von Ihren eigenen
Parteifreunden im Haushaltsausschuss abgelehnt worden
ist. Das ist mir unbegreiflich. Ich finde, dass es der Sache,
für die Sie kämpfen, nicht zuträglich ist.
({1})
Das Zweite ist die Frage der Integration. Sie haben zu
Recht gesagt, dass Integration zwingend notwendig ist.
({2})
- Ich wäre den Kollegen der Union dankbar, wenn sie mir
die Gelegenheit gäben, die wenige Zeit auszunutzen, die
für eine Kurzintervention zur Verfügung steht.
Eine wesentliche Voraussetzung für Integration ist
natürlich auch der Zugang zum Arbeitsmarkt. Sie erinnern
sich sicherlich sehr gut an unseren Antrag zur Abschaffung der Arbeitsgenehmigungspflicht, der dafür sorgen
sollte, dass Menschen, die sich in diesem Land aufhalten
dürfen, für die Dauer des erlaubten Aufenthalts ihren
Lebensunterhalt selbst verdienen können, um nicht am
Tropf der Sozialkassen hängen zu müssen,
({3})
was außer von der PDS von allen Fraktionen hier abgelehnt worden ist. Unser Antrag hat aber insofern etwas bewirkt, als dass eine Arbeitsgruppe im Bundeskanzleramt
getagt hat, die zu dem Ergebnis gekommen ist, das generelle Arbeitsverbot für Asylbewerber, die nach dem
Mai 1997 eingereist sind, aufzuheben und durch eine
zwölfmonatige Wartefrist - so nennen Sie es; ich sage:
durch ein zwölfmonatiges Arbeitsverbot - zu ersetzen.
Das wäre ja im Grunde ein Schritt in die richtige Richtung
gewesen. Aber es ist nun Monate her, dass dieses Ergebnis erzielt worden ist, und es ist einfach nicht umgesetzt
worden. Die Menschen in diesem Land warten darauf,
dass Sie Ihren Ankündigungen Taten folgen lassen und
dass sich auch der große Koalitionspartner einmal ein
Stück weit bewegt. Wenigstens diese Ergebnisse sollten
umgesetzt werden, damit wir einen Schritt weiterkommen.
Einen letzten Punkt möchte ich ansprechen: Die badenwürttembergischen Liberalen haben im Bereich der
Integration eine Initiative gestartet, für die ich um Ihre
Unterstützung werben will. Es geht um die Bürgerkriegsflüchtlinge, die hier in jeder Gemeinde im Handwerk, im Gewerbe, in der Gastronomie integriert sind, die
inländische Arbeitsplätze stabilisieren, die niemals einen
Pfennig an Sozialleistungen bezogen haben und die jetzt
in ihr Heimatland zurückgeführt werden sollen, obwohl
sie den Aufbau dort bereits durch Überweisung von Geld
unterstützen. Warum sollten wir nicht eine Möglichkeit
im Ausländerrecht schaffen, diesen Menschen, die hier
wirklich integriert sind, einen dauernden Aufenthaltsstatus zu geben? Es macht doch keinen Sinn, bei uns integrierte Menschen zurückzuschicken und stattdessen nicht
integrierte ins Land zu holen. Lassen Sie uns mit denen
beginnen, die schon im Land sind.
Vielen Dank.
({4})
Zur Erwiderung Frau
Kollegin Beck, bitte.
Marieluise Beck ({0})
Lieber Kollege Niebel, zu den Haushaltsberatungen: Ich bin natürlich immer froh, wenn sich jemand über die Stärkung der Ausländerbeauftragten Gedanken macht. Das ist ja ein Thema, dass alle Beauftragten, egal, welcher Regierung sie zugeordnet sind,
beschäftigt.
({0})
Zu meiner großen Freude hat es in dieser Haushaltsrunde
durchaus eine Stärkung der Beauftragten gegeben. Der
Arbeitsstab der Beauftragten wird personell aufgestockt,
um unter anderem das Sekretariat der Zuwanderungskommission besetzen zu können.
({1})
- Weniger bescheiden als meine Vorgängerin, kann ich
nur sagen, wenn ich mir das Büro der Beauftragten anschaue;
({2})
denn es ist in den letzten beiden Jahren zu meiner Freude
ganz erklecklich gewachsen.
Zum Bereich Arbeitsmarktpolitik: Sie wissen, dass
zu der Zeit, als die F.D.P. die Beauftragte stellte und mit
in der Regierung war, sogar ein völliges Arbeitsverbot für
Flüchtlinge eingeführt worden ist.
({3})
- Sie wollte es nie; das ist mir bekannt. - Vonseiten der
Bündnisgrünen wären wir gerne noch ein Stück weiter
gegangen und hätten noch kürzere Fristen oder eigentlich
gar keine Fristen bevorzugt, allenfalls die im Gesetz vorgesehene dreimonatige Wartefrist. Sie wissen aber auch,
dass es in jeder Koalition Aushandlungsprozesse gibt.
({4})
Deswegen ist das, was wir jetzt vereinbart haben, ein
guter Schritt. Es gibt für Flüchtlinge kein totales Arbeitsverbot mehr. Sie haben die Möglichkeit, nach einem Jahr
- unter Wahrung des Vorrangprinzips - auf den Arbeitsmarkt zu gehen. Ich gebe Ihnen Recht - das ist auch ein
Teil unserer Leitlinien; hier fangen übrigens die Differenzen darüber an, was Integration eigentlich ist -, dass die
Möglichkeit, durch Arbeit selbst den eigenen Unterhalt zu
verdienen, ein zentraler Teil von Integrationspolitik ist.
({5})
Das Spannende ist, dass zum Beispiel die Union immer
davon redet, sie wolle Integration, aber dann, wenn es darum geht, den Zugang zum Arbeitmarkt zu ermöglichen,
die Werbetrommel gegen einen solchen Zugang rührt. Genau das zeigt uns, dass wir uns hinsichtlich der Ausgestaltung von Integrationspolitik gar nicht in allen Punkten
einig sind.
({6})
Damit bin ich bei den von Herrn Niebel angesprochenen bosnischen Bürgerkriegsflüchtlingen. Die BundLänder-Innenministerkonferenz wird sich in zehn Tagen
mit dem Antrag der Bundesregierung befassen, dass den
wenigen verbliebenen bosnischen Bürgerinnen und Bürgern - sie sind oft schwer traumatisiert; viele von Ihnen
sind gut integriert - endlich ein Bleiberecht gewährt wird.
Es waren CDU-Bürgermeister, die gesagt haben: Ihr dürft
doch meinem Handwerksmeister nicht den Mitarbeiter
wegnehmen.
({7})
- Ich kann Ihnen viele nennen, zum Beispiel den aus
Arnsberg. Andere kommen aus Baden-Württemberg.
Ich hoffe nur, dass der baden-württembergische Innenminister - in Baden-Württemberg regiert Ihre Partei - auf
der Bund-Länder-Innenministerkonferenz nicht zu den
Blockierern dieses Antrags gehören wird. Ich wäre Ihnen
sehr verbunden, wenn Sie in diesem Sinne heftig drücken
und schieben und am besten auch den Minister Beckstein
einfangen.
({8})
Nächste Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Petra Pau für die PDSFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bericht der Bundesbeauftragten
für Ausländerfragen hätte es verdient, seriös und nicht nur
als Anhängsel - oder über den Weg des Vortragens von
Kurzinterventionen - hier behandelt zu werden; zumal in
diesem Bericht drängende Probleme kompetent beschrieben werden, die genauso kompetent gelöst werden müssen. Gleiches gilt für unseren Antrag zur Namensgebung.
Auch hierzu werden wir uns äußern. Ich bedaure das gewählte Verfahren und die damit unweigerlich verbundene
Missachtung der Ausländerbeauftragten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der F.D.P., gelegentlich werde ich gefragt, ob ich auf dem Boden des Grundgesetzes stehe. Ich bekenne: Ja. Ich füge in aller Bescheidenheit hinzu: Keine Partei verteidigt das Grundgesetz
derzeit mehr als die PDS.
({0})
Das war beim großen Lauschangriff wie bei der Verteidigung des Asylrechts so und das ist auch so, Kollege
Marschewski, wenn wir eine anmaßende Leitkultur ablehnen.
({1})
Nun führt die F.D.P. mit ihrem Antrag ein neues Gelöbnis ein. Die F.D.P. fragt: Stehen Sie hinter der „Berliner
Rede“ des Bundespräsidenten, insbesondere hinter jenen Passagen, die wir - gemeint ist die F.D.P. - so und so
verstanden haben? - Ich finde, dass Sie dem Bundespräsidenten Unrecht tun, wenn Sie seine Rede so selektieren.
Sie machen sich selbst ganz niedlich, wenn Sie solche Autoritätsbeweise brauchen.
({2})
Bei uns ist es üblich, Reden zu hören, Nachdenkliches
mitzunehmen und Anregendes aufzunehmen - auch von
der F.D.P.; es muss ja nicht aus dem Big-Brother-Container sein, Kollege Westerwelle.
({3})
- Ich muss da nicht hinein; denn im Gegensatz zu ihm
habe ich es nicht nötig. - Wir brauchen aber keine Abstimmung im Bundestag über diese Rede. Das mag etwas
mit Selbstbewusstsein, aber auch mit Respekt vor dem
Bundespräsidenten zu tun haben. Stellen Sie sich doch nur
einmal eine Minute lang vor, die Mehrheit dieses Hauses
sage zu der vorgelegten Redemitschrift einfach: Nein, wir
haben etwas anderes verstanden. Glauben Sie, das gefiele
dem Bundespräsidenten?
({4})
Wir debattieren heute unter anderem über einen Antrag
der F.D.P. zur Frage der Einwanderung. Wir tun das vor
dem Hintergrund zahlreicher Erklärungen und Papiere zu
diesem Thema. Ich begrüße es durchaus, dass wenigstens
Sie von der F.D.P. keine Leitkultur erfunden haben; zumal Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes besagt:
Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen
oder politischen Anschauungen benachteiligt oder
bevorzugt werden. ...
({5})
Mit einem Wort, Herr Kollege Bosbach: Das Grundgesetz
beschreibt mitnichten eine Leitkultur. Es folgt einem universellen Ansatz. Das Wort „multikulturell“ war seiner
Zeit wahrscheinlich noch nicht erfunden.
({6})
Gleichwohl folgt der Antrag der F.D.P. einem Muster,
das in Papieren von Bündnis 90/Die Grünen bis hin zur
CSU zu finden ist. Ihr Vorschlag läuft auf eine Quotenregelung hinaus, die Kapitalinteressen als Gebot annimmt
und humane wie kulturelle Gewinne letztendlich opfern
wird. Um nicht missverstanden zu werden: Das Drei-Säulen-Modell von Bündnis 90/Die Grünen ist nicht mit den
zwölf Thesen der CSU gleichzusetzen. Nur, wer, wie auch
Sie in Ihrem Antrag, anfängt, Einwandernde, Asylsuchende und Bürgerkriegsflüchtlinge mit konjunkturellen
Wünschen von Wirtschaftsverbänden zu verbandeln, ist
auf dem Holzweg. Nehmen Sie doch einmal zur Kenntnis,
was umgangssprachlich alles in dieser Debatte im Moment mitschwingt. Welche Botschaft verbreiten wir eigentlich, wenn wir von „unnützen“ oder uns „ausnützenden“ Einwanderern reden?
({7})
Die CSU hat jetzt das Zwölf-Thesen-Papier mit den
Worten vorgestellt, es sei prägnanter als das der CDU.
Fürwahr: Die Botschaft der CSU ist, Ausländerinnen und
Ausländer sowie Einwanderinnen und Einwanderer sind
Klötze am deutschen Bein, es sei denn, sie spielen Fußball oder bringen auf andere Weise schnell klingende
Münze ins Land.
({8})
Meine Grundbotschaft lautet: Ohne Ausländer und Ausländerinnen sowie Einwanderer und Einwanderinnen
- das gilt über Jahrhunderte hinweg - wäre Deutschland
arm dran.
({9})
Wer im parteiinternen Gerangel bei der CDU, um auch
Ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, nun tatsächlich obsiegt hat, weiß ich noch nicht: die Liberalen oder
die Nationalen.
({10})
Bei der CSU ist es deutlich: Die Bornierten haben gewonnen.
({11})
Nun zum letzten Punkt. Liebe Kollegen von der F.D.P.,
Sie haben Recht: Es gibt politischen Handlungsbedarf.
Die Bürger an den viel zitierten Stammtischen müssen
ebenso wissen, was Recht und was gewollt ist, wie jene,
die sich der Bundesrepublik Deutschland zuwenden wollen. Beide müssen sich arrangieren. Das derzeitige Recht
leistet dies noch nicht, weil es unübersichtlich, willkürlich, bürokratisch und eben nicht menschlich ist - leider.
Damit hinkt die Politik den Realitäten und übrigens auch
internationalen Ansprüchen hinterher.
Kommen
Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.
({0})
Gerne, aber die Zeit, die hier aufleuchtet, hätte ich gerne noch ausgenutzt.
Sie sind
jetzt eine Minute über der Zeit.
Integration kann es übrigens nur auf
gleicher Augenhöhe, von Mensch zu Mensch geben. Allein vor dem Hintergrund der Gefahren für Würde und Leben, die hierzulande von Rechtsextremisten ausgehen,
wäre anderes als das geboten gewesen, was bisher auf
dem Tisch des Hauses liegt. Dazu gehört auch die Einbeziehung der Betroffenen in die zahlreichen Kommissionen. Auch dazu werden wir Vorschläge unterbreiten.
Danke schön.
({0})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Dr. Michael Bürsch von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Bei dem Streit um Begriffe
soll das Positive nicht verloren gehen. Die Diskussion um
Zuwanderung ist in Bewegung geraten. Dazu hat die
F.D.P. beigetragen, dazu hat der Bundespräsident beigetragen, vielleicht auch nicht unwesentlich der Bundeskanzler mit der Green-Card-Initiative. Kurzum: Die Diskussion ist in Bewegung. Ich werde versuchen, das
Positive zu betonen, und will sehen, wie wir daraus vielleicht gemeinsam ein Konzept für Zuwanderung und Integration entwickeln können. Ich nenne fünf zukunftsgerichtete Eckpunkte, über die wir uns vielleicht jenseits der
Begriffsstreitigkeiten verständigen könnten und die aus
Sicht der SPD maßgeblich sind:
Erstens. Wir werden die Strukturen unseres Zuwanderungs- und Ausländerrechts grundlegend reformieren
müssen. Dabei spielen die Frage der Zuwanderung und ihrer Steuerung, die Frage der Arbeitsberechtigung für die
bei uns lebenden Ausländer, die Internationalisierung der
Hochschulen und der Wirtschaft und verstärkte Integrationsbemühungen für 7 Millionen Ausländer eine Rolle.
Auf all diesen Feldern muss in den nächsten Jahren auf
bestehende Defizite und neue Herausforderungen reagiert
werden.
Zweitens. Zuwanderung nach Deutschland hängt direkt mit der Integration der Menschen, die zu uns kommen, zusammen. Anders gesagt: Zuwanderung und Integration sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Dabei kommt der Sprachförderung, wie wir wissen, große
Bedeutung zu. Das holländische Modell des Integrationsvertrages - es wurde schon mehrfach genannt - ist vielleicht nachahmenswert.
Drittens. Wir können Deutschland nicht durch eine nationale Zuwanderungsregelung abschotten. Wir brauchen
eine abgestimmte Migrations- und Asylpolitik auf europäischer Ebene.
({0})
Hier bleibt bis zum Jahr 2004 noch viel zu tun, um die
Vorgaben des Amsterdamer Vertrages zu erfüllen. Hier
wird auch, Herr Kollege Westerwelle, ein Defizit Ihres
Vorschlages deutlich: Dieser Punkt ist darin nicht enthalten.
Viertens. Der grundgesetzlich geschützte Familiennachzug, die verfassungsrechtlich und völkerrechtlich garantierte Gewährung von Schutz für politisch Verfolgte
und Flüchtlinge, die Freizügigkeit für EU-Bürger und
eine Vielzahl rechtlicher Normen, die Rechtsansprüche
für dauerhafte Zuwanderung und zeitweilige Aufenthalte
gewährleisten, dürfen durch eine Zuwanderungsregelung
nicht ausgehebelt werden. Das ist der Punkt, der uns wichtig ist. Für die SPD steht insbesondere fest: Das Grundrecht auf Asyl muss unangetastet bleiben.
({1})
Fünftens. Ein zentrales Problem ist die Akzeptanz einer Zuwanderungsregelung in der Bevölkerung. Ich sage
es einmal vorsichtig: Die Integrations- und Aufnahmebereitschaft der Deutschen ist noch verbesserungsfähig. Ich
sehe es, wenn wir denn an einer Lösung interessiert sind,
als unsere gemeinsame Aufgabe an, Ängste abzubauen
und Integration nachhaltig zu fördern.
({2})
Da, Herr Bosbach, ist die vorsichtige Frage zu stellen,
ob Wahlkämpfe dafür geeignet sind, dieser Aufgabe,
Ängste abzubauen und für Integration nachhaltig zu werben, wirklich gewissenhaft und seriös nachzukommen.
Schon vor über 300 Jahren gab es mit dem so genannten Potsdamer Edikt von Kurfürst Friedrich Wilhelm ein
herausragendes Modell für gelungene Zuwanderung
({3})
und Integration von 20 000 französischen Hugenotten
hier nach Berlin und Brandenburg. Ein Zeitzeuge schrieb
damals begeistert - bitte, Herr Marschewski, genau für
Ihre Ohren -:
Wir haben ihnen, den Zugewanderten, unsere Manufakturen zu danken. Sie gaben uns die erste Idee vom
Handel, den wir vorher nicht kannten. Berlin verdankt ihnen seine Polizei,
({4})
einen Teil seiner gepflasterten Straßen, seine Wochenmärkte. Die Zugewanderten haben Überfluss
und Wohlstand eingeführt, diese Stadt zu einer der
schönsten Städte Europas gemacht.
({5})
Durch sie kam der Geschmack an Künsten und Wissenschaften zu uns. Sie milderten unsere rauen Sitten,
({6})
sie setzten uns in den Stand, uns mit den aufgeklärtesten Nationen zu vergleichen.
Was lernen wir aus diesem Teil der deutschen Geschichte? Wir lernen zumindest: Toleranz hat Tradition in
Deutschland. Im Übrigen bringt Zuwanderung Nutzen für
Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst, und speziell in Bayern hilft Zuwanderung, die rauen Sitten zu mildern.
({7})
Es könnte helfen, Herr Zeitlmann, es könnte helfen.
An die Adresse des Antragstellers F.D.P. eine klare
Aussage: Die SPD, die selbst durch den Innenminister
eine Kommission und eine Arbeitsgruppe eingesetzt hat,
die sich mit den Themen Zuwanderung und Integration
befassen, wird im nächsten Jahr einen verbindlichen Entwurf zur Regelung der Zuwanderung und Integration vorlegen. Gesagt, getan.
({8})
Das Wort
hat jetzt Kollege Wolfgang Zeitlmann von der CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege
Bürsch, ich will Ihrem Bild von den bayerischen rauen
Sitten Rechnung tragen und Ihnen etwas mehr Klarheit
über das verschaffen, was in Ihrem Kopf über Bayern oder
über die CDU/CSU anscheinend herumgeistert.
({0})
Wir diskutieren zwei Dinge, zum einen einen F.D.P.Gesetzentwurf und zum anderen den Antrag der F.D.P.,
eine Rede des Bundespräsidenten umzusetzen.
Ich habe mir die Freiheit erlaubt, einmal aus dem
Ticker herauszuholen, was der Bundespräsident in den
letzten vier Wochen alles erklärt hat, und rate der F.D.P.,
wenn sie solche Anträge stellt, aufzupassen, dass sie nicht
gelegentlich in Zugzwang kommt; denn da gibt es eine
ungeheure Menge an Erklärungen im Detail, zum Beispiel
zur Wehrpflicht
({1})
und dazu, dass die Ostförderung genauer greifen müsse,
({2})
dazu, dass man Oppositionellen mehr Gehör verschaffen
müsse.
({3})
Ich habe ja nichts dagegen, aber ich warte darauf, dass der
Bundespräsident sich vielleicht auch einmal zu Legehennen oder zu sonstigen Details äußert.
({4})
Ein Bundespräsident, der über den Parteien steht - d’accord -, aber wenn er sich in die Tagespolitik einmischt,
dann muss er auch damit rechnen, dass er in der Tagespolitik kritisiert wird.
({5})
Ich kritisiere jetzt nicht den Bundespräsidenten, sondern Ihren Antrag. Ich habe die Rede des Bundespräsidenten nicht nachgelesen,
({6})
sondern ich gehe von Ihrem Papier aus. Dort schreiben
Sie: Einwanderung darf nicht dem Zufall überlassen bleiben. Sie muss geprägt sein von den sozialen und wirtschaftlichen Interessen unserer Gesellschaft. Diesen beiden Punkten könnte ich schon zustimmen. Aber wenn Sie
dann im vorvorletzten Spiegelstrich schreiben, das
Grundrecht auf Asyl solle nicht zur Disposition gestellt
werden, dann wird eine hehre Monstranz - Kollege Uhl
nennt das so - vor uns her getragen.
Im Ergebnis bin ich völlig offen. Ich teile die Meinung
des Kollegen Bosbach, dass wir alles prüfen müssen. Wir
haben im Innenausschuss zigmal über das Thema diskutiert, und da wurde immer wieder wie eine Monstranz vor
uns hergetragen: „Aber dieses muss so bleiben“, als
würde der staunende deutsche Betrachter verstehen, was
damit gemeint ist. Ein subjektives Grundrecht ist eine
Rechtsform, und eine Institutsgarantie ist auch nur eine
Rechtsform. Es wird hier alles so vermengt, als wollten
die, die für eine Änderung des Grundrechts in eine Institutsgarantie sind, das Ganze abschaffen und die wilden
Sitten Bayerns einführen, um Ihr Bild zu nutzen. Diese
Semantik, wie sie in der Politik augenblicklich herrscht,
halte ich für bedenklich.
Auch hier spielt immer wieder das Thema Leitkultur
eine Rolle. Es gibt heute, am 16. November, in der „Zeit“
einen wunderschönen Artikel von Herrn Joffe mit dem Titel „Lust auf Leit“, den Sie nachlesen müssen. „Ohne
Leitkultur kommt ein Land nicht aus“, heißt es im Untertitel.
({7})
Ich sage nur: Wenn man sich an einem Begriff wie Leitkultur seit Tagen und Wochen in der politischen Debatte
festbeißt, zeigt mir das, dass etwas in diesem Land kurios
läuft. Es kann doch nicht sein, dass eine Selbstverständlichkeit - Kollege Bosbach hat davon gesprochen; ich
habe Ihnen gerade gesagt: „Die Zeit“ sieht es völlig anders als Sie - verschleiert wird. Da wird doch um den
heißen Brei herum geredet.
Für mich ist das Thema Leitkultur genauso, als wenn
ich sage: Ich lade jetzt Menschen zu mir ins Haus
ein - ({8})
- Ich habe Sie ja nicht eingeladen. Sagen Sie doch nicht
„danke“, bevor ich Sie einlade. Aber wenn ich es täte,
dann würde meine Hausordnung gelten. Etwas anderes ist
auch eine Leitkultur nicht.
({9})
- Herr Westerwelle, wenn Sie kämen, würde ich mir eine
zulegen - damit das klar ist.
({10})
Meine Damen und Herren, es ist immer wieder, wenn
es um die Frage der Zuwanderung geht - auch in den eigenen Reihen -, die Rede davon: Assimilation wollen wir
nicht. Im „Duden“ steht, was „Assimilation“ ist, was damit gemeint ist: Anpassung, Angleichung. Wenn ich morgen nach Amerika auswandern würde, hätte ich überhaupt
kein Problem damit, mich der amerikanischen Hausordnung oder Leitkultur - was auch immer Sie wollen - anzupassen.
({11})
Ich meine, auch die Marschewskis und die Lafontaines
sind einmal eingewandert und haben sich angepasst.
({12})
Beim Kollegen Özdemir habe ich nicht das Gefühl, dass
er nicht assimiliert ist. Und auch ein Henry Kissinger ist
in den USA wohl assimiliert.
Meine Damen und Herren, aber eines sage ich Ihnen
dazu: Es geht nicht, dass Sie uns mit Begriffen in dieser
Weise jagen und hektisch argumentieren und ich dann
lese: „Der grüne Parteirat hat eine multikulturelle
Demokratie gefordert“ und „Die PDS hat einen Rechtsanspruch auf Einwanderung formuliert“.
Herr Kollege Zeitlmann, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Marschewski?
Ich ahne, was er
will. Deswegen gerne, ja.
Lieber Herr Kollege Zeitlmann, Sie als Bayer haben vielleicht nicht die entsprechenden historischen Kenntnisse.
Trotzdem muss ich Sie fragen: Sind Sie wirklich der Meinung, dass Ostpreußen Ausland war?
({0})
Herr Kollege Marschewski, ich habe meine Aussage, die
„Marschewskis“ und „Lafontaines“ seien auch einmal
zugewandert, nicht auf Ostpreußen bezogen. Ich habe
mich vielmehr auf den Namensursprung bezogen. In
Ihrem Namen erkenne ich slawische Ursprünge
({0})
und in dem Namen unseres Exkollegen Lafontaine den
Ursprung aus dem französischen Raum.
Die deutsche Gesellschaft hat den Begriff Assimilation
nie so negativ gesehen, wie er jetzt von einigen betrachtet
wird.
Einen Punkt muss ich noch erwähnen. Wer einen
Rechtsanspruch auf Einwanderung fordert, der braucht
sich überhaupt nicht zu wundern, wenn dazu in dieser Republik unterschiedliche Auffassungen bestehen.
({1})
Denjenigen, die wie die Grünen das Asylrecht auf nichtstaatliche und auf geschlechtsspezifische Verfolgung
erweitern wollen und die - wie Frau Beck vor ein paar Minuten - sagen, auch die Bevölkerung habe einen Anpassungsprozess durchzumachen, muss ich sagen: In diesem Punkt werden Sie Widerspruch erfahren. Ich teile
nicht die Meinung, dass sich die Masse der Deutschen anpassen muss. Ich glaube vielmehr, dass sich primär derjenige, der zuwandert, anpassen muss und nicht umgekehrt.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Frau
Beck, melden Sie sich zu einer Kurzintervention? - Das
ist also nicht der Fall.
Jetzt hat die Kollegin Leyla Onur von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Ich bin sehr froh darüber, dass wir den Bericht der
Ausländerbeauftragten nicht erst zu später Stunde, sondern schon heute Nachmittag diskutieren können.
({0})
Allerdings gehe ich davon aus, dass das nicht die letzte
Debatte zu diesem Thema sein darf.
Ich finde den Beitrag von Herrn Zeitlmann dem Thema nicht angemessen.
({1})
Die fünfte Jahreszeit hat zwar begonnen, wie wir auch in
Norddeutschland festgestellt haben. Es ist aber einfach
unerhört, zu diesem Thema eine Büttenrede abzuliefern.
({2})
Wir behandeln heute also auch den Bericht der
Ausländerbeauftragten. Ich freue mich sehr, dass über
diesen Bericht im Plenum und nicht nur in den Fachausschüssen diskutiert wird und dass daraus Folgerungen gezogen werden. Die Berichte der heute schon mehrfach gelobten Kollegin Cornelia Schmalz-Jacobsen wurden zwar
auch zur Kenntnis genommen - von uns intensiver behandelt und genauer bewertet als von der damaligen Regierungsmehrheit -, aber Schlussfolgerungen aus diesen
Berichten wurden in der Regel nicht gezogen.
({3})
Wir können sagen, dass aus dem Bericht der Ausländerbeauftragten Marieluise Beck schon jetzt entsprechende politische Konsequenzen gezogen worden sind.
Das kann ich Ihnen an drei Beispielen deutlich machen.
Wir haben festzustellen,
({4})
dass in Ihrer Regierungszeit zwar vollmundige Ankündigungen gemacht wurden, aber nie politische Taten gefolgt
sind. Wir haben ferner festzustellen, dass es 16 Jahre Stillstand in der Migrationspolitik gab.
({5})
Nach Ihrer Philosophie war es ganz einfach: Deutschland
durfte kein Einwanderungsland sein; deswegen durfte es
keine ernsthaft betriebene Integrationspolitik geben.
({6})
Wenn wir heute trotzdem Integrationserfolge in den Ländern und Kommunen feststellen können, dann sind sie
nicht auf Ihre Politik zurückzuführen, sondern auf die Politik engagierter Menschen in den Kommunen und Ländern. Dafür sei ihnen ausdrücklich Dank gesagt.
({7})
Am 27. September 1998 hat in Deutschland eine neue
Politik für Migranten und Migrantinnen begonnen. Das ist
von diesen sehr wohl bemerkt worden.
Es hat in der Tat entsprechend unserer Koalitionsvereinbarung ein Paradigmenwechsel stattgefunden. In unserer Koalitionsvereinbarung heißt es:
Wir erkennen an, dass ein unumkehrbarer Zuwanderungsprozess ... stattgefunden hat, und setzen auf die
Integration der auf Dauer bei uns lebenden Zuwanderer, die sich zu unseren Verfassungswerten bekennen.
Nicht zu deutscher Leitkultur, sondern zu unseren Verfassungswerten!
({8})
Wenn Sie heute so tun, als ob man diesen Begriff verharmlosen könne - Sie sind ja eifrig zurückgerudert; das
haben wir durchaus beobachten können -,
({9})
dann sollten Sie sich bitte auch klarmachen,
({10})
wer diesen Begriff in die politische Diskussion eingebracht hat und welche Wirkung dieser Begriff der deutschen Leitkultur nicht nur auf die Migranten und Migrantinnen hat, die hier in Deutschland leben, sondern ganz
besonders auf unsere europäischen Nachbarn. Das nehme
ich Herrn Merz besonders übel, weil er innerhalb von fünf
Jahren im Europäischen Parlament gelernt haben müsste,
wie man in der Europäischen Union, in ganz Europa miteinander umgeht, wie sensibel gerade unsere Nachbarn
sind, wenn es um solche Fragen und Begriffe geht. Da
kann ich nur feststellen: Diesen Begriff hat er ganz bewusst geprägt, um auf diese Weise am rechten Rand auf
Wählerstimmenfang zu gehen.
({11})
Ich komme zurück zu dem Bericht der Ausländerbeauftragten. Es ist ein hervorragender Bericht mit hervorragenden Anregungen, Forderungen und auch Herausforderungen für uns alle. Dabei muss ich jedoch feststellen,
dass wir natürlich nicht alles buchstabengetreu umsetzen
können und werden.
({12})
Das weiß auch Frau Beck. Denn wenn Sie als Ausländerbeauftragte hier einen Forderungskatalog aufstellen, ist
das nur die eine Sichtweise. Wir, die wir uns damit zu beschäftigen und auseinander zu setzen haben, haben dabei
die gesamtpolitische Situation zu berücksichtigen. Aber
das haben wir bisher immer gemeinsam in Gesprächen zu
regeln verstanden. Deswegen haben wir schon heute Erfolge vorzuweisen. Sie hatten in 16 Jahren überhaupt
nichts zu bieten.
({13})
Wir haben bereits nach der Hälfte der Legislaturperiode
ganz konkrete Ergebnisse, die sich wahrlich sehen lassen
können.
Ein Ergebnis ist die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts.
({14})
- Ich will Ihnen einmal Folgendes sagen: Wenn die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts leider nicht so gelungen ist, wie wir uns und insbesondere die Migranten und
Migrantinnen sich das gewünscht haben, liegt das auch an
der F.D.P.
({15})
Nichtsdestoweniger sage ich: Dieses neue Staatsbürgerschaftsrecht ist, wie Frau Beck einmal gesagt hat, ein
Meilenstein, ein riesengroßer Fortschritt. Es ging dabei
tatsächlich um die Frage: alles oder nichts. Aus der Kenntnis heraus, dass wir nach 16 Jahren Stillstand endlich
Fortschritte erzielen mussten, haben wir diesen ersten
großen Schritt mit Ihnen gemeinsam getan. Das ist auch
richtig so. Das heißt aber nicht, dass aus meiner Sicht in
Zukunft nicht weitere Schritte folgen sollten und müssten.
({16})
Insbesondere für die hier geborenen Kinder bedeutet
die Reform eine große Chance. Ich fordere auch von hier
aus nochmals auf, die Fristen, die zum Ende des Jahres ablaufen, einzuhalten, damit bis zum 31. Dezember 1999 in
Deutschland geborene Kinder, die zu diesem Zeitpunkt
noch nicht das zehnte Lebensjahr vollendet hatten, von
der Möglichkeit Gebrauch machen können, neben der
Staatsbürgerschaft der Eltern die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen. Ich appelliere an alle, dafür zu sorgen, dass dieser Teil des Staatsbürgerschaftsrechts ein Erfolg wird.
Meine Damen und Herren, als ein weiterer großer Erfolg - wenn auch für viele vielleicht nur eine Kleinigkeit ist die Änderung des § 19 des Ausländergesetzes zu nennen,
({17})
die es Ehegatten endlich möglich macht - in erster Linie
sind davon die Frauen betroffen -, schon nach zwei Jahren und in Härtefällen auch noch früher einen eigenständigen Aufenthaltsstatus zu erlangen.
({18})
Dagegen haben Sie sich mit Händen und Füßen gewehrt.
Wir haben es getan. Darauf muss man nicht stolz sein.
({19})
Denn es ist ganz selbstverständlich, dass man seine
Ankündigungen einhält.
({20})
Herr Niebel, der jetzt nach seiner Kurzintervention
verschwunden ist,
({21})
ist auf das Arbeitserlaubnisrecht eingegangen. Ich darf Ihnen hier mitteilen, dass wir im Hinblick auf den CleverErlass - man muss hinzufügen: den blümschen Clever-Erlass; denn Norbert Blüm hat dafür gesorgt, dass
Asylbewerber und Bürgerkriegsflüchtlinge seit
15. Mai 1997 mit einem generellen Arbeitsverbot belegt
worden sind - in schwierigen Verhandlungen - das ist in
der Tat so - zu einem vernünftigen und wirkungsvollen
Ergebnis gekommen sind. Bestellen Sie bitte Herrn
Niebel: Ich habe damals den Antrag, den Sie eingebracht
haben, als solchen entlarvt, wie er wirklich zu bewerten
ist: Es ging Ihnen nie darum, Menschen die Chance zu geben
({22})
zu arbeiten. Vielmehr ging es Ihnen darum, diesen Menschen nur zu Niedriglöhnen eine Möglichkeit auf dem Arbeitsmarkt einzuräumen. Das habe ich damals sehr ausführlich hier erläutert. Dazu stehe ich auch heute noch.
({23})
Ich stelle abschließend fest, dass das neue Sprachförderungskonzept, das nun endlich vorliegt, nur ein Modul
eines vernünftigen zukunftsorientierten Integrationskonzeptes ist. Die Sprachförderung ist dabei ein ganz wichtiger Baustein. Aber es fehlt noch die Ausfüllung der anderen Bausteine. Dies wird in den kommenden Monaten
und Jahren erfolgen. Wir setzen auf ein Integrationskonzept 2000. Ich sage Ihnen: Es wird kommen. Wir erfüllen
damit einen weiteren Teil dessen, was wir den Bürgerinnen und Bürgern vor der Wahl versprochen haben und
jetzt hiermit einhalten.
Danke schön.
({24})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Johannes Singhammer von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 9. Februar dieses Jahres ist der Bericht der Ausländerbeauftragten erschienen. Kaum sind neun Monate ins Land
gegangen, wird nun - innerhalb weniger Minuten - über
diese Problematik diskutiert. Das zeigt, welche Dringlichkeit und welchen Stellenwert Rot-Grün diesem
Thema beimisst.
Lassen Sie mich zu diesem Bericht drei Bemerkungen
machen:
Erstens. Deutschland ist ein ausländerfreundliches
Land. Wir haben nach den Zahlen, die Sie als Anlage beigefügt haben, in den Jahren 1995 bis 1999 10,5 Millionen
Menschen aufgenommen. 7,2 Millionen haben Deutschland wieder verlassen. Immer dann, wenn irgendwo eine
Katastrophe eingetreten ist bzw. ein Flüchtlingsproblem
bestand, haben die Deutschen ein weites Herz bewiesen.
({0})
Deutschland hat im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg
auf dem Balkan mehr bosnische Flüchtlinge aufgenommen als die großen Nationen Frankreich, Großbritannien
und andere insgesamt. Das sollte hier zuallererst einmal
festgestellt werden.
({1})
Zweitens. Es gibt in unserem Land eine Minderheit,
die Taten begeht, die wir alle mit Entschiedenheit
bekämpfen. Sie haben Ihrem Bericht eine Anlage beigefügt, in der Sie Zahlen bezüglich der 1997 und 1998 begangenen fremdenfeindlichen Straftaten nennen. Logischerweise können Sie darin nicht die von diesem Jahr
berücksichtigen. Trotzdem sind diese Zahlen interessant:
So lässt sich feststellen, dass in diesem Zeitraum zum Beispiel in Niedersachsen eine Zunahme von 10,9 Prozent
und in Nordrhein-Westfalen eine Zunahme von 3,1 Prozent zu verzeichnen ist, während in den unionsregierten
Ländern Bayern und Baden-Württemberg eine Abnahme
von 14,4 Prozent bzw. eine Verringerung von 11,5 Prozent
zu verzeichnen ist. Offensichtlich ist in diesen Ländern
die Bekämpfung fremdenfeindlicher Straftaten erfolgreicher gelaufen als in den Ländern, in denen Rot-Grün das
Sagen hat.
({2})
Es ist unredlich, wenn hier von einigen eine UrsacheWirkungs-Kette konstruiert wird, die lautet: Wer sich gegen den Doppelpass ausspricht, wer gegen eine unbegrenzte Zuwanderung ist, der bereitet dem Rechtsextremismus den Nährboden. - Umgekehrt wird ein
Schuh daraus:
({3})
Wer die Probleme im Zusammenleben von Deutschen und
Ausländern tabuisiert oder verdrängt, wer es als politisch
unkorrekt ansieht, darüber zu sprechen, der schafft die
Probleme mit. Deshalb möchte ich hier ausdrücklich dem
Innenminister Recht geben, der gesagt hat: Es muss erlaubt sein, offen darüber zu sprechen.
Es ist übrigens auch nicht ausländerfeindlich, darauf
hinzuweisen, dass Integrationsbereitschaft selbstverständlich gerade jene zeigen müssen, die nach Deutschland kommen. Hier enthält der Bericht, Frau Beck, einiges, was der Wirklichkeit nicht entspricht. Die
Wirklichkeit in Großstädten wie München oder Berlin
sieht anders aus. Was ist bei der Integration in den letzten
Jahren schief gelaufen? Wir stellen fest, dass sich die Integration generell nicht in günstiger Weise entwickelt hat,
sondern dass zunehmend Probleme auftauchen.
Es entwickelt sich eine Parallelgesellschaft. Wir stellen fest, dass in bestimmten Vierteln unserer großen
Städte und in machen Schulen ein Anteil von 80 Prozent
an Nichtdeutschen vorhanden ist. Es gibt Klassen in München, in denen es noch ein, zwei deutsche Kinder gibt.
Hier stellt sich doch die Frage: Wer integriert wen? Das
sind die Probleme vor Ort. Die Eltern reagieren darauf so,
dass sie ihre Kinder von den Schulen nehmen oder mit
dem Umzugslaster gegen diese Orte abstimmen. Das sind
die Probleme, denen wir uns stellen müssen, die aber in
Ihrem Bericht allenfalls am Rande auftauchen.
Ich sage Ihnen deshalb im Zusammenhang mit der
Leitkultur noch etwas: Ein Nebeneinanderexistieren von
beliebigen Arten von Kulturen ohne gemeinsame Basis ist
höchst gefährlich.
({4})
Wir erleben jetzt eine Entwicklung hin zu Parallelkulturen. Diese haben die Tendenz in sich, sich weiter auseinander zu entwickeln. Das bedeutet letztendlich, statt miteinander zu leben, wird nebeneinander, im schlimmsten
Fall gegeneinander gelebt. Das sind die Probleme, die wir
lösen müssen.
Deshalb müssen wir zunächst einmal die Integrationsanstrengungen vermehren und verbessern und danach erst
können wir über weitere Zuwanderung sprechen. Zuerst
müssen wir die Integrationsaufgaben lösen. Das Kardinalproblem besteht in den mangelnden Sprachkenntnissen. Wir sehen mit Sorge, dass so genannte Sprachinseln
entstehen, das heißt, man versteht sich nicht mehr.
({5})
Wenn jemand 20 Jahre in Deutschland lebt und immer
noch nicht in der Lage ist, sich einigermaßen auszudrücken
und mit seinen Nachbarn zu verständigen, dann schließt er
sich selber von der Gemeinschaft aus. Umgekehrt müssen
wir ihm sagen, dass es seine erste Pflicht ist, Deutsch zu lernen, damit er sich hier wirklich verständigen kann.
({6})
Wichtig ist - das sage ich abschließend -, dass diese
Thematik in seriöser Weise und nicht unter Zeitdruck, wie
es heute geschieht, diskutiert wird. Es hätte auch nicht
diese Verzögerungen geben dürfen, schließlich ist dieser
Bericht schon neun Monate alt. Ich hoffe, wir können das
in geeigneter Weise nachholen
({7})
und Klarheit über die Positionen schaffen. Vor allem müssen wir sagen, was wir von denen erwarten, die zu uns gekommen sind.
Erlauben
Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Özdemir?
Ja, klar,
selbstverständlich.
Herzlichen Dank, Herr Kollege Singhammer. Sie haben gerade
gesagt, von demjenigen, der seit 20 Jahren hier lebt, kann
man erwarten, dass er Deutsch kann. Sind Sie mit mir darin
einig, dass man natürlich von Menschen, die hier das Licht
der Welt erblickt haben, erwarten muss, dass sie Deutsch
können? Stimmen Sie mit mir auch überein, dass für die
Generation meiner Eltern, die vor 30, 40 Jahren über die
Anwerbeabkommen hierher geholt wurde, weder die
Entsendeländer noch wir als Empfängerland irgendeine
Art von Vorkehrung getroffen haben, geschweige denn, sie
auf das vorbereitet haben, was sie erwartet hat?
Sind Sie weiter bereit, mir zuzustimmen, dass es beispielsweise in den 70er-Jahren in Betrieben Überlegungen gab, Sprachkurse einzurichten, und viele Arbeitgeber
gesagt haben: Mein Ali kann genau so viel Deutsch, dass
er am Fließband die drei Handgriffe machen kann, die er
machen muss; mehr Deutsch braucht er nicht, weil das
eine Geldverschwendung wäre?
Sind Sie nicht auch dann der Meinung, dass es undankbar gegenüber diesen Menschen ist, die in diesem
Land alt und krank geworden sind, jetzt zu sagen: Ihr
könnt nicht genügend Deutsch?
({0})
Herr Kollege
Özdemir, wenn sich jemand 20 Jahre in Deutschland aufhält und im Berufsleben integriert ist, wenn er hier seinen
Lebensmittelpunkt hat,
({0})
dann halte ich es für selbstverständlich, dass er wenigstens so weit Deutsch kann, dass er sich mit seinen Nachbarn verständigen kann und sich nicht selbst dadurch ausschließt, dass er die Sprache des Landes, in dem er seit
20 Jahren lebt, nicht beherrscht.
({1})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich der Kollegin Onur das Wort.
Herr Kollege Singhammer, Sie
können es wohl nicht lassen. Sie sind nicht in der Lage,
einen Appell aufzunehmen. Dieser kommt schließlich
nicht von mir. Wir kennen uns aus dem Ausschuss. Ich
will mich nicht zu unserem Verhältnis äußern.
({0})
Hören Sie doch einfach einmal zu, was Herr Paul
Spiegel auf der Demonstrationskundgebung gesagt hat:
({1})
Dann aber möchte ich alle Politiker in die Pflicht
nehmen, sie auffordern, ihre populistische Sprache
zu zügeln...
Auch heute haben Sie wieder das Unwort „Doppelpass“
und das Unwort „deutsche Leitkultur“ benutzt. Lassen Sie
davon ab. Sie wissen doch, was Sie damit herausgefordert
haben. Anständige Demokraten, Herr Singhammer, sammeln keine Unterschriften gegen Ausländer.
({2})
Anständige Demokraten arbeiten nicht mit ausländerfeindlichen Begriffen und machen damit Ausländerfeindlichkeit salonfähig.
({3})
Das Ergebnis der Kampagne vor der Hessenwahl erleben
wir jetzt. Sie haben wir alle nicht vergessen.
({4})
Deswegen noch einmal von mir die herzliche und ernst
gemeinte Bitte: Hören Sie mit missverständlichen Begriffen auf, um auf dem rechten Rand nach Stimmen zu schielen.
({5})
Versuchen Sie wirklich, als anständiger Demokrat gemeinsam mit uns eine konsensuale Integrations- und Einwanderungspolitik zu gestalten.
({6})
Kollege
Singhammer.
Frau Kollegin
Onur, die Verwendung der Begriffe „Leitkultur“ oder
„Doppelpass“ werden weiterhin erlaubt sein und haben
nicht den von Ihnen kritisierten Effekt. Auch werden wir
nicht vorher bei Ihnen um eine Genehmigung nachfragen,
ob wir diese Begriffe weiter verwenden dürfen.
({0})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3679, 14/3697, 14/2674 und
14/3749 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? -
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 29 a bis 29 c sowie
28 a und 28 b auf:
29 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zuordnungsrechtes
- Drucksache 14/757 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({0})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut
Haussmann, Ulrich Irmer, Joachim Günther
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der F.D.P.
Für einen offenen und partnerschaftlichen Dialog mit Namibia
- Drucksache 14/4414 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({2})
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Kortmann, Adelheid Tröscher, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack, Ekin Deligöz, Irmingard Schewe-Gerigk,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kinderrechte schützen - Kinderhandel wirksam bekämpfen
- Drucksache 14/4152 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Tourismus
28 a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der UVPÄnderungsrichtlinie, der IVU-Richtlinie und
weiterer EG-Richtlinien zum Umweltschutz
- Drucksache 14/4599 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Ulrike Flach, Horst Friedrich ({5}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der F.D.P.
Umsetzung der IVU-Richtlinie - Umweltgesetzbuch auf den Weg bringen
- Drucksache 14/3397 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschla-
gen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführ-
ten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstan-
den? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 30 a und
30 c sowie den Zusatzpunkten 3 a und 3 b. Es handelt sich
um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aus-
sprache vorgesehen ist.
Ich rufe zunächst den Tagesordnungspunkt 30 a auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Einführung des Euro im Sozial- und Arbeitsrecht sowie zur Änderung anderer Vorschriften
({7})
- Drucksachen 14/4375, 14/4388 ({8})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({9})
- Drucksache 14/4633 Berichterstattung:
Abgeordneter Heinz Schemken
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der F.D.P. bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist der Gesetzentwurf mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 30 c auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({10}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Erste Verordnung zur Änderung der Batterieverordnung
- Drucksachen 14/4303, 14/4440 Nr. 2.1,
14/4600 Berichterstattung:
Abgeordnete Marion Caspers-Merk
Werner August Wittlich
Birgit Homburger
Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 14/4303 zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmig
angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 3 a auf:
- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Gemeinsamen
Protokoll vom 21. September 1988 über die
Anwendung des Wiener Übereinkommens
und des Pariser Übereinkommens ({11})
- Drucksache 14/3953 ({12})
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes
({13})
- Drucksache 14/3950 ({14})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({15})
- Drucksache 14/4617 Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Kubatschka
Kurt-Dieter Grill
Winfried Hermann
Eva Bulling-Schröter
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Gemeinsamen Protokoll über die Anwendung des Wiener
und des Pariser Übereinkommens, Drucksache 14/3953.
Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 14/4617 unter Ziffer 1,
den Gesetzentwurf mit einer redaktionellen Änderung der
deutschen Fassung der Überschrift des Gemeinsamen
Protokolls anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung
des Atomgesetzes, Drucksache 14/3950 und 14/4617. Der
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt auf Drucksache 14/4617 unter Ziffer 2, den
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit einstimmig angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 3 b auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Zusammenlegung des Bundesamtes
für Wirtschaft mit dem Bundesausfuhramt
- Drucksache 14/3951 ({16})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({17})
- Drucksache 14/4615 Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit einstimmig angenommen.
Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 4 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Verantwortung der früheren Bundesregierung
für die Erteilung einer Unbedenklichkeitserklärung für das atomare Endlager Morsleben
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Bundesminister Jürgen Trittin das Wort.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Zustand im Atommüllendlager
Morsleben ist dramatisch. Dort lagern rund 37 000 Tonnen Atommüll, gut 10 000 Tonnen davon lagern in den
akut gefährdeten Räumen. In diesem Bereich im Südfeld
können nach Einschätzungen der Fachleute jederzeit bis
zu 1 000 Tonnen schwere Salzbrocken von der Decke auf
den dort lagernden Atommüll fallen.
Untersuchungen haben im Südfeld in den Deckenbereichen zwischen den Hohlräumen Risse bis zu 16 cm
Breite nachgewiesen und dies ausgerechnet in jenem sensiblen Bereich, in dem der Atommüll nicht einmal gestapelt, sondern einfach nur in Einlagerungskammern abgekippt, gestürzt worden ist.
Alle, die sich länger mit diesem Problem beschäftigen,
wissen, dass die Sicherheit des Endlagers Morsleben von
Geologen, Umweltpolitikern und Umweltverbänden
schon seit Jahren bezweifelt wird. Dennoch haben wir es
damit zu tun, dass die frühere Bundesregierung dort trotz
Tropfstellen und Rissen über Jahre hinweg weiter Atommüll einlagern ließ.
({0})
In - wie ich finde - skandalöser Weise setzte sich die Regierung Kohl über alle Sicherheitsbedenken hinweg.
({1})
Die Geschichte der Atommüllkippe Morsleben ist eine
finstere Fortsetzungsgeschichte deutsch-deutscher Art eines verantwortungslosen Umgangs mit Atommüll.
({2})
So richtig es ist, dass das erste Kapitel dieser finsteren Geschichte des verantwortungslosen Umgangs mit Atommüll die SED geschrieben hat, so richtig ist auch, dass die
Fortschreibung dieser Geschichte vom Kanzler der Einheit, Helmut Kohl, und seiner Umweltministerin Angela
Merkel betrieben worden ist. Zuerst wurde per Einigungsvertrag dafür gesorgt, noch zehn Jahre - bis zum
Jahr 2000 - einlagern zu können; 1998 setzten Sie in der
Novelle des Atomgesetzes sogar einen Weiterbetrieb dieses Endlagers bis zum Jahr 2005 durch.
Sie taten dies, obwohl Sie wussten, dass diese Anlage
nach bundesdeutschem Recht nie genehmigungsfähig gewesen wäre. Ich behaupte sogar, Sie taten das nicht, obwohl sie nie genehmigungsfähig gewesen wäre, sondern
gerade weil sie nie genehmigungsfähig gewesen wäre; Sie
hofften, auf diese Weise ein akutes Problem zur Seite zu
schieben, da es damals kein Endlager für schwach- und
mittelaktiven Müll gab. Deshalb wurde von Ihnen in vier
Jahren mehr Atommüll als zu Zeiten der DDR in dieses
Lager eingebracht. Sie haben damit - CDU/CSU und
F.D.P. - dort mehr abgekippt als die SED.
({3})
Noch 1998, als sich die bundeseigenen Geologen
schon seit über zwei Jahren von der Annahme der langfristigen Standsicherheit der Grube verabschiedet hatten,
wurden Kritiker, die auf die Einsturzgefahr - gerade in
dem jetzt gefährdeten Bereich - hinwiesen, von der damaligen Ministerin Merkel der Panikmache bezichtigt.
({4})
Schlimmer noch: Ihre Ministerin hat damals die Genehmigungsbehörden daran gehindert, tätig zu werden. 1995
wurde ein vom sachsen-anhaltinischen Umweltministerium verhängtes Versturzverbot für diesen Abschnitt kurzerhand per Bundesweisung von Ihnen kassiert.
({5})
Es bedurfte des Antritts dieser neuen Regierung, um
diesem Treiben durch eine Aufhebung der Weisung durch
mich endlich ein Ende zu bereiten.
({6})
Aus den neuen Erkenntnissen der Rissbildung hat das
Bundesamt für Strahlenschutz als Betreiber des Endlagers
nunmehr Konsequenzen ziehen müssen. Der Präsident
des Amtes hat als Sofortmaßnahme die Sperrung bestimmter Bereiche des Südfeldes angeordnet. Eine mögliche unzulässige Freisetzung radioaktiver Stäube in die
Umgebung wird durch geeignete technische Maßnahmen
im Zusammenhang mit der Belüftung - die Bergleute sagen dazu Bewetterung - verhindert. Als wichtigste Maßnahme wird umgehend - voraussichtlich wird damit noch
in der nächsten Woche begonnen - die Verfüllung der
Resthohlräume in den beiden betroffenen Einlagerungskammern in Angriff genommen. Ich bin den Behörden des
Bundes und des Landes dafür dankbar, dass es möglich
gewesen ist, sowohl die bergrechtlichen als auch die
atomrechtlichen Voraussetzungen für diese Sofortmaßnahme innerhalb von drei Tagen genehmigungsfest zu
schaffen.
({7})
Eines aber steht uns noch bevor: der zügige, sichere
und dauerhafte Einschluss der in Morsleben lagernden radioaktiven Abfälle. Es ist leider wahr, dass durch Ihr
Taktieren mit möglichst langer Offenhaltung viel Zeit
vergangen ist. Aber wir werden in enger Abstimmung
mit dem Bergamt und der atomrechtlichen Planfeststellungsbehörde des Landes Sachsen-Anhalt Wege finden,
dieses Problem mit der gleichen Geschwindigkeit zu lösen, wie wir das aufgrund der akuten Notsituation hier
getan haben.
Sie haben unter Ihrer Verantwortung mit dem Weiterbetrieb von Morsleben dem nationalen, aber auch dem internationalen Ansehen der bundesdeutschen Sicherheitsphilosophie in Endlagerfragen einen denkbar schlechten
Dienst erwiesen.
({8})
Die Vorfälle in Morsleben belegen zudem einmal mehr,
dass das alte, von Ihnen zu verantwortende Entsorgungskonzept gescheitert ist.
({9})
Sie belegen, dass die Endlagerung radioaktiver Abfälle
auf eine neue Basis gestellt werden muss. Dem haben wir
mit einem neuen Konzept der direkten Endlagerung
und dem Ein-Endlager-Konzept Rechnung getragen. Ich
danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Franz Obermeier von der CDU/CSU.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion der Bündnisgrünen
gibt uns heute Gelegenheit, wieder einmal aufzuzeigen,
wie schwach
({0})
Rot-Grün im Umgang mit atomrechtlichen Fragen und
mit praktischen Dingen des Lebens ist.
({1})
Man müsste sich eigentlich dafür bedanken, dass man
wieder ein paar Minuten Zeit hat, die Dinge aufzuzeigen.
({2})
Wenn man sich mit den Themen beschäftigt, kommt
man darauf, dass es vielleicht doch um ein Ablenkungsmanöver - Stichworte: Ministerrücktritt, Parteienfinanzierungsprobleme - geht.
({3})
Nein, diese Ablenkung lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Wir setzen uns mit der inhaltlichen Frage auseinander.
({4})
Herr Bundesminister, Sie haben wohlweislich verschwiegen, was Sie unter einer Unbedenklichkeitserklärung verstehen, die man aus dem Finanzamtsbereich und
aus den Sozialversicherungen kennt. Das, was Sie hier damit meinen, lassen Sie weg. Meinen Sie vielleicht die
Stellungnahme der Reaktorsicherheitskommission? Oder
was meinen Sie mit „Unbedenklichkeitserklärung“? Es
sieht danach aus, als würde Rot-Grün die Gelegenheit
nutzen, der Allgemeinheit ein neues Horrorszenario in Sachen Atom unterzujubeln.
({5})
Ich darf mich mit der Vergangenheit beschäftigen, weil
der Herr Minister auch dies weggelassen hat: Nach der
Wiedervereinigung hat sich die Bundesregierung sehr
verantwortlich um die kerntechnischen Einrichtungen
und Altlasten in den neuen Ländern gekümmert - ich erinnere an Greifswald, ich erinnere an die Bergbaubetriebe
Wismut und an Morsleben - und ist hier ihrer Verantwortung sehr gerecht geworden. Anders als bei Greifswald
entschied man sich, das Endlager Morsleben in Betrieb zu
halten, und zwar aus gutem Grund. Man wusste,
({6})
dass man durch den Rückbau von Greifswald und ähnlicher kerntechnischer Anlagen eine ganze Reihe von Lagermöglichkeiten braucht. Das war der Grund, warum
man die Dinge so geregelt hat.
({7})
Im Übrigen darf ich Ihnen sagen, dass die Bundesregierung umfangreiche Sicherheitsanalysen durch BGR
und GRS in Auftrag gegeben hat und dass die sicherheitstechnischen Nachrüstungen im Umfang von mehreren
100 Millionen DM auch durchgeführt wurden. Alle Maßnahmen wurden seinerzeit im Einvernehmen mit den zuständigen Bergbehörden des Landes durchgeführt.
Ein Weiterbetrieb erfolgte zunächst auf der Grundlage
der in der DDR erteilten Genehmigung, deren Geltung im
Einigungsvertrag fortgeschrieben wurde. Man hat dann
1992 - ich betone: 1992 - ein Planfeststellungsverfahren
für den Betrieb der Anlage und für die Stilllegung beantragt. Später, 1997, hat man den Antrag zum Planfeststellungsverfahren auf Stilllegung eingeschränkt.
({8})
- Wir wissen schon, dass Sie das, was wir sagen, nicht interessiert.
Man hat ein paar Tage vor der Wahl 1998 die Einlagerung in Gorleben eingestellt. Insofern ist es einfach nicht
richtig, wenn Sie, Herr Trittin, behaupten, dass Sie die
Einlagerung per Weisung eingestellt haben. Ich verstehe
nicht, wie ein Bundesminister so etwas behaupten kann.
({9})
Es bedurfte auf alle Fälle nicht der Weisung des grünen
Umweltministers, um die Anlage stillzulegen.
Noch ein paar Bemerkungen zu den technischen Voraussetzungen, mit denen Sie vermutlich nicht sehr viel zu
tun haben: Das Bundesamt für Strahlenschutz hat am
9. Mai 1997 festgestellt, dass über den Antrag auf Stilllegung im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens entschieden werden soll. Bis zum heutigen Tage ist über die
Planfeststellung nicht befunden worden. Wenn Ihnen das
tatsächlich ein so wichtiges Anliegen gewesen wäre, dann
muss ich Sie fragen, was Sie in den zwei Jahren Ihrer
Amtszeit eigentlich getan haben. Sie haben nichts getan.
({10})
Die Reaktor-Sicherheitskommission hat nach einer Begehung, die vor wenigen Tagen stattfand, festgestellt, dass
es zu Abschieferungen kommt. Die Fachleute sagen, dass
dies in solchen Bergwerken üblich ist. Das wusste man
auch schon vorher. Jetzt wird ein Horrorszenario an die
Wand gemalt, obwohl der Präsident des Bundesamtes für
Strahlenschutz bestätigt hat, dass eine akute radiologische
Gefährdung nicht zu befürchten ist.
({11})
Ich gebe Ihnen den Rat: Kümmern Sie sich rasch um
einen Planfeststellungsbeschluss bezüglich der Stilllegung des Endlagers. Wenn Sie das tun würden, dann hätten Sie ein gutes Werk getan.
({12})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Reinhard Weis
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in diesem
Jahr mehrmals Anlass gehabt, den Prozess „Zehn Jahre
deutsche Einheit“ positiv zu würdigen und auch Erfolge
festzustellen. Aber die Geschichte des Endlagers Morsleben gehört nicht zu dieser erfolgreichen Bilanz.
({0})
Ich war 1990 als Abgeordneter der SPD-Fraktion Mitglied im Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Energie und
Reaktorsicherheit der letzten demokratisch gewählten
Volkskammer. Mit meiner Fraktion hatte ich versucht, die
Geltung der DDR-Betriebsgenehmigung für das Endlager
Morsleben für radioaktive Abfälle nicht ungeprüft im Einigungsvertrag festschreiben zu lassen. Das ist uns leider
nicht gelungen. Ich bin mit dem Vorsatz in den Bundestag
eingezogen, entweder die Eignung des Salzstockes Morsleben, der ja nicht unberührt war, sondern in dem aktiv
Bergbau betrieben wurde, in einem ordentlichen Planfeststellungsverfahren nachweisen oder, wenn dies nicht gelingen sollte, die Betriebsgenehmigung widerrufen zu lassen.
Die damalige Bundesregierung kannte wie wir unzählige Beispiele dafür, dass Genehmigungsverfahren in der
DDR nicht immer rechtsstaatlichen Kriterien genügten
und dass auch die zugrunde liegenden Standards nicht geeignet waren, die Schutzziele der Bundesrepublik zu erfüllen. Dass ausgerechnet auf dem Gebiet des Strahlenschutzes, bei der Bewertung eines Endlagers, das ja für
Tausende Jahre Sicherheit gewähren soll, alle Bedenken
wider besseres Wissen weggewischt wurden, hatte nicht
nur bei mir, sondern auch bei vielen anderen zur Folge,
dass die Umweltpolitik von Herrn Töpfer und später von
Frau Merkel an Glaubwürdigkeit verloren hat.
Natürlich gab es aus der Sicht der Befürworter der
Kernenergienutzung einen plausiblen Grund für die Augen-zu-und-durch-Politik. Von Herrn Obermeier haben
wir gerade die Wiederholung der Argumente gehört. Sie
wussten genau, dass für die Errichtung eines Endlagers
keine Zustimmung in der Bevölkerung zu erhalten war.
Deshalb war das Endlager Morsleben im Gegensatz zu
anderen Hinterlassenschaften in den Augen der Koalition
von CDU/CSU und F.D.P. keine Erblast, sondern höchst
willkommen.
Der Einigungsvertrag hat die Betriebsgenehmigung
nicht unbefristet festgeschrieben, sondern nur bis zum
31. Juni 2000. Wenigstens dieses Ergebnis hat die Debatte
in der Volkskammer gehabt. Ich habe gehofft, dass diese
Debatte einige Zweifel in den Köpfen hinterlässt. Aber
Herr Töpfer und später Frau Merkel haben die Chancen
für einen fachlich korrekten Schritt, nämlich die Einführung, die zügige Abarbeitung und Ermöglichung eines
Planfeststellungsverfahrens zur Überprüfung der Betriebsgenehmigung des Endlagers und seiner geologischen Bedingungen und die Erarbeitung eines Konzeptes
für die Nachbetriebsphase trotz unserer Entschließungsanträge und Anfragen im Parlament nicht genutzt. Auch
die Expertisen von Wissenschaftlern und die Haltung der
Landesregierung in Sachsen-Anhalt haben kein Nachdenken bewirkt. Es wurde schon nachgedacht, aber eher darüber, wie die Öffentlichkeit einzulullen sei und wie der
Druck aus der Opposition und der Fachwelt zu entkräften
sei. Dazu musste auch ein höchstrichterliches Urteil herhalten, in dem aber nur formalrechtlich der Fortbestand
der Betriebsgenehmigung durch den Einigungsvertrag
festgestellt wurde. Grundlage für die Urteilsbegründung
war keine fachliche Würdigung der Verhältnisse und der
Einsprüche.
Der Gipfel der Ignoranz gegenüber allen Warnungen
- Herr Minister Trittin hat es auch schon festgestellt - war
1998 die Entscheidung der Regierung Kohl mit der Umweltministerin Frau Merkel, entgegen dem Einigungsvertrag durch die Atomgesetznovelle ohne jegliche fachliche
Begründung die Betriebsgenehmigung formal bis zum
Jahre 2005 zu verlängern. Kommen Sie mir nicht mit der
Mär, Herr Obermeier, das sei notwendig gewesen, damit
schließlich ein Planfeststellungsverfahren für die Stilllegung gemacht werden könnte. Dafür hätte es andere Wege
und frühere Zeitpunkte gegeben.
({1})
Zu dieser Mär passt überhaupt nicht die bundesaufsichtliche Weisung an die Landesregierung von SachsenAnhalt, die gestoppte Einlagerung wieder aufzunehmen,
die Frau Merkel verfügt hat. Sie haben sich über alle
Sicherheitsbedenken von Fachleuten hinweggesetzt und
sie ignoriert, genauso wie Sie die Sicherheitsinteressen
der Bevölkerung ignoriert haben. Bis heute ignorieren Sie
sie, wenn wir die Rede von Herrn Obermeier ernst nehmen wollen.
({2})
Wahrlich, die Geschichte der Behandlung des Endlagers Morsleben ist in der Phase der Verantwortung von
Kohl, Töpfer und Merkel kein Ruhmesblatt der deutschen
Strahlenschutz- und Atomsicherheitspolitik und gehört
nicht in die Erfolgsbilanz des Einigungsprozesses.
({3})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Birgit Homburger von der F.D.P.Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Mein Kollege Westerwelle
hat 1997 den Spruch geprägt, die F.D.P. und die Grünen,
das sei wie Aufklärung und Romantik. Das passt auch
auf den Gegenstand der heutigen Aktuellen Stunde, und
zwar deshalb, weil ich vonseiten der F.D.P., um unnötige
Panikmache zu vermeiden, jetzt erst einmal sage, was
das Bundesamt für Strahlenschutz als zuständige
Behörde und als Betreiber des Endlagers gerade gestern
mitgeteilt hat. Das BfS hat mitgeteilt, dass wegen der
Sperrung bestimmter Bereiche im betroffenen Südfeld
längst Sofortmaßnahmen getroffen worden sind. Durch
eine Anpassung der Belüftung sei sichergestellt, dass eine
gesundheitsgefährdende Freisetzung von radioaktivem
Staub nicht stattfinden kann, auch dann nicht, wenn
tonnenschwere Salzbrocken in dieser Minute abstürzen
sollten. Außerdem wird schon in wenigen Tagen mit der
Verfüllung der restlichen Einlagerungskammern begonnen. Die Standsicherheit des Südfeldes sei nicht gefährdet, auch eine gesundheitsgefährdende Situation bestehe
nicht. Das Planfeststellungsverfahren zur Verschließung
des Salzstocks läuft seit langem. - So viel zu den aktuellen Tatsachen, wie sie vom BfS, geführt von einem grünen Behördenchef, dargestellt werden.
({0})
Die Sperrung des gesamten Endlagers Morsleben
gehörte übrigens im Eindruck einer gerichtlichen Eilentscheidung zu den letzten Amtshandlungen der damaligen
Bundesumweltministerin Merkel. Das Hauptverfahren
dazu ist zwar bis heute nicht abgeschlossen, aber die rotgrüne Bundesregierung hat ja ohnehin entschieden, die
Einlagerung radioaktiven Abfalls dort nicht mehr aufzunehmen. Diese Entscheidung halte ich durchaus für richtig.
({1})
Eines sollte man dennoch festhalten, Herr Trittin: In
Morsleben lassen sich immerhin geeignete Sofortmaßnahmen ergreifen. Ich frage mich allerdings, welche Sofortmaßnahmen Sie einleiten wollten, wenn sie bei Castoren notwendig werden sollten, die auf der grünen Wiese
stehen, weil die Bundesregierung über kein tragfähiges
Endlagerkonzept verfügt.
({2})
Sie haben ohnehin ein gewisses Faible für Atommüllzwischenlager, Herr Trittin. Zwischenlager sorgen
aber nicht zuletzt mit Blick auf La Hague für ein ungutes
Gefühl. Dies haben wir gestern im Rahmen der Aktuellen
Stunde schon einmal diskutiert, und ich habe darauf hingewiesen, dass noch eine ganze Menge Atommüll aus
Frankreich zurückgenommen werden muss.
({3})
- Es ist nett, dass Sie das dazwischenrufen, Frau Kollegin
Ganseforth. Ich will Ihnen noch einmal sagen, wer die
Verantwortung dafür trägt, dass das Zeug noch in Frankreich steht.
({4})
Das war nämlich nicht die alte Bundesregierung; sie hat
transportieren wollen. Verantwortlich, meine Damen und
Herren von der Regierungskoalition, sind diejenigen, die
seinerzeit demonstriert haben, die die Transporte blockiert haben,
({5})
die sich auf Schienen angekettet haben. Dieser Bundesumweltminister war dabei; also ist er mitverantwortlich
dafür, dass diese Transporte nicht stattgefunden haben.
({6})
Sie sind also für diese unerträgliche Situation mitverantwortlich, Herr Trittin. Sie haben damals demonstriert.
({7})
Heute haben Sie die unbequemen Demonstrationsmärsche mit einem bequemen Ministersessel vertauscht. Aber
die Ziele, die Sie verfolgen, sind immer noch dieselben.
Wir kritisieren vonseiten der F.D.P. schon lange, dass
die dringend erforderliche Entsorgung von Atommüll
dem tagespolitischen Opportunismus von Rot-Grün geopfert wird. Statt Atommüll unterirdisch an sorgfältig
dafür ausgewählten Stellen sicher zu lagern, erzwingt die
Bundesregierung oberirdische Provisorien ohne Rücksicht auf riskante Langfristfolgen.
({8})
Die Suche nach fragwürdigen Alternativen für die Endlagerprojekte Schacht Konrad und Gorleben ist außerdem
eine groteske Geldverschwendung. Die F.D.P. hat deshalb
parlamentarisch beantragt, diesem Unsinn Einhalt zu gebieten.
Die F.D.P. fordert Sie auf, Herr Minister Trittin, dem
Parlament ein schlüssiges Endlagerkonzept vorzulegen,
anstatt den Deutschen Bundestag mit Schuldzuweisungen
aufzuhalten, wo es keine Schuld zuzuweisen gibt.
({9})
Lassen Sie den Versuch, Ängste der Bevölkerung populistisch zu nutzen, und tun Sie bitte endlich Ihre Arbeit.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter von der PDSFraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Bei einer Rückblende vergangener Taten und Unterlassungen will ich namens der PDS
eingestehen, dass die Genehmigung von Morsleben im
Jahre 1986 durch die damals verantwortlichen Stellen der
DDR ein Fehler war. Es hätte erkannt werden müssen,
dass in einem weiträumig ausgehöhlten Kalibergwerk
schwer vorhersagbare Verformungen auftreten und Einbrüche von Schweben erwartet werden können. Vergleichbare Erfahrungen wurden im damaligen Westen
auch im so genannten Versuchsendlager Asse gemacht,
das ebenso ein Kalibergwerk war. Nun droht der Absturz
der Decke über einer Einlagerungskammer.
Unzweifelhaft ist auch, dass sich die frühere Bundesregierung für den Betrieb des atomaren Endlagers Morsleben eingesetzt hat. So erteilte Bundesumweltministerin
Angela Merkel im Juni 1995 eine Weisung zum Weiterbetrieb des Lagers, nachdem das Land einen teilweisen
Einlagerungsstopp verfügt hatte. Aber auch die Abgeordneten aus CDU/CSU und F.D.P. förderten den Weiterbetrieb. Durch die am 1. Mai 1998 in Kraft getretene
Atomrechtsnovelle wurde die Betriebsgenehmigung für
Morsleben um fünf Jahre, also bis zum 30. Juni 2005, verlängert.
({0})
Morsleben wurde auch von Atomanlagen genutzt, die
in SPD-geführten Ländern liegen. So genehmigte das
rot-grün regierte Nordrhein-Westfalen die Verbringung
von Abrissabfällen des AKW Würgassen nach Morsleben.
Die Bundesanstalt für Strahlenschutz hat unter Herrn
König die Zwischenlagerung von Abfällen, darunter Cobalt-60-Strahlenquellen, legalisiert. Diese Abfälle dürfen
in Morsleben aber nicht endgelagert werden. Mit dieser
Legalisierung hat Herr König faktisch auf der besagten
„Unbedenklichkeitserklärung“, um die es in dieser Aktuellen Stunde geht, aufgebaut. Ich fordere den Bundesumweltminister bei dieser Gelegenheit auf, die zwischengelagerten Abfälle aus der Grube entfernen zu lassen. - Er
hat gerade genickt.
({1})
Auch wenn die Risse schon seit längerem bekannt sein
sollten, erscheinen mir Maßnahmen zur Abwehr der Gefahr des Absturzes von 10 000 Tonnen Salzgestein in einen ungeordneten Haufen von Atommüllfässern plausibel. Wenn die Fachleute der Bundesregierung auf
Gefahrenabwehr plädieren, dann kann ich zunächst nicht
anders, als der Bundesregierung Glauben zu schenken.
Auch ohne das Vorliegen von gesetzlich geforderten Planunterlagen zum Abschluss der Grube muss mit den Sicherungsarbeiten unverzüglich begonnen werden.
Ich teile jedoch nicht die Auffassung von Sachsen-Anhalts Umweltminister Konrad Keller und seinem niedersächsischen Kollegen Jüttner, dass - ich lese aus einer
Tickermeldung vor - die bisherigen Zeitpläne des Bundesamtes zur Stilllegung als zu langfristig bezeichnet werden müssen. Keller und Jüttner monieren, dass das Planfeststellungsverfahren zur Verschließung des ehemaligen
Salzstocks bereits seit mehr als acht Jahren laufe.
Nach meinen Informationen ist es nämlich nicht so,
dass Antragsteller und Genehmigungsbehörde trödelten;
vielmehr haben sie eher über Zeitdruck zu klagen. Ein
Problem scheint zu sein, dass bisher keines der betrachteten Verschlusskonzepte in Bezug auf seine technischen
Folgen hinreichend erprobt worden ist und dass die Abwägung der günstigsten Variante deshalb Schwierigkeiten
macht.
Eine sorgfältige Abwägung ist jedoch erforderlich, da
im Rahmen der gesetzlich geforderten Beteiligung der
Bürger und der Träger öffentlicher Belange vertretbare
Planunterlagen öffentlich ausgelegt werden müssen. Ich
kann die Bundesregierung an dieser Stelle nur eindringlich davor warnen, im Zuge der Sicherungsmaßnahmen
die Öffentlichkeitsbeteiligung zu beschneiden. Der Verdacht darf nicht aufkommen, dass hier ohne Beteiligung
einfach Fakten geschaffen werden sollen.
Zum Schluss: Das BfS ist gleichzeitig Aufsichtsbehörde und Betreiber von Morsleben. Es wäre zu überlegen, ob diese Verantwortlichkeiten für die Zukunft nicht
getrennt werden.
Danke.
({2})
Jetzt hat
die Kollegin Steffi Lemke vom Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Sehr
geehrter Herr Präsident! Werte Kollegen und Kolleginnen! „Morsleben ist sicher“ - mit dieser Durchhalteparole
haben uns CDU/CSU und F.D.P., an ihrer Spitze die ehemalige Umweltministerin Merkel, jahrelang einzubläuen
versucht, dass dort ein vollkommen sicheres Endlager
existiert, in das man bedenkenlos radioaktiven Müll einlagern kann. Wer anderes sagte, dem wurde - wahlweise - Panikmache, Unfähigkeit oder ideologische Verbohrtheit vorgeworfen.
({0})
Das eigentliche Problem dieser ganzen Geschichte war
meiner Ansicht nach aber, dass die alte Bundesregierung
das wider besseres Wissen getan hat. Frau Merkel war bekannt, dass die ehemalige Betriebsgenehmigung aus
DDR-Zeiten immer auf unsicheren Füßen stand. Frau
Merkel wusste, dass es bereits zu DDR-Zeiten Sicherheitsbedenken selbst von offiziellen Stellen gab. Frau
Merkel wusste, dass die Gefahr von Wassereinbrüchen
und Deckgebirgszusammenbrüchen nicht auszuschließen
war.
({1})
Dies war durch Gutachten belegt. Trotzdem wurde
Morsleben genutzt; trotzdem wurde in Morsleben eingelagert. Trotzdem haben CDU/CSU und F.D.P. die Einlagerung in Morsleben sogar massiv ausgeweitet und die
Einlagerung von schwachradioaktivem Material wurde
um mittelradioaktiven Müll erweitert. Noch im Jahre
1998, als die Spatzen schon von den Dächern pfiffen, dass
Morsleben Schäden aufweist, haben Sie mit einer bloßen
Gesetzesänderung ohne Sicherheitsüberprüfung entschieden, die Genehmigung zur Einlagerung bis 2005 zu verlängern. Das heißt, wenn es nach Ihnen gehen würde,
würde heute dort immer noch lustig weiter eingelagert
werden und würden weiterhin alle Sicherheitsrisiken
ignoriert werden.
({2})
Frau Homburger, Sie haben sich ja um das Thema der
heutigen Aktuellen Stunde fein säuberlich herumgedrückt. Sie haben zu dem Anteil Ihrer Fraktion an den Entscheidungen der damaligen Bundesregierung nichts gesagt.
({3})
Ich möchte Ihnen zur Auffrischung Ihres Gedächtnisses
ein Zitat Ihres ehemaligen Staatssekretärs im Umweltministerium, Hirche, vorlesen, der im April 1998 - nicht
1970 oder sonst wann - hier im Deutschen Bundestag ausgeführt hat:
Es liegen keinerlei Sicherheitsdefizite oder bedenkliche Mängel vor, die zur Einstellung des Betriebes
in Morsleben führen könnten.
Andere Behauptungen wurden als falsch oder als Panikmache abqualifiziert.
Wir brauchen dieses Endlager,
({4})
- so lauteten die Ausführungen Ihres Fraktionsmitgliedes
weiter weil wir die Abfälle, die für dieses Endlager vorgesehen sind, eben auch unterbringen müssen.
({5})
Von Sicherheitsüberprüfungen keine Spur.
({6})
Morsleben kam Ihrer Atompolitik so gelegen, weil
man in grenznahem Gebiet in einem Endlager mittel- und
schwachradioaktiven Müll einlagern konnte. Da die Einlagerung von Atommüll dort so einfach aussah, sollte der
Eindruck erweckt werden, dass irgendwann auch die Entsorgung von hoch radioaktivem Müll ohne Probleme
möglich sein würde und dass man dafür unproblematisch
ein Endlager finden würde. Sie wussten, dass im ehemaligen Grenzgebiet zwischen Ost und West der Widerstand
gegen ein solches Lager eher gering sein würde. Frau
Merkel als Ostdeutsche wusste sehr gut, dass in einer Region mit hoher Arbeitslosigkeit kritische Fragen, Proteste
oder gar der Widerstand gegen einen der größten Arbeitgeber vor Ort kaum zu erwarten waren.
({7})
Deshalb haben Sie Untersuchungen zur späteren Stilllegung von Morsleben und damit zur Langzeitsicherheit
hinausgezögert, um die Sicherheitsprobleme dabei nicht
öffentlich werden zu lassen.
Herr Obermeier, wir wollen hier noch einmal klarstellen: Nicht Frau Merkel hat den Einlagerungsbetrieb beendet, sondern er musste beendet werden, weil ein Gericht
einer Klage stattgegeben hat. Dadurch wurden Sie gezwungen, kurz vor der Bundestagswahl den Einlagerungsbetrieb zu beenden.
({8})
Frau Merkel hat parallel angekündigt, den Einlagerungsbetrieb wieder aufzunehmen und fortzuführen. Während
Ihrer Regierungszeit hat es kein Bewusstsein für die Sicherheitsprobleme gegeben.
({9})
Hätte nicht Umweltminister Trittin nach dem Regierungswechsel den Einlagerungsbetrieb beendet, würden
Sie heute dort noch weiter Einlagerungen zulassen. Für
Sie stellt es offensichtlich kein Problem dar, dass dort irgendwelche Bröckchen von der Decke gestürzt sind.
({10})
Wir stehen heute beim Endlager Morsleben vor zwei
großen Problemen: Erstens muss der akuten Einsturzgefahr einiger Hohlräume im Endlager begegnet werden
und zweitens müssen wir die Aufgabe angehen, ein
Schließungskonzept für das Endlager zu erstellen, das
langfristig Sicherheit bietet. Das ist angesichts dieser maroden Anlage wirklich eine äußerst schwierige Aufgabe.
Wir brauchen also einerseits Maßnahmen zur akuten Gefahrenabwehr. Diese hat der Präsident des Bundesamtes
für Strahlenschutz bereits angeordnet. Hier geht es nicht
um akute Panikmache, Frau Homburger. Sie haben es
überhaupt nicht begriffen, dass wir in der Öffentlichkeit
eine sehr sachliche und zielorientierte Diskussion führen.
({11})
Andererseits müssen diese Sofortmaßnahmen in Übereinstimmung mit dem langfristig bestmöglichen Schließkonzept gebracht werden. Um diese Aufgabe beneide ich die
Experten beim Bundesamt für Strahlenschutz wirklich
nicht.
Die rot-grüne Bundesregierung wird diese Aufgaben
mit Augenmaß, Verantwortungsbewusstsein und einer
eindeutigen Orientierung am Sicherheitsbedürfnis vornehmen und vollenden.
({12})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Paul Laufs von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Diese Aktuelle Stunde
gehört zur finsteren Fortsetzungsgeschichte der irrationalen Anti-Atom-Agitation, die zum rot-grünen Markenzeichen geworden ist.
({0})
Das neue Katastrophengemälde, das von Morsleben
gezeichnet wird, hat nichts mit der Wirklichkeit und überhaupt nichts mit den Fakten zu tun.
({1})
Es geht wieder einmal allein um destruktive Stimmungsmache in der Erwartung, dass diese von den Massenmedien ignorant und wohlwollend verbreitet wird.
Ich komme zu den Fakten. Das von Ihnen problematisierte Südfeld des Endlagers Morsleben - das sollten Sie,
Herr Bundesumweltminister, wissen - wird seit Jahren intensiv geotechnisch überwacht. In den Hohlräumen dieses
ehemaligen Salzbergwerkes in rund 500 Metern Tiefe
werden ständig Höhen-, Konvergenz- und Extensometermessungen so wie Oberflächenradarmessungen durchgeführt. Es gibt außerdem eine mikroakustische Überwachung. Es gibt die Beobachtung von Rissen mit entsprechenden Meßgeräten und Gipsmarken. Es wurden
geomechanische Modellrechnungen vorgenommen. Die
Ergebnisse aller dieser Untersuchungen sind bis heute unbestritten und eindeutig:
({2})
Die großflächige Standsicherheit der Abbaue im Südfeld
ist langfristig garantiert. Diese Tatsache wird auch durch
gelegentlich lokal auftretende Ablösungen von Steinsalzbrocken aus den Deckenbereichen nicht infrage gestellt,
wie sie etwa durch Radarmessungen im März dieses Jahres im Abbau 8 a, zweite Sohle möglicherweise zu erwarten sind. Die jetzt angekündigten Verfüllungen der Resthohlräume von zwei Einlagerungskammern ist von den
Fachleuten bereits 1996 empfohlen worden.
Mit Ihrer Klage, Herr Trittin, können Sie vielleicht Ihre
Anhänger beeindrucken, aber nicht die sachkundigen
Kollegen hier in diesem Hohen Hause.
({3})
Vor einem Jahr, im Sommer 1999, hat die von Ihnen,
Herr Minister Trittin, neu eingesetzte Reaktorsicherheitskommission das Endlager Morsleben vor Ort besichtigt.
Über die Befunde gibt es einen Bericht des Bergamtes
Staßfurt, der vom Bundesamt für Strahlenschutz akzeptiert wurde. Niemand sah eine Veranlassung zum Handeln, auch Sie nicht, Herr Trittin.
({4})
Wer erlaubt Ihnen eigentlich, wer gibt Ihnen das Recht,
mit spitzem Finger auf Töpfer und Merkel zu zeigen?
({5})
Die Situation vor Ort ist seit Jahren unverändert. Auch
heute stellt das Bundesamt für Strahlenschutz klar: Selbst
wenn ungewöhnlich große Löser auf die dort lagernden
schwach und mittelradioaktiven Abfälle stürzen sollten,
würde keine unzulässige Freisetzung radioaktiver Stäube
in die Umgebung stattfinden.
({6})
Die Einlagerung von Abfällen in Morsleben wurde
nicht von Ihnen, Herr Trittin, sondern noch vor der Bundestagswahl 1998 aufgrund eines Gerichtsbeschlusses
eingestellt,
({7})
der überhaupt nicht mit sicherheitstechnischen, sondern
allein mit rechtlichen Defiziten begründet wurde.
({8})
- Ja, nicht mit sicherheitstechnischen Problemen, Herr
Trittin.
({9})
Der Beschluss wurde mit rechtlichen Problemen begründet, die es gibt und denen man durch Einstellung der
Einlagerung entsprechend Genüge tun musste.
Meine Damen und Herren, der Zweck dieser wenig aktuellen Debatte ist wieder einmal der Versuch, das Argument von der ungeklärten Endlagerung radioaktiver Abfälle zu bemühen. Mit diesem Argument wird der
Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie begründet, was unlogisch und unsinnig ist;
({10})
denn die sichere Endlagerung
({11})
radioaktiver Abfälle ist eine Aufgabe, die auf jeden Fall
gelöst werden muss,
({12})
weil großen Mengen aus der Medizin, aus der Industrie
und aus kerntechnischen Anlagen in deutschen und ausländischen Zwischenlagern verwahrt werden. Diese Aufgabe ist lösbar und wir in Deutschland waren sehr nahe an
der Lösung, als die Regierung Schröder/Trittin weitere
Fortschritte aus rein parteipolitischen Gründen verhinderte.
({13})
So wird das unbestritten geeignete und fertig gestellte
Endlager Konrad nicht in Betrieb genommen. Das wäre
die Lösung für die Endlagerung schwach- und mittelradioaktiver Abfälle. Die Erkundungsarbeiten in Gorleben
wurden eingestellt.
({14})
Die Genehmigung für den Transport von abgebrannten
Brennelementen und Glaskokillen aus Frankreich wird
verweigert, obwohl keine Sacheinwände dagegen vorgebracht werden können. Nicht das Entsorgungskonzept
früherer Bundesregierungen, sondern Ihre Politik, Herr
Trittin, ist unverantwortlich und in der Sache absolut inkompetent.
({15})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Waltraud Wolff von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr
geehrter Herr Obermeier! Sehr geehrter Herr Laufs! Mich
wundert, dass Ihre Fachexpertin und Ex-Umweltministerin, Frau Merkel nicht hier ist und sich dieser Diskussion
stellt.
({0})
Es wundert mich auch, dass noch kein einziger Kollege
danach gefragt hat. Aber schönen Dank, dann konnte ich
das tun. Vielleicht sitzt Frau Merkel in ihrem Büro und
schaut zu; die heutige Debatte ist auch für sie gedacht.
Morsleben - 381 Einwohner, ein idyllisch gelegenes
Dorf im Allertal. Dieses Dorf ist Teil des Ohre-Kreises,
des Landkreises, aus dem auch ich komme. Der Ort ist
bundesweit bekannt, aber nicht, weil Morsleben eben ein
so kleines, schönes Dörfchen ist, sondern weil diese unselige Geschichte des Atomendlagers durch ganz
Deutschland geistert.
In der DDR war Morsleben im Bereich des Sperrgebietes. Das heißt, ich selbst kannte dieses Dorf nur vom
Hörensagen; ich konnte dieses Dorf zu DDR-Zeiten nicht
kennen lernen. Als 1970 Morsleben aus neun verschiedenen Gruben als Endlager ausgewählt wurde, sind die Bürgerinnen und Bürger des Ortes nicht gefragt worden. Das
war zu DDR-Zeiten eben so.
Nach der Wende war die Bundesregierung froh, endlich einen Ort für atomare Abfälle „beigetreten“ bekommen zu haben.
({1})
- Ja, genauso ist das. Welch glücklicher Zufall, kann man
da nur sagen. Natürlich wurde weiter eingelagert; der Einigungsvertrag gab das schon her. Die Bevölkerung
wurde nicht gefragt. Das war eben wieder so.
Alle Bedenken und alle Einwände des Umweltministeriums von Sachsen-Anhalt wurden ausgehebelt. Frau
Merkel, die Fachfrau für atomare Endlagerung, schlug
Gutachten und Expertenmeinungen in den Wind und entschied: Das Endlager ist sicher, keine Gefahr. Sie schaffte
es sogar, die Parteikollegen vor Ort zu überzeugen, sodass
auch unser Landrat in Morsleben einfuhr und sagte: keine
feuchten Stellen; das Endlager ist sicher. Selbstredend ist
auch er Fachmann für Atomendlager, ganz logisch.
Was haben die Menschen in Morsleben getan? Die haben gehört, was sie hören wollten. Das ist vorhin schon
einmal angesprochen worden. Die Arbeitsplatzsicherung
stand nämlich im Vordergrund. Das war eine ganz
menschliche Regung, die ich auch verstehen kann. Sie
haben das Wort „Sicherheit“ gehört und haben es auch so
aufgenommen.
Wir haben gestern Abend in Morsleben eine öffentliche
Bürgerveranstaltung durchgeführt. Unserer Einladung
folgte neben dem Umweltminister aus Sachsen-Anhalt
auch der Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz,
Wolfram König, der heute hier ist.
({2})
Die Stimmungslage gestern Abend war eine ganz andere
als noch vor ein oder zwei Jahren. Damals galt nämlich
der Arbeitsplatzerhalt; aber gestern Abend sind in den
Fragen auch die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger zutage getreten.
({3})
- Was heißt: „Da seid ihr erfolgreich“? Nicht nur da, Herr
Obermeier.
({4})
Bürgerinitiativen, kritische Fachleute, Umweltverbände,
Gutachten - die alte Regierung hat alles in den Wind geschlagen. Niemand hat sich mit den Folgen auseinander
gesetzt, auf Kosten der Bevölkerung und auf Kosten der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Endlagers Morsleben. Das werfe ich der alten Regierung und Frau Merkel
vor.
Nicht Unwissenheit führte dazu, dass wir heute mit der
Einsturzgefahr zu kämpfen haben. Nein, so ist es nicht. In
der Zeit von Sommer 1995 bis zum Regierungswechsel
1998 sind alle Verfügungen, die das Land Sachsen-Anhalt
ausgesprochen hat, von Frau Merkel außer Kraft gesetzt
worden. Frau Merkel hat wider besseres Wissen gehandelt.
({5})
Sie ist ein zu großes Risiko eingegangen - auf Kosten ihrer Mitmenschen.
({6})
Mir persönlich läge an einer Aufarbeitung dieser Vorgänge und auch der gutachterlichen Stellungnahmen.
Ich bin froh und dankbar, dass Umweltminister Trittin
mit Schreiben vom 4. Mai dieses Jahres alle diese Anweisungen außer Kraft gesetzt hat. Nun kann - fast schon zu
spät - das Land Sachsen-Anhalt mit dem Bundesamt für
Strahlenschutz gemeinsam an die Bewältigung des Schadens gehen. Ich hoffe, dass ab kommenden Montag die
schon angesprochenen vorgezogenen Verfüllmaßnahmen
durchgeführt werden.
Ich möchte ganz deutlich sagen: Hier ist Gefahr im
Verzuge. Es geht um Gefahrenabwehr. Es handelt sich
nicht um eine Gefahr, die eventuell eintreten könnte, sondern es handelt sich um eine Gefahr - da können Sie den
Präsidenten des Bundesamtes für Strahlenschutz fragen -,
die im Verzuge ist. Das muss deutlich gesagt werden.
({7})
Kommen
Sie bitte zum Schluss.
Zum Schluss
habe ich die Bitte, dass alle notwendigen Unterlagen, die
für das Planfeststellungsverfahren erforderlich sind und
die der Bund liefern muss, dem Land Sachsen-Anhalt unverzüglich zur Verfügung gestellt werden, und zwar zum
Wohle der Bürgerinnen und Bürger von Morsleben und
auch der gesamten Region.
Schönen Dank.
({0})
Als
nächster Redner hat der Kollege Ulrich Klinkert von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Es ist gewährleistet,
dass aus dem Endlager Morsleben keine unzulässige Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Umgebung stattfindet.
Die Standsicherheit des Südfeldes wie des gesamten
Bergwerkes ist nicht gefährdet. - Diese Erkenntnis aus
jüngster Zeit stammt nicht von mir, sondern vom Präsidenten des Bundesamtes für Strahlenschutz, Wolfram
König, der sich auf wissenschaftliche Untersuchungen
des BfS und der Bundesanstalt für Geowissenschaften
und Rohstoffe stützt. Wenn dem so ist, woran kein Zweifel besteht, dann muss ich feststellen, dass der Bundesumweltminister im Zuge Panikmache hier und heute dem
Parlament die Unwahrheit gesagt hat.
({0})
Wenn man die Worte des Präsidenten des BfS, Herrn
König, hört, dann fragt man sich allerdings: Warum diese
Aufregung? Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Herr
König ist nämlich in eine von ihm selbst aufgestellte Falle
getappt. Die Erkenntnis, dass es Risse im Südfeld gibt
- übrigens weit oberhalb der infrage kommenden Einlagerungsräume und auch noch seitlich versetzt, sodass diese
Räume nicht betroffen sein können -, ist überhaupt nicht
neu. Diese Risse und mögliche Lösen werden von den Fachleuten als gefahrlos beherrschbare Erscheinung angesehen.
Nicht neu ist auch, dass schon lange geplant ist, die drei
Einlagerungsräume zu verfüllen bzw. - wie der Bergmann
sagt - zu versetzen. Diese Maßnahme ist vom BfS - übrigens lange bevor Herr König dort Präsident wurde - in die
Wege geleitet worden. Unbekannt ist vielleicht die Tatsache, dass sich das damals grün-geführte Umweltministerium des Landes Sachsen-Anhalt immer gegen einen solchen Versatz gesperrt hat und die dafür notwendigen
Genehmigungen verweigert hat.
Interessant ist ferner, dass Herr König selbst in diesem
sachsen-anhaltinischen Umweltministerium als Staatssekretär gearbeitet hat, also für diese Verweigerung auch
persönliche Mitverantwortung tragen muss. Man hätte
folglich schon längst und in Ruhe, spätestens aber seit
1998, verfüllen bzw. versetzen können. Wie gesagt: Die
Risse stellen keine akute Gefahr dar; sie sind spätestens
seit 1996 bekannt.
({1})
Dann wollte Herr König in seiner Eigenschaft als Präsident des BfS offensichtlich Entschlossenheit und
Durchsetzungsvermögen dokumentieren und den Versatz
einleiten. Nebenbei wollte er - dagegen ist nichts zu sagen - die dort Beschäftigten mit dieser Aufgabe betrauen,
weil durch die Verweigerungshaltung der Landesregierung erstens das Einlagern nicht mehr möglich ist und
zweitens auch ein Versatz nicht mehr durchgeführt werden kann.
Nach dem Motto „Die Geister, die ich rief, werd’ ich
nun nicht wieder los“ hat die sachsen-anhaltinische Landesregierung die Genehmigung für einen Versatz weiterhin nicht erteilt. Um dennoch tätig werden zu können,
musste eine Gefahr für die Bergsicherheit konstruiert werden. Dabei hat Herr König im Rückgriff auf altbekannte
Tatsachen völlig überzogen; im Übrigen hat er wahrscheinlich nicht mit der Reaktion der Medien gerechnet.
Die Panikmache hat dazu geführt, dass die Medien ihn mit
„akuter Einsturzgefahr“, „Wassereinbruchsgefahr“ und
anderen Katastrophenszenarien zitieren, die dann wiederum zur Verunsicherung der Bevölkerung vor Ort geführt haben.
({2})
Waltraud Wolff ({3})
Um diese Verunsicherung wenigstens etwas zu egalisieren und den von ihm angerichteten Schaden ein wenig
auszugleichen, ist Herr König gestern nach Morsleben gefahren. Ich habe zwar noch nichts gehört, hoffe aber sehr,
dass er die Situation ein wenig realistischer dargestellt
hat,
({4})
dass er gesagt hat, dass keine Gefahr des Austretens unzulässiger Konzentrationen besteht, dass die Salzbarriere
des Endlagers sicher ist, dass es nicht zu akutem Herabfallen von großen Lösen mit Einwirkungen auf die endgelagerten Stoffe kommen kann und dass auf keinen Fall
die Gefahr eines Einsturzes des Bergwerkes bzw. von Teilen des Bergwerkes besteht.
Herr König sollte auch darstellen, dass die sachsen-anhaltinische Landesregierung den Versatz sowohl vor dem
Regierungswechsel als auch danach zunächst verweigert
hat und dass die unseriöse Panikmache zu einer Verunsicherung der Bevölkerung geführt hat. Aber es hat ja bei
Rot-Grün Methode, dass man versucht, die Kernenergienutzung durch die Blockade des Entsorgungspfades und
durch Panikmache insgesamt zu diskreditieren.
({5})
Insgesamt betrachte ich diese Aktuelle Stunde als Eigentor von Rot-Grün.
Vielen Dank.
({6})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Michaele Hustedt von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist in der
Tat schade, dass man keine ehemalige Ministerin herbeizitieren kann, damit sie sich ihrer Verantwortung stellt.
({0})
Denn es war die ehemalige Umweltministerin und heutige
CDU-Chefin Frau Merkel,
({1})
die das Atomlager gegen alle Kritik, die es schon damals
gab, und alle Analysen verteidigt hat, obwohl sie gewarnt
war. Sie hat immer wieder alles abgebügelt, indem sie gesagt hat: Morsleben ist sicher. Sie hat den Weiterbetrieb
ohne neues Genehmigungsverfahren bis 2005 durchgesetzt und ist - das möchte ich hier nochmals sagen - erst
durch einen Gerichtsbeschluss gestoppt worden. Es hat
des Regierungswechsels bedurft,
({2})
damit ein neuer Umweltminister, nämlich Umweltminister Trittin, die Bundesweisung von Frau Merkel zurücknehmen konnte.
({3})
Wenn sich Frau Merkel und Herr Hirche ihrer Verantwortung hier nicht stellen, so sind heute wenigstens die
ehemaligen parlamentarischen Staatssekretäre Herr Laufs
und Herr Klinkert da, die beide die Verantwortung mitzutragen haben. Nur, wie sie das hier tun, verschlägt mir
wirklich schlichtweg die Sprache.
({4})
Mir wird noch nachträglich angst und bange, wenn ich mir
überlege, dass solche Menschen wie Sie
({5})
Verantwortung für die Sicherheit von Atomkraftwerken,
für die Sicherheit von Transporten und für die Sicherheit
von End- und Zwischenlagerstandorten getragen haben.
({6})
Wenn Sie es normal finden, dass Teile des Lagers
- Gott sei Dank nicht das ganze Lager - zusammenbrechen, und wenn Sie es normal finden, dass dort zentimetergroße Risse auftreten,
({7})
und uns Panikmache vorwerfen, wenn wir sagen, dass da
jetzt etwas getan werden muss, dass gehandelt werden
muss, dass man es gar nicht so weit hätte kommen lassen
dürfen,
({8})
dann kann ich nur sagen: Sie haben es noch immer nicht
kapiert.
({9})
Das wirft die interessante Frage auf: Warum ist es denn
bei Ihnen immer so, dass Sie die Gefahren verharmlosen?
({10})
Das tun Sie ja nicht nur bei Morsleben, sondern auch bei
der Wiederaufbereitung, die im Prinzip eine illegale Zwischenlagerung ist, die Sie befördert haben.
({11})
Das tun Sie auch in Bezug auf Gorleben, auf den Schacht
Konrad und auf Asse.
Ich nehme einmal das Beispiel Gorleben, weil Sie in
dem Zusammenhang immer sagen: Wir haben doch eigentlich ein Endlager. Viele Wissenschaftler sagen, Gorleben sei nicht für die Lagerung von radioaktivem Müll,
der dort im Umfang von 10 000 Tonnen eingelagert werden soll, geeignet.
({12})
Denn aufgrund mikrobieller anaerober Tätigkeiten könnten sich Gase entwickeln, die dieses Gestein nicht durchlässt,
({13})
was zu Rissen führen könnte. Das Deckgebirge könnte
dann nicht mehr ausreichen.
({14})
- Das ist für Sie natürlich wieder Panikmache, weil Sie
verharmlosen. Dies müssen Sie tun, weil Sie in Bezug auf
die Atomkraft kein Entsorgungskonzept haben.
({15})
Sie mussten die Wiederaufbereitung, die im Prinzip
eine illegale Zwischenlagerung ist, genehmigen, weil Sie
ansonsten keinen Entsorgungsnachweis hätten vorlegen
können.
({16})
Obwohl es berechtigte Zweifel an der Geeignetheit von
Gorleben gegeben hat, haben Sie die Erkundung nur deshalb weiter betrieben, weil Sie sonst keinen Entsorgungsnachweis gehabt hätten.
({17})
Ihr gesamtes Gebäude der Pro-Atomkraftpolitik wäre wie
ein Kartenhaus in sich zusammengefallen, wenn Sie nur
den geringsten Zweifel an der Sicherheit von Morsleben
bzw. Gorleben oder an der Wiederaufbereitung zugelassen hätten.
({18})
Das ist der Grund dafür, dass Sie in dieser Art und Weise
verharmlosen, wie Sie es tun.
({19})
Ich kann nur feststellen: Es wurde Zeit, dass Menschen
an die Regierung kommen, die nicht verharmlosen und
die nicht ideologisch verblendet sind, sondern sich ernsthaft Gedanken um die Sicherheit der Atomkraft und um
die Entsorgung des Mülls machen
({20})
und versuchen, die Fehler, die Sie gemacht haben, wieder
gutzumachen.
({21})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Monika Ganseforth von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kollegen und Kolleginnen! Es gibt viele Gründe dafür,
dass sich der Regierungswechsel gelohnt hat. Die heutige
Debatte hat mir einen weiteren deutlich gemacht: Es ist
unverantwortlich, was ich von Ihrer Seite gehört habe, als
stimme es gar nicht, dass das Lager Morsleben nicht für
Atommüll geeignet ist und auch nie gewesen ist.
Das ist das Thema, mit dem wir uns heute befassen
müssen, und nicht die Verfüllung oder sonst etwas. Dass
das Ministerium in Bezug auf Morsleben mit großer Verantwortung vorgeht, damit die Menschen keine Angst haben müssen, das hat nichts damit zu tun, dass es unverantwortlich war und ist, in dieses Bergwerk Atommüll
einzulagern.
({0})
Wir haben es hier wieder mit einer der üblichen Altlasten zu tun. Hier besteht sogar eine doppelte Altlast: eine
Altlast aus der ehemaligen DDR, die nahtlos von der Regierung aus CDU/CSU und F.D.P. fortgeführt worden ist.
Sie haben ja immer das fortgeführt, was in Ihr Konzept
passte, während Sie andererseits alles andere, was die
Kommunisten gemacht haben, furchtbar fanden. Wenn es
aber in Ihr Konzept passte, war es immer vom Besten. Sie
haben das dann unbesehen und in unverantwortlicher
Weise übernommen.
({1})
Dabei gab es von Anfang an große Bedenken gegen die
Langzeitsicherheit von Morsleben. Dort hätte nie Atommüll gelagert werden dürfen.
({2})
Zum Beispiel haben Wissenschaftler des Brennstoffinstituts in Freiberg im Erzgebirge schon in den 70er-Jahren in
einem offiziellen Zwischenbericht im Zusammenhang
mit einer staatlichen Sicherheitsstudie formuliert - jetzt
sollten Sie zuhören -:
Der zentrale Teil der Grube lässt wahrscheinlich
keine ausreichende Standsicherheit erwarten.
Das war damals schon bekannt.
Trotzdem hat die ehemalige DDR ab 1986 mit der Einlagerung von Atommüll begonnen. Das ist schlimm genug. Unverantwortlich ist aber, dass Sie das nach der Vereinigung nahtlos fortgesetzt haben.
({3})
Schon am 2. Oktober 1990 hat das Bundesumweltministerium verfügt,
({4})
dass das Endlager Morsleben ab 3. Oktober als „Anlage
des Bundes“ weiterbetrieben wird. Die Regierung
Kohl - verantwortlich war Frau Merkel - hat sogar noch
versucht, eine Verlängerung des Betriebes bis zum Jahre
2005 durchzusetzen. Gerade Frau Merkel hätte doch aus
eigener Erfahrung wissen müssen, wie in Ostdeutschland
mit Sicherheitsstandards umgegangen, wie wenig dort
auf die Bevölkerung Rücksicht genommen und wie viel
geheim gehalten worden ist. Aber wenn es ins Konzept
passt, dann wird es nicht mehr wie sonst bei jeder Gelegenheit angeprangert, sondern aus ideologischen Gründen einfach in Kauf genommen. Sie haben es ja heute
auch gesagt: Sie mussten irgendwo hin mit dem Atommüll. Sie haben also die Augen zugedrückt und die Genehmigung des Unrechtsregimes einfach übernommen.
({5})
Wie verblendet muss man sein, ja wie leichtfertig und
fahrlässig, so etwas zu machen und so mit der Sicherheit
der Menschen umzugehen!
({6})
Das richtet sich nicht nur an die Regierung Kohl,
Merkel & Co. - von ihr sitzen hier einige -, sondern ich
finde auch, dass die Genehmigungsbehörden und die Experten in den Ministerien dafür zur Rechenschaft gezogen
werden müssten oder sich fragen lassen müssten, ob sie
wirklich alles berücksichtigt haben und ob sie nicht auf
Weisung von oben in vorauseilendem Gehorsam das eine
oder andere unterstützt haben. Es gab genug Warnungen.
Die Regierung von Sachsen-Anhalt hat sich gewehrt
und versucht, die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung
in den Mittelpunkt zu stellen.
({7})
- Doch. Frau Merkel hat per Weisung die Lagerung von
Atommüll durchgesetzt. Es kam Atommüll aus Gundremmingen, von Isar 1 und Isar 2, aus dem Versuchsatomkraftwerk Kahl, aus Würgassen, aus Hamm-Uentrop usw. Es sind Atommüllmengen in das Lager
hereingekommen - der Minister hat es gesagt -, die mehr
waren als zu Zeiten der DDR. Erst mit dem Regierungswechsel wurde ein Schlussstrich unter diese unverantwortliche Praxis gezogen.
({8})
Natürlich haben die Gerichte auch etwas dazu gesagt.
Aber es sind acht Jahre verloren gegangen, und es wurde
weiter Atommüll eingelagert. Das hätten wir nicht gemacht. Der eingetretene Schaden ist groß genug. Man
muss sich das einmal vorstellen: Die Salzbergwerke sind
über 100 Meter lange Hallen, 25 Meter hoch; das sind
Riesenhallen. Da ist die Standsicherheit nicht gegeben, es
können die Brocken herunterfallen, es sind Risse drin.
({9})
Als wir gesagt haben, dass wir damit aufhören, kam
von Ihrer Seite - auch heute haben Sie das wiederholt die Frage, welche neuen fachlichen Erkenntnisse dahinter
steckten. Herr Laufs hat es wiederholt: Es ist alles in Ordnung, man könnte so weitermachen. - Das zeigt, wie
ignorant Sie sind.
({10})
Die Zeiten der leichtfertigen Weisungen und dieser Genehmigungen sind vorbei. Wir von der SPD und vom
Bündnis 90/Die Grünen werden uns - anders als die Regierung Kohl, Merkel & Co. - frei von ideologischen
Festlegungen und ohne Abstriche bei der Sicherheit, an
die Lösung der Aufgabe der Endlager machen.
Schönen Dank.
({11})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Klaus
Lippold von der CDU/CSU.
({0})
Herr
Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir
haben von der früheren DDR-Regierung,
({0})
von der SED-Politik in Sachen Kernenergie ein schlimmes Erbe übernommen.
({1})
Unter unserer Regierung mit ihrer verantwortungsvollen
Politik sind wir darangegangen, das zu ändern.
({2})
Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, Frau Ganseforth,
dann hätte der DDR-Staat fortbestanden und dann hätten
wir diese Risiken heute noch.
({3})
Wir haben das beendet, Das sage ich, damit das klar ist!
Jetzt will ich Ihnen sagen: Wir haben die unsicheren
Reaktoren in Greifswald abgeschaltet. Dazu haben Sie nie
etwas gesagt.
({4})
Wir haben Wismut mit einem Riesenaufwand saniert und
wir haben dafür gesorgt, dass auch von Morsleben keine
Gefahr für die Bevölkerung ausgeht.
Ich will auch hier noch einmal in aller Deutlichkeit sagen: Sie greifen wieder auf die alte Politik der Panikmache zurück. Man sieht es ja auch bei der Besetzung der
Grünen hier und heute.
({5})
Herr Loske, der gesagt hat: „Wir müssen zu einer anderen Politik kommen und dürfen nicht immer die Leute
mit Katastrophen verängstigen,
({6})
insbesondere dort, wo sich dies nicht halten lässt“, er ist
heute nicht hier. Heute sitzen hier die, die mit den Ängsten der Bevölkerung spielen, die Katastrophen an die
Wand malen, obgleich die Experten sagen, dass es keine
Gefährdung gibt.
({7})
Machen wir uns nichts vor: Experten sind doch nicht
Frau Hustedt und nicht Frau Ganseforth und Experte ist
auch nicht Herr Trittin. Die Experten sitzen in der Reaktor-Sicherheitskommission. Sie haben bestätigt, dass das
Vorgehen verantwortungsvoll ist. Die Experten sitzen im
Bundesamt für Strahlenschutz. Auch die haben das über
die ganzen Jahre hinweg bestätigt. Die Experten sitzen im
zuständigen Bergamt. Auch sie haben gesagt, es gebe
keine Gefährdung. Sie wollen mit der alten Masche der
Verängstigung Politik machen.
({8})
Sie wollen von den Schwächen Ihrer derzeitigen Politik
ablenken. Das ist der Punkt.
({9})
Wenn sich der Minister darauf versteift, das Endlagerkonzept der alten Bundesregierung sei gescheitert, dann
ist dies eine Form der Heuchelei, die wirklich nicht zu
überbieten ist. Erst tun Sie alles, damit das Endlagerkonzept nicht zum Tragen kommt, und hinterher sagen Sie, es
sei noch nicht realisiert. - So geht es nicht, Herr Trittin.
Das ist Heuchelei. Sie lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({10})
Sie brauchen sich gar nicht so gelassen zurückzulehnen, als sei das alles irrelevant. Das hat auch Herr Klimmt
gemacht, bis der Kanzler gesagt hat, er stütze ihn. Irgendwann wird er auch Sie stützen. Ich sagte ausdrücklich:
stützen. - Die Folge ist die gleiche.
({11})
Ein weiterer Punkt. Ausgerechnet dieser Minister, der
das Endlagerkonzept für gescheitert erklärt, fängt auf einmal an, Transportbehälter auf die grüne Wiese zu stellen,
nennt das Zwischenlager und sagt dann noch, die anderen
seien dafür, dass die Bevölkerung ein Risiko erdulden
muss. Wenn sichere Endlagerkonzepte nicht hinreichend
sind, wieso reden Sie dann von Zwischenlagern? Heute
haben Sie sich verplappert. Sie haben gesagt, Sie wollten
bei den Kraftwerken die direkte Endlagerung. Da sieht
man es doch: Sie haben das Endlagerkonzept abgeschrieben. Sie wollen den Leuten in den Dörfern die Container
auf die grüne Wiese stellen. Das ist Ihre Form von
Sicherheitsphilosophie.
({12})
Ich bin gespannt, Herr Trittin, was die Anti-KernkraftBewegung von Ihrer Philosophie vor Ort halten wird,
wenn Sie mit den dezentralen Zwischenlagern, die Sie zu
Endlagern machen wollen, anfangen.
({13})
Dafür werden Sie die Quittung bekommen.
({14})
Bei einem Thema wie dem heutigen wollen Sie doch nur
Ihrer eigenen Klientel signalisieren, Sie seien noch auf
dem Anti-Kernkraft-Pfad. Der Kanzler hat Ihnen in dieser
Frage mehrfach das Rückgrat gebrochen. Die Kernkraft
wird zu Recht weitergeführt, weil sie sicher ist.
({15})
Wir werden mit dem unsinnigen Beschluss, aus der Kernkraft auszusteigen, nach der nächsten Wahl Schluss machen. Damit werden wir eine vernünftige Klimaschutzpolitik erreichen,
({16})
die Sie nicht garantieren können, weil Sie auf den falschen
Feldern und auch mit einer falschen Politik arbeiten.
Herzlichen Dank.
({17})
Als letzter Redner in der Aktuellen Stunde hat der Kollege Ulrich
Kasparick von der SPD-Fraktion das Wort.
Dr. Klaus W. Lippold ({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, insbesondere von der
CDU! Herr Dr. Laufs, wir haben gestern in der EnergieEnquete-Kommission mit Ihrem verehrten Kollegen Professor Töpfer zusammengesessen, dem Leiter des Umweltprogramms der Vereinten Nationen. Es war für mich
eine Wohltat, Herrn Töpfer zuzuhören. Nach dem, was ich
von Ihnen erleben musste, möchte ich Ihnen dringend
empfehlen, einmal einen Töpfer-Kurs zu belegen.
({0})
Seine Beiträge waren um Welten besser als das, was
Sie heute hier vorgetragen haben. Ich will Sie kurz zitieren. Sie haben uns, Herr Dr. Laufs - ich kenne Sie aus der
Energie-Enquete-Kommission, das war unter Ihrem Niveau, das können Sie besser -, irrationale Anti-Atom-Agitation vorgeworfen.
({1})
Es ist völlig unter Ihrem Niveau, solche Vorwürfe zu machen, noch dazu, wenn sie nicht belegt werden.
({2})
Herr Klinkert hat gesagt: Das ist alles nicht neu. Wir
wissen das alles. Die Risse stellen keine akute Gefahr dar.
Das ist alles erfunden.
({3})
Das ist alles Panikmache. - Das Schönste war für mich,
dass er den Präsidenten des Bundesamtes, der hier heute
die ganze Zeit sehr aufmerksam zuhört, angreift
({4})
und ihm vorwirft, dass er, der als Staatssekretär im Umweltministerium in Magdeburg derjenige gewesen ist, der
am engagiertesten für die Schließung gekämpft hat, das
ganze Verfahren verzögere. Das ist reichlich unverschämt.
({5})
Ich will deshalb einen weiteren Punkt aufgreifen. An
Argumenten ist schon viel genannt worden. Worum geht
es? Es geht um 10 000 Kubikmeter mittelradioaktives
Material, das noch nicht einmal gestapelt ist, sondern aus
20 Meter Höhe einfach in den Berg geworfen worden ist.
Das liegt jetzt dort unten und es besteht die Gefahr, dass
Salzbrocken darauf fallen und radioaktiver Staub entsteht.
Das ist die Gefahr, um die es geht. Trotzdem sagen Sie
hier: Es ist alles harmlos, wir wissen das seit Jahren. Sie
zitieren die berühmten Experten, auf die ich noch einmal
zu sprechen kommen wollte. Sie behaupten, diese Experten hätten Ihnen gesagt, alles sei sicher.
Sie haben damals selber das Bundesamt für Strahlenschutz gebeten, ein Gutachten in Auftrag zu geben. Seit
1994 wissen Sie, dass Wasser eintreten kann. Was machen
Sie denn mit den Gutachten dieser Experten? Sie wischen
sie einfach vom Tisch. Das ist Ihr Problem. Sie nehmen
die Gutachten nicht ernst.
({6})
Als ich mich auf diese Rede vorbereitet habe, bin ich
richtig zornig geworden: Wir müssen nämlich Ihren Müll
wegräumen,
({7})
den Müll einer verfehlten Energiepolitik. Das, was da
liegt, ist der Müll Ihrer verkehrten Energiepolitik. Wir
sind ausgesprochen dankbar dafür, dass damit jetzt endlich Schluss ist und dass wir in Deutschland einen vernünftigen Energiepfad gehen. Ich wünsche mir - das betrifft insbesondere die beiden früheren Parlamentarischen
Staatssekretäre -: Lassen Sie uns doch einmal zur Sache
reden. Kommen Sie nicht immer mit den Argumenten, wir
würden eine irrationale Anti-Atom-Diskussion führen.
Es geht um ein Gefährdungspotenzial, nämlich um
10 000 Kubikmeter strahlendes Material, das verkippt im
Berg liegt und gesichert werden muss. Ich bin dem Umweltminister und dem Bundesamt für Strahlenschutz sehr
dankbar, dass sie jetzt endlich die notwendigen Schritte
einleiten.
({8})
Die Aktu-
elle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 a bis c auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({0})
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Agrarbericht 2000
Agrar- und ernährungspolitischer Bericht
der Bundesregierung
- zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung
Agrarbericht 2000
Agrar- und ernährungspolitischer Bericht
der Bundesregierung
- zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten Matthias Weisheit, Brigitte Adler, Ernst Bahr,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Ulrike Höfken, Steffi
Lemke, Kerstin Müller ({1}), Rezzo Schlauch
und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Agrarbericht 2000
Agrar- und ernährungspolitischer Bericht
der Bundesregierung
- Drucksachen 14/2672, 14/3380, 14/3391,
14/4236 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Meinolf Michels
Marita Sehn
b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Einführung einer Vergütung der Mineralölsteuer für die Land- und Forstwirtschaft ({2})
- Drucksachen 14/4218, 14/4294 ({3})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des
Finanzausschusses ({4})
- Drucksache 14/4616 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Norbert Schindler
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({5}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 14/4619 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans Jochen Henke
Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Dr. Uwe-Jens Rössel
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({6}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Ulrich Heinrich, Marita Sehn,
Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Tanken von eingefärbtem Agrardiesel unbürokratisch ausgestalten
- Drucksachen 14/3105, 14/4605 Berichterstattung:
Abgeordneter Holger Ortel
Zum Agrardieselgesetz liegt ein Änderungsantrag der
PDS-Fraktion vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat Kollege Holger Ortel von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident, mit Ihrer freundlichen Erlaubnis darf ich einige Gäste, die diese Debatte
verfolgen, herzlich begrüßen, zum Beispiel den Geschäftsführer des niedersächsischen Landvolkes, Herrn
Dr. Sohn, Herrn Scholten, den Präsidenten der Landwirtschaftskammer Weser-Ems, Herrn Hensel, den Vizepräsidenten der Landwirtschaftskammer Hannover, und den
Kreislandwirt Kai Seeger aus dem Landkreis Oldenburg.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir beraten heute
in verbundener Debatte über den Agrarbericht 2000 und
das Agrardieselgesetz. Ich möchte diese Beratung etwa
sechs Wochen vor dem Jahreswechsel in den Zusammenhang folgender aktueller Themen von grundsätzlicher Bedeutung stellen:
Erstens. Die seit Jahren andauernde BSE-Krise hat
sich dramatisch zugespitzt. In Frankreich häufen sich die
BSE-Fälle. Die dortige Bevölkerung verzichtet auf den
Verzehr von Rindfleisch, seitdem das Fleisch aus einer
Herde, in der BSE festgestellt wurde, in Verkehr gelangt
ist. Die Regierung hat ein Bündel von Maßnahmen beschlossen, wobei ich vor allem auf das vorläufige Verbot
der Tiermehlverfütterung hinweisen möchte.
Spanien hat ein nationales Einfuhrverbot für Rinder
aus Frankreich erlassen.
({0})
Auch in Österreich und Italien überlegt man sich solche
Schritte. Die gemeinsame Agrarpolitik droht wegen des
BSE-Skandals auseinander zu brechen. In Frankreich ist
der Rindfleischmarkt zusammengebrochen. Die Preise
für die Erzeuger sind drastisch zurückgegangen. Das darf
bei uns nicht passieren.
Deshalb bitte ich die Bundesregierung, im Interesse
des Verbraucherschutzes, aber auch zum Schutze der
Landwirte zu handeln. Beschließen Sie, Herr Bundesminister Funke, im Agrarrat am Montag mehr Tests zum
Schutz der Verbraucher. Sorgen Sie dafür, dass für den
Umgang mit Tiermehl EU-weite Beschlüsse gefasst werden und prüfen Sie die Forderungen des Europäischen
Parlaments nach einem Verfütterungsstopp. Wenn die
Schutzmaßnahmen EU-weit verschärft werden, brauchen
wir keine nationalen Einfuhrverbote.
Zweitens. Im Zusammenhang mit dem Schutz vor BSE
und dem drohenden Rückfall in nationalstaatliches Handeln fordere ich die EU-Kommission und die Regierungen der Mitgliedstaaten auf, in der Europäischen Union
vergleichbare Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. Es
ist nicht hinnehmbar, dass die Mitgliedstaaten bei der
Festsetzung von Steuersätzen für Energie nahezu völlige
Freiheit haben.
({1})
- Herr Kollege Carstensen, es wäre gut, wenn Sie mit
Ihren Zurufen etwas aus der Flachwasserzone herauskämen.
({2})
Bei landwirtschaftlichem Dieselkraftstoff tritt das
Problem besonders deutlich zutage. Deshalb muss hier
zuerst und ganz schnell etwas getan werden;
(Beifall der Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]
der Korridor für nationale Maßnahmen muss sehr viel enger werden. Hier sind nicht nur der Rat der Agrarminister
und der Landwirtschaftskommissar gefordert; um diese
Fragen muss sich endlich auch der Wettbewerbskommissar kümmern.
({3})
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Ich begrüße die gestrige Meldung, die Kommission
wolle Steuerbefreiungen im Mineralölbereich abschaffen.
Wir haben immer gesagt, dass das Agrardieselgesetz und
die Einführung eines besonderen Steuersatzes für landwirtschaftlichen Dieselkraftstoff von einer EU-Initiative
begleitet werden müssen. Wir verabschieden jetzt das Gesetz und setzen darin einen Steuersatz von 57 Pfennig je
Liter Diesel fest, werden aber in diesem Parlament ständig nachhaken, was sich in Brüssel tut.
({4})
Wir brauchen in der EU vergleichbare und faire Wettbewerbsbedingungen für unsere Landwirte. Das bedeutet
aber keinen Abbau von Umweltstandards, das darf nicht
heißen: weniger Tierschutz oder weniger Verbraucherschutz.
({5})
Deshalb geht auch die Forderung des Bauernverbandes,
statt Diesel Heizöl zu tanken, ins Leere.
({6})
Unsere gemeinsame Devise muss sein: gleiche
Wettbewerbsbedingungen mit ökologischer Vernunft.
({7})
All diejenigen, die meinen, Landwirtschaftspolitik sei
eine Politik nur für Bauern, irren. Diese Annahme ist
falsch, entspricht nicht unserem Verständnis und wäre
auch nicht zukunftsorientiert.
Wir sind der Auffassung, dass die Landwirtschaftspolitik in eine Politik für den ländlichen Raum eingebettet
sein muss, Umwelt- und Naturschutz zwar nicht gegen die
Bauern durchgesetzt werden dürfen, aber eine herausragende Aufgabe für die Agrarpolitik der Zukunft darstellen,
({8})
dass Tierschutz immer wichtiger wird und Konsumenten
und Bauern in einem Boot sitzen; deshalb müssen Bauern
die besseren Verbraucherschützer sein.
({9})
Um es ganz deutlich zu machen: Wenn wir über vergleichbare und faire Wettbewerbsbedingungen für unsere
Landwirte reden, meinen wir nicht weniger Umwelt-,
Tier- oder Verbraucherschutz.
({10})
Ich bitte deshalb den Bundesminister, den Agrarbericht
nicht als Bericht über oder für die Landwirtschaft aufzufassen; der Bericht muss sich noch mehr als bisher an die
Konsumenten richten und umfassend über Umwelt-, Tiersowie Verbraucherschutz berichten. Wir helfen unseren
Landwirten und deren Familien mehr, wenn einer breiten
Bevölkerung bewusst wird, wie schwer, aber auch wie gut
und verantwortungsvoll auf deutschen Bauernhöfen gearbeitet wird.
({11})
Lassen Sie mich zum Schluss eine Bemerkung machen: Ich habe mir den Entschließungsantrag der
CDU/CSU-Fraktion angeschaut.
({12})
- Das kann durchaus so sein, Herr Kollege. - Was Sie im
Grunde genommen in Ihrem Antrag fordern, ist, Steuern
und Abgaben zu senken und gleichzeitig die Zuschüsse zu
erhöhen. Bei dieser Rechenkunst würde sich der alte
Adam Riese im Grabe herumdrehen.
Herzlichen Dank.
({13})
Für die
CDU/CSU-Fraktion gebe ich nunmehr dem Kollegen
Peter Harry Carstensen das Wort.
Herr
Präsident Seiters! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe gestern eine Pressemitteilung erhalten, der
zufolge der ehemalige Bundesminister Ertl einen schweren Unfall gehabt hat, und ich möchte ihm, wenn Sie gestatten, auch im Namen des Agrarausschusses, beste Genesungswünsche übermitteln.
({0})
Wir wissen, wie engagiert er in der Landwirtschaft gewesen ist, und wir wissen auch, was er für die Landwirtschaft
getan hat.
Es ist manchmal erstaunlich, dass nicht gesehen wird,
dass die größte ökologische Leistung der Landwirtschaft
in dieser Welt und insbesondere auch in Deutschland die
Ernährung der Menschen ist. In Deutschland ackert einer und 110 werden satt.
({1})
- Es mag auch sein, dass es mehr sind. - Dies ist in dieser
Zeit der Arbeitsteilung in unserer Gesellschaft notwendig.
Man lebt in den Städten und lässt sich aus dem Land, von
dem Bauern ernähren. Ich glaube, es ist angebracht, auch
einmal Dank dafür zu sagen.
({2})
Denn die Landwirtschaft liefert nicht nur Nahrung, sondern betreibt auch Natur- und Landschaftspflege, pflegt
Erholungsräume und sorgt für gute Luft.
({3})
Dies wird neben der Nahrungsmittelerzeugung umsonst
oder zu günstigen Kosten geliefert. Auch dafür ein herzliches Dankeschön.
Die Landwirtschaft ist nicht nur Wirtschaft. In manchen Ländern heißt Landwirtschaft Agrarkultur, Agrikultur. Das zeigt, dass wir es mit einem Kulturraum, mit einer ländlichen Kultur zu tun haben, die bodenständig und
konservativ im guten, bewahrenden Sinne ist. Auf den
ländlichen Raum kann man sich verlassen, wenn der ländliche Raum von Landwirtschaft und von Landwirten bestimmt wird. Auch für diese Leistung ist den Landwirten,
den Bauern und ihren Familien, aber auch den Fischern
und Förstern Dank auszusprechen. Ich sage das deswegen, weil zur Kulturleistung auch der Erhalt von regionalen Sprachen gehört, über die wir hier schon einmal diskutiert haben. Wo wäre wohl das Friesische, das
Plattdeutsche,
({4})
das Sorbische, wenn es nicht draußen auf dem Lande von
den Bauern gepflegt würde? Also, meine Damen und Herren, sollte unserer Landwirtschaft, unserem ländlichen
Raum Dank und Unterstützung gelten.
({5})
Die Landwirtschaft geht in eine schwer werdende Zukunft. Sie wird in Deutschland und in Europa mit neuen
Herausforderungen fertig werden müssen. WTO und
Osterweiterung sind nur zwei Stichworte. Ich stelle fest:
Von Rot-Grün ist keine Hilfe dazu zu erwarten, dass sich
die Landwirtschaft auf diese Herausforderung einstellen
kann, ganz im Gegenteil: Rot-Grün ist die größte Belastung, die die Bauern je ertragen mussten.
({6})
Rot-Grün raubt mit der Politik, die durch Minister Funke
vertreten wird, vielen die Chance, sich ordentlich auf die
Herausforderungen der nächsten Jahre vorzubereiten. Anstatt dass man den Bauern Hilfe in einem schwerer werdenden Wettbewerb leistet, werden ihnen durch nationale
Entscheidungen zusätzliche Belastungen aufgebürdet.
Für mich ist es schon bedauerlich, dass Minister Funke
weiß, was das bedeutet, und sich nicht durchsetzen kann,
dass Minister Funke ein Minister ist, der nicht handeln
darf, dass Minister Funke in eine Regierung eingebunden
ist, die für die Landwirtschaft nichts übrig hat.
({7})
Die Arbeit von Funke, die Arbeit des Landwirtschaftsministeriums machen deutlich, was Staatssekretär Wille
schon zu Beginn der Legislaturperiode ausgesprochen
hat. Er sagte am 22. Januar 1999 in Berlin:
Die Agrarwirtschaft hat bei der neuen Bundesregierung einen nicht so hohen Stellenwert wie bisher.
Das hat er im März dieses Jahres beim Kreisverbandstag in Herford noch einmal verdeutlicht, indem er auf das
Wahlergebnis von 1998 hinwies und sagte:
Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass sich das gesamte politische Umfeld für die Landwirtschaft in
Deutschland und in der EU geändert hat. Gartenbau
und Landwirtschaft täten gut daran, sich rechtzeitig
darauf einzustellen.
Herr Staatssekretär und Herr Minister, wir haben das
zur Kenntnis genommen. Auch unsere Bauern merken inzwischen schmerzlich, dass von dieser Bundesregierung
keine Hilfe für die Landwirtschaft zu erwarten ist.
({8})
Das „Landwirtschaftliche Wochenblatt“ beginnt seinen Bericht über die Veranstaltung, über die ich gerade
gesprochen habe, mit folgenden Worten:
Gäbe es eine Auszeichnung für das Schönreden einer
besch… Lage, könnte der Staatssekretär im Bundeslandwirtschaftsministerium ({9}), Dr. Martin Wille,
gewiss mit einem Preis rechnen.
Ich füge hinzu: Dies könnte nur die Silbermedaille sein,
weil die Goldmedaille für das Schönreden dem Minister
selbst vorbehalten ist.
({10})
Welchen Stellenwert die Landwirtschaft bei dieser
Bundesregierung hat, wird auch deutlich, wenn der Kanzler den demonstrierenden Bauern im Allgäu sagt: Warum
soll ich mich um euch kümmern? Ihr wählt uns ja doch
nicht! - Von einer Regierung, die nichts für die Landwirtschaft übrig hat, kann man keine Hilfe und keine optimale
Vorbereitung auf die schwieriger werdende Zukunft erwarten. Funke war früher die einzige Hoffnung, an die
sich die Bauern beim Regierungswechsel zu Rot-Grün
klammerten. Sie sind inzwischen von diesem Landwirtschaftsminister tief enttäuscht und - ich glaube, mich
trügt mein Eindruck nicht - auch der Minister ist von seiner Arbeit und von den ihm gegebenen Möglichkeiten
enttäuscht. Auf eine der peinlichsten Erfahrungen und
Enttäuschungen - seine und unsere -, nämlich auf das
Agrardieselgesetz, komme ich noch zu sprechen.
Ich habe in den letzten Wochen mit den Landwirten,
mit Mitgliedern und Nichtmitgliedern des örtlichen Bauernverbandes, intensiv gesprochen und gefragt, was in
den letzten 24 Monaten bei ihnen geschehen sei, und zwar
vor dem Hintergrund zu erwartender Änderungen durch
WTO und Osterweiterung, die eine Stärkung und nicht die
Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft dringend notwendig machen. Ich habe festgestellt,
dass insbesondere aufgrund der Vielzahl von Steueränderungen und -reformen sowie Haushaltskürzungen die
Bundesregierung und sicherlich auch einige Landesregierungen - ich denke dabei an Schleswig-Holstein dafür gesorgt haben, dass die deutsche Landwirtschaft in
ihrer Wettbewerbskraft erheblich geschwächt und im Vergleich zu der Landwirtschaft in anderen Mitgliedstaaten
unangemessen benachteiligt wird. Dies ist offensichtlich.
Die Zahlen sprechen für sich. Wirtschaftsinstitute wie das
RWI und der Wissenschaftliche Beirat des BML bestätigen dies.
Peter H. Carstensen ({11})
Ich weise beispielhaft auf Folgendes hin: Die Agenda2000-Beschlüsse kosten die deutsche Landwirtschaft
mindestens 1,5 Milliarden DM pro Jahr; Kürzung des
Agrarhaushaltes um bis zu 1,4 Milliarden DM; Kürzung
der Gasölverbilligung von ehemals 835 Millionen DM
auf 375 Millionen DM und im Jahr 2001 sogar auf null;
Gewährung eines so genannten Ausgleichs durch das
Agrardieselgesetz, in dem vorgesehen ist, die Landwirtschaft mit einem Steuersatz von 57 Pfennig pro Liter Dieselkraftstoff zu belasten - nicht etwa mit 47 Pfennig, wie
wir noch vor 14 Tagen gedacht haben, und auch nicht mit
50 Pfennig, wie wir noch vor einer Woche gedacht haben -, weil sich derjenige, der eigentlich zuständig ist,
nicht durchsetzen konnte. Die Belastung der Landwirtschaft durch die Ökosteuer steigt auf 911 Millionen DM.
Ich muss die Liste nicht fortsetzen, weil der Kollege Deß
sicherlich auch noch darauf eingehen wird.
Ich möchte aber nicht nur die allgemeinen Positionen
deutlich machen, sondern auch darauf hinweisen, dass
uns die Landwirte vor Ort auf ihre Probleme aufmerksam
machen. Ich habe zwei Landwirte danach gefragt, wie es
bei ihnen aussieht: Der entwicklungsfähige Betrieb von
Hans Friedrichsen - den kennen Sie, Herr Bundesminister; er war derjenige, der Ihnen auf dem Bauerntag in
Nordfriesland gesagt hat: Herr Bundesminister, wenn Sie
die jetzigen Vorschläge zur Steuerreform gemacht haben,
dann haben Sie sich nicht für die Landwirtschaft eingesetzt, und wenn Sie diesen Vorschlägen zugestimmt haben, müssten Sie zurücktreten, auch wenn Sie sie nicht gemacht haben - hat zusätzliche Belastungen nur durch die
höhere Agrardieselsteuer, die jetzt kommt, von 7 500 DM.
Es ist ein durchschnittlicher Familienbetrieb, auf dem
viele Stunden gearbeitet wird und von dem die Familie
ernährt werden muss.
Der Landwirt Gerhard Volquardsen aus dem SönkeNissen-Koog - kernige Böden; kerniger Junge; er hat in
meiner Landwirtschaftsschule die Ausbildung gemacht;
vielleicht ist er deswegen so gut - hat 200 Hektar spitzenmäßigen Ackerboden, der sich intensiv bewirtschaften
lässt. Er wird eine zusätzliche Belastung allein durch die
höhere Agrardieselsteuer von 1 200 DM pro Monat bzw.
14 400 DM pro Jahr haben. Dafür sind Sie verantwortlich.
Die Agrardieseldebatte und der uns heute vorliegende
Beschlussvorschlag bedeuten eine der peinlichsten Niederlagen für den Minister Funke. Nachdem der Minister
angekündigt hatte, dass der Steuersatz beim Agrardiesel
bei 47 bzw. 50 Pfennig liegen werde, ist er ausgetrickst
worden.
Ich sage Ihnen, Herr Minister: Ich habe es auch nicht
verstanden, dass Sie gerade in der hohen Zeit der Debatte,
in der vielleicht noch etwas zu retten und in der der Minister gefordert gewesen wäre, nicht hier im Land waren,
sondern sich auf eine Reise begeben haben. Ich gönne sie
Ihnen zwar - es ist ja gut, wenn man einmal auf Reisen
geht -, aber hier wäre es notwendig gewesen, mit dem Finanzminister und dem Koalitionspartner zu sprechen.
Aber offensichtlich steht Resignation schon auf der Tagesordnung. Sie haben nicht für sich, sondern für die Bauern hier im Land zu arbeiten. Sie haben dafür zu sorgen,
dass die Bauern bessere und nicht schlechtere Wettbewerbsbedingungen erhalten. Aber das Ergebnis Ihrer Politik sind schlechtere Wettbewerbsbedingungen. Sie machen die Bauern nicht fit für den Wettbewerb. Sie behindern sie zunehmend in einer unerträglichen Art und
Weise.
Die Stellungnahme des Bauernverbandes zum Agrarbericht müsste Sie doch zum Handeln auffordern: Es wird
Kritik an der Methode geübt. Es wird dargestellt, dass es
in den Jahren 1998 und 1999 ein kräftiges Einkommensminus gegeben hat und die Hälfte der Haupterwerbsbetriebe, statt Eigenkapital zu bilden, es abgebaut hat. Die
Verbindlichkeiten sind gestiegen. Im Durchschnitt der
Betriebe gab es keine Nettoinvestitionen. Dies müsste
doch dazu führen, dass man gerade jetzt, da man weiß,
was in den nächsten Jahren auf die Landwirte zukommen
wird, dafür sorgt, dass es zu einer besseren Situation in der
Landwirtschaft, zu besseren Arbeitsbedingungen und zu
besseren Situationen in Bezug auf Kosten und Auflagen
kommt. Der Bauernverband schließt mit der Aussage: Die
Steuer- und Ausgabenpolitik lässt die deutsche Landwirtschaft zum einseitigen Verlierer werden.
Sie erfüllen die berechtigten Forderungen des Bauernverbandes zum vorliegenden Agrarbericht, den Abbau der Wettbewerbsverzerrungen sowie einen entsprechenden Ausgleich, in keiner Weise. Sie erfüllen noch
nicht einmal Ihre eigenen Ansprüche, die in Ihrem Koalitionspapier niedergelegt sind, in dem Sie sagen, die ländlichen Räume sollen gestärkt, die Landwirtschaft soll gesichert und die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft
einschließlich der vor- und nachgelagerten Bereiche soll
gestärkt werden.
Stattdessen bürden Sie den Landwirten eine Ökosteuer
und eine Erhöhung der Mineralölsteuer auf. Mit dem
Steuerentlastungsgesetz kommt es nicht zu einer Entlastung, sondern zu einer Belastung. In Bezug auf die Unternehmensteuerreform fallen die Landwirte zurück. Im
Haushaltssanierungsgesetz gibt es Belastungen. In die
„Gemeinschaftsaufgabe zur Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ nehmen Sie weitere Fördertatbestände auf, die Ihnen Ihr Koalitionspartner mit aufdrückt,
({12})
und mit der Agenda 2000 sorgen Sie für weitere Belastungen.
Herr Kollege Carstensen, Sie haben die Chance, Ihre Redezeit zu
verlängern, indem Sie eine Zwischenfrage zulassen.
Ja,
das möchte ich gerne tun. Wenn diese Frage von einem
ausgewiesenen Agrarexperten gestellt wird, nehme ich
dieses Angebot gerne an.
({0})
Im Namen der Bevölkerung bedanke ich mich schon jetzt. Ich möchte fragen:
Peter H. Carstensen ({0})
Wollen Sie im Ernst behaupten, dass Landwirte durch die
Unternehmensteuerreform keine steuerlichen Entlastungen erhalten haben?
Im
Steuerentlastungsgesetz besteht eine Schieflage zugunsten der Kapitalgesellschaften und zulasten der Einzelunternehmen und Personengesellschaften.
({0})
Herr Kollege von Larcher, das werden Sie nicht bestreiten
können.
({1})
- Ja? - Nun gut, Herr Kollege von Larcher, vielleicht werden Sie dann auch das Folgende bestreiten - vielleicht haben Sie es geändert, das weiß ich nicht, ich gebe nur meinen Kenntnisstand wieder -: Mit einer Entlastung ist erst
ab dem Jahre 2005 zu rechnen. Zuvor ist eine Belastung
für die Landwirtschaft in Höhe von ungefähr 300 Millionen DM aufzurechnen.
({2})
Das sind die Tatsachen. Vielleicht sollten Sie sich mit
Ihrem Finanzminister noch einmal darüber unterhalten.
({3})
Gestern haben wir im Ausschuss eine Debatte geführt.
Wir haben versucht, allgemeine Ziele der Agrarpolitik für
die nächsten zehn Jahre zu formulieren. Es gab keine Antwort auf die Frage, wie Landwirtschaft in zehn Jahren
aussieht. Die Beantwortung dieser Frage ist vielleicht
auch zu schwierig. Das möchte ich gar nicht kritisieren.
Aber wenn man dies nicht weiß und davon ausgehen
kann, dass die Situation für die Landwirte durch die WTO
und die Osterweiterung schwieriger wird, dann erfordert
es doch allein das Vorsorgeprinzip, dafür zu sorgen, dass
die Bauern auf die Herausforderungen vorbereitet werden. Man muss dafür sorgen, dass die Bauern fit gemacht
werden: durch Kostenentlastungen statt durch Kostenbelastungen, durch Unterstützung statt durch zusätzliche
Auflagen. Nein, im Moment stellen wir das Gegenteil
fest.
Herr Bundesminister, dies entspricht auch nicht Ihren
eigenen Äußerungen. Sie selbst haben in „top agrar“ gesagt - das ist in der Ausgabe 11/98 nachzulesen -: „Steuerliche Mehrbelastungen sind für die Landwirtschaft in
der jetzigen Situation nicht verkraftbar. Dies will die SPD
auch nicht.“ Was haben Sie seit dieser Zeit bloß gemacht?
Sie sollten sich eines merken: Sie haben den Bauern
etwas vorgekaspert und sie im Regen stehen lassen.
({4})
Sie sind ein Erfüllungsgehilfe eines landwirtschaftsfeindlichen Finanzministers, eines landwirtschaftsfeindlichen
Koalitionspartners und eines landwirtschaftsfeindlichen
Bundeskanzlers. Das haben die Bauern nicht verdient.
({5})
Um der Bauern in Deutschland willen kann ich Sie nur
auffordern, das zu beherzigen, was im Buch der Sprüche
des Alten Testaments in Kapitel 8 steht. Überschrieben ist
es mit „Die Weisheit als Gabe Gottes“. Dort heißt es in
Vers 5: „Ihr Unerfahrenen, werdet klug, ihr Törichten,
nehmt Vernunft an.“
({6})
Ich gebe
nunmehr der Kollegin Ulrike Höfken für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Man muss sicherlich einmal darüber nachdenken, warum Peter Harry
Carstensen nicht Landwirtschaftsminister in SchleswigHolstein geworden ist.
({0})
Es packt einen doch der blanke Zynismus, wenn man
der Rede meines Vorredners folgt. Das Landwirtschaftsressort ist von uns in einer Situation übernommen worden,
in der die Landwirtschaft nun wahrhaftig keine gute Ausgangslage hatte. Allein die beim Regierungswechsel nicht
vorhanden gewesenen Vorbereitungen auf die Agenda
2000 sprechen dafür, dass Sie die Vorwürfe, die Sie jetzt
Herrn Minister Funke machen zu können glauben, dem
Ex-Landwirtschaftsminister Borchert hätten machen
müssen.
({1})
Vielleicht sollten Sie sich auch überlegen, bevor Sie
hier immer die Agenda 2000 angreifen, dass die Auswirkungen der Agenda 2000 auf den ländlichen Raum Grund
genug sind, sie zu unterstützen. Auch sollten Sie einmal
bei Ihrem eigenen Verband nachfragen, ob dies nicht eine
bessere Strategie zur Unterstützung der deutschen Landwirtschaft wäre.
({2})
Die Lage der Landwirtschaft ist nach wie vor nicht rosig. Der Strukturwandel hat sich im Zeitraum 1998/99,
auf den sich dieser Agrarbericht bezieht, in der Größenordnung der letzten zwei Jahrzehnte fortgesetzt. Bei den
Haupterwerbsbetrieben musste ein Gewinnrückgang von
7,3 Prozent konstatiert werden; die wichtigsten Gründe
dafür waren der Verfall der Schweinepreise und - dies
spielt immer noch die Hauptrolle - das miserable Preisniveau im Lebensmitteleinzelhandel, wo im Zuge einer totalen Monopolisierung die Preise gedrückt werden, worüber der Handel selbst auch nicht froh und glücklich ist.
Die Folgen einer jahrzehntelangen Fehlentwicklung
und einer falschen Agrarpolitik können nicht innerhalb
weniger Monate behoben werden.
({3})
Aber die Situation ist nicht nur schlecht. Die Erzeugerpreise haben im Jahr 2000 erheblich angezogen. Auch der
Agrarexport steigt auf hohem Niveau weiter, wie Sie in
der Agrarausschusssitzung selbst betont haben. Im Wirtschaftsjahr 1999/2000 wird mit einer Einkommensverbesserung gerechnet. Die Arbeitnehmerzahlen in der
Landwirtschaft sind zum ersten Mal seit Jahren wieder
gestiegen.
({4})
Wir glauben an die Zukunft der Landwirtschaft. Wir
haben trotz Spar- und Konsolidierungszwängen den
Agrarhaushalt auf hohem Niveau halten können. Wir haben die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe, die die alte
Bundesregierung kontinuierlich gekürzt hat, stabilisiert
und bei 1,7 Milliarden DM erhalten. Zusammen mit den
Kofinanzierungen kommen den Landwirten und den
ländlichen Räumen 2,8 Milliarden DM direkt zugute. Wir
haben das Bündnis für Arbeit im ländlichen Raum aufgelegt und gerade neu die Mittel für zukunftsweisende Modellprojekte im Haushalt verdoppelt. Wir machen konkrete Vorschläge, wie die Probleme der Landwirtschaft
gelöst werden können.
({5})
Selbstverständlich sind Wettbewerbsverzerrungen
ein Thema, das aber vornehmlich von den Nachbarländern in der Europäischen Union an uns herangetragen
wird. Hier müssen Sie sich vorhalten lassen, dass Sie die
Möglichkeit zu Wettbewerbverzerrungen geschaffen haben. Sie hätten sie lange beheben müssen.
({6})
Stattdessen haben Sie dafür gesorgt, dass diese Flanke offen geblieben ist. Das gilt auch für die Subventionen, die
die Niederländer den Gärtnern geben. Diese Subventionen sind nicht rechtmäßig und hätten nicht notifiziert werden dürfen. Sie aber haben sie schlicht und ergreifend geduldet.
({7})
Aber es bewegt sich etwas auf der europäischen Ebene.
Das ist natürlich eine Folge des intensiven Engagements
unseres Ministers.
Die Kommission hat gestern verkündet, die Befreiungen und die Sondergenehmigungen bei der Mineralölsteuer mittelfristig abzuschaffen.
({8})
Einige Regelungen sollen kurzfristig aufgehoben werden.
Endlich wird auch das Flugbenzin einbezogen. Das ist
eine alte, gemeinsame Forderung von Grünen und Bauern, damit die Wettbewerbsverzerrung durch Dumpingangebote aus aller Welt endlich aufhört.
({9})
Wir unterstützen die Bundesregierung massiv, auf der
EU-Ebene zugunsten der Harmonisierung der Treibstoffbesteuerung zu intervenieren
({10})
und den Rückhalt der anderen EU-Länder bis Ende dieses
Jahres zu erlangen. Wir fordern die EU-Mitgliedsländer
selbstverständlich auch auf, den Vorschlag, den Agrardiesel einzubeziehen, mitzutragen und damit europaunverträglichen Auseinandersetzungen - zwischen den Mitgliedstaaten untereinander bzw. zwischen den einzelnen
Bevölkerungsgruppen und der Landwirtschaft - entgegenzutreten.
Die alte Gasölbeihilfe lösen wir heute endlich durch
eine Regelung zum Agrardiesel ab,
({11})
ein Instrument, das die Landwirtschaft steuersystemkonform und mit gesellschaftlicher Akzeptanz mit 460 Millionen DM - bis 2003 steigt die Summe auf 700 Millionen DM an - bei den Produktionskosten entlastet. Der
Gesetzentwurf muss heute im Bundestag verabschiedet
werden, um die alte Regelung aus dem Jahre 2000 - auch
Sie wollen sie nicht mehr haben - übergangslos zum 1. Januar 2001 zu ersetzen. Der Agrarhaushalt wird so um
diese Summe entlastet. Die damit eingesparten Gelder
kommen wiederum der Landwirtschaft zugute.
Aber - das ist richtig - die Kosten für die Landwirtschaft müssen weiter verringert werden.
({12})
Wir wollen den Steuersatz für den Agrardiesel so gestalten, dass die reale Besteuerung pro Liter Treibstoff für
die Landwirte deutlich unter 57 Pfennig fällt, solange es
keine Harmonisierung auf der EU-Ebene gibt.
Ein gangbarer Weg wäre, wie vom Bauernverband gestern vorgeschlagen, den Treibstoffverbrauch von jetzt
2 Milliarden Liter auf 1,6 Milliarden Liter pro Jahr zu senken. Das ist möglich.
({13})
Es gibt durch entsprechende Bewirtschaftung die Möglichkeit, ein Drittel einzusparen. Es gibt die Substitution
durch Pflanzenöle - eine Beimischung von 20 oder
30 Prozent -, die bei den allermeisten Motoren möglich
ist. Es ist also realistisch, die 47 Pfennig zu erreichen und
auf diesem Weg ökologisch sinnvoll zu handeln. Durch
Einsparungen und Substitutionen, die vorgenommen werden können, kann so eine Einkommenswirksamkeit erzielt werden.
({14})
- Das geht nicht so schnell. - Mit dieser Intention werden
wir uns an dieser Diskussion weiterhin beteiligen. Für
diese Strategie werden wir werben, und zwar als Koalition
insgesamt.
Dem Unterglasanbau helfen wir mit einem Überbrückungsprogramm und mit einem Energieinvestitionsprogramm für Gartenbau und Landwirtschaft. Damit sich
die Landwirtschaft mittelfristig von den Kosten des Mineralöls weitestgehend unabhängig machen kann, haben
wir ein ambitioniertes Förderprogramm für biogene
Treib- und Schmierstoffe aufgelegt. Noch stärker wird
die Einführung regenerativer Energien unterstützt; allein
für die Energiegewinnung aus Biomasse stehen jährlich
70 Millionen DM zur Verfügung. Hinzu kommt der Etat
der Fachagentur nachwachsender Rohstoffe. Durch den
gesamten Bereich nachwachsender Rohstoffe sind weitere Einsparungen und zusätzliche Einkommen der Landwirtschaft möglich.
({15})
Auch die Entfernungspauschale, über die wir heute
noch diskutieren werden, zählt zu den Entlastungsvorschlägen der Bundesregierung für den ländlichen Raum.
Gerade CDU/CSU und F.D.P. bekämpfen diese Entfernungspauschale und ihre Möglichkeiten der Realisierung
ganz besonders. In dieser Frage stehen die Länder in der
Verantwortung.
({16})
Die Wertschätzung der Lebensmittel ist ein wichtiges
Thema. Noch einmal: Wir tun alles zum Wohle von Verbrauchern und von Landwirten. Es geht darum, die Wertschätzung unserer Lebensmittel wiederzugewinnen. Herkunftskennzeichnung bei Rindfleisch, neue Legehennenverordnung, Kennzeichnung von Eiern zum Ende des Jahres, Aktionsprogramm „Umwelt und Gesundheit“ - dies
sind nur einige Beispiele für die Aktivitäten der rot-grünen
Regierung.
Aktuell werden alle mit der BSE-Problematik verbundenen Vorschläge - Holger Ortel ist darauf schon intensiv
eingegangen - zum Schutz von Verbrauchern und
Landwirtschaft aufgegriffen. Wir Grüne machen diese
Vorschläge schon seit Jahren: flächendeckende Anwendung von Tests - vor allem bei allen Schlachttieren -, Herausnahme von Tierkadavermehlen aus der Futterkette,
offene Deklarationen, strenge Überprüfung bei Import.
Alle diese Forderungen sind auch schon von den Bundesländern, dem Europäischen Parlament und der EU-Kommission aufgegriffen worden. Auch wir werden diese Forderungen nachdrücklich vertreten, wie auch die
Gesundheitsministerin Andrea Fischer erklärt hat.
Wertschätzung heißt für uns aber auch, dass für Qualitätslebensmittel entsprechend faire Erzeugerpreise gezahlt werden und die Anstrengungen, die die Landwirtschaft für den Verbraucherschutz und den Tierschutz
unternimmt, entsprechend honoriert werden. Die Verbraucher werden bei entsprechender Aufklärung dazu
auch bereit sein; ihre Bereitschaft dazu wird auch noch
zunehmen, denn wir haben die Haushaltsmittel im Bereich der Verbraucheraufklärung entsprechend erhöht.
Die Ausgaben der Verbraucher für Lebensmittel sind, wie
Sie wissen, auf unter 13 Prozent gesunken. Unser Ansatzpunkt ist, über Verbraucherschutz und mehr Qualität zu
einer faireren Nachfragesituation zu kommen.
({17})
Ein letztes Thema: die ökologische Produktion. Der
ökologischen Produktion gehört die Zukunft. Ökolandbau ist eine der Wachstumssparten in der Landwirtschaft.
Dieser Markt, auf dem eine starke Nachfrage herrscht,
wurde von der alten Bundesregierung sträflich vernachlässigt.
({18})
Die Konsequenz war, dass 80 Prozent der Nachfrage vom
Ausland bedient wurden. Wir werden ein Aktionsprogramm Ökolandbau auflegen, um einen Anteil von
10 Prozent Ökolandbau in den nächsten fünf Jahren zu erreichen. Das ist auch das Programm der Bundesregierung.
Einiges haben wir auf den Weg gebracht. Weiteres werden wir tun. Dazu zählt zum Beispiel auch eine
Imagekampagne für den ökologischen Landbau und seine
Produkte. Dieses wird auch auf der Grünen Woche 2001
vonseiten des Bundeslandwirtschaftsministeriums thematisiert werden. Der Ökolandbau ist ein sehr guter Ansatz,
um von der Billigschiene herunterzukommen und die
Wertschätzung von Lebensmitteln weiterzuentwickeln
und voranzutreiben.
Vielen Dank.
({19})
Ich erteile
das Wort der Kollegin Kersten Naumann für die Fraktion
der PDS.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und
Kollegen! Eine Odyssee soll heute ihr Ende finden. Ob es
ein gutes oder ein schlechtes Ende wird, das entscheiden
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Bereits zur ersten Lesung des Agrardieselgesetzes habe
ich bekräftigt, dass die Fraktion der PDS einen höheren
Mineralölsteuernettosatz vom Grundsatz her auch in der
Land- und Forstwirtschaft für gerechtfertigt hält. Wir treten allerdings nicht für 57 Pfennig, sondern für 47 Pfennig je Liter Agrardiesel ein. Auch dies würde ja bekanntUlrike Höfken
lich eine Erhöhung der Nettosteuerbelastung bedeuten.
Bevor ich auf unseren Antrag eingehe, möchte ich mich
deutlich von der Forderung der CDU/CSU nach 12 Pfennig je Liter abgrenzen. Diese Forderung ist in meinen Augen nichts anderes als demagogischer Populismus.
({0})
Meine Fraktion beantragt 47 Pfennig je Liter Agrardiesel. Letztendlich ist dies ein Kompromiss zwischen der
Forderung nach Abbau der Subventionen und dem Anreiz
zum sparsamen Umgang mit den immer knapper werdenden Mineralölressourcen. Wir alle wissen, dass ohne finanziellen Druck die Alternativen Biodiesel bzw. reines
Rapsöl im einzelnen Agrarbetrieb gar nicht erst auf die Tagesordnung gesetzt würden. Es gehört jedoch auch zur politischen Redlichkeit, anzuerkennen, dass zum Zeitpunkt
der Beschlussfassung über die Ökosteuer keineswegs mit
dem inzwischen eingetretenen hohen Anstieg der Mineralölpreise gerechnet werden konnte. Das heißt, wir haben
für die heute zu treffende Parlamentsentscheidung eine
andere Geschäftsgrundlage. In diesem Sinne muss die Politik auch flexibel reagieren, Herr Funke.
({1})
Die durch den Anstieg der Energiepreise bedingten zusätzlichen Belastungen sind in Anbetracht der allgemeinen unbefriedigenden Einkommenssituation der Landwirtschaft nicht akzeptabel. Das gilt übrigens auch mit
Blick auf das Landwirtschaftsgesetz, mit dem ja bekanntlich das Ziel verfolgt wird, die Teilhabe der Landwirtschaft an der allgemeinen Einkommensentwicklung zu
gewährleisten. Genau darum geht es in unserem Antrag.
({2})
47 Pfennig je Liter Agrardiesel sind auch aus Gründen
der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft
auf dem EU-Binnenmarkt und damit für die Sicherung
von Arbeitsplätzen und Einkommen in den ländlichen
Räumen das Mindeste, was wir heute hier beschließen
sollten, insbesondere, weil offenkundig kurzfristig keine
Chancen für eine Harmonisierung der Steuern der Mitgliedsländer der EU bestehen. Selbst mittelfristig kann
ich, obwohl ich Optimistin bin, kaum eine Aussicht auf
Erfolg diesbezüglicher Bestrebungen erkennen.
Übrigens wird in der Begründung unseres Änderungsantrages ein Weg gewiesen, wie die 10 Pfennig Differenz
je Liter Agrardiesel gegenüber dem Regierungsentwurf,
also der Einnahmeausfall von rund 200 Millionen DM,
zumindest kurzfristig ohne zusätzliche Belastung des
Bundeshaushaltes finanziert werden könnten: Laut EUKommission werden im Jahr 2000 fast 1 Milliarde Euro
des EU-Agrarbudgets eingespart, die an die Mitgliedsländer zurückfließen. Natürlich ist damit derzeit nur für 2001
eine sichere Finanzierungsquelle aufgezeigt; aber ich bin
überzeugt, dass auch im Ergebnis der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik bei den folgenden
Haushaltsberatungen Deckungsmittel erschließbar sind,
es sei denn, Ihre Wirtschaftsprognosen sind nur Zweckoptimismus.
Im Übrigen muss ich unseren Antrag nicht weiter begründen: Auch die Agrarminister forderten einmütig
47 Pfennig, und das wohl nicht nur aus einer plötzlichen
Laune heraus.
Selbst das von Vertretern der Koalitionsfraktionen ausgelöste Wirrwarr ständig neuer, sich widersprechender
Presseverlautbarungen mit Varianten von 50 bzw.
47 Pfennig, teils an neue Obergrenzen gekoppelt, ist ein
deutlicher Beleg dafür, dass Handlungsbedarf gesehen
wurde. Noch bis vor wenigen Tagen sah ich darin zumindest die Artikulation von Unbehagen. Inzwischen habe
ich jedoch großen Zweifel an der Ernsthaftigkeit der in die
Welt gesetzten Änderungsvorschläge; denn Tatsache ist,
dass weder von den Koalitionsfraktionen noch von den
Oppositionsfraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. Alternativvorschläge zum Regierungsentwurf in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht wurden.
Und gestern Abend, welch ein Wunder, wieder ein
neuer Verwirrungsvorschlag der Grünen: Die Bauern sollen demnach eine Rückerstattung auf ihren betrieblichen
Dieselverbrauch bekommen, die aus dem Einsparvolumen der Landwirtschaft insgesamt bei Unterschreitung
des angesetzten Jahresverbrauchs von 2 Milliarden Litern
finanziert werden soll. Natürlich bin auch ich für einen
ökonomischen Anreiz bei der Energieeinsparung, aber
dann muss derjenige, der einspart, auch den Nutzen haben
und darf nicht zittern müssen, ob auch alle Bauern ausreichend sparen. Solch einen Unsinn hätte sich nicht einmal
die DDR-Plankommission einfallen lassen.
({3})
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ich weiß nicht, wie groß Ihre argumentativen Geschütze gegenüber dem Bundeskanzler waren, um sich in
der eigenen Koalition durchzusetzen. Zumindest haben
Sie eines erreicht, nämlich sagen zu können: Das wollten
wir nicht.
Doch, meine Damen und Herren, wem nützt das? Werden wir heute 57 Pfennig beschließen, drängt sich mir
wieder einmal die Frage auf: Welches Verhältnis hat diese
Bundesregierung eigentlich zur Landwirtschaft?
({4})
Danke.
({5})
Für die
F.D.P.-Fraktion spricht nun Kollege Ulrich Heinrich.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute den
Agrarbericht 2000. Ich hätte mir eigentlich gewünscht,
dass Sie, Herr Minister Funke, hier die Eingangsrede halten,
({0})
den Agrarbericht vorstellen und uns gewissermaßen einen
Weg weisen. Stattdessen sind Sie als letzter Redner in der
Debatte aufgeführt. Ich finde das einfach nicht gut. Wir
sollten wieder zum alten Brauch zurückkehren, nach dem
der Bundesminister seinen Agrarbericht selbst vorstellt
und bei einer so wichtigen Agrardebatte als Erster redet.
({1})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute den Agrarbericht der Bundesregierung, in dem
ja einiges Bemerkenswertes steht. Wir nehmen vieles zur
Kenntnis, wenn auch nicht mit Freude; aber wir müssen
akzeptieren, dass die Entwicklungen in der Vergangenheit
so waren, wie sie waren.
Die Landwirtschaft steckt ja schon lange in der Umstrukturierungskrise; die Landwirtschaft ist schon lange
der Bereich, der wie kein zweiter einen Strukturwandel
aus eigener Kraft durchstehen muss. Insofern war es und
ist es nicht zu rechtfertigen, was die Bundesregierung ihr
in den letzten zwei Jahren an zusätzlichen Erschwernissen
auferlegt hat.
({2})
Wir wären ja schon froh, wenn wir die Verhältnisse von
1998 hätten; aber die Verhältnisse von 1998 sind laufend
verschlechtert worden.
({3})
Das Agrardieselgesetz stellt den derzeitigen Schlusspunkt dar: Mit diesem Gesetz wird die Steuerbelastung
auf 57 Pfennig je Liter Dieselkraftstoff festgeschrieben.
Ausgehend von einer Steuerbelastung von 26 Pfennig bedeutet dies mehr als eine Verdoppelung und, je nach Betriebsstruktur und Betriebsart, eine zusätzliche Belastung
von etwa 80 bis 120 DM pro Hektar, die niemand ausgleichen kann, die auch Sie nicht mit diesen wohlfeilen
Ratschlägen ausgleichen können, die jetzt Herr Berninger
und Frau Kollegin Höfken geben. Frau Kollegin Höfken,
was Sie sich dabei gedacht haben, diesen Vorschlag aufzugreifen, ist mir völlig schleierhaft.
Sie fordern die Landwirtschaft auf, sparsam mit dem
Kraftstoff umzugehen - als ob ein Bauer mit seinem Traktor spazieren fahren und nur zum Spaß Dieselöl verbrauchen würde! Er hat längst alle Reserven mobilisiert, um
Dieselöl einzusparen, und er hat längst dort, wo es der Boden zulässt, die Minimalbodenbearbeitung umgesetzt.
({4})
Sie tun so, als wären alle Belastungen durch Einsparungen mit moderner Technik zu kompensieren. Denn
jetzt kommt es: Gleichzeitig verlängert diese Bundesregierung die Abschreibungszeiträume. Den Einsatz moderner Technik fordern und die Abschreibungsfristen verlängern, das ist ein Widerspruch in sich. So einen Quatsch
haben wir überhaupt noch nicht gehört.
({5})
Herr Kollege Heinrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höfken?
Bitte sehr.
Kollege Heinrich, haben Sie zur Kenntnis genommen, dass
sich die Wettbewerbsbedingungen im Bereich von Treibstoffen dahin gehend verändert haben, dass die pflanzlichen Öle, besonders die Direktöle, wettbewerbsfähig geworden sind und von daher der Anreiz eines Wechsels
logische Konsequenz sein kann, ohne dass wir dabei die
Vermutung anstellen müssten, dass die Landwirte zu
ihrem Vergnügen auf den Äckern oder Straßen herumfahren, sondern dass das ausschließlich auf die veränderte
Wettbewerbssituation zurückzuführen ist, die sich jetzt ganz
anders darstellt, nämlich zugunsten des Pflanzenöls, und
ganz neue Möglichkeiten bietet?
Herzlichen Dank für diese
Frage. Sie gibt mir die Möglichkeit, darauf hinzuweisen,
dass wir diesen Weg schon in der alten Bundesregierung
eingeschlagen haben. Dass Sie ihn fortsetzen, kritisiere
ich auch nicht, da lobe ich Sie direkt. Aber ein Ergebnis in
diesem Bereich, das sich flächendeckend auswirkt, kann
nur mittel- bis langfristig erreicht werden, nicht aber so
kurzfristig - gewissermaßen über Nacht -, wie Sie die
Steuern verändern. Kein Mensch kann in dieser Geschwindigkeit seine Betriebe umstellen, dass er davon
profitieren kann. Diese Technologie ist erst im Anlaufen,
hier müssen wir noch Erfahrungen sammeln. Zudem muss
erst die breite Einsatzmöglichkeit dieser Technik gegeben
sein. Es muss geklärt werden, wie weit die Motoren das
aushalten und wie weit nicht. Das ist doch der Punkt.
({0})
Wir können und wollen diese Technik nicht klein reden,
aber wir können nicht so tun, als sei das alles heute schon
Stand der Technik, als müssten die Bauern nur umschalten und könnten voll davon profitieren. So ist es leider
Gottes nicht.
({1})
Meine Damen und Herren, ich habe leider nur sieben
Minuten Redezeit und kann deshalb nur ganz schwerpunktartig auf die Probleme eingehen.
({2})
- Wenn Sie ruhig sind, bin ich auch etwas leiser, Herr Kollege Weisheit.
Wenn wir die Regierungstätigkeit insgesamt sehen, ist
das Agrardieselgesetz nur der letzte Punkt. Es hat schon
sehr viel früher angefangen, mit der sogenannten Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Im Haushalt gab es
gravierende Einschnitte, und auch das Steuerreformgesetz, das für alle anderen einen positiven Effekt hat,
bedeutet für die Landwirtschaft in den nächsten vier Jahren eine Zusatzbelastung von jährlich rund 100 MilliUlrich Heinrich
onen DM. Ich habe die Frau Staatssekretärin im Finanzministerium - leider Gottes ist sie jetzt weg ({3})
kürzlich schon danach gefragt, aber sie hat ausweichend
geantwortet. Sie hat gesagt, die in der Landwirtschaft
Tätigen profitierten ja auch von der Erhöhung des Kindergeldes und von der Absenkung des Mindeststeuersatzes. Wohl wahr, aber selbst wenn ich das in Ansatz bringe,
bleibt eine Zusatzbelastung von 100 Millionen DM im
Jahr. Erst in den Jahren 2005 und 2006 gibt es einen
Gleichstand und eine Verbesserung.
({4})
Diese Belastungen bringen Sie hier noch zusätzlich
ein, ganz abgesehen davon, dass im agrarsozialen Bereich
die Belastungen, die die gesamte Gesellschaft zu tragen
hat, natürlich ebenfalls zu spüren sind. Bei einer Erhöhung der Beiträge in der gesetzlichen Rentenversicherung kommt es parallel selbstverständlich auch zu einer
Erhöhung der Beiträge in der landwirtschaftlichen Alterssicherung. Insofern gibt es zwar einen Gleichklang, aber
die Einsparungen im landwirtschaftlichen Sozialbereich
gehen noch zusätzlich zulasten der Landwirte. Man kann
also nicht so tun, als wäre man auf dem besten Weg, die
Landwirtschaft in den Stand zu versetzen, in Zukunft im
Wettbewerb - Stichwort Osterweiterung und Stichwort
WTO - bestehen zu können. Es ist ein Riesenfehler von
Ihnen, dass Sie die gegebenen Möglichkeiten nicht nutzen.
Ein weiteres Beispiel. Der Herr Umweltminister Trittin
will bei der Umweltverträglichkeitsprüfung eine Verschärfung um 25 Prozent einführen - wir haben heute
über diesen Gesetzentwurf in erster Lesung nicht debattiert - und er will damit die Anhebung auf das europäische
Niveau, die wir in der letzten Legislaturperiode durchgesetzt haben, wieder rückgängig machen.
({5})
- Das stimmt. Sie haben ja nachher die Möglichkeit, Gegenargumente anzuführen.
Angesichts der Tatsache, dass Minister Trittin 10 Prozent der Fläche der Bundesrepublik als Biotopvernetzungsfläche ausweisen will, haben wir Wettbewerbsverzerrungen zu erwarten. Wir werden sehen, was
es heißt, die Verbandsklage zuzulassen. Wir werden sehen, welche Auswirkungen sich bezüglich des Eigentums
ergeben, wenn wir die zusätzlichen Lasten, die zugunsten
der Gesellschaft getragen werden müssen, einseitig auf
den Berufsstand abwälzen, der unsere Kulturlandschaft
erhält und pflegt. Es ist eine Herabwürdigung der Arbeit,
die wir doch von den Landwirten fordern, wenn wir ihnen
immer wieder Prügel zwischen die Beine werfen. Das ist
nicht in Ordnung.
({6})
Ganz zu schweigen von den Haken, die die Ministerin
Fischer bei der Zulassung des Bt-Maises schlägt! Es ist
keine Wettbewerbsgleichheit, sondern eine Erschwernis,
wenn wir in Zukunft mit der gentechnischen Entwicklung
nicht Schritt halten können; denn früher oder später wird
es einen Wettbewerb in diesem Bereich geben. Dann sehen wir alt aus, weil wir Minister haben, die ihre Politik
aus dem Bauch heraus betreiben und die sich nicht an den
Empfehlungen des wissenschaftlichen Beirats, den sie
selber eingesetzt haben, orientieren, sondern genau das
Gegenteil machen. Das ist die Politik dieser Bundesregierung.
({7})
Meine letzte Bemerkung: Es ist wenig glaubhaft, wenn
im Entschließungsantrag der Regierungskoalition steht,
dass man die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirte stärken
will. Was Sie bis jetzt vorgelegt haben, bewirkt in Bezug
auf das Schaffen von Rahmenbedingungen im nationalen
Zuständigkeitsbereich genau das Gegenteil.
Herzlichen Dank.
({8})
Für die
SPD-Fraktion spricht der Kollege Detlev von Larcher.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Mein Kollege Ortel hat schon eine
Reihe bedeutender Landwirte in diesem Hause begrüßt.
Ich möchte den Kreislandwirt aus dem Landkreis Diepholz, Herrn Lothar Lampe, und seine liebe Frau begrüßen.
Ich gehe einmal davon aus, dass Minister Funke nachher davon spricht, dass die EU-Osterweiterung eine
Chance für die deutsche Landwirtschaft bedeutet und
nicht nur eine Gefahr, die Sie immer an die Wand malen.
({0})
Deswegen will ich zu diesem Punkt nichts sagen.
Ich möchte Sie daran erinnern, dass zurzeit in Den
Haag der Weltklimagipfel stattfindet. Dabei geht es unter anderem darum, gegenüber den USA und Japan durchzusetzen, dass wenigstens ein Teil der Verpflichtungen zur
CO2-Minderung im jeweiligen Land selbst erbracht werden muss. Es geht darum, durchzusetzen, dass sich kein
Land einfach von seiner Verantwortung für das Weltklima
freikaufen kann. Diese Position hat auch die frühere
Bundesregierung vertreten.
Gleichzeitig lassen Sie, meine Damen und Herren von
der rechten Seite des Hauses, schon seit Monaten keine
Gelegenheit aus, mit plattem Populismus gegen eines der
wichtigsten Instrumente zur Verringerung des Energieverbrauchs zu Felde zu ziehen. Ihre Doppelzüngigkeit ist
wirklich unerträglich.
({1})
Wir bleiben dabei: Die ökologische Steuerreform ist ein
sehr wichtiges Instrument, den Energieverbrauch langfristig zu senken
({2})
und Bürgern und Unternehmen Anreize und vor allem
eine verlässliche Planungsgrundlage für Investitionen in
Energie einsparende Technik zu geben.
({3})
Wir alle wissen, dass Sie das jenseits Ihrer taktischen
Überlegungen genauso sehen.
Nun könnte ich eigentlich wieder einmal die ganze
lange Latte von Zitaten bringen, von Frau Merkel, von
Herrn Schäuble, von Herrn Repnik. Das will ich mir sparen. Ich möchte nur ein Zitat von Herrn Repnik bringen,
weil man dieses Zitat so selten hört. Er erklärte nämlich
im „Tagesspiegel“ vom 2. Mai 1995:
Umweltverbrauch zu billig, Arbeit zu teuer Deutschland muss notfalls im Alleingang die Ökosteuer einführen und die Lohnkosten senken.
({4})
Wo er Recht hat, hat er Recht.
Wir haben immer Wert darauf gelegt, die Ökosteuer so
maßvoll zu erheben, dass die Wettbewerbsfähigkeit der
Unternehmen nicht beeinträchtigt wird. Das gilt auch für
die Landwirtschaft.
({5})
- Das ist überhaupt kein Quatsch. Sie leugnen ja die
ganzen Effekte unserer Steuerpolitik. Wenn man diese
alle nicht berücksichtigt, immer nur die Erhöhung betont
und dann noch so tut, als sei die Ökosteuer an den gegenwärtigen Preissprüngen schuld, dann kommt man zu solchen komischen Zwischenrufen wie vonseiten der F.D.P.
Herr Kollege von Larcher, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Schindler?
Vielleicht wartet er noch
ein bisschen und stellt sie dann.
({0})
- Also, dann bitte, schwarzer Bruder.
({1})
Lieber Kollege
- oder auch: roter Bruder; warum denn nicht -, trotz allem menschlichen Verständnis und der guten Freundschaft - das soll auch bei aller Unterschiedlichkeit in der
Debatte zum Ausdruck kommen - möchte ich Sie fragen:
Bestätigen Sie, dass die deutsche Landwirtschaft, wie das
Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung
festgestellt hat, durch die Ökosteuer mit 1,1 Milliarden DM
belastet wird? Bestätigen Sie weiterhin, dass die Rücknahme der Gasölverbilligung aus 1998 - da war sie mit
850 Millionen DM noch voll erhalten - in der energiepolitischen Gesamtbilanz, die wir jetzt nach zweieinhalb
Jahren Rot-Grün ziehen müssen, dazu führt, dass wir
1,1 bis 1,2 Milliarden DM netto drauflegen müssen? Dass
noch Haushaltskürzungen aufgrund der ersten Stufe der
Steuerreform, bei der die Erhöhung des Kindergeldes so
groß verkündet wurde, und der zweiten Stufe der Steuerreform in diesem Sommer hinzukommen, will ich jetzt
nicht bewerten. Bleiben wir bei der energiepolitischen
Debatte!
Bestätigen Sie weiterhin, dass die Anhebung des Steuersatzes von 23 Pfennig auf 57 Pfennig eine Erhöhung um
über 100 Prozent darstellt?
Herr Präsident, ich
könnte jetzt fast meine gesamte Rede, die ich vorbereitet
habe, als Antwort auf die Zwischenfrage vorlesen. Dann
blieben noch sechs Minuten übrig.
({0})
- Und das ist zu viel.
Ich bestätige das natürlich nicht, lieber schwarzer Bruder, vor allen Dingen die 1,1 Milliarden DM nicht. Dass
23 Pfennig weniger als die Hälfte von 57 Pfennig sind, ist
nach Adam Riese natürlich richtig. Aber ich habe ja gesagt, Sie sollten vielleicht ein bisschen warten und erst
dann Ihre Frage stellen; denn mit diesen Punkten will ich
mich gerade auseinander setzen.
Vor dem Hintergrund, dass die Landwirtschaft in den
meisten EU-Staaten Diesel zu zum Teil stark ermäßigten
Steuersätzen bezieht, ist es notwendig, auch den deutschen Agrarbetrieben verbilligten Kraftstoff zur Verfügung zu stellen. Dies werden wir ab dem 1. Januar 2001
mit dem Agrardieselgesetz tun. Für die Landwirtschaft
wird damit - darum geht es doch - die Mineralölsteuerbelastung des Dieselkraftstoffs auf 57 Pfennig pro Liter
begrenzt und damit von den beschlossenen weiteren Stufen der Ökosteuer ausgenommen. Auch deshalb sind Sie
mit Ihren ständigen Attacken gegen unsere ökologische
Steuerreform schief gewickelt.
Richtig ist, dass die Landwirte in einer Reihe von EUMitgliedstaaten noch billiger tanken können. Auch wir
hätten uns durchaus eine niedrigere Belastung für den
Agrardiesel gewünscht. Wir haben hin und her überlegt,
ob wir das schaffen können. Aber ich muss Ihnen leider
sagen, dass Sie von der CDU/CSU diejenigen waren, die
das unmöglich gemacht haben.
({1})
Ihnen steht es nicht an, „Haltet den Dieb!“ zu rufen; denn
der Dieb sind Sie selber.
Sie waren es doch, die den Bundeshaushalt mit einer
völlig verfehlten Finanzpolitik in eine so katastrophale
Lage hineinmanövriert haben,
({2})
dass wir im letzten Jahr ein Haushaltssanierungsgesetz auflegen mussten. Sie waren es, die den größten
Schuldenberg hinterlassen haben, den es je in Deutschland gegeben hat.
({3})
Sie sind verantwortlich dafür, dass die Gasölbeihilfe in
der bis 1999 geltenden Höhe nicht mehr zu halten war.
Wir mussten hier wie auch in vielen anderen Bereichen
schmerzhafte Einschnitte machen.
Ich will Folgendes ganz leise anmerken: Niemand
außer den Landwirten hätte es verstanden, wenn nicht
auch sie ihr Scherflein zur Haushaltssanierung hätten beitragen müssen. Ich kenne die Debatte sehr wohl; ich
wohne schließlich in einem ländlichen Wahlkreis. Ich
weiß, wie unterschiedlich die Debatte in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen geführt wird.
({4})
Auch unabhängig von den enormen Belastungen für
den Haushalt kann es keine vernünftige Lösung sein, die
Besteuerung des Diesels für die Landwirtschaft weiter zu
senken oder gar die Verwendung von Heizöl zu gestatten.
Wir wollen doch auf europäischer Ebene eine Beendigung
des steuerlichen Subventionswettlaufs erreichen. Unsere
Bemühungen würden nicht glaubwürdiger, wenn wir in
diesem Wettlauf jetzt einen Gang höher schalten würden.
({5})
- Sie schreien „Fangen Sie an“! Sehen Sie sich doch einmal an, was Finanzminister Eichel macht! Und Sie geben
uns den Rat, beim Wettbewerb einen Zahn zuzulegen?
Wenn es nach Ihrer Logik ginge, würden wir zu einem
Nullsteuersatz kommen und müssten am Schluss noch
Zuschüsse zahlen. Deswegen bin ich dafür, dass wir unsere Bemühungen in der Europäischen Union koordinieren und dafür sorgen, dass dieser ruinöse Steuerwettbewerb nicht stattfindet.
Herr Kollege von Larcher, der Kollege Heinrich möchte seinem
„roten Bruder“ eine Frage stellen.
Nein, ich lasse jetzt keine
Frage mehr zu.
({0})
- Wenn Sie ein bisschen zuhören würden, würden Sie
merken, dass ich wirklich zur Sache spreche und dass es
nicht angemessen ist, - ({1})
- Lassen wir das!
Ich halte also fest: Das Agrardieselgesetz ist ein Kompromiss, der die Landwirtschaft gegenüber der Ausgangssituation im nächsten Jahr um knapp 500 Millionen
DM und im Jahr 2003 sogar um 700 Millionen DM entlastet. Es ist ein Kompromiss, der die Landwirtschaft auf
mittlere Sicht vor weiteren Mineralölsteuererhöhungen
schützt. Ein Kompromiss ist selten ein Grund zum Jubeln.
Aber dieser Kompromiss ist erst recht kein Grund, in Gejammer zu verfallen. Es wurden hier schon Landwirte zitiert; ich erwähne nur den Landwirt Gerd Brünning aus
Kirchweyhe, der sagt: Es ist nicht schön, was ihr macht,
aber so schlimm ist es auch wieder nicht.
({2})
- Kommen Sie mit! Er wird es Ihnen bestätigen.
({3})
- Das ist eine Unverschämtheit! Hier reden Sie immer
über die gute Arbeit der Landwirte; das bestätige ich. Aber
dieser Zwischenruf ist eine Unverschämtheit gegenüber
den Landwirten.
({4})
Nun darf man für den Vergleich der ökonomischen Situation der Landwirte in den verschiedenen Ländern nicht
nur den Dieselpreis heranziehen. Für die deutschen Landwirte ist der Agrarsozialbereich besonders wichtig. Da
müssen gerade wir Sozialdemokraten uns nicht verstecken; denn unsere Landwirte sind sehr zufrieden damit.
Ich erinnere an die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung
der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“. In diesem
Programm steckt zum Beispiel ein Teil der Mittel, die vorher durch die Gasölbeihilfe gebunden waren. Ich erinnere
auch an das Programm „Proland“; so heißt es in Niedersachsen. Mit EU-Geldern und Geldern aus den Landeshaushalten verbessern wir die Struktur des ländlichen
Raumes insgesamt und tun damit natürlich auch etwas für
die Landwirtschaft und für die Landwirte, die ja in diesem
Raum leben. Außerdem nenne ich das Gesetz zur Förderung erneuerbarer Energien. Darauf ist schon hingewiesen worden.
Das sind nur einige Beispiele. Man müsste noch viele
aufzählen, um zu einem zutreffenden Vergleich der Situation unserer Landwirte mit denen in anderen europäischen
Ländern in der Lage zu sein. Guckt man dagegen nur auf
den Kraftstoffpreis, dann bekommt man ein einseitiges
und schiefes Bild. Deswegen fordere ich Sie, meine Damen und Herren von der F.D.P. und von der CDU/CSU,
auf: Stimmen Sie unserem Gesetzentwurf zu!
({5})
Ich gebe
dem Kollegen Albert Deß für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident Seiters!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Hier wurde
mehrmals die Staatsverschuldung angesprochen. Deswegen möchte ich hierzu einige Zahlen ins Gedächtnis rufen: 1982 haben wir von der SPD-geführten Bundesregierung eine Staatsquote von 50,1 Prozent übernommen.
Der Haushaltsanteil am Bruttoinlandsprodukt lag bei
15,4 Prozent, und das ohne Wiedervereinigungskosten.
1998 haben wir die Regierung mit einer Staatsquote von
48 Prozent, also 3 Prozent niedriger als 1982, und einem
Haushaltsanteil am Bruttoinlandsprodukt von 12 Prozent,
also 3,4 Prozent niedriger als 1982, übergeben. Das muss
hier endlich einmal zur Kenntnis genommen werden.
({0})
Wenn man hier nur absolute Zahlen nennt, dann muss man
wissen, dass sich 1998 das Bruttoinlandsprodukt gegenüber 1982 um das Dreifache erhöht hat.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, jetzt möchte
ich - mit Genehmigung des Herrn Präsidenten - aus einem parteiinternen Papier der SPD zitieren. In diesem Papier vom 10. November 1999 heißt es:
Liebe Genossinnen und Genossen, die Auswirkungen der Beschlüsse zur Haushaltssanierung und zur
Ökosteuer auf die Landwirtschaft sind beträchtlich.
Die meisten landwirtschaftlichen Familien werden
mehr oder minder deutliche Einkommenseinbußen
haben.
Auf acht Seiten wird dann der ganze Horrorkatalog der
nationalen Belastungen für die deutsche Landwirtschaft
dargestellt. Am Ende wird festgehalten - ich zitiere wieder -:
Die Koalitionsfraktionen haben deshalb die Bundesregierung aufgefordert, bis zum Februar 2000 Vorschläge zu erarbeiten, wie die Wettbewerbsfähigkeit
der deutschen Agrarwirtschaft weiter verbessert, die
Land- und Forstwirtschaft im Vergleich zu anderen
Wirtschaftszweigen angemessen entlastet und die
Entwicklung der ländlichen Räume gesichert werden
können.
Das ist ein sehr deutlicher Auftrag an die rot-grüne Bundesregierung. Und was hat diese rot-grüne Bundesregierung, was hat Minister Funke getan, um diesen Auftrag zu
verwirklichen? - Nichts, was der eigenen Zielsetzung entspricht. Mit dem Agrardieselgesetz wird klar, dass es bezüglich der Umsetzung der eigenen Zielsetzungen eine
totale Fehlanzeige gibt. Dieser Minister ist zum Null-Erfolg-Minister dieser Bundesregierung geworden.
({1})
Harry Peter Carstensen hat bereits aus dem „TopAgrar“-Interview vom November 1998 zitiert. Ich wiederhole es, damit es in der Bevölkerung entsprechend bekannt wird. Darin hat Minister Funke angekündigt:
Steuerliche Mehrbelastungen sind für die Landwirtschaft in der jetzigen Situation nicht verkraftbar und
dies will die SPD auch nicht.
Ich muss sagen: Dieser Minister ist laufend umgefallen.
Er ist umgefallen bei der Senkung der Vorsteuerpauschale
von 10 auf 9 Prozent, er ist umgefallen bei der ersten und
zweiten Steuerreform, er ist umgefallen bei der Ökosteuer
und er ist umgefallen beim Agrardieselgesetz.
({2})
Wenn man die ganze Entstehung des Entwurfs eines
Agrardieselgesetzes betrachtet,
({3})
kann man nur noch von einem politischen Theater sprechen. Eine andere Aussage ist hier nicht möglich. Zuerst
wurde für das laufende Jahr der Haushaltsansatz für die
Steuerrückvergütung gewaltig gekürzt. Dann wurde von
57 Pfennig pro Liter gesprochen, dann von 47 Pfennig,
dann von 50 Pfennig; dann sprechen die Grünen wieder
von einem anderen Steuersatz mit Unter- und Obergrenzen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Tatsache
ist und bleibt: Rot-Grün verteuert den Treibstoff.
({4})
Lieber Kollege Ulrich Heinrich, du hast die damalige
Steuerbelastung noch zu hoch dargestellt. In unserer Regierungszeit, noch 1998, betrug diese - ohne Mehrwertsteuer - 21 Pfennig. Seitdem Scharping brutto mit netto
verwechselt hat, müssen wir da aufpassen.
Wenn dieses Gesetz beschlossen wird, werden ab 2001
57 Pfennig gezahlt werden müssen. Wenn man sich ansieht, welchen Unterschied das zu anderen Staaten ausmacht, wird die Wettbewerbsverzerrung deutlich: Ein
französischer Kollege wird nach dem jetzigen Steuersatz
bei nur 10 000 Liter Dieselverbrauch im nächsten Jahr
circa 500 DM Steuern zahlen. Ein deutscher Landwirt
wird bei 10 000 Litern 5 700 DM bezahlen. Wenn das
keine Wettbewerbsverzerrung ist, dann weiß ich nicht,
was Wettbewerbsverzerrung bedeutet.
({5})
Wenn ich von einem durchschnittlichen Einkommen der
deutschen Landwirte ausgehe, bedeutet dies eine Gewinnminderung von etwa 10 Prozent allein durch die Verteuerung der Energie in dem Bereich, den die Regierung
zu verantworten hat. Wie soll die deutsche Landwirtschaft
so wettbewerbsfähiger werden, wozu sie von dieser Bundesregierung dauernd aufgefordert wird?
Ich halte es auch für eine Verhöhnung, wenn in der Öffentlichkeit davon gesprochen wird, dass die Landwirtschaft mit dem heutigen Gesetz eine Entlastung von
700 Millionen DM erfährt. Tatsache ist, dass die deutschen Bauern über 1 Milliarde DM mehr bezahlen als die
französischen Bauern.
({6})
Das ist meiner Ansicht nach nicht hinnehmbar.
Davon zu reden, dass diese Regelung in Brüssel novelliert werden muss, finde ich schon hanebüchen. Sicher
ist der Ansatz richtig, dass in Brüssel ein Agrardieselgesetz auf europäischer Ebene erlassen werden müsste. Aber
ich kann doch die Verantwortung nicht nach Brüssel
schieben, wenn ich national verantwortlich bin und es zulasse, dass die Steuersätze in Deutschland so massiv erhöht werden. Das ist meines Erachtens nicht mehr als ein
billiges Ablenkungsmanöver.
({7})
Ich finde es schon gravierend, dass sich unser Bundeslandwirtschaftsminister nicht einmal in seiner eigenen
Fraktion bzw. gegenüber den Grünen durchsetzen konnte.
Zu einem Minister, der so wenig Durchsetzungsvermögen
besitzt, hat die deutsche Landwirtschaft das Vertrauen
verloren.
({8})
Im Agrarbericht 2000 ist nachzulesen:
Von herausragender Bedeutung ist dabei die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft, damit sie sich im europäischen und internationalen Wettbewerb behaupten kann.
Die Bundesregierung hat Recht, wenn sie dies schreibt.
Aber weil sie anscheinend merkt, dass sie diese Ziele
nicht vertritt, heißt es im gleichen Agrarbericht, dass eine
Überprüfung der nationalen Agrarpolitik notwendig sei.
Diese Überprüfung ist in der Tat notwendig. In diesen
zwei Jahren sind Kürzungen im Agrarbereich vorgenommen worden - dies war ein reiner Horrorkatalog - zum
Nachteil der deutschen Landwirtschaft. Das kann nicht
hingenommen werden.
Die CDU/CSU hat daher einen Antrag eingebracht, in
dem sehr deutlich die Punkte aufgeführt sind, die verwirklicht werden müssen, damit die deutsche Landwirtschaft wettbewerbsfähiger wird. Denn ich halte es nicht
für angebracht, wie diese Bundesregierung die deutschen
Bauern und auch die deutschen Bäuerinnen behandelt, die
Enormes leisten, damit unsere wertvolle Kulturlandschaft
gepflegt wird. Wenn es Bundesländer gibt, die ihre Bauern unterstützen, was die Honorierung der Erfüllung von
Umweltauflagen anbelangt, dann sind es der Freistaat
Bayern und das Land Baden-Württemberg, vielleicht
auch noch einige andere Bundesländer. Rot-grün-regierte
Länder sind aber nicht darunter. Daran sieht man am besten, welchen Stellenwert die Landwirtschaft bei Rot-Grün
hat.
({9})
Für mich war es von vornherein klar: Wenn Rot-Grün die
Bundesregierung stellt, dann werden die Benachteiligungen für die Landwirtschaft genauso fortgesetzt,
({10})
wie sie bereits in den rot-grün-geführten Bundesländern
erfolgt sind.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({11})
Ich gebe
nunmehr dem Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Karl-Heinz Funke, das Wort.
Karl-Heinz Funke, Bundesminister für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vorab will ich auf zwei Vorhaltungen eingehen, die jenseits der Thematik gemacht worden sind. Der erste Vorwurf war, ich sei in Australien
gewesen, als man über Agrardiesel diskutiert habe, und
ich hätte hier bleiben sollen. Erstens habe ich die Gespräche selbstverständlich vorher und nachher geführt.
Das weiß jeder, der einigermaßen Bescheid weiß. Zweitens will ich deutlich sagen: Angesichts der Tatsache, dass
frühere Bundesregierungen internationale Kontakte sträflichst vernachlässigt haben, ist es notwendig, diese Kontakte wieder aufzubauen, zu beleben und auszudehnen.
({1})
Das sage ich als jemand, der nachweislich dafür bekannt
ist, dass er gar nicht so gerne reist. Damit auch das einmal
klar ist.
Es gibt auf europäischer Ebene eine Absprache, dass
wir uns gerade wegen der WTO-Verhandlungen, dass wir
uns auch wegen des Werbens für das Modell der europäischen Landwirtschaft, für die Multifunktionalität kennzeichnend sein soll, auf diese Reisen begeben, um in der
Cairns-Gruppe und in Amerika das, was wir wollen,
durchsetzungsfähig zu machen. Ich halte das für notwendig und befinde mich damit im großen Chor derer, die das
- Gott sei Dank - tun.
({2})
- Warum sind denn die Kollegen, die vorher in diesem
Amt waren, nie in Australien gewesen? Australien ist
wortführendes Mitglied der Cairns-Gruppe, Herr Kollege
Carstensen.
Ich habe heute nur eine Debatte über Subventionen
gehört - das ist bedauerlich - und keine Debatte über
Strukturen, über den internationalen Handel und Marktchancen.
({3})
Wer so über Agrarpolitik redet, hat wesentliche Elemente
verschwiegen
({4})
und - da wissen Sie, Herr Kollege Carstensen, genau Bescheid - reduziert auf das, was seiner Ansicht nach kritikwürdig ist. Das hat mit der Realität und der Zukunft der
Landwirtschaft in Deutschland und Europa verdammt
wenig zu tun. Das muss ich ganz deutlich sagen.
({5})
Einen zweiten Punkt - er ist nicht so wichtig - will ich
nur am Rande erwähnen. Herr Kollege Heinrich, ich habe
den Agrarbericht natürlich vor der Beratung in den Ausschüssen selbst eingebracht. Mir ist gesagt worden - ich
will das aber gerne nachprüfen -, das sei auch so üblich.
Deshalb habe ich heute nicht als Erster hierzu gesprochen.
Das war auch vorher nicht anders.
({6})
Aber daran soll es nicht liegen. Ich bin kein Freund übertriebener Formen. Aber wenn es der Höflichkeit dient, bin
ich beim nächsten Mal gerne bereit, die Sache anders zu
handhaben; das ist gar keine Frage. Aber für entscheidend
halte ich es nicht - Sie wahrscheinlich auch nicht.
({7})
Ich sprach es eben schon an: Dies ist von Ihrer Seite
eine Debatte über Subventionen und nicht über Strukturen. Kollege Deß, von mir aus kann man ja über Landwirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit auch im Rahmen
staatlicher Unterstützung reden. Aber bitte nehmen Sie
doch auch einmal zur Kenntnis, was die Wissenschaft und
Gutachten belegen! Es besteht nämlich die Notwendigkeit zur strukturellen Veränderung, um die deutsche und
die europäische Landwirtschaft wettbewerbsfähig zu machen.
({8})
Ich kann das jetzt angesichts der knappen Zeit nicht näher
ausführen; das habe ich im Ausschuss getan. Aber da wird
mir nicht geantwortet, weil Sie wissen, dass es stimmt.
({9})
Wer zum Beispiel bei der Einführung der Milch bei der
Börse in Bayern sieben Bezirke einrichtet - mit all den
Auswirkungen auf die Angebote -, muss mir nicht etwas
über die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Landwirtschaft, in diesem Fall der Bauern, die melken, erzählen.
({10})
Das ist wirklich jenseits aller Ökonomie. Nun erwarte ich
nicht, dass Sie hier etwas über Ökonomie sagen. Nur,
dann muss man das, was man vorträgt, auch als Lyrik deklarieren.
({11})
Reden wir jetzt einmal über Strukturen und schauen
wir nach Bayern! Warum wird denn dort festgestellt
- nicht von mir, ich zitiere nur; man kann es in regierungsamtlichen Berichten nachlesen -, dass es dort einen
so genannten Strukturstau gibt? Ich würde mich damit
einmal auseinander setzen, bevor ich mich derartig zur
Wettbewerbsfähigkeit äußere, Kollege Deß.
Herr Carstensen, ich gehöre nicht zu denen, die behaupten, dass es ausschließlich das Verdienst dieser Bundesregierung sei, dass die Landwirte am Markt gegenwärtig mehr Einkommen erzielen. Ich habe früher
nämlich immer kritisiert, wenn ein Bundesminister das
für sich in Anspruch nahm. Aber dass auch die Agenda in
ihrer Anlage mit dazu beiträgt, dass wir, was Angebot und
Nachfrage anbelangt, bessere Marktbedingungen haben
und dass die Gewinnmöglichkeiten am Markt für die
Landwirtschaft gegenwärtig besser sind, ist auch Wahrheit.
({12})
Die Marktentlastung erfolgt durch den Abbau der Preisund Marktstützung, verbunden mit zusätzlichen Ausgleichszahlungen, auch aufgrund des Euro-Dollar-Verhältnisses, aber vor allen Dingen durch die Agenda.
({13})
Das fällt Gott sei Dank alles zusammen. Dies wird Ihnen
auch von allen bestätigt werden, die das agrarökonomisch
untersuchen.
Ich lege nur Wert darauf, festzustellen, dass das so ist.
Ich meine damit gar nicht die Schweinepreise. Ich denke
gegenwärtig an die Rinder- und die Milchpreise, weil wir
in dem Fall - auch bei Weizen und Gerste - ohne Exporterstattung exportieren können. Dadurch haben wir bessere reale Marktpreise.
({14})
- Lesen Sie das bitte nach! Ich bin bisher davon ausgegangen, dass Ihnen die Zusammenhänge zwischen Preisund Marktstützung und Exporterstattung sehr wohl bekannt sind. Das ist eigentlich das Einmaleins europäischer
Agrarpolitik, seitdem wir eine gemeinsame Marktordnung haben.
({15})
Ich will noch etwas zur Steuerreform sagen. Es ist ja
bemerkenswert, dass diese eigentlich nicht mehr kritisiert
wird, seitdem die Landwirte mit ihren Steuernberatern darüber geredet haben. Sie haben hier Landwirte zitiert. Ich
kann auch Landwirte von Spitzenbetrieben zitieren, die
schon nach dem ersten Referentenentwurf bei mir waren.
Diese haben mir gesagt: Ändert bloß nichts mehr! Ich
habe die Sache einmal prüfen lassen. Ich komme gut weg
dabei. - Ich halte es allerdings nicht für möglich, solche
Einzelaussagen - weder Ihre noch meine - zu generalisieren.
Aber ich will auf etwas zu sprechen kommen, was in
der Steuerdebatte immer wieder verwechselt wird, wenn
man, wie heute wieder geschehen, darauf hinweist, dass
die Körperschaften entlastet würden. Ich meine sogar,
hier am Rednerpult wäre schon einmal die Rede davon
gewesen, dass man einen Grenzsteuersatz nicht mit einem Definitivsteuersatz verwechseln darf, was leider
ständig in dieser Debatte getan wurde.
({16})
Die Körperschaften werden mit einem feststehenden
Steuersatz von 25 Prozent besteuert, und zwar ohne die
Möglichkeit, die Gewerbesteuer gegenzurechnen. Der
mittelständische Bereich wird von einem Grenzsteuersatz
von 42 Prozent - die Gewerbesteuer wird dabei gegengerechnet - betroffen. Grenzsteuersatz bedeutet in diesem
Fall, an der Höchstgrenze mit 42 Prozent belastet zu werden. Frau Staatssekretärin Hendricks bestätigt mir das in
diesem Fall. Das heißt, bei niedrigerem Einkommen ist
auch die Belastung niedriger, sodass allenfalls ein Durchschnittssteuersatz ermittelt werden könnte; dieser würde
auf jeden Fall unter 42 Prozent liegen. Das bedeutet, dass
derjenige, der unterhalb des Eingangsfreibetrages liegt,
keine Steuern zahlt. Das ist gerade die Bedeutung des
Grenzsteuersatzes.
Ich gebe zu, dass man es nur verstehen kann, wenn man
es weiß und die betriebswirtschaftlichen Feinheiten
kennt. Sonst redet man an der Sache vorbei.
({17})
Die grundlegende Ausbildung in Agrarökonomie umfasst,
Herr Kollege Carstensen, mindestens ein Semester Steuerlehre. Das war zumindest zu meiner Zeit noch so. Sie
aber haben Jura studiert; da soll angeblich alles besser gewesen sein. Aber Landwirte wissen, wie das mit der
Steuer funktioniert, nachdem sie sich entsprechend haben
beraten lassen.
In diesem Zusammenhang will ich ein Weiteres aufgreifen: Sie haben davon gesprochen, wir würden den
ländlichen Raum total vernachlässigen, gleichsam ausbluten lassen.
({18})
- Sie, Herr Kollege Carstensen, haben das gesagt; Sie haben auf den ländlichen Raum verwiesen.
({19})
- Entschuldigung, dann nehme ich auch zurück, dass Sie
der Auffassung sind, wir hätten mit der zweiten Säule der
Agenda und den finanziellen Hilfen, die wir erreicht haben, auf europäischer Ebene ein für Deutschland
hervorragendes Verhandlungsergebnis erzielt und würden
damit eine Stärkung des ländlichen Raumes erreichen,
wie sie vorher nie da gewesen ist.
({20})
Ich bin den Ländern - von Bayern bis Schleswig-Holstein - dafür sehr dankbar, dass sie die ihnen gewährten
Programme auch umsetzen.
({21})
- Herr Kollege Heinrich, ich freue mich sehr, dass Sie sich
melden. Ich kann Ihnen im Vorgriff bereits mitteilen, dass
die südlichen Länder - Bayern, Baden-Württemberg und
Rheinland-Pfalz - überdurchschnittlich begünstigt werden, weil dort eine nebenerwerblich strukturierte Landwirtschaft vorhanden ist. Im Übrigen ist der ländliche
Raum auf diese Mittel angewiesen.
Da Herr
Minister Funke die Zwischenfrage zugelassen hat, erteile
ich Ihnen das Wort.
Herr Minister, ich wollte Sie
nicht dafür loben, dass Sie mit dafür gesorgt haben, die
zweite Säule der Agenda 2000 zu stärken,
({0})
obwohl ich gerne bestätige, dass die zweite Säule zunehmend an Bedeutung gewinnt und die Länder - nicht zuletzt Baden-Württemberg - die Förderung gerne annehmen. Wir haben im Rahmen der zweiten Säule ein
Programm im Umfang von 300 Millionen Mark aufgelegt. Daran können sich andere Bundesländer nördlich des
Mains ein Beispiel nehmen.
({1})
Ich komme zu meiner Frage: Sie haben eingangs gesagt, wir hätten alle so getan, als wären wir nicht in der
Lage, über Strukturen und marktwirtschaftliche Entwicklungen zu reden, sondern würden ausschließlich über
Subventionen und andere staatliche Hilfen sprechen. Geben Sie mir darin Recht, dass die Bundesregierung mit
den von ihr durchgeführten Maßnahmen - heute werden
wir das Agrardieselgesetz verabschieden - die Landwirtschaft zusätzlich belastet,
({2})
und stimmen Sie mir darin zu, dass die Opposition besonders verpflichtet ist, auf Verschlechterungen, die einen Teil der Bevölkerung betreffen, hinzuweisen?
Herr Kollege Heinrich, ich
bestätige Ihnen ausdrücklich, dass wir auf dem Energiesektor - in diesem Fall bei der Dieselbesteuerung - in der
Landwirtschaft gegenüber Konkurrenzländern Wettbewerbsnachteile haben.
({0})
- Das haben hier alle bestätigt. Ich habe nicht eine Rede
gehört, in der etwas anderes behauptet worden wäre.
Ich bestätige das und bedanke mich bei den Fraktionen
ausdrücklich dafür, dass wir gemeinsam darüber nachdenken können, wie wir zumindest einen Teil dieser Wettbewerbsverzerrungen wieder gutmachen können. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf das, was die Kollegin
Naumann - so glaube ich zumindest - gesagt hat. Als wir
das Agrardieselgesetz debattierten, hätten wir andere
Schwerpunkte setzen müssen, wenn wir gewusst hätten,
dass sich angesichts der Marktverhältnisse im Energiesektor andere Bedingungen stellten. Ich will Ihnen aber
gerne bestätigen, dass wir hier in einer Verpflichtung stehen.
Herr Minister, gestatten Sie auch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Deß?
Ja.
Herr Minister, Sie haben die
zweite Fördersäule angesprochen. Zuvor gab es ja die
Maßnahme der EU-Verordnung 2078/92. Können Sie mir
erklären, warum von der Gesamtsumme, die zwischen
1993 und 1997 für Deutschland zur Verfügung gestellt
worden ist, 0,6 Prozent nach Schleswig-Holstein, 1,7 Prozent nach Niedersachsen, 0,9 Prozent nach NordrheinWestfalen und 5 Prozent nach Hessen - alles damals SPDregierte Länder -, in das CSU-regierte Bayern aber
35 Prozent und nach Baden-Württemberg 22 Prozent geflossen sind? Kann das damit zusammenhängen, dass die
rot-grünen Länder keine Kofinanzierungsmittel hatten?
Nein, Herr Kollege Deß.
({0})
- Nein. Da muss ich Sie nun wirklich völlig enttäuschen.
In den Gesprächen, die wir mit den Landesministern zur
Verteilung dessen, was von Europa kam, geführt haben,
haben selbst jene Länder, die jetzt niedrige Prozentsätze
aufzuweisen haben, anerkannt, dass aufgrund der Strukturen in Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz
und Hessen das, was im Rahmen der zweiten Säule der
Agenda kommt, unbestritten dorthin muss und nicht in
erster Linie in die anderen Länder. Nur ganz nebenbei:
Niedersachsen hat das Doppelte wie bei Ihrer Regierung das Doppelte -, weil wir durch entsprechendes Verhandeln aus Brüssel mehr Geld als vorher bekommen.
({1})
Daraus, meine Damen und Herren, mögen Sie ersehen,
dass diese Regierung nach objektiven Kriterien und nicht
nach den politischen Verhältnissen in den jeweiligen Ländern geht.
({2})
Die Verteilung dieser Mittel hat mit Kofinanzierung
überhaupt nichts zu tun. Ich weiß von meinem eigenen
Land, von Niedersachsen - in den anderen Ländern überschaue ich das nicht; das will ich aber gerne nachprüfen -,
dass dort jede Mark, die im Rahmen der zweiten Säule der
Agenda zur Verfügung steht, kofinanziert wird. Das ist
schlichtweg so.
Ich muss jetzt leider diesen Teil verlassen. Ich hätte
mich gerne noch ein bisschen mit den Größenordnungen,
was die Wettbewerbsfähigkeit anbelangt, beschäftigt und
darauf hingewiesen, dass wir uns auch damit zu befassen
haben, wie wir die so genannten variablen Kosten der Betriebe, die im europäischen Vergleich bei uns überdurchschnittlich hoch sind, reduzieren können. Ich könnte auch
über das reden, was uns die Maschinenringe richtigerweise zu der Frage sagen, wo wir gemeinsam mit den
Ländern noch etwas tun müssen. Ich will dies jetzt nicht
tun. Die Probleme, die wir haben, löst man jedenfalls
nicht alleine dadurch, dass man darauf verweist, was
tatsächlich oder vermeintlich weniger an Subventionen
gezahlt wird. Auf die Notwendigkeit, die Haushaltslage
in Ordnung zu bringen, ist in diesem Sinne hingewiesen
worden.
Aber, meine Damen und Herren, wenn ich mir die
Haushaltsanträge der CDU/CSU ansehe, will ich doch
noch eines sagen - das wird man im Rahmen der Debatte
über den Agrarbericht ja sagen dürfen -: Beim Agrardiesel müssten Sie, wenn Sie mit steuerbegünstigtem Heizöl
fahren lassen wollen, rund 1,6 Milliarden DM auf den
Tisch legen. 450 Millionen DM für die Alterssicherung,
200 Millionen DM für die Unfallversicherung, 150 Millionen DM für den Vorruhestand, 100 Millionen DM für die
Gemeinschaftsaufgabe, obwohl die Kosten des Vorruhestandes im Rahmen der zweiten Säule der Agenda von den
Ländern übernommen werden könnten. Das ist eigentlich
ein Sammelsurium von Zahlen - das macht, wenn ich auf
die Schnelle richtig gerechnet habe, 2,8 Milliarden DM
aus -, bei dem am Ende jeder weiß, dass das unseriös ist.
({3})
Es wird Ihnen draußen garantiert nicht abgenommen, dass
dies angesichts der Haushaltssituation, der Notwendigkeiten, die heute, gesamtökonomisch gesehen, bestehen,
zu vertreten wäre.
Ich muss in diesem Zusammenhang die F.D.P. loben:
Sie hat solche Forderungen in diesem Umfange bisher
nicht gestellt, sondern wesentlich geringere Forderungen
erhoben.
Meine Damen und Herren, ich will in diesem Zusammenhang ein Stichwort aufgreifen und auch dies noch
zum Agrarbericht sagen: Ich bin froh, dass der Agrarbericht, der heute diskutiert wird, in seiner Prognose die
Einkommensentwicklung für das gegenwärtige Wirtschaftsjahr unterschätzt hat. Gott sei Dank steigen die
Einnahmen der Landwirte, bei all dem, was wir heute sagen können, mehr als im Agrarbericht angenommen. Ich
bin froh darüber, weil dies Einkommen ist, das über den
Markt erzielt wird und somit - bei allen Schwankungen,
unabhängig von politischen Lagen - eine dauerhafte
Größe ist. Das ist gut und zukunftsträchtig für die Landwirtschaft, sodass ich auch optimistisch und positiv darüber denke, was uns der Agrarbericht 2000 bringen wird.
Ich kann jetzt nicht mehr auf die Fragen zur Osterweiterung und auf andere Fragen eingehen. Aber Sie kennen
meine Meinung hierzu bereits, auch darüber, wie ich die
Welternährung einschätze und die Chancen, die die deutsche Landwirtschaft in diesem Sinne hat.
Herr Kollege Heinrich, zur Gentechnologie will ich
ausdrücklich sagen: Ich glaube, der Weg, das, was die Regierung auch in Absprache mit den Industrieunternehmen
gemacht hat, ist richtig. Wir müssen doch wissen, dass es
diesbezüglich Ängste der Verbraucherschaft gibt, dass wir
die Akzeptanz erhöhen müssen, wenn wir dem in Zukunft
eine Chance als Schlüsseltechnologie einräumen wollen.
({4})
Ich glaube, das kann man nur gemeinsam schaffen, indem man mit Offenheit und mit der Absicht, aufklärend
im besten Sinne des Wortes zu wirken, an dieses Problem
herangeht. Ich möchte mich - Sie haben das Bundesnaturschutzgesetz angesprochen - ausdrücklich - das mag den
einen oder anderen überraschen - bei den Vertretern der
Grünen-Fraktion für die bisherigen Gespräche bedanken,
insbesondere beim Kollegen Trittin, der auch der Meinung ist, dass Vertragsnaturschutz oberste Priorität haben
muss. Damit können wir vielen in der Fläche Betroffenen
ihre subjektiven Ängste nehmen. Das ist ganz wichtig.
Dafür möchte ich mich ausdrücklich bedanken.
({5})
Das, was wir bei der UVP und IVU gemacht haben
- ich sage das, damit hier kein Popanz aufgebaut wird -,
ist besser als das, was bisher für die Entwicklung der
Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe vorgesehen war.
Schauen Sie sich bitte die Zahlen an!
Ich möchte mich - damit komme ich zum letzten Punkt
und auch zum Schluss - beim Kollegen Ortel für das bedanken, was er über das Problem des Tiermehls gesagt
hat. Ich möchte Ihnen ganz offen sagen - wir haben uns
damit in den letzten Tagen intensiv beschäftigt -, dass die
Franzosen nach unserer Meinung dieses Problems durch
das von heute auf morgen ausgesprochene Verbot der
Tiermehlverfütterung nicht Herr werden. Das Tiermehl
wird in Frankreich zu Lagerungszwecken einfach auf einen Haufen geschüttet. Es soll - ich sage ausdrücklich:
soll - bereits ein Fluss durch Ausschwemmungen verseucht worden sein.
Wir haben in Briefen an den zuständigen EU-Kommissar Byrne und den französischen Landwirtschaftsminister Glavany unsere Meinung zum Ausdruck gebracht,
dass angesichts der obwaltenden Umstände ein
Exportverbot für französisches Tiermehl erlassen werden muss. Das ist notwendig, Herr Kollege Ortel. Wir
werden am kommenden Montag im EU-Agrarrat beschließen, dass die Europäische Union ein solches Exportverbot erlassen soll. Das verseuchte Tiermehl darf
nicht nach Deutschland importiert werden. Wenn die Europäische Union ein solches Verbot nicht erlässt, dann
müssen wir auch über nationale Maßnahmen, zum Beispiel über eine Eilverordnung, nachdenken. Wir nehmen
dieses Problem sehr ernst; denn Deutschland ist sauber.
Das Tiermehl wird bei uns entsprechend den Vorschriften
hergestellt und verwendet. Wir können uns keine Verwirrung leisten.
({6})
- Vielen Dank, Herr Kollege Heinrich.
Ich möchte an die Adresse der Verbraucher sagen: In
Deutschland sind sehr viele Schnelltests durchgeführt
worden bzw. werden auch noch viele durchgeführt.
Deutschland ist Gott sei Dank BSE-frei. Deswegen gibt es
keinen Grund, in irgendeiner Form an der Qualität der
deutschen Rindfleischproduktion zu zweifeln. Zu deutschem Rindfleisch kann man Vertrauen haben. Man kann
es mit Genuss essen.
({7})
Herr Kollege Carstensen hat in dieser Woche zum
zweiten Mal aus der Bibel zitiert. Die Tatsache, dass Ihr
Schwiegersohn erfolgreich das Studium der Theologie
absolviert hat
({8})
- die Tochter studiert auch Theologie! -, scheint wahre
Wunder zu wirken. Ich als praktizierender Protestant
freue mich natürlich darüber. Ich bitte Sie, mein Bibelzitat - mir fiel während Ihrer Rede, die in meinen Augen ein
bisschen scharf war, kein besseres ein - so zu nehmen es ist auch humorvoll gemeint -, wie es ist. Ich möchte
Jesaja Kap. 41 Vers 24 zitieren - ein sehr berühmtes Zitat -:
Ihr seid nichts und Euer Tun ist auch nichts und Euch
zu wählen ist ein Gräuel.
({9})
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({10})
Ich habe
Sie, Herr Minister Funke, zwar nicht unterbrochen, weil
ich Sie nicht um das Zitat bringen wollte. Aber ich möchte
grundsätzlich feststellen: Natürlich haben die Mitglieder
der Bundesregierung das Recht, am Schluss einer Debatte
zu sprechen und so lange zu sprechen, wie sie möchten.
({0})
Da auch bei der nächsten Debatte Mitglieder der Bundesregierung sprechen werden, möchte ich diese auf §§ 28
und 44 der Geschäftsordnung hinweisen. Danach könnte
die Aussprache wieder eröffnet werden, wenn ein Mitglied der Bundesregierung nach Schluss der Aussprache
oder nach Ablauf der beschlossenen Redezeit das Wort ergreift. Das möchte ich nicht anregen.
Ich möchte allerdings dem Kollegen Ronsöhr das gewünschte Wort zu einer Kurzintervention erteilen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als
Peter Harry Carstensen das Bibelzitat vorgetragen hat, haben die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen es auf ihn
bezogen. Mit dem gleichen Recht beziehen wir Ihr Bibelzitat, Karl-Heinz Funke, auf Sie. Dann stimmt es auch;
denn die Bauern werden danach handeln.
Ich finde es etwas eigenartig, dass die Darstellung der
steuerliche Entwicklung beim Agrardiesel in den Ausführungen des Ministers Funke nur eine sehr untergeordnete Rolle gespielt hat.
Ich möchte nun auf die Steuerreform zu sprechen
kommen. Natürlich hat eine Steuerreform unterschiedliche Auswirkungen auf Betriebe. Aber der Bauernverband
hat eindeutige Berechnungen vorgelegt. Die landwirtschaftlichen Buchstellen und deren Organisationen taten
dies auch. Beide kommen bis zum Jahre 2005 auf eine
jährliche Mehrbelastung für die deutsche Landwirtschaft
in Höhe von 100 Millionen DM.
({0})
- Nicht im Jahre 2001; da haben Sie Recht. Es fängt im
Jahre 2002 an und trifft auch für die Jahre 2003, 2004 und
2005 zu.
({1})
- Herr von Larcher, ich habe Sie ausreden lassen.
({2})
Von daher finde ich, dass man diese Zahlen zur Kenntnis zu nehmen hat und nicht immer von einer Entlastung
der Landwirtschaft sprechen sollte. Wenn wir hier über
Strukturentwicklungen sprechen, dann muss man feststellen, dass Strukturen auch von Steuern geprägt werden.
Landwirte bilden häufig GbRs, um eine bestimmte Strukturentwicklung und bestimmte Kosten abzufangen.
Bei dieser Steuerreform ist es nicht gelungen, die
Rücknahme des Unternehmererlasses in Gänze wieder
vorzunehmen. Wenn wir schon über die Schaffung von
modernen Strukturen sprechen, dann müsste es auch von
der Bundesregierung wieder ermöglicht werden, dass
man nicht mit einem Mitunternehmererlass zu rechnen
hat, wenn man GbRs gründet, und dass man nicht steuerlich abgestraft wird, wenn man sie wieder auflöst.
Sie haben gesagt, hier werde ständig von Subventionen
gesprochen. Herr Funke, eines finde ich typisch: Wieso
sind die 400 Millionen DM, die wir im letzten Jahr der
Knappschaft für die Alterssicherung der Bergleute haben
zukommen lassen, keine Subventionen? Warum aber sind
die 377 Millionen DM für die landwirtschaftliche Alterskasse eine Subvention? Diesen Widerspruch lassen wir
Ihnen - sowohl von der F.D.P. als auch von der
CDU/CSU - nicht durchgehen.
({3})
Zu einer Erwiderung hat Bundesminister Funke das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Ronsöhr, erstens hätte ich nach Ihrer Einschätzung vielleicht mehr
über Agrardiesel sagen sollen. Aber ich habe auf die
Zwischenfrage von Herrn Heinrich alles gesagt, was man
dazu sagen kann. Sonst wäre es ohnehin dazu gekommen.
({0})
Es ist nur so: Wenn Sie glauben, dies sei das einzige
Problem der Landwirtschaft und gehöre in das Zentrum
der Erörterung,
({1})
dann - ich weiß gar nicht, wer da „Richtig!“ gerufen hat;
aber derjenige scheint mir eine einigermaßen seltsame
Sichtweise von Landwirtschaft zu haben ({2})
ist darauf aufmerksam zu machen, dass es gravierendere
Probleme gibt. Agrardiesel ist ein Problem unter anderen.
Wenn Sie es so hervorheben, in den Mittelpunkt stellen
und glauben,
({3})
dass alles andere, was wir gesagt haben - auch das, was
Frau Höfken zum Thema Landwirtschaft als Energielandwirtschaft gesagt hat -, unbedeutsam sei, dann kann ich
nur feststellen: Wenn Sie Agrardiesel für das einzige Problem überhaupt halten, dann haben wir an sich einen
glücklichen Zustand.
({4})
Aber ich verstehe, dass man als Opposition so vorgehen muss. Ich freue mich ja im Grunde, dass die Oppositionszeit bei Ihnen dazu geführt hat, dass Sie jetzt zu
solchen Einsichten kommen. Denn als Sie die Mineralölsteuer erhöht haben, haben Sie nicht für den entsprechenden Ausgleich für die Landwirtschaft gesorgt. Unter diesem Gesichtspunkt besteht für Sie also überhaupt kein
Grund, über diesen Aspekt hier so umfassend und intensiv zu reden.
({5}) -
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Jetzt
werden Sie aber unverschämt, Herr Minister!)
Meine Damen und Herren, Herr Ronsöhr, was Sie zum
Thema Subventionen gesagt haben, möchte ich ausdrücklich teilen: Darüber, dass die Tatbestände, die Sie als
Beispiele genannt haben, auch Subventionen bzw. Unterstützungen sind, brauchen wir gar nicht zu reden. Damit
habe ich überhaupt keine Schwierigkeiten. Damit wir uns
auch darüber verständigen, möchte ich klarstellen: Ich
vertrete und verteidige diese so genannten Subventionen.
({6})
Ich habe lediglich gesagt - dazu stehe ich -: Eine Debatte
über die Zukunft der Landwirtschaft und über den Agrarbericht ist total verkürzt, wenn sie sich auf das Thema
Subventionen reduziert und sich nicht mit Fragen der
Strukturen beschäftigt. Darum geht es; dazu stehe ich.
({7})
Ich schließe
die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 6 a. Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 14/4236. Der
Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Agrarbericht 2000 der Bundesregierung auf
Drucksache 14/2672 zur Kenntnis zu nehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Frage nach
der Gegenprobe muss ich, glaube ich, nicht stellen. Das
Haus nimmt den Agrarbericht einstimmig zur Kenntnis.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 2 seiner
Beschlussempfehlung, den Entschließungsantrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/3380 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und
F.D.P. angenommen.
Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung, den Entschließungsantrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
auf Drucksache 14/3391 anzunehmen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 b. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten
Entwurf eines Agrardieselgesetzes, Drucksachen 14/4218,
4294 und 4616. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/4621 vor, über den
wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU
und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der F.D.P. gegen die Stimmen der PDS abgelehnt.
Ich bitte nunmehr diejenigen, die dem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das
Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der
Koalition gegen die übrigen Stimmen des Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Der Gesetzentwurf ist mit der gleichen
Stimmenmehrheit wie in der zweiten Beratung angenommen.
Tagesordnungspunkt 6 c. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für
Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 14/4605 zu dem Antrag der Fraktion der F.D.P. mit
dem Titel „Tanken von eingefärbtem Agrardiesel unbürokratisch ausgestalten“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/3105 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen der F.D.P.
und der CDU/CSU angenommen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Kultur und Medien
({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Dr. Norbert Lammert, Bernd Neumann ({1}),
Renate Blank, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Hauptstadtkulturförderung
- Drucksachen 14/3182, 14/4597 ({2}) Berichterstattung:
Abgeordnete Eckhardt Barthel ({3})
Bernd Neumann ({4})
Hans-Joachim Otto ({5})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Das
Haus ist damit einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner
dem Kollegen Dr. Norbert Lammert für die CDU/CSUFraktion das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung
hat in den letzten Tagen zwei spektakuläre kulturpolitische Entscheidungen getroffen, von denen die erste Respekt und jede Unterstützung verdient, während die zweite
hochproblematisch ist. Beide Entscheidungen bzw. Initiativen haben bezeichnenderweise nichts mit dem Hauptstadtkulturvertrag zu tun, über den wir nun seit Monaten
reden und verhandeln. Sie haben aber natürlich erheblich
etwas mit Hauptstadtkultur und Bundesförderung in der
Hauptstadt zu tun.
Was die Sicherung der Berggruen-Sammlung für
Berlin und damit für Deutschland angeht, will ich all denjenigen, die sich darum offenkundig seit geraumer Zeit
mit Erfolg bemüht haben, ausdrücklich gratulieren. Obwohl ich, wie ich an anderer Stelle deutlich gemacht habe,
das Verfahren unter Nichtbeteiligung des zuständigen
Ausschusses des Bundestages nach wie vor weder für vertretbar noch für hinreichend begründet und deswegen
auch nicht für akzeptabel halte, stehe ich nicht an, zu sagen, dass meine Freude und Begeisterung in der Sache
meinen Ärger über das Verfahren kompensieren. Sie, Herr
Staatsminister, haben die Verfahrenskritik auch als berechtigt akzeptiert. Damit ist der Vorgang für mich erledigt.
Die CDU/CSU-Fraktion hat mit ihrem Antrag zur
Hauptstadtkulturförderung, den wir im Frühjahr dieses
Jahres eingebracht haben, zwei Ziele verfolgen wollen.
Erstens. Wir wollten die bereits begonnenen Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und dem Berliner
Senat und die damit verbundene öffentliche Auseinandersetzung in dieses Parlament hineinholen.
Zweitens. Wir wollten eine möglichst breite parlamentarische Grundlage für eine solide Formulierung des Verhältnisses von Bund und Hauptstadt in Fragen der Kulturförderung erreichen.
Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters
Beides ist gelungen. Wir stimmen nach der heutigen
Debatte über eine Beschlussempfehlung des Ausschusses
ab, die deutlich macht, dass wir in der grundsätzlichen
Frage des Verhältnisses zwischen Bund und Hauptstadt,
was die Unterstützung von kulturellen Institutionen, Projekten und Anstrengungen angeht, ein hohes Maß an
Übereinstimmung haben und dass es in dieser Hinsicht
überhaupt keinen Streit gibt. Der Kulturstaat Deutschland
muss unter Wahrung der originären Verantwortlichkeit
der Länder und ihrer beispielhaften kulturellen Vielfalt
ganz besonders in der Hauptstadt erkennbar sein. Dabei
darf sich - das sage ich mit der gleichen Selbstverständlichkeit - die Kulturpolitik des Bundes selbstverständlich
nicht auf die Hauptstadtförderung reduzieren. In beiden
Fragen besteht zwischen uns Übereinstimmung. Ich
glaube, dass das für die weitere Arbeit eine ganz wichtige
Basis - über den unmittelbar zur Entscheidung anstehenden Hauptstadtkulturvertrag hinaus - ist.
({0})
Die CDU/CSU stimmt wie die anderen Fraktionen der
Absicht von Bundesregierung und Berliner Senat ausdrücklich zu, einen Vertrag zur Kulturfinanzierung in
der Bundeshauptstadt abzuschließen. Gegen die konkret
vorgesehenen Vereinbarungen des ausgehandelten Vertrages haben wir allerdings erhebliche Einwendungen und
Bedenken. Die vom Bund übernommenen Verpflichtungen lassen weder überzeugende Prioritäten noch inhaltliche Konzeptionen für diejenigen Institutionen erkennen,
die in Zukunft ganz in der Verantwortung des Bundes geführt werden sollen.
Ich finde es ausgesprochen schade, dass die bei der
Einbringung dieses Antrages in der Debatte im Mai von
mir für die Fraktionen markierten offenen Fragen in der
Zwischenzeit entweder nicht beantwortet oder in einer
leider sehr unglücklichen Weise behandelt worden sind.
Ich kann das im Rahmen der mir zur Verfügung stehenden
Redezeit nur stichwortartig belegen.
Sie werden sich daran erinnern, dass ich bereits damals
darauf hingewiesen habe, dass selbstverständlich neu darüber nachgedacht werden muss, welche Aufgaben die
Berliner Festspiele in Zukunft haben sollen, nachdem
sich der Zweck, zu dem sie zu Beginn der 50er-Jahre gegründet worden sind, ganz offensichtlich verbraucht hat.
Uns liegt bis heute nur eine einzige Auskunft zu diesem
Thema vor, nämlich dass der Bund die Verantwortung
dafür in Zukunft alleine übernehmen will. Wir wissen,
wer in Zukunft anstelle des langjährigen, verdienstvollen
Leiters die Führung dieser Festspiele übernehmen soll.
Weder von der Bundesregierung noch vom ernannten Leiter ist bisher irgendeine Auskunft über die Absicht zu
hören gewesen, was mit diesem Instrument dann erfolgen
soll.
({1})
Wir fühlen uns insofern in der Vermutung sehr bestätigt, dass unter den Bedingungen einer vitalen, wirklich
ausstrahlenden Kulturmetropole Berlin für eine solche Institution eigentlich überhaupt keine, schon gar keine
zwingende Notwendigkeit mehr besteht und dass man
dieses Geld an anderer Stelle - für eine Stärkung der Kulturinstitutionen in Berlin - sinnvoller einsetzen könnte.
({2})
Herr Kollege Barthel, ich fühle mich in dieser Einschätzung durch eine kürzlich erfolgte, sehr bündige Auskunft
des gegenwärtigen Leiters der Berliner Festspiele ausgesprochen bestätigt.
Wir haben in der damaligen Debatte bereits darauf hingewiesen, dass das Engagement des Bundes für das Jüdische Museum, für das sich gute Gründe anführen lassen,
nur dann plausibel wird, wenn es im Kontext eines geschlossenen Konzepts nationaler Gedenkstätten erfolgt,
und dass die Beliebigkeit, das Jüdische Museum ohne
rechtliche Verpflichtung zu übernehmen, das Mahnmal
aufgrund der Entscheidungen des Bundestages zu bauen
und die Topographie des Terrors irgendwo im Unverbindlichen stehen zu lassen, nicht akzeptabel ist. Wir haben
dafür bisher keine plausible Begründung gehört. Vermutlich gibt es nur einen schlichten Grund: dass die verfügbaren Mittel für ein weiteres Engagement nicht ausreichen, was, mit Verlaub, bei anderen Engagements, die
eingegangen werden, keine überzeugende Begründung
ist.
({3})
Wir haben schon damals darauf hingewiesen, dass wir
sehr für einen Hauptstadtkulturfonds sind, der neben
Institutionen herausragende Projekte fördert. Wir können
nicht erkennen, dass der gegenwärtige Hauptstadtkulturfonds, der zwischen den beiden Partnern ausgehandelt
wurde, diesen Ansprüchen genügt. Dieser Hauptstadtkulturfonds unterstützt vielfältige Initiativen, von denen ich
die allermeisten für sinnvoll und einige für zwingend notwendig halte. Aber darunter ist fast nichts, was nicht in genau der gleichen oder in einer sehr ähnlichen Weise in
mehreren Dutzend deutscher Städte auch stattfände. Nur:
Dort kommt niemand auf die Idee, dafür eine Förderung
aus Haushaltsmitteln des Bundes zu beantragen.
({4})
Die Förderung herausragender Projekte mit Ausstrahlungskraft von Berlin weit hinaus nicht nur in den Rest der
Republik, sondern über die Landesgrenzen hinaus, ist auf
diesem Wege eben nicht zu erreichen.
Schließlich muss ich aus gegebenem Anlass an den
Hinweis, Herr Staatsminister, erinnern, den ich bezüglich
der Bemühungen der Bundesregierung, die Berliner
Philharmoniker in die eigene Verantwortung zu übernehmen, gegeben habe. Ich habe damals darauf hingewiesen, dass es nicht plausibel sei, dass sich der Bund
massiv direkt und indirekt in die Förderung der Berliner
Orchesterszene einschalten will, aber jegliche Verantwortung für Musiktheater und Sprechtheater kategorisch ablehnt. Ich habe hinzugefügt: Da ist das Interesse am Glanz
und am Vermeiden von Risiken offenkundig ausgeprägter
als an der Aufstellung eines konsistenten Konzeptes; ein
solches ist ja sowieso nur schwer erkennbar.
({5})
Ich hätte diese Äußerungen heute gerne zurückgenommen
und bin jetzt ausgesprochen betrübt, dass sich die Besorgnisse, die wir damals vorgetragen haben, nun gerade
durch die Ereignisse der letzten Tage in einer besonders
drastischen Weise bestätigt haben.
Was den ausgehandelten Vertrag angeht, muss ich ausdrücklich noch einmal darauf hinweisen, dass ich es überhaupt nicht akzeptabel finde, dass der Bund mit rund der
Hälfte der von ihm insgesamt eingesetzten verfügbaren
Haushaltsmittel, wenn man den Hauptstadtkulturfonds
miteinbezieht, originäre Finanzverpflichtungen des Landes Berlin übernimmt. Hierbei handelt es sich um Verpflichtungen, die Berlin aufgrund geltender Verträge gegenüber der Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat. Mit
diesen Geldern könnte folglich der Bund in der Hauptstadt Berlin Akzente setzen.
({6})
Das tut er nicht, weil er an dieser Stelle Verpflichtungen
von Berlin übernimmt.
({7})
Das ist, mit Verlaub gesagt, Herr Staatsminister, unvernünftig. Es ist im Übrigen, selbst wenn sich hier drin der
gute Willen Berlin gegenüber ausdrückt, auch deshalb unvernünftig, weil eine unsägliche Praxis Berliner Kulturund Finanzpolitik auf diese Weise durch die Bundespolitik geradezu sanktioniert wird. Das können und dürfen wir
nicht tolerieren.
({8})
Ich komme nun, Frau Kollegin Vollmer, auf die allerjüngste Entwicklung zu sprechen: Die handstreichartige
Zusage von 3,5 Millionen DM für die Staatskapelle bzw.
die Staatsoper Unter den Linden ist bestenfalls ein Zeichen des schlechten Gewissens. Der einzig freundliche
Aspekt, den ich diesem Vorgang abgewinnen kann, ist die
offensichtlich allmählich sich breit machende Einsicht bei
Ihnen bzw. bei der Bundesregierung - in welcher Reihenfolge auch immer -, dass die Position, die dogmatisch
eine Mitverantwortung des Bundes für die Lösung der
Strukturprobleme der Berliner Opernszene ablehnt, offenkundig nicht zu halten ist. Alle anderen damit zusammenhängenden Absichten sind, mit Verlaub gesagt, unseriös.
Mit dieser einmaligen finanziellen Zuwendung nach
der Methode von Sonnenkönigen werden überhaupt keine
Probleme gelöst. Es werden die notwendigen Strukturveränderungen in der Berliner Opernszene nicht befördert, sondern behindert. Es wird mit dieser einmaligen Finanzspritze des Bundes weder die Zukunft dieses einen
Opernhauses und/oder Orchesters noch die aller in Rede
stehenden Opernhäuser und ihrer Orchester gesichert. Damit findet eine gravierende Ungleichbehandlung Berliner Opernorchester ohne jede kulturpolitische Begründung geschweige denn durch irgendeine kulturpolitische
Befassung oder Evaluierung veranlasst statt. Man gibt das
ungelöste Problem im Herbst nächsten Jahres auf höherem Kostenniveau, nämlich in Form eines um 3,5 Millionen DM gestiegenen Ansatzes, beim Berliner Senat wieder ab.
({9})
Dies ist das genaue Gegenteil einer nachhaltigen Kulturpolitik, Herr Naumann, die einem Mindestanspruch an
Ernsthaftigkeit genügt.
({10})
Niemand von uns weiß, woher das Geld dafür auf einmal kommt und welche Löcher es an anderer Stelle reißt.
Weder der Berliner Kultursenator noch die Intendanz der
Staatsoper können mir jedenfalls die Frage beantworten,
an wen eigentlich auf welcher haushaltsrechtlichen
Grundlage und mit welcher Zweckbestimmung diese Mittel weitergereicht werden.
Sie werden uns sicher gleich erläutern,
({11})
ob das eine Spende der Bundesregierung an die Berliner
Staatsoper oder ans Orchester oder an ihren Dirigenten
oder was auch immer ist.
Jedenfalls ist bisher überhaupt keine rechtliche Verpflichtung des Bundes für eine solche Aktivität zu erkennen, und Sie haben bislang kategorisch auch nur den
Gedanken einer solchen Inpflichtnahme des Bundes zurückgewiesen, ganz im Unterschied zu uns, die wir mehrfach die Bereitschaft zu einer solchen wirklich strukturellen Lösung angeboten haben.
({12})
- Wenn sie jetzt da ist, dann nehme ich Sie sofort beim
Wort, denn ich habe gerade von einer strukturellen Lösung gesprochen.
Der offensichtliche Versuch der Einflussnahme auf Berliner Personal- und Strukturentscheidungen ohne erkennbare Bereitschaft zu einem dauerhaften kulturpolitischen Engagement des Bundes wäre jedenfalls geradezu
peinlich. Er würde geradezu den Rest an Reputation einer
Kulturpolitik zerstören, die nicht an billigen Showeffekten, sondern an der Sache orientiert ist und an für die Zukunft tragfähigen Lösungen interessiert sein muss. Damit
würden Sie, Herr Naumann, den ich nicht für den Erfinder
dieses Handstreichs halte, der Sie aber als Vollstrecker dieser Schnapsidee auftreten,
({13})
Ihre Reputation nachhaltiger gefährden als mit dem albernen Übermut Ihrer völlig unnötigen Auseinandersetzung über Kulturföderalismus und Verfassungsfolklore.
({14})
Ich habe, lieber Herr Naumann, mit großem Interesse
vor wenigen Tagen in einer bedeutenden Berliner Zeitung
den Abdruck einer sicher auch bedeutenden Rede gelesen,
die Sie vor geraumer Zeit bei einer wiederum sicher bedeutenden Konferenz gehalten haben. Sie hat mindestens
in der Zeitung - weil Sie zu Recht Wert darauf legen, für
Überschriften nicht in Anspruch genommen zu werden die Überschrift „Vom Sinn des Regierens“ und beginnt
mit dem Satz:
Wir treiben Politik ohne Anspruch auf Wahrheit.
({15})
Das glaube ich Ihnen aufs Wort, und es ist im Übrigen
auch richtig. Wahrheitsansprüche darf die Politik nicht erheben.
({16})
Aber den Anspruch auf Vernunft, den Anspruch auf Ernsthaftigkeit, den Anspruch auf Verlässlichkeit, den Anspruch auf Kultur in der Kultur, den dürfen wir und den
werden wir nicht aufgeben.
({17})
Für die
SPD-Fraktion spricht Kollege Eckhardt Barthel.
Herr Präsident,
meine Damen und Herren! Bei den letzten Sätzen mit
ihrem Pathos ist es mir richtig ein bisschen warm ums
Herz geworden.
({0})
Es war ja eine seltsame Konstruktion einer Rede. Am Anfang habe ich mich gefreut. Ich dachte; Jetzt redet Herr
Lammert zu dem, was eigentlich vorliegt, nämlich dass es
eine gemeinsame Position gibt. Aber am Schluss waren
Sie weg von dem, was wir heute gemeinsam beschließen,
und haben auf eine Einzelmaßnahme geschossen. Dessen
ungeachtet, dass ich mich darüber nicht gefreut habe, will
ich es mir nicht verkneifen, da Sie ja heute Geburtstag
haben, Ihnen nicht nur zu gratulieren, sondern Ihnen auch
alles Gute zu wünschen. Aber das bezieht sich nur auf Ihr
persönliches Wohlergehen.
({1})
- Das haben Sie befürchtet.
Meine Damen und Herren, ich sage das wegen der Bedeutung des Themas und weil ich besonders froh bin, dass
wir diesen Antrag, diese Beschlussempfehlung heute hier
gemeinsam unterstützen.
Sie haben das im ersten Teil Ihrer Rede auch sehr stark
hervorgehoben, wobei ich einmal sagen möchte: Dieser
Ansatz, wie Sie es interpretiert haben, beginnend damit,
dass Sie eine Position in das Parlament hineinbringen, damit dann die Regierung entsprechend handelt, müsste eigentlich umgekehrt sein.
Das Interessante für uns, als wir Ihren Antrag lasen,
war ja, dass wir plötzlich das, was wir schon zwei Jahre
machen, wiederfanden. Deswegen gab es auch keine Probleme für uns, dem zuzustimmen, weil es eigentlich eine
Unterstützung dieser rot-grünen Koalition und auch der
Politik Naumanns darstellt.
Erfreulich an diesem Antrag ist ja auch die Klarheit,
mit der hier das besondere Interesse und die besondere
Verantwortung des Bundes an der Kulturlandschaft der
Hauptstadt festgeschrieben wird. Es gibt sogar den Begriff des Bekenntnisses gleich am Anfang. Ich sage: Ich
finde dieses gut, weil es deutlich macht, dass dieses nicht
nur eine Aufgabe Berlins, sondern auch des Bundes ist.
Worum geht es dabei? Es geht darum, die in der Tat
wohl beispielhafte kulturelle Vielfalt dieser Stadt zu erhalten und weiterzuentwickeln. Wir wissen, wie sie entstanden ist: preußisches Erbe, aber auch die Funktionszuschreibung der Teilstädte in Ost und West mit den
Begriffen „Schaufenster der freien Welt“, aber auch „Repräsentative Hauptstadt der DDR“.
Wenn wir über die Vielfalt der Kultur in der Hauptstadt
sprechen, denken die meisten oder diejenigen, die die
Stadt nicht so gut kennen, an die Museumsinsel und an die
Opern, die ja durch den Streit jetzt wieder ganz bekannt
geworden sind.
Ich glaube, man sollte, wenn man von Vielfalt redet,
auch einmal versuchen, sie darzustellen. Ich habe mir von
der Kulturverwaltung eine Auflistung besorgt: Was gibt es
eigentlich? Was macht diese Vielfalt der Kultur in der
Hauptstadt aus? Es sind nur Zahlen, aber vielleicht geben
sie doch einen Eindruck von der Vielfalt, um die es hier
geht.
Berlin hat circa 170 Museen, drei Opernhäuser, zwei
Institutionen der leichten Muse, drei staatliche
Sprechtheater, zwölf private Sprechtheater. Jetzt kommen
Gruppen, die im Zusammenhang mit der Frage Kulturfonds wichtig sind: In der Stadt arbeiten circa 450 freie
Gruppen, wir haben 200 bis 250 aktive Off-Theater, zwei
subventionierte Kinder- und Jugendtheater, 84 öffentliche
Bibliotheken, circa 250 Galerien, circa 880 Chöre und
15 Orchester.
Das ist in der Tat eine Vielfalt, die es zu erhalten und
- wenn es nach uns allen ginge - zu erweitern gilt. Es wäre
wohl unverantwortlich, wenn mit der deutschen Einheit,
mit der Wiedervereinigung der Stadt, diese kulturelle
Vielfalt verloren ginge oder zumindest verringert würde.
Nur wissen wir alle: Die Stadt Berlin kann diese Aufgabe nicht allein leisten. Selbst wenn wir den kulturbeflissensten Finanzsenator oder den kulturbeflissensten
Kultursenator hätten, ihnen beiden sind sehr enge Grenzen gesetzt. Sie kennen die finanzielle Situation der
Stadt. Deshalb ist eine Hauptstadtkulturförderung auch
weiterhin - ich sage: weiterhin, denn sie wird ja nicht neu
erfunden - unverzichtbar.
Gleichzeitig aber - das deutete sich ganz klar auch im
so genannten Opernstreit an - sind Reformen im Land
Berlin auch in diesem Kulturbereich überfällig.
({2})
Es geht bei der Frage der Hauptstadtkulturförderung
nicht um ein Notopfer Berlin, es geht auch nicht um Subventionierung, sondern es geht um Investitionen im Interesse des Bundes und der Länder. Eine Hauptstadt wirkt
nach außen, und eine Hauptstadt wirkt auch nach innen.
Nach außen wirkt sie in der Ausstrahlung, und nach innen - ich möchte das wirklich nicht unterschätzen - ist die
Kultur in einer Hauptstadt auch wichtig für die Identifikation der Bevölkerung in Deutschland mit ihrer Hauptstadt. Ich möchte gern, dass diese Identifikation über Kultur geschieht und nicht über Pickelhauben.
({3})
Eine Hauptstadtkulturförderung - das erleben wir immer wieder in der Diskussion - bedarf natürlich auch der
Akzeptanz. Insofern ist für mich die Frage der Hauptstadtkulturförderung ein sehr sensibles Thema, mit dem
man vorsichtig umgehen sollte, übrigens auch im Dialog
zwischen dem Land Berlin und dem Bund. Ich habe den
Eindruck, dass sich seit der Zeit, als hier das letzte Mal darüber gesprochen wurde, dieser Dialog zwischen dem
Bund und dem Land Berlin verbessert hat.
({4})
Meine Damen und Herren, es ist richtig, ja, ich halte es
für selbstverständlich, dass die Hauptstadtkulturförderung nicht zulasten der Länder geht. Eine der interessantesten Aussagen von Vertretern der Länder und der Kommunen bei der Anhörung zur Haupstadt-Kulturförderung
war für mich: Sie geht nicht zulasten der Länder, sondern
hier wird im Gegenteil ein erwünschter kultureller Wettbewerb in die Wege geleitet. Auch in der Politik der Länder und Kommunen wird der Stellenwert der Kultur erhöht.
Eine letzte Bemerkung zum Hauptstadtkulturvertrag, von dem ich hoffe, dass er bald unterschrieben wird.
Wir wollten - da war eigentlich Konsens - Klarheit haben, wohin die Mittel gehen, die vom Bund gegeben werden. Wir wollten Transparenz haben und wir wollten
weg von der Mischfinanzierung. Darüber waren sich alle
Fraktionen einig.
Wenn Sie, Herr Lammert, jetzt die Tatsache kritisieren,
dass vier Institutionen in die Verantwortung des Bundes
genommen werden sollen, kann man sagen: Es gibt in der
Tat auch andere Möglichkeiten. Einige Ihrer Vorschläge
würden aber bewirken - das haben Sie als einer der
schärfsten Kritiker bisher immer bemängelt -, dass es
wieder weniger Transparenz geben würde und dass in den
bezuschussten Häusern die Problematik wieder zu finden
wäre, die wir eigentlich gemeinsam vermeiden wollten.
({5})
Man sollte eine Anhörung nicht der Anhörung wegen
durchführen. Ich fand es deshalb ganz interessant, was der
sächsische Staatsminister Professor Meyer während der
Anhörung zu dieser Frage gesagt hat. Er sagte: Betrachtet
diese Angelegenheit nicht ideologisch, sondern geht ganz
pragmatisch vor! Ich glaube, er hat Recht. Diese Auffassung findet sich auch im Hauptstadtkulturvertrag wieder.
Ich bin besonders froh - ich betone, dass es nicht nur
um Opernhäuser geht; ich habe ja vorhin bewusst die gesamte Liste vorgelesen -, dass es die vielen kreativen
und innovativen Projekte in dieser Stadt gibt. Gott sei
Dank, Herr Lammert, es gibt sie auch woanders. Wir wollen ja keine Kulturhauptstadt, was in der Tat dem Föderalismus widerspräche.
Ich lege aber Wert darauf, dass die für diese Projekte
vorgesehenen 20 Millionen DM nicht anderweitig veranschlagt werden. In diesem Punkt muss es eine Kontrolle
geben.
({6})
Ich möchte auch nicht, dass der Bund bestimmt, wer gefördert wird. Deshalb gibt es den Beirat, den ich für eine
gute Konstruktion halte.
Mit unserem Entschließungsantrag bekennen wir uns
zur besonderen Verantwortung des Bundes für Berlin
ohne Verringerung der Kompetenzen der Länder. Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen: Dies ist auch
eine Bestätigung und Unterstützung der Politik, die wir in
diesem Bereich schon gemacht haben.
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort hat nun für
die F.D.P.-Fraktion der Kollege Dr. Günter Rexrodt.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Auch die F.D.P.-Bundestagsfraktion
begrüßt, dass es diese gemeinsame Entschließung zur
Hauptstadtkulturförderung gibt. Es ist dringend erforderlich, dass nach dem Regierungsumzug nach Berlin eine
Regelung für das finanzielle Engagement des Bundes in
Berlin gefunden wird. Diese Förderung ist auch vor dem
Hintergrund dringend erforderlich, dass das Land Berlin,
ein mittelgroßes Bundesland, die Aufgaben hinsichtlich
des kulturellen Potenzials nicht allein schultern kann.
In Berlin befindet sich das Erbe Preußens und das kulturelle Erbe der DDR. Hier gibt es auch das Erbe der
hochsubventionierten, aber über weite Strecken enorm
leistungsfähigen Kulturlandschaft des alten West-Berlins. Die Aufgaben in diesem Bereich allein von dem
Bundesland Berlin schultern zu lassen wäre unmöglich.
Das will auch niemand.
Verantwortliche Kulturpolitik, zwischen Bund und
Land abgestimmt, ist aber nicht nur ein Streit um Subventionen oder auch die Suche nach Einsparmöglichkeiten.
Der Deutsche Bundestag kann und darf dem Land Berlin
die Entscheidung darüber nicht abnehmen, wie die Kulturpolitik in Berlin im 21. Jahrhundert aussehen muss.
Berlin muss das selbst entscheiden. Die große Koalition
muss aus ihrer Lethargie erwachen. Große Koalitionen tun
sich erheblich schwerer als andere Konstellationen. Aber
es führt kein Weg daran vorbei, dass endlich etwas geschehen muss.
Berlin hat einen neuen Kultursenator - parteilos
und unverbraucht, wie immer gesagt wird. Er muss eine
wichtige und überfällige Aufgabe schultern, was nicht
ganz einfach ist; denn viele Berliner Kulturinstitutionen
befinden sich in einer Krise. Die Bannerträger der Berliner Kulturpolitik im Opernbereich sind in die Jahre
Eckhardt Barthel ({0})
gekommen. Es gibt eine Reihe von einstmals namhaften
Berliner Ballettgruppen, von denen man nichts mehr hört.
Die großen Sprechtheater - ich nehme einmal die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz aus - sind auch nicht in
allerbester Verfassung. Es gibt Nachfolgeprobleme. Das
Deutsche Theater hat mit zwei Verantwortlichen eine
schwierige Phase durchzumachen. Das ist nie gut. Ich erinnere mich noch an die Zeit, als ich in Berlin Landespolitik gemacht habe. Da gab es beim Schillertheater drei Intendanten. Das war grauenhaft. Am Ende ist das
Schillertheater auch geschlossen worden. Das ist während
jener Zeit eingeleitet worden.
Trotz hoher Subventionen - allein für die Opern wurden 240 Millionen DM bereitgestellt - hört man überwiegend von Etatproblemen, nicht aber von wegweisenden
Neuinszenierungen. Bei den großen Orchestern der Stadt
wurde nach der Wende - alle existierten weiter, alle hatten ihre Lobbys und Fanklubs - mit Fusionen und Kooperationen, die nicht durchführbar waren, die unpraktikabel waren, ein enormer Dilettantismus an den Tag
gelegt. Die Probleme sind bis heute nicht gelöst. Auch
das, was Herr Stölzl hier vorgelegt hat, funktioniert nicht.
Ich bin auf eine Weise froh, dass wir für die Staatskapelle in der Staatsoper heute im Haushaltsausschuss
3,5 Millionen DM bereitgestellt haben. Das war dringend
erforderlich. Die Staatsoper kann und soll mit anderen
Opern kooperieren, sie darf aber nicht ihre künstlerische
Unabhängigkeit verlieren. Deshalb war es notwendig, für
die Kapelle einen Betrag zur Verfügung zu stellen.
Ich habe hier nur eine sehr beschränkte Redezeit. Ich
will aber einen Lichtblick zur Sprache bringen. Ich meine
die Museumslandschaft Berlins, die in Deutschland,
vielleicht sogar in Europa einmalig ist. Ich bin sehr froh
- ich sage das auch mit Blick auf die Koalition -, dass die
Rekonstruktion der Museumsinsel, wo es Sammlungen
von Weltrang gibt, beschleunigt worden ist. Die Museumsinsel wird noch circa zehn Jahre durch Gerüste geprägt sein, aber es ist allerhöchste Zeit und enorm gut,
({1})
dass es ein Konzept zur Erschließung der Museumsinsel
durch eine neue Ebene gibt. Das ist das eine.
Das andere ist das Stadtschloss; ich kann es aus zeitlichen Gründen hier nur erwähnen. Hier muss dringend
eine Entscheidung gefällt werden. Die Diskussion hat
lange genug gedauert. Ich gebe zu, dass über die Wiedererrichtung nicht aus dem Stegreif oder in kürzester Zeit
entschieden werden kann; aber es wird schon zehn Jahre
und länger darüber diskutiert. Nun ist wieder eine Kommission eingesetzt worden. Eine Kommission wird immer
nur dann eingesetzt, wenn man eine politische Entscheidung verschieben will. Aber diese politische Entscheidung ist auch dann fällig, wenn die Kommission ihre Arbeit geleistet hat. Also hätte man die Entscheidung auch
jetzt fällen können.
({2})
Man hätte sie - das ist meine Meinung - so fällen sollen,
dass das Stadtschloss in seiner historischen Fassade wieder entsteht.
Der Präsident weist mich auf das Überschreiten der
Zeit hin. Ich komme mit meinen Ausführungen zum
Schluss.
Die Abstimmung ist dringend erforderlich. Der Kulturhaushalt Berlins muss auf einer sicheren finanziellen
Basis stehen. Es muss ein Kassensturz gemacht werden
und es muss geprüft werden, inwieweit kulturelle Einrichtungen erhalten oder geschlossen werden sollen und
wie rationalisiert werden kann. Dass wir diesen Antrag
heute gemeinsam verabschieden, ist eine wichtige Etappe
auf diesem Wege.
Schönen Dank.
({3})
Jetzt erteile ich das
Wort der Kollegin Dr. Antje Vollmer, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
finde, dass wir heute nicht nur dem Kollegen Lammert
zum Geburtstag - dem auch ich gratulieren will -, sondern
eigentlich uns allen gratulieren können. Ich glaube, in den
vergangenen zwei Jahren, seit es den Kulturausschuss und
einen Kulturstaatsminister, der Michael Naumann heißt,
gibt, hatten wir im Deutschen Bundestag mehr Kulturdebatten als in den zwei Legislaturperioden vorher.
({0})
Ehrlich gesagt finde ich, dass wir auch ganz schön viel
bewegt haben. Es war nicht immer einfach. Ich denke zum
Beispiel an die Debatte über das Holocaust-Mahnmal,
aber auch das haben wir einer Entscheidung zugeführt.
Auch im Kulturbereich haben wir Geld bewegt. Ich denke
an die Stiftungsdebatte, ich denke aber auch an das, was
wir heute gemeinsam in Bezug auf die Hauptstadtkulturförderung verabschieden.
Neu und meistens sehr erfreulich bei den Debatten im
Kulturausschuss ist: Es gibt ungeheuer viele Gemeinsamkeiten. Die Grundhaltung, dass es gemeinsame Anliegen gibt, ist ehrenvoll für den Parlamentarismus. Zu
dem, was es in Berlin an Kulturpolitik gibt und was noch
möglich ist, gehen die Linien und Meinungen - bis hin zu
kritischen Äußerungen - in den Fraktionen hin und her.
Das begrüße ich außerordentlich. Das Parlament ist
manchmal langweilig genug geworden. Ich finde es gut,
dass wir bei solchen neuen Fragen einen neuen Wind haben.
({1})
Das, worüber wir heute diskutieren, nämlich über die
Grundlagen der Hauptstadtkulturförderung, und das, was
wir demnächst bei der Debatte über den Haushalt haben
werden, ist ein großer Entwurf mit Mut zur Klarheit. Diesen Mut zur Klarheit brauchte es. Wir müssen in Berlin
endlich die Grauzone von unterschiedlichen Verantwortlichkeiten, bei denen man nicht genau wusste, wo die
Gelder wirklich landen und wer im Zweifel wirklich dafür
verantwortlich gemacht werden kann, aufheben.
Der Bund finanziert das Jüdische Museum, den
Martin-Gropius-Bau, das Haus der Kulturen der Welt und
die Berliner Festspiele. Das sind natürlich Lasten für den
Bund, Herr Lammert. Es wäre viel einfacher gewesen, bei
dem Festbetrag von 100 Millionen DM zu bleiben, als die
Verantwortung für die Häuser mit allen Konsequenzen zu
übernehmen. Sie wissen so gut wie wir, dass bei manchen
Häusern erhebliche Folgekosten entstehen können. Dabei
denke ich vor allem an das Jüdische Museum und an die
Berliner Festspiele.
In Bezug auf die Berliner Festspiele war ich erstaunt
- ich will das im Protokoll nachlesen -: Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie für die Auflösung der Berliner
Festspiele sind? Dafür werden Sie in Berlin nicht allzu
viele Freunde finden. Da bin ich mir ziemlich sicher.
({2})
- Ich habe Sie so verstanden, als ob Sie die Institution insgesamt infrage stellen wollen. Das fand ich erstaunlich.
Die Festspiele sind in Berlin ja sehr populär. Ich glaube,
dass sie mit einer neuen Handschrift neuen Glanz bekommen werden.
Ich habe bis jetzt über die uns durchaus bewussten Folgen auch hinsichtlich der Verantwortung für den Bund gesprochen. Was aber kommt auf Berlin zu? Da kann ich
mich Ihren Worten, Herr Lammert, nur anschließen: Ich
glaube, dass die Reformen in Berlin sehr schwer sind; da
machen wir uns alle keine Illusionen. Ich meine aber, dass
sie notwendig sind. Berlin hat, wie ich glaube, mit dieser
klaren Zuständigkeit die Chance, diese Reformen anzugehen.
In diesem Zusammenhang will ich etwas zu den Zuwendungen in Höhe von 3,5 Millionen DM für die Staatsoper unter Daniel Barenboim sagen, die auch mich überrascht haben. Jede Förderung, die von Berlin nicht
geleistet werden kann, begrüße ich außerordentlich. Bei
allem Kritischen in dieser Debatte sollten wir alle doch
darauf achten, dass die Bereitschaft, Berlin zu unterstützen, dabei nicht verloren geht. Das wäre sehr kontraproduktiv.
({3})
Wir werden erst einmal die Reformpläne des Berliner
Kultursenators abwarten müssen. Ob der Drahtseilakt der
Opernreform wirklich gelingt, ist und bleibt trotz der
Bemühungen um die Staatskapelle eine Aufgabe, die nur
vom Berliner Kultursenator und vom Berliner Senat
gelöst werden kann. Diese Verantwortung möchte ich ihnen auch nicht abnehmen. Nur durch sie kann die Problematik der Opern geklärt werden. Würde sich der Bund um
die Thematik der Opern kümmern, dann würde er die Kritik zu hören bekommen, dass er sich in kommunale oder
Länderzuständigkeiten einmischt. Der Bund kann nur die
Bedeutung der Opern, deren problematische Situation
und das, was das Leiten eines solchen Opernhauses so
schwierig macht, thematisieren. Wir könnten darüber zum
Beispiel eine Anhörung machen. Aber eine Lösung der
Probleme mit den Opern in Berlin können wir vom Bund
nicht leisten.
({4})
Wenn man die 100 Millionen DM für die Förderung
der Hauptstadtkultur
({5})
und die 27 Millionen DM für die Baumaßnahmen zusammennimmt, dann ist das noch längst nicht alles, was der
Bund für Berlin tut. Deswegen zähle ich das, was wir für
die Stiftung Preußischer Kulturbesitz tun, zu den
Glanzlichtern. Da werden in den nächsten zehn Jahren
noch einmal 250 Millionen DM zusätzlich aufgestockt
werden. Ich finde, das ist außerordentlich beachtlich.
Ich kann auch sagen, dass das, was da auf der Museumsinsel entsteht, großartig wird. Das wird ein richtiger
Traum. Es wird auch ein ganz großer Publikumsmagnet.
Andere Metropolen werden uns um diese Möglichkeit,
die wir da im Weltkulturerbe haben, wirklich beneiden.
Ich kann nur alle auffordern, mit dahin zu gehen. Das ist
schon jetzt in der Planungsphase grandios, sehr kreativ
und interessant.
({6})
Wenn wir da einen Schwerpunkt haben - und auch ich
habe die Einschätzung, dass wir große positive Schwerpunkte bei der bildenden Kunst haben -, so stehen dem
aber große Schwierigkeiten zum Beispiel in der Theaterlandschaft entgegen. Gerade deswegen ist dieser Sauberzweig-Fonds der 20 Millionen DM so wichtig, weil das
das Geld ist, mit dem wir auch die jungen Künstler und
die Avantgarde in der Stadt zu halten versuchen.
Berlin hat eine unglaubliche Attraktivität auf junge
Künstler ausgeübt. Die sind in einem Maße hierher gekommen, wie man es nicht für möglich gehalten hat. Das
muss auch leben. Die brauchen auch die Möglichkeit, an
bestimmte Subventionen heranzukommen. Deshalb ist
dieser 20-Millionen-Fonds so außerordentlich wichtig,
und wir sollten ihn sehr unterstützen.
({7})
Als Letztes möchte ich sagen: Wir sollten uns damit
auch die Möglichkeit erhalten, etwas so Großartiges wie
die Jahrhundertinszenierung von Peter Stein von Faust I
und II in Zukunft zu unterstützen. Wenn wir hier über die
Berliner Kulturpolitik sprechen, dann gibt es da auch ein
Trauerspiel, nämlich die Kulturkritik, die nicht begriffen
hat, was für eine einzigartige künstlerische und auch Intendantenleistung Peter Stein mit dieser Inszenierung geschaffen hat. Da meine Redezeit zu Ende ist, möchte ich
doch wenigstens die Kolleginnen und Kollegen darauf
hinweisen, dass sie sich von der Kritik nicht abhalten lassen sollten, sich dieses Stück deutscher Theatergeschichte
persönlich anzusehen. Der Bund hat das auch ein bisschen
mit gefördert. Es muss aber auch leben im Respekt vor
dem Publikum. Das wäre mein letztes Wort, Sie dazu aufzufordern.
Danke.
({8})
Diese Reklame,
meine Damen und Herren, haben wir außerhalb der Redezeit laufen lassen.
Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Heinrich Fink, PDSFraktion.
Sehr Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Namen der
Fraktion der PDS möchte ich an dieser Stelle unsere
Freude zum Ausdruck bringen, dass es gelungen ist, in
dieser so wichtigen Frage eine fraktionsübergreifende Beschlussempfehlung durch den Ausschuss für Kultur und
Medien zu verabschieden.
Die PDS ist der Auffassung, dass der Bund eine besondere Verantwortung für die Kultur in der Hauptstadt
hat, dass er sich zu dieser bekennen und sie - bei Wahrung
der originären Verantwortlichkeit des Landes und der
Länder - wahrnehmen sollte.
Wir halten ein Engagement des Bundes zum Erhalt der
außerordentlichen kulturellen Vielfalt in dieser Stadt, die
aus der Geschichte erwachsen ist, für erforderlich. In Bezug auf die Folgen der Einheit geht es uns sowohl um den
Erhalt und die Weiterentwicklung der überlieferten kulturellen Substanz als auch um das, was an Neuem in verschiedener Trägerschaft nach 1989 entstanden ist.
({0})
Berlin allein ist mit der Aufgabe, diese Vielfalt zu erhalten, überfordert. Das Engagement des Bundes kann und
soll aber der Stadt ihre Verantwortung nicht abnehmen.
Die PDS begrüßt die Absicht von Bund und Land, einen Vertrag zur Kulturfinanzierung in der Bundeshauptstadt für den Zeitraum bis 2004 abzuschließen. Wir
bewerten die mit dem Land erzielte Einigung als einen
Schritt in die richtige Richtung.
({1})
Es ist ein Fortschritt, wenn der Bund ein Ensemble spezieller Kultureinrichtungen unterhält, das geeignet ist,
eine repräsentative Gesamtdarstellung bundesdeutscher Kultur und Geschichte zu ermöglichen. Die Auswahl der Einrichtungen entspricht weitgehend unseren
Vorstellungen. Positiv ist vor allem die Fortsetzung der
Förderung im Rahmen des so genannten Hauptstadtkulturfonds.
Trotz dieser Fortschritte gibt es aus Sicht unserer Fraktion weiteren konzeptionellen Klärungsbedarf. Die Kriterien der Förderung im Rahmen des Hauptstadtkulturvertrages sollten überdacht werden. Künftig sollte deutlicher
zwischen gesamtstaatlichen Aufgaben, die der Bund auch
dann zu erfüllen hätte, wenn Berlin nicht Hauptstadt wäre,
und hauptstadtbedingten Aufgaben unterschieden werden. Wir könnten uns eine Erweiterung des Engagements
des Bundes für solche gesamtstaatlichen Aufgaben durchaus vorstellen, sehen dabei den Weg aber nicht in einer
Ausweitung des Hauptstadtkulturvertrages, sondern in
der Stärkung der gesamtstaatlichen, teilweise gemeinsam
mit den Ländern wahrgenommenen Aufgaben des Bundes
in Berlin. In diesem Sinne halten wir auch ein Engagement des Bundes für weitere Einrichtungen, wie zum Beispiel die Staatsoper und das Konzerthaus, für möglich.
({2})
In Bezug auf die kulturelle Situation in Berlin weist unsere Fraktion erneut darauf hin, dass es hier nicht nur
strukturelle Probleme gibt. Berlin braucht ein Kulturkonzept und kein Strukturkonzept.
({3})
Was fehlt, ist ein tragfähiges Gesamtkonzept für die Kulturentwicklung dieser Stadt: von den großen Einrichtungen über die freie Szene bis zur gemeinsamen kommunalen Kulturarbeit.
Ich lebe seit 1954 in dieser Stadt und bin bekennender
Berliner. Für mich ist die Faszination dieser Stadt genau
dieser kulturelle Reichtum.
({4})
Ich nenne in diesem Zusammenhang ganz bewusst zwei
Namen: Moses Mendelssohn und Daniel Barenboim.
Zwischen diesen beiden könnte man viele nennen, die
Kultur in Berlin bestimmen. Ich bitte Sie deshalb auch als
Bürger dieser Stadt, der Beschlussempfehlung zuzustimmen.
({5})
Ich erteile nun dem
Staatsminister Dr. Michael Naumann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Lassen Sie mich meine Rede in Erinnerung an einen Menschen beginnen, der gestern gestorben ist und der für das
kulturelle Leben dieser Stadt - wie übrigens für die gesamte Bundesrepublik und darüber hinaus - eine ganz
maßgebliche und stille Stimme war, der Herausgeber des
„Kursbuch“, der Gründer der Wissenschaftsreihe des
Suhrkamp-Verlages, einer der Erfinder der später etwas
spöttisch hinterfragten und bekrittelten Suhrkamp-Kultur,
Karl Markus Michel.
Eine seiner Maximen war es: Wenn man über Kultur
spricht, soll man seine Stimme nicht erheben. Alles in allem ist uns das heute Abend mehr oder weniger gelungen.
Auch ich, obwohl es mir wohl am schwersten fällt und er
mich deswegen öfter ermahnt hat, will mich daran halten.
Was nun die Versuchung betrifft, etwas lauter zu
werden, so nenne ich in diesem Zusammenhang,
Herr Lammert - auch ich gratuliere Ihnen herzlich zum
Geburtstag -, Ihren Parteikollegen Kampeter, der in den
letzten Tagen mehrfach darauf hingewiesen hat, dass die
Förderung der Berliner Staatsoper sinnlos, planlos, dilettantisch oder - in Ihren Worten - eine „Schnapsidee“
sei. Darauf möchte ich ganz einfach mit einer keineswegs
anekdotisch gemeinten, sondern ernsthaften Schilderung
eines Sachverhaltes begegnen, der sich am letzten Sonntag zugetragen hat.
In der Staatsoper hörte die Parteivorsitzende der CDU
in einem schicken neuen Kostüm - es war froschgrün „Tristan und Isolde“. Dort trafen wir uns. Am Montag rief
sie mich an und bat mich, unbedingt etwas zu tun, um den
möglichen Weggang von Barenboim, um den Niedergang
der Staatsoper, um eine neuerliche Debatte über das angebliche Plattmachen ostdeutscher Künstler, Kapellen
und Institutionen zu verhindern, also buchstäblich nach
dem Notanker zu greifen. Das wäre dann Ihre „Schnapsidee“. Ich habe ihr antworten können: Sie rennen bei uns
offene Türen ein, beim Bundeskanzler, bei der PDS - horribile dictu -, bei der F.D.P. und auch bei mir. Es ging
nicht um eine strukturelle, der Stadt Berlin überlassene
Förderung der Opernreform, sondern buchstäblich um
eine - übrigens im Hauptstadtkulturfonds verstetigte Soforthilfe für die Staatskapelle.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dr. Lammert?
Ja, gerne.
Herr Staatsminister, ich lasse einmal außen vor, dass ich den Hinweis
auf die Bekleidung des einen oder anderen Opernbesuchers im Sinne der wohl beabsichtigten Beweisführung
für ebenso unnötig wie deplatziert halte.
Es war sehr schick!
Für mindestens
so illustrativ hätte ich es gehalten, wenn Sie die eigene
Kostümierung vorgetragen hätten.
Kein Smoking!
Für noch weniger
passend halte ich, dass ein Gespräch, das zwischen Ihnen
und Frau Merkel stattgefunden hat und das, wie ich von
ihr weiß, ausdrücklich als vertraulich vereinbart war, von
Ihnen heute zum zweiten Mal - erst im Kulturausschuss
und jetzt in der Plenardebatte des Deutschen Bundestages - angeführt wird.
Was die Sache angeht, bestätige ich Ihnen ausdrücklich, was Sie auch monatelang von uns gehört haben: Wir
halten die von Ihnen mehrfach vorgetragene kategorische
Weigerung, als Bund eine Verantwortung für die Neuordnung der Berliner Opernszene zu übernehmen, für
falsch und unhaltbar.
Sie wissen, ohne dass ich Ihnen das noch einmal erläutern muss, dass ich nicht eine Hilfe des Bundes für die
Staatsoper für eine Schnapsidee halte, sondern die jetzt
vorgesehene Initiative. Denn sie löst keine Probleme, sondern schafft zusätzliche Probleme. Deswegen meine konkrete Frage: Ist über diese einmalige Finanzaktion hinaus - deren haushaltsrechtliche Konstellation Sie ja
sicher nachher noch erläutern werden - eine verbindliche,
auf Dauer angelegte, vertraglich zu vereinbarende Verbindung des Bundes mit diesem Opernhaus oder mit weiteren Berliner Opernhäusern geplant?
({0})
Was die Vertraulichkeit betrifft, muss ich Ihnen
sagen: Es ist normal, dass ich von Politikern angerufen
werde und diese hinterher sagen, dass das Gespräch vertraulich gewesen sei. In diesem Fall war das aber nicht so.
Es gab also keine Bitte um Vertraulichkeit. Vielmehr war
es ein offenes politisches - und im Übrigen sehr heiteres Gespräch, weil wir uns ja beide in der Zielrichtung einig
waren. Ich verrate hier also kein Geheimnis. Sie haben es
ja auch bestätigt.
Jetzt will ich zur eigentlichen Frage kommen, die Sie
vorhin gestellt haben. Sie haben völlig zu Recht gefragt,
wohin das Geld geht. Der Kultursenator Stölzl hat mir erklärt, dass er eine neue, sowieso geplante Rechtsform der
Staatsoper beschleunigen wird, nämlich die Gründung einer GmbH - mit allen Rechten, auch mit einer Eigenbewirtschaftung als Abschied von den zum Teil in Berlin
noch vorherrschenden kameralistischen Wirtschaftsprinzipien der Kulturinstitutionen.
Mithin ist eine Überweisung aus dem Hauptstadtkulturfonds des Berlin-Kulturvertrags möglich. Diese
3,5 Milliarden DM sind insofern verstetigt, als sie einen
Vertrag zwischen zwei föderalen Institutionen - zwischen
Bund und Land - betreffen und Personalkosten sind. Der
Bund kann mithin nicht eine Teilverpflichtung eingehen,
von der er sich im nächsten Haushaltsjahr wieder verabschieden kann. Dadurch ist eine gewisse Kontinuität oder
Verstetigung gewährleistet. So viel zu Ihrer Frage, wohin
das Geld geht.
({0})
- 2001, 2002, 2003. - Darf ich fortfahren?
(Dr. Norbert Lammert [CDU/CSU]: Jetzt wird
es spannend! Da kommt er nicht mehr raus!
2004 werden wir weitersehen, Herr Abgeordneter. Ich
habe aber große Hoffnungen und Berlin darf auch hoffen.
({1})
Wir sitzen hier im Deutschen Bundestag, dessen
Adresse seit gut einem Jahr „Reichstag Berlin“ heißt. Das
ist ein Umstand, den wir Ihnen, den Abgeordneten, zu verdanken haben. Es war eine Gewissensentscheidung, die
die vom Volk gewählten Abgeordneten im Juni 1991 getroffen haben.
Was die Staatsoper betrifft, sagen Kritiker - zum Beispiel Senator Stölzl, der mir das vorgeworfen hat, als Berlin noch einmal eine Zuwendung bekam -: Wer A sagt, der
muss auch B sagen. Ich antworte ihnen: Vielleicht sagt
einmal der Finanzsenator Kurth B. Es kann doch nicht
wahr sein, dass jedes Mal, wenn die Stadt Berlin vom
Bund aus guten Gründen eine Zuwendung bekommt, der
automatische, geradezu pawlowsche Reflex ist: „Das ist
viel zu wenig. Wie gesagt, wir brauchen mehr.“ Das kann
so nicht weitergehen. Zwischen allen Fraktionen im Kulturausschuss bestand deshalb überhaupt kein Zweifel daran, eine hundertprozentige Finanzierung und keine
Mischfinanzierung als bevorzugte Form der kulturpolitischen Zuwendungen des Bundes an Berlin anzustreben.
({2})
Herr Lammert, Sie beklagen die Beliebigkeit des Zuschnitts. Der Parameter war aber klar: 80 Millionen DM
und nicht mehr. Der Bund hat keineswegs - dieser Mythos
wird immer wieder beschworen - versucht, das Philharmonische Orchester zu übernehmen. In meinem Büro
waren der Vorsitzende des Vereins der Freunde der Philharmoniker, Simon Rattle, Claudio Abbado sowie die beiden Vorsitzenden des Orchestervorstandes und allesamt
wollten sie - aus guten Gründen - zum Bund.
({3})
- Ja, weil wir alle - auch Sie, Herr Lammert - verlässlich
sind und uns bemühen, nicht als verlängerter Arm des
Bundesfinanzministers wahrgenommen zu werden.
In der Folge ist es dazu gekommen, dass Berlin seinen
musikalischen Lokalpatriotismus entdeckt und gesagt hat:
Die Philharmoniker bleiben bei uns. Das hat uns die Möglichkeit gegeben, dieses Paket einer hundertprozentigen
Förderung in harmonischer Absprache mit dem Land Berlin und keineswegs in einem Prozess der Rosinenpickerei
zusammenzustellen, sodass alle Beteiligten zufrieden
sind.
Zu meiner Überraschung fragen Sie nach der neuen
Funktion der Festspiele. Meine Aufgabe ist es nicht, Intendant oder - wenn Sie so wollen - der inhaltliche Herr
der Festspiele zu sein. Diese Aufgabe wird von dem neuen
Festspielleiter wahrgenommen. Er hat eine ausführliche
Pressekonferenz gegeben und mit den Mitgliedern des
Rats der Künste und einigen anderen Herren gesprochen.
Die Ergebnisse dieser Gespräche kann man nachlesen; ich
habe keine Schwierigkeiten, Ihnen die entsprechenden
Zeitungsausschnitte mit seinen Vorstellungen in Kopie
zuzuschicken.
Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass das Jüdische Museum, die Topographie des Terrors und das
Mahnmal sozusagen eine Trias des Gedenkens in Berlin
darstellen. Was sagt der Bund nun zur Topographie des
Terrors? Tatsache ist, dass sich der Bund seinerzeit gegenüber dem Land Berlin zu einer hälftigen Finanzierung
verpflichtet hat. Entsprechende Ansätze sind in den Haushalt eingestellt worden. Allerdings, Herr Lammert, ist
dann das geschehen, was Sie und wir alle in Berlin nur
allzu gut kennen: Die Baukosten sind in einen inzwischen
nicht mehr eruierbaren, geradezu galaktischen Raum der
Unbestimmbarkeit entflohen.
({4})
- Herr Lammert, für das Mahnmal trifft das keineswegs
zu. Das wissen Sie ganz genau, und ich fände es furchtbar, wenn Sie jetzt diese Diskussion wieder eröffnen wollten.
Tatsache ist, dass in Berlin derzeit niemand weiß, was
die Topographie des Terrors kosten wird. Ich muss ganz
klar sagen: Der Bund wird keine Zusagen machen, solange nicht die architektonische und finanzielle Realisierbarkeit dieses heiklen Gebäudes feststeht. Ich glaube,
Herr Lammert, dies ist auch in Ihrem Sinne. Ich hielte es
für ungerecht, wenn Sie aus diesen Absichten unsererseits
ein Zeichen der Schwäche ableiten wollten.
Die kulturelle Förderung für Berlin für die Jahre 2001
bis 2004 lässt sich aus dem Haushaltsplan klar ablesen:
80 Millionen DM jährlich für die direkte Unterstützung
wichtiger kultureller Einrichtungen, 23,5 Millionen DM
unter der schönen Formel „Förderung hauptstadtbedingter kultureller Maßnahmen und Veranstaltungen in Berlin“. Der Betrag von 103,5 Millionen DM jährlich ist eine
stolze Summe. Der Bund ist aber nicht nach Gutsherrenart - wie es oft heißt - bereit, diese Summe für Berlin zur
Verfügung zu stellen; er tut dies vielmehr aus dem Bewusstsein heraus, dass erstens die Bundeshauptstadt Berlin das von Herrn Rexrodt völlig zu Recht beklagte historische Erbe und zweitens eine Funktion in der
Repräsentation und Darstellung unseres Landes nach innen und außen hat.
Dazu kommen weitere erhebliche Mittel aus dem Bundesetat von insgesamt weit über einer halben Milliarde DM jährlich, die der Berliner Kultur zugute kommen. Der Schwerpunkt liegt hier auf der Stiftung
Preußischer Kulturbesitz. Sie werden verstehen, dass
gerade diese Stiftung, der Masterplan und dieses Projekt
der ganze Stolz unserer kulturpolitischen Arbeit der letzten zwei Jahre sind, und zwar nicht im zentralistischen,
sondern im föderalistischen Sinne. Dies ist eine Institution, die von Bund und Ländern, inklusive und vor allem
von Berlin, unterstützt wird.
({5})
In der Vergangenheit war dieses Bauprojekt, das Sanierungsprojekt, auf die wirklich legendäre Frist von
30 Jahren angelegt. Aber in unserer Regierungszeit ist
zum einen eine Veränderung in der Führung in der
Stiftung Preußischer Kulturbesitz möglich geworden, und
zum anderen hat sich die Regierung bereit erklärt, sich
hier besonders stark finanziell zu engagieren. Da möchte
ich durchaus auch einmal den Finanzminister loben und
preisen und ihm danken.
({6})
Auch wenn er es mit zusammengebissenen Zähnen tut
und wenn es ihm schwer fällt, so muss man doch sagen,
dass 20 bis 30 Jahre „documenta“ an keinem Finanzminister spurlos vorbeigehen können.
Meine Damen und Herren, das beliebteste Museum
Berlins ist die Berggruen-Sammlung. Das können Sie
auch an den Besucherzahlen feststellen. Ich glaube, wir
alle sind Heinz Berggruen erstens zu außerordentlichem
Dank verpflichtet. Zweitens schulden wir ihm aber auch
ein paar Momente der Besinnung, wenn ich das sagen
darf, Herr Lammert. Heinz Berggruen hat sich entschieden, der Stadt nach einer von uns Deutschen verursachten,
keineswegs fröhlichen Exilgeschichte die Früchte seines
Geistes, seiner Sammlerleidenschaft, seines Geschicks
und dann am Ende doch auch seiner Liebe zu dieser
Stadt - vielleicht auch zu Deutschland; ich weiß es nicht zur Verfügung zu stellen, und zwar für eine vergleichsweise lächerliche Summe, die er nicht selber kassiert,
sondern die den Pflichtteil seiner Kinder ausmacht. Der
wirklich bemerkenswerte Umstand dieser Sammlung ist
nicht nur die Schönheit, nicht nur der Wert der Bilder,
nicht nur der Geist der Sammlung, der sich gewissermaßen in der einmaligen Kombination von Picassos, Giacomettis,
Matisses und Klees widerspiegelt. Die wirkliche Einmaligkeit liegt vielmehr in der Chance beschlossen, dass wir
in Deutschland mit dieser minimalen Geste, wenn ich mir
den Gesamtetat anschaue, versuchen können, die Geschichte der „entarteten Kunst“, die eine deutsche Geschichte ist, eine Geschichte der Ablehnung, der Zerstörung, der geistigen Dummheit, wiedergutzumachen.
({7})
Nun, Herr Staatsminister, muss ich Sie ganz behutsam auf die Redezeit aufmerksam machen.
Das ist das Schöne bei der Kultur: Man kann
meistens irgendwo in der Mitte aufbrechen, das Podium
verlassen, ohne das Gefühl zu haben, man würde sich niemals wieder sehen.
({0})
Herr Staatsminister,
Sie sollten das, was Sie eben so literarisch dargeboten haben, auch einhalten: Da wir uns alle wieder sehen, auch in
anderen Debatten, darf ich mir die Unbotmäßigkeit erlauben, Sie auf Ihre Redezeit hinzuweisen.
({0})
Frau Präsidentin, ich sehe es ja blinken.
({0})
Ich höre jetzt ganz einfach auf, in der Hoffnung, Herr
Lammert, Frau Vollmer, Herr Barthel, Herr Fink, dass wir
uns bei nächster Gelegenheit in der Sammlung Heinz
Berggruen wiedertreffen, zusammen mit dem Sammler,
und ihm möglicherweise auch persönlich danken.
- Ich danke Ihnen.
({1})
Wir kommen zur Abstimmung.
Ihnen liegt die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Kultur und Medien zu dem Antrag der CDU/CSU zur
Hauptstadtkulturförderung - Drucksache 14/4597 ({0}) vor. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. I seiner Beschlussempfehlung die Annahme einer Entschließung. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Die Gegenprobe! - Diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. II, den Antrag auf
Drucksache 14/3182 für erledigt zu erklären. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Auch
diese Empfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich bitte Sie, noch einen Augenblick aufmerksam zu
sein. Damit alles seine Ordnung hat, möchte ich Ihnen,
Herr Dr. Lammert, im Namen des gesamten Hauses zu
Ihrem heutigen Geburtstag gratulieren.
({1})
Im Übrigen möchte ich an die Adresse der Verwaltung
eine Epoche machende Bemerkung richten. Unter der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Kultur und Medien, die wir eben verabschiedet haben, steht: Vorsitzender Monika Griefahn. Ich rege an, dass zwischen der
Vorsitzenden und dem Vorsitzenden unterschieden wird.
Dann wären wir bei der Gleichberechtigung wieder ein
Stückchen weiter.
({2})
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 8 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Einführung einer Entfernungspauschale
und zur Zahlung eines einmaligen Heizkostenzuschusses
- Drucksache 14/4435 ({3})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({4})
- Drucksache 14/4631 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Ingrid Arndt-Brauer
Jochen Konrad Fromme
Carl-Ludwig Thiele
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({5})
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 14/4632 Berichterstattung:
Abgeordneter Hans Jochen Henke
Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Dr. Barbara Höll
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der PDS
vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Zunächst: Ich wusste eben nicht so richtig, ob ich mich
über das Lob von Staatsminister Naumann freuen sollte;
denn Lob, insbesondere das von Kulturpolitikern, wird in
der Regel teuer. Wenn der Finanzminister gelobt wird, ist
mir das immer suspekt.
({0})
Abgesehen davon, gebe ich gern zu: Ich war fünf Jahre
lang Kulturdezernent und 15 Jahre lang Vorsitzender des
Aufsichtsrates der „documenta“. Herr Staatsminister, das
war für meine Vorbereitung auf das Amt des
Bundesfinanzministers eher hinderlich.
({1})
Wie gesagt, solche Debatten wie die eben zu Ende gegangene sind mir zwar lieb, aber sie werden auch teuer.
({2})
Nun zu dem Thema, über das ich eigentlich reden
möchte: Gewährung einer Heizkostenpauschale und Einführung einer Entfernungspauschale. Ich werde das sehr
kurz machen. Der Ölpreis ist in diesem Jahr wie schon in
den 70er-Jahren in kurzer Zeit dramatisch angestiegen.
Das hat in bestimmten Bereichen soziale Folgen, die
nach Meinung der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen so nicht hingenommen werden können.
({3})
Wir wollen eine einmalige Heizkostenpauschale gewähren, weil sich der Preis für Heizöl von einer Heizperiode zur anderen mehr als verdoppelt hat, obwohl die
Ökosteuer - ich kenne ja Ihre These, die Sie sicherlich
gleich noch vortragen werden - gar nicht auf Heizöl erhoben wird.
({4})
Wir fühlen uns selbstverständlich für diejenigen ein Stück
weit verantwortlich, die mit diesem Preisanstieg finanziell
nicht zurechtkommen. Das ist für die Sozialhilfeempfänger gesetzlich geregelt. Wir wollen eine ähnliche gesetzliche Regelung auch für die Wohngeldempfänger und die
BAföG-Bezieher treffen. Wir wollen, so ist es in der Vorlage vorgesehen, diesen Gruppen die Hälfte der Kosten,
die ihnen durch die Verdoppelung des Heizölpreises entstanden sind, erstatten.
Aus unserer Sicht ist es in keiner Weise vernünftig,
wenn sich Bund und Länder weiter über die Aufteilung
der Kosten streiten. Sie entstehen jetzt und müssen auch
jetzt bezahlt werden. Sosehr ich - darauf komme ich
gleich zurück -Verständnis auch für die Haushaltsnöte der
Länder habe: Dieser Streit darf nicht fortgeführt werden.
Deswegen bin ich über die Entscheidung der Koalition
froh, die Zahlung eines einmaligen Heizkostenzuschusses
von der Einführung einer Entfernungspauschale abzukoppeln, indem gesagt wird: Der Bund übernimmt die Kosten
für den einmalig gewährten Heizkostenzuschuss. Dadurch kann mit der Auszahlung vor Weihnachten begonnen werden. Das ist ein vernünftiger Weg. Dafür sage ich
den Koalitionsfraktionen ausdrücklich: Herzlichen Dank!
({5})
Zur Entfernungspauschale: Dieses Thema spielt in
allen Parteiprogrammen eine Rolle. Alle Parteien haben in
ihren Programmen die Umstellung vom Kilometergeld
auf die Entfernungspauschale gefordert, und zwar mit
dem ökologisch richtigen Argument, dass man nicht diejenigen benachteiligen dürfe, die mit öffentlichen Verkehrsmitteln, also mit vergleichsweise umweltfreundlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren, unabhängig
davon, dass viele, die mit dem Auto zur Arbeit fahren, gar
keine andere Möglichkeit haben. Es geht ja nicht darum,
diejenigen dafür zu bestrafen, sondern darum, diejenigen,
die andere Verkehrsmittel - so sie Ihnen zur Verfügung
stehen - wählen, nicht zu bestrafen.
({6})
Insofern sage ich zunächst, dass im Hinblick auf dieses
Prinzip eigentlich Einvernehmen bestehen müsste. Es ist
in allen Parteiprogrammen enthalten. Es steht übrigens da
und dort auch in den Koalitionsvereinbarungen der Landesregierungen, so zum Beispiel in Rheinland-Pfalz.
({7})
Nun bleibt nur die Frage nach der Höhe der Entfernungspauschale.
({8})
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Hier haben wir vor dem Hintergrund der kräftigen Öl- und
Kraftstoffpreissteigerungen, die wir in den letzten anderthalb Jahren in der Tat erlebt haben, vorgeschlagen, dass
eine Erhöhung von 70 auf 80 Pfennig vorgenommen wird.
Meine Damen und Herren, Folgendes ist ein interessanter Vorgang: Ich erinnere daran, dass auch im Steuerreformkonzept der Bundestagsfraktion der CDU/CSU
eine Entfernungspauschale enthalten war.
({9})
- Ja, wunderbar. Sehr verehrter Herr Michelbach, die
Ökosteuer war ja bereits eingeführt. Da kommen Sie nicht
heraus. - Diese Entfernungspauschale betrug 50 Pfennig.
Wir wollen den Autofahrern in Bayern, Baden-Württemberg und Hessen
({10})
- zum Teil sind dort bald Wahlen; dort wird besonders
laut gefordert, man müsse etwas für die Autofahrer tun; in
anderen, auch in sozialdemokratisch geführten Ländern
wird das ebenfalls gesagt ({11})
zu unserer großen Freude einmal ganz deutlich sagen,
dass in Ihrem Steuerreformkonzept eine Entfernungspauschale in Höhe von 50 Pfennig vorgesehen war.
({12}) - Hans Michelbach
[CDU/CSU]: Ohne Ökosteuer!)
Meine Damen und Herren, so brutal sind wir zu den
Pendlern nicht. Auch wir glauben, dass an dieser Stelle
angesichts der Entwicklung der Kraftstoffpreise etwas getan werden muss.
({13})
Das aber stößt zu einem Teil auf den Widerstand der Länder - auch auf den sozialdemokratisch geführter -, die argumentieren, ihre Kassen gäben das nicht mehr her.
Meine Damen und Herren, im Prinzip habe ich für dieses Argument viel Verständnis. Denn im Zuge der Debatte
um die Steuerreform habe ich immer wieder darauf hingewiesen, dass man auch die Länderhaushalte nicht
überfordern darf; das ist wohl so. Nur weise ich die Länder darauf hin, dass der Bundeshaushalt schlechter strukturiert ist als alle Länderhaushalte. Diese Aussage muss
ich mit einer kleinen Einschränkung versehen: Eine Ausnahme ist der Berliner Haushalt, der eine etwas noch
ungünstigere Zinssteuerquote, das heißt, eine relativ
höhere Verschuldung aufweist als der Bundeshaushalt.
({14})
Wenn aber der Bundeshaushalt diese Kosten tragen
kann - wir wollen das, weil wir sagen, dass hier ein soziales Problem besteht, dem wir uns stellen müssen -,
dann ist allerdings nicht einzusehen, warum nicht auch die
Länderhaushalte ihren Teil - es gibt ja eine diesbezügliche Regelung im Einkommensteuerrecht - dazu beitragen
können, nämlich ihre 42,5 Prozent.
({15})
Vor dem Hintergrund der Entscheidung, dass der Bund
bereit ist, die Kosten für den Heizkostenzuschuss vollständig zu übernehmen, ist in Richtung der Länderseite zu
apllieren, diesen Bereich nun nicht mehr auf die lange
Bank zu schieben, sondern zu einem Ergebnis zu kommen. Wenn wir uns dann im Vermittlungsverfahren befinden, wird es ein konstruktives Mitwirken des Bundes geben.
Aber, meine Damen und Herren, an einer Stelle sind
die Prinzipien völlig klar: Die Finanzverfassung gilt. Das
Einkommensteuerrecht ist in Bezug auf Einnahmen und
Ausgaben so zu gestalten, wie es verfassungsmäßig
vorgesehen ist. Der Bund und die Länder sind mit je
42,5 Prozent an den Kosten der Entfernungspauschale beteiligt. Dabei muss es bleiben. Deswegen richte ich die
herzliche Bitte an die Verantwortlichen in den Ländern,
ihre Position vor diesem Hintergrund noch einmal zu
überdenken. Wenn der Bund den Heizkostenzuschuss
gänzlich übernimmt, ist dies ein starkes Zeichen, das den
Ländern deutlich macht: Der Bund ist kompromissbereit;
aber die Finanzverfassung gilt. Der Bund legt sich
krumm, um die stark gestiegenen Mineralölpreise dort,
wo dies erforderlich ist, abzufedern.
({16})
Das muss man dann auch von den Ländern erwarten können. Meine Damen und Herren, deswegen bitte ich auch
namens der Bundesregierung um Zustimmung zu diesen
beiden Vorhaben.
({17})
Das Wort hat jetzt der
Kollege Jochen-Konrad Fromme für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben uns
über die Inschrift für dieses Haus unterhalten. Es wäre
besser gewesen, wir hätten ein Schild angebracht, auf dem
geschrieben steht: „Reparaturwerkstatt der rot-grünen
Regierungskoalition.“
({0})
Einem Ihrer Reformgesetze folgen mindestens zwei
Reparaturgesetze. Ich nenne die Stichworte: Heizkostenpauschale, Entfernungspauschale, Agrardiesel, Steuersenkungsgesetz, Steuersenkungsergänzungsgesetz, die
Kirchen, die Aktien und Derivate sowie den Fallenstellerparagraph.
({1})
Sie sollten sich auch bei der Ökosteuer einer Totalreparatur nicht verschließen. Sie sollten sagen: Wir schmeißen
sie über Bord; Abschaffung ist das einzig Richtige.
({2})
Sie wollen uns damit einfangen, dass Sie Gesetzentwürfe einbringen, die den Menschen etwas vermeintlich
Gutes bringen, indem Sie ihnen eine bessere Entfernungspauschale und eine Heizkostenpauschale gewähren.
Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Sie wollen damit
verschleiern, dass Sie die Ursache dafür geschaffen haben, dass die Kraftstoffpreise so gestiegen sind.
({3})
Sie argumentieren, der Anstieg der Rohölpreise sei dafür
verantwortlich.
({4})
Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn Sie ständig die Abgaben
auf den Verbrauch von Rohöl erhöhen, dann ist das eine
Einladung an die Scheichs, auch ihre Preise zu erhöhen.
Deshalb ist die Ökosteuer ein Treibsatz in Bezug auf die
Heizöl- und Benzinpreise, nichts anderes.
({5})
Die OPEC hat ja im Zusammenhang mit der Erhöhung der
Fördermenge eine Steuersenkung gefordert. Wir werden
sehen, was da kommt.
Es gibt noch etwas Wichtiges, das Sie mit zu verantworten haben, und zwar das Sinken des Euro-Kurses.
Wenn sich der Kanzler der wichtigsten Volkswirtschaft in
Europa hinstellt und sagt, ein niedriger Euro-Kurs sei ihm
im Interesse des Exportes recht, dann brauchen wir uns
nicht zu wundern, wenn die Welt den Euro so schlecht bewertet.
({6})
Die Quittung dafür werden Sie bekommen; die Quittung
ist nämlich eine Steigerung der Inflationsrate in unserem Land. Wenn Sie einmal betrachten, dass wir im Monatsvergleich inzwischen bei einer Inflationsrate von
2,5 Prozent sind, dann werden Sie merken, was das für
uns und was das insbesondere für die kleinen Leute bedeutet. Und das ausgerechnet von der SPD!
({7})
An der Ökosteuer wird die Politikmethode dieser Koalition doch recht deutlich: Such dir ein sympathisches
Thema - ich tue etwas für die Umwelt, ich will die Rentenbeiträge senken -, vergiss dein Versprechen von gestern - „6 Pfennig Ökosteuer sind genug“; „nur im Rahmen
von Europa gibt es Weiteres“ - und gib einigen Menschen
unter einer anderen Überschrift - damit ja keiner merkt,
dass das miteinander zusammenhängt - wieder ein Stück
von dem zurück, was du ihnen genommen hast. In Wahrheit bleibt man aber unter dem Strich bei einem großen
Opfer, das die Menschen aufbringen müssen. Meine Damen und Herren, das ist „linke Tasche, rechte Tasche“,
aber doch keine vernünftige Politik. Sie nehmen den Menschen auf Dauer mehr, als Sie ihnen geben.
({8})
So ist das doch auch bei der Ökosteuer und der Entfernungspauschale bzw. dem Heizkostenzuschuss: Erst haben Sie die Preise hochgetrieben und dann geben Sie ein
Stück weit etwas zurück.
({9})
Am Ende bedeutet das, dass Sie mit Ihren Reparaturmaßnahmen - abgesehen davon, dass sie völlig ungeeignet sind - auch noch eine riesige Bürokratie erzeugen,
die keine Gerechtigkeit bringt. Denn was ist denn mit der
Rentnerin, die sich mit einer kleinen Wohnung bescheidet, für die sie kein Wohngeld benötigt? - Sie hat wegen
der gestiegenen Heizölpreise höhere Heizkosten, bekommt aber keinen Ausgleich dafür.
({10})
Sie verfahren nach dem Motto - Herr Finanzminister, das
muss man einmal deutlich sagen -: Der Bund kassiert die
Mineralölsteuer allein. An der Reparaturmaßnahme sollen sich dann die Länder und die Gemeinden beteiligen.
So kann es nicht gehen.
({11})
Weil Sie merken, dass Sie die Rechnung ohne den Wirt
Bundesrat gemacht haben, haben Sie Ihre Vorhaben jetzt
plötzlich in zwei Gesetzentwürfe aufgeteilt. Sie übernehmen den kleineren Teil der Kosten, weil Sie meinen, Sie
könnten damit den Druck auf die Länder erhöhen. Ich
hoffe, dass die Länder hart bleiben und Ihnen einen Strich
durch die Rechnung machen. So kann das nicht gehen.
Entweder kassieren wir alle - dann müssen wir alle uns
auch an der Entlastung beteiligen - oder nur der Bund kassiert und trägt die Kosten für die Entlastung allein.
Die Ökosteuer war schon im Ansatz völlig falsch.
({12})
Sie haben eine Verbindung zwischen einer Lenkungsabgabe und einer Daueraufgabe gesucht. Eine Lenkungsabgabe hat das Ziel, den Verbrauch zu senken. Wenn ihr
Ziel erreicht würde, würde das bedeuten, dass das Aufkommen aus der Ökosteuer eines Tages null wäre. Nur
dann wäre sie als Lenkungsabgabe geeignet.
({13})
Auf der anderen Seite wollen Sie mit dieser Abgabe die
Daueraufgabe der Finanzierung der Renten lösen. Sie produzieren ein Haushaltsloch. Ihre Politik ist es doch, nur
das Heute, aber nicht das Morgen zu sehen. So kann es
wirklich nicht gehen.
({14})
- Wir machen deshalb eine Anhörung, damit jedermann
deutlich wird, welchen Mist - um Ihr Wort aufzugreifen Sie hier angerichtet haben.
({15})
Eines haben Sie mit der Ökosteuer allerdings erreicht: ein
rapides Ansteigen der Energiepreise für Heizöl, Strom
und Gas.
({16})
Das ist klar.
Wenn Sie Ihre eigene Koalitionsvereinbarung ernst
genommen hätten, dann hätten Sie Ihr Ziel erreicht und
dann müssten Sie schon aus diesem Grunde die Ökosteuer abschaffen. Aber das tun Sie natürlich nicht. Sie
wollten über die Ökosteuer Arbeitsmarkteffekte erzielen.
Messbare Wirkungen - das hat die Anhörung ergeben gibt es nicht. Die statistischen Verbesserungen rühren
wohl eher von Ihren statistischen Tricks im Umgang mit
den 630-Mark-Beschäftigungen als daher, dass auf diesem Gebiet wirklich etwas geschehen ist.
({17})
Aus der doppelten Dividende, die Sie den Menschen
versprochen haben, ist ein doppeltes Opfer geworden. Die
Menschen bekommen 300 DM mehr; gleichzeitig muss
beispielsweise ein durchschnittlicher Haushalt zusätzlich
1 000 DM zahlen. Was ist mit den Rentnern, mit den Arbeitslosen und mit den Sozialhilfeempfängern, die durch
Ihre Maßnahmen nicht entlastet werden? Es werden lediglich Berufspendler und Wohngeldempfänger entlastet.
({18})
Wenn Sie es mit Ihrem ökologischen Ansatz ernst gemeint hätten, dann hätten Sie beim Schadstoffausstoß
und nicht einfach beim Verbrauch einer Menge anknüpfen
müssen.
({19})
Wenn es Ihnen um den ökologischen Ansatz gegangen
wäre, dann hätten Sie den Kernkraftstrom steuerfrei stellen müssen; stattdessen steigen Sie aus dieser relativ umweltschonenden Form der Energieerzeugung völlig aus.
Sie erreichen mit Ihrer Politik das Gegenteil von dem,
was Sie unter ökologischen Gesichtspunkten erreichen
wollen. Wenn Sie die deutsche Wirtschaft im Alleingang
mit einer Ökosteuer belasten, dann steigen die Kosten.
Das bedeutet: Ausländische Produkte werden wettbewerbsfähiger und die Menschen kaufen diese ausländischen Produkte, die - im Vergleich zu den im Inland erzeugten Produkten - mit mehr Energie und im Rahmen
schlechterer Umweltbestimmungen erzeugt werden.
({20})
Es ist völlig systemwidrig, wenn Sie etwas gegen den
Schadstoffausstoß tun wollen und dabei die Großbetriebe
außer Acht lassen.
({21})
Dazu waren Sie unter Wettbewerbsgesichtspunkten natürlich gezwungen; aber es macht doch deutlich, dass Ihnen
von Anfang an klar war, dass Ihre Ökosteuer ein völlig
falscher Ansatz ist.
Ihre Art von Ökosteuer ist eine einzige Bereicherung
für den Staat.
({22})
Allein durch die 33 Milliarden DM, die die Wirtschaft und
die Menschen für ihre Energieversorgung mehr aufwenden müssen, entstehen zusätzliche Einnahmen im Rahmen der Mehrwertsteuer in Höhe von 4,2 Milliarden DM,
die nicht eingeplant waren und die Sie einfach einsacken.
({23})
- Ich brauche nicht rot zu werden. Außerdem bin ich
schwarz bis in die Seele.
({24})
Des Weiteren verwenden Sie das vollständige Ökosteueraufkommen gar nicht zur Senkung der Rentenbeiträge.
({25})
Ich verweise nur auf das, was das Karl-Bräuer-Institut in
der Anhörung am Mittwoch dieser Woche sehr eindrucksvoll dargetan hat:
({26})
Sie stecken zwar einen Großteil der Einnahmen in den
Rententopf; aber gleichzeitig nehmen Sie an anderer
Stelle aus dem Rententopf Milliarden heraus, sodass
keine Senkung in vollem Umfang stattfindet. Wäre dies
nämlich geschehen, dann hätten Sie den Rentenbeitrag
auf 17,9 Prozent senken können.
({27})
Ich zitiere mit Erlaubnis der Frau Präsidentin aus dem
Gutachten des Karl-Bräuer-Instituts:
Im Ergebnis fließen vom kumulierten Mehraufkommen aus den weiteren Stufen der „Ökosteuer“-Reform ab 2000 ({28}) netto weniger als 40 %
zusätzlich an die Rentenversicherung. Die übrigen
Mittel dienen überwiegend dem Ausgleich von Mindereinnahmen der Rentenversicherung, die wiederum aus Kürzungen im Bundeshaushalt resultieren. Da der Saldo der zusätzlichen Zahlungen des
Bundes an die Rentenversicherung geringer ist als
die Summe seiner zusätzlichen Einnahmen aus der
Fortführung der „Ökosteuer“-Reform, fällt auch die
Entlastung der Beitragszahler notwendigerweise geringer aus ...
Das ist die Wahrheit.
({29})
Sie gehen schlicht und einfach nach dem Motto vor:
Die Vorgänge sind so kompliziert, dass sie keiner durchschaut; deswegen kann ich Nebelkerzen werfen, indem
ich den Topf an der einen Stelle auffülle und an anderer
Stelle etwas aus ihm herausnehme.
({30})
Diese Steuererhöhungen sollen weitergehen. Herr
Trittin hat schon gesagt, dass die Ökosteuer auch nach
2003 steigen muss. Sie nähern sich planmäßig Ihrem Ziel
von 5 DM pro Liter Benzin. Das ist gegen die Menschen
in diesem Lande gerichtet. Deswegen fordere ich Sie noch
einmal auf: Nehmen Sie von diesem Unsinn Abstand!
Folgen Sie unserem Antrag auf vollständige Abschaffung
der Ökosteuer!
({31})
Auch die Wirtschaftsinstitute, meine Damen und Herren, haben eine Reform der Ökosteuer gefordert. Aber
eine Reform hat überhaupt keinen Sinn; hier hilft nur eine
Totalreparatur. Wir wissen es auch: Auch der Bundeskanzler ist gegen die Ökosteuer. Er traut sich nur nicht wegen seines Koalitionspartners, das zu sagen.
({32})
Deshalb fordere ich den Bundeskanzler auf, dass er hier
einmal „Basta!“ sagt. Dabei sollte er allerdings ein wirkungsvolles Konzept in der Hand haben; vielleicht nimmt
er ja unser Konzept auf.
({33})
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({34})
Ich erteile nun das
Wort der Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig, Bündnis
90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich hatte schon fast Entzugserscheinungen bekommen. Nun bin ich aber froh, dass uns die CDU/CSU
wieder einmal zum wöchentlichen Ökostammtisch einlädt.
({0})
Versammeln wir uns also fröhlich! Leider gibt es auf diesem Stammtisch nur Selters.
({1})
Ein anständiges Bier wäre mir lieber.
({2})
Ich verstehe ja, liebe Kolleginnen und Kollegen und
lieber Herr Fromme, dass Sie seit zwei Jahren auf der
Suche nach Ihrer neuen Rolle sind. Ich verstehe aber
wirklich nicht, dass Sie das Heil Ihrer Partei nur noch in
systematischer Volksverdummung und in Stammtischparolen suchen. Sie, Herr Fromme, haben uns heute ein
perfektes Beispiel dafür geliefert. Langsam macht es uns
Sorgen, in welche Richtung Sie hier argumentieren.
({3})
Eigentlich hatten wir, nachdem Ihre Fraktion noch in
der letzten Woche zur Klimakonferenz in Den Haag einen
relativ verantwortungsbewussten Antrag gestellt hat, gedacht, dass die Kollegen vielleicht doch noch einmal zum
Nachdenken kommen und merken, dass der Weg weg
vom Öl sowohl aus Klimaschutzgründen als auch aus
Gründen der Endlichkeit des Rohstoffes eingeschlagen
werden muss. Heute habe ich wieder gemerkt, dass Ihr
Antrag nur so eine Art Flyer für verantwortungsbewusstes
Reden in der einen Sitzungswoche war, Sie in der nächsten Sitzungswoche dann aber wieder praktisch auf
Stammtischniveau diskutieren wollen. Ich würde Sie bitten, einmal darüber nachzudenken, wie Ihre politische Linie aussehen soll.
Ich möchte jetzt doch zur Tagesordnung sprechen, was
Sie offenbar nicht für nötig gehalten haben.
({4})
Alle wollten die Entfernungspauschale, auch Sie, wie uns
unser Minister eben berichtet hat. Nun führen wir sie ein.
Sie und 13 Millionen Berufspendler werden Nutznießer
dieser Regelung und endlich auch diejenigen, die mit
Bahn, Bus und Fahrrad fahren.
({5})
Man muss Sie immer wieder auf Ihre eigenen Beschlüsse
verweisen. Ich verstehe überhaupt nicht, warum Sie heute
gegen die Entfernungspauschale polemisieren.
({6})
Ich würde ja verstehen, wenn Sie jetzt sagen würden,
Sie wollten statt der 80 Pfennig lieber eine Entfernungspauschale von 50 Pfennig, die Sie damals gefordert hatten. Dafür hätte ich als Grüne sogar eine gewisse Sympathie. Obendrein hätte ich endlich das Gefühl: Die Partei
bleibt wenigstens einmal in einem Punkt ihren alten Beschlüssen treu. Aber nein, Sie müssen ständig Ihre alten
Positionen räumen, weil Sie nicht mehr wissen, was Sie
der Gesellschaft eigentlich vermitteln wollen.
Beim Heizkostenzuschuss muss ich Sie auch noch auf
einen Punkt aufmerksam machen: Es geht nicht nur um einen Heizkostenzuschuss für Wohngeld- und BAföGEmpfänger, was ja alleine schon toll wäre. Vielmehr werden wir hier heute mit unserer Mehrheit beschließen, dass
auch andere Haushalte mit dementsprechend niedrigem
Einkommen den Heizkostenzuschuss bekommen können.
Deswegen sind hierfür mittlerweile 1,4 Milliarden DM
veranschlagt. - Ich bitte Sie, Herr Fromme, das zur
Kenntnis zu nehmen, damit Sie nicht auf dem nächsten
Stammtisch wieder falsche Parolen verbreiten, sondern
endlich auch einmal selbst über die Sachverhalte informiert sind und weitere Kolleginnen und Kollegen informieren können. Das könnte Ihren Wählern eigentlich nur
gut tun.
Dass das Geld hierfür vom Bund aufgebracht wird,
sollten nicht nur Sie registrieren und entsprechend positiv
bewerten, sondern auch die Länder. Von daher würde ich
schon gerne wissen, wie Sie es Ihren Wählern vermitteln
wollen, dass Sie gegen diese Heizkostenpauschale stimmen. Offenbar gönnen Sie sie den Menschen nicht.
({7})
- Ach, Sie haben die bessere Alternative? Ich habe ja eben
gemerkt, wie Ihre Alternative aussieht. So ganz hat zumindest mich das nicht überzeugt.
({8})
Ich möchte noch zu einem weiteren Punkt etwas sagen,
damit wir nicht nur auf dem jetzigen Niveau diskutieren.
Es ist ein toller und wichtiger Schritt, wie ich finde, dass
wir heute diese beiden Entscheidungen hier fällen. Das
gilt insbesondere für den Umstieg von der Kilometerpauschale auf die Entfernungspauschale.
Ich möchte aber eines feststellen, was gerade mir als
Stadtplanerin und für die Stadtentwicklungspolitik Engagierte wichtig ist: Bei allem Verständnis für die Berufspendler glaube ich, dass wir längerfristig schon dahin
kommen müssen, dass wir nicht einseitig mit der Entfernungspauschale - denn sie wirkt da letztlich genauso wie
die Kilometerpauschale - die weitere Zersiedlung unserer Landschaft vorantreiben.
({9})
Vielmehr müssen wir eine Gleichheit zwischen den Bewohnern des ländlichen Raums und denen, die in der Stadt
wohnen, die Verkehrslärm, Verkehrsgefahren, Emissionen usw. täglich überstehen müssen und für die das Wohnen teurer ist als für diejenigen, die auf dem Land leben,
herstellen.
Von daher möchte ich - nicht unbedingt in dieser
Legislaturperiode, aber langfristig -, dass wir eine Diskussion über ein schrittweises Zurückführen der Entfernungspauschale führen, um Gerechtigkeit zwischen
Fernpendlern und Stadtbewohnern, für die weniger Verkehrsbelastung entsteht, wieder herzustellen.
Danke schön.
({10})
Jetzt erteile ich Kollegin Professor Gisela Frick für die F.D.P.-Fraktion das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Herr Kollege Fromme, Sie können sich vorstellen, dass ich Ihnen gern zustimmen würde, wenn Sie
sagen, das sei ein einziger Reparaturbetrieb, was uns hier
in den beiden Gesetzentwürfen vorgelegt wird.
({0})
Aber Reparaturen sollen ja etwas verbessern, und insofern
kann ich diesen Begriff leider nicht übernehmen; denn
das, was uns hier in den beiden Gesetzentwürfen vorliegt,
ist jedenfalls in meinen Augen und in den Augen meiner
Fraktion nur eine Verschlimmbesserung,
({1})
mit der alle die Fehler, die mit der Ökosteuer gemacht
worden sind, nicht etwa beseitigt, sondern noch verschlimmert worden sind.
Zunächst einmal zum Lenkungscharakter, zum umweltpolitischen Ansatz dieser Steuer. Wir haben es eben
von Kollegin Eichstädt-Bohlig gehört: Für diese Funktion ist die Entfernungspauschale schlicht und einfach
zu hoch. Wir haben in unserem Einkommensteuerreformgesetz eine Entfernungspauschale vorgesehen, die
wesentlich geringer war und im Übrigen den Nahbereich
von 15 Kilometern nicht berücksichtigte. Das ist ein riesiger Unterschied.
({2})
Die Entfernungspauschale ist deshalb zu hoch, weil sie
vielleicht bei den Autofahrern gerade einmal die höheren
Kosten deckt, aber alle anderen, die andere Verkehrsmittel benutzen, natürlich eine Gießkanne bedeutet, mit der
Wohltaten ausgeschenkt werden, die in keiner Weise zu
begründen sind.
({3})
Das ist der eine Punkt.
Die sozialpolitische Seite, die Sie immer so betonen,
ist erst recht verfehlt. Damit rächt sich natürlich auch
der Konstruktionsfehler Ihrer Ökosteuer. Wir können
nicht mit der Rentenfinanzierung umweltpolitische Ziele
verknüpfen. Das klappt nicht; das hat Herr Kollege
Fromme sehr deutlich ausgeführt.
({4})
Das haben beide Herbstgutachten, sowohl das der fünf
Wirtschaftsweisen als auch das der Wirtschaftsinstitute,
ganz deutlich festgestellt. Diese Konzeption ist verfehlt; denn es besteht eine große Asymmetrie zwischen
denjenigen, die durch die Ökosteuer belastet werden,
und denen, die - von einer Senkung kann man ja kaum
sprechen - von dem Einfrieren der Beiträge zur Rentenversicherung profitieren.
({5})
Wir haben das hier schon x-mal gesagt; aber ich wiederhole es noch einmal: Von dieser Entlastung profitieren
nicht die Rentner, die Studenten, die Arbeitslosen und
auch nicht die einkommensschwachen Familien.
Wenn Sie jetzt an der Entfernungspauschale herumdoktern, dann erwischen Sie die Gruppe der Arbeitnehmer, diejenigen, die Arbeit haben, die wenigstens in etwa
eine gewisse Entlastungswirkung durch Ihre Konzeption
der Ökosteuer in Verbindung mit der Rentenfinanzierung
haben. Nur die begünstigen Sie. Alle anderen entlasten
Sie nicht.
({6})
Das heißt, alle anderen Personengruppen haben überhaupt
nichts davon, dass die Entfernungspauschale angehoben
wird, sodass wir sagen können: Sie ist nicht nur umweltpolitisch, sondern auch sozialpolitisch verfehlt.
({7})
Insofern ist es ganz konsequent, dass wir jetzt sagen: An
dieser Stelle ist die Entfernungspauschale, die wir dem
Grunde nach durchaus bejahen, in der von Ihnen vorgelegten Form ganz eindeutig und klar abzulehnen.
({8})
Das Gleiche gilt übrigens auch für den einmaligen
Heizkostenzuschlag. Was soll denn ein einmaliger Heizkostenzuschlag? Als Juristin, als Verfassungsrechtlerin,
habe ich Probleme damit, dass so etwas in einem eigenen
Gesetz geregelt werden soll; denn eigentlich ist das ein
Haushaltsansatz. Wir brauchen kein generell abstraktes
Gesetz dazu, um einen solchen einmaligen Heizkostenzuschlag einzuführen.
({9})
- Ja, Wahrscheinlich noch früher, nehme ich einmal an. Schon das ist bedenklich.
Aber gut, ich setze mich über die Bedenken hinweg
und widme mich dem Inhalt: Gezahlt werden soll dieser
einmalige Heizkostenzuschuss nur an die Menschen, die
sowieso schon staatliche Transferleistungen erhalten.
Warum erhöht man denn nicht die Transferleistungen,
wenn man sieht, dass der Bedarf höher ist?
({10})
Warum macht man hier nur eine einmalige Geschichte?
({11})
- Herr von Larcher, ich kann das an Sie weitergeben. Ich
freue mich über das Bedauern in Ihrer Stimme.
Leider wird mir schon signalisiert - denn ich habe nur
eine sehr kurze Redezeit -, dass ich zum Ende kommen
muss. Der Heizkostenzuschuss als einmaliger Zuschuss
ist umweltpolitisch und sozialpolisch total verfehlt.
({12})
Deshalb müssen wir auch diesem eine Absage erteilen.
Danke schön.
({13})
Das Wort hat jetzt die
Kollegin Christine Ostrowski, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Meine Tochter kostete das Auffüllen
ihres Gastanks 2 300 DM, fast 1 000 DM mehr als im vergangenen Jahr. Sie hat kein üppiges Einkommen und
muss sowieso schon ungefähr 50 Prozent davon für die
Wohnkosten zahlen. Sie arbeitet in Schicht und ihr Arbeitsort ist mehrere Kilometer von ihrem Wohnort entfernt.
Der Heizkostenzuschuss und die Entfernungspauschale helfen ihr also über das Schlimmste hinweg; das ist
zunächst erst einmal so. Das hilft nicht nur ihr. Beim Heizkostenzuschuss betrifft es ungefähr 5 Millionen Menschen und bei den Pendlern ungefähr 13 Millionen. Schon
allein aus diesem Grund wird die PDS den beiden Gesetzentwürfen zustimmen.
({0})
Ich wundere mich wirklich - ich finde Ihre Argumente bezüglich der Ökosteuer zynisch und im Übrigen abgelutscht -, dass Sie diesen beiden Maßnahmen, die Verbesserungen für Millionen von Menschen bringen, nicht
zustimmen. Machen Sie das bitte mit sich selbst und mit
Ihrer Wählerschicht aus.
({1})
- Unsere Position zur Ökosteuer kennen Sie. Wir halten
sie ebenfalls für unsozial und für nicht ökologisch.
({2})
Das hindert uns aber nicht daran, einer Verbesserung, die
Millionen Menschen zugute kommt, zuzustimmen.
({3})
Trotzdem ist auch bei uns nicht nur Jubel angesagt.
Was den Heizkostenzuschuss anbelangt, so müsste er eigentlich - das hat der Mieterbund berechnet - nicht bei
nur 5 DM liegen, sondern bei 9 DM.
Die Einmaligkeit des Zuschusses - da haben Sie Recht,
Frau Frick - ist ein Problem. Aber das eigentliche Problem liegt ganz woanders: Was kann ein Mieter oder
Hauseigentümer dafür, dass die Weltwirtschaft vom Öl
abhängig ist? Was kann er für die Preispolitik der Ölkonzerne? Er muss den Preis zahlen, er ist der Letzte in der
Kette, er ist ihnen ausgeliefert.
In anderen Fällen ist er beispielsweise kommunalen
Versorgungsbetrieben oder Kommunen ausgeliefert. Von
17 Positionen im Bereich der Wohnnebenkosten kann der
Mieter keine einzige Position allein beeinflussen; nur sieben kann er mit beeinflussen. Es muss Schluss sein - das
könnte ein Signal sein - mit der Tatsache, dass der Mieter
Kosten zu bezahlen hat, die er nicht verursacht hat und die
er entweder gar nicht oder nur gering beeinflussen kann.
Ich fordere Sie aus diesem Anlass dringend auf, die so genannte zweite Miete einer grundlegenden Neuordnung
zuzuführen. Sie haben das beispielsweise bei der Mietrechtsreform versäumt.
Zur Entfernungspauschale: Die Umwandlung ist klar,
sie steht in allen Parteiprogrammen. Die PDS hatte dies
übrigens schon 1995 hier eingebracht; dies wurde damals
abgelehnt. Das Gute an der Entfernungspauschale ist,
dass sie alle Pendler gleichstellt, egal, ob sie das Auto, das
Fahrrad oder den öffentlichen Nahverkehr benutzen. Man
kann hoffen, dass es dadurch vielleicht in geringem Maße
zu einem Umsteigen auf den öffentlichen Nahverkehr
kommt. Auch das Schummeln wird sich vielleicht etwas
legen.
Sie haben unseren Entschließungsantrag gelesen. Manche wundern sich, dass wir diese beiden so überschaubaren Maßnahmen zum Anlass nehmen, hier einen sehr
komplexen Antrag bezüglich einer ökologischen Verkehrswende einzubringen. Wir unterscheiden uns da eben
von Ihnen. Sie meckern hier nur und hacken auf der Ökosteuer herum,
({4})
wohingegen wir die Ökosteuer ebenfalls grundlegend kritisieren, den beiden jetzt vorgesehenen Maßnahmen aber
zustimmen und trotzdem gleichzeitig ein umfassendes
Konzept vorlegen,
({5})
nach dem beispielsweise, Frau Eichstädt-Bohlig, die Entfernungspauschale in späteren Jahren zurückgeführt werden kann, damit sie eben nicht als Zersiedlungspauschale
wirkt.
({6})
Die Entfernungspauschale allein bremst nicht das Anwachsen des Autoverkehrs und bringt dem öffentlichen
Verkehr keinen Vorrang. Sie löst auch nicht das Desaster
der Bahn und schafft kein Investitionsprogramm für die
Schiene. Deshalb fordern wir Sie mit unserem Antrag auf,
die gegenwärtige Situation zu nutzen, um diese Schritte
endlich anzugehen.
Zuletzt ein sehr erfreulicher Punkt. Die PDS hatte als
erste und übrigens als einzige Fraktion im Haushaltsausschuss schon vor Wochen beantragt, dass der Heizkostenzuschuss allein vom Bund bezahlt wird. Wir mussten
uns für diesen Antrag beschimpfen lassen - das sind wir
ja gewöhnt - und er wurde abgelehnt.
({7})
Jetzt machen Sie es doch. Das finde ich hervorragend.
({8})
Ich würde Ihnen aber empfehlen, es auf direktem Wege
zu machen, indem Sie unserem Entschließungsantrag zustimmen.
Vielen Dank.
({9})
Als Letzter in dieser
Debatte erteile ich das Wort der Kollegin Ingrid ArndtBrauer von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich denke, wir haben
heute ein inhaltlich sehr überschaubares und leicht verständliches Gesetz vor uns.
({0})
Deshalb brauche ich nicht mehr viel dazu zu sagen. Ich
möchte aber noch ein paar Worte auf meine Vorredner
bzw. Vorrednerinnen verwenden.
Es hat mich nicht überrascht, dass Herr Fromme wieder auf die Ökosteuer zu sprechen kam.
({1})
- Ja, das war zu erwarten. - Ich darf in diesem Zusammenhang kurz Klaus Töpfer zitieren, der gesagt hat:
Wer die Ökosteuer als K.o.-Steuer bezeichnet, hat es nicht
verstanden. - Ich möchte dieses Zitat nicht auf Sie persönlich anwenden; aber ich denke, dass es aussagekräftig
ist.
({2})
Sie haben von einem Reparaturbetrieb gesprochen.
Das trifft in gewisser Weise zu. Aber ich denke, es liegt
daran, dass wir eine Baustelle von Ihnen übernommen haben, wobei die Grundmauern leider schon standen. Wir
konnten es prinzipiell nicht anders bauen, als es von Ihnen angefangen wurde. Ich will nicht alles aufführen, was
wir von Ihnen übernommen haben.
({3})
Wir werden versuchen, das Beste daraus machen.
({4})
Ihr Rundumschlag, angefangen bei den 630-Mark-Jobs
bis hin zur Ökosteuer, war deshalb nicht ganz gerechtfertigt.
Ich möchte Ihr Wahlprogramm zitieren - dieser Punkt
ist eben schon angesprochen worden -, in dem steht, dass
es eine Entfernungspauschale von 50 Pfennig ab 15 Kilometern geben soll.
({5})
Ich als Münsterländer Radfahrerin und Abgeordnete wäre
damit durchaus einverstanden. Aber die Bürger des Münsterlandes, die als Pendler weite Strecken zurücklegen
müssen und die mich ebenfalls in den Bundestag gewählt
haben, um die Interessen dieser Region zu vertreten, können damit leider nicht leben. Deswegen ist es sinnvoll,
dass wir die Entfernungspauschale auf 80 Pfennig festlegen.
({6})
Das müsste für Sie eigentlich nachvollziehbar sein, weil
Sie teilweise ebenfalls aus ländlichen Regionen kommen
und von den Menschen dort ähnliche Beschwerden hören
können.
Über die Höhe der Entfernungspauschale kann man
streiten. Aber was ich nicht verstehe, ist Ihre Weigerung,
dem Heizkostenzuschuss zuzustimmen.
({7})
Wenn ich ein wenig mehr Redezeit hätte, würde ich eine
Gedenkminute einlegen, in der Sie einmal an zwei oder
drei kleine Leute, wie Sie sagen, aus Ihrem Wahlkreis
denken können,
({8})
die Sie in den nächsten Wochen fragen werden: Warum
seid ihr eigentlich dagegen?
Das Problem ist das Folgende: Sie reden immer von der
Ökosteuer auf dem Heizöl. Wir haben einmalig 4 Pfennig
draufgeschlagen.
({9})
Bei einer Tankfüllung für eine Wohnung oder ein kleines
Haus von 2 000 Litern würde sich eine Ersparnis von
80 DM ergeben, wenn wir die Erhöhung um 4 Pfennig
zurücknehmen würden. Wir aber geben den Leuten wesentlich mehr.
({10})
Wir geben ihnen 5 DM Zuschuss pro Quadratmeter. Für
Studenten und Sozialhilfeempfänger macht dies im
Durchschnitt 300 DM aus.
({11})
Auch den Menschen, die weder Wohngeld noch Sozialhilfe empfangen - dazu gehört die Rentnerin, die Sie eben
erwähnt haben -, geben wir einen Zuschuss.
({12})
- Nein, das ist nicht richtig. Sie wissen selber, dass die
Ökosteuer keinen Einfluss auf die Entscheidungsprozesse
der OPEC hat.
({13})
- Wie meine Kollegin gerade sagt: 80 DM sind weniger
als 300 DM.
Der durchschnittliche Heizkostenzuschuss, den die Sozialhilfeempfänger bekommen, beträgt 300 DM.
({14})
Die Anzahl der Haushalte von Sozialhilfeempfängern beträgt 1,5 Millionen. Sie bekommen, wie gesagt, im Durchschnitt 300 DM Heizkostenzuschuss.Da dieser auf die Sozialhilfe angerechnet wird, kommt er nicht den
Sozialhilfeempfängern direkt - sie zahlen die Miete und
die Heizkosten ja nicht -, sondern den Kommunen zugute. Das heißt, die Kommunen werden durch unseren
Bundeszuschuss um 450 Millionen DM entlastet.
({15})
- Nein, sie müssen uns nicht auf Knien danken. Denn wir
tun hier unsere Arbeit. Wir tun sie, so gut wir können.
({16})
Es wäre schön, wenn Sie uns gerade bei diesem Vorhaben
unterstützen würden. Ich denke, das würde auch Ihrer Klientel und Ihren Wählern gut tun.
({17})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Einführung einer Entfernungspauschale und zur Zahlung eines einmaligen Heizkostenzuschusses, Drucksache
14/4435. Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache
14/4631, den Gesetzentwurf in den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Entfernungspauschale in der
Fassung der Anlage 1 der Beschlussempfehlung und in
den Entwurf eines Gesetzes zur Gewährung eines einmaligen Heizkostenzuschusses in der Fassung der Anlage 2
aufzuspalten und diese beiden Gesetzentwürfe anzunehmen.
Wir stimmen zunächst über den Gesetzentwurf zur
Einführung einer Entfernungspauschale in der Ausschussfassung, Drucksache 14/4631, Anlage 1, ab. Ich bitte diejenigen, die diesem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen
von CDU/CSU und F.D.P. ist der Gesetzentwurf damit in
zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. ({0})
Gegenprobe! ({1})
Enthaltungen? - Keine. Der Gesetzentwurf ist gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf zur Ge-
währung eines einmaligen Heizkostenzuschusses in der
Ausschussfassung, Drucksache 14/4631, Anlage 2, ab.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen
von CDU/CSU und F.D.P. ist der Gesetzentwurf in zwei-
ter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen
von CDU/CSU und F.D.P. ist der Gesetzentwurf damit an-
genommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache
14/4650. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? -
Gegenprobe! - Mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU,
Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. ist der Ent-
schließungsantrag abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und b auf:
9 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge und zur Änderung und Aufhebung arbeitsrechtlicher Bestimmungen
- Drucksache 14/4374 ({2})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Karl-Josef Laumann, Dr. Maria Böhmer,
Rainer Eppelmann, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Fortbestand befristeter Arbeitsverhältnisse
- Drucksache 14/3292 ({3})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Irmgard
Schwaetzer, Rainer Funke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Intensivierung der Beschäftigungsförderung
- Drucksache 14/4103 ({4})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({5})
- Drucksache 14/4625 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Franz Thönnes
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Maria
Böhmer, Horst Seehofer, Peter Rauen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Teilzeitbeschäftigung wirtschaftsverträglich
und familiengerecht fördern
- Drucksache 14/4526 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({6})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
({7})
- Sie können alle hier bleiben. Das ist ein interessantes
Thema. Das gilt vor allen Dingen für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion. Ich erinnere mich an manchen
Kampf um dieses Thema.
({8})
- So tragen wir unsere Geschichte mit uns, Herr Kollege.
({9})
Nun eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat für die
SPD-Fraktion der Kollege Olaf Scholz.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Heute ist, glaube ich, ein für die Geschichte
der Bundesrepublik ganz bedeutsamer Tag.
({0})
Wir befinden uns nämlich in einem Prozess des Aufholens.
({1})
Wir holen bei europäischen Entwicklungen auf, die die
Bundesrepublik Deutschland über viele Jahre verschlafen
hat und wo es notwendig war, dass wir endlich auf den
Stand der Zeit kommen.
({2})
In unserem Land haben wir in den letzten Jahren über
Vorbilder diskutiert, die wir nachmachen und deren Erfahrungen wir kopieren sollen. Eines dieser Länder, das
immer wieder vorbildhaft erwähnt worden ist, sind die
Niederlande. In den Niederlanden gibt es eine sehr moderne Arbeitsmarktpolitik. In den Niederlanden gibt es
viele Dinge, die zu einer hohen Beschäftigungsquote geführt haben.
({3})
Ein wichtiger Punkt ist die Teilzeitarbeit. Teilzeitarbeit
ist in den Niederlanden viel mehr ausgeprägt als in unserem Staate. Wie haben die Niederlande das gemacht? Sie
haben im Juli dieses Jahres ein Gesetz verabschiedet, das
die Teilzeitarbeit für die Beschäftigten mit einem Rechtsanspruch versieht. Wenn wir uns ansehen, was im November dieses Jahres im Deutschen Bundestag beschlossen wird, dann stellen wir fest, dass ein Rechtsanspruch
auf Teilzeitarbeit in der Bundesrepublik Deutschland beschlossen wird.
({4})
Innerhalb von zwei Jahren ist es uns gelungen, einen
16-jährigen Stillstand zu beenden und mit den fortgeschrittensten Ländern Europas im Bereich der Arbeitszeit
und der Arbeitsmarktpolitik gleichzuziehen.
({5})
Dabei muss man zugeben, dass die Niederländer natürlich
nicht erst seit Juli einen solchen Rechtsanspruch haben;
sie haben ihn durch Richterrecht schon früher gehabt.
Aber nun gibt es auch ein Gesetz dieser Art. Hier wird immer so provinziell diskutiert. Wir haben uns nun ein Vorbild genommen. Viele der gesetzlichen Bestimmungen,
die Sie im Gesetzentwurf finden, stammen aus den Niederlanden und sind, außer dass man sie in die deutsche
Rechtssprache übersetzt hat, identisch.
Insgesamt haben wir, so denke ich, einen Gesetzentwurf vorliegen, der sich auf zweierlei Weise mit dem
Thema Flexibilität beschäftigt: Flexibilität, die für den
Arbeitsmarkt wichtig ist, die keine einseitige Angelegenheit ist, muss, wenn sie für das arbeitsrechtliche Geschehen und für die Wirklichkeit in den Unternehmen und in
den Betrieben bedeutsam werden soll, für beide Seiten,
also sowohl für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
als auch für die Arbeitgeber, gleichermaßen gelten. Der
eine Teil des Gesetzentwurfes beschäftigt sich mit Flexibilität aus Sicht der Arbeitnehmer. Das ist der Rechtsanspruch auf Teilzeit, den wir hier festschreiben. Der zweite
Teil des Gesetzentwurfes beschäftigt sich mit Interessen
hinsichtlich der Flexibilität, die sich aus Sicht der Arbeitgeber ergeben. Das ist das, was zur befristeten Beschäftigung geregelt wird. Ich glaube, dass das deshalb ein sinnvoll kombiniertes Gesetz ist, weil es diese beiden Aspekte
beschreibt und sinnvolle, lebenspraktische Regelungen
für die Wirklichkeit in den Unternehmen aufzeigt.
Nun will ich etwas zu den verschiedenen Einwendungen sagen, die gegen den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit vorgebracht worden sind. Ich spreche vor allem der
größten Oppositionsfraktion, der CDU/CSU, ein Lob aus.
Sie hat den heute nicht zur Beratung anstehenden Gesetzentwurf „Teilzeitbeschäftigung - wirtschaftsverträglich
und familiengerecht fördern“ vorgelegt. Wenn man sich
ihn ansieht, dann stellt man fest, dass dort nicht unser Weg
gegangen wird. Es wird darin aber festgestellt, dass es einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit geben muss. Wir loben Sie dafür, dass Sie unsere Argumentation unterstützen. Einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit soll es
geben. Er ist dort verankert.
Was aber unterscheidet Sie von uns? - Sie sagen, diesen Rechtsanspruch soll es nicht für jede Frau und jeden
Mann geben; Sie sagen, es sollen vielmehr nur bestimmte
Bevölkerungsgruppen in bestimmten Fällen die Möglichkeit haben, diesen Rechtsanspruch durchzusetzen. Das ist
nach all den Erfahrungen, die wir auf dem Arbeitsmarkt
gemacht haben, eine schlechte Lösung. Wenn wir bestimmte Bevölkerungsgruppen mit dem Vorteil versehen,
dass für sie besondere arbeitsrechtliche Bedingungen gelten, so birgt das immer auch die Gefahr in sich, dass
sie bei der Einstellung deswegen nicht berücksichtigt
Vizepräsidentin Anke Fuchs
werden. Darum wäre Ihr Gesetzentwurf in der praktischen
Wirkung, wenn man ihn beschließen würde, ein Gesetzentwurf zur Frauendiskriminierung; denn nur sehr fortschrittliche Unternehmer würden sich davon nicht abschrecken lassen.
({6})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?
({0})
Ja.
Bitte sehr, Herr Kolb.
Es muss etwas Wichtiges gefragt werden. - Herr Kollege Scholz, Sie sind ja
nicht wirklich so naiv, das zu glauben, was Sie gerade gesagt haben. Wie stehen Sie dazu, dass im „Spiegel“ - Heft
45/2000 - zu lesen ist:
Im Ergebnis wird dies
- ihr Gesetz dazu führen, dass die Unternehmen künftig schon bei
der Einstellung solche Bewerber aussondern, die
später häufig eine Teilzeitstelle wünschen - wie etwa
Frauen mit Kindern.
Ist nicht bei Ihrem Gesetz die Wirkung genau die gleiche
wie bei dem der CDU/CSU?
Ich glaube, dass auch „Spiegel“Redakteure manchmal nicht jeden Satz überdenken, den
sie schreiben. Dieser Satz jedenfalls ist nicht zu Ende gedacht. Es kann und wird nicht so sein, dass man jemandem ansieht, dass er eventuell einen Anspruch auf Teilzeitarbeit geltend machen wird - es sei denn, man
unterstellte, dass bestimmte Gruppen von Menschen dies
tun. Wir aber wollen erreichen, dass alle Menschen von
diesem Recht Gebrauch machen.
({0})
Ich möchte auch noch Folgendes ergänzend sagen: Wir
haben ja den Rechtsanspruch bereits im Zusammenhang
mit dem Erziehungsurlaub geregelt. Das ist eine wichtige
Vorerfahrung. Doch es geht natürlich nicht nur um die Periode, die dort geregelt ist, sondern um das ganze Leben.
Wir werden auch erreichen müssen, dass fortschrittliche,
moderne Familien die Möglichkeit haben, ihr Arbeitsleben und ihr Berufsleben miteinander in Einklang zu bringen.
Ich glaube, viele Unternehmen werden uns in ein paar
Jahren dafür loben, dass wir diesen Schritt hier gegangen
sind.
({1})
Denn was soll geschehen? Wenn man zum Beispiel als
Führungskräfte im Unternehmen auf Menschen zurückgreift, die mit anderen Menschen verheiratet sind oder zusammenleben, die ebenfalls als Führungskräfte infrage
kommen, dann gibt es zwei, die ihre Interessen haben, was
das private Zusammenleben und die berufliche Entwicklung betrifft. Das miteinander in Einklang zu bringen,
neue Aushandlungsprozesse möglich zu machen, das alles geschieht mit diesem Gesetz. Darum glaube ich, dass
wir eine gute Regelung zustande gebracht haben.
Alle Arbeitgeberinteressen in diesem Zusammenhang
sind berücksichtigt. Wenn es betriebliche Gründe gibt, die
einer solchen Regelung entgegenstehen, dann kann das
eben nicht realisiert werden. Mehr muss man und braucht
man nicht zu regeln. Das ist meines Erachtens sehr sinnvoll geschehen.
({2})
- Es wird nicht eine Vielzahl von Prozessen geben, wie
Sie immer sagen. Sie sind viel zu misstrauisch, was die
Kultur und die Rechtskultur in unserem Lande betrifft.
Gesetze werden in unserem Lande - das ist ein Vorzug unserer Kultur - meistens befolgt. Nur ein ganz kleiner Teil
von Streitigkeiten - als Anwalt habe ich eine Zeit lang davon gelebt ({3})
wird vor Gericht ausgetragen. Die meisten Menschen halten sich einfach an die Gesetze.
({4})
Insofern wird dieses Gesetz auch meinungsbildend wirken.
({5})
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?
Ja.
Danach bitte ich, von
Zwischenfragen abzusehen. Dann machen wir in unserer
Debatte weiter. - Herr Hinsken, bitte sehr.
Herr Kollege Scholz,
Sie erwecken hier den Eindruck, als wenn Sie von dem
Geschehen in den Betrieben viel verstehen würden. Ich
möchte Sie einmal konkret fragen, wie das bei einem Betrieb ist, der bereit ist, den einen oder anderen Arbeitnehmer auf dessen Wunsch hin auf Teilzeit zu setzen und der
dann plötzlich feststellt, dass die Aufträge mehr werden
und er wieder Vollzeitbeschäftigte benötigt. Kann er dann
den Arbeitsplatz wieder umwandeln, ihn länger beschäftigen, um der Auftragslage gerecht zu werden, oder nicht?
Nein, er kann das nicht. Wir leben
nämlich in einem Land, das es durch sein Grundgesetz
verbietet, jemanden zu einer Arbeit zu zwingen, zu der er
sich vertraglich nicht verpflichten möchte.
({0})
Aber es gibt die Möglichkeit: mit den Beschäftigen darüber zu reden, ob sie ihre Arbeitszeit wieder ausweiten
möchten, zu sehen, ob unter den anderen Teilzeitbeschäftigen jemand ist, der das möchte, oder jemanden neu einzustellen. Es gibt also genügend flexible Reaktionsmöglichkeiten. Da muss das Gesetz keine Zwangsregelung zur
Mehrarbeit beinhalten, wie Sie das offenbar vorschlagen.
({1})
Ich glaube auch - vielleicht sollte ich das noch ergänzend zu Ihrer Frage sagen -, dass man nicht unterstellen
sollte, Arbeitgeber kämen mit ihren Arbeitnehmern nur
klar, wenn sie sie zwingen können. Die meisten Arbeitgeber, die ich kenne, sind solche, die das auch ohne Zwang
hinbekommen. Ich glaube, auch das gehört zu unserem
Lande.
({2})
Der zweite Teil des Gesetzes beschäftigt sich mit der
Befristung. Hier ist etwas geregelt, was 1985 seinen ersten Niederschlag in der Gesetzgebung gefunden hat, und
ich will gerne zugeben, dass wir uns damals sehr gefürchtet haben.
({3})
Wir haben uns gefürchtet, weil wir annehmen mussten,
die Etablierung einer sachgrundlosen Befristung in unserem Arbeitsrecht könne dazu führen, dass immer mehr Arbeitsverträge nur als befristete Verträge ausgestaltet werden. Wenn man das alles betrachtet, muss man im
Nachhinein sagen, dass das nicht eingetreten ist. Die Zahl
der befristeten Arbeitsverträge hat trotz des Beschäftigungsförderungsgesetzes und aller seiner Regelungen
nicht zugenommen. Das hat uns ermutigt, den vielfältigen
Wünschen nachzukommen und zu sagen: Wir wollen das
Beschäftigungsförderungsgesetz in dem Teil der Möglichkeit einer sachgrundlosen Befristung verlängern, weil
wir sagen: Es hat diese schlechten Wirkungen nicht gehabt und es ist ein unbürokratisches Flexibilitätsinstrument für Arbeitgeber gewesen. Schließlich hat das manchen Beschäftigtengruppen überhaupt erst den Eintritt in
das Berufsleben ermöglicht.
({4})
Wir werden dieses Gesetz, das auch Sie immer zur Erprobung verlängert haben, jetzt endgültig beschließen und
werden den Missbrauch, der sich mit diesen Regelungen
verbunden hat, endgültig und wirksam unterbinden. Es ist
eine gute Reaktion auf all die Erfahrungen, die man seit
1985 machen konnte, dass die langen Befristungsketten,
die einige wenige Arbeitgeber unter dem Deckmantel des
Beschäftigungsförderungsgesetzes realisiert haben,
endgültig durchbrochen werden. Manche haben es nämlich tatsächlich so gemacht, dass sie Beschäftigte zwei
Jahre mit einer sachgrundlosen Befristung beschäftigt haben, sie dann fünf Monate als Urlaubsvertretung eingesetzt haben, was eine sachlich begründete Befristung ist,
dann für zwei Jahre wieder zu einer sachgrundlosen Befristung übergegangen sind, dann sie als Schwangerschaftsvertretung eingesetzt haben, danach sie wieder mit
einer sachgrundlosen Befristung beschäftigt haben usw.
Weil alle diese Missbrauchsmöglichkeiten natürlich
nicht zugelassen werden sollen, haben wir jetzt einen Weg
gefunden, dies in dem Gesetz zu unterbinden, indem man
nur bei einer Neueinstellung die Möglichkeit hat, eine solche sachgrundlose Befristung zu wählen. Ansonsten ist
man auf das angewiesen, was seit Anfang der 50er-Jahre
in unserem Arbeitswesen immer möglich gewesen ist,
nämlich Menschen befristet zu beschäftigen.
({5})
Ich habe mit Millionengehältern im Jahr bezahlte Unternehmensvorstände gesehen, die sich beklagt haben, es
sei nach dem neuen Gesetzentwurf nicht mehr möglich,
jedes Jahr im Dezember zu Weihnachten immer dieselben
Verkäuferinnen, die damit einverstanden waren, befristet
zu beschäftigen. - So ein Quatsch! Da geht natürlich immer noch. Das ging bis 1985. Aber einige haben zwischenzeitlich vergessen, dass es unser Recht schon immer
zuließ, eine befristete Beschäftigung mit einem sachlichen Grund zu rechtfertigen. Deshalb ist diese Behinderung, die einige in dem neuen Gesetz vermuten, gar nicht
gegeben. Es wäre hilfreich, wenn sich die Leute noch einmal anschauten, was in unserem Gesetz wirklich steht.
({6})
Ich glaube, dass wir im Übrigen auch sehr viel Servicearbeit für die Bürgerinnen und Bürger geleistet haben.
Es kommt bei der Gesetzgebung auch darauf an, dass man
den Menschen, die kein Jurastudium hinter sich gebracht
haben, die Möglichkeit gibt, mit den Gesetzen umzugehen. Die meterdicke Rechtsprechung zur befristeten Beschäftigung durch das Bundesarbeitsgericht kann man
nicht jemandem empfehlen, der sich fragt: Soll ich dort
nun arbeiten oder nicht bzw. soll ich ihn nun einstellen
oder nicht?
({7})
Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes über die
Möglichkeiten einer sachlich begründeten Befristung sind
ins Gesetz geschrieben worden. Das ist eine Hilfe, weil
man nur noch in dieses Gesetz schauen muss.
Auch sind die an vielen Stellen durcheinander geratenen Vorschriften darüber, was bei einem Streitfall passiert
und welche Formvorschriften dabei einzuhalten sind, im
Gesetz geordnet. Ich glaube, auch das ist eine sinnvolle
Ergänzung, die unser Arbeitsrecht dringend benötigt hat.
({8})
Ich komme zu dem zurück, was ich eingangs versucht
habe darzustellen: Die Bundesrepublik Deutschland hat
hinsichtlich eines modernen Arbeitsrechts einen deutlichen Rückstand in Europa. Wir liegen hinter anderen Ländern zurück, die wir - das kann man in den Sonntagsreden aller Parteien hören - immer bewundern. Jetzt ist eine
Regierung angetreten, die gesagt hat: Wir wollen den europäischen Standard erreichen. Wir haben uns bei der
Frage der modernen Arbeitszeitregelung an das niederländische Vorbild mit dem Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit angekoppelt. Wir haben eine die Arbeitnehmer
schützende und die Unternehmen mit ausreichender
Flexibilität versehende Regelung für die befristete Beschäftigung gefunden.
Wundern Sie sich nicht - Sie werden damit noch öfter
konfrontiert werden -, dass wir auf dem Niveau Europas
angekommen sind. Bedauern Sie nicht, dass wir nicht
weiter mit Ihnen zurückbleiben wollen. Das ist nicht unsere Absicht.
Schönen Dank.
({9})
Ich erteile der Kollegin Brigitte Baumeister, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr
Kollege Scholz, wenn ich die fünf Weisen von gestern
richtig im Ohr habe, dann glaube ich, dass diese an Ihrem
Entwurf wenig Freude haben werden. Das große Erwachen wird mit Sicherheit noch kommen.
({0})
Wer gehofft hatte, in dem Gesetzentwurf weniger statt
mehr Regulierungen zum Arbeitsmarkt vorzufinden, der
sieht sich enttäuscht; denn wir haben wesentlich mehr Regulierungen. Das ist der Grund, weshalb die CDU/CSUFraktion diesen Entwurf der Bundesregierung ablehnt.
({1})
Richtig ist: Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge sind ein wesentlicher Beitrag zur Verbesserung der
Beschäftigungssituation. Über 6 Millionen Arbeitnehmer
sind teilzeitbeschäftigt und rund 2,8 Millionen Arbeitnehmer haben ein befristetes Arbeitsverhältnis. Auch wir
sprechen uns für eine Erweiterung der Teilzeitarbeit aus.
Nur - das haben Sie zu Recht bemerkt und wir bedanken
uns recht herzlich für Ihr Lob -, wir wollen das mit einer
verbesserten Vereinbarkeit von Beruf und Familie verknüpfen.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung will die Beschäftigung fördern, und dies besonders bei Frauen.
({2})
Vollzeitbeschäftigte und Teilzeitbeschäftigte sollen künftig gleichgestellt werden. So soll eine unterschiedliche
Bezahlung bei gleicher Tätigkeit ausgeschlossen sein.
Auch die Möglichkeit der Aus- und Weiterbildung soll gegeben sein.
Das Wichtigste ist der einklagbare Rechtsanspruch.
Ihn lehnen wir ab. Arbeitnehmer, die länger als sechs Monate zum Betrieb gehören, sollen künftig einen rechtlichen Anspruch auf die Verringerung ihrer vertraglichen
Arbeitszeit haben. Dabei soll es ausreichen, wenn die Mitarbeiter ihrem Arbeitgeber die Absicht drei Monate im
Voraus kundtun. Dies kann nur abgelehnt werden, wenn
dem betriebliche Gründe entgegenstehen. Dazu gehören
zum Beispiel Organisationsfragen, Planungssicherheit im
Betrieb und unverhältnismäßig hohe Kosten. Ein Veto
kann das Unternehmen zudem einlegen, wenn partout
kein passender Ersatz gefunden wird, wobei die Beweislast freilich beim Arbeitgeber liegt. Ich denke, da werden
schöne Verhältnisse auf uns zukommen.
Ansonsten sind die Tarifpartner gefordert; denn sie sollen nach den Vorstellungen der Bundesregierung die Ausschlussgründe im Detail festlegen. Ich kann mir heute
schon lebhaft vorstellen, zu welchen Diskussionen dies in
den einzelnen Betrieben führen wird.
Freie Stellen müssen innerbetrieblich oder öffentlich
auch als Teilzeitarbeitsplätze ausgeschrieben werden.
Teilzeitbeschäftigte, die auf eine freie Vollzeitstelle wechseln wollen, sind bevorzugt zu behandeln. - So der Gesetzentwurf.
Nun freue ich mich natürlich, dass Sie einen Änderungsantrag eingebracht haben, der zumindest diese Widrigkeit in gewisser Weise abmildert.
Kritik an dem Gesetzentwurf kommt von uns, weil die
Unternehmen belastet werden und weil Ihr Gesetzentwurf
- das ist eben nicht richtig, da Sie das Gegenteil gesagt haben - weit über die EU-Richtlinien hinausgeht, verehrter
Herr Kollege Scholz.
({3})
Das Gesetz, von dem sich die Bundesregierung einen
weiteren Teilzeitschub verspricht, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Bremse für Produktion und Beschäftigung. Denn der Gesetzentwurf trifft die Unternehmen an
drei - so meine ich - ganz empfindlichen Stellen. Das
Erste ist der Produktionsablauf; ich denke hier nur an
Schichtarbeit. Das Zweite ist der Personaleinsatz; nicht
jeder Mitarbeiter ist ohne weiteres ersetzbar.
({4})
Zum Dritten denke ich, die Firmen werden bei der
Kapazitätsplanung vermehrt dazu übergehen, dass sie
Überstunden anordnen und keine neuen Arbeitnehmer
einstellen. So wird Ihr Gesetz ganz klar unterlaufen.
Die Expertenanhörung hat ergeben, dass der uneingeschränkte Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit das gravierende Problem schlechthin ist. Der Rechtsanspruch bereits nach sechs Monaten - in den Niederlanden erst nach
12 Monaten - vorzusehen bedeutet einen Eingriff in die
Vertragsfreiheit und in die unternehmerische Entscheidungshoheit.
({5})
Es gibt einen Reduzierungsanspruch bereits nach Ablauf
der Probezeit, wobei weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer wissen, ob sich der Arbeitnehmer tatsächlich nach
Ende der Probezeit voll in den Produktionsprozess integrieren kann. Auch ist nicht akzeptabel, dass der Verringerungsanspruch völlig unbegrenzt ist. Er liegt - von
0 Prozent bis 99 Prozent - völlig frei im Belieben des Arbeitnehmers.
({6})
Einer der wesentlichen Kritikpunkte der Sachverständigen ist, dass der Teilzeitarbeitnehmer de facto besser gestellt wird. Hier möchte ich noch einmal auf das Beispiel
der Niederlande zu sprechen kommen, das Sie angesprochen haben, Herr Kollege Scholz. Ich glaube nicht, dass
man das vergleichen kann; denn das ist ein Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen. Denn Sie wissen erstens, dass
die Tradition in den Niederlanden eine völlig andere ist,
und zweitens gibt es dort eine Grundrente. Daraus begründet sich auch dieses völlig veränderte Verhalten.
Ein weiterer wesentlicher Kritikpunkt ist, dass eine
Vielzahl arbeitsrechtlicher Verpflichtungen und mitbestimmungsrechtlicher Regelungen von der Zahl der im
Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer abhängt.
Dazu zählen bekanntlich auch Teilzeitkräfte. Die Arbeitnehmer haben es in bestimmten Konstellationen selbst in
der Hand, die Betriebsgröße zu bestimmen und dem Arbeitgeber damit andere arbeitsrechtliche Rahmenbedingungen aufzuzwingen.
({7})
Dies betrifft zum einen die Zahl der freigestellten Betriebsratsmitglieder und zum anderen die Schwellenwerte
nach den verschiedenen Mitbestimmungsgesetzen.
Die Folge ist, dass arbeitsrechtliche Regelungen ihre
verfassungsrechtliche Legitimation verlieren. Dies könnte
man auch unter dem Stichwort Manipulation einordnen.
({8})
Eine Verpflichtung des Arbeitgebers, jede Stelle bei der
Ausschreibung auf ihe Eignung als Teilzeitbeschäftigung
hin überprüfen zu müssen, ist zum Glück nicht mehr vorgesehen. Trotzdem bedeutet dieser Gesetzentwurf nach
meiner Auffassung für den Arbeitgeber einen Verlust der
Organisationshoheit und eine zusätzliche bürokratische
Maßnahme.
Zudem beschäftigt mich die Frage, wer über die Möglichkeit einer Teilzeitarbeit entscheidet, wenn mehrere Arbeitnehmer Teilzeit arbeiten wollen. Wer legt die Kriterien fest, gibt es eine Sozialauswahl und - wenn ja - wie
funktioniert diese? Nach meiner Erfahrung funktioniert
Teilzeitarbeit nur, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer
eine einvernehmliche Klärung herbeiführen; weil der Arbeitgeber auf den Arbeitnehmer nicht verzichten will,
wird er versuchen, zu einer einvernehmlichen Lösung zu
kommen. Wir setzen auf Freiwilligkeit und auf flexible
Vereinbarungen. Wir wollen - das haben Sie richtig erkannt - mehr Teilzeitarbeit zur Betreuung von Kindern,
für Beschäftigte, die schwer pflegebedürftige Angehörige
betreuen, sowie für Arbeitnehmer mit Erwerbsminderung.
({9})
Ich möchte nun noch kurz auf die befristeten Arbeitsverhältnisse eingehen: Diese sind - wenn ich mich recht
erinnere - 1985 zur Flexibilisierung der Arbeitswelt und
zur Abdeckung saisonaler Arbeitsspitzen ermöglicht worden. Dies hat auch die Bundesregierung erkannt und deshalb steht sie - im Gegensatz zu den Gewerkschaften - zu
der gesetzlichen Regelung. Allerdings wollen Sie von der
Koalition die Möglichkeit befristeter Arbeitsverhältnisse
einschränken und haben in diesem Zusammenhang, Herr
Kollege Scholz, von einem Missbrauch gesprochen. Einen solchen kann ich nicht erkennen. Ich denke, dass es
höchstens in ganz wenigen Bereichen - auch Sie haben
das zum Glück betont - einen Missbrauch gegeben hat.
Dies rechtfertigt es aber nicht, die gesetzlichen Möglichkeiten derart zu beschränken, wie Sie es getan haben.
Kernpunkte Ihres Entwurfs sind die Gleichbehandlung
befristet beschäftigter Arbeitnehmer mit unbefristet Beschäftigten. Es ist klar, dass die Befristung eines Arbeitsvertrages grundsätzlich eines sachlichen Grundes bedarf.
Ohne Vorliegen eines solchen sachlichen Grundes ist eine
Befristung nur bei Neueinstellungen oder dann möglich,
wenn der Arbeitnehmer älter als 58 Jahre ist.
Es gibt eine Informationspflicht des Arbeitgebers sowie die Pflicht, Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu
ermöglichen. Unsere Kritik bezieht sich auf die vermehrte
Reglementierung und zunehmende Bürokratisierung sowie die zu erwartenden Mehrkosten; ich denke dabei, wie
gesagt, an die Informationspflichten, an die Pflicht zur Ermöglichung von Weiterbildungsmaßnahmen sowie die
Pflicht, Personalakten jahrzehntelang aufbewahren zu
müssen.
Eine Untersuchung von Infratest zum Beschäftigungsförderungsgesetz kam zu dem Ergebnis, dass der wesentliche Effekt der Beschäftigungsförderung gerade in einer
erleichterten rechtlichen Handhabung besteht. Der Effekt
des geplanten Gesetzes wird sein, dass die Arbeitgeber
vermehrt auf Überstunden ausweichen.
({10})
Sinn und Zweck des ursprünglichen Gesetzes war es, den
Unternehmern bei einer veränderten Auftragslage und bei
Spitzenlasten mehr Flexibilität zu ermöglichen. Genau
diesen Aspekt berücksichtigt der vorliegende Gesetzentwurf nicht.
Nach der bisherigen Ausgestaltung ergab sich zudem die
Chance, bei zusätzlich eingestellten Mitarbeitern zunächst
zu beobachten, wie sie sich in den Betriebsablauf integrieren, und - ich habe schon mehrfach darauf hingewiesen Arbeitslosen die Möglichkeit einer erneuten Beschäftigung
zu geben. Ich wiederhole mich hier, wenn ich sage, dass ich
in großen Betrieben meines Wahlkreises erfahre, dass durch
die Möglichkeit befristeter Arbeitsverhältnisse durchaus
eine Reihe von unbefristeten Arbeitsverhältnissen entstanden ist.
Die Befürchtung, dass in großem Umfang Befristungen ausgesprochen werden, um Stammpersonal durch befristet beschäftigte Arbeitnehmer zu ersetzen, kann ich
nicht nachvollziehen. Denn der Anteil der befristet Beschäftigten ist seit 1992 kaum gestiegen, auch nicht in
Ostdeutschland.
Dass kaum von einer großflächigen Umwandlung von
unbefristeten Arbeitsverträgen die Rede sein kann, zeigt
auch die Differenzierung nach Altersgruppen. Diese haben zum Großteil Jüngere. Wenn ich darauf hinweise,
dass aus jedem zweiten befristeten Arbeitsvertrag ein
Vollzeitarbeitsvertrag wurde, so spricht dies für sich.
Ich bin auch der Überzeugung - damit komme ich zum
Schluss -, dass die Herabsetzung der Altersgrenze von 60
auf 58 Jahre an der Praxis kaum etwas ändern wird.
({11})
Da hätten Sie sich eigentlich schon etwas Besseres einfallen lassen müssen. Ich plädiere nachhaltig dafür, auf
55 Jahre zu gehen.
Kurzum: Wir lehnen den Gesetzentwurf sowohl hinsichtlich der Teilzeit als auch hinsichtlich der Befristung
ab. Ich denke, dass mit unserem Entschließungsantrag ein
Zeichen dafür gesetzt wird, dass wir etwas für Familien
tun, dass wir etwas für die Pflegebedürftigen tun und dass
wir etwas für diejenigen tun, die Erwerbsminderung erfahren haben. Deshalb bitte ich Sie: Stimmen Sie unserem
Entschließungsantrag zu!
({12})
Das Wort hat nun die
Kollegin Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Gesetz über
Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge war in den
letzten Tagen doch wieder sehr umstritten. Beispielsweise
ist der Sachverständigenrat als Kronzeuge aufgerufen
worden, um am Modernisierungskonzept der Bundesregierung Kratzer zu entdecken. Frau Baumeister, Sie haben
es gerade zitiert. Der Sachverständigenrat setzt Sie mit
dem Vorschlag, den Sie gemacht haben, aber auf die gleiche Schulbank, auf die er uns setzen will.
({0})
Er bescheinigt Ihnen, dass es als Folge Ihres Vorschlages
zur Diskriminierung von Frauen käme. Sie sollten an der
Stelle ganz still sein und nicht den Sachverständigenrat
aufrufen, um für sich Reklame zu machen. Ich sage Ihnen
auch aus unserer Perspektive: Sie brauchen sich nicht zu
grämen. Der Sachverständigenrat war beispielsweise ursprünglich auch gegen die Ökosteuer und hat sie heute als
ein Konzept der Modernisierung erkannt und sogar dazu
aufgefordert, sie einzuführen.
({1})
Der Sachverständigenrat ist lernfähig - und ich hoffe,
auch die Arbeitgeber.
({2})
Die Arbeitgeber haben, denke ich, diese Debatte mit ihrer Kritik sehr überhöht. Wir haben das auch in der Anhörung erfahren. Da wurde beispielsweise vonseiten der
BDA angedroht, diejenigen, die quasi teilzeitverdächtig
sind, zukünftig nicht mehr einzustellen, zu diskriminieren. Das, meine Damen und Herren, erinnert eher an die
20er-Jahre, in denen es schwarze Listen gab, damals allerdings nicht für so genannte Teilzeitverdächtige, sondern für Gewerkschaftsmitglieder. Ich glaube, in der Debatte wird wirklich gnadenlos übertrieben.
({3})
Wir wissen alle, dass flexible Arbeitszeit, dass Zeitsouveränität und auch Teilzeit - sie gehört dazu Merkmale einer modernen Arbeitsgesellschaft und nicht
rückwärts gewandt sind. Der Sachverständigenrat beispielsweise bestätigt, dass sowohl Globalisierung als auch
technischer Fortschritt dazu führen werden, dass die Teilzeitarbeit zunehmend an Bedeutung gewinnt. Wenn wir
die Bundesrepublik Deutschland beispielsweise mit
Holland vergleichen, sehen wir, dass wir wirklich sehr
großen Nachholbedarf haben. Das ist ein Grund für die
Regelung, die wir vorschlagen.
Ich möchte deswegen an einen Sachverständigen erinnern, den wir bei der Anhörung im Ausschuss gehört haben. Das war ein holländischer Vertreter. Er hat darauf
aufmerksam gemacht, dass man sich in Holland fragt ({4})
- in den Niederlanden, Herr Kollege, Sie haben Recht -,
ob Unternehmer wirklich auf der Höhe der Zeit sind,
wenn sie gesetzliche Regelungen zur Teilzeitarbeit ablehnen, ob sie wirklich auf der Höhe der Zeit sind, wenn sie
nicht erkennen, welch ökonomischer Vorteil in der Teilzeitarbeit liegt, auch in der zusätzlichen Motivation, die
bei den Arbeitskräften durch sie ausgelöst wird.
({5})
Ich sage Ihnen: Moderne Arbeitgeber in der Bundesrepublik Deutschland haben das selbst erkannt und finden
schon freiwillige Lösungen.
Wer als Unternehmer in einer modernen Gesellschaft
- zu Recht - Flexibilität von seinen Arbeitskräften fordert,
muss selber flexibel genug sein, um Zeitsouveränität in
den Betrieben möglich zu machen. Wir haben am Beispiel
Holland gesehen, dass es möglich ist. Dort arbeiten immer
mehr Männer teilzeit. Die Beschäftigungseffekte sind positiv.
Eben ist schon darauf hingewiesen worden, dass wir
Änderungen - dieses Recht hat auch die CDU/CSU bei
ihrem Entwurf wahrgenommen - an unserem Gesetzentwurf vorgenommen haben. Selbstverständlich ist das Direktionsrecht der Arbeitgeber bezüglich der Bestimmung
der Arbeitszeit erhalten. Wir haben Klarstellungen und
Vereinfachungen vorgenommen. Dadurch ist das Gesetz
handhabbarer geworden.
Das Gleiche gilt für den Teil des Entwurfs zu den befristeten Arbeitsverträgen. Wir sind - das zeigen die Erfahrungen - in der Bundesrepublik Deutschland schon
aus ökonomischen Gründen auf die Möglichkeit der Befristung von Arbeitsverhältnissen angewiesen, aber
auch deshalb, weil befristete Arbeitsverhältnisse einen
Einstieg für Arbeitslose in den Arbeitsmarkt sein können.
In über 50 Prozent der Fälle wird ein befristetes
Arbeitsverhältnis in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis
umgewandelt. Das ist für die Arbeitslosen eine gute
Brücke, um in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Deswegen
erhalten wir die Möglichkeit der Befristung von Arbeitsverhältnissen. Wir haben allerdings dem Wildwuchs
- Stichwort: Kettenverträge - einen Riegel vorgeschoben.
Darüber hinaus haben wir mit unseren Änderungen Klarstellungen vorgenommen und Regelungen zur Entbürokratisierung eingebracht. Wir haben insbesondere mit der
Regelung der Schriftform für eine Klarstellung gesorgt,
die eine Erleichterung für die Arbeitgeber ist.
Abschließend möchte ich sagen: Wir dürfen es uns
nicht zu einfach machen und behaupten, eine moderne Arbeitsgesellschaft entstehe dann, wenn wir viel und möglichst überall deregulieren. Ich erinnere nur an den Bereich der Frauenerwerbstätigkeit. In der Verfassung ist
schon seit langem die Gleichberechtigung der Frauen verankert. Trotzdem mussten wir mit Frauenförderplänen
Druck machen, weil Frauen ansonsten nicht in die entsprechenden Positionen gekommen wären.
({6})
Ähnliches gilt vermutlich auch bei der Teilzeitarbeit.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der nicht mehr der
vollzeit erwerbstätige Mann dominiert. Dieses Bild
gehört in die Mottenkiste. Wir wollen eine flexible Arbeitsgesellschaft sein.
({7})
Für die F.D.P.-Fraktion hat das Wort der Kollege Dr. Heinrich Kolb.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Mir stehen nur dreieinhalb
Minuten Redezeit zur Verfügung, aber ich habe Stoff für
30 Minuten. Deswegen möchte ich meine Ausführungen
stichwortartig gestalten.
Ich finde, Dauer und Uhrzeit dieser Debatte sind der
Bedeutung des Themas in keiner Weise angemessen, weil
die hier zur Verabschiedung stehenden Gesetze einen
wichtigen Einschnitt in die Praxis der Unternehmen unseres Landes bedeuten.
({0})
Wir haben vorhin 45 Minuten über die Hauptstadtkulturförderung debattiert. Jetzt hält es noch nicht einmal ein
Vertreter der Bundesregierung für notwendig, das Wort zu
ergreifen. Die Regierung geht auf Tauchstation. Das finde
ich unerträglich.
({1})
Vielleicht scheuen Sie eine breitere Öffentlichkeit auch
deshalb, weil Ihr Gesetz eine neue Flut an bürokratischen Vorschriften für die Unternehmen mit sich bringt.
Ich bräuchte mindestens zehn Minuten, um die 15 neuen
Vorschriften aufzuzählen, die regulierend wirken, vom § 7
Abs. 1 bis hin zum § 20. Ich möchte die Unausgewogenheit Ihres Gesetzentwurfes beispielhaft am § 8 Abs. 5,
den Sie geändert haben, deutlich machen. Der Arbeitgeber habe die Pflicht, seine Entscheidung über den Wunsch
des Arbeitnehmers, die Wochenarbeitszeit zu verringern,
diesem spätestens vier Wochen vor dem Beginn der Verringerung schriftlich mitzuteilen. Eine Pflicht seitens des
Arbeitsgebers zur Mitteilung bestehe auch hinsichtlich
der Verteilung der Wochenarbeitszeit.
Der Arbeitnehmer hingegen kann jederzeit, ohne die
Schriftform einzuhalten, seinen Anspruch auf Teilzeitarbeit anmelden. Das heißt, wenn ich als Arbeitgeber demnächst durch meinen Betrieb gehe, muss ich immer mein
Notizbuch für den Fall dabei haben, dass mir ein Arbeitnehmer zuruft: Ab 1. April nächsten Jahres arbeite ich nur
noch 30 Stunden und mittwochs gar nicht. Ich muss dann
daran denken, dass ich als Arbeitgeber dem Arbeitnehmer
spätestens vier Wochen vor dem 1. April meine Entscheidung über seinen Wunsch, die Arbeitszeit zu verringern,
mitteile. Wenn ich das nicht tue, hat der Arbeitnehmer automatisch einen Anspruch auf die von ihm gewünschte
Verringerung der Arbeitszeit. Das halte ich für vollkommen unangemessen.
({2})
- Ganz genau!
Sie gehen weit über das hinaus, was die EU gefordert
hat; denn die EU hat vorgeschlagen, die Teilzeitarbeit auf
freiwilliger Basis zu fördern. Sie haben einen vollkommen anderen Weg eingeschlagen. Deshalb bekommen Sie
von vielen Verbänden Gegenwind, wenn ich etwa an die
Stellungnahme des Bundesverbandes Druck denke, in der
festgestellt wird: Wenn die jetzige Regelung tatsächlich
umgesetzt wird, würden die Folgen eines geltend gemachten Teilzeitanspruchs in 80 Prozent der Betriebe allein durch Mehrarbeit der Mitarbeiter aufgefangen werden, da eine Einstellung zusätzlicher Fachkräfte nicht
realisierbar ist. Es gibt Branchen, in denen der Arbeitskräftemarkt einfach leergefegt ist. Das muss man auch
einmal ganz deutlich sagen.
Wenn Sie nicht auf den „Spiegel“ und nicht auf die Arbeitgeberverbände hören wollen, dann frage ich Sie:
Warum hören Sie nicht wenigstens auf den Sachverständigenrat? Dieser hat Ihnen, das muss man hier sehr deutlich sagen, eine Ohrfeige erteilt, indem er Ihnen Folgendes sehr deutlich ins Stammbuch geschrieben hat - ich
muss das hier zitieren; er hat von der desolaten Lage auf
dem Arbeitsmarkt gesprochen -:
Der von der Bundesregierung geplante gesetzliche
Anspruch auf Teilzeitarbeit sowie auf Rückkehr auf
einen Vollzeitarbeitsplatz ist bedenklich - nicht nur,
dass der Arbeitsvertrag mit einem zusätzlichen Risiko behaftet wird; die Möglichkeit, Wünsche aus betrieblichen Gründen abzulehnen, wird zu arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzungen führen.
Ihr Gesetz ist also ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für
Anwälte und nichts anderes.
({3})
Diese Ohrfeige des Sachverständigenrates spricht für
sich. Zum Schluss meiner Rede - mehr Zeit habe ich leider nicht - möchte ich aus einem Brief meiner ortsansässigen Volksbank zitieren, die geschrieben hat, dass sie
Teilzeitarbeit bisher freiwillig gefördert haben, dass ein
Anteil von 23 Prozent an ihrem gesamten Mitarbeiterbestand auf Teilzeitbeschäftigte entfällt und dass sie damit
weit über dem Durchschnitt liegen.
({4})
Sie schreiben an Bundesminister Riester: „Dies alles
haben wir bisher freiwillig getan und stehen deswegen Ihrer Absicht, eine so genannte Teilzeitgarantie einzuführen, ablehnend gegenüber. Denn sie nimmt uns auch in
diesem Bereich unsere unternehmerische Freiheit.“ Das
ist das ganze Problem Ihres Ansatzes.
({5})
Sie haben immer noch nicht kapiert, dass man Arbeitsplätze nicht mit Gesetzen schaffen kann, sondern dass
letztendlich nur Unternehmen - besser: Unternehmer Arbeitsplätze schaffen,
({6})
und zwar dann, wenn man ihnen die Freiheit dazu lässt
und wenn es sich für sie lohnt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Letzter Redner dieser
Debatte ist der Kollege Dr. Klaus Grehn für die PDSFraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit
ist ein richtiger Ansatz. Er wird von den Gewerkschaften
gefordert und von der PDS seit langem unterstützt. So
weit, so gut. Dem können wir folgen. Das Gleiche gilt für
das Verbot der Diskriminierung von Teilzeitarbeit und
befristeten Arbeitsverhältnissen. Wenn Sie diese Festlegung allerdings anschließend gleich wieder aushöhlen, indem Sie beispielsweise die Formulierung verwenden,
dass sachliche Gründe eine unterschiedliche Behandlung
rechtfertigen, dann ist das wenig wirksam.
({0})
Denn Sie sagen nicht, welche sachlichen Gründe die Ungleichbehandlung rechtfertigen und wer den Inhalt dieser
sachlichen Gründe bestimmt. Sie haben ihn nicht bestimmt.
Deshalb kritisieren wir an diesem Gesetzentwurf, dass
Sie dem Recht auf Teilzeitarbeit kein Recht auf Rückkehr zur Vollzeitarbeit gegenüberstellen. Stattdessen
enthält der Gesetzentwurf die bevorzugte Berücksichtigung des Wunsches. Von einem klaren Rechtsansatz ist
das weit entfernt. Das ist Gummi, das ist Vertrösten auf
den Sankt-Nimmerleins-Tag.
({1})
Ich sage das angesichts der Tatsache, dass viele Frauen
- beispielsweise in besonderen Familiensituationen Teilzeitarbeit in Anspruch nehmen müssen und wollen.
Sie müssen zurückkehren können. Das muss ihnen gewährt werden und darf nicht dem Zufall überlassen werden.
({2})
Eine solche Regelung erschwert die Realisierung des
Wunsches auf Teilzeitarbeit. Das wird dazu führen, dass
sich Ihre großen Erwartungen nicht erfüllen werden.
Statt in § 7 entsprechend den Forderungen der Gewerkschaften Verbesserungen vorzunehmen, wird die
Regelung verwässert. Statt aus „betrieblichen Gründen“
für die Nichtausschreibung freier Arbeitsplätze als Teilzeitarbeitplätze „dringliche Gründe“ zu machen, formulieren Sie: wenn sich der Arbeitsplatz dafür eignet.
Wann eignet er sich denn? Wer bestimmt, wann er sich
eignet?
Aus dem Mitwirkungsrecht der Betriebsräte wird die
Information der Betriebsräte. Das gilt auch für die befristeten Arbeitsverhältnisse. Das höhlt die Stellung der Betriebsräte und die Arbeitnehmerschutzrechte in den Unternehmen aus. Ich frage Sie: Ist das ein Vorgriff auf die
Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes, die Sie ja anstreben?
Lassen Sie mich wenige Bemerkungen zu den befristeten Arbeitsverhältnissen machen. Beide Regelungen
ermöglichen den Tarifpartnern, mittels Tarifvertrag
schlechtere Regelungen auszuhandeln, als das Gesetz
vorsieht. Auch das ist eine unmögliche Abweichung, die
wir nicht mittragen können. Wir kritisieren, dass mit dem
Gesetz und den darin angeführten sachlichen Gründen
Kettenarbeitsverträge nicht vermieden werden; sie werden dadurch erst ermöglicht und sogar provoziert.
Wir stimmen diesen Verschlechterungen nicht zu. Sie
verbreiten mit den befristeten Arbeitsverhältnissen nicht
weniger, sondern mehr Rauch. Sie werden damit keine
Akzeptanz bei den Gewerkschaften finden. Sie wissen
genau so gut wie wir, dass schon lange gefordert wurde,
das Beschäftigungsförderungsgesetz ganz wegzulassen.
Lösen Sie den Entwurf auf, stampfen Sie ihn ein, fangen
Sie noch einmal von vorn an und bringen Sie etwas Vernünftiges auf die Reihe!
({3})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf über Teilzeit-
arbeit und befristete Arbeitsverträge und zur Änderung
und Aufhebung arbeitsrechtlicher Bestimmungen, Druck-
sache 14/4374. Der Ausschuss für Arbeit und Sozialord-
nung empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 14/4625 die Annahme des
Gesetzentwurfs in der Ausschussfassung. Ich bitte dieje-
nigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung gegen die Stimmen von CDU/CSU-,
F.D.P.- und PDS-Fraktion angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit gegen die Stimmen von CDU/CSU-, F.D.P.- und
PDS-Fraktion angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetz-
entwurf der Fraktion der CDU/CSU zum Fortbestand be-
fristeter Arbeitsverhältnisse auf Drucksache 14/3292. Der
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf
Drucksache 14/4625 unter Buchstabe b, den Gesetzent-
wurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Wir stimmen ab über den Gesetzentwurf der Fraktion
der F.D.P. zur Intensivierung der Beschäftigungsförde-
rung auf Drucksache 14/4103. Der Ausschuss für Arbeit
und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 14/4625
unter Buchstabe c, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Ent-
haltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-
ratung gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion abgelehnt.
Damit entfällt auch hier nach unserer Geschäftsordnung
die weitere Beratung.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4526 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich bekomme gerade den Hinweis, dass der Kollege
Ernst Hinsken eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31
der Geschäftsordnung abgibt. Diese wird zu Protokoll ge-
geben.1)
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum Stand der
Bemühungen um Abrüstung, Rüstungskontrolle
und Nichtverbreitung sowie über die Entwicklung
der Streitkräftepotenziale
({0})
- Drucksache 14/3233 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin für die
SPD-Fraktion ist die Kollegin Petra Ernstberger.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Abrüstung hat in unserer
Gesellschaft - das muss man leider so sehen - heute nicht
mehr den Stellenwert, der ihr von ihrer Tragweite her eigentlich zukommen müsste.
({0})
Da die Bedrohung in Europa, insbesondere natürlich in
Mitteleuropa, nach dem Fall des Eisernen Vorhanges nicht
mehr existent ist, sehen viele unserer Mitbürgerinnen und
Mitbürger auch keine unmittelbaren Gefahren für sich
selbst mehr. Dies ist natürlich durchaus erfreulich und ich
beabsichtige nicht, diesen Umstand schlechtzureden. Es
ist trotzdem wichtig, das weite Feld der Abrüstung in das
Gedächtnis und in das Bewusstsein der Menschen zu rufen; denn Bedrohung kann überall und immer entstehen.
({1})
Der Abrüstungsbericht der Bundesregierung ist meiner
Meinung nach ein Beitrag, um dieses Bewusstsein zu
schärfen.
({2})
Der Abrüstungsbericht der Bundesregierung für das
Jahr 1999 ist - wie die Berichte in den vergangenen Jahren - informativ, thematisch breit angelegt und stellt eine
gute Grundlage für die Arbeit im Unterausschuss Abrüstung dar. Wie in den letzten Jahren ist der zeitliche Abstand zwischen der Abfassung des Berichtes und der parlamentarischen Behandlung viel zu groß.
({3})
1) Anlage 2
Er ist leider zu groß, um genau die zeitnahe Arbeit des Unterausschusses für Abrüstung wirklich zu gewährleisten.
Der im April dieses Jahres zugeleitete Bericht stellt die
Entwicklung von Abrüstung, Rüstungskontrolle und
Nichtverbreitung des Jahres 1999 dar. Er bezieht sich also
überwiegend auf Ereignisse, die ein Jahr und länger
zurückliegen.
Der zu große Abstand zwischen der Veröffentlichung
und der Debatte ist in diesem Jahr besonders spürbar geworden, weil in der Zwischenzeit ganz wichtige Veränderungen in zentralen Fragen der Abrüstung stattgefunden
haben, darunter die Ratifizierung von START II durch
das russische Parlament, die Verschiebung der amerikanischen Entscheidung zum Bau einer nationalen Raketenabwehr und das amerikanisch-russische Abkommen über
die Umwandlung eines Teiles ihres Waffenplutoniums in
MOX-Brennelemente. Auch die Rolle, die dabei das
Hanauer Werk zur Herstellung von Brennelementen spielen könnte, musste in dem Bericht unberücksichtigt bleiben. Es wäre deswegen wirklich wünschenswert, wenn
wir uns darauf verständigen könnten, die künftigen
Abrüstungsberichte irgendwann im Mai oder Juni eines
jeden Jahres zu beraten.
Nun zur Thematik des Berichtes selbst. Es hat, wie ich
schon erwähnt habe, im Bereich der Abrüstung im Berichtszeitraum einige positive Entwicklungen gegeben.
START II wurde durch das russische Parlament, die
Duma, ratifiziert. Das ist ein wesentlicher Fortschritt;
denn damit ist der Weg frei, bis zum Jahre 2007 den Bestand strategischer atomarer Gefechtsköpfe von jeweils
6 000 - das ist das bislang geltende START-I-Limit - auf
maximal jeweils 3 500 Gefechtsköpfe zu verringern.
Gleichzeitig - das ist ein wichtiger Schritt - wurde durch
die Ratifizierung die Tür für Verhandlungen über
START III geöffnet. Dieser Vertrag hat das Ziel, die Anzahl der Gefechtsköpfe noch einmal zu senken, und zwar
auf 2 000 bis 2 500. Im Zusammenhang mit der NMD-Debatte haben die USA eine noch weitgehendere Absenkung
in Aussicht gestellt.
Positives hat auch im Bereich der Abrüstung konventioneller Waffen stattgefunden. Der alte KSE-Vertrag
vom November 1990, der noch von zwei einander gegenüberstehenden Militärblöcken ausging, wurde an die
heutigen außenpolitischen Gegebenheiten in Europa angepasst und durch einen entsprechenden Änderungsvertrag ersetzt. Die Unterzeichnung dieses Änderungsvertrages fand am Rande des OSZE-Gipfels in Istanbul am
19. November 1999 statt. Allerdings wurde dieser Änderungsvertrag nie ratifiziert. Er ist damit eigentlich überhaupt nicht in Kraft, weswegen noch immer der alte Vertrag gilt.
Der Grund dafür liegt im Tschetschenien-Krieg Russlands. Tschetschenien gehört nämlich zu der so genannten
Flankenregion, für die es im alten wie im neuen Vertrag
besondere Obergrenzen für schwere konventionelle Waffen gibt.
Russland hat diese Grenzwerte vor allem in der Kategorie „gepanzerte Kampffahrzeuge“ erheblich überschritten. Sollte dies so bleiben, wäre der KSE-Vertrag insgesamt und damit ein Grundpfeiler der Sicherheit in Europa
gefährdet. Die Bundesregierung ist deswegen aufgefordert, gegenüber Russland weiterhin darauf zu bestehen,
seine Abrüstungsverpflichtungen wirklich einzuhalten.
({4})
Die Entsorgung von waffentauglichem Uran und
Plutonium, das durch die Abrüstung atomarer Gefechtsköpfe frei geworden ist, ist Gegenstand intensiver Verhandlungen insbesondere zwischen den USA und Russland geworden. Auch das ist ein positiver Schritt, den wir
unterstützen sollten. Wäre die Beantwortung dieser Frage
weiter hinausgezögert worden, wäre die atomare Abrüstung zu einem immer größeren Risiko geworden, weil
nämlich immer mehr Spaltmaterial aus den abgerüsteten
Atomwaffen hinzugekommen wäre, für die es bislang
keine langfristig sicheren Lagerungsmöglichkeiten gibt.
Bei den jetzt intensivierten Verhandlungen über eine
sichere Entsorgung ging es aber auch darum, das Uran
und Plutonium so zu verändern, dass es für einen erneuten Einsatz in Waffen unbrauchbar wird.
({5})
Unbrauchbar bedeutet, liebe Kolleginnen und Kollegen,
wiederum eine entscheidende Gefahrenverminderung.
Aus rüstungskontrollpolitischen Gründen sind Entsorgungspläne grundsätzlich zu begrüßen, und zwar unabhängig davon, welche der vorgeschlagenen technischen
Lösungen wir vorziehen würden.
Negative und stagnierende Entwicklungen in der Rüstungskontrolle hat es natürlich auch gegeben. Sie waren
und sie sind weiterhin Gegenstand von Diskussionen im
Plenum, im Auswärtigen Ausschuss und im Unterausschuss Abrüstung, die sich vor allen Dingen auf die indischen und pakistanischen Atomwaffentests, auf das
Scheitern der Ratifizierung des Vertrages über einen umfassenden Teststopp von Atomwaffen in den USA und auf
die Blockade der Genfer Abrüstungskonferenz bezogen.
Ich möchte hier noch eine andere Sorge thematisieren.
Es geht um das sinkende Vertrauen in völkerrechtliche
Vereinbarungen, wodurch die Rüstungskontrolle und das
Abrüstungsregime mitten ins Herz getroffen werden. Die
Frage, was wir tun, wenn internationale Rüstungskontrollabsprachen gebrochen werden, hat doch in den
zurückliegenden Monaten die Diskussion mehr bestimmt,
als es der Abrüstung gut tat. Sie hat nämlich gerade den
Verfechtern unilateraler Aufrüstung und unilateraler Sicherheitsvorsorge Auftrieb gegeben. Die frühere Weigerung Nordkoreas, sich an die Regeln des Nichtverbreitungsvertrages zu halten, hat diesen Trend ebenso
beschleunigt wie das Verhalten Iraks und der Nachfolgestaaten des früheren Jugoslawiens.
Auf dem Balkan wurden die zahlreichen Vereinbarungen zu Waffenstillständen immer wieder verletzt. Dies hat
zu der Wahrnehmung geführt, dass das Instrument von
rechtlich bindenden Vereinbarungen über Sicherheitsfragen unwirksamer geworden ist. Die immer schon
Miss-trauischen haben dadurch Bestätigung erfahren und
ihre Forderung nach mehr Flexibilität für militärische
Sicherheitsvorsorge leichter legitimieren können. Nur ist
es ein Irrglaube, anzunehmen, damit Friedenssicherung
betreiben zu können.
Abrüstung und Rüstungskontrolle bedeuten immer
auch Einschränkung militärischer Reaktionsmöglichkeiten.
({6})
Wir Abrüster sind davon überzeugt, dass diese Einschränkungen - wenn sie überprüfbar eingehalten werden - zu
mehr Stabilität im zwischenstaatlichen Verhalten führen.
Die amerikanischen Bemühungen um ein Raketenabwehrsystem, das notfalls auch unter Bruch des ABM-Vertrages realisiert werden soll, lösten schon deswegen so
viel Besorgnis aus, weil sie als Schlag gegen die Grundphilosophie der Rüstungskontrolle und der auf sie gestützten Sicherheit wahrgenommen wurden.
({7})
Sicherheit als Ergebnis von völkerrechtlich verbindlichen
Vereinbarungen, also auch als ein Ergebnis von Zusammenarbeit und Dialog, dieses seit den 60er-Jahren, also
schon seit 40 Jahren erfolgreich praktizierte Konzept steht
im Widerspruch zu der Überzeugung, alle verfügbaren
Verteidigungsoptionen ohne Mitsprache anderer Staaten
zu realisieren.
({8})
In diesem Zusammenhang ist auch der „Vertrag über
den Offenen Himmel“, „Open Skies“, zu sehen, der eine
vertrauensbildende Maßnahme ersten Ranges ist. Wir
wünschen uns, dass die aus technischen und politischen
Gründen erfolgte Aussetzung der NMD-Entscheidung
dazu genutzt wird, für die Eindämmung von Proliferationsrisiken und neuen nuklearen Gefahren kooperative
Lösungen zu finden.
Im Verhältnis zu Korea ist bereits ein Anfang gemacht.
Ähnliches sollte auch gegenüber dem Iran versucht werden. Beim Irak haben die andauernden Bombardierungen
die rüstungskontrollpolitischen Möglichkeiten zwar zurzeit auf Null gefahren. Es sollte aber versucht werden,
hier wieder sowohl im nuklearen als auch im chemischen
Bereich sowie bei der Begrenzung der weitreichenden
Raketen wieder anzusetzen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich denke, es
bleibt in der vor uns liegenden Zeit viel zu tun: China
muss stärker in die Abrüstung strategischer und substrategischer Waffen einbezogen werden. Russland muss im
konventionellen Bereich die Voraussetzungen für das InKraft-Treten des angepassten KSE-Vertrages schaffen.
Auch die Kleinwaffenproblematik - das möchte ich noch
erwähnen - muss mit Nachdruck behandelt werden.
All diese Punkte hat der Abrüstungsbericht der Bundesregierung angesprochen. Meine Fraktion nimmt diesen Bericht wohlwollend zur Kenntnis.
({9})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Hans-Dirk Bierling.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Frau Ernstberger, Ihren ausführlichen Eingangsbemerkungen zum Zeitplan dieser
Debatte stimme ich voll und ganz zu. Dabei sind wir ja in
diesem Jahr schon etwas besser dran; denn wir müssen
über den Abrüstungsbericht nicht erst nach Mitternacht
debattieren. Allerdings fürchte ich, dass Sie in Ihrer Fraktion ein bisschen Ärger bekommen könnten. Sie hätten
wahrscheinlich sagen müssen: wir Abrüster und Abrüsterinnen.
({0})
Aber Scherz beiseite!
Meine Damen und Herren, das Jahr 1999 bietet international in Fragen der Abrüstung, Rüstungskontrolle und
Nichtverbreitung ein wirklich ambivalentes Bild. Während es gelungen ist, nach mehrjährigen Verhandlungen
den KSE-Änderungsvertrag auf dem Gipfeltreffen der
OSZE im November zu verabschieden, kam es in anderen
Bereichen der Abrüstung und der Nonproliferation zur
Stagnation. So arbeitete im vergangenen Jahr das kommunistische Regime in Nordkorea weiter an der Entwicklung einer militärischen Rakete mit großer Reichweite.
Ebenso war eine Einstellung der indischen und
pakistanischen Nuklearwaffenprogramme nicht zu registrieren, auch wenn sich die weltweit verurteilten Atomtests des Jahres 1998 nicht wiederholt haben. Zudem ist es
nicht gelungen, den bei der Genfer Abrüstungskonferenz
bestehenden Stillstand zu überwinden und endlich ein Arbeitsprogramm zu verabschieden.
Einer der schwierigsten Momente für die internationale nukleare Abrüstungsdiskussion war wohl die Nichtratifikation des Atomteststoppvertrages durch den USSenat im September 1999, was einen relativen Stillstand
in dieser Frage nach sich zog. Dieser Zustand ist bis jetzt
nicht überwunden, nicht zuletzt durch den Wahlkampf in
den Vereinigten Staaten. Wie und wann der künftige Präsident der USA sich dieses Themas wieder annehmen
wird, kann man heute nicht abschätzen.
({1})
Die Debatte über das nationale Raketenabwehrsystem der Vereinigten Staaten hemmte die abrüstungspolitische Diskussion zusätzlich, da insbesondere die russische Seite darin einen Verstoß gegen den ABM-Vertrag
von 1972 sah.
Der ABM-Vertrag, der die Anzahl von Raketenabwehrsystemen zwischen Russland und den USA begrenzt,
ist einer der Eckpfeiler der internationalen strategischen
Stabilität. Deshalb war es notwendig, sich vor der Konkretisierung US-amerikanischer Pläne für ein nationales
Raketenabwehrsystem mit Russland zu verständigen. Das
ist zum Teil geschehen. Wäre dies nicht geschehen, wäre
die in diesem Frühjahr erfolgte Ratifizierung von
START II durch die russische Duma gefährdet und damit
die weitere Reduzierung der strategischen nuklearen
Waffensysteme Russlands und der USA blockiert worden.
Die Bundesregierung hat allerdings, wie ich meine, in
diesem Zusammenhang bisher versäumt, sich mit den europäischen NATO-Partnern auf der Grundlage einer umfassenden Bedrohungsanalyse um gemeinsame europäische Positionen zu diesem Komplex zu bemühen. Das
Entstehen verschiedener Sicherheitszonen innerhalb des
atlantischen Bündnisses muss natürlich unbedingt verhindert werden. Russland muss in diesem Zusammenhang
allerdings auch von uns verdeutlicht werden, dass sich die
Pläne einer Raketenabwehr nicht gegen russische Raketen wenden, sondern dass sie mit der globalen Sicherheit
verbunden sind.
Wie sensibel das Verhältnis zu Russland ist, bewies der
Kosovo-Konflikt im vorigen Jahr sehr deutlich. Nach
dem Scheitern der Verhandlungen zwischen KosovoAlbanern und der Bundesrepublik Jugoslawien in Rambouillet im März 1999 und der drohenden völligen Vertreibung der albanischen Bevölkerung aus dem Kosovo
war eine wirklich komplizierte Situation entstanden. Die
internationale Gemeinschaft sah keine andere Möglichkeit als gezielte Luftangriffe der NATO gegen Serbien,
um noch größeres menschliches Elend zu verhindern.
Russland zeigte sich mit dem Vorgehen der NATO alles
andere als einverstanden und brach daraufhin die Zusammenarbeit auf der Grundlage der NATO-Russland-Grundakte ab.
Wie wir alle wissen, lenkte das Milosevic-Regime
nach wenigen Wochen ein. Auf der Basis der Resolution
1244 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen kam es
zum Einsatz der Friedenstruppe KFOR unter Führung der
NATO, der letztlich trotz schwieriger Umstände doch eine
Einbindung russischer Streitkräfte bei der Befriedung der
Region gelang. Die Bundesrepublik unterstützte diese
Friedenstruppe mit 6 000 Bundeswehrsoldaten, die zum
Schutz der ethnischen Gruppierungen und zur Durchsetzung der Waffenruhe eingesetzt wurden.
Damit sind wir wieder beim Thema der Abrüstung;
denn eine Reduzierung des Besitzes von Kleinwaffen innerhalb der Zivilbevölkerung des Kosovo ist im Vergleich
zu den anderen erreichten Zielen nur unzureichend gelungen und wird KFOR auch in Zukunft beschäftigen müssen, da das bestehende Kleinwaffenpotenzial schnell zu
einer dauerhaften Destabilisierung der Region führen
kann. Beispiele hierfür gibt es viele. Denken wir nur an
Tschetschenien oder Angola!
Die Regierung Kohl hat das Augenmerk der internationalen Staatengemeinschaft sehr frühzeitig auf das
Problem der so genannten „small arms“ gelenkt. Deutschland brachte verschiedene Anträge mit Kleinwaffenbezug
in die Generalversammlung der Vereinten Nationen ein,
die letztendlich dazu beitrugen, dass die Vereinten Nationen im Jahr 1999, also im Berichtszeitraum, eine internationale Staatenkonferenz zu diesem Thema für 2001 einberiefen.
Die amtierende Bundesregierung hat die deutschen Initiativen in dieser Richtung im Berichtszeitraum konsequent fortgesetzt; das ist erfreulich. So gelang es während
der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, die Ziele und
Prinzipien der bereits Ende 1998 auf deutsche Initiative
hin entstandenen gemeinsamen Aktion der EU auf die
Entwicklungszusammenarbeit zu übertragen. Das stellt
eine entscheidende Voraussetzung für praktische Schritte
zur Reduzierung von Kleinwaffenpotenzialen und deren
Kontrolle in den Entwicklungsländern dar.
Eingang fanden die Parameter der gemeinsamen Aktion letztlich auch in die Arbeit des OSZE-Forums für Sicherheitskooperation, das OSZE-weite Maßnahmen gegen eine unkontrollierte Anhäufung bzw. unkontrollierte
Verbreitung von Kleinwaffen erarbeitet.
Auch in Zukunft sollte die Bundesregierung den eingeschlagenen Weg fortsetzen und sich weiter für eine Reduzierung der weltweiten Kleinwaffenarsenale engagieren. Dazu gehört natürlich auch eine intensive deutsche
Vorbereitung auf die internationale Staatenkonferenz zum
illegalen Handel mit Kleinwaffen im nächsten Jahr.
Ein wichtiger Erfolg deutscher Außen- und Sicherheitspolitik ist die bereits von Frau Ernstberger erwähnte
Unterzeichnung der Anpassung des KSE-Vertrages auf
dem OSZE-Gipfel im November vorigen Jahres in
Istanbul. Hierbei hat die Bundesregierung gut daran getan, den von der Regierung Kohl bereits 1996 aufgenommenen Verhandlungsprozess fortzuführen und so über
Diskussion und Beratung innerhalb der Allianz und später der Gemeinsamen Beratungsgruppe der Vertragsstaaten in Wien zu Ergebnissen zu gelangen. An dieser Stelle
könnten Sie, meine Damen und Herren von der Koalition,
ruhig einmal klatschen, da ich mich doch so schinde, die
Regierung zu loben.
({2})
Die Modifizierung des KSE-Vertrages erhöht die Stabilität auf dem Gebiet der konventionellen Streitkräfte in
Europa. An die Stelle zu verhindernder Überraschungsangriffe durch massive Streitkräftekonzentrationen ist
nun die Verhinderung destabilisierender Streitkräftekonzentrationen getreten. Ein enges Regelwerk legt nationale
Obergrenzen für einzelne Waffensysteme fest - Frau
Ernstberger hat bereits darüber gesprochen - und macht
den Vertrag verifizierbar.
Aber - auch dies hat Frau Ernstberger schon angesprochen -: Deutschland und andere Staaten haben den KSEAnpassungsvertrag trotz Zustimmung zum Vertragstext
bisher nicht ratifiziert, weil Russland derzeit noch die
Vereinbarungen des Flankenabkommens durch den
Tschetschenien-Einsatz verletzt. Bei einem derart konstitutionellen Vertragswerk ist es jedoch notwendig, dass
wichtige Vertragspartner wie Russland von Beginn an
vertragskonform handeln. Eine Ratifizierung des Vertrages durch die Bundesrepublik zum jetzigen Zeitpunkt
würde einer Sanktionierung des russischen Handelns
entsprechen und würde dem Vertragswerk nicht die ihm
entsprechende Wertigkeit bzw. Bedeutung zuerkennen.
Die Bundesregierung ist deshalb aufgefordert, sich bei anstehenden Gesprächen mit Vertretern der russischen Seite
nachdrücklich dafür einzusetzen, die Kriterien des Abkommens einzuhalten.
({3})
Nur danach ist für die Bundesrepublik Deutschland eine
Ratifizierung des KSE-Anpassungsvertrages möglich,
ohne unsere gemeinsamen außenpolitischen Grundsätze
zu verletzen.
Welche Erfolge kontinuierliches Arbeiten erzielen
kann, beweist das am 1. März 1999 in Kraft getretene
Ottawa-Übereinkommen zu Antipersonenminen, das
Deutschland bereits im Juli 1998 ratifiziert hatte. Es sieht
ein umfassendes Verbot von Herstellung, Einsatz, Transfer und Lagerung aller Arten von Antipersonenminen vor
und regelt die Zerstörung vorhandener Bestände. Außerdem sieht es ein überprüfbares Verifikationsregime vor.
Ein erstes Treffen der Vertragsstaaten von Ottawa fand
im Mai 1999 in Maputo statt. Einige bisherige Nichtzeichnerstaaten erklärten auf diesem Treffen ihre
grundsätzliche Bereitschaft zum Beitritt, zum Beispiel die
Türkei. Auf diesem Treffen wurden Modalitäten des Informationsaustausches festgelegt, die das auf deutschen
Vorschlägen basierende Verifikationsregime operationell
machen. Die politische Abschlusserklärung enthielt neben der Aufforderung zum Beitritt an die bisherigen
Nichtzeichnerstaaten die Bestätigung, dass Zusammenarbeit bei Minenräumung und Unterstützung bei der
Opferfürsorge vor allem den Staaten zugute kommen soll,
die einen Einsatz von Antipersonenminen für immer ausgeschlossen haben. Deutschland ist eines der Länder, das
sich dabei aktiv engagiert.
Kontinuität auf dem Politikfeld von Abrüstung und
Sicherheit - ich erwähnte es schon einmal - ist wichtig. In
dieser Frage stimmen im Grunde alle Fraktionen des Hauses überein.
({4})
Das heißt, die Bundesregierung kann, wenn sie auf diesem Gebiet die Bemühungen ihrer Vorgängerin konsequent fortsetzt, was bislang in wesentlichen Punkten der
Fall ist, mit der Unterstützung des ganzen Hauses und somit auch der CDU/CSU-Fraktion in Fragen der Abrüstung
und Rüstungskontrolle sowie der Nonproliferation rechnen.
Ich danke Ihnen.
({5})
Nun spricht der
Staatsminister im Auswärtigen Amt, Ludger Volmer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die wichtigste Botschaft des Jahresabrüstungsberichts
1999 lautet: Neue Herausforderungen und Gefahren bei
der Proliferation von Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägermittel wie auch bei konventionellen Waffen verlangen noch stärker nach politischen und vertraglichen
Mitteln der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Deshalb
haben wir - nun störe ich den Konsens - die Auflösung
der Abrüstungsabteilung im Auswärtigen Amt, die durch
die Vorgängerregierung eingeleitet worden war, Ende
1998 in letzter Minute verhindert.
({0})
Jetzt kommt wieder Konsens.
({1})
Nachdem die Fortschritte und Rückschritte insgesamt
dargestellt worden sind, möchte ich auf einige Punkte eingehen, in denen die amtierende Bundesregierung besonders initiativ geworden ist.
1999 konnten in vielen Bereichen wichtige Fortschritte
erzielt werden. Es ist ein bedeutender Erfolg der Außenund Sicherheitspolitik der Bundesregierung - darauf
wurde eingegangen -, dass der KSE-Vertrag beim
OSZE-Gipfel in Istanbul im November 1999 nach deutschen Vorschlägen an die veränderte Sicherheitslage und
die sicherheitspolitischen Bedingungen in Europa angepasst wurde. Ich denke, hier sollten wir uns bei den Beamten des Auswärtigen Amtes bedanken, die sehr viel
Kreativität investiert haben und sich letztlich auch durchgesetzt haben.
({2})
Die Stabilität im Bereich der konventionellen Streitkräfte ist dadurch entscheidend vergrößert. Verschärfte
rüstungspolitische Beschränkungen und operative Flexibilitäten sind in eine angemessene Balance gebracht.
Destabilisierende Streitkräftekonzentrationen werden
überall im Vertragsgebiet verhindert. Verstärkungen zur
Krisenprävention und -bewältigung bleiben möglich. Mit
der Öffnung des KSE-Vertrages kann sich das Netzwerk
einer deutlich erhöhten konventionellen Stabilität erstmals über ganz Europa bis zum Ural legen. Es kommt
jetzt darauf an, dass alle Partner ihre Pflichten aus dem ursprünglichen Vertrag erfüllen, damit die allseitige Ratifikation des neuen KSE-Vertrags zügig erfolgen und der
Vertrag möglichst rasch umfassend implementiert werden
kann. Das gilt auch für Russland, dessen militärisches Engagement in Tschetschenien gegen den KSE-Geist und
-Text verstößt.
({3})
Ebenfalls auf dem OSZE-Gipfel beschlossen und am
1. Januar 2000 bereits in Kraft getreten ist das Wiener
Dokument 99, das das Wiener Dokument 94 über vertrauensbildende Maßnahmen unter den damals 54 Mitgliedstaaten an die neue Lage anpasst. Es enthält - das ist
ein erheblicher Fortschritt - erstmals einen konkreten Katalog regionaler vertrauens- und sicherheitsbildender
Maßnahmen.
Die Bundesregierung hat sich in diesem Zusammenhang intensiv für die Stabilisierung der Krisenregion auf
dem Balkan nach dem Ende des Kosovo-Konflikts eingesetzt. Die Bemühungen um regionale Abrüstung und
Stabilität im Rahmen des Dayton-Abkommens werden intensiv weitergeführt. Im Rahmen des Stabilitätspakts werden zusätzliche Bemühungen zur Verbesserung der deHans-Dirk Bierling
mokratischen Kontrolle der Streitkräfte, der militärischen
Kontakte und der Transparenz sowie vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen zur Förderung einer friedlichen Entwicklung in der Region auf den Weg gebracht.
Mit der Wahl des demokratischen Präsidenten
Kostunica erhalten diese Bemühungen eine neue,
optimistische Perspektive für die Rückkehr Jugoslawiens
in die Völkergemeinschaft und die friedliche Entwicklung
der gesamten Region.
({4})
Ich freue mich deshalb - dem gilt sicherlich auch Ihr Beifall -, dass Jugoslawien seit letzter Woche 55. Mitglied
des Wiener Dokuments geworden ist.
({5})
Die Bundesregierung ist besonders besorgt um die Risiken der Proliferation von Massenvernichtungswaffen,
die 1999 deutlich hervortraten. Das Problem wird verschärft durch die rasche Entwicklung weit reichender militärischer Trägertechnologie in mehreren Ländern, die
damit ein weit über ihre eigene Region hinaus reichendes
Bedrohungspotenzial erwerben können. Dieses Thema
wurde übrigens beim letzten Besuch in Nordkorea offensiv angesprochen.
Die Entwicklung von Raketenabwehrsystemen wird
von der Bundesregierung kritisch bewertet. Ihre Realisierung könnte erhebliche Konsequenzen für das gesamte
Gefüge von Abrüstung und Rüstungskontrolle haben. Die
Perspektive weiterer Fortschritte der nuklearen Abrüstung
und Rüstungskontrolle darf dadurch nicht verstellt werden.
({6})
Die Bundesregierung begrüßt deshalb ausdrücklich, dass
Präsident Clinton weitere Entscheidungen über die Dislozierung vorläufig zurückgestellt hat.
Die Bundesregierung hat sich intensiv gegen Massenvernichtungswaffen eingesetzt. Bei der 6. Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag im Mai
dieses Jahres haben die Kernwaffenstaaten unzweideutig
ihre Verpflichtung zur vollständigen nuklearen Abrüstung
bekräftigt. Die Vertragsstaaten haben sich auf praktische
Schritte zur Stärkung der nuklearen Nichtverbreitung und
zur Fortsetzung der nuklearen Abrüstung verständigt.
Forschungsreaktoren sollen auf deutsche Initiative hin
von hoch angereichertem auf niedrig angereichertes Uran
umgestellt werden.
({7})
Bei der Abrüstung von C- und B-Waffen sind weitere
Fortschritte nötig: Der Chemiewaffenverbotsvertrag
muss in allen Vertragsstaaten umfassend implementiert
werden. Der Vertrag über das Verbot der biologischen
Waffen sollte in den Genfer Verhandlungen um ein
substanzielles Protokoll ergänzt werden, das ihn verifizierbar macht.
Ich komme zum letzten Punkt. Die meisten Opfer sind
in regionalen oder innerstaatlichen Konflikten auf den
Gebrauch kleiner und leichter Kriegswaffen, auf so genannte „small arms“ zurückzuführen. Die Bundesregierung hat die Initiative ergriffen, die weltweit vagabundierenden Handelsströme von „small arms“ einzudämmen.
Wie mehrere Redner angesprochen haben, ist es unser
Ziel, bei der im kommenden Jahr stattfindenden UN-Konferenz zu kleinen und leichten Kriegswaffen verlässliche
Regeln aufzustellen, die Waffenströme wirkungsvoll zu
kontrollieren und möglichst viele Waffen zu vernichten.
({8})
Herr Kollege Volmer,
kommen Sie bitte zum Schluss.
Frau Präsidentin, ich komme zum letzten Satz.
- Das zentrale Ziel all dieser Bemühungen ist eine umfassende Politik der Konfliktprävention, das heißt: die
Abwehr von Gefahren für die internationale Sicherheit
und Stabilität durch Abrüstung, Rüstungskontrolle und
Nichtverbreitung, über die dieses Haus vor einer Woche
debattiert hat.
({0})
Sie wird im Interesse unserer Bürgerinnen und Bürger
auch zukünftig eines der tragenden Elemente der kooperativen Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland bleiben.
Ich danke Ihnen.
({1})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Hildebrecht Braun.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der vorliegende Bericht ist wohl die beste Übersicht über den Bereich der Abrüstungsbemühungen in deutscher Sprache.
Er ist gut gegliedert, erstaunlich gut lesbar und daher ein
ausgezeichnetes Hilfsmittel für all diejenigen, die ihr Augenmerk auf Fragen des Friedens und der Sicherheit in der
Welt richten. Dennoch möchte ich zwei kritische Anmerkungen machen.
Erstens. Der Bericht versucht, auch unerfreuliche Tendenzen wohlwollend zu beschreiben, statt deutliche Kritik zu üben. So heißt es gleich im ersten Abschnitt:
Gleichzeitig konkretisierten sich amerikanische
Pläne zum Aufbau eines nationalen Raketenabwehrsystems, die erst noch in das vertragliche Regime der nuklearen Abrüstung und Nichtverbreitung
integriert werden müssen, wozu in einem ersten
Schritt die Anpassung des ABM-Vertrages im EinStaatsminister Dr. Ludger Volmer
vernehmen mit Russland notwendig ist.
Dieser Vorgang zeigt zu viel Rücksichtnahme auf unseren
großen amerikanischen Partner, lässt er doch jede Distanz
zu der amerikanischen Planung vermissen. In einem deutschen Abrüstungsbericht hätte ich mir eine deutlichere
Sprache gewünscht, mit der das ausgedrückt worden
wäre, was dieses Parlament und was die Bundesregierung
zu dem nationalen Raketenabwehrsystem der USA zu sagen haben, nämlich, dass wir dieses System für schädlich
halten.
({0})
Zweitens. Der Bericht wäre noch besser, wenn nicht
nur Zahlen über das Streitkräftepotenzial in Europa und in
angrenzenden Regionen enthalten wären, sondern auch
über Asien, insbesondere über den Fernen Osten. Unsere
Sicherheit in Europa ist längst nicht mehr nur von der Situation der Streitkräfte in nahe gelegenen Regionen abhängig. Es gibt viele Gründe, weswegen wir mit großem
Interesse auf die Entwicklung in China, in Korea, aber
auch in Süd- oder in Südostasien blicken. Große Entfernungen haben eine immer kleiner werdende Bedeutung.
Dass China zum Beispiel seine Ausgaben für das Militär
- ich zögere, von Verteidigungsausgaben zu sprechen massiv erhöht, während nahezu die ganze Welt ihre Ausgaben reduziert, kann nicht ohne Beachtung in einem Bericht bleiben, der eine Übersicht über das gesamte Rüstungsgeschehen bieten soll.
({1})
Natürlich berichtet die Bundesregierung über die einzelnen Verträge, die zusammengenommen das internationale Abrüstungsregime ausmachen. Nur in wenigen Bereichen konnte von substanziellen Fortschritten berichtet
werden. In den meisten Teilgebieten tritt man auf der
Stelle, wie bei der ständigen Abrüstungskonferenz in
Genf.
Das Jahr 1999 war in der Geschichte der Abrüstung ein
besonderes Jahr. Erstens. Das Übereinkommen über das
Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und
der Weitergabe von Antipersonenminen und über deren
Vernichtung, das Ottawa-Abkommen, ist in Kraft getreten. Das ist ein großer politischer Erfolg, der unsägliches
Leid für unendlich viele Einzelpersonen, insbesondere für
Kinder, verhindern wird.
Zweitens. Im September ist die Ratifikation des Atomteststoppvertrages durch die Vereinigten Staaten gescheitert. Das ist ein herber Rückschlag für die internationalen Abrüstungsbemühungen mit gefährlichen Signalen
in Richtung der Staaten, die diesen Vertrag deshalb nicht
ratifiziert haben, weil sie eigene Atomwaffenarsenale aufbauen wollen, wie zum Beispiel Indien und Pakistan.
Soweit erkennbar, hat die deutsche Bundesregierung
im Jahre 1999 keine Abrüstungsinitiative ergriffen, die
der Stärke unseres Landes entsprechend Wirkung gezeigt
hätte. Stattdessen hat Außenminister Fischer durch seine
Versuche, die NATO auf einen Verzicht der Erstschlagsoption festzulegen, international für Verwirrung und Irritation gesorgt.
({2})
In Sachen konkreter Abrüstungsschritte war die Bundesrepublik Mitläufer und nicht Mitgestalter. Das ist bedauerlich und das sollte sich ändern.
({3})
Deutschland wird in den vor uns liegenden Jahren von
Trägersystemen aus dem Iran, aber wohl auch aus dem
Irak, eventuell auch aus Libyen erreicht werden können.
Allein dieser Punkt sollte die Bundesregierung dazu
veranlassen, Schritte in Richtung eines internationalen
Vertrages zum Verzicht auf den Bau oder den Erwerb, jedenfalls der Stationierung von Trägerraketen mittlerer
und größerer Reichweite zu initiieren, die nicht unter internationaler Kontrolle stehen und ausschließlich für zivile Zwecke eingesetzt werden können.
Gelingt es nicht, meine Damen und Herren, das Problem der in Entwicklung befindlichen Trägersysteme in
den Griff zu bekommen, wird es kaum möglich sein, unsere Sicherheit vor Angriffen aus anderen, auch kleinen
Staaten zu gewährleisten. Ich glaube, hier wäre ein Feld,
auf dem die Deutschen initiativ werden könnten und sollten.
({4})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Heidi Lippmann für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 70 Seiten Bericht in drei Minuten
zu behandeln ist unmöglich. Ich verzichte daher auf das
Lob, das der Bericht durchaus verdient hat, aber es kam ja
schon zum Ausdruck. So beschränke ich mich auf Anmerkungen.
Eine aktive Abrüstungspolitik der Bundesregierung
kann nicht losgelöst von der Gesamtausrichtung deutscher Außen- und Sicherheitspolitik diskutiert werden,
die im Jahre 2000 aufrüstungs- statt abrüstungsorientiert
ist.
({0})
Dies beweisen das neue strategische Konzept der NATO
und die Defence Capability Initiative mit 58 Einzelmaßnahmen zur qualitativen Aufrüstung, die neue europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit ihrer
60 000 Mann starken schnellen Eingreiftruppe ebenso wie
der Umbau der Bundeswehr von einer Verteidigungs- zur
Interventionsarmee.
({1})
Im Bereich der nuklearen Abrüstung konnte sich zwar
kürzlich die Resolution der New Agenda Coalition durchsetzen, doch sind wir weit entfernt von einem Verbot für
Nuklearwaffen. Im Gegenteil, es sind eine weitere Proliferation und ein erneutes Wettrüsten zu befürchten, wofür
auch - das wurde schon gesagt - die US-amerikanischen
Hildebrecht Braun ({2})
Pläne für ein nationales Raketenabwehrsystem verantwortlich sind.
Zwar gibt es immer mehr kernwaffenfreie Zonen auf
der Welt, doch für Europa ist dies weiterhin Utopie. Nicht
verschwiegen werden dürfen hier die nuklearen Sprengköpfe, die immer noch auch auf deutschem Boden stationiert sind.
Im Bereich der B- und C-Waffen haben zwar mittlerweile überaus viele Staaten die Verbotsabkommen unterzeichnet, doch es gibt riesigen Handlungsbedarf sowohl
bei der Entsorgung chemischer und biologischer Kampfstoffe als auch bei der Überprüfung der Forschung und
Entwicklung zwecks möglicher Abwehrmaßnahmen.
Allein 40 000 Tonnen chemischer Kampfstoffe in Russland sind ebenso eine tickende Zeitbombe wie die circa
120 vor der Kola-Halbinsel vor sich hindümpelnden
Atom-U-Boote. Zwar unterstützt die Bundesregierung
den Aufbau einer Vernichtungsanlage chemischer Kampfstoffe in Gorny, doch dies ist im Vergleich zum Bedarf ein
Tropfen auf den heißen Stein.
({3})
So gut und wichtig das Ottawa-Abkommen ist, liebe
Kolleginnen und Kollegen, wir dürfen uns nicht auf das
Verbot von Antipersonenminen beschränken, sondern
müssen das Gleiche auch für die Antifahrzeugminen
erreichen.
({4})
Riesigen Handlungsbedarf gibt es auch im Bereich der
präventiven Rüstungskontrolle. Die Gefahren, die von
den neuen Technologien ausgehen, sind dank engagierter
Wissenschaftler und auch dank des Berichtes des Büros
für Technikfolgenabschätzungen bekannt. Doch sie müssen auch entsprechend ernst genommen werden. Vieles,
was heute noch als Science-Fiction wahrgenommen wird,
kann morgen durchaus tödlich enden. Es gibt keine
Hochtechnologie, die nicht militärisch gebraucht oder
missbraucht werden kann, ob Kommunikations- oder
Computertechnik, Elektronik, Sensorik, Mikro- und Nanotechnik oder Informationsverarbeitung. Der Cyberwar
rückt in beängstigendem Maße näher, ebenso wie die Militarisierung des Weltraums.
Wir fordern die Bundesregierung auf, ein eigenes Amt
für Abrüstung, Konversion und präventive Rüstungskontrolle einzurichten und hierfür Mittel in signifikanter
Höhe in den Haushalt einzustellen.
({5})
10 Prozent der deutschen Rüstungsausgaben entsprechen
nach NATO-Kriterien rund 6 Milliarden DM. Entsprechende Kürzungsvorschläge im Einzelplan 14 haben wir
Ihnen vorgelegt.
Darüber hinaus erwarten wir von der Bundesregierung,
dass sie alles tut, um auch auf die neue US-Regierung Einfluss zur Verhinderung des National-Missile-DefenseProgramms zu nehmen und sich insbesondere von den
europäischen regionalen Abwehrsystemen zu verabschieden. Als Programm für Ihre künftige Abrüstungspolitik
empfehlen wir Ihnen das heute veröffentlichte Memorandum des Verbandes Deutscher Wissenschaftler, ein
Plädoyer für ein europäisches „Diplomatie zuerst“. Ich erlaube mir, Ihnen ein Exemplar zu überreichen, Herr
Staatsminister.
({6})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3233 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie den Zusatzpunkt 5 auf:
11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Blank, Dirk Fischer ({0}), Dr.-Ing. Dietmar
Kansy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Binnenschifffahrt erhalten und sichern
- Drucksache 14/4387 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({2}), Hans-Michael Goldmann,
Dr. Karlheinz Guttmacher weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der F.D.P.
Wasserstraßen ausbauen und Nachteile der
Deutschen Flagge im EU-weiten Wettbewerb
der Binnenschifffahrt beseitigen
- Drucksache 14/4602 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({3})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kollegin-
nen und Kollegen Annette Faße, Renate Blank, Helmut
Wilhelm, Hans-Michael Goldmann sowie Dr. Winfried
Wolf haben ihre Reden zu Protokoll gegeben1). - Ich sehe
keinen Widerspruch im Saal.
({4})
Deshalb kommen wir gleich zu den Überweisungen. In-
terfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 14/4387 und 14/4602 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
1) Anlage 3
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Namensaktie und zur Erleichterung der
Stimmrechtsausübung ({5})
- Drucksache 14/4051 ({6})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
({7})
- Drucksache 14/4618 Berichterstattung:
Abgeordnete Bernhard Brinkmann ({8})
Dr. Susanne Tiemann
Volker Beck ({9})
Dr. Evelyn Kenzler
Es liegen zwei Änderungsanträge der Fraktion der
F.D.P. vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kollegin-
nen und Kollegen Bernhard Brinkmann, Professor
Dr. Susanne Tiemann, Margareta Wolf, Rainer Funke,
Dr. Uwe-Jens Rössel sowie Professor Dr. Eckhart Pick ha-
ben ihre Reden zu Protokoll gegeben1).({10})
Auch hierzu sehe ich keinen Widerspruch im Saal. Des-
halb kommen wir sofort zu den Abstimmungen.
Wir kommen zuerst zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Namens-
aktiengesetzes, Drucksachen 14/4051 und 14/4618. Dazu
liegen zwei Änderungsanträge der F.D.P. vor, über die wir
zunächst abstimmen.
Wir kommen zum Änderungsantrag auf Drucksache
14/4628. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag
ist gegen die Stimmen von F.D.P. und CDU/CSU bei Ent-
haltung der PDS-Fraktion abgelehnt.
Ich rufe den Änderungsantrag auf Drucksache 14/4629
auf. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag
ist gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion und bei Ent-
haltung der CDU/CSU- und der PDS-Fraktion abgelehnt.
Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stim-
men der PDS-Fraktion angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in dritter Beratung und Schlussabstimmung ge-
gen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Günter Rexrodt, Hildebrecht Braun ({11}), Rainer Brüderle, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des deutschen
Rabattrechts an die EU-Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr ({12})
- Drucksache 14/4423 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({13})
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer
Funke, Rainer Brüderle, Hildebrecht Braun ({14}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Anpassung des deutschen Zugaberechts an die
EU-Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr ({15})
- Drucksache 14/4424 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({16})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kollegin-
nen und Kollegen Birgit Roth, Dirk Manzewski, Hartmut
Schauerte, Margareta Wolf, Gudrun Kopp, Rolf Kutzmutz
sowie der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Eckhart
Pick haben ihre Reden zu Protokoll gegeben2). - Auch hier
sehe ich keinen Widerspruch im Saal.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 14/4423 und 14/4424 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Ich sehe dazu im Hause Einverständnis. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Erika Simm, Joachim
Stünker, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck
({17}), Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
({18}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes
- Drucksache 14/3763 ({19})
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes
- Drucksache 14/4452 ({20})
Vizepräsidentin Petra Bläss
1) Anlage 4 2) Anlage 5
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Wolfgang
Bosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Fünften Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes ({21})
- Drucksache 14/4070 ({22})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses
({23})
- Drucksache 14/4622 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Wolfgang Götzer
Volker Beck ({24})
Dr. Evelyn Kenzler
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache; denn irgendeine müssen
wir heute ja noch haben. Als erster Redner spricht Kollege
Joachim Stünker von der SPD-Fraktion.
({25})
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Es ist fast 22 Uhr und ein
Häuflein Aufrechter möchte sich noch mit dem Fünften
Gesetz zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes beschäftigen. Diejenigen, die es eigentlich angeht, könnten die
Debatte - selbst wenn sie im Fernsehen noch übertragen
würde, nicht einmal mehr sehen, weil im Vollzug ab
22 Uhr Nachtruhe herrscht.
Worum geht es? Es geht letzten Endes um die angemessene Entlohnung von Strafgefangenen für zugewiesene Pflichtarbeit im Vollzug. Der Anlass ist, dass das
Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 1. Juli 1998
aufgrund von diversen Verfassungsbeschwerden in den
90er-Jahren festgestellt hat, dass die geltende Regelung
im Strafvollzugsgesetz mit den Grundnormen unseres
Grundgesetzes nicht mehr vereinbar ist. Das heißt, die
geltende Entlohnungspraxis - zurzeit monatlich 215 DM,
also pro Tag 10 DM - ist verfassungswidrig, weil sie kein
angemessenes Leistungsäquivalent darstellt.
Mit diesem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht
letztendlich die Notbremse gezogen, weil der Bundesgesetzgeber eigentlich schon seit 15, 16 Jahren verpflichtet
gewesen wäre, den Intentionen des Strafvollzugsgesetzes
aus dem Jahre 1977 folgend, angemessene Veränderungen vorzunehmen.
Das Bundesverfassungsgericht hat uns ins Stammbuch
geschrieben: Das Grundgesetz verpflichtet den Gesetzgeber zur Entwicklung und Umsetzung eines wirksamen
Konzeptes der Resozialisierung im Strafvollzug. Arbeit
im Strafvollzug dient der Resozialisierung. Sie muss daher angemessene Anerkennung erfahren, und zwar in dem
Sinne, dass dem, der zur Arbeit verpflichtet ist, der Wert
der Arbeit durch die Entlohnung für das künftige Leben in
Freiheit auch vermittelt wird.
({0})
Ich darf das Urteil an dieser Stelle zitieren. Dort heißt
es wörtlich:
Arbeit im Strafvollzug, die dem Gefangenen als
Pflichtarbeit zugewiesen ist, ist nur dann ein wirksames Resozialisierungsmittel, wenn die geleistete Arbeit angemessene Anerkennung findet. Diese Anerkennung muss geeignet sein, dem Gefangenen den
Wert regelmäßiger Arbeit für ein künftiges eigenverantwortliches und straffreies Leben in Gestalt eines
für ihn greifbaren Vorteils vor Augen zu führen.
Nun ist es Bund und Ländern zwei Jahre nach diesem
Urteil nicht möglich gewesen, sich darauf zu einigen, wie
denn dieses Urteil letzten Endes in die Praxis umzusetzen
ist. Aber das Bundesverfassungsgericht hat uns eine Frist
gesetzt, nämlich bis zum 31. Dezember dieses Jahres.
Wenn wir bis zu diesem Zeitpunkt keine Neuregelung des
Strafvollzugsgesetzes haben, werden in jedem Einzelfall
die Gerichte in Deutschland zu entscheiden haben, wie
hoch die Entlohnung zu sein hat.
Von daher haben wir es heute im Ergebnis - ich bedaure das sehr - mit drei Gesetzentwürfen zu tun, nämlich
mit einem Entwurf der Koalitionsfraktionen, mit einem
Entwurf der CDU/CSU-Fraktion und einem Entwurf des
Bundesrates.
({1})
Wenn man diese Entwürfe vergleicht, fragt man sich:
Worum geht es? Es geht letzten Endes ums Geld. Es geht
wieder einmal darum, wie viel Geld wir in der Lage oder
bereit sind, zur Verfügung zu stellen.
({2})
- Rein zufällig ist das vielleicht nicht, Kollege
Brinkmann.
Der Entwurf der Koalitionsfraktionen geht davon
aus, dass wir die jetzt durchschnittliche Vergütung von
215 DM im Monat auf 660 DM erhöhen, während der
Bundesrats- und der CDU/CSU-Entwurf einen Betrag
von 320 DM vorsehen.
Man wird das Ganze im Ergebnis nicht in Mark und
Pfennig messen können. Wir haben die leistungsbezogene
und formalisierte Anerkennung der Arbeitspflicht zu regeln. Ich sehe ebenso wie meine Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, dass wir uns in einem Spannungsverhältnis zwischen dem, was verfassungsrechtlich
geboten ist und dem, was die Länder, die das Gesetz vollziehen müssen, finanziell werden leisten können, befinden.
Nur, das verfassungsrechtliche Gebot der Resozialisierung ist keine sozialromantische Spinnerei, sondern folgt
Vizepräsidentin Petra Bläss
letztendlich Art. 2 und Art. 20 des Grundgesetzes. Von daher hoffe ich sehr und vertraue ein wenig darauf, dass in
der Diskussion Vernunft einkehrt und wir im Vermittlungsausschuss, bei dem die ganze Angelegenheit landen
wird, zu einer vernünftigen Lösung kommen werden.
Schönen Dank.
({3})
Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Dr. Wolfgang Götzer.
Frau Präsidentin!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren
heute in zweiter und dritter Lesung über die Erhöhung
der Gefangenenentlohnung. Uns allen ist dabei klar
- Herr Kollege Stünker hat es schon angesprochen -, dass
in der heutigen Debatte nicht das letzte Wort in dieser Sache gesprochen wird, sondern dass sich aller Voraussicht
nach der Vermittlungsausschuss mit diesem Thema wird
beschäftigen müssen.
Ich kann mir jetzt ersparen, längere Zitate aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wiederzugeben, weil
das bereits mein Vorredner getan hat. Im Übrigen hat es
schon zwei Debatten zu diesem Thema gegeben, sodass
man auf die Protokolle der damaligen Sitzungen verweisen kann. Die gestrige Diskussion im Rechtsausschuss
- ich glaube, das war allgemeine Überzeugung - war
sachlich und zielorientiert. Ich möchte mich in diesem
Zusammenhang besonders bei Frau Ministerin Schubert
für ihre Ausführungen zu diesem Thema bedanken, die
unseren Ansichten sehr nahe gekommen sind bzw. ihnen
entsprochen haben.
Gleichwohl sind - ich sage das mit Blick auf die Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition - die Unterschiede zwischen Ihrem Gesetzentwurf, dem der
CDU/CSU-Fraktion und dem des Bundesrates deutlich
geworden. Die Regierungsfraktionen wollen eine Verdreifachung der Gefangenenentlohnung, das heißt eine
Erhöhung von 5 Prozent der Bezugsgröße auf 15 Prozent
der Bezugsgröße. Sie wollen diese Erhöhung auf sämtliche Gefangenengruppen erstrecken und sehen dabei keine
immaterielle Vergütung vor. Der Entwurf der CDU/CSU
dagegen sieht gegenüber dem bisherigen Zustand eine
Steigerung um 40 Prozent vor, allerdings begrenzt auf die
zur Arbeit verpflichteten Gefangenen, und beinhaltet
außerdem als weitere Kompetente nicht monetäre Maßnahmen. Das bedeutet konkret die Möglichkeit, dass Gefangene bis zu sechs zusätzliche Freistellungstage pro
Jahr ansparen können, um diese dann als Hafturlaub oder
zur Vorverlegung des Entlassungszeitraumes nutzen zu
können. Dieses Kombinationsmodell orientiert sich am
einmütigen Beschluss der Justizminister der Länder vom
10. November 1999 und beschränkt sich auf das von der
Verfassung her gebotene Maß einer Erhöhung der
Gefangenenentlohnung. Der Entwurf des Bundesrates
- für den ich spreche - deckt sich im Wesentlichen hinsichtlich des Umfangs der Erhöhung der Gefangenenentlohnung und der Ermöglichung nicht monetärer Maßnahmen mit unserem Entwurf.
Was ist unsere Kritik am Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen? Zum einen kritisieren wir die geplante
Verdreifachung der bisherigen Gefangenenentlohnung.
Damit schießt dieser Entwurf weit über die Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts hinaus. Das wird zu einer erheblichen Verteuerung der Arbeitsleistungen führen. In
diesem Punkt darf ich auf das verweisen, was gestern im
Rechtsausschuss die sachsen-anhaltinische Ministerin
Schubert erklärt hat. Viele Privatbetriebe und erst recht
die Eigenbetriebe der Justizvollzugsanstalten werden
nicht mehr wirtschaftlich arbeiten können, wenn tatsächlich eine Verdreifachung der Gefangenenentlohnung vorgesehen wird. Wenn die Arbeit zu teuer ist, wird Arbeitsleistung nicht mehr nachgefragt; es ist leider so. In der
Folge wäre ein massiver Abbau von Arbeitsplätzen in den
Justizvollzugsanstalten zu befürchten.
Das läuft dem Resozialisierungsgedanken diametral
entgegen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat dem
Bemühen um Verbesserung der Bedingungen der Resozialisierung in seinem Urteil breiten Raum eingeräumt.
Das wird mit diesem Entwurf der Regierungskoalition gerade nicht erreicht. Außerdem wird dieser Entwurf, wenn
er denn Wirklichkeit werden sollte, zu erheblichen Spannungen unter den Gefangenen führen. Frau Ministerin
Schubert hat davon gesprochen, dass es dann ein Zweiklassensystem, sozusagen eine Zweiklassengesellschaft,
in den Gefängnissen geben würde, und zwar eine Klasse
derjenigen, die Arbeit haben, und einer Klasse derjenigen,
die keine Arbeit haben.
({0})
Nachdem selbst eine SPD-Ministerin in dieser Hinsicht
keine Klassengesellschaft will, wollen wir uns in diesem
Punkt anschließen.
({1})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, die ganze Diskussion dreht sich ja um die
Frage: Was ist eine angemessene Entlohnung? Das ist,
denke ich, nicht allein eine Frage der prozentualen Erhöhung. Die Angemessenheit kann sich nicht alleine im
Wettlauf um eine prozentuale Erhöhung darstellen. Auch
darüber haben wir ja gestern im Rechtsausschuss debattiert. Deswegen gehe ich nicht davon aus, dass man mit
den 15 Prozent, die Sie planen, gegenüber dem Entwurf
von Union und Bundesrat sozusagen auf der sichereren
verfassungsrechtlichen Seite wäre. Denn wenn in den Justizvollzugsanstalten die Schere zwischen denen, die Arbeit haben, und denen, die keine Arbeit haben, immer weiter auseinander geht, wenn die Zahl derjenigen, die Arbeit
haben, immer geringer wird, und diese dann dreimal so
viel Geld bekommen wie bisher, so stellt sich in diesem
Zusammenhang entsprechend das verfassungsrechtliche
Problem der Gleichheit.
Die Verdreifachung der Gefangenenentlohnung wäre
im Übrigen ein verheerendes Signal an die Opfer von
Straftaten.
Vizepräsidentin Petra Bläss
({2})
- Nein, das ist alles andere als absurd. Das ist im Gegenteil eine sehr nahe liegende Gefahr, verehrter Herr Kollege Beck. - Wenn außerdem davon gesprochen wird,
dass, wenn die Gefangenen mehr Geld bekämen, möglicherweise auch mehr Geld für die Resozialisierung zur
Verfügung stünde, möchte ich dazu sagen: Es kann ja
wohl nicht sein, dass die Justizvollzugsanstalten und letztlich damit der Steuerzahler die Resozialisierung der Gefangenen übernehmen soll.
({3})
- Dass der Steuerzahler für die Resozialisierung aufkommt, ist ein neuer Gesichtspunkt. Das kann ja wohl
nicht sein, außer natürlich, wenn ich vom totalen Staat
ausgehe. Verehrter Kollege von der PDS, mit Ihrem
Staatsverständnis kann ich das in Einklang bringen; aber
ich glaube nicht, dass das der Sinn sein kann.
Unverständlich ist, dass der Entwurf der Regierungskoalition keine nicht monetären Maßnahmen enthält,
obwohl das Urteil des Bundesverfassungsgerichts dies
ausdrücklich als Möglichkeit anspricht.
({4})
- Ich weiß nicht, ob Sie Jurist sind, Herr Kollege. Dann
sollten Sie sich besser nicht dazu äußern. - Ich trete gerne
in einen Disput mit Ihnen ein; aber ich weiß nicht, welche
Ausbildung Sie genossen haben.
({5})
Ich komme nun noch zu einem Thema, das ebenfalls
erwähnt werden muss, nämlich die finanzielle Belastung
der Länder. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, allein
der bayerische Staatshaushalt hätte Mehrkosten in Höhe
von etwa 33 Millionen DM zu tragen, würde dieses Gesetz Wirklichkeit.
({6})
- Bayern ist ein wirtschaftlich sehr solides Land, Herr
Kollege Stünker. Ich habe Ihren Einwurf sehr wohl verstanden. Dennoch wäre dieser Betrag faktisch nicht verkraftbar. Darüber haben wir gestern gesprochen.
({7})
Die anderen Länder, auch die SPD-regierten Länder, machen ähnliche Rechnungen auf. Bundesweit müssten die
Länder in der Summe etwa 230 Millionen DM ausgeben,
wenn Ihr Gesetzentwurf in die Tat umgesetzt würde.
Ich darf zusammenfassen. Der Gesetzentwurf der Regierungskoalition schießt weit über die Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichtsurteils hinaus. Er vernichtet
Arbeitsplätze in den Justizvollzugsanstalten.
({8})
Er belastet die Länder unzumutbar und er setzt ein verheerendes Signal für die Opfer.
Dass nicht nur wir das so sehen, sondern auch die Länder den Entwurf ablehnen, haben Sie ja an dem einmütigen Votum der Länder erkennen können. Die „Frankfurter Rundschau“ schreibt dazu: 16:0 gegen die
Bundesjustizministerin! So etwas hat es noch nie gegeben!
({9})
- Wenn es nur um Eishockey ginge, wäre dieses Ergebnis
rechtlich folgenlos, Herr Kollege Hartenbach.
({10})
Der Entwurf der CDU/CSU und auch der des Bundesrates sehen eine maßvolle Erhöhung der Löhne für Strafgefangene vor, die aber immerhin bei 40 Prozent liegt,
und zwar in Kombination mit nicht monetären Maßnahmen. Mit diesem Kombinationsmodell tragen wir den
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls Rechnung, allerdings beschränken wir uns auf das von Verfassungs wegen gebotene Maß. Wir verhindern mit unserem Vorschlag den Abbau von Arbeitsplätzen in den
Justizvollzugsanstalten und halten die finanzielle Belastung der Länder in einem erträglichen Rahmen. Sie
würde nach unseren Vorstellungen bei nur etwa 40 Millionen DM liegen, während nach dem Entwurf der Regierungskoalition Mehrkosten in Höhe von über 230 Millionen DM auf die Länder zukommen.
Die Beratungen im Rechtsausschuss haben gezeigt,
dass die Regierungskoalition eingesehen hat, dass sie
nicht in der Lage ist, ihren Gesetzentwurf gegen die geschlossene Front der Länder durchzudrücken. Unsere
Hoffnung richtet sich deshalb jetzt auf das Vermittlungsverfahren.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Volker Beck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Götzer,
ich finde es verkehrt, wenn wir in dieser Debatte die notwendige Resozialisierung der Täter - damit hat Karlsruhe
sein Urteil begründet - gegen die berechtigten Interessen
der Opfer von Straftaten ausspielen.
({0})
Das ist der falsche Zungenschlag und nützt auch den Opfern nichts.
({1})
Wenn man für die Resozialisierung der Täter nichts
macht, weil man für die Verbesserung der Situation der
Opfer auch nichts tut - das ist die Bilanz Ihrer Rechtspolitik, die Sie 16 Jahre betrieben haben -, dann macht man
einen Riesenfehler. Die jetzige Regierungskoalition
macht genau das Gegenteil. Wir werden durch die Reform
des rechtlichen Sanktionensystems erstmals die Opferhilfe in diesem Land stärken.
({2})
Es ist in der Tat ein Skandal, dass die Finanzierung der
Opferhilfe, der Hilfe für traumatisierte Verbrechensopfer,
bisher keine rechtliche Grundlage in diesem Land hat.
({3})
Das werden wir ändern. Das hilft den Opfern tatsächlich.
({4})
Der Täter, der durch Resozialisierung dazu gebracht
wird, künftig keine Straftaten mehr zu begehen, und der
den Wert der Arbeit im Strafvollzug kennen und schätzen
gelernt hat,
({5})
der ist für die Gesellschaft und auch die potenziellen Opfer die beste Sicherheit. Herr Geis, reden Sie bitte nicht
die ganze Zeit dazwischen. Ich habe im Moment überwiegend das Wort im Parlament.
({6})
Der Stundenlohn von Strafgefangenen liegt gegenwärtig bei 1,72 DM. Karlsruhe ist 1998 der Geduldsfaden
gerissen und hat an die Adresse des Gesetzgebers gesagt:
Dieser Zustand ist nicht mehr haltbar. Die Koalition hat
also die Zahlen nicht ausgewürfelt. Wir setzen vielmehr
die Vorgaben des Verfassungsgerichtsurteils um. Der Vater des Urteils von 1998, der ehemalige Verfassungsrichter Kruis, hat gesagt: Eigentlich müsste das Niveau der Strafgefangenenentlohnung auf 20 Prozent
angehoben werden. Wir sind - mit Rücksicht auf die Finanzen der Länder - dieser Empfehlung nicht gefolgt und
haben mit unserem Vorschlag das Lohnniveau auf 15 Prozent angehoben. Wir haben einen moderaten Weg gewählt. Aber eines hat Kruis uns auf den Weg gegeben:
Zweistellig müsste die Erhöhung schon ausfallen. Damit
ist ganz klar: Der Gesetzentwurf, den die Union vorgelegt
hat, und leider auch der Vorschlag der Länder bewegen
sich nicht mehr auf der verfassungsrechtlich sicheren
Seite. Das ist bedauerlich. So können wir mit dem höchsten Gericht in unserem Lande nicht umgehen.
({7})
Die höhere Entlohnung der Gefangenen
({8})
- Herr Geis, ich lasse keine Zwischenfragen zu; es ist spät
genug; wir haben darüber lange im Ausschuss und mehrmals im Plenum diskutiert; Sie würden heute Abend auch
nichts dazulernen, wenn ich Ihre Zwischenfrage zuließe;
denn Sie wollen gar nichts dazulernen ({9})
bedeutet nicht, dass sie mehr Hausgeld zur Verfügung haben, um im Strafvollzug mehr einkaufen zu können. Darum geht es hier nicht. Deshalb geht auch das Argument
der Zweiklassengesellschaft an der Sache vorbei. Ich fand
die Vorstellung interessant, dass die Union jetzt von einer
klassenlosen Gesellschaft träumt. Zu Ende gedacht ließe
Ihr Vorschlag, Herr Götzer, dass wir keinem Gefangenen
etwas zahlen. Denn die Differenzierung zwischen denen,
die Arbeit haben, und denen, die keine haben, besteht
schon heute.
({10})
Wie können die Menschen lernen, dass die Arbeit, die sie
leisten, etwas wert ist, wenn sie dafür keine vernünftige
Entlohnung erhalten?
({11})
Meine Damen und Herren, die Entlohnung der Gefangenen dient aber auch den Opfern. Denn die Opfer, die
Wiedergutmachungsansprüche zivilrechtlicher Art gegen
die Täter stellen, können nur etwas bekommen, wenn die
Täter auch über Einkommen verfügen.
({12})
Deshalb ist es ganz entscheidend, dass sie Arbeit haben,
dass sie Geld verdienen, damit Wiedergutmachung an
die Opfer zahlen und ihre Schulden abzahlen können. Die
Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe hat festgestellt, dass drei Viertel der Strafgefangenen überschuldet sind. Wenn wir in dieser Situation nicht helfen, dass
sie durch Arbeit selber etwas ändern können, rutschen
diese Leute, wenn sie aus dem Strafvollzug kommen, erneut in die Kriminalität ab, weil sie keine Perspektive sehen, mit einem Leben in Legalität und frei von Straftaten
einen Weg zurück in die Gesellschaft mit neuen Startchancen zu finden.
({13})
Meine Damen und Herren, wir müssen auch an die
Kinder und Ehefrauen von Strafgefangenen denken. Es
handelt sich ja mehrheitlich um Männer; deshalb formuVolker Beck ({14})
liere ich es auch so. Denn die Angehörigen haben Unterhaltsansprüche. Diese gilt es zu realisieren. Auch diesem
Zweck dient der erhöhte Strafgefangenenlohn. Deshalb
ist der Vorschlag der Koalition ausgewogen. Er ist verfassungsrechtlich geboten.
({15})
Ich hoffe, dass die andere Seite des Hauses und auch
der Bundesrat sich im Vermittlungsausschuss auf unseren
Vorschlag zubewegen werden.
({16})
Es spricht jetzt der
Kollege Jörg van Essen für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich bin ganz sicher, dass der Vermittlungsausschuss zu einem anderen Ergebnis kommen
wird. Mit Interesse werde ich die Reden, die wir hier heute
Abend von den Vertretern der Koalition gehört haben,
dann, wenn wir dieses Ergebnis haben, nachlesen.
({0})
Denn dann wird die Koalition nämlich auf einmal bei einem Ergebnis zustimmen, das mit Sicherheit unter dem
liegen wird, was die Koalition hier heute vorschlug.
Ich bedauere es ganz außerordentlich, dass wir ein Gesetz verabschieden, von dem wir schon vorher wissen,
dass es so nicht in Kraft treten wird, weil das eine Art von
Gesetzgebung ist, die ich mir für den Bundestag gerade
nicht wünsche.
({1})
Ich denke, dass alle Gelegenheit gegeben wäre, zu einem Übereinkommen mit den Ländern zu kommen;
denn die Zeit drängt. Das Bundesverfassungsgericht hat
uns eine klare Frist gesetzt. Am 1. Januar des nächsten
Jahres muss eine Regelung stehen. Bei uns in der Fraktion
hat es - das will ich gar nicht verschweigen - eine heftige
Debatte gegeben. Viele der Argumente, die heute Abend
eine Rolle gespielt haben, haben auch Kolleginnen und
Kollegen in meiner Fraktion überzeugt. Sie haben sich für
eine deutliche Erhöhung der Gefangenenentlohnung ausgesprochen.
({2})
Ich selbst habe zu denen gehört, die dafür plädiert haben, den Ländern zu folgen. Für mich war die erste und
wichtigste Frage dabei, weil ich der Auffassung bin, dass
wir das, was uns das Bundesverfassungsgericht auferlegt,
auch umsetzen müssen: Ist das, was die Länder vorschlagen, verfassungsgemäß? Vom Kollegen Götzer ist ja hier
schon ausgeführt worden - ich denke, auch Frau Ministerin Schubert wird dazu gleich etwas sagen -, dass das
Bundesverfassungsgericht das, was die Länder beabsichtigen, ausdrücklich zulässt. Es macht nämlich klar, dass
den Vorgaben des Verfassungsgerichtes nicht nur durch
monetäre Leistungen, sondern auch durch andere Maßnahmen entsprochen werden kann. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt, der mir wichtig war, ist, dass wir zu
einer wirklichen Verbesserung für die Gefangenen kommen. Denn alles, was wir hier gehört haben - bessere Resozialisierung, bessere Unterhaltsleistungen und bessere
Leistungen an die Opfer -, wird illusionär, wenn die Wirklichkeit dazu führt, dass weniger arbeiten. Wenn die Arbeit in den Justizvollzugsanstalten so drastisch teurer
wird, wie es die Koalition vorschlägt, dann hat das zur
Konsequenz, dass wir in den Anstalten weniger Arbeit anbieten können.
Wenn einem der Gedanke der Resozialisierung wichtig ist - ich gehöre zu diesen Personen -, dann muss man
doch feststellen, dass der Nachweis von permanenter Arbeit und das Gewöhnen an die Prozesse von Arbeit, was
ja bei vielen Strafgefangenen vor ihrer Inhaftierung nicht
der Fall war, die besten Vorbereitungen auf die Freiheit
sind. Deshalb scheint mir der Weg, den die Länder gehen,
ein vernünftiger zu sein. Ich habe zwar das Gefühl, dass
die Position der Länder natürlich auch von monetären,
von finanziellen Gesichtspunkten beeinflusst ist. Ich
denke aber, dass, wenn man abwägt, der Weg der Länder so, wie sie ihn vorschlagen - ein Weg der Vernunft ist,
weil er möglichst viel Arbeit für die Strafgefangenen in
den Justizvollzugsanstalten erhält.
Ich komme zu meiner letzten Überlegung. Herr Beck
hat von den Opfern gesprochen und die wirklich abstruse
Behauptung aufgestellt, dass jetzt zum ersten Mal etwas
für Opfer getan werde. Wir haben - Gott sei Dank - in der
letzten Legislaturperiode unter dem Bundesjustizminister
Edzard Schmidt-Jortzig erhebliche Fortschritte in der
Frage der Opferentschädigung erzielt. Wenn ich vor der
Entscheidung stehe, wo Verbesserungen für mich den
Schwerpunkt haben sollten, dann muss ich sagen: bei den
Opfern. Es gehört auch zur Ehrlichkeit, zu sagen, dass wir
dann, wenn wir mehr Geld geben, immer noch unter den
Pfändungsfreigrenzen sind und es dann immer noch von
der Entscheidung der Strafgefangenen abhängt, ob die
Opfer tatsächlich mehr Geld bekommen.
({3})
Mir ist aber klar: Wenn der Strafvollzug teurer wird, dann
ist in den Länderhaushalten, insbesondere in den Justizhaushalten, weniger Geld für Opfer vorhanden. Auch das
macht meine Entscheidung leicht, mich für den Entwurf
der Länder auszusprechen.
Vielen Dank.
({4})
Jetzt hat die Kollegin
Ulla Jelpke für die PDS-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Ich meine, dass wir heute ein trauriges Kapitel der Strafvollzugsgeschichte erneut diskutieren. Herr
Stünker, bereits 1977, also vor genau 23 Jahren, als man
Volker Beck ({0})
die große Strafvollzugsreform hier im Hause verabschiedet hat, wurde eine Erhöhung der Gefangenenlöhne auf
40 Prozent des Tariflohns bis zum Jahr 1986 vorgesehen.
Schon damals haben Experten gesagt, dass es eigentlich
75 Prozent sein müssten. Auch die Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe sowie Justizvollzugsanstaltsleiter - die Strafgefangenen natürlich sowieso - fordern,
dass auf jeden Fall eine Erhöhung, die an den Tariflohn
heranführt, durchgesetzt werden müsste. Es gibt Anstaltsleiter, die davon sprechen, dass eine Entlohnung unter
20 Prozent verfassungswidrig ist.
({1})
Ich weise darauf hin, dass die Bundesrepublik hinsichtlich der Gefangenenentlohnung den neunten Platz
unter den europäischen Ländern einnimmt. Ich möchte
ebenfalls darauf hinweisen, dass wir in den vergangenen
Legislaturperioden immer wieder Anträge eingebracht
haben, die eine tarifliche Entlohnung der Gefangenen und
deren Einbeziehung in die gesetzlichen Renten- und
Krankenversicherung fordern. Diese Forderung ist bis
heute nicht annähernd erfüllt.
({2})
Auch wenn die SPD und die Grünen heute hier sagen,
dass sie einen verfassungsgemäßen Antrag einbringen
wollen, in dem sie gerade einmal 15 Prozent fordern, wird
das dem, was notwendig ist, nicht gerecht.
({3})
Ich will die einzelnen Anträge nicht noch einmal vorstellen; dazu reicht meine Zeit gar nicht. Einen Gedanken
will ich aber doch noch aufgreifen. Es geht hier darum,
den Gefangenen zu ermöglichen, mehr Schadenswiedergutmachung und Opferentschädigung zu leisten, als sie
es bisher können. Die meisten können es bisher gar nicht,
weil sie arbeitslos sind. Die Arbeitslosigkeit ist in deutschen Gefängnissen extrem hoch; das ist zweifellos richtig.
Der Resozialisierungsgedanke - der Kollege Beck hat
es schon erwähnt - ist meines Erachtens aber ganz wesentlich. Erst in der vergangenen Woche haben wir hier
über Verbrechensbekämpfung diskutiert. Es wird immer
wieder darüber geklagt, dass die Rückfallquote der Gefangenen sehr hoch ist. Resozialisierung bedeutet, Menschen in die Lage zu versetzen, ein neues Leben zu beginnen. Wenn Sie sich einmal anschauen, was der
Bundesrat fordert, nämlich dass den Gefangenen im Monat ein Lohn von 320 DM gezahlt wird - davon müssen
sie Tabak und alles Mögliche im Monat bezahlen -, dann
erkennen Sie: Davon bleibt so gut wie gar nichts übrig.
Das heißt, wenn die Entlassung ansteht, dann ist im
Grunde genommen überhaupt kein Geld vorhanden, um
das neue Leben straffrei zu führen. Mit einer solchen Entlohnung ist das Ansteigen der Rückfallquote vorprogrammiert. Das Herstellen von Lebensbedingungen mit Arbeit
und Wohnung ist nach dem Absitzen einer Strafe so gar
nicht möglich.
({4})
Ein weiterer Punkt kommt hinzu: Die meisten Gefangenen sind in der Tat - das Statistische Jahrbuch spricht
von Verbindlichkeiten in Höhe von 45 000 DM - hoch
verschuldet. Auch an diesem Punkt muss Hilfe geschaffen
werden. Es kann nicht angehen, dass man so ignorant mit
Strafgefangenen umgeht.
Frau Kollegin Jelpke,
Sie müssen zum Schluss kommen.
Ja, ich komme zum Schluss.
Noch etwas zu Ihnen, Herr Götzer: Ich halte Ihr Rechenbeispiel zu Arbeitsplätzen, die angeblich geschaffen
werden, indem man die Löhne niedrig hält, für absolute
Demagogie. Es gibt Möglichkeiten, mit mehr Initiativen
seitens der staatlichen Einrichtungen, aber auch durch
Werbung Arbeitsplätze in den Gefängnissen zu schaffen.
Das, was in den Gefängnissen gegenwärtig geschieht, ist
ein Skandal.
({0})
Es wird in den Gefängnissen auch keine Besserungen geben, wenn Sie es weiterhin so handhaben.
Frau Kollegin Jelpke,
bitte.
Einen Satz noch. - Ein Gefangener hat zu mir gesagt: Wie kann man Resozialisierung in
einer asozialen Umwelt erleben? Diese Frage stelle ich
auch Ihnen.
({0})
Das Wort hat die Justizministerin des Landes Sachsen-Anhalt, Karin Schubert.
Karin Schubert, Ministerin ({0}) ({1}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin über all das,
was von den einzelnen Fraktionen hier bereits gesagt worden ist, froh. An den Anfang meiner Rede möchte ich ein
ganz kleines Bonmot stellen: Herr Kollege Stünker, Sie
haben davon geredet, dass in den Anstalten um 22 Uhr das
Licht ausgeht. Ich kann mir vorstellen, dass alle hier heute
gerne um 22 Uhr das Licht ausgemacht hätten.
({2})
In den Anstalten wird nicht nur ohne Ende Licht gewährt;
man kann auch Kabelfernsehen, zum Beispiel den Kanal
Phoenix, empfangen. Vielleicht sehen uns die Insassen
heute Abend sogar.
({3})
Wir haben folgendes Problem: Die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung von 1998 hat angeprangert,
dass die jetzige Lösung der Gefangenenarbeitsvergütung
so nicht verfassungsgemäß ist. Man hat uns aufgefordert,
bis zum Jahresende eine Lösung für das Problem einer angemessenen Entlohnung der Gefangenen zu finden. Nach
der Entscheidung des Verfassungsgerichts muss diese Lösung nicht ausschließlich in monetären Maßnahmen bestehen; vielmehr hat man ganz bewusst offen gelassen,
wie eine angemessene Anerkennung von Gefangenenarbeit aussehen darf.
Vorgesehen ist eine Verdreifachung der Vergütung. Es
handelt sich nicht um eine Anhebung der jetzigen Vergütung um 15 Prozent, wie die Kollegin Jelpke eben gesagt
hat, sondern um eine Anhebung um 200 Prozent. Ich
möchte nicht die finanziellen Aspekte der Länder in den
Vordergrund stellen; denn nicht in erster Linie diese haben den Bundesrat bewogen, einen eigenen Gesetzentwurf einzubringen.
Wir haben uns überlegt, wie man die Verfassungswidrigkeit der jetzigen Anerkennung der Arbeit ausschalten
kann. Wir haben festgestellt, dass die realen Verhältnisse
hinter den Mauern, was die Arbeit von Gefangenen
angeht, leider nicht so aussehen, wie es das Strafvollzugsgesetz vorsieht. Richtigerweise wird der Arbeit der
Gefangenen ein hoher Resozialisierungsfaktor beigemessen. Wir wünschen uns, dass für jeden die §§ 37 und
41 des Strafvollzugsgesetzes umgesetzt werden. Es geht
darum, den Gefangenen Arbeit anzubieten, weil jeder Gefangene nach dem Strafvollzugsgesetz zur Arbeit verpflichtet ist.
Leider ist das Vorhandensein von Arbeitsmöglichkeiten für Strafgefangene nicht überall der Fall. In keinem Land der Bundesrepublik liegt die Beschäftigungsquote über 50 Prozent. Mit Beschäftigungsquote meine
ich nicht nur die wirtschaftlich ergiebige Arbeit, sondern
auch all die Verdrängungsmaßnahmen, die in Strafanstalten unternommen werden, um die Insassen überhaupt zu
beschäftigen. Ich denke an die so genannte wirtschaftlich
nicht ergiebige Arbeit, Hausarbeit usw., an Arbeitstherapie und auch an die Aus- und Fortbildungsverhältnisse.
All das wird bei der Beschäftigungsquote mitgezählt.
Trotzdem kommen wir nicht über 50 Prozent.
Wir haben darüber nachgedacht, wie man die Verfassungswidrigkeit im Bereich der Gefangenenarbeit, die
deswegen besteht, weil nur die Hälfte der inhaftierten Gefangenen Arbeit haben kann, so aufhebt, dass man allen
irgendetwas bietet. Das Bundesverfassungsgericht hat
uns hierfür den Weg vorgegeben. Wir müssen nicht rein
monetäre Maßnahmen vorsehen. Wir können auch nichtmonetäre Maßnahmen vorsehen. Das haben wir getan.
Man kann sich in der Tat Gedanken darüber machen,
ob die nichtmonetäre Maßnahmen, die wir jetzt vorsehen,
ausreichen. Der Weg zur Beratung hierüber ist ja vorgezeichnet: Im Vermittlungsausschuss können wir uns darüber Gedanken machen, wie wir beides kombinieren.
Bedenken Sie bitte, was heute richtigerweise angeklungen ist: Opfer wollen, dass ihr Schaden wiedergutgemacht
wird, Familien wollen ihren Unterhalt haben. Welches
Opfer hat es denn verdient, dass der Täter keine Arbeit bekommt? Dieses hätte dann überhaupt keine Chance auf
Entschädigung. Welche unterhaltsberechtigten Familienangehörigen hätten es denn verdient, dass nun gerade
das zu Unterhaltszahlungen verpflichtete Familienmitglied keine Arbeit hat? Hier liegt die große Schwierigkeit
bezüglich der Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Wir Länder haben gesagt: Die Möglichkeit, dass eine weitere Klage derer, die nicht in den Genuss irgendwelcher monetärer Maßnahmen kommen, erhoben wird, liegt auf der Hand.
Was macht man nun angesichts dieses Ganges zwischen Skylla und Charybdis? Eine angemessene monetäre
Leistung ist ganz bewusst vom Bundesverfassungsgericht
nicht vorgeschrieben worden.
({4})
Dort hat man sich nicht mit Zahlen befasst, weil man
wusste, wie die realen Verhältnisse sind. Man hat aber einen Hinweis auf das Strafvollzugsgesetz gegeben. Dort
sah man 1977 in der Tat eine Erhöhung von 5 Prozent auf
40 Prozent bis 1986 vor. Nun könnte man sagen, damit sei
ein Schlusspunkt erreicht. In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes steht aber drin, dass das nur bei
rein monetären Maßnahmen gilt, die im Gesetzentwurf
der Länder gerade nicht im Vordergrund stehen.
Zum einen steht die Frage im Raum, was vor dem
Bundesverfassungsgericht Bestand haben wird, zum anderen sind wir in Eile. Wir müssen noch in diesem Jahr einen Gesetzentwurf vorlegen, denn sonst befinden wir uns
ab 1. Januar 2001 im rechtsfreien Raum.
({5})
Das können wir uns nicht leisten; auch das wäre verfassungswidrig. Deshalb sollten wir alle uns Gedanken machen, wie wir damit umgehen, wie wir am Besten dem Gedanken der Resozialisierung gerecht werden können und
wie wir auch den Gefangenen zu einem einigermaßen
würdigen und der Resozialisierung dienenden Leben hinter Mauern verhelfen können.
Da meine Redezeit schon überschritten ist, möchte ich
nur noch einen Satz sagen: Wir haben festgestellt, dass die
Unternehmer, die uns jetzt Arbeit zu Löhnen, die das
Lohnniveau um über 50 Prozent unterschreiten, anbieten,
in Niedriglohnländer abwandern werden. Uns sind
schon entsprechende Hinweise gegeben worden. Das
würde bedeuten, dass noch weniger Gefangene in den Genuss von Anerkennung aufgrund einer angemessenen Arbeit kommen. Ich möchte Sie deswegen bitten, sich noch
einmal Gedanken zu machen, wie wir allen gleichermaßen helfen können.
Danke schön.
({6})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Parlamentarische Staatssekretär im
Bundesjustizministerium, Eckhart Pick.
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Es geht hier nicht um die Frage von Böse und Gut
Ministerin Karin Schubert ({0})
oder darum, wer mehr Lohn geben kann und wer nicht imstande ist, das zu tun. Es geht vielmehr um die Frage, wie
das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes angemessen
und adäquat umgesetzt werden soll. Dieses beinhaltet
auch die Abwägung der finanziellen Möglichkeiten der
Länder, verehrte Justizministerin des Landes SachsenAnhalt.
Wir müssen darüber entscheiden, ob wir uns in dem
Rahmen bewegen, den das Bundesverfassungsgericht
vorgegeben hat oder nicht. Es ist sicher richtig, dass vom
Bundesverfassungsgericht nicht nur die monetären
Leistungen zur Disposition gestellt worden sind und eine
Verbesserung dieser Leistungen angemahnt worden ist.
Nichtsdestoweniger ist die finanzielle Seite eine ganz
wichtige. Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass
der Entwurf der Koalitionsfraktionen, der sich auf die monetäre Seite beschränkt, den Maßstäben, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil gesetzt hat, gerecht
wird.
Wir haben den Eindruck, dass eine Erhöhung von 5 auf
7 Prozent der Bezugsgröße, flankiert von der Möglichkeit
einer Haftverkürzung von sechs Tagen pro Jahr Arbeit,
nicht ausreicht und damit der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts nicht entsprochen wird.
Ich denke, dass auch richtig ist, noch einmal darauf
hinzuweisen, dass man natürlich nicht so argumentieren
kann: Je höher die Gefangenenentlohnung ist, um so weniger Arbeit steht zur Verfügung. Dann müsste ja das umgekehrte Argument gelten: Je mehr die Gefangenenentlohnung gegen Null strebt, um so mehr Arbeit ist da, und
damit wäre den Gefangenen geholfen.
({1})
Auch diese Rechnung, Herr Kollege Geis, geht natürlich
nicht auf.
({2})
Deswegen geht es um die Frage, wie hoch angemessenes
Entgelt ist. Darüber kann man natürlich streiten.
({3})
Ich fand übrigens den Hinweis von Herrn van Essen
sehr ehrlich, der ja gesagt hat, dass dies in seiner Fraktion
sehr umstritten gewesen ist. Ich denke, das zeigt auch,
dass man sehr unterschiedlicher Meinung über diese
Frage sein kann.
({4})
Aber eines - das möchte ich doch am Schluss noch sagen - will mir gar nicht einleuchten. Sowohl in dem Entwurf des Bundesrates - da allerdings etwas zurückhaltender - als auch im Entwurf der CDU/CSU-Fraktion werden
bestimmte Gefangene ausgegrenzt,
({5})
bei Ihnen zum Beispiel die Untersuchungsgefangenen,
zum Beispiel die jungen Gefangenen. Ich denke, das ist
gerade der falsche Ansatz.
({6})
Gerade in den Bereichen der Jugendlichen, meine Damen und Herren, ist es erforderlich, dass diese jungen
Leute die Chance bekommen, den Wert der Arbeit zu erleben. Insofern habe ich persönlich kein Verständnis für
die Ausgrenzung gerade der Gefangenen, die besonders
den Wert der Arbeit erfahren müssen. Insofern denke ich,
das ist ein Webfehler, den man deutlich machen muss.
({7})
In einer etwas geringeren Form gilt das natürlich auch
für den Bundesratsentwurf, der ebenfalls nicht alle Gefangenen einbezieht. Insofern ist es meines Erachtens
wirklich wichtig, dass in dem Verfahren im Vermittlungsausschuss noch vor Ende des Jahres ein Ergebnis erzielt
wird.
({8})
Es wäre in der Tat blamabel für den Gesetzgeber, wenn an
seine Stelle schließlich die Gerichte mit unterschiedlichen
Wertungen treten müssten.
({9})
Ich finde, das sollte ein Argument sein, lieber Herr
Geis, dass wir uns alle anstrengen, einen Kompromiss zu
finden.
({10})
- Der Herr Geis verdient manchmal auch den Begriff
„lieb“,
({11})
insbesondere wenn er sich so verhält wie heute.
({12})
Deswegen denke ich, wir sind alle aufgerufen, an einem
Ergebnis mitzuwirken,
({13})
das dann zum einen den Forderungen des Bundesverfassungsgerichts entspricht, zum anderen aber auch dem,
was wir den Gefangenen und letztlich ebenso den Opfern,
finde ich, die ja mit diesen Mitteln auch Genugtuung erfahren können, schuldig sind.
Vielen Dank.
({14})
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar
zunächst zur Abstimmung über den von den Fraktionen
der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes, Drucksachen 14/3763 und 14/4622.
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung gegen die Stimmen von CDU/CSU
und F.D.P. bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie vorhin
angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entwurf eines
Gesetzes des Bundesrates zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes auf Drucksache 14/4452. Der Rechtsausschuss
empfiehlt auf Drucksache 14/4622 unter Buchstabe b, den
Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen.
- Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung gegen die Stimmen den Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
({0})
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung
des Strafvollzugsgesetzes auf Drucksache 14/4070. Der
Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4622 unter
Buchstabe c, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen der
CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der F.D.P.-Fraktion
abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung
auch hier eine weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Norbert
Hauser ({2}), Norbert Röttgen, Ilse Aigner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Sicherung der außeruniversitären interdisziplinären Grundlagenforschung in der Informations- und Kommunikationstechnik
- zu dem Antrag der Abgeordneten Maritta
Böttcher, Rolf Kutzmutz, Ursula Lötzer und
der Fraktion der PDS
Keine Fusion des GMD-Forschungszentrums für Informationstechnik und der
Fraunhofer-Gesellschaft ({3}) zulasten
der IuK-Grundlagenforschung
- Drucksachen 14/3097, 14/4037, 14/4373 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg Tauss
Norbert Hauser
Hans-Josef Fell
Cornelia Pieper
Angela Marquardt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Auch hier
kann ich Sie beglücken. Die Kolleginnen und Kollegen
Jörg Tauss, Norbert Hauser, Hans-Josef Fell, Ulrike
Flach, Maritta Böttcher sowie der Parlamentarische
Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen geben ihre Re-
den sämtlich zu Protokoll.1)
({4})
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung auf Drucksache 14/4373. Der Ausschuss empfiehlt
unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrages der Fraktion der CDU/CSU zur Sicherung
der außeruniversitären interdisziplinären Grundlagenfor-
schung in der Informations- und Kommunikati-
onstechnik, Drucksache 14/3097. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von
CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 2 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion der PDS mit dem Titel „Keine Fusion des GMD-
Forschungszentrums für Informationstechnik und der
Fraunhofer-Gesellschaft zulasten der IuK-Grundlagen-
forschung“, Drucksache 14/4037. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der
PDS-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi
Lippmann, Wolfgang Gehrcke, Dr. Gregor Gysi,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Transparenz und parlamentarische Kontrolle
bei Rüstungsexporten
- Drucksache 14/4349 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik für konventionelle Rüstungsgüter im
Jahr 1999 ({6})
Vizepräsidentin Petra Bläss
1) Anlage 6
- Drucksache 14/4179 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({8}) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Heidi Lippmann, Fred Gebhardt, Wolfgang
Gehrke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der PDS
Keine Lieferung von Panzern und anderen
Rüstungsgütern und Lizenzen an die Türkei
- Drucksachen 14/3004, 14/4487 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Ditmar Staffelt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kollegin-
nen und Kollegen Dr. Ditmar Staffelt, Erich Fritz sowie
Claudia Roth haben ihre Reden bereits zu Protokoll gege-
ben.1)
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die PDSFraktion hat die Kollegin Heidi Lippmann.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen. Meine Damen
und Herren! Welchen Stellenwert die Rüstungsexportpolitik in diesem Hause einnimmt, zeigt sowohl die mitternächtliche Stunde als auch die Tatsache, dass der Rüstungsexportbericht als Anhängsel zu zwei PDS-Anträgen
auf der Tagesordnung steht.
Ist dies Ausdruck der viel gepriesenen und lautstark geforderten Transparenz? - Wohl kaum. Vielmehr ist es der
Versuch, ein unliebsames Thema, das immer wieder zu
Koalitionsstreitigkeiten geführt hat, aus dem Rampenlicht
der Öffentlichkeit zu nehmen.
({0}))
Zur Abstimmung steht heute unser Antrag, keine Panzer und sonstigen Rüstungsgüter und Lizenzen in die
Türkei zu liefern. Was die mögliche Lieferung von
1 000 Panzern betrifft, ist dieses Thema zwar zumindest
vorübergehend auf Eis gelegt, doch nichtsdestotrotz ist es
skandalös, dass nach wie vor in großem Ausmaß Waffen
und Kriegsgüter, Lizenzen für Munition und vieles andere
geliefert werden, obwohl die Menschenrechtssituation
in der Türkei nach wie vor katastrophal ist.
({1})
Allein 1999 gingen 24 Prozent der deutschen Rüstungsexporte im Wert von 645 Millionen DM in die Türkei.
({2})
In dem „Regelmäßigen Bericht 2000 der Europäischen
Kommission über die Fortschritte der Türkei auf dem
Weg zum Beitritt“ vom 8. November dieses Jahres heißt
es unter anderem, dass sich, verglichen mit dem Vorjahr,
die Situation nicht grundlegend verbessert hat und die
Türkei lediglich „Grundmerkmale eines demokratischen
Systems“ aufweist. Zwar werde die Todesstrafe in der
Praxis nicht vollstreckt, „doch die Gesamtsituation bei
den Menschenrechten bleibt Besorgnis erregend. Folter
und Misshandlung sind noch lange nicht verschwunden“,
die „Haftbedingungen haben sich nicht verbessert“, es
kommt „regelmäßig zu Beschränkungen der Meinungs-,
Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit“. Die „Situation
bei den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten
hat sich nicht verbessert“ und die „Lage im Südosten, wo
die Bevölkerung vorwiegend kurdisch ist, hat sich nicht
wesentlich geändert“.
All dies ist bekannt und kann durch unzählige weitere
Berichte anderer Institutionen ergänzt werden. Doch
reicht es Ihnen, Kolleginnen und Kollegen, immer noch
nicht aus, daraus ein vollständiges Rüstungsexportverbot
abzuleiten.
({3})
Dieses ist insbesondere für Ihre Politik, liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen, ein Armutszeugnis.
({4})
Liest man den Rüstungsexportbericht 1999, dann wird
dies an vielen Beispielen deutlich: Während 1998 Rüstungsgüter im Wert von 1,34 Milliarden DM exportiert
wurden, waren es 1999 effektiv 2,84 Milliarden DM.
({5})
Das ist ein Anstieg von 117 Prozent.
Außerhalb der NATO und der EU lag Israel mit
940 Millionen DM an der Spitze. Das Geld wurde
hauptsächlich für U-Boote ausgegeben, für die sich Israel
anlässlich des kürzlichen Kanzlerbesuchs herzlich be-
dankte. Welchen Einfluss dieses Geschäft auf die ange-
spannte Lage im Nahen Osten hat, zeigt die Empörung in
den arabischen Staaten.
Alarmierend ist, dass Kleinwaffen und Munition in
zum Teil großer Menge an Staaten geliefert wurden, in de-
nen massive Menschenrechtsverletzungen nachgewie-
sen wurden, zum Beispiel an Ägypten, Georgien, Indien,
Indonesien, Iran, Kroatien, Südkorea, Mazedonien,
Nepal, die Philippinen, Sambia und Senegal. Missachtet
wurden sogar die Embargos bezüglich der Bundesre-
publik Jugoslawien, Äthiopien, Kroatien, Bosnien-Herze-
gowina und - last, not least - Sierra Leone.
Von den 1999 weltweit mindestens 100 000 in bewaff-
neten Konflikten getöteten Menschen starben nach Anga-
ben des Instituts für Strategische Studien 60 000 allein in
Bürgerkriegen südlich der Sahara. In drei Vierteln der
schwarzafrikanischen Länder wurden seit vergangenem
Oktober bewaffnete Konflikte ausgetragen, ein Großteil
mit deutschen Waffen.
Nicht erwähnt wird im Bericht die Ausfuhr von Elek-
troschockwaffen, einen beliebten Folterwerkzeug, oder
von Fesselwerkzeugen. Ebenso fehlen wichtige Bereiche
wie die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit, der
Transfer von Know-how, die Lizenzvergabepraxis in der
Vizepräsidentin Petra Bläss
2) Anlage 7
Rüstungskooperation und Exporte von zur militärischen
Nutzung geeigneten Dual-Use-Gütern.
In vielen Fällen fehlen Angaben zur Art der Rüstungsgüter, sodass man nur spekulieren kann, was im Wert von
13,2 Millionen DM nach Liechtenstein exportiert wurde
und wie der Endverbleib geregelt ist. Erwähnt werden
auch nicht die liefernden Firmen und die konkreten Empfänger, da die Geheimhaltungspflicht für Rüstungsgeschäfte natürlich wichtiger ist als Transparenz. Dieses beweist die Schieflage bei der Abwägung der Rechtsgüter
und macht deutlich, dass der Regierung Profit und Privateigentum wichtiger sind als Menschenrechte und Menschenleben - im Zweifelsfall zugunsten der Wirtschaft.
({6})
Ein aktiver Beitrag zum präventiven Schutz der Menschenrechte und zur Konfliktvermeidung wäre ein konsequentes Rüstungsexportverbot. Wir wissen, dass dieses
bei einem großen Teil des Hauses politisch nicht
durchsetzungsfähig ist. Doch wir hoffen, dass Sie wenigstens unseren Antrag zu mehr Transparenz und parlamentarischer Kontrolle bei Rüstungsexporten unterstützen
werden.
({7})
Eine Mitberatung in den Ausschüssen ist zwar keine
Garantie dafür, dass künftig auch nur eine Waffe weniger
geliefert wird. Doch es kann dann keiner mehr behaupten,
er habe von nichts gewusst.
({8})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Hildebrecht Braun.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese
Bundesregierung und insbesondere ihr grüner Teilhaber
verstricken sich immer mehr in Widersprüche.
({0})
Einerseits genehmigen sie die Lieferung einer Munitionsfabrik, andererseits wollen sie den Bau von Leopard-Panzern vor Ort verhindern. Nüchterne Beobachter der Szene
verstehen diesen Eiertanz nicht, was auch kein Wunder
ist, da die Akteure ihr eigenes Handeln selbst nicht verstehen.
Mit Munition für Kleinwaffen kann man die Opposition im eigenen Land, insbesondere ethnische Minderheiten, in der Tat niederhalten. Dies zu verhindern ist eines
der selbstverständlichsten Ziele der Bundesrepublik
Deutschland, deren Politik auf die Wahrung der Menschenrechte in Europa und überall ausgerichtet ist.
Lassen Sie mich eines in aller Klarheit sagen: Die
F.D.P. bleibt bei ihrer Grundhaltung, große Zurückhaltung bei Waffenexporten zu üben.
({1})
Wir alle wissen, dass mit Waffenlieferungen Kriege oft
erst ermöglicht oder verlängert werden. Die F.D.P. ist
auch weit davon entfernt, die Frage der Waffenexporte
primär unter dem Gesichtspunkt der Arbeitsplätze im eigenen Land zu sehen.
({2})
Diese stellen nur ein Argument unter mehreren dar, wobei
andere Argumente sehr wohl stärkeres Gewicht haben
können. So würden wir nie Minen produzieren wollen,
mit denen in anderen Ländern unendliches Elend angerichtet wird.
Nun aber zum Thema Leopard und Türkei. Wir plädieren für den Export dieser Panzer in die Türkei bzw. für
die Zustimmung zur Errichtung eines Leopard-Werkes in
der Türkei. Die Gründe:
Erstens. Mit dem Leo 2 werden Leoparden der ersten
Generation ersetzt, die wir bereits vor zehn Jahren dorthin
exportiert haben.
Zweitens. Wenn wir den Leoparden nicht liefern, dann
werden mit großer Freude die Franzosen, die Amerikaner,
die Ukrainer, die Kanadier oder wer auch immer liefern.
Drittens. Die Türkei soll im internationalen Rahmen
gestärkt werden, da sie in ihrer Region eine wichtige positive Rolle spielt. Sie kooperiert mit Israel und sorgt damit dafür, dass arabische Hardliner in der Region den
Friedensprozess nur in geringerem Umfange stören können.
({3})
Viel wichtiger erscheint uns aber, dass die Türkei bei allen Mängeln, die wir sehr wohl sehen, als ein laizistischer
Staat den Fundamentalisten des Irak und des Iran, aber
auch den Traditionalisten in Syrien ein Gesellschaftsmodell entgegenstellt.
({4})
Entscheidend ist für uns die neue geopolitische Lage,
die sich durch eine erhebliche Zahl von jungen Staaten im
südlichen Bereich der ehemaligen Sowjetunion auszeichnet, deren Bevölkerung ganz oder teilweise islamischen
Glaubensrichtungen angehört und die zum Teil auch eine
ethnische Nähe zur Türkei haben. Diese jungen Staaten
suchen Orientierung, suchen die Möglichkeit einer Anlehnung. Natürlich kommt das im Norden gelegene Russland nach den Erfahrungen der vergangenen 80 Jahre hierfür nicht infrage. Als Alternativen bleiben der Iran,
eventuell Afghanistan und eben die Türkei.
Wir Deutschen, wir Europäer müssen ein großes Interesse daran haben, dass diese jungen Staaten enge Beziehungen zur Türkei aufnehmen, die damit in ihrer Region
- und zwar weit in den asiatischen Bereich hinein - eine
völlig neue strategische Rolle übernehmen kann und soll.
Auch deshalb müssen wir die Türkei stark machen.
({5})
Rot-Grün fordert die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union, die auch wir Liberalen langfristig für
richtig halten. Es ist aber geradezu abenteuerlich, diesem
Staat eine nahe Zukunft in der EU zu signalisieren und
gleichzeitig die innerhalb der NATO selbstverständliche
Lieferung von Waffensystemen blockieren zu wollen.
({6})
Die Türkei ist seit Jahrzehnten ein verlässlicher Partner
in der NATO, der seine Aufgabe an den Dardanellen, aber
auch gegenüber den östlich angrenzenden Ländern immer
wahrgenommen hat. Wer die Türkei in der von Rot-Grün
beabsichtigten Weise brüskiert, schadet den deutschen
und den europäischen Interessen.
({7})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/4349 und 14/4179 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Wirtschaft und Technologie zu dem Antrag der
Fraktion der PDS mit dem Titel „Keine Lieferung von
Panzern und anderen Rüstungsgütern und Lizenzen an die
Türkei“, Drucksache 14/4487. Der Ausschuss empfiehlt,
den Antrag auf Drucksache 14/3004 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die
Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 a und 18 b auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2001 ({0})
- Drucksache 14/4299 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Kutzmutz, Dr.Christa Luft, Ursula Lötzer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
ERP-Sondervermögen für Mittelstandsförderung erhöhen
- Drucksache 14/4556 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen.
Die Kolleginnen und Kollegen Dr. Sigrid Skarpelis-
Sperk, Dagmar Wöhrl, Hans-Josef Fell, Gudrun Kopp
und Rolf Kutzmutz sowie der Parlamentarische Staatsse-
kretär Siegmar Mosdorf haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben.1). - Auch hier sehe ich Einverständnis im gesamten Haus.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/4299 und 14/4556 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Hier gibt es keine anderweitigen Vorschläge. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martin Mayer ({3}), Bernd
Neumann ({4}), Sylvia Bonitz, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Sachgerechter Schutz der Rechte für Software
- Drucksache 14/4384 -
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen.
Die Kolleginnen und Kollegen Hubertus Heil, Dirk
Manzewski, Margareta Wolf und Angela Marquardt so-
wie der Parlamentarische Staatssekretär Professor
Dr. Eckhart Pick haben ihre Reden bereits zu Protokoll ge-
geben2).
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Martin Mayer.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Anlass für den Antrag und die
heutige Debatte ist die Diplomatische Konferenz zur
Revision des Europäischen Patentübereinkommens, die
vom 20. bis 29. November dieses Jahres in München
stattfindet. Dabei ist vorgesehen, Programme für Datenverarbeitungsanlagen, also Software, aus der Ausnahmevorschrift Art. 52 Abs. 2 des Europäischen Patentübereinkommens zu streichen und damit die Tür für weitere
Möglichkeiten der Patentierung von Software aufzumachen.
In ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der F.D.P. behauptet die Bundesregierung zwar, dass diese Streichung
die gegenwärtige Rechtspraxis eigentlich gar nicht
berühre, weil auch die bisherige Regelung die Patentierung von Software nicht ausschließe. Diese Meinung teile
ich nicht; denn die Streichung der Software aus der Ausnahmevorschrift könnte sehr wohl ein Signal für die Gerichte sein. Als Folge könnte eine unabsehbare Ausweitung der Patentierungsmöglichkeiten bei Software
eintreten. Eine zentrale Frage für die Zukunft der Informationsgesellschaft kann aber nicht durch Richterrecht
entschieden werden. Hier muss der Gesetzgeber tätig werden.
({0})
Hildebrecht Braun ({1})
1) Anlage 8
2) Anlage 9
Software im weiteren Sinne ist nach der Lexikondefinition der nicht gerätemäßige Teil einer Datenverarbeitungsanlage wie Programme und Daten. Im engeren Sinne
werden darunter allerdings nur die Programme verstanden. Der Antrag und meine Rede beziehen sich ausschließlich auf die Programme. Dabei ist mir bewusst,
dass es bei den Daten, also den Inhalten, beim Schutz der
Rechte gegenwärtig noch größere Herausforderungen
gibt als bei der Programmsoftware, um die es heute geht.
Unsere Fraktion hatte dazu heute eine Anhörung.
Computersoftware bestimmt den technischen Fortschritt in unserer Informationsgesellschaft maßgeblich
mit. Sie begegnet uns im Alltag oft unmerklich auf Schritt
und Tritt: vom Computer und vom Telefon bis hin zum
Auto und zur Waschmaschine. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Die Software dringt
mehr und mehr in Produktionsprozesse, Dienstleistungen
und Konsumgüter ein.
Dieser technische Fortschritt ist natürlich nicht umsonst zu haben. Der Aufwand der Softwareentwicklung
wird nur dann betrieben, wenn er sich für den Entwickler
und die Firma lohnt. Dass er sich lohnt, wird im Allgemeinen durch Schutzrechte gesichert. Für mich lautet daher nicht die Frage, ob Software geschützt werden muss;
diese Frage wird fast jeder mit Ja beantworten. Die Frage
ist vielmehr, mit welchem Rechtsinstrument Software angemessen geschützt werden kann.
Heute unterliegt Software automatisch dem Urheberschutz. Zum Teil ist bestimmte Software auch patentierbar. Das Urheberrecht, das ursprünglich zum Schutz von
schriftstellerischen und künstlerischen Werken geschaffen wurde, schützt allerdings nicht die Idee, die hinter einer bestimmten Software steckt, sondern nur den Wortlaut
des jeweiligen Programms. Es schützt damit nicht vor der
Verwendung gleicher Befehlsformen durch andere, sofern
diese keine Kopie sind. Das ist ähnlich wie bei schriftstellerischen Werken. Das Urheberrecht schützt den Softwareentwickler damit nur unzureichend.
Auf der anderen Seite steht der Patentschutz, der unter bestimmten Voraussetzungen auch in Deutschland bei
Softwareprogrammen Anwendung findet. Programme
müssen, um patentierbar zu sein, den generellen Anforderungen eines Patentschutzes genügen; das heißt, die Technizität und die Erfindungshöhe müssen erfüllt sein.
Der Patentschutz billigt dem Erfinder ein Ausschließungsrecht zu. Dadurch, dass kein anderer seine Erfindung, das heißt sein Programm, benutzen darf und auch
keine ähnlichen Produkte zugelassen werden, würde der
technische Fortschritt, so befürchten die Kritiker, nicht
gefördert, sondern gehemmt.
In den USA kann Software auch dann patentiert werden, wenn ihr lediglich ein Algorithmus, das heißt eine
Rechenregel, oder eine Geschäftsidee zugrunde liegt. Die
Regelung in den USA birgt die Gefahr in sich, dass einfache Befehlsfolgen, sofern sie die übrigen Bedingungen erfüllen, patentiert werden können.
Für Einzelprogrammierer und Kleinbetriebe wird es
dann immer schwieriger, bei allen verwendeten Programmbausteinen zu überprüfen, ob sie bereits dem Patentschutz unterliegen. Deshalb wird nicht zu Unrecht befürchtet, dass die Ausweitung der Möglichkeiten des Patentschutzes auf alle Softwareprodukte zu einem Erliegen
der Arbeit freier Programmierer führt und Softwareherstellung nur noch in großen Weltunternehmen mit entsprechenden Rechtsabteilungen möglich ist.
({2})
Der größte Widerstand gegen eine Ausweitung der
Möglichkeiten der Patentierung von Software kommt gegenwärtig von der Open-Source-Bewegung. Die OpenSource-Bewegung ist ein Netzwerk von Softwareprogrammierern, die den Quellcode ihrer Programme für
andere offen legen und kostenlos ins Netz stellen.
Für die Weiterentwicklung ist dann Bedingung, dass
auch die Neuentwicklung mit offenem Quellcode und
kostenlos ins Netz gestellt wird. Jeder kann so die entwickelte Software kostenlos aus dem Netz beziehen. Die
Entlohnung der Softwareentwickler soll dann nicht durch
den Verkauf der Programme, sondern durch die Anpassung der Software an den konkreten Bedarf von Nutzern
erzielt werden.
Das Geschäftsmodell von Open-Source-Software
trägt zum Teil sozial-romantische Züge. Ob und in welcher Form es sich durchsetzt, wird die Zukunft zeigen.
Tatsache ist aber, dass aufgrund dieses Konzepts der
freien Verfügbarkeit des Programmtextes besonders in
Deutschland eine innovative Softwareindustrie entstehen
konnte. Auf dem bislang von Microsoft dominierten Feld
der Betriebssysteme hat Linux als Open-Source-Betriebssystem eine echte Alternative gebracht. Die Bundesregierung muss daher dafür Sorge tragen, dass die OpenSource-Bewegung nicht durch eine Ausweitung der
Patentierbarkeit von Software behindert oder gar abgewürgt wird.
({3})
Das gilt auch auf EU-Ebene, wo gegenwärtig an einem
Vorschlag für eine Richtlinie zur Softwarepatentierung
gearbeitet wird.
Die Frage, wie Rechte von Softwareentwicklern geschützt werden, ist kein Randthema, sondern eine zentrale
Frage im Informationszeitalter. Es geht letztlich um den
Lohn für die Arbeit von Softwareprogrammierern und das
Eigentum an Programmen. Eigentum wird vom Grundgesetz ausdrücklich geschützt. Eigentum verpflichtet aber
auch: „Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Der Schutz der Rechte für Software
muss deshalb so gestaltet sein, dass die Softwareentwickler einerseits die Früchte ihrer Arbeit ernten können, aber
andererseits das Ergebnis ihrer Arbeit auch dem Wohl der
Allgemeinheit dient. Der Rechtsschutz für Software darf
deshalb den Fortschritt nicht behindern, sondern muss ihn
fördern.
({4})
Er darf auch nicht zur ungerechtfertigten Behinderung
von einzelnen Softwareentwicklern und kleinen Unternehmen führen.
Dr. Martin Mayer ({5})
Die Tatsache, dass sich Linux in Europa und nicht etwa
in den USA entwickelt hat, kann als Beweis dafür gewertet werden, dass das Ausmaß der Möglichkeit, Software
zu patentieren, einen beachtlichen Einfluss auf die Entwicklung von Software in einem Land hat. Aus dieser Erfahrung lässt sich auch der Schluss ziehen, dass ein optimaler Softwareschutz noch günstigere Bedingungen für
Wettbewerb und Fortschritt schaffen würde. Ob eine bessere Anpassung des Schutzes von Software an die Erfordernisse von Eigentumsschutz und Fortschrittsförderung
im Patentrecht, im Urheberrecht oder in einer eigenen Kategorie erfolgen kann, muss noch diskutiert werden. Bei
dieser Diskussion müssen Gegenstand, Umfang und Art
des Schutzes ebenso auf den Prüfstand wie die Laufzeiten, die viel zu lang erscheinen. Bei Patenten betragen sie
20 Jahre. Das Urheberrecht hat bis 70 Jahre nach dem Tod
des Urhebers Geltung.
In Ihrer Antwort auf die bereits zitierte Anfrage der
F.D.P. sagt die Bundesregierung zu einem Begehren auf
Änderung der Laufzeit von Patenten, das sei nicht möglich, weil im WTO-Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte geistigen Eigentums, WTO-TRIPS-Übereinkommen, 20 Jahre festgelegt seien.
Wer so argumentiert, der hat schon verloren; der hat
schon aufgegeben, bevor das Spiel beginnt. Er ignoriert
vor allem, dass es auch in anderen Ländern, vor allem in
den USA, eine Diskussion darüber gibt, für welche Art
von Software die Patentierung als Schutz der Eigentumsrechte geeignet ist. Ich nenne hier Robert Young von
Red Hat - er spricht in gewisser Weise in eigener Sache -,
aber auch Nicolas Negroponte vom MIT, die beide eine
sehr kritische Haltung zur gegenwärtigen Ausgestaltung
der Schutzrechte für Software in den USA einnehmen.
Wenn es uns also wirklich darum geht, welche Rechte
nun für einen speziell auf die Software zugeschnittenen
Schutz am besten geeignet sind, dann muss eine Grundsatzdebatte geführt werden. Ein erster Schritt dazu wäre
eine Vorlage der Bundesregierung, in der die Grundlagen
dargelegt werden, wie es in dem Antrag gefordert wird.
Dann muss ein intensiver internationaler Dialog zwischen
den Fachleuten und den Politikern geführt werden.
Eine grundlegende Frage wie die Grenze zwischen Eigentumsrechten und Sozialpflichtigkeit des entscheidenden Produktionsfaktors im Informationszeitalter kann
nicht durch einsame Entscheidungen eines Richters beantwortet werden. Sie muss vielmehr zuerst in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert werden. Deshalb habe ich
heute einmal eine Rede zu diesem Thema im Deutschen
Bundestag gehalten; denn es ist besser, zu später Stunde
über dieses Thema zu reden, als gar nicht.
({6})
Die Frage muss in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert
und dann von den gewählten Parlamentariern entschieden
werden.
({7})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Nach der Grundsatzrede von Herrn
Dr. Mayer kann ich mich relativ kurz fassen. Der Antrag
der CDU/CSU zum sachgerechten Schutz der Rechte für
Software mag auf den ersten Blick ganz überzeugend
klingen. Als ich ihn das erste Mal gelesen habe, fand ich
ihn recht eingängig.
Ich muss jedoch sagen, dass dieser Antrag in den Ausschussberatungen noch einmal sehr gründlich überarbeitet werden muss;
({0})
denn in der Zielrichtung, Softwareprogramme, insbesondere aus dem mittelständischen Bereich, besser als bisher
zu schützen, sind wir uns sicherlich einig. Aber diese Probleme sind - das haben Sie deutlich gemacht - national
nicht lösbar.
Wir haben heute ein so genanntes gespaltenes Schutzrechtssystem: Wir haben zunächst für die technischen
Programme den Patentschutz und für den eigentlichen
Softwarebereich den Urheberrechtsschutz. Es klingt sicherlich gut, de lege lata einen wirksamen immateriellgüterrechtlichen Schutz von Computerprogrammen durch
die Schaffung eines dritten Rechtsschutzbereichs zu gewährleisten.
Dem stehen aber die gesamten internationalen Übereinkommen entgegen; denn diese sehen einen solchen
dritten Rechtsschutzbereich nicht vor. Wir müssen also
versuchen, uns in diesem internationalen Schutzbereich
zu bewegen. Hierbei müssen wir sehen, dass der reguläre Urheberrechtsschutz von Computerprogrammen in
Art. 10 des TRIPS-Abkommens und in der EG-Softwarerichtlinie geregelt ist. Der ergänzende Patentschutz
technischer Programme ergibt sich aus Art. 52 Abs. 2 c
des Europäischen Patentübereinkommens - Sie haben es
zitiert - und mittelbar auch aus Art. 27 Abs. 1 des TRIPSAbkommens.
Was ich juristisch etwas trocken ausdrücken wollte,
war: Wir müssen international miteinander verhandeln.
Wir müssen die Beispiele aus den USA, die Sie eben genannt haben, betrachten. Wir müssen die Schlussfolgerungen aus internationalen Übereinkommen finden. Das
ist völlig richtig. Man kann sicherlich auch über die Frage
sprechen, ob nun 20 Jahre oder eine kürzere Zeit angemessen sind. Aber wir müssen uns, wenigstens noch zurzeit, im internationalen Bereich so bewegen, wie wir die
Abkommen auch in diesem Hause mit beschlossen haben.
({1})
Wir teilen mit Ihnen die Auffassung, dass der Schutz
der Rechte von Programmierern und Unternehmen so gestaltet sein muss, dass diese die Früchte ihrer Arbeit auch
ernten können, und dass die mittelständischen Unternehmen auf diesem Gebiet nicht durch große Konzerne gefährdet werden dürfen.
({2})
Deswegen hat die F.D.P. - bereits einen Monat vor Ihrer Aktivität - einen entsprechenden Antrag in Form einer
Dr. Martin Mayer ({3})
Kleinen Anfrage eingebracht. Diese ist von der Bundesregierung, wie ich meine, richtig beantwortet worden. Wir
werden jetzt anhand der Antwort auf unsere Kleine Anfrage sowie aufgrund Ihres Antrages im Bundestag und
natürlich anschließend im Rechtsausschuss mit Ihnen
hierüber beraten.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aus-
sprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage
auf Drucksache 14/4384 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Kultur und Medien sowie zur Mitbera-
tung an den Rechtsausschuss, den Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für die Ange-
legenheiten der Europäischen Union und den Haushalts-
ausschuss zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige
Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Über-
weisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:
20 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Meckel, Uta Zapf, Peter Zumkley, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Friedrich Merz, Michael Glos und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Angelika
Beer, Kerstin Müller ({0}), Rezzo Schlauch und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie
der Abgeordneten Dirk Niebel, Günther Friedrich
Nolting, Dr. Wolfgang Gerhardt und der Fraktion
der F.D.P.
46. Plenartagung der Parlamentarischen Versammlung der NATO ({1}) vom
17. bis 21. November 2000 in Berlin
- Drucksache 14/4601 -
Beschlussfassung
b) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Europäische Sicherheit und NATO
- Drucksache 14/4598 -
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen.
Die Kolleginnen und Kollegen Angelika Beer, Ulrich
Irmer und Wolfgang Gehrcke haben ihre Reden bereits zu
Protokoll gegeben1).
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPDFraktion hat der Kollege Markus Meckel.
Verehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu später Stunde wol-
len wir uns im Bundestag daran erinnern, dass ab morgen
die Parlamentarische Versammlung der NATO hier in
Berlin tagt. Es ist das zweite Mal nach dem Jahr 1990,
nach einer völlig veränderten Situation in Europa. Dies
haben wir zum Anlass genommen, parteiübergreifend ei-
nen Antrag einzubringen, der uns heute vorliegt und den
wir diskutieren wollen.
Ich möchte nun nicht die verschiedenen Aussagen die-
ses Antrages, die ja grundsätzlichen Charakter haben, im
Einzelnen diskutieren. Ich möchte aber doch daran erin-
nern, dass die Parlamentarische Versammlung der NATO
ein ganz wesentliches Forum ist, schon aufgrund der Tat-
sache, dass sie unmittelbar nach 1990 Parlamentarier der
Staaten Ost- und Mitteleuropas als assoziierte Mitglieder
und Beobachter aufgenommen hat.
Seit zehn Jahren wird in der Versammlung eine ge-
samteuropäische und gleichzeitig transatlantische Dis-
kussion geführt. Das Forum war deshalb ungeheuer wich-
tig, weil es durch diese unmittelbaren Kontakte von
Parlamentariern aus ganz Europa, nicht nur der NATO-
Staaten, sondern auch der anderen Staaten des früheren
Ostblocks, möglich war, Fragen der Sicherheit zu disku-
tieren und zu oft ähnlichen Positionen - bei gewiss auch
unterschiedlichen Vorstellungen - nach und nach zu ähn-
lichen Positionen zu kommen. Wir haben wesentliche
Fragen diskutiert, die für unsere europäische Sicherheit
eine wichtige Rolle spielen. Wir werden dies auch bei der
Versammlung in Berlin tun.
Wir haben zum Beispiel verschiedene Berichte über
die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik,
über die wir miteinander reden wollen und müssen. Wir
können feststellen, dass wir da in den letzten anderthalb
Jahren unglaublich vorangekommen sind. Niemand hätte
vor fünf Jahren geglaubt, dass das so schnell möglich ge-
wesen wäre. Das ist natürlich auch eine Folge des Einsat-
zes der NATO im Kosovo und der Erfahrung, dass wir Eu-
ropäer dabei nicht so wahnsinnig gut ausgesehen haben -
sowohl in Bezug auf die Art und die Dimension unserer
Beteiligung als auch in Bezug auf die Entscheidung über
die Art der Luftangriffe, bei der man durchaus manche
Frage stellen konnte.
Hier werden wir wesentlich vorankommen. Es ist deut-
lich geworden, dass sich allein im Laufe dieses Jahres
manche - auch manche skeptische - Position der Ameri-
kaner verändert hat. Heute gibt es in Amerika mehr Ak-
zeptanz in diesem Bereich. Auch gibt es eine klarere Ab-
stimmung zwischen den europäischen Initiativen, der
NATO und den europäischen Nicht-EU- bzw. -NATO-
Staaten. Das heißt: Hier ist in den letzten zwölf Monaten
eine ganze Menge Arbeit geleistet worden.
Eine andere wesentliche Frage, mit der wir uns be-
schäftigen werden, sind die amerikanischen Pläne für eine
nationale Raketenverteidigung. Wir wissen, dass es
dazu noch großen Diskussionsbedarf gibt und dass sich
die USA wegen technischer Probleme eine endgültige
Entscheidung vorbehalten haben. In Bezug auf konkrete
Akzentuierungen wird einiges davon abhängen, welcher
der beiden Präsidentschaftskandidaten ein paar Hundert
Stimmen mehr hat und Präsident wird. Der Trend in Ame-
rika geht aber klar dahin, dieses Projekt umzusetzen. In
diesem Zusammenhang wird noch über einiges zu disku-
tieren sein.
Für uns ist wichtig - dies ist sowohl in Berichten als
auch in Resolutionsentwürfen enthalten -, über dieses
1) Anlage 10
Problem gemeinsam in der NATO zu diskutieren und uns
über die Konsequenzen hinsichtlich der Proliferation von
Massenvernichtungsmitteln Gedanken machen. Wir
müssen fragen, welche Gefahren mit einem Wettrüsten
verbunden sind. In diesem Zusammenhang stehen nicht
nur das Verhältnis zu Russland sowie der Bestand des
ABM-Vertrages zur Debatte, sondern auch die Frage, wie
Staaten wie etwa Indien oder China auf ein solches Wettrüsten reagieren. In diesem Zusammenhang besteht
durchaus die Gefahr einer Aufrüstung. Die Frage, was uns
wirklich sicherer macht, ist ein zentrales Problemfeld. Die
Europäer haben sehr viel Zurückhaltung und Skepsis gegen diese Pläne zum Ausdruck gebracht, aber bisher noch
keine wirklich abgestimmten Positionen eingenommen.
An der geplanten Parlamentarischen Versammlung der
NATO wird auch eine Delegation der Duma teilnehmen.
Ich denke, das ist ein ganz wesentlicher Aspekt. Nachdem
Vertreter der Duma nach dem Kosovo-Krieg nicht an solchen Versammlungen teilgenommen haben, wird die
Duma nun das erste Mal wieder eine Delegation schicken.
In der Zwischenzeit war eine Delegation des Föderationsrates anwesend, sodass der Dialog zwischen der NATO
und Russland auch in dieser Zeit fortgeführt worden ist.
Es ist aber wichtig, dass wir mit den Parlamentariern der
Duma die Diskussion weiterführen, und zwar durchaus
auch vor dem Hintergrund unterschiedlicher Perspektiven. Denn es ist immer gut, durch gemeinsame Gespräche
Sicherheit zu schaffen; denn eines wissen wir alle: Ohne
Russland wird es eine europäische Sicherheit von dauerhaftem Bestand nicht geben.
Obwohl es heute noch kein aktuelles Thema ist, wird
nach dem Abschluss der amerikanischen Präsidentschaftswahl unter dem neuen Präsidenten die Frage der
Öffnung der NATO wieder auf dem Prüfstand stehen. Es
gibt eine Vereinbarung, bis zum Jahre 2002 zu neuen Entscheidungen zu kommen. Die Versammlung der Parlamentarier der NATO war im nordatlantischen Dialog das
Gremium, das sich auch in den vergangenen Jahren
intensiv für eine Öffnung der NATO eingesetzt hat; wir
haben heute drei neue Mitglieder. Die Parlamentarierversammlung setzt sich dafür ein, den Prozess der
Öffnung fortzusetzen. Ich glaube, das ist richtig und angemessen, weil sowohl die Fortsetzung der Bemühungen
um Öffnung als auch die Kooperation mit Russland zu
den Säulen einer künftigen europäischen Sicherheit
gehören.
Ich will als Letztes kurz das Problem eines gemeinsamen Engagements in Bosnien und im Kosovo ansprechen. Für das Kosovo ist das ganz aktuell: Wir haben nach
dem Sturz Milosevics in Serbien einen wesentlichen Erfolg erreicht. Unter der Bezeichnung „wir“ verstehe ich
natürlich zuallererst die Serben, das heißt die Demokraten
in Serbien und das serbische Volk. Ich denke, für uns als
Europäer in einer euro-atlantischen Allianz entsteht dadurch ein Vorteil. Denn das letzte Bollwerk einer Diktatur
im Zentrum Europas ist überwunden worden.
Aber unsere Aufgaben bleiben natürlich weiterhin
groß. Es sind nicht nur Aufgaben, die die NATO zu bewältigen hat. Gerade ein Fortschritt in der zivilen Entwicklung dieser Region ist von besonderer Bedeutung.
Aber eines ist auch klar: Ohne eine Präsenz der NATO
wird der Prozess einer zivilen Entwicklung nicht vorankommen. Wir sollten uns dessen bewusst sein und deutlich feststellen, dass im Kosovo eine langfristige NATOPräsenz nötig sein wird, um dort eine friedliche
Entwicklung gewährleisten zu können. Wir sollten in aller
Deutlichkeit sagen - wir sind froh, dass eine große amerikanische Delegation an der Versammlung teilnehmen
wird -, dass wir künftig im Kosovo auch die amerikanische Präsenz brauchen. Wir sollten uns gemeinsam verpflichten, diesen Friedensprozess durch die Präsenz der
NATO und der KFOR abzusichern.
Ich möchte meine Rede schließen, indem ich die Hoffnung äußere, dass wir gerade in der Form der Kommunikation, wie sie in der Versammlung stattfindet, sehr deutlich machen, dass Sicherheit nicht mehr national zu
gewährleisten ist, sondern nur noch in Absprachen zwischen der Allianz, mit einer weiteren Integration und einer verbindlichen Kooperation mit den Staaten Osteuropas, mit Russland und mit der Ukraine. Dafür sind
Grundlagen geschaffen und dies gilt es zu implementieren. Wir müssen weiterhin miteinander reden und streiten,
weil dies die Grundlage für Sicherheit in Europa ist, die
wir miteinander verbindlich gewährleisten müssen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Letzter Redner in dieser Debatte und am heutigen Tag ist der Kollege Karl
Lamers für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Kollege Markus Meckel hat Recht,
wenn er sagt, dass die NATO als Lichtgestalt sicherlich
auch das Licht einer Tagesdiskussion verdient hätte, insbesondere im Hinblick auf die Parlamentarische Versammlung, die morgen hier in Berlin stattfindet. Aber ich
glaube, die NATO überstrahlt auch so das Dunkel dieser
Nacht.
({0})
Die Parlamentarische Versammlung der NATO, das
NATO-Parlament, wird am kommenden Wochenende
hier in der deutschen Hauptstadt Berlin ihre 46. Plenartagung abhalten. Dies geschieht zehn Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands.
Zehn Jahre sind auch vergangen, seit die NATO-Partner auf dem Londoner Gipfel im Juli 1990 den ehemaligen Gegnern des Warschauer Paktes die ausgestreckte
Hand der Freundschaft anboten. Zehn Jahre ist es auch
her, dass dem vereinigten Deutschland in den so genannten Zwei-plus-vier-Verhandlungen das Recht zugestanden wurde, seine Bündniszugehörigkeit frei zu bestimmen. Neun Jahre sind vergangen, seit die NATO 1991 den
Nordatlantischen Kooperationsrat gründete und die ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten sowie die Nachfolgestaaten der Sowjetunion als Kooperationspartner aufnahm.
Die Kooperation der NATO im Nordatlantischen Kooperationsrat, im Programm „Partnership for Peace“, im
NATO-Russland-Rat und in der NATO-Ukraine-Kommission ist seither zentraler Punkt der Außenpolitik der
Bündnispartner. Heute, zehn Jahre nach dem Beginn dieser Politik, können wir sagen, dass die Gräben der Konfrontation, die in 40 Jahren Kalten Krieges entstanden waren, eingeebnet wurden. Europa ist heute - zum Glück weitgehend frei von den alten Klischees des FreundFeind-Denkens.
({1})
Die 1990 und 1991 oft gehörte Meinung, nicht nur der
Warschauer Pakt, sondern auch die NATO müsse aufgelöst werden,
({2})
wird heute nurmehr noch von den Unbelehrbaren der PDS
vertreten und artikuliert.
({3})
- Ich freue mich, wie lebendig Sie noch zu dieser späten
Stunde sind. Großartig! - Die Geschichte ist zum Glück
darüber hinweg gegangen. Denn die NATO hat gezeigt,
dass sie mit ihrer Stabilitätspolitik und dem von ihr gesicherten Stabilitätsraum unverzichtbar für den Weltfrieden
ist.
({4})
Ja, viele Länder möchten nach wie vor möglichst schnell
unter den Schutzschirm der NATO kommen und ich
meine, sie alle haben einen guten Grund. Sie haben auch
nichts gegen den Stabilitätsexport. Denn das ist es, was
viele Länder seit 1990 wollen: innere und äußere Stabilität, um in Frieden und Freiheit leben zu können.
({5})
Auf zwei weitere Entwicklungen seit 1990/91 möchte
ich hinweisen:
Erstens. Die NATO nahm auf ihrem Jubiläumsgipfel in
Washington im Jahre 1999 die am weitesten fortgeschrittenen Reformstaaten des ehemaligen Ostblocks als
gleichberechtigte Mitglieder auf: Polen, die Tschechische
Republik und Ungarn. Gleichzeitig beschloss sie, dass die
Tür für weitere Mitglieder offen bleiben soll und muss.
Zweitens. Die NATO griff im Auftrag der Vereinten
Nationen zweimal auf dem Balkan ein: zum einen in die
laufenden Bürgerkriegsauseinandersetzungen in Bosnien-Herzegowina und zum anderen im Kosovo, um die
ethnischen Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen zu beenden sowie Frieden und Wiederaufbau
voranzubringen. Dies sind die ersten Out-of-area-Einsätze des Bündnisses gewesen.
Die SED-Nachfolgepartei PDS behauptet in ihrem Antrag,
({6})
dies sei „militärisch gestützte Machtpolitik“ gewesen.
({7})
Meine Kolleginnen Renate Diemers und Ursula Lietz hatten durchaus Recht, als sie vorhin in der Diskussion sagten, sie seien über eine solche Äußerung empört.
({8})
Ich muss sagen: Das, was hier betrieben wird, ist geradezu
Geschichtsfälschung; denn die NATO musste handeln,
nachdem sich die UNO im Weltsicherheitsrat trotz massivster Menschenrechtsverletzungen selbst blockierte. Wäre
man der Linie der PDS-Altkommunisten gefolgt,
({9})
dann hätte man dem Völkermord der Serben tatenlos zusehen und auf ein Eingreifen der OSZE warten müssen.
Wir alle wissen, das wäre das Todesurteil für weitere Hunderttausende Menschen auf dem Balkan gewesen; denn
die serbische Diktatur war weder durch Gebete - mit denen haben Sie es sowieso nicht so - noch durch gute
Worte zu beschwichtigen.
({10})
- Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so aufregen, wenn
ich hier die Fakten aufzähle. ({11})
Die OSZE ihrerseits war der konkreten Herausforderung
in diesem Moment in keiner Weise gewachsen.
Die OSZE ist zwar ein wichtiger Teil der europäischen
Sicherheitsarchitektur. Aber zu der Absicht, den Grundsatz „OSZE first“ baldmöglichst durchzusetzen, vielleicht
auch noch auf Kosten der NATO - das ist eine Forderung,
die auch in diesem Hause immer wieder erhoben wird -,
möchte ich klar sagen: Für uns gilt ohne jede Einschränkung, dass die NATO zentrales Instrument der Sicherheitsarchitektur in Europa ist und bleibt. Sie allein ist Garant des Friedens.
({12})
Sie sorgt nicht nur mit Worten, sondern vor allem auch mit
Taten für die Einhaltung der Menschenrechte.
({13})
- Das ist ein guter Begriff.
({14})
Die Parlamentarische Versammlung der NATO, früher
NAV genannt, hat bei all diesen Epoche machenden Entwicklungen und Ereignissen, die ich angesprochen habe,
wesentliche Schrittmacherdienste geleistet, ja, sogar eine
Vorreiterrolle gespielt. Ich denke an die parlamentarische
Einbindung der ehemaligen Ostblockländer. Wichtig ist
nicht nur, dass Beschlüsse auf Gipfelkonferenzen von Regierungen gefasst werden, sondern auch, dass wir uns auf
parlamentarischer Ebene mit den Dingen befassen und
über sie diskutieren. Das NATO-Parlament ist so zu einem
wichtigen Faktor für die Meinungsbildung im Bündnis
geworden und stellt das parlamentarische Gleichgewicht
zu den Beschlüssen der Bündnisregierungen und Ministerräte her. Trotzdem bleibt noch viel zu tun.
Eine zentrale Herausforderung für das Bündnis und
auch für die Parlamentarische Versammlung der NATO ist
das Verhältnis zu Russland.
({15})
- Sehr richtig, das haben auch Sie begriffen. - Ohne eine
funktionierende Zusammenarbeit mit Russland kann weder die neue europäische Sicherheitsarchitektur noch die
Friedenssicherung in der Welt funktionieren. Das erfolgreiche Eingreifen der NATO im Kosovo hat das Verhältnis zu Russland belastet. Aber nachdem es einen Machtwechsel in Russland gegeben hat und Vladimir Putin
Präsident wurde, gibt es glücklicherweise Anzeichen für
einen Neustart in der Zusammenarbeit.
Ein weiteres Feld ist das Verhältnis zwischen NATO
und Europäischer Union. Die Entscheidungen für eine
gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik,
für eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, für eine Integration der WEU in die EU
und für die Errichtung einer neuen Krisenreaktionsstreitmacht in Europa sind Meilensteine auf dem Weg, an dessen Ende die Europäer einen größeren Beitrag zur Sicherung des Friedens in der Welt als bisher übernehmen
werden.
({16})
Sowohl der NATO als auch der Europäischen Union ist
klar: NATO und europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind kein Widerspruch. Sie sind zwei Seiten
einer Medaille. Die EU wird künftig mehr Verantwortung
für die Sicherheit in Europa übernehmen müssen. Wir erwarten insbesondere vom bevorstehenden Gipfeltreffen
in Nizza weit reichende Entscheidungen zur gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Das Thema „National Missile Defense“ - Markus
Meckel hat es angesprochen - hat in der Parlamentarischen Versammlung der NATO zu einer intensiven Diskussion geführt. Wir werden auch am Wochenende darüber sprechen, um hier zu einem gemeinsamen Vorgehen
zwischen unseren amerikanischen Freunden und den Europäern zu gelangen.
Meine Damen und Herren, am Herzen liegt uns auch
die Fortführung des Stabilitätsexports der NATO, das
heißt die Fortsetzung der Politik der offenen Tür.
({17})
Über unser Verhältnis zu Russland habe ich bereits gesprochen. Zugleich geht es uns aber auch darum, nukleare
Abrüstung zu forcieren und den Anti-Ballistic-MissileVertrag, obwohl dieser teilweise als überholt gelten muss,
({18})
auch für die Zukunft als rüstungskontrollpolitisches Element zu erhalten. Deswegen erscheint es uns notwendig,
dass wir insbesondere mit den Russen ins Gespräch kommen, um eventuell im Wege einer Modifizierung zum Erhalt des ABM-Vertrages beizutragen.
({19})
Meine Damen und Herren, schließlich fordern wir eine
gemeinsame Strategie der Allianz zur Eindämmung der
Proliferation von Massenvernichtungswaffen und der entsprechenden Trägertechnologie. Die Parlamentarische
Versammlung der NATO fordern wir auf, ihre vorandrängende Rolle bei der Öffnung des Bündnisses für weitere
Mitglieder auch weiterhin wahrzunehmen.
Wir laden die russische Staatsduma ausdrücklich ein,
an der Plenartagung der Parlamentarischen Versammlung
der NATO teilzunehmen und die parlamentarische Diskussion über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und in der Welt aufzunehmen, sich in diese Diskussion hineinzubegeben und so den Versuch zu machen, das
von uns als richtig Erkannte mit zu verwirklichen, nämlich einen gemeinsamen Weg zu finden. Frieden und Sicherheit durch Kooperation sowie demokratische Stabilität in ganz Europa zu fördern ist und bleibt unser großes
Ziel.
({20})
Meine Fraktion ist bereit, die geeigneten Maßnahmen
mitzutragen, die uns diesem Ziel gemeinsam näher bringen.
Ich danke Ihnen.
({21})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell ist vereinbart, dass die Anträge auf
Drucksachen 14/4601 und 14/4598, anders als in der Tagesordnung vorgesehen, nicht überwiesen werden, sondern sofort zur Abstimmung gestellt werden. - Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden.
Wir kommen deshalb gleich zur Abstimmung über den
Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des
Bündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. zur 46. Plenartagung der Parlamentarischen Versammlung der NATO in
Berlin. Wer stimmt für diesen Antrag auf Drucksache 14/4601? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Antrag ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion
angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der PDS mit dem Titel „Europäische Sicherheit
und NATO“. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 14/4598? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Der Antrag ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion abgelehnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich bedanke
mich ausdrücklich bei allen Kolleginnen und Kollegen für
die Geduld und das Vermögen, hier bis zu dieser späten
Stunde auszuharren, und wünsche Ihnen allen eine gute
Nacht.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 17. November 2000,
9.00 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.