Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wieder einmal schrecken uns Berichte
von Überschwemmungen, von Erdrutschen und von
Sturmkatastrophen auf, sei es im Aostatal oder - erinnert
sei an die jüngsten Hochwasser - in Yorkshire. Auch in
Europa, so die Anmerkungen von Experten, zeigen sich
die Auswirkungen des Klimawandels. Der neue Berichtsentwurf des zwischenstaatlichen Expertengremiums für
Klimafragen der Vereinten Nationen lässt keinen Zweifel
mehr: Es ist von einer beschleunigten Erderwärmung auszugehen.
Doch während sich Unwetter und Katastrophen häufen, die Schadenslisten länger werden, insbesondere auch
und gerade in den besonders verwundbaren Entwicklungsländern, setzt sich fast überall auf der Welt der Trend
zu steigenden Emissionen fort. Wenn es ein Gebot gibt,
dann lautet es schlicht: Die Zeit ist überfällig; wir müssen
endlich Konsequenzen aus diesen Warnsignalen ziehen;
der Klimawechsel muss gebremst werden.
Das Protokoll von Kioto war dafür ein Meilenstein.
Zum ersten Mal haben sich die Industrienationen gemeinsam verbindlich zu absoluten Reduktionen ihrer Treibhausgasemissionen verpflichtet. Es war ein Durchbruch
auf dem Weg zu einer neuen Energiepolitik, zu einer Industriegesellschaft, in der der Verbrauch fossiler Brennstoffe tatsächlich zurückgeführt wird. Seitdem geht es darum, Kioto mit Leben zu füllen, das Protokoll ratifizierbar
zu machen und in Kraft treten zu lassen. Doch es scheint,
als wollten sich gerade jetzt viele der großen Industriestaaten vor verantwortlichem Handeln drücken.
Lassen Sie es mich offen aussprechen: Mit der bevorstehenden Konferenz in Den Haag erreicht der Klimaprozess eine kritische Phase. Auf dem Spiel steht nicht nur
die Integrität des Protokolls, sondern auch die Glaubwürdigkeit eines großen internationalen Klimaprozesses, eines Prozesses, der über 20 Jahre langsame, aber stetige
Fortschritte gemacht hat.
Dieses treibende Moment des Klimaprozesses ist gefährdet. Von einigen Seiten droht faktisch eine Rückverhandlung des Kioto-Protokolls, bevor es überhaupt in
Kraft getreten ist. Wir müssen verhindern, dass sich in den
kommenden zwei Wochen in Den Haag diejenigen Kräfte
durchsetzen, die die Verhandlungen dazu nutzen wollen,
um Hintertüren und Schlupflöcher zu öffnen, die die
Präsident Wolfgang Thierse
klaren Verpflichtungen des Protokolls zu Appellen und
Konferenzlyrik zurückdrehen wollen.
({0})
Ich weiß, die Positionen in den zentralen Fragen liegen
noch weit auseinander. Es wird außerordentlich schwierig
werden, umweltpolitisch tragfähige Brücken zu schlagen.
Wir brauchen, wie Sie wissen, zum Schluss die Einstimmigkeit von circa 180 souveränen Staaten. Ich habe mich
seit Anbeginn meiner Amtstätigkeit dafür eingesetzt, gerade die Umweltintegrität des Protokolls zu wahren.
Diese ist an mehreren wirklich neuralgischen Punkten gefährdet. Lassen Sie mich das an drei konkreten Beispielen
beleuchten:
Erstes Problem: Die Anrechnung von so genannten
Senken auf die Reduktionsverpflichtung. Wenn Sie
Äcker flacher pflügen, wenn Sie Brandschutzkorridore in
Wäldern oder Windschutzhecken gegen Bodenerosionen
anlegen, dann kann dies unter bestimmten Annahmen zu
erheblichen Einbindungen von Kohlendioxid aus der Atmosphäre führen. Das kann in vielen großen Staaten, etwa
in den USA oder in Kanada, so viel sein, dass diese ihre
Emissionen aus Industrie, Verkehr und allen anderen Sektoren zusammen noch einmal erheblich steigern könnten,
anstatt sie zu reduzieren. Dennoch hätten sie, würde man
diese Senken anrechnen, ihr Protokollziel erfüllt.
Die Anrechnung von Senken hat aber gleich mehrere
Haken.
Erstens hätten wir die Senken großenteils ohnehin;
denn, „gedüngt“ durch die vielen Kohlendioxidemissionen, wächst gerade auf der Nordhalbkugel die Vegetation
derzeit stark an.
Zweitens ist schon jetzt absehbar, dass sich die Senkenspeicher in wenigen Jahren wieder entleeren werden.
Ich erinnere nur an die diesjährigen Waldbrände in den
USA. Dabei ist in einem Sommer eine Fläche abgebrannt,
die ungefähr der Fläche von Baden-Württemberg entspricht.
Drittens frage ich mich: Wie viele Emissionsgutschriften wollen Sie eigentlich jemandem dafür geben,
dass er durch das Anlegen eines Brandschutzkorridors
seinen Wald jetzt nicht mehr abbrennen lässt? Emissionsgutschriften womöglich für den gesamten Wald, da dieser
ja komplett hätte abbrennen können? Ist dies nicht vielmehr eine Regelung, von der nun gerade und ausschließlich diejenigen profitieren, die bisher besonders rücksichtslos gewirtschaftet haben?
Meine Antwort ist knapp: Senken können das Klimaschutzproblem nicht lösen. Sie drohen vielmehr selber zu
tickenden Kohlenstoffbomben zu werden. Jede zweifelhafte Senkenaktivität bindet Ressourcen, die dann für
Maßnahmen echter Emissionsminderungen fehlen.
({1})
Wir haben uns deshalb mit den europäischen Kollegen
auf die Linie verständigt, dass diese Art der Senkenaktivitäten, das heißt, Senkenaktivitäten, die über die Aufforstung in Annex-1-Staaten hinaus gehen, bis auf weiteres
nicht angerechnet werden sollten. Frühestens ab der zweiten Verpflichtungsperiode kann man über jenes reden.
Dann hat man auch ein paar methodologische Fragen geklärt.
Das zweite Problem ist der Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung, eine Idee zur Förderung der
nachhaltigen Entwicklung in Entwicklungsländern. Ein
Beispiel: Ein Industrieland baut ein Solarkraftwerk in
Afrika. Das spart dort Emissionen, die das Industrieland
schließlich mehr emittieren darf. Dieser Ansatz ist nachdrücklich zu unterstützen, gerade weil er das Interesse der
Entwicklungsländer an einer Entwicklung und am Transfer von Technologie hin zu einer sauberen Entwicklung
begünstigt.
Unter diesen Mechanismus kann man natürlich auch
andere Dinge als das erwähnte Solarkraftwerk fassen.
Vorschläge gibt es zuhauf: konventionelle Kohlekraftwerke, Atommeiler, Riesenstaudämme. Damit kann dieses Instrument auch für Technologien gebraucht und - ich
sage - missbraucht werden, die in den Industrieländern
selber längst Ladenhüter sind und dort nicht mehr akzeptiert werden. Konventionelle Kohlekraftwerke in
China sind doch das Problem und nicht die Lösung des
Problems.
({2})
Atomkraftwerke in Indien, importiert von Japan unter
dem Gütesiegel der umweltverträglichen Entwicklung
und jenseits aller Regelungen über die Nichtweiterverbreitung und Proliferation von nuklearen Waren - soll das
etwa die versprochene Nachhaltigkeit im Klimaschutz
sein? Es wäre absurd, wenn dieser vorgeblich umweltverträgliche Mechanismus Anreiz dafür böte, dass die Entwicklungsländer noch einmal all die Fehler durchlaufen,
die wir in den Industrieländern gemacht haben, etwa in
eine Technologie einzusteigen, deren Müllproblem noch
in keinem Industrieland gelöst wurde. Ich sage Ihnen mit
Nachdruck: Das wollen wir nicht, jetzt nicht und in Zukunft nicht.
({3})
Deswegen finde ich es erfreulich, dass wir uns in Europa, mit Großbritannien, mit Frankreich zusammen,
darauf verständigt haben, dass eine Positivliste der zulässigen Projektkategorien für diesen Mechanismus
umweltverträglicher Entwicklung bestimmt werden soll.
Damit soll garantiert werden, dass nur hoch effiziente und
wirklich nachhaltige Technologien zum Zuge kommen.
Wir wollen sicherstellen, dass im Rahmen dieses Mechanismus eben keine Nuklearprojekte zugelassen werden.
Diese gemeinsame Position der EU ist, wie Sie vermuten werden, noch weit davon entfernt, die ungeteilte Zustimmung aller Staaten zu finden. Aber die Diskussion
zeigt, dass viele Entwicklungsländer nachdrücklich insbesondere an hoch effizienten und, was die Stromversorgung angeht, vor allem an dezentralen Technologien interessiert sind, weil sie in ihren Ländern in der Regel nicht
über das verfügen, was wir haben, nämlich ein entsprechendes Netz, über das Elektrizität auch in dünn besiedelten Gebieten verbreitet werden kann.
Drittens. Es geht um die Frage der Zusätzlichkeit: Welchen Teil meiner angestrebten Reduktionen darf ich im
Ausland einkaufen und wie viel muss ich im eigenen
Lande erbringen? Das ist eine Diskussion, die wir in der
Bundesrepublik mit ziemlicher Eindeutigkeit bei der Verabschiedung des Klimaschutzprogramms geklärt haben.
Ich frage Sie allerdings - ich frage auch in Richtung anderer Industriestaaten -: Wie glaubwürdig ist ein Protokoll, bei dem die größten Verschmutzer im eigenen Land
untätig sein können? Kann es sein, dass sich Länder wie
etwa die USA, die allein mehr als ein Drittel der Emissionen der Industrieländer aufweisen, fast ausschließlich
über eingekaufte Emissionsreduktionen aus anderen Ländern Klimaschutzmaßnahmen im eigenen Lande ersparen? Kann das Treibhausproblem so gelöst werden?
Kioto - darüber sind sich die Wissenschaftler einig kann mit dem 5-Prozent-Reduktionserfordernis für die Industrieländer nur ein erster Schritt sein. Bis zur Mitte des
Jahrhunderts müssen die Industriestaaten ihre Emissionen
noch einmal um gut die Hälfte senken, um den Treibhauseffekt wenigstens einigermaßen wirkungsvoll einzudämmen. Das bedeutet eine drastische Kehrtwende in den
meisten Industriestaaten. Um diese überhaupt vollziehen
zu können, brauchen wir permanente und weit reichende
technische Innovationen.
Genau hier liegt das Problem des unbeschränkten grenzüberschreitenden Emissionshandels und anderer Kioto-Mechanismen: Wenn Treibhausgase im Ausland immer nur da
reduziert werden, wo es am billigsten ist, dann drosselt dies
die frühe Entwicklung von Zukunftstechnologien; es fördert nicht die notwendigen technischen Quantensprünge. Es
wird dann unmöglich werden, die notwendigen Ziele für die
kommenden Dekaden zu vereinbaren.
({4})
Deswegen hat sich die EU bereits unter der deutschen
Ratspräsidentschaft auf eine Position zur Zusätzlichkeit
geeinigt, wonach höchstens die Hälfte der Reduktionen
im Ausland erbracht werden darf. Diese Regelung begrenzt wirkungsvoll auch den Verkauf von nicht benötigten Emissionsrechten, etwa in einer Reihe von osteuropäischen Ländern, die so genannte heiße Luft. Auch
dies wird sicherlich ein zentrales Verhandlungsthema in
Den Haag.
Nachdem die EU anfänglich mit dieser Position kaum
Gehör fand, werden wir nach intensiven Gesprächen mittlerweile von Ländern wie Indien, China, von der Gruppe
der afrikanischen Staaten und von der Gruppe der kleinen
Inselstaaten unterstützt. Südafrika fordert sogar einen 70prozentigen Anteil für Maßnahmen im eigenen Land, was
die Verpflichtung der Industriestaaten angeht.
Die Bundesregierung will in Den Haag ein Ergebnis erreichen. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass wir
nachdrücklich an der Bildung der EU-Verhandlungsposition beteiligt waren und sind. Nun geht es darum, diese
abschließend zu verhandeln. Ich will aber auch sagen: Sosehr wir uns ein In-Kraft-Treten des Protokolls im Jahre
2002 wünschen - nicht jedes Ergebnis ist ein gutes Ergebnis. Wir suchen einen Kompromiss, aber wir suchen
keinen Kompromiss um jeden Preis. Wir wollen - wir
greifen damit eine Forderung des Bundeskanzlers auf der
5. Klimakonferenz auf - die Ratifikation des Protokolls
im Jahre 2002, zehn Jahre nach dem Erdgipfel in Rio.
Zu diesem Ziel haben sich inzwischen viele Staaten bekannt - neben Europa Japan, Norwegen und Russland sowie viele Entwicklungsländer.
Ungeachtet der unterschiedlichen klimapolitischen Positionen treffen bei der Frage des In-Kraft-Tretens des
Protokolls sehr unterschiedliche Interessen zusammen:
Nur mit einem verbindlichen Protokoll wird es für die
Entwicklungsländer zusätzliche Maßnahmen für eine saubere Entwicklung geben. Nur mit einem ratifizierten Protokoll wird ein internationaler Emissionshandel möglich
sein. Deshalb halte ich einen Kompromiss zwischen Europa, den konstruktiven Staaten der so genannten Umbrella-Group und Schlüsselländern der G 77, also den
Entwicklungsländern, für möglich.
({5})
Die Messlatte für einen solchen Kompromiss liegt
heute schon auf: Die Umsetzung des Kioto-Protokolls
muss zu echten, signifikanten Minderungen von Treibhausgasemissionen in Industrieländern führen. Die Industrienationen haben mit ihren Emissionen die Hauptverantwortung für den Treibhauseffekt; deswegen müssen sie
sie mindern. Nur wenn unter dem Strich der Einstieg in
eine solche Entwicklung sichergestellt ist, können wir behaupten, dass Den Haag ein Erfolg war.
({6})
Ich habe das Thema Klima bei allen Gesprächen mit inner- und außereuropäischen Kollegen zu einem meiner
Hauptpunkte gemacht. Immer wieder habe ich das Gespräch gerade mit schwierigen Verhandlungspartnern gesucht, um sie besser zu verstehen, unsere Sicht darzulegen
und für unsere Position zu werben. Den USA und den sie
unterstützenden Industrieländern sage ich Folgendes: So
sehr ich mit den USA über die von ihnen angestrebten
Schlupflöcher streite, so sehr verstehe ich eine der Hauptforderungen der USA. Der Treibhauseffekt ist ein globales Problem und er verlangt nach globalen Lösungen.
Deshalb wird immer wieder eine frühzeitige Verpflichtung auch von Schwellenländern gefordert.
Es ist aber gleichzeitig wahr, dass 80 Prozent aller
Treibhausgase in der Atmosphäre von den Industrienationen stammen, die auch heute noch pro Einwohner etwa
fünfmal so viel Treibhausgase emittieren wie die Entwicklungsländer; die USA emittieren sogar etwa zehnmal
mehr. Deswegen spreche ich mich nicht gegen Emissionsreduktionen in Entwicklungsländern aus, sondern
setze mich dafür ein, dass die Industrieländer voranschreiten müssen.
({7})
Nur so werden wir das Problem langfristig in den Griff bekommen.
Den Entwicklungsländern möchte ich sagen: Ich sehe
mit Sorge, dass im Zusammenhang mit der globalen Erwärmung die Entwicklungsländer besonders verwundbar
sind. Die verstärkte Ausbreitung von Epidemien, die
Versalzung von Böden bis hin zu extremen Sturmschäden
oder der schiere Existenzkampf kleiner Inselstaaten, die
im wahrsten Sinne des Wortes abzusaufen drohen, sind
bereits heute schwerwiegende Probleme; sie werden nicht
erst in der Zukunft sichtbar werden. Deswegen müssen
wir die Entwicklungsländer dabei unterstützen, dem Klimawandel wirkungsvoll zu begegnen.
({8})
Hierzu gehören institutionelle Kapazitäten, hierzu
gehören aber schlicht und ergreifend auch Gelder für
Deichbau und ähnliche Maßnahmen, die die Anpassungsfähigkeit dieser Länder verstärken. Ich habe deshalb im
Rahmen des Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung Regelungen vorgeschlagen, die die Nachhaltigkeit der Projekte unterstützen sollen. Hierzu gehört insbesondere die Bevorzugung kleiner Projekte. Hierzu gehört
in meinen Augen auch ganz dringend, dass wir Sorge
dafür tragen müssen, diesen so genannten Clean Development Mechanism möglichst frühzeitig in Bewegung
zu bringen, bevor im Jahre 2002 das Protokoll in Kraft treten wird.
Wir sind Teil des Problems und deswegen haben wir
eine Verantwortung. Die Bundesrepublik will international eine Vorreiterrolle einnehmen; denn nur wenn wir vormachen, dass sich Klimaschutz lohnen kann, dass er
Arbeitsplätze schafft und technologische Zukunft sichert,
nur wenn wir vorleben, dass wir zu unseren Prinzipien
stehen und dabei Spitzenpositionen in der Wirtschaft belegen können, können wir erreichen, dass auch andere
diesen Weg einschlagen und aktive Klimaschutzpolitik
betreiben.
({9})
Das ist unser Beitrag, um den Prozess des Klimaschutzes
am laufen zu halten und vorwärts zu bringen.
Deswegen ist es so wichtig, dass die Bundesregierung
ein Klimaschutzprogramm vorgelegt hat, das die anspruchsvollen Ziele der Bundesrepublik zu einer Emissionsreduktion - die übrigens in einem breiten Konsens von
allen Kräften in der Bundesrepublik getragen werden durch rein nationale Maßnahmen verwirklicht. Die Bundesrepublik setzt damit um, was auch
Reduktion der CO2-Emissionen
um 25 Prozent bis zum Jahre 2005.
Deutschland hat heute mit 180 Millionen Tonnen mehr
CO2 reduziert als ganz Europa zusammen. Wir wollen den
Emissionsausstoß noch einmal um 50 Millionen bis
70 Millionen Tonnen bis 2005 mindern. Das verpflichtet
allerdings auch, wie eine philippinische Delegierte auf der
5. Vertragsstaatenkonferenz 1999 in Bonn unterstrich.
Wenn aber Deutschland, sagte sie, von seinem bisherigen
Pfad abweicht und seine Klimaschutzziele verfehlt, dann
wird auch das Signalcharakter haben. Die Staaten der
Welt schauen nach Deutschland und sie schauen genau
hin.
Die Bundesregierung ist für die Klimaschutzkonferenz
in Den Haag gewappnet. Wir freuen uns, mit einer Delegation aus Mitgliedern dieses Hauses sowie Vertretern der
Bundesländer und der Nichtregierungsorganisationen
dort verhandeln zu können. Ich glaube, wir haben in der
Phase der Vorbereitung auf diese Verhandlungen unsere
Hausaufgaben gemacht und unsere Verhandlungslinie zusammen mit unseren europäischen Partnern festgelegt.
Wir werden auf dieser Konferenz eine konstruktive, aber
auch eine feste Haltung einnehmen, und zwar sowohl innerhalb der Europäischen Union als auch gegenüber unseren Vertragspartnern aus Nord und Süd. Wir wissen,
was wir erreichen wollen. Wir sind uns allerdings auch darüber im Klaren, dass es Grenzen der Akzeptanz gibt.
Die Bundesrepublik steht zu ihrer Vorreiterrolle im
Klimaschutzprozess und wird sie weiter aktiv gestalten;
denn wir haben nur eine Erde und der Erhalt ihrer natürlichen Lebensgrundlagen sollte für uns alle oberstes Gebot sein.
({0})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Klaus Lippold, CDU/CSU-Fraktion.
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Trittin,
wir wünschen Ihnen viel Erfolg auf der Konferenz in Den
Haag. Wir wollen, dass Sie dort erfolgreich sind, weil wir
der Meinung sind, dass das Problem, um das es geht, groß
genug ist, um über Differenzen in Einzelheiten hinwegzusehen. Es gibt sicherlich die eine oder andere Position,
bei der wir nicht einer Meinung sind. Aber das wird uns
nicht davon abhalten, für die Positionen, wie Sie sie in den
Grundzügen beschrieben haben, zu werben und zu deren
erfolgreicher Durchsetzung beizutragen.
({0})
Wir können es uns nicht erlauben, in einer so zentralen
Frage wie der des Klimaschutzes weltweit keinen Erfolg
zu erzielen. Klimaschutz ist kein Randthema für Ökofetischisten. Vielmehr ist es eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Wir arbeiten in der Bundesrepublik
schon sehr lange an Strategien zur Beantwortung der
Frage, wie die Probleme des Klimaschutzes erfolgreich
angegangen werden können. Dass der Erfolg auf diesem
Gebiet notwendig ist, wird deutlich, wenn man sich die
Katastrophen anschaut, die es schon zurzeit gibt: Flutkatastrophen, Überschwemmungen und Erdrutsche. Im Vergleich zu dem, was uns noch erwarten wird, ist dies noch
wenig. Wenn erst große Teile der Welt versteppt und verödet sind und wenn Völkerwanderungen wegen Hungersnöten einsetzen, dann werden wir vor ganz anderen Problemen stehen. Deshalb ist es wichtig, dass wir handeln,
und zwar umgehend, dass wir uns die Ergebnisse der Wissenschaftler und Experten zu Eigen machen und so zu entscheidenden Resultaten kommen.
Ein Ansatz zur Kritik, Herr Minister: Ich glaube, wir
hätten wesentlich früher - das ist unter der damaligen
Umweltministerin Merkel schon angegangen worden die Wissenschaft bei den essenziellen Fragen, um die es
in diesem Protokoll geht, zurate ziehen müssen und die
Ergebnisse der Wissenschaft früher instrumentalisieren
müssen, als Sie es getan haben. Vielleicht hätten wir dann
einen besseren Beitrag zur Beantwortung der Frage leisten können, wie wir mit dem Problem des Emissions Trading auf der einen Seite und mit den Problemen der Clean
Development Mechanism und der Senken auf der anderen
Seite umgehen sollen.
({1})
Wir hatten diese Probleme auf der Konferenz in Kioto damals direkt angesprochen. Daher, so meine ich, hätte hier
früher etwas geschehen können.
Wenn wir wollen, dass nach den - man muss dies ungeschminkt sagen - erfolglosen Konferenzen in Buenos
Aires und in Bonn jetzt kein dritter Flop folgen soll, dann
werden wir mit Klarheit - auch in diesem Punkt folgen
wir Ihnen, Herr Trittin -, aber auch, so will ich hinzufügen, mit einer gewissen Flexibilität argumentieren müssen, ohne das Leitziel aus den Augen zu verlieren. Ich
sage das auch vor dem Hintergrund, dass wir ansonsten
scheitern werden, das große Ziel, die Ratifikation des
Kioto-Protokolls bis 2002, zu erreichen. Ein solches
Scheitern wäre katastrophal.
Unser Wille, Flexibilität zu zeigen, beruht auch auf der
Einsicht, dass wir als Europäer - ich sage ganz deutlich:
als Europäer - keine falsche Selbstgerechtigkeit an den
Tag legen dürfen. Völlig zu Recht haben Sie hervorgehoben, dass die Erfolge im Klimaschutz in Europa nicht
europäische, sondern deutsche Erfolge sind. Wenn jetzt
anlässlich des Umweltministerrates gesagt wird, die Staaten der EU haben ihre Emissionen reduziert, dann muss
man feststellen, dass dies nur möglich war, weil die Bundesrepublik Deutschland ihre Emissionen entsprechend
reduziert hat. Wenn man sieht, dass viele, die den Mund
voll genommen haben - zum Beispiel die nordischen
Staaten und Dänemark -, weiterhin eine Erhöhung und
nicht Reduktion ihrer Emissionen anmelden, dann muss
man den Finger in die Wunde legen und deutlich sagen,
worauf es ankommt.
({2})
Es hilft in diesem Zusammenhang dann auch nicht,
wenn von einem Teil dieser Staaten die Forderung nach
Ausstieg aus der Kernenergie unterstützt wird. Ich
glaube, wir können die notwendigen Emissionsreduktionen im Durchschnitt auf Dauer nicht erreichen, wenn wir
aus der Kernenergie aussteigen. Ich fordere Sie, Herr
Minister, deshalb auf, Ihren Weg bezüglich dieser Frage
zu überdenken. Es geht dabei nicht um die Lösung des
Problems bis 2005. Diesen Zeitpunkt hat Ihr Koalitionspartner Ihnen ohnehin schon ausgetrieben. Aber gerade in
der entscheidenden Phase, von 2020 bis 2050, werden wir
darauf angewiesen sein, einen Durchbruch in dieser Frage
zu erzielen.
({3})
Herr Minister, Sie haben mit einem warnenden Unterton die Mechanismen angesprochen, die wir brauchen.
Ich habe festgestellt, dass Sie diese Mechanismen trotzdem nicht so einseitig dargestellt haben, wie ich das eine
Zeit lang befürchtet habe. Ich sehe zum Beispiel im Clean
Development Mechanism durchaus eine Chance, während ein internes Papier Ihres Hauses zu dem Schluss
kommt, dieses Instrument sei kein geeignetes Instrument
zur Armutsbekämpfung. Ich glaube schon, dass man die
Synergieeffekte, die sich aus diesem Instrument ergeben,
nutzen sollte, nämlich auf der einen Seite Fortschritte im
Klimaschutz zu erreichen und auf der anderen Seite damit
die Armut zu bekämpfen.
Wenn man sich anschaut, was Sie bei früheren internationalen Verhandlungen in Sachen Technologietransfer
und Entwicklungshilfe zugesagt haben - ich will Sie gar
nicht an Ihre Versprechen erinnern, die Sie zu früheren
Zeiten in diesem Hause abgegeben hatten -, dann muss
man eindeutig konstatieren, dass das alles nicht eingetreten ist. Ich bin sehr dafür, mithilfe dieses Instruments den
Klimaschutz mit der Entwicklungshilfe und Armutsbekämpfung zu verbinden. Dies ist ein ganz entscheidender
Punkt.
Ein zweiter Punkt. Wenn wir über die Senken diskutieren - ich habe gerade schon gesagt, wir hätten den wissenschaftlichen Sachverstand schneller nutzen sollen, so
wie wir das vorgeschlagen haben -, dann muss man auch
die Aufforstung als Möglichkeit in Betracht ziehen. Auch
hier, so habe ich gerade festgestellt, besteht zwischen uns
kein Widerspruch. Es gibt eine Reihe von Schwellenländern, bei denen demonstriert werden kann, dass schädliche Entwicklungen wie Versteppung und Erosion von
Böden mit Aufforstung unter Einsatz des Klimaschutzinstrumentariums wieder rückgängig gemacht werden können.
({4})
Die Bundesrepublik Deutschland hat früher neben diesem Mechanismus das Instrument Joint Implementation
vorangetrieben. Angesichts der Tatsache, dass andere
Länder dieses Instrument viel stärker nutzen als wir, sehe
ich in diesem wichtigen Bereich einen ganz großen Nachholbedarf.
Der Minister hat nicht zu Unrecht darüber gesprochen,
dass derjenige, der im Ausland etwas bewirken will, zu
Hause etwas tun muss. Wir haben in der Bundesrepublik
Deutschland in der Vergangenheit viel erreicht. Herr
Minister, ich möchte aber dennoch darum bitten - in anderen Debatten habe ich dies anders formuliert -, dass Sie
das Tempo, mit dem wir im Klimaschutz voranschreiten,
endlich verschärfen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang ein ganz klassisches Beispiel anführen: Im Klimaschutzprogramm nennen Sie Ziele. Aber die meisten dieser Maßnahmen haben
Dr. Klaus W. Lippold ({5})
Sie noch nicht einmal eingeleitet. Da liegen noch gar
keine konkreten Aussagen vor. Arbeiten Sie daran! Beschleunigen Sie dies!
Wir haben Ihnen vor gut zwei Jahren eine nahezu fertige Energieeinsparverordnung hinterlassen, mit der
wir im Gebäudebereich in wesentlichen Teilen Verbesserungen erreichen wollten. Nutzen Sie diese doch! Zwei
Jahre haben Sie vertan. Sie diskutieren intern immer noch
über Dinge, die ich für Kleinigkeiten halte. Es ist viel zu
schade, dieses Instrument ungenutzt zu lassen. Sie vertun
Zeit, die dringend erforderlich wäre.
({6})
Herr Minister, springen Sie doch einmal über Ihren
Schatten! Nutzen Sie nicht nur das Instrument der Zinsbezuschussung, das im Rahmen der KfW-Programme besteht, die wir seinerzeit eingeführt haben und die Sie
erfreulicherweise fortführen. - Ich akzeptiere auch, dass
Sie auf diesem Gebiet mehr investieren wollen. - Ringen
Sie sich vielmehr dazu durch, auch auf eine steuerliche
Förderung zu setzen, damit wir das in diesem Bereich bestehende Potenzial wirklich ausschöpfen können!
Auch in meiner Fraktion waren in diesem Zusammenhang lange Diskussionen nötig. Aber wir haben uns jetzt
entgegen allen steuersystematischen Bedenken, die es
auch bei uns gab, dazu durchgerungen, zu sagen: Damit wir
dieses Instrument voll ausreizen können, fordern wir
eine steuerliche Förderung gerade im Altbaubestand. Schließen Sie sich dem doch an! Dann haben Sie sogar die
Chance, das für 2005 vorgesehene Klimaschutzziel zu erreichen. Das sollten Sie tun.
({7})
Herr Minister, diese Maßnahmen sollten Sie damit verbinden, Ihren falschen Weg in Bezug auf die Erhebung der
Ökosteuer und den Kernenergieausstieg - das sage ich
ganz deutlich - aufzugeben.
Im Hinblick auf das Instrument der Selbstverpflichtungen haben Sie hinzugelernt. Ich akzeptiere das und bin
sehr zufrieden. Früher haben Sie Selbstverpflichtungen
abgelehnt; heute praktizieren Sie sie. Wenden Sie dieses
Instrument nicht nur im Hinblick auf die Wirtschaft insgesamt an, sondern treffen Sie Vereinbarungen zum Beispiel konkret mit der Automobilindustrie. Wir müssen das
Instrument der Selbstverpflichtung im Bereich der Automobilindustrie verstärken. Dazu höre ich von Ihnen
nichts. Es kann nicht sein, dass der Fraktionsvorsitzende
der Grünen hier positiv über die durch das Auto bestehende Mobilität spricht und zusammen mit der Automobilindustrie eine entsprechende Strategie fordert, während
Sie diesen Punkt völlig unerwähnt lassen und ihn nicht
aufgreifen. Ich meine, auch hier besteht Handlungsbedarf,
damit wir die wesentlichen Felder, um die es geht, abdecken.
Mein Appell am heutigen Tag geht dahin, dass auch der
amerikanische Präsident - wie auch immer er heißen
wird - die in seinem Land gegen den Klimaschutz bestehende Blockade lockert. Ich hatte mir früher von Al Gore
mehr versprochen. Ich hoffe, er wird, wenn er denn Präsident werden wird, diese Blockade beenden. Ich hoffe,
dass Bush, wenn er denn Präsident werden sollte, ähnliche Initiativen in diese Richtung ergreift.
({8})
In vielen Gesprächen mit amerikanischen Politikern
habe ich immer wieder deutlich gemacht, dass dies nicht
zu einer Wettbewerbsverzerrung und zu einer Benachteiligung der USA führen wird: Wenn wir gemeinsam Maßnahmen ergreifen, dann ändern sich die zwischen den
USA und der Bundesrepublik Deutschland bestehenden
Wettbewerbsbedingungen nicht. Die „Denke“ der USA
hatten auch wir vor 15 Jahren. Lassen Sie uns durch Diskussionen und mit viel Überzeugungsarbeit erreichen,
dass auch andere Länder hier in Bewegung kommen.
Denn ohne die USA werden wir den Weg des Klimaschutzes nur schwer mit Erfolg beschreiten können.
Noch einmal, Herr Trittin: Wir wünschen Ihnen für die
anstehenden Verhandlungen viel Erfolg im Sinne der gemeinsamen Anstrengung, das Klimaschutzziel zu erreichen.
Herzlichen Dank.
({9})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Ulrike Mehl, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Lippold, ich habe noch nie hier
im Plenum von Ihnen eine so moderate Rede gehört. Ich
bin ganz überrascht.
({0})
Ich dachte, jetzt kommt wieder unser aller Blutdruck in
Wallung. Ich war vorher schon wach; deswegen störte
Ihre moderate Rede dann nicht. Ich freue mich, dass Sie
mit uns an einem Strang ziehen wollen. Dieses internationale Thema ist in der Tat nicht für innenpolitische Auseinandersetzungen, wie sie üblicherweise ablaufen, geeignet.
({1})
Aber lassen Sie mich eines anmerken: Ich finde es
hochspannend, dass Sie sagen, steuerliche Anreizinstrumente hätten Sie während Ihrer Oppositionszeit als richtig erkannt, und dass Sie nun in eine Richtung gehen wollen, die Sie vorher, wie Sie sagten, nicht bzw. in zu
geringem Umfang gegangen seien.
({2})
Wäre Ihnen das ein bisschen früher aufgegangen, hätten
wir beim Klimaschutz einige Probleme weniger. - Dabei
will ich es zu diesem Thema belassen.
({3})
Dr. Klaus W. Lippold ({4})
Klar ist - hierin sind sich die Forscher weitgehend einig -, dass der Klimawandel bereits begonnen hat und
ein Vorgeschmack durchaus schon zu spüren ist. So ist
- wie wir wissen - zum Beispiel eine drastische Zunahme
schwerer Stürme zu verzeichnen. Die sieben der zehn
heißesten Jahre seit der Messung und Aufzeichnung von
Wetter, nämlich seit der Mitte des letzten Jahrhunderts,
waren in den 90er-Jahren. Dies ist kein Zufall. Das deutliche Abschmelzen von Gletschern auch in den Alpen ist
ein Beleg dafür, dass es hier einen Wandel gegeben hat
und wir handeln müssen, und zwar sehr schnell.
Deshalb halte ich es für besonders wichtig und richtig,
dass die Bundesregierung das nationale Klimaschutzprogramm bereits beschlossen hat, und zwar unabhängig von
den Ergebnissen der bevorstehenden Klimaschutzkonferenz in Den Haag. Damit werden wir Lücken im Klimaschutz schließen. Wir können es noch schaffen, das Ziel,
das sich schon die alte Regierung gesteckt hat und das die
neue Regierung aufrechterhält, nämlich eine 25-prozentige CO2-Minderung gegenüber dem Stand von 1990, zu
erreichen.
Ich will mich nicht so sehr mit der Vergangenheit und
der Frage beschäftigen, was in den letzten Legislaturperioden alles hätte erreicht werden können, wenn man es
rechtzeitig angepackt hätte, denn damit kommen wir dem
Klimaschutzziel keinen Millimeter näher. Vielmehr wird
es neben der Umsetzung des vorhandenen Wissens für
den innenpolitischen Erfolg der Klimaschutzpolitik entscheidend sein, die Akzeptanz für diese lebensnotwendige
politische Weichenstellung zu fördern. Wir müssen den
von der Rio-Konferenz 1992 ausgesandten Impuls für die
internationale und nationale Umwelt- und Klimapolitik
aufgreifen und verstärken. Wir müssen es schaffen, die
Begriffe „Nachhaltigkeit“, „Klimaschutz“ und „Erhaltung der biologischen Vielfalt“ mit klaren politischen Inhalten zu untermauern.
Eines der Probleme ist - auch in der internen Diskussion -, dass es viele unterschiedliche Vorstellungen über
den Inhalt und die Bedeutung dieser Begriffe gibt und
man uneins ist, welche Konsequenzen daraus zu ziehen
sind. Umso wichtiger ist es, über sie zu kommunizieren
und klarzumachen, welche Ziele und welche Wege zum
Erreichen dieser Ziele hinter diesen Begriffen stehen. Wir
werden das unter anderem mit der Einrichtung des Rates
für Nachhaltigkeit umsetzen.
Immerhin haben in Rio 150 Staaten die Klimarahmenkonvention unterzeichnet und damit das Ziel der Konvention, nämlich die Stabilisierung der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre auf einem Niveau zu erreichen,
auf dem eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems verhindert wird, anerkannt. Im Dezember
1997 verpflichteten sich die Industrieländer mit dem
schon mehrfach genannten Kioto-Protokoll, die Emissionen der sechs festgelegten Treibhausgase um mindestens
5 Prozent gegenüber dem Niveau von 1990 in einem bestimmten Zeitrahmen zu reduzieren.
Jetzt steht die 6. Vertragsstaatenkonferenz in Den
Haag unmittelbar vor der Tür. Dort wird es um die Formulierung und Festlegung der flexiblen Mechanismen,
um Emissionshandel, um die gemeinsame Umsetzung
von Reduktionsverpflichtungen und um Mechanismen für
eine umweltverträgliche Entwicklung gehen. Dies wird
ein entscheidender Schritt sein. Wenn diese Konferenz
scheitert, dann wird dies - dafür gibt es viele Gründe - ein
herber Rückschlag für die internationalen Bemühungen
um den Klimaschutz sein. Aber eines ist für mich klar:
Das kann nicht heißen, dass etwa Deutschland oder Europa von den selbst gesteckten Zielen, die spätestens mit
Kioto noch einmal festgelegt worden sind, abrückt. Die
Bemühungen müssen auf jeden Fall weitergehen.
({5})
Auf der Konferenz muss erstens sichergestellt werden,
dass es global zu echten überprüfbaren Emissionsreduktionen kommt, die durch ein durchschaubares Kontrollund Sanktionssystem gesteuert werden können. Es nützt
überhaupt nichts, nur Zahlen hinzuschreiben und zu formulieren, was man erreichen möchte, wenn man nicht
kontrollieren kann, ob diese Ziele tatsächlich erreicht
werden, und wenn es nicht sanktioniert wird, sofern diese
Ziele nicht ernsthaft angegangen, sondern nur auf dem Papier festgelegt werden.
Zweitens. Die Kioto-Mechanismen dürfen nationale
Klimaschutzmaßnahmen nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. Mindestens 50 Prozent der Treibhausgasminderungen müssen im eigenen Land erreicht werden.
Drittens. Im Rahmen des Clean Development Mechanism und der gemeinsamen Umsetzung dürfen ausschließlich modernste, hoch effiziente, umweltfreundliche und
sozialverträgliche Technologien von den westlichen Industrieländern in die Entwicklungsländer und in die Staaten Mittel- und Osteuropas transferiert werden. Projekte
mit zweifelhafter Umwelt- und Sozialauswirkung darf es
nicht geben.
({6})
Viertens. Der Einbeziehung der CO2-Senken in die
Emissionsbilanzen stehen wir durchaus skeptisch gegenüber. Aufforstung und Wiederaufforstung sind zwar sinnvolle Maßnahmen des Klimaschutzes, können aber nur
sehr schwer eingerechnet werden. Wir wissen aus den bisherigen Diskussionen, dass gerade in diesem Instrument
der Senken das höchste Missbrauchspotenzial steckt, weil
die Möglichkeiten, abzugrenzen - Minister Trittin hat
Beispiele dafür genannt -, was tatsächlich klimaschutzrelevant ist, sehr vage sind. Deshalb muss mit diesem Instrument mit allergrößter Skepsis umgegangen werden.
Würden sich die USA mit ihren sehr weit gehenden
Vorstellungen hinsichtlich der flexiblen Mechanismen
und der Anrechnung von CO2-Senken durchsetzen, dann
könnten sie ihren CO2-Ausstoß sogar steigern - ausgerechnet die USA! Das - ich denke, da sollten wir uns einig sein - gilt es zu verhindern, wenn wir acht Jahre nach
Rio wirklich ernsthafte Schritte in der Klimaschutzpolitik
vorankommen wollen.
Wie auch immer die Präsidentenwahl in den USA ausgehen wird: Das Verhältnis der USA zum Klimaschutzprozess und zum Kioto-Protokoll wird immer schwierig
sein. Aber es kann nicht sein, dass dieses Thema weltweit
ins Stocken gerät oder sogar rückwärts geht, weil eine Nation nicht in der Lage oder nicht willens ist, diese Schritte
zu gehen. Wir sollten uns als Europa und als Deutschland
dadurch überhaupt nicht davon abbringen lassen, die
Ziele, die wir bisher gesteckt haben, forsch anzugehen.
({7})
Im Zusammenhang mit der Überlegung, welche Dinge
man einrechnen kann und welche nicht, will ich nicht unerwähnt lassen, dass wir es nicht für verantwortbar halten,
Kernkraftwerke oder die Kernkraft insgesamt im Rahmen von CDM anrechenbar zu machen. Wir brauchen den
Ausstieg aus dieser Risikotechnologie und wir brauchen
ihn nicht nur in Deutschland; denn das ist keine ideologische Debatte, sondern das ist eine Frage von Zukunftstechnologien und von Sicherheit und damit eine internationale Frage. Deswegen sind wir der Meinung, dass die
Kernkraft auf keinen Fall einem dieser Mechanismen
angerechnet werden darf.
({8})
Ich will es deutlich sagen: Es wäre eine große Gefahr,
wenn die führenden Industrienationen allein durch die
flexiblen Mechanismen rechnerisch in der Lage wären,
ihre Emissionsverpflichtungen einzuhalten. Dann gäbe es
nämlich keinen Anreiz für mehr entsprechende Technologien, für Energiesparmaßnahmen oder für regenerative
Energien, die über den derzeitigen Stand der Technik hinausgehen. Es geht nicht darum, nur die Entwicklung, die
wir bisher hatten, fortzusetzen, sondern wir brauchen einen besonderen Schwung - den haben wir jetzt in den Anfängen - für eine Effizienzrevolution und für die erneuerbaren Energien. Wir wollen nicht, dass dieser Trend einen
empfindlichen Dämpfer bekommt. Deswegen dürfen wir,
auch auf internationaler Ebene, nicht bestrebt sein, mit
fossilen Energien, mit alten Technologien voranzukommen, sondern müssen die Klimaschutzziele überwiegend
im eigenen Land erreichen und die neuen Technologien,
auch im Interesse der Entwicklungsländer, hier voranbringen.
({9})
Deshalb ist es wichtig, dass die deutsche Bundesregierung mit solchen Vorgaben nach Den Haag geht. Denn
Deutschland verhandelt in Den Haag ja nicht alleine, sondern die Staaten der Europäischen Union verhandeln gemeinsam und haben auch schon ein gemeinsames, bisher
gutes Fundament gefunden. Die Devise muss lauten: weg
von der Energieverschwendung, hin zu regenerativen
Energien und zu optimaler Ressourcennutzung, hin zu
Kreislaufwirtschaft und Produktverantwortung. Das bedeutet nämlich auch ein Stück Unabhängigkeit von Ölimporten und Dollarkursschwankungen. Wir müssen im
Sinne der nachhaltigen Entwicklung und der Agenda-21Prozesse, die ja auch in Rio beschlossen worden sind,
weiterdenken und an neuen Lebensstilen arbeiten und forschen.
Ich denke, das Spektakel um Benzinpreise und Ökosteuer ist der beste Beweis dafür, dass wir weltweit eine
technologische und energiepolitische Revolution brauchen. Wenn wir heute schon das Zwei- oder Dreiliterauto
hätten oder gar Brennstoffzellen als Antrieb genutzt werden könnten, wenn die überwiegende Zahl der Häuser auf
der Grundlage von Niedrigenergiestandards gebaut
würden, dann würde sich doch heute kein Mensch darüber aufregen, dass Energiepreise von Rohöl steigen.
({10})
Wenn diese Schritte schon sehr viel früher eingeleitet und
konsequenter gegangen worden wären, dann hätten wir
heute eine ganz andere Diskussion.
({11})
Diese Bundesregierung und diese Koalitionsfraktionen
haben in den zwei Jahren, in denen sie jetzt die Mehrheiten haben und die Regierung stellen, schon eine ganze
Reihe von Projekten in Marsch gesetzt. Diese Chance hätten auch Sie vorher gehabt,
({12})
liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. Sie
haben sie leider nicht nutzen können; aber wir haben sie
genutzt, insbesondere im Energiebereich.
Wir werden auf diesem Weg weitergehen, und wir werden diese Bundesregierung weiterhin intensiv dabei begleiten, damit wir unsere Klimaschutzziele auch zukünftig erfüllen können.
({13})
Ich erteile Kollegin
Birgit Homburger, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich zunächst an
Herrn Minister Trittin wenden und auf seine Rede eingehen. Ich muss sagen, es ist bemerkenswert: Es war eine
richtige Energiesparrede, die Sie hier gehalten haben.
({0})
Da geht es um die Zukunft des internationalen Klimaschutzes, und Sie halten hier im deutschen Parlament eine
lustlose Vorlesung, die aller Welt noch einmal deutlich
macht, dass Sie überhaupt kein Interesse an diesem Prozess des internationalen Klimaschutzes haben.
({1})
Die Zeit für salbungsvolle Worte ist wirklich allmählich vorbei. Es geht in Den Haag um sehr viel; es geht darum, ob der Prozess des internationalen Klimaschutzes
endlich zu Ergebnissen führt. Werden die Verhandlungsergebnisse zu weich, dann nützt es dem Klima nichts.
Werden die Bedingungen zu hart, steigen die wichtigen
Industrieländer aus.
Natürlich ist auch uns klar, dass es bei den so genannten Senken Mess- und Umrechnungsprobleme gibt, dass
Waldprojekte keinen großen Beitrag leisten und auch nur
langfristig wirken. Und auch wir wollen, dass es in den Industrieländern nationale Maßnahmen zur Reduzierung
von Emissionen gibt.
({2})
Aber hier nur zu sagen und im Antrag nur zu schreiben,
was Sie nicht wollen und dass Sie da und dort skeptisch
sind, das reicht meines Erachtens für einen Auftritt auf der
internationalen Bühne absolut nicht aus.
({3})
Was jetzt zählt, sind Taten. Was haben Sie denn dazu
beigetragen, dass es in Den Haag zu Ergebnissen kommt?
Das ist die Frage, die wir uns hier stellen müssen. Selbstverständlich hat sich Deutschland an den Koordinationssitzungen beteiligt. Selbstverständlich haben Sie diese
Woche am Umweltministerrat teilgenommen. Aber glauben Sie denn wirklich, dass das reicht?
Die bisherigen Fortschritte beim internationalen Klimaschutz wurden alle dadurch erreicht, dass man nicht
nur das Pflichtprogramm abgespult hat. Es waren immer
die besonderen, zusätzlichen Initiativen, die dazu beigetragen haben, andere Länder zu überzeugen - und da ist
bei Ihnen absolute Fehlanzeige.
({4})
Auch diese Woche beim Ministerrat kam von Ihnen nur
Bedenkenträgerei. Konstruktive Vorschläge, wie man in
Den Haag zum Erfolg kommen kann, hat man von Ihnen
nicht vernommen. Sie stressen lediglich den Begriff der
Vorbildfunktion Deutschlands. Diese Vorbildfunktion, die
uns in den internationalen Verhandlungen tatsächlich Gewicht verleihen könnte, haben wir längst nicht mehr.
Die F.D.P. fordert Sie jetzt seit Monaten dazu auf, in
Deutschland endlich die Voraussetzungen zur Einführung des Zertifikatehandels zu schaffen - wir haben
erst in der letzten Umweltdebatte auch über den entsprechenden F.D.P.-Antrag beraten -, aber Sie haben hochmütig während der ganzen Legislaturperiode nichts
unternommen, um Deutschland konkret auf den Börsenhandel mit Emissionszertifikaten vorzubereiten.
({5})
Wenn man international einen solchen Zertifikatehandel will, muss man schlichtweg die Hausaufgaben machen und das eigene Land darauf vorbereiten.
({6})
Während andere Länder den Börsenhandel mit Emissionsrechten längst vorbereitet haben und ein solcher Handel im Übrigen in Dänemark in wenigen Wochen tatsächlich beginnen wird, verlautet jetzt immerhin, dass die
Bundesregierung der Einführung eines Emissionshandels aufgeschlossen gegenübersteht. Sie haben das auch
heute in Ihrer Rede so gesagt. Da sind wir aber beruhigt.
Gratulation, Herr Minister! Immerhin beobachten Sie,
was auf der internationalen Bühne passiert, auf der
Bühne, die im Augenblick im internationalen Klimaschutz die Welt bewegt. Aber die Bühne beherrschen jetzt
andere. Das war früher anders. Die alte Bundesregierung
war noch ein maßgeblicher Impulsgeber für die internationale Klimapolitik. Grün war für manchen die Hoffnung, aber sie wurde bitter enttäuscht.
({7})
Auch mit der heutigen Rede haben Sie sich wieder öffentlich in Schweigen gehüllt. Anders kann man das nicht
deuten. Ihr Fraktionskollege und Parteifreund Loske hat
an dieser Stelle vor einigen Tagen zu Ihrer Verteidigung
stolz eine Arbeitsgruppe zu diesem Thema im Bundesumweltministerium erwähnt. Aber welche Ergebnisse
hat denn diese Arbeitsgruppe erzielt? Ich bin der Meinung, dass der Vorabend der 6. Vertragsstaatenkonferenz
der Klimarahmenkonvention kein schlechter Zeitpunkt
wäre, um der Öffentlichkeit und dem Deutschen Bundestag konkrete Resultate zu präsentieren.
({8})
Wie wollen Sie denn Emissionszertifikate einführen?
An welche Maßnahmen haben Sie gedacht? Wie sieht der
Zeitplan aus? Befürwortet die Bundesregierung ein Handelssystem auf Staatenebene, wie im Kioto-Protokoll vorgesehen, oder eines auf Unternehmensebene, wie im
Grünbuch der EU-Kommission vorgesehen? An welche
Verfahren zur Überwachung, Durchsetzung und Sanktionierung denkt die Bundesregierung dabei, zumal Sie der
Industrie - letzte Sitzungswoche haben wir das diskutiert versprochen haben, auf ordnungsrechtliche Eingriffe zu
verzichten? Zu alldem hört man von Ihnen nichts. Ich
muss sagen, das ist wirklich eine ganz famose Arbeitsgruppe.
({9})
Dann hat Ihr Fraktionskollege uns letzte Woche auch
noch bestätigt, was wir längst wussten: Es existiert unter
Ihrer Mitwirkung und hinter verschlossenen Türen eine
Arbeitsgruppe zum Thema Emissionsrechtehandel bei der
Deutschen Börse, im Übrigen die einzige ernst zu nehmende Initiative zu einem Börsenhandel mit Emissionszertifikaten in Deutschland. Sie wurde von privater Seite
ergriffen. Private Unternehmen, Verbände, Wissenschaftler haben den Stillstand nicht länger ertragen, haben sich
zusammengetan, sind aktiv geworden, und Sie haben sich
drangehängt. Wirklich eine Glanzleistung, Herr Minister!
({10})
Aber mit dieser Peinlichkeit noch nicht genug: Da existiert diese Expertengruppe, die sich unter Beteiligung
aller einschlägigen Bundesministerien um diese Frage
kümmert, und sie ist offenbar ein Geheimklub. Wer ist
denn daran beteiligt? Man weiß es nicht genau. Es ist auch
kaum zu fassen: Die Vertreter der Bundesregierung in dieser Runde haben eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben. Alle Vorlagen und Gesprächsinhalte sind vertraulich - Klimapolitik also hinter verschlossenen Türen
mit anschließender Verkündigung. Das ist Umweltpolitik
nach Gutsherrenart.
({11})
Ich kann nur bestätigen, was Herr Loske von den Grünen in der letzten Sitzungswoche hier gesagt hat. Es wird
immer deutlicher und immer offensichtlicher, dass
Absprachen außerhalb des Parlaments stattfinden, dass
dem Parlament gewissermaßen nur noch ein Beobachterstatus eingeräumt wird. Eine Frechheit, Herr Trittin, wie
Sie mit dem Parlament umgehen!
({12})
Die F.D.P. fordert Sie auf, dem Deutschen Bundestag
bei der internationalen Klimapolitik endlich Rede und
Antwort zu stehen. Wir haben genug von salbungsvollen
Worten und Kaffeekränzchen hinter verschlossenen
Türen. Die F.D.P. will den Erfolg von Den Haag, und ich
möchte, dass Sie endlich etwas dafür tun.
Danke.
({13})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Reinhard Loske, Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Kollegin Homburger, ich will erstens gerne noch
einmal darauf verweisen, dass das Instrument des Emissionshandels ein Mittel und kein Zweck ist. Die Art und
Weise, wie Sie das Ganze hier idealisieren, geht wirklich
völlig an der Sache vorbei.
({0})
Das Zweite. Wenn Sie wollen, dass Emissionshandel
tatsächlich stattfindet, müssen Sie sich im Wesentlichen
dafür einsetzen, dass das Kioto-Protokoll ratifiziert wird;
({1})
denn ohne Kioto-Protokoll wird es keinen Emissionshandel geben. Setzen Sie sich dafür ein, dann tun Sie etwas
Gutes.
Nächster Punkt. Emissionshandel ist vom Kioto-Protokoll ohnehin erst ab dem Jahr 2007 vorgesehen.
({2})
Wir brauchen hier überhaupt nichts übers Knie zu brechen, wir haben nämlich noch ein paar Jahre Zeit. Wir
sollten hier mit dem Instrument Erfahrungen sammeln,
Pilotprojekte durchführen.
({3})
Aber jetzt unsere gesamte Klimapolitik daran auszurichten, dass Sie so gern Emissionshandel haben möchten, da
müssten wir völlig verrückt sein. Das sind wir aber nicht.
({4})
Jetzt zu dem Thema Klimaproblematik. Erstens. Von
mehreren Vorrednern wurde schon gesagt: Die wissenschaftlichen Fakten verdichten sich. Durch den neuen
Bericht des Wissenschaftlergremiums der Vereinten Nationen werden sie noch einmal bestätigt. Sie sind besorgniserregender als das, was wir bisher wussten. Die Wetterextreme nehmen zu, Klimazonen verschieben sich.
Ein zweites Indiz, das wir zur Kenntnis nehmen müssen, ist, dass die Rückversicherer uns mit immer größerer
Sorge sagen, die Klimaschäden seien demnächst nicht
mehr zu versichern, wenn wir so fortfahren wie bislang.
Das ist ein deutliches Indiz dafür, dass Klimaschutz die
beste Langzeitökonomie ist. Je länger wir mit dem Klimaschutz warten, desto teuerer wird das Ganze später.
Das darf nicht sein.
Drittens - auf diesen Punkt möchte ich mit allem Nachdruck verweisen -: Es besteht ein elementarer Zusammenhang zwischen nationaler Glaubwürdigkeit und der
Art und Weise, wie man auf internationaler Ebene agieren
kann. Sie müssen doch zugeben, dass das Problem in der
Vergangenheit in hohem Maße darin lag, dass man zu
Hause so getan hat, als sei man der große Klimaschützer,
und international die Leute gefragt haben: Ja, was macht
ihr denn wirklich? - Da sah die Bilanz dann doch sehr
dünn aus. Sie haben früher Herrn Töpfer und Frau Merkel
auf die großen Konferenzen geschickt und zu Hause haben dann Rexrodt und Waigel sozusagen obstruiert, so gut
es eben ging, und wir sind nicht weitergekommen. Diese
Glaubwürdigkeitslücke ist jetzt dadurch geschlossen,
dass wir das nationale Klimaschutzprogramm verabschiedet haben.
({5})
Zu den Konferenzen. Man muss vielleicht die Geschichte der Konferenzen noch einmal rekapitulieren. Wir
hatten 1992 in Rio die Konferenz über Umwelt und Entwicklung. Man darf nicht vergessen: Es ging um beide
Themen. Dort lag die Konvention zur Unterzeichnung
aus. Sie ist 1994 in Kraft getreten. 1995 war hier in Berlin die erste große Vertragsstaatenkonferenz. 1997 sind in
Kioto erstmalig klare Reduktionsziele festgeschrieben
worden. Jetzt, 2000, werden hoffentlich alle Hindernisse
aus dem Weg geräumt, damit das Protokoll ratifiziert werden kann. Idealerweise wird es so sein, dass wir im Jahr
2002 - also Rio plus zehn Jahre - das Kioto-Protokoll in
Kraft setzen können. Das wäre ein schöner Erfolg. Darauf
sollten wir hinarbeiten.
({6})
Dennoch muss man sagen: Wir haben es hier mit einer
schwierigen Balance zu tun. Auf der einen Seite müssen
wir ein Interesse daran haben - auch, um sozusagen das
Momentum im Prozess zu halten -, dass das Kioto-Protokoll bis 2002 in Kraft tritt. Auf der anderen Seite können
wir jetzt in Den Haag auf keinen Fall einem Kompromiss
zustimmen, der die Substanz aushöhlt und zu viele
Schlupflöcher zulässt. Denn dann hätten wir 2002 zwar
ein Protokoll, das ratifiziert werden könnte, aber es würde
nichts für den Klimaschutz bringen. Wenn wir vor
dieser Wahl stehen, entscheiden wir uns ganz klar für die
Priorität Substanzerhaltung beim Kioto-Protokoll. Das
hat für uns absoluten Vorrang.
Jetzt zu den Fragen: Vor welcher Situation stehen wir
aktuell? Wie ist die Konfliktlandschaft? Wo liegen die
Probleme? Vor welcher Situation stehen wir?
Wenngleich wir Klimaschützer der Meinung sind, es
ist nicht hinreichend, haben wir es erstmalig geschafft,
dass im Kioto-Protokoll Reduktionsziele vereinbart worden sind: bis 2010 für die Europäische Union minus 8 Prozent, für die Vereinigten Staaten minus 7 Prozent, für
Japan minus 6 Prozent, die Russen müssen auf dem Niveau von 1990 stabilisieren.
Wir sind der Meinung: Das ist nicht ausreichend, aber
es ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Insofern ist diese Vereinbarung positiv. Wir schwenken auf einen Pfad ein, der tendenziell zukunftsfähig ist. Aber man
muss auch hinzufügen, dass in Kioto weitere Dinge verabredet worden sind, die die Sache nicht gerade einfacher
machen, nämlich zum einen die so genannten flexiblen
Mechanismen und zum anderen die Einbeziehung der
Senken, also quasi des natürlichen Kohlenstoffkreislaufs,
des Kohlenstoffs, der in den Böden und in den Wäldern
gespeichert ist.
Was die flexiblen Mechanismen Emissionshandel,
Joint Implementation und Clean-Development-Mechanismus betrifft, so haben sie sicherlich theoretische Vorzüge, aber sie haben natürlich auch enorme praktische
Probleme. Man muss ganz klar erkennen: Wenn man die
konkrete Ausgestaltung dieser Instrumente falsch vornimmt, werden sich nicht die Emissionen reduzieren, sondern die Verpflichtungen der Staaten. Das werden wir
nicht akzeptieren.
({7})
Welche Konfliktfelder gibt es? Die Europäische
Union ist - das darf man sagen - bei der Klimapolitik Vorreiter. Sie hat das höchste Ziel übernommen, nämlich die
Reduktion der Emissionen um 8 Prozent bis 2010. Innerhalb der Europäischen Union haben wir Deutsche und die
Briten sehr anspruchsvolle Ziele übernommen. Man muss
aber feststellen - das sage ich versehen mit einem „leider“ -,
dass sich nicht alle Staaten an ihre Zusagen halten. Außer
der Bundesrepublik Deutschland, dem Vereinigten
Königreich und Luxemburg hat bislang kein Staat Emissionen gemindert. Das ist problematisch und kann auf
Dauer nicht akzeptiert werden.
Auch folgender Punkt ist nicht unproblematisch: Einige Mitgliedstaaten der Europäischen Union geben Positionen, die im Ministerrat verabredet wurden, gegenüber
den Amerikanern hinter vorgehaltener Hand wieder preis,
vor allen Dingen in Bezug auf die Senken und in Bezug
darauf, dass man die flexiblen Mechanismen in Grenzen
hält. Ich glaube, die EU hat nur dann eine Chance, sich in
Den Haag durchzusetzen, wenn sie mit einer Stimme
spricht und wenn sie eine Allianz mit den Entwicklungsländern schließt, wie das schon in Kioto der Fall war.
Die Russen - der zweite große Akteur - haben bis zum
Jahr 2010 im Prinzip keine Reduktionsverpflichtungen;
sie müssen ihre Emissionen nur auf dem Niveau von 1990
stabilisieren. Die Höhe ihre Emissionen ist heute gegenüber 1990 aber um etwa ein Drittel geringer, weil ihre Industrie kollabiert ist. Deswegen haben die Russen natürlich ein Interesse daran, diese Differenz - wir bezeichnen
das gemeinhin als „heiße Luft“ - zu verkaufen. Solch ein
Schlupfloch ist nicht unproblematisch.
Die Russen haben aber auch ein Interesse an Investitionen. Sie wollen einen Technologietransfer. Joint Implementation als einer der Mechanismen schafft die Möglichkeit, Technologie zu transferieren. Wenn es uns
gelänge, dass dieser Handel mit „heißer Luft“ wenigstens
dazu führen würde, dass die Einnahmen der Russen in die
Modernisierung des Energiesystems fließen, dann, glaube
ich, wäre das ein akzeptabler Kompromiss zugunsten des
Klimaschutzes.
({8})
Zu den Entwicklungsländern. Die Entwicklungsländer haben in der ersten Verpflichtungsperiode bis zum
Jahr 2010 keinerlei spezifische Reduktionsverpflichtungen. Das ist auch gut so, vor allem dann, wenn man sich
die historische Verantwortung vor Augen führt. Es ist
richtig: Langfristig wird Klimaschutz ohne China, ohne
Indien und ohne Brasilien nicht möglich sein. Wer aber
jetzt quasi den dritten Schritt vor dem ersten fordert, der
will in Wahrheit gar keinen Klimaschutz. Die Hausaufgaben müssen also wir machen. Wir müssen zeigen, dass
Klimaschutz möglich ist.
Die Position der Entwicklungsländer lässt sich im Prinzip in zwei Punkten zusammenfassen. Sie sagen erstens:
Wenn ihr wollt, dass wir in unserem Entwicklungsprozess
nicht die gleichen Fehler machen wir ihr in der Vergangenheit, wenn wir uns also nicht mit der gleichen Energieintensität entwickeln sollen, dann müsst ihr uns helfen.
Ihr müsst den Finanz- und Technologietransfer sicherstellen. Sie sagen zweitens: Ihr müsst eure Hausaufgaben erledigen, um uns zu zeigen, dass sich Klimaschutz und
wirtschaftliche Entwicklung vereinbaren lassen. Nur
wenn diese Dinge realisiert werden, dann können wir dem
Kioto-Protokoll zustimmen. - Ich glaube, diese Position
ist legitim. Es ist jetzt an uns, klar zu machen, dass sich
Klimaschutz sowie wirtschaftliche und soziale Entwicklung vertragen; und außerdem müssen wir klar machen,
dass wir die Mechanismen des Kioto-Protokolls, vor allem den Clean-Development-Mechanismus, dazu nutzen
werden, moderne Technologien in die Entwicklungsländer zu transferieren. Wir brauchen dezentrale Technologien, die zu diesen Ländern passen. Dort brauchen wir
gerade keine großen Kohlekraftwerke, keine großen
Staudämme oder gar, was völlig absurd ist, Atomkraftwerke.
({9})
Zu der Rolle der Vereinigten Staaten. Wir tun gut daran, die Ratifizierung des Protokolls bis zum Jahr 2002
durch die Europäische Union, durch die beitrittswilligen
Länder, durch einen Kompromiss mit den Russen und
durch die Einbeziehung der Japaner zu realisieren. Die
Japaner haben, auch weil das Kioto-Protokoll mit dem
Namen ihrer Stadt Kioto verbunden ist, ein essenzielles
Interesse daran, dass es in Kraft tritt. Das In-Kraft-Treten
bis 2002 könnte also gelingen. Wir sollten natürlich
großes Interesse daran haben, dass die Vereinigten Staaten früher oder später beitreten. Aber wir müssen auch zur
Kenntnis nehmen, dass die Situation in Amerika sehr
schwierig ist: Der Senat muss mit einer Zweidrittelmehrheit zustimmen. Aber der Senat hat bereits eine Resolution verabschiedet, in der es heißt: Erstens. Wir ratifizieren nur dann, wenn die Entwicklungsländer schon jetzt
Verpflichtungen übernehmen. Zweitens. Wir ratifizieren
nur dann, wenn totale Flexibilität bei den Mechanismen
sichergestellt ist. - Das beides sind Forderungen, die wir
als Europäer in dieser Situation nicht unterstützen können.
Wir haben mit dem Senat Erfahrungen. Der Senat hat
beim Atomteststoppvertrag, beim Landminenvertrag und
bei der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofes
Schwierigkeiten gemacht. Es ist unrealistisch zu glauben,
dass die Amerikaner das Protokoll bis zum Jahr 2002 ratifizieren. Deswegen sollten wir alles daransetzen, die anderen - die Europäer, die Russen und die Japaner - dazu
zu bewegen, das Protokoll 2002 zusammen mit den Entwicklungsländern in Kraft zu setzen. Das wäre ein gutes
Ergebnis. Damit würde dann eine Dynamik entstehen, die
erkennen lässt, dass das Ganze auch technologisch interessant und attraktiv sein kann, sodass früher oder später
auch die Vereinigten Staaten beitreten werden. Ich glaube,
das ist der richtige Weg.
({10})
Zum Thema Emissionshandel. Hier liegen Gefahren.
Die Aufgabe ist klar definiert: Wir müssen den Handel mit
„heißer Luft“ in engen Grenzen halten. Ich glaube, für die
Entwicklungsländer liegt im Clean-Development-Mechanismus eine große Chance, wenn er richtig ausgestaltet
wird. Deshalb brauchen wir eine Positivliste, die klar
macht, welche Projekte wir unterstützen wollen. Das sind
im Wesentlichen erneuerbare Energien, Energieeffizienz
und die Nachrüstung alter Kraftwerke. Wir müssen den
Entwicklungsländern die Möglichkeit geben, mit dem
Klimaschutz Erfahrungen zu sammeln, sodass sie in der
nächsten Verpflichtungsperiode ab 2010 ein wirkliches
materielles Interesse daran haben, dem Protokoll beizutreten, um in den Genuss von technologischen Entwicklungen zu kommen. Die Entwicklungsländer können und
müssen in diesem Prozess unsere Verbündeten sein.
Als Letztes zum Thema „cap“, zu der Frage, ob man
die flexiblen Mechanismen begrenzen, ihnen also einen
Deckel auflegen soll. Die Position der Europäischen
Union, maßgeblich durch die Bundesregierung bestimmt,
ist Folgende: Wir wollen, dass der Löwenanteil zu Hause
erledigt wird, Domestic Action, wie es so schön heißt.
Dafür gibt es einen wichtigen technologiepolitischen
Grund. Innovationen kommen dadurch zustande, dass
man einen gewissen Druck in eine bestimmte Entwicklungsrichtung hat. Wenn wir Druck aus dem Kessel lassen
und es nur darum geht, unsere State-of-the-Art-Technologie auf den Rest der Welt zu übertragen, dann würde das
zwar in der Tat dazu führen, dass in China die Wirkungsgrade der Kraftwerke steigen, was in Ordnung ist, aber
das würde keine weiteren technischen Innovationen in unserem eigenen Lande stimulieren. Wir wissen: Wenn wir
den Klimaschutz ernst nehmen wollen, dann brauchen wir
technologische Quantensprünge und nicht nur die einfache Verbreiterung des heutigen technologischen Niveaus
der Bundesrepublik auf den Rest der Welt.
Zusammengefasst möchte ich sagen: Wir ermutigen
die Bundesregierung auf der Basis dessen, was hier vorgetragen worden ist und was der Ministerrat vorgestern
beschlossen hat, in Den Haag zu agieren und auf der
Grundlage einer klaren gemeinsamen Position zusammen
mit den Entwicklungsländern für das In-Kraft-Treten des
Kioto-Protokolls zu streiten.
Danke schön.
({11})
Ich erteile der Kollegin Eva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als drohende
Geiselnahme der EU-Staaten und vieler anderer Länder
durch die USA beschreibt dpa das Kräfteverhältnis für
Den Haag. Ein interessantes Bild! In einer der wichtigsten
Fragen der Menschheit, dem internationalen Klimaschutz, droht wieder einmal der Weltpolizist Nummer
eins: Entweder ihr lasst uns weiter die Umwelt verpesten
oder wir sprengen die Konferenz. Vielleicht sollte die
Bundesregierung einmal ihr Verhältnis zum brüderlichen
Bündnispartner überprüfen, und zwar nicht nur beim Klimaschutz; es gibt noch einige andere Themen.
Doch zurück zur Politik im eigenen Land.
({0})
Die Bundesregierung hat ein Klimaschutzprogramm
verabschiedet. Das war höchste Zeit; denn die verbleibende Deckungslücke für das deutsche Klimaschutzziel,
wie die Bundesregierung die klimapolitische Altlast aus
der Kohl-Ära nennt, beträgt 7 Prozent. Nun scheint das bis
2005 nicht viel zu sein. Doch der Eindruck trügt. Das vereinigte Deutschland zehrt diesbezüglich noch immer vom
Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie. Ohne diesen
Sondereffekt hätten die produzierenden Bereiche seit
1990 niemals eine CO2-Reduktion von 18 Prozent erreicht. Im Westen kommt unter dem Strich sogar eine
leichte Erhöhung des Ausstoßes heraus.
Die Vereinigungsrendite hat allerdings auch etwas gekostet, beispielsweise die Steuerzahler, die die Subventionen für westdeutsche Investoren bezahlt haben, und die
Beschäftigten in Ostdeutschland, die auf die Straße flogen. Nun gut, seien wir ein wenig zynisch, indem wir die
klimapolitische Dimension dieses Markterschließungsprogrammes gutwillig zur Kenntnis nehmen. Doch lässt
sich diese Entwicklung langfristig fortschreiben? Nehmen wir für die Analyse einmal die umweltökonomische
Gesamtrechnung des Statistischen Bundesamtes zur
Hand. Dessen Präsident gab vor einem Monat zu bedenken, dass mehr als die Hälfte des gesamten Rückgangs des
CO2-Ausstoßes in Deutschland zwischen 1990 und 1999
in den ersten zwei Jahren nach der Vereinigung realisiert
wurde. Seitdem verlangsamte sich die Reduktion drastisch. Dazu kommt ein internationaler Aspekt: Die Importe von Energieträgern wie Kohle, Gas, Öl stiegen von
1991 bis 1997 um fast 16 Prozent an, während die Gewinnung von einheimischen Energieträgern um 26 Prozent zurückgefahren wurde. So werden Umweltprobleme
ins Ausland verlagert. Vor dem Hintergrund dieser Gesichtspunkte relativiert sich die Zahl von 16,2 Prozent
CO2-Gesamtreduktion in der Bundesrepublik Deutschland sowohl im Umfang als auch im Trend schon erheblich.
Die Frage lautet also: Sind wir für die anspruchsvollen
Ziele der Bundesregierung gerüstet? Schließlich geht es ja
nicht nur um eine 25-prozentige Reduktion bis 2005. Es
geht um 45 Prozent bis 2020. Als Kernprobleme identifiziert die Bundesregierung den Verkehr und die Wärmedämmung. Im Verkehrsbereich wachsen die Emissionen
unvermindert an. Nun soll bis 2003 eine entfernungsabhängige Schwerlastabgabe eingeführt werden. Dies ist
sicher zu begrüßen. Doch wo bleibt das Tempolimit? Wir
sind da in der EU völlig isoliert. Freie Fahrt für freie Bürger - dies scheint jetzt auch der Schlachtruf von Rot-Grün
zu sein.
({1})
Ich habe schon mehrmals in diesem Hause folgende
Aussage aus einer Studie des Wuppertal-Instituts zitiert:
Ohne wirksame Gegenmaßnahmen wird das Wachstum
des Verkehrs bis zum Jahre 2020 sämtliche Einsparungen
von Klimagasen in den anderen Bereichen zunichte machen. Die LKW-Emissionen werden drastisch, um 38 Prozent, wachsen und der Flugverkehr wird im Jahr 2020 das
Klima genauso stark belasten wie der PKW-Verkehr.
Herr Mehdorn hat ja beim Kassensturz seines Unternehmens graue Haare bekommen. Verdeckte Altlasten aus
Zeiten ausgedienter CDU-Parteifreunde an der Spitze der
Bahn AG, so wird jetzt das Milliardendefizit umschrieben.
({2})
- Wer brüllt, fühlt sich betroffen. - Da ist zwar etwas dran,
aber es ist nur die halbe Wahrheit. Die Streckenstilllegungen gehen weiter und der Interregio steht zur Disposition.
({3})
Damit würden aber ganze Regionen von einem Zugverkehr abgekoppelt werden, der größere Strecken auch in
vertretbarer Zeit zurücklegt. Wo soll eine solche Verkehrspolitik hinführen?
Wieder einmal wird eine Energiesparverordnung angekündigt. Auch wir sind wie die Bundesregierung der
Auffassung, dass gerade die möglichen Energieeinsparungen im Gebäudebereich große Potenziale für den
Klimaschutz enthalten. Die Summe von 400 Millionen
DM pro Jahr aus dem Bundeshaushalt dafür macht aber
nicht einmal ein Fünftel des Betrages aus, den die Bundesregierung im Zuge der Entlastungen dank der Ökosteuer den Unternehmen schenkt.
({4})
Ich möchte noch einmal wiederholen, dass die Nettoentlastung der Wirtschaft in Höhe von 2,2 Milliarden DM
nicht nur von den Bürgerinnen und Bürgern bezahlt werden muss, sondern auch zulasten der Umwelt geht. Wenn
gerade die Energiegroßverbraucher außen vor bleiben, ist
das Wort „Ökosteuer“ eher ein Witz.
({5})
Das Ganze ist nicht nur politisch - wegen der Proteste
an der Zapfsäule, denen man sich stellen könnte, wenn
man vernünftige und gerechte Konzepte hätte -, sondern
auch volkswirtschaftlich ein teures Vergnügen. Denn die
Ressourcen für den Klimaschutz sind ja nicht unerschöpflich. Aus volkswirtschaftlicher Sicht geht es letztlich auch darum, Klimaschutzpolitik effizient zu gestalten. Jetzt springt leider niemand von der F.D.P. auf und
schreit nach flexiblen Instrumenten. Deshalb zum Abschluss noch einmal zurück zu Den Haag.
Der Klimaschutz soll laut Modell mittels Emissionshandels für alle Beteiligten bei gleichen umweltpolitischen Ergebnissen billiger werden. Abgesehen von der
Tatsache, dass die als umweltpolitisches Ziel dienenden
Kioto-Vorgaben für die Gemeinschaft von 8 Prozent Reduktion aus naturwissenschaftlicher Sicht völlig unzureichend sind, ist eine solche Überlegung natürlich sinnvoll.
Doch ist der Emissionshandel auch zielführend und
praktikabel vollzugsfähig? Wir haben bezüglich des Handels innerhalb Europas starke Zweifel. Für den Handel in
größerem Maßstab, beispielsweise zwischen den USA
und Osteuropa, lehnen wir ihn, Stichwort „heiße Luft“,
schlichtweg ab.
Das Grünbuch der EU stellt wirklich kluge Fragen, die
noch nicht beantwortet sind: Wie und zu welchem Preis
werden die Emissionsmengen verteilt? Wie wird das Verhältnis zwischen am Handel teilnehmenden und am Handel nicht teilnehmenden Staaten bzw. Unternehmen unter
Wettbewerbsgesichtspunkten organisiert? Vor allem: Wie
lässt sich ein so gewaltiges System mit vertretbarem Aufwand tatsächlich kontrollieren? Es geht nicht um die überschlägige Abschätzung der CO2-Emissionen einzelner
Bereiche der Volkswirtschaft. Es geht um die genaue Erfassung des CO2-Ausstoßes jedes einzelnen beteiligten
Unternehmens.
Das Problem der Schlupflöcher ist bekannt; es wurde
schon angesprochen. Wir haben den Verdacht, dass der
globale Klimaschutz mit den flexiblen Instrumenten auf
eine falsche Fährte gelenkt werden soll, zugunsten cleverer Unternehmen und zulasten wirksamer Klimaschutzprogramme - letztlich gerade zulasten der ärmeren Teile
dieser Welt. Das, Herr Minister Trittin, muss verhindert
werden. Wir werden das auf keinen Fall mittragen.
Danke.
({6})
Ich erteile dem Kollegen Michael Müller, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Der Kollege Lippold hat zu
Recht darauf hingewiesen, dass dieses Haus nicht nur wegen der anstehenden Konferenz in Den Haag, sondern
auch weil es ebenfalls in der Vergangenheit zum Thema
Klimaschutz wirklich wichtige Beiträge geleistet hat, bei
dieser Debatte eine besondere Verpflichtung hat. Das ist
richtig. Das, was wir nach 1987, nach der Einsetzung der
Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre“,
an wissenschaftlichen und politischen Arbeiten geleistet
haben, ist etwas, worauf dieses Haus stolz sein kann.
({0})
Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass diese Arbeiten
nicht kleingeredet werden. Sie sind ein Schwerpunkt des
ökologischen und politischen Profils des Bundestages,
das wir nicht verspielen und das sich jetzt bestätigen
muss.
Es ist völlig richtig: Vor dem Hintergrund dieser Arbeiten stellten wir uns die Frage, wie es sein kann, dass
noch immer ein so eklatanter Widerspruch zwischen unserem weitgehend gesicherten Wissen und den nach wie
vor in vielen Bereichen halbherzigen Konsequenzen besteht: Die Klimaveränderungen und die damit für die
Menschheit verbundenen Herausforderungen sind offenkundig eine Schlüsselfrage der Menschheit; trotzdem bewegt sich nur so wenig. Diese Problematik gehört ins
Zentrum unserer politischen Diskussion.
Ich möchte zu den Chancen und zu den Risiken sprechen.
Der erste Grund, warum der Klimaschutz wichtig ist,
liegt darin, dass wir wissen: In der Zukunft wird es ohne
ökologische Stabilität auf der Erde keinen Frieden geben.
({1})
Ökologische Stabilität ist ein zentraler Punkt einer nach
vorne gerichteten Politik. So wie in der Vergangenheit die
Frage der sozialen Gerechtigkeit wichtig war - und bleiben wird -, so wird in der Zukunft die Behandlung der
Frage der ökologischen Stabilität darüber entscheiden, ob
wir zu einer partnerschaftlichen, friedlichen Welt kommen oder ob Spannungen und Konflikte zunehmen. Deshalb ist diese Angelegenheit kein Randthema. Wir tragen
hier große Verantwortung in einer immer mehr zusammenwachsenden Welt.
({2})
Der zweite Grund, warum wir auf den Klimaschutz so
viel Wert legen: Die Klimafrage ist wie kaum ein anderes
Thema mit der Nachhaltigkeitsdebatte verbunden. Wir
werden, was die Herstellung von Nachhaltigkeit angeht,
nicht weiterkommen, wenn wir nicht koordinierte Schritte
hin zu mehr Klimaschutz machen. Klimaschutz ist das
zentrale Thema. Darin bündelt sich alles, was an ökologischen, an technologischen, an sozialen und an umweltpolitischen Herausforderungen der Zukunft zu sehen ist. Insofern bedeuten Fortschritte beim Klimaschutz auch
Fortschritte bei der Nachhaltigkeit.
Der dritte wichtige Punkt ist: Wir erleben, dass die
lange Phase der Industriegesellschaft, die vor allem mit
der Erwerbsarbeit verbunden war, also mit einer Arbeit,
die in hohem Maße auch auf Kosten des Naturkapitals gelebt hat, zu Ende geht. Die Zukunft wird andere Formen
von Arbeit brauchen und es wird sich vor allem in den Industriestaaten entscheiden, ob die Erwerbsgesellschaft in
Zukunft eine Organisationsform findet, die Frieden mit
der Natur schließt, oder ob wir künftig weiter auf Kosten
kommender Generationen leben. Der Klimaschutz ist für
uns eine Chance, Arbeit und Umwelt miteinander zu verbinden. Diese Chance müssen wir nutzen. Deshalb ist
übrigens auch die ökologische Steuerreform so wichtig.
Es gibt weltweit kein Dokument zum Klimaschutz, in
dem sich nicht die Forderung nach mehr ökologischer
Steuerreform findet.
({3})
Und natürlich ist der Klimaschutz auch eine Herausforderung an die Effizienzrevolution. Wir haben die große
Chance, die höhere Produktivität zu nutzen, die wir durch
Energieeinsparung und rationelle Ressourcenverwendung ermöglichen können.
Sosehr wir es akzeptieren und auch stolz darauf sind,
dass wir in der Bundesrepublik die CO2-Emissionen gegenüber 1990 erheblich verringert haben - wir wissen
auch, dass ein Großteil auf den Strukturwandel in den
neuen Bundesländern zurückzuführen ist -, ist es doch
alarmierend, dass das Wachstum der Energieproduktivität in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen ist.
Wir hatten in den 70er-Jahren nach der ersten Energiepreiskrise ein Wachstum von rund 2,5 Prozent. In dem darauf folgenden Jahrzehnt hatten wir einen Schnitt von etwas über 2 Prozent zu verzeichnen und heute liegen wir
jetzt nur noch bei 1,5 Prozent im Wachstum der Energieproduktivität. Wir nutzen bei weitem nicht das, was wir
könnten. Insofern müssen wir zugeben, dass ein Großteil
der CO2-Reduktion auf den Strukturwandel und - leider nicht auf eine aktive Energie- und Umweltpolitik zurückzuführen ist. Hier hätte unser Land mehr tun können; denn
wir haben erhebliche Produktivitätsreserven, die bisher
aber nicht genutzt worden sind.
Meine Damen und Herren, ich will auch über die Risiken sprechen. Das größte Risiko - und auch eine gewaltige Herausforderung an unser Denken - ist der zeitliche
Druck, die große Beschleunigung und Hektik, unter der
die moderne Zivilisation steht. Wir wissen: Klimaänderungen haben einen zeitlichen Vorlauf von vier bis fünf
Jahrzehnten. Das heißt: Das, was in den letzten 40 bis
50 Jahren an Wärme stauenden Gasen freigesetzt wurde,
werden wir erst in der Zukunft zu spüren bekommen. Ein
Teil der Zukunft ist also schon nicht mehr veränderbar.
Das ist für uns, die wir immer sehr auf die Gegenwart, auf
die Aktualität bezogen sind, eine gewichtige Herausforderung an unsere Verantwortung und unser Handeln. Dies
fällt in einer Phase, in der wir durch die Globalisierung
wie noch nie zuvor nur auf eine kurzfristige Verwertungslogik ausgerichtet sind, umso schwerer. Um es deutlich zu
sagen: Die heutigen Mechanismen der Globalisierung
sind mit ökologischer Verantwortung nicht vereinbar.
Hier brauchen wir eine ökologische Gestaltung.
({4})
Wir müssen auch wissen, dass wir in der Klimaproblematik unterschiedliche Betroffenheiten haben. Auch das
macht einen Teil der Problematik aus, dass zu wenig getan wird. Ein Teil dieser Welt wird weitaus später und geringer von ökologischen Katastrophen betroffen sein als
insbesondere die instabilen Länder in den tropischen und
subtropischen Zonen. Auch dies ist eine Herausforderung
an unsere Verantwortung, an unser Denken in globalen
Zusammenhängen und an unser Handeln für eine friedliche Welt.
Ich will einen weiteren Aspekt nennen. In vielen Fragen haben wir es mit einem hohen Maß an Nichtwissen zu
tun. Ein Beispiel: Das vielleicht aktivste Treibhausgas ist
Wasserdampf. Wir reden fast nur über den so genannten
trockenen Treibhauseffekt, also über Kohlendioxid, Methan und andere Wärme stauende Gase. Wir wissen nicht,
welche Folgen beispielsweise die Erwärmung der Erde
und die hierdurch verstärkte Verdunstung in die Atmosphäre haben kann. Wir wissen aber, dass sich durch die
bisherige Erwärmung bereits etwa 5 Prozent mehr Wasserdampf in der Atmosphäre befinden und sich insofern
die Wärmebilanz und der Energiehaushalt der Atmosphäre verändern. Das kann auch schon kurzfristig zu
sehr gravierenden Wetterextremen und -veränderungen
führen. Wir wissen zu wenig über diese Prozesse. Umso
wichtiger ist es, vorsorgend zu handeln und nicht zu warten, bis wir durch Ereignisse gezwungen werden, tätig zu
werden.
({5})
Als letzter Punkt kommt hinzu - er ist noch nicht oft
genug angesprochen worden -: Wenn wir das heutige Niveau der Industrieländer beibehalten, müsste die Ressourcenmenge für die Erde etwa zehn Mal höher sein, als sie
tatsächlich ist, um die Bedürfnisse der wachsenden Weltbevölkerung zu befriedigen. Das ist nicht machbar. Insofern bringe ich es auf den Punkt: Klimaschutz bedeutet im
Kern ein radikales Umdenken in den Industriestaaten. Sie
müssen die Fähigkeit zeigen, mit den begrenzten Ressourcen der Erde umzugehen. Das ist der entscheidende
Punkt. An dem werden wir gemessen.
({6})
Wir haben heute bereits eine Situation, dass die Temperaturen etwa ein Grad Celsius über dem natürlichen
Treibhauseffekt liegen. Wenn der Trend anhält, werden
wir Ende dieses Jahrhunderts mit einem weiteren Ansteigen der Temperatur um 1,5 bis 3,0 Grad Celsius rechnen
müssen. Die kritische Erwärmungsobergrenze, die im
äußersten Fall noch vertretbar ist, liegt bei etwa 1,5 Grad
Celsius. Das heißt: Wir liegen heute schon knapp an der
Grenze dessen, was die Erde verkraften kann - und das
vor dem Hintergrund der Zeitverzögerung, die Klimaprozesse haben.
Die Klimaänderungen sind sehr viel dramatischer, als
wir es uns in der Regel eingestehen. Das Schlimme ist:
Durch die alltägliche Berichterstattung haben wir uns
so an diese Meldungen gewöhnt, dass wir die Tragweite
der Informationen scheinbar gar nicht mehr richtig wahrnehmen können. Umso mehr stellt sich die politische Verantwortung. Wir, die politisch Verantwortlichen, können
nicht sagen, dass wir die Fakten nicht gewusst haben.
Insofern wünschen wir uns, dass der Umweltminister
in Den Haag Erfolg hat. Die Grundlinie heißt: Wir müssen in Europa und in Deutschland ein Beispiel dafür liefern, dass Ökologie und Ökonomie dauerhaft miteinander
verbunden werden können und dass dieses vor allem sozial verträglich organisiert werden kann. Das sind die beiden Herausforderungen an uns.
Erste wichtige Schritte haben wir gemacht, beispielsweise durch die Einleitung der Energiewende und durch
eine Reihe von anderen Programmen, wozu auch die
Ökosteuer gehört. Natürlich ist die Ökosteuer unbequem,
aber es ist viel schlimmer, sich am Ende, wenn große Veränderungen eintreten, vorwerfen zu lassen, dass nicht gehandelt hätten. Wir müssen die Verantwortung der Politik
auch wirklich wahrnehmen. Deshalb werden wir an der
Ökosteuer festhalten.
({7})
Die Wissenschaft sagt - ich zitiere Professor Hasselmann
vom Max-Planck-Institut -: Wir haben beim Klimawechsel
von einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent auszugehen.
Das ist eine Herausforderung, aus der man sich nicht
durch parteipolitische Tricks herausstehlen kann. Hier
sind wir alle gefordert, auch unbequeme Wahrheiten zu
sagen, aber auch die Chancen einer Klimapolitik zu ergreifen. Die Chancen habe ich genauso aufgezeigt wie die
Risiken. Wir müssen beides sehen und handeln.
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Peter Paziorek, CDU/CSU-Fraktion.
Michael Müller ({0})
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Die Konferenz in Den Haag
darf nur ein Ergebnis haben: Es muss eine Einigung erzielt werden, wie das weltweite Wirtschaftswachstum
endlich einen klimafreundlichen Weg einschlagen kann.
Herr Müller, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu: Im
Vorfeld dieser Konferenz müssen wir über den Tellerrand
unserer nationalen Klimaschutzpolitik hinwegschauen.
Es kann heute nicht nur darum gehen, darüber zur reden,
wie gut wir sind und was wir noch besser machen müssen.
Vielmehr müssen wir heute auch darüber reden, dass die
Industrieländer handeln müssen, damit es anderen auf dieser Erde nicht schlechter geht. Das müssen wir - das ist
das große politische Problem - auch der Bevölkerung in
unserem Land verdeutlichen. Aber ich sage: Wenn man
das so lustlos macht, wie das der Bundesumweltminister
heute Morgen hier getan hat, dann frage ich mich: Wo ist
die Begeisterungsfähigkeit, um die Menschen von diesem Weg zu überzeugen und sie auf diesem Weg mitzunehmen?
({0})
Herr Minister, ich muss deutlich sagen: Ihr Redebeitrag heute Morgen war eine personifizierte Energieeinsparverordnung. Es war falsch, sich bei diesem Punkt so
zurückhaltend zu verhalten.
({1})
Ich kann dafür nur einen Grund finden: Sie haben die Befürchtung, dass Den Haag scheitern könnte, und wollen
wahrscheinlich nicht mit einem Misserfolg identifiziert
werden. Ich kann nur sagen: Nehmen Sie sich ein Vorbild
an Töpfer und Frau Merkel. Diese standen Jahr für Jahr
vor schwierigen Klimaschutzkonferenzen - die immer
auf der Kippe standen - und haben sich sowohl in
Deutschland als auch international bei den Vorbereitungen persönlich engagiert, um durch ihren persönlichen
Einsatz die Fronten aufzuweichen und trotz unterschiedlicher Interessen zu einem Ergebnis zu kommen. Man hat
persönlich gespürt - ich war bei verschiedenen Konferenzen, zum Beispiel in Rio, dabei -, wie beide versucht haben, zu einem vernünftigen Kompromiss zu kommen. Sie
sind aber niemals hier so aufgetreten, wie Sie es eben gemacht haben. Wer von einer Sache nicht selbst begeistert
ist, kann andere Menschen nicht mitnehmen.
({2})
- Eben.
({3})
Wenn ich mir ansehe, wie Sie in der letzten Zeit bei
manchen Talkrunden - auch bei Angriffen gegen die
Union - ganz massiv, teilweise überaus engagiert und
stark polemisch an die Sache herangegangen sind, muss
ich sagen: Sie können es auch anders. Deshalb stelle ich
mir die Frage: Warum waren Sie heute Morgen so zurückhaltend?
({4})
Im Rahmen der globalen Umweltpolitik ist es natürlich
auch richtig, dass wir über unsere nationalen Maßnahmen
reden. Das können wir aber nur mit einem klaren Konzept
und großer Begeisterungsfähigkeit; an beiden Punkten hat
es heute gefehlt.
({5})
Ich möchte hinsichtlich der Frage eines klaren internationalen Konzeptes einige Zahlen nennen: Die Volksrepublik China hat 1995 3,3 Milliarden Tonnen CO2 emittiert,
1997 3,1 Milliarden Tonnen; mittlerweile - nach einem
kurzzeitigen Rückgang durch eine Änderung der Wirtschaftspolitik - hat man wieder 3,3 Milliarden Tonnen erreicht. Damit liegen in absoluten Zahlen gemessen viele
Staaten in Südostasien vor den Staaten der Industrieländer. Stellt man einen Pro-Kopf-Vergleich an, wird man erkennen, dass pro Kopf die USA etwa achtmal so viel CO2
ausstoßen wie China. Die neuesten Forschungsergebnisse, die am Wochenende in der Presse veröffentlicht
worden sind, machen deutlich: Es muss schnell gehandelt
werden, es muss nicht nur national, sondern auch global
sinnvoll gehandelt werden. Es ist nicht länger zu leugnen, dass Klimaschutzpolitik auch Wirtschafts- und Entwicklungshilfepolitik ist. Die rasante Industrialisierung
Asiens, der Hunger nach immer mehr Energie und das Bedürfnis der Länder Asiens, Konsum nachzuholen, stellen
uns in dem Bemühen, die globalen CO2-Emissionen zu
reduzieren, vor gewaltige Herausforderungen.
Diese Herausforderungen können nicht allein national
bewältigt werden; auch für die Europäische Union ist dabei unter realistischer Sichtweise der Rahmen zu klein. Es
hilft nur eine globale Sichtweise und hinsichtlich des globalen Klimaschutzes hat - das muss man leider feststellen - die Bundesregierung in den letzten Monaten konzeptionell versagt. Das von Ihnen, Herr Umweltminister
Trittin, kürzlich vorgestellte Programm zum Klimaschutz
enthält gute Ansätze - ich will das gar nicht leugnen -, bezeichnet aber die vorgesehenen Maßnahmen nicht konkret genug und kommt zeitlich eindeutig zu spät.
({6})
Die Maßnahmen hätten schon vor zwei Jahren in Angriff
genommen werden müssen.
Weiterhin weisen Sie voller Stolz darauf hin, Sie hätten
eine Vereinbarung mit der deutschen Industrie hinsichtlich
einer Selbstverpflichtung erzielt. Zunächst einmal, Frau
Bulling-Schröter, muss ich Ihnen sagen: Ihre Zahl stimmt
nicht; der Fortschritt im gewerblichen Bereich der Industrie bei dem Bemühen, die CO2-Emissionen zu reduzieren,
liegt seit 1990 bei minus 31 Prozent. Herr Trittin, Sie weisen auf die neue Vereinbarung zur Selbstverpflichtung hin.
Ich kann mich noch daran erinnern, dass dieses Instrument
der Selbstverpflichtung, das wir 1995 in die deutsche
Umweltpolitik eingeführt haben, vor wenigen Jahren von
Ihnen massiv bekämpft worden ist.
({7})
Sie haben es als ein Instrument bezeichnet, das zeigt,
dass wir nicht den Mut hätten, gegen den CO2-Ausstoß
wirklich engagiert vorzugehen. Nun gehen Sie hin und sagen: Das ist ein erfolgreiches Instrument.
({8})
Sie kopieren das, was unter Töpfer und Merkel bahnbrechend entwickelt worden ist.
({9})
Wir geben natürlich zu: Die Situation ist sehr schwierig.
Die Bereitschaft einiger internationaler Partner zu Kompromissen in der Klimaschutzpolitik hat - ich will das mal
so formulieren - nicht zugenommen. Staaten wie USA
und Japan versuchen in den angestrebten rechtlichen Vereinbarungen Schlupflöcher abzusichern; dies können wir
nicht akzeptieren. In diesem Punkt haben Sie die ausdrückliche Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion.
Wer bei der Bekämpfung der Folgen des Klimawandels auf Schlupflöcher setzt, ist für die negativen Folgen
einer solchen Politik mitverantwortlich. Wir müssen damit an die USA appellieren: Macht bei glaubwürdigen
Vereinbarungen und effektiven Reduktionen mit und
setzt euch nicht immer von einer sinnvollen Klimaschutzpolitik ab.
({10})
Wir werden heute Zeugen einer Verschiebung des
Schwergewichts an Emissionen vom Nordatlantikraum
nach Asien. Die Reduktionserfolge in Deutschland und in
ganz Europa werden binnen kürzester Zeit durch das
Wirtschaftswachstum in Asien aufgezehrt werden.
Um nicht missverstanden zu werden: Auch die
CDU/CSU-Fraktion steht eindeutig zu dem Ziel, den nationalen CO2-Ausstoß um 25 Prozent bis zum Jahre 2005
zu reduzieren. Das mag im globalen Vergleich zwar nur
ein geringer Beitrag sein. Aber er ist notwendig, um bei
den anstehenden internationalen Verhandlungen glaubwürdig auftreten zu können. Wir können mit den Entwicklungsländern nur glaubwürdig verhandeln, wenn wir
selbst unsere Hausaufgaben machen und Lösungen entwickeln und anbieten, die im globalen Rahmen effektiv
und auch finanziell sinnvoll sind.
Ich glaube, dass wir in diesem Hause in vielen Punkten
des Klimaschutzes übereinstimmen. Es ist im Interesse
der Klimaschutzpolitik, dass wir gemeinsam agieren.
Deshalb sage ich ganz deutlich: Es ist sehr schade, dass es
nicht gelungen ist, in Vorbereitung auf Den Haag noch
kurzfristig, wie ich es erst gestern noch im Umweltausschuss angeregt habe, einen fraktionsübergreifenden Entschließungsantrag zu verabschieden. Das hätte die deutsche Verhandlungsposition enorm verbessert.
({11})
- Nein, Frau Ganseforth, Sie hätten mit Ihrer Regierungsmehrheit die Aufgabe gehabt, auf die Opposition zuzugehen, und zwar so, wie wir es 1992 auch getan haben.
({12})
- Doch, das ist wahr. Am 6. Mai 1992 haben die Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. - die Grünen waren damals nur durch das Bündnis 90 in diesem
Hause vertreten, weil sie bei den Bundestagswahlen 1990
die Fünfprozenthürde nicht überwunden hatten - einen
gemeinsamen, also einen fraktionsübergreifenden, Antrag - er trägt die Unterschriften von Schäuble, Klose und
Solms - verabschiedet, in dem es heißt:
Der Deutsche Bundestag begrüßt den jetzt vorgelegten Bericht der Enquete-Kommission und fordert die
Bundesregierung auf, die Empfehlung des Berichts
auf nationaler und internationaler Ebene bei ihren
Initiativen und Entscheidungen zu berücksichtigen.
({13})
So lautet der gemeinsame Beschluss der Fraktionen vor
der Rio-Konferenz 1992. Sie hatten überhaupt kein Interesse an einer gemeinsamen Position. Ich finde es schade,
dass es jetzt keinen fraktionsübergreifenden Antrag gibt.
Ich habe schon gestern gesagt, wir hätten einen solchen
Antrag mitgetragen.
({14})
Ich darf Sie, Herr Trittin, daran erinnern: Es wird jetzt
darauf ankommen, eine Strategie zu entwickeln, die Antwort auf die Fragen gibt
({15})
- Frau Ganseforth, es hat Sie wohl ziemlich getroffen,
dass ich mich daran erinnern konnte, was wir 1992 gemeinsam verabschiedet haben; tut mir Leid! -:
({16})
Wie können flexible Instrumente auf globaler Ebene möglichst effektiv eingesetzt werden? Wie kann ein Technologietransfer zwischen den Schwellenländern und Europa
organisiert werden? Wie kann das berechtigte Streben der
Länder Asiens nach mehr Wohlstand mit der Sorge um das
Weltklima in Einklang gebracht werden? Es wird nicht
ausreichen, dass man sich in Deutschland und in Europa
gegenseitig Erfolge bescheinigt; vielmehr wird es darauf
ankommen, dass wir in einen echten Dialog mit den
großen Emittenten von morgen treten und mit diesen eine
Partnerschaft zum Schutze des Weltklimas begründen.
Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, Vorschläge für eine Strategie, die zu einer echten Partnerschaft zugunsten des Weltklimas führt, vorzulegen, die es
den anderen Staaten ermöglicht, das Kioto-Protokoll zu
ratifizieren, damit es endlich verbindlich wird, eine Strategie zu entwickeln, die Ökonomie und Ökologie versöhnt, den Belangen der Schwellenländer und der Entwicklungsländer Rechnung trägt und auch die zaudernden
europäischen Partner motiviert, sich an ihre Reduktionsverpflichtungen zu halten.
Herr Trittin, machen Sie die deutsche Klimaschutzpolitik wieder glaubwürdiger in der Welt; engagieren Sie
sich auch persönlich stärker für eine solche Politik und
verpassen Sie nicht die Chance, Den Haag zu einem Erfolg für den Klimaschutz zu machen! Wenn Sie diese
Punkte berücksichtigen, aber nur dann, wird Ihnen die
Unterstützung der Umweltpolitiker der CDU/CSU sicher
sein.
Vielen Dank.
({17})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wenn man mit einer gewissen Distanz die internationalen
Verhandlungen betrachtet und sie einmal ins Verhältnis zu
dem setzt, was viele Rednerinnen und Redner in der heutigen Debatte unter den großen Herausforderungen verstehen, dann muss man festhalten, dass es eigentlich
schier unerträglich ist, wie langsam der Prozess des Klimaschutzes vorangeht.
({0})
Ich finde es nur schwer erträglich, dass die Ziele nur
minimal und - gemessen an den großen Herausforderungen - nicht ambitioniert genug sind. Schließlich ärgert
mich - das finde ich gar nicht mehr erträglich -, dass in
manchen Ländern offenbar die Mentalität vorherrscht, zu
fragen, wie man es vermeiden kann, etwas zu tun. Das ist
eine grundlegend falsche Haltung. Wir brauchen vielmehr
die Einsicht, dass wir etwas tun müssen. Wir müssen uns
fragen, auf welchem Wege wir etwas erreichen können.
({1})
Ich beklage diesen schleppenden internationalen Prozess - ich habe bei Ihnen durchaus ähnliche Tendenzen
ausgemacht - und bin der Meinung, dass es notwendig ist,
dass wir auf nationaler Ebene alles in unserer Verantwortung Stehende tun und dass wir nicht länger auf die anderen starren und sagen: Erst wenn die etwas machen, tun
wir etwas. Wir müssen vielmehr sagen: Lasst uns gemeinsam voranschreiten! Das ist unsere Verpflichtung.
Es kommt jetzt darauf an, im eigenen Land sinnvolle
Projekte und Strategien für den Klimaschutz zu entwickeln. Ich bin froh, dass wir heute darüber diskutieren
können, nachdem eine Klimaschutzstrategie der Regierung bereits vorgelegt wurde und nachdem wir in vielen
Bereichen einiges erreicht haben. Beispielsweise konnten
wir im Bereich der Energiepolitik die Wende einleiten.
Was müssen wir tun? Was ist die neue Maxime? Man
kann unsere Ziele als einen neuen Dreiklang formulieren:
weniger Energieverbrauch und CO2-Emissionen, effizienterer Einsatz von Energie sowie intelligentere Nutzung der Energie, was eine Nutzung regenerativer Energien beinhaltet.
Die Politik der Koalition hat auf diesem Gebiet zweifellos große Fortschritte erzielt. Ich will Ihnen jetzt nicht
vorwerfen - das ist ja ansonsten ein beliebtes Spiel in diesem Hause -, was Sie nicht gemacht haben. Ich denke, wir
sind heute an einem Punkt angelangt, an dem wir nicht
mehr zurückschauen sollten, sondern an dem sich alle
bemühen sollten, neue Konzepte in die öffentliche Debatte einzubringen. Ich freue mich, dass die CDU/CSU einen Vorschlag hinsichtlich eines Altbauprogramms vorgelegt hat.
({2})
- Ja, das haben Sie schon öfter getan. Ich finde es gut, dass
Sie jetzt einen systematischen Katalog vorlegen.
Sie haben sich immer wieder darüber beklagt, dass wir
bei der Energieeinsparverordnung nicht schnell genug
vorankommen. Wir werden in den nächsten Monaten einen Vorschlag vorlegen, der in Richtung Ihres Antrags
geht.
({3})
Natürlich sehen wir Energiekennzahlen sowohl für die
Neubauten als auch für die Altbauten vor, damit transparent wird, wie viel Energie in den Häusern verbraucht
wird. So werden wir sowohl im Neubaubereich als auch
im Altbaubereich die Wende einleiten.
({4})
- Warten Sie es ab und seien Sie nicht gleich so skeptisch!
Wir haben eine Reihe von Ihren Vorschlägen aufgegriffen.
Im Übrigen kann ich Sie nur dazu auffordern, dass die von
Ihnen regierten Bundesländer dazu beitragen, eine ambitionierte und anspruchsvolle Energieeinsparverordnung durch den Bundesrat zu bringen. Man sollte hier
nicht starke Reden halten und auf Landesebene das Vorhaben ausbremsen. Ich bitte in diesem Punkt um Ihre Unterstützung.
({5})
Herr Paziorek, Sie haben zu Recht darauf verwiesen,
dass im Bereich des Klimaschutzes die Selbstverpflichtung für uns inzwischen eine andere Rolle spielt als
früher. Dazu möchte ich Ihnen sagen: Die ersten Selbstverpflichtungen haben darunter gelitten, dass sie relativ
zahnlos,
({6})
nicht präzise genug und nicht überprüfbar waren, sodass
sie relativ wirkungslos waren. Wir haben daraus gelernt
und in unser Klimaschutzprogramm die Selbstverpflichtung nur zu einem kleinen Teil - für den größeren Teil haben wir härtere Maßnahmen vorgesehen, dazu haben Sie
geschwiegen - aufgenommen. Aber diese Selbstverpflichtung haben wir sozusagen so scharf gemacht, damit
etwas Wirkungsvolles dabei herauskommt. Ich glaube,
das ist ein wichtiges Element einer neuen Umweltpolitik.
({7})
Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zur PDS. Ich
amüsiere mich manchmal darüber, dass Sie von der PDS
im Umweltausschuss und auch hier in Ihren Reden immer
eins draufsetzen und sagen: Macht endlich mehr! Ihr habt
doch früher mehr gefordert! Immer dann, wenn eine
Maßnahme greift, seid ihr die Ersten, die larmoyant rufen,
dass es irgendwie die Falschen trifft.
({8})
- Beispielsweise Ökosteuer.
({9})
Ihr sagt andersrum: Bei der Ökosteuer werden die größten Verbraucher ausgenommen.
({10})
Das ist banal gedacht. Wir haben diese Regelung doch
nicht eingeführt, weil wir die Großverbraucher schonen
wollen, sondern weil Arbeitsplätze dort gefährdet werden
würden, wo die Energie eine große Rolle bei der Produktion spielt. Nachhaltige Politik heißt, soziales Denken mit
ökologischem Denken zu verbinden und in diesem Sinne
zu sagen: Wir brauchen eine Übergangsregelung.
({11})
Man ist auch deswegen so vorgegangen, um nicht Arbeitsplätze zu gefährden. Das müssen Sie doch verstehen.
Denn an anderer Stelle sind Sie immer diejenigen, die sofort nach der - aus meiner Sicht nicht ausgeklügelten Strategie des sozialen Ausgleichs rufen.
({12})
Das alles sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen. Ich
warte auf eine Kampagne der PDS, wie man in besonderer Weise in den neuen Bundesländern etwas zum Klimaschutz beitragen kann.
({13})
Denn dort gibt es sowohl bei den Strukturen als auch bei
den Menschen besondere Ansatzpunkte.
Was wir heute wirklich brauchen, ist nicht das Rufen
nach dem Staat und der Politik; denn an den Rahmenbedingungen haben wir viel geändert. Was wir vielmehr
brauchen, ist, dass auf allen Ebenen gesellschaftliche
Gruppen, Organisationen, ja Bündnisse entstehen, die
sich für den Klimaschutz einsetzen. Das, was vor Jahren
auf kommunaler Ebene begonnen hat, muss in allen anderen Bereichen der Gesellschaft fortgesetzt werden, zum
Beispiel bei den Verbrauchern. Auch der ADAC sollte
nicht nur zum Spritsparen aufrufen, sondern in diesem
Zusammenhang eine richtige Kampagne durchführen.
({14})
Auch die Bauindustrie und die Eigentümer von Wohnhäusern und Eigentumswohnungen sollte eine Kampagne
dahin gehend durchführen, dass sie in ihrem Eigentum
den Klimaschutz beachten, da es zukünftig für alle sinnvoll ist, dem Klima etwas Gutes zu tun. Wir brauchen
auch in der Wirtschaft, dort, wo viel Energie verbraucht
wird, Impulse bzw. Bündnisse, die dafür sorgen, dass in
allen Bereichen möglichst wenig Energie verbraucht
wird.
Wenn wir es nicht schaffen, dass sich neben der Politik
viele Bürgerinnen und Bürger sowie Organisationen, also
das, was man Zivilgesellschaft nennt, für den Klimaschutz stark machen und sich für ihn einsetzen, werden
wir all die ambitionierten Ziele, die wir haben, nicht erfüllen können. Ich bitte sehr darum, dass Sie in Ihren Kreisen und in Ihren Bereichen, in denen Sie tätig sind, dafür
werben, ein Bündnis für den Klimaschutz zu schaffen.
Vielen Dank.
({15})
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Eva BullingSchröter.
Kollege Winfried
Hermann hat festgestellt, die PDS beziehe eine unglaubwürdige Position zur Ökosteuer. Ich möchte kurz die
Position der PDS zur Ökosteuer darlegen - vielleicht ist
sie Ihnen nicht mehr im Gedächtnis -:
Erstens. Wir lehnen Ihre Ökosteuer ab. Wir sind nicht
gegen eine Ökosteuer, sondern gegen Ihre Ökosteuer, weil
wir sie für sozial ungerecht halten.
({0})
Denn mit dem Aufkommen aus dieser Ökosteuer werden
Lohnnebenkosten kompensiert. Alle diejenigen, die
keine Lohnnebenkosten zahlen, erfahren keinen sozialen
Ausgleich. Das betrifft Sozialhilfeempfänger, BAföGEmpfänger sowie Rentnerinnen und Rentner, also eine
ganze Reihe von Menschen.
({1})
- Sie sind zum Teil auch schwer belastet. Es gibt Rentnerinnen und Rentner, die sehr hohe Renten haben; aber es
gibt auch andere. - Wir meinen, auch Sozialhilfeempfänger sollten ökologisch leben können. Durch den Umverteilungsprozess werden laut Herrn Minister Trittin
2,2 Milliarden DM von unten nach oben verschoben. Das
heißt, die Unternehmen erzielen dadurch Gewinne.
Dass man das Ganze vielleicht stufenweise einführen
könnte, darüber haben Sie offensichtlich nicht nachgedacht.
({2})
Natürlich muss auch die Frage der Arbeitsplätze eine Rolle
spielen; aber nicht nur diese Frage ist hierbei wichtig.
Zweitens zur ökologischen Lenkungswirkung. Sie
könnte wesentlich größer sein. Dies wäre dann der Fall,
wenn man bei der Primärenergie ansetzen würde, wie die
Umweltverbände das immer wieder fordern.
({3})
- Sie können gerne später darauf eingehen.
Drittens zum ökologischen Umbau. Wir meinen, dass
das Aufkommen aus der Ökosteuer komplett in den ökologischen Umbau fließen sollte.
({4})
Das hieße dann, dass zum Beispiel der öffentliche Nahverkehr ausgebaut werden müsste. Auch im Gebäudebereich wären Maßnahmen nötig.
({5})
Zu Ostdeutschland nur eine Zahl: Zu Zeiten der DDR
wurden 80 Prozent der Güter auf der Schiene transportiert. Jetzt hat sich diese Zahl an die im Westen angeglichen. Natürlich wird jetzt mehr Verkehr erzeugt. Man
hätte das frühere Transportsystem belassen können. Die
Binnenschifffahrt der DDR war zu 80 Prozent ausgelastet.
Die Auslastung liegt in den neuen Bundesländern jetzt bei
30 Prozent. Hier wären Kapazitäten frei. Dies würde auch
zur CO2-Reduzierung beitragen.
({6})
Zu einer Antwort erteile ich dem Kollegen Winfried Hermann das Wort.
Frau Kollegin, worauf es mir ankam und was ich jetzt in
Ihrer Antwort wieder nicht gehört habe, ist Folgendes: Sie
müssen das Grundlegende zur Kenntnis nehmen. Wenn
Sie eine ökologische Steuerreform machen, also eine indirekte Steuer erheben, treffen Sie zunächst alle gleich.
Eine indirekte Steuer können Sie nicht sozial ausgewogen
erheben; sie trifft eben diejenigen, die wenig haben, härter als diejenigen, die viel haben.
({0})
Parallel dazu müssen Sie etwas Zweites tun. Das hat
diese Koalition gemacht. Parallel dazu haben wir eine
sozial orientierte Steuerreform gemacht, die zu einer deutlichen Entlastung der unteren und mittleren Einkommensgruppen geführt hat, und wir haben eine Reihe von
Ersatz- und Stützmaßnahmen zum Beispiel für Sozialhilfeempfänger, für Wohngeldempfänger oder auch für
Rentner ergriffen. Wir haben uns darüber Gedanken gemacht, wie man die Rentner dauerhaft auf einem hohen
Niveau absichern kann. Dies muss man zusammenzählen
und darf es nicht auseinander dividieren.
({1})
Dasselbe gilt für die Investitionen. Wir haben zwar
nicht die Einnahmen aus der Ökosteuer - wie Sie das wollen - für Investitionen genommen, aber wir haben in den
letzten zwei Jahren in erheblichem Umfang aus allgemeinen Steuereinnahmen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung in die Infrastruktur und die Modernisierung investiert, gerade im Bereich der Bahn, und zwar vom
Volumen her in einer Höhe, die sich auch im internationalen Vergleich wirklich sehen lassen kann.
Jetzt hat der Abgeordnete Michael Goldmann das Wort.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einige von uns sitzen
jetzt seit zwei Stunden hier und beschäftigen sich mit dem
Thema „Klimaschutz“. Wenn wir ein Fazit ziehen, kann
man zu dem Ergebnis kommen: Wir haben viele schöne
Worte gehört, aber es fehlt an vielen Stellen an den ganz
konkreten Taten. Schon früher habe ich den Slogan „Global denken und lokal handeln“ ganz gut gefunden. Vorhin
habe ich die Worte von Herrn Müller gehört, der gesagt
hat, die ökologische Herausforderung habe ganz entschieden etwas mit Friedensbildung in der Welt insgesamt
zu tun. Dies kann man nur unterstreichen. Herr Hermann
hat gesagt: Wir stehen vor großen Herausforderungen, es
handelt sich um einen schleppenden internationalen Prozess, der aber vor Ort mit Taten aufgefüllt werden muss.
Wenn das alles so ist, sollten wir uns mit einem Bereich
einmal ganz konkret befassen. Ich meine die Wohnungsbaupolitik und die dort vorhandenen CO2-Einsparpotenziale. Herr Hermann, ich bin sehr gespannt auf das, was
Sie vorlegen. Aber bis jetzt haben Sie nichts vorgelegt. Sie
haben in diesem Bereich bis jetzt nichts auf den Weg gebracht. Sie haben Ihre umweltpolitischen Hausaufgaben
schlicht und ergreifend nicht gemacht. Sie werden die
CO2-Minderungsziele im Gebäudesektor durch Ihr
Nichtstun verfehlen. Das ist bedauerlich.
Sie haben eine Energieeinsparverordnung nicht zustande gebracht, weil Sie sich in technischen Details verloren haben, weil Sie sich von Interessenvertretern haben
beeinflussen lassen. Jetzt zum Schluss haben Sie auch
noch Ärger in der eigenen Regierung, denn endlich ist der
Minister in dieser Hinsicht aufgewacht - auch wenn ich
ihn heute Morgen eher müde und einschläfernd erlebt
habe - und nimmt auch noch Einfluss. Das führt dazu,
dass wir hier nicht weiterkommen.
Die Folgen Ihrer Untätigkeit, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, sind schon schlimm.
Dieses ökologische Durchwursteln
({0})
- ja, so ist das - führt zu einer massiven Verunsicherung
beim Mittelstand und beim Handwerk,
({1})
bei den Investoren, bei den Bauherren und den Energieversorgern. Ein großer Bereich, ein volkswirtschaftlich
wichtiger Sektor mit Arbeitsplätzen und Investitionschancen, weiß nicht, wie es weitergehen soll, welche Standards, wann und mit welcher Ausgestaltung sie kommen.
Es ist alles unklar.
Herr Hermann, dass es nicht ganz so ist, wie Sie es darstellen, will ich anhand eines Beispiels belegen: In der
letzten oder vorletzten Ausschusssitzung und auch hier im
Plenum haben wir klammheimlich eine Verlängerung des
Ökobonus für einen langen Zeitraum, nämlich über die
Legislaturperiode hinausgehend, beschlossen. Sie haben
das klammheimlich gemacht, weil Sie wussten, dass dieses Thema Ihnen, der Bundesregierung und auch den sie
tragenden Fraktionen, nicht gerade zur Ehre gereicht.
Aber es ist Beweis dafür, dass in dieser Wahlperiode
nichts mehr passieren wird.
Ich glaube, wir reden hier nicht nur über eine Kleinigkeit. Im Rahmen der globalen Herausforderung ist das,
was in diesem Bereich zu leisten ist, sicherlich nur ein
unwesentlicher Beitrag zur Verbesserung der Gesamtsituation. Aber wenn man nicht in den kleinen, vor Ort
wichtigen Dingen anfängt, wird man bei den großen Weichenstellungen keinen Erfolg haben.
Das Scheitern in dieser Frage wirft uns in genau den
Bereichen zurück, in Bezug auf die das vorhin beklagt
worden ist. Während wir früher, bei aller Auseinandersetzung in der Sache, ökologische Vorreiter waren, laufen
wir, läuft in besonderer Weise die Bundesregierung jetzt
Gefahr, sich vor der gesamten Ökogemeinde zu blamieren.
({2})
- Nein, das ist leider nicht albern. Sie werden bei Gesprächen mit Umweltinteressierten sehr genau erleben,
dass das so eingeschätzt wird.
({3})
Wir sollten die Situation hier nicht durch schöne Reden
und viele Worte wie Ökofrieden ganz generell übertünchen, sondern wir sollten uns wirklich ganz konkret daran
begeben, unsere Hausaufgaben vor Ort zu machen. Wir
sind dazu sehr bereit. Wir haben im Ausschuss zu dieser
Thematik mehrere Vorstöße unternommen. Wir haben im
Ausschuss ein eigenes Modell vorgestellt, das wesentlich
effektiver wäre als das, was jetzt seitens der Bundesregierung angedacht wird. Denn das Modell der Bundesregierung wird die Probleme, die wir haben, nicht lösen, weil
die Standards sehr unterschiedlich sind und weil das Verhalten der Menschen sehr unterschiedlich ist. Sie werden
in diesen Bereichen nicht von oben einen Umerziehungsprozess verordnen können, sondern Sie müssen Weichenstellungen vornehmen, die dazu führen, dass die Menschen das von sich aus machen.
({4})
In diesen Bereichen haben Sie riesige Chancen verpasst. Wer Ökologie gestalten will, muss die Menschen
dabei mitnehmen. Das darf er nicht nur global machen,
nicht nur in Den Haag, sondern das muss er durch praktisches Tun in der Politik machen.
({5})
Was Herr Trittin sich heute Morgen hier geleistet hat,
war in meinen Augen so verletzend gegenüber denjenigen, die umweltpolitische Interessen haben, dass ich
darüber nur noch erschüttert bin. Ich will hier ganz persönlich sagen: Ich habe Herrn Trittin auch im niedersächsischen Landtag schon erlebt. Da war er zumindest
kämpferisch. Heute Morgen war er dilettantisch in allen
Fragen, in allen Herausforderungen, die an einen Minister zu stellen sind. Das ist eine für die ökologische Herausforderung betrübliche Entwicklung, die wir hier zu
beklagen haben.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat
jetzt die Frau Bundesministerin Heidemarie WieczorekZeul.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute
Morgen ist mehrfach angesprochen worden, in welchem
dramatischen Umfang auch europäische Länder bereits
heute vom Klimawandel betroffen sind. Ich möchte an
dieser Stelle einmal deutlich machen, was der Anstieg der
Durchschnittstemperatur, die Häufung von Klimakatastrophen - Stürme, Regen, aber auch Dürre, häufig in den
gleichen Regionen - und der Anstieg des Meeresspiegels
bedeuten würden: nämlich dass Millionen von Menschen
in den Küstengebieten von Bangladesch oder China ihr
Land verlieren, dass trockenheitsbedingte Missernten in
Afrika noch häufiger und bedrohlicher werden, als sie es
heute schon sind, dass die Anbaugebiete für Kaffee, zum
Beispiel in Zentralamerika, bedroht sind und dass sich
Malaria etwa in Brasilien oder auch Pakistan rapide ausbreiten würde.
Wir können so viel über Entwicklungszusammenarbeit
reden, wie wir wollen: Wir müssen in dem Bereich des
Klimaschutzes alles tun, um eine solche Entwicklung zu
verhindern. Dabei müssen wir in unseren eigenen Ländern beginnen. Deshalb ist zum Beispiel das ökologische
Umsteuern durch die ökologische Steuerreform
({0})
ein wichtiges Signal, auch an die Partnerländer, dass wir
es mit diesen Fragen ernst meinen.
({1})
Ausgerechnet diejenigen Staaten - das wäre die Dramatik der Entwicklung -, deren Treibhausgasemissionen
pro Kopf der Bevölkerung am niedrigsten sind, nämlich
die Entwicklungsländer, würden am meisten unter den
Folgen des Klimawandels leiden, denn sie liegen in den
Regionen, die besonders betroffen sind, etwa was den
Monsun anlangt, und sie haben häufig nicht die
Finanzmittel, um sich frühzeitig zu schützen.
Wir wissen, dass die Schäden, von denen alle Länder
betroffen wären, in Milliardenhöhe lägen, und es ist ganz
sicher, dass der Wohlfahrtsverlust in Entwicklungsländern mindestens etwa 10 Prozent des Bruttosozialproduktes betragen würde. Das ist eine dramatische Perspektive,
der wir entgegenwirken müssen.
({2})
Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen. Hinsichtlich der Entwicklung der Energienachfrage geht man je
nach Szenario davon aus, dass der Primärenergieverbrauch in den nächsten Jahren jedenfalls drastisch ansteigen wird, schon allein deshalb, weil es einen berechtigten
Nachholbedarf der Entwicklungsländer gibt. Wenn wir es
also tatsächlich schaffen wollen, den Anteil fossiler
Brennstoffe signifikant zu senken, dann müssen wir sehr
große Anstrengungen zur Energieeinsparung, zur rationellen Energieanwendung und zur Verbreitung erneuerbarer Energien auch in den Ländern des Südens unternehmen und fördern. Auch das ist Aufgabe unserer
Entwicklungszusammenarbeit.
({3})
Es ist an den Industrieländern als den Hauptverursachern von Treibhausgasemissionen, beim Klimaschutz
die Führungsrolle zu übernehmen. In einer späteren Phase
- das sage ich allerdings ausdrücklich dazu - wird es auch
darum gehen, Entwicklungsländer mit in verbindliche
Verpflichtungen einzubeziehen, vor allem diejenigen, die
hohe, stark anwachsende Treibhausgasemissionen haben.
Das gebietet die globale Verantwortungsgemeinschaft, in
der wir stehen.
Was tut entwicklungspolitische Zusammenarbeit für
den globalen Klimaschutz, und was kann sie dafür tun? Das sind häufig schwierige bilaterale Verhandlungen mit
den Partnerländern, aber ich will an dieser Stelle einfach
einmal sagen, welche praktischen Aktionen bisher stattgefunden haben.
Erstens ist die Bundesrepublik Deutschland der weltweit größte Geber beim Programm für den Tropenwaldschutz, und das ist eine wichtige Leistung. Dieser Verpflichtung kommen viele andere G-7-Länder nach wie
vor nicht ausreichend nach.
({4})
Wir stehen zu diesen Verpflichtungen und finanzieren das
auch, und zwar in vollem Umfang.
Zweitens. Wir fördern Photovoltaikanlagen in bestimmten Partnerländern, solare Systeme, die dazu beitragen, die Stromerzeugung weiter zu entwickeln. Wir unterstützen auch andere erneuerbare Energien, etwa
Windkraftwerke in Indien und China oder auch die Nutzung von Biogas in Nepal.
Ein Ziel der Bundesregierung ist es - das habe ich eben
angesprochen; ich betone es an dieser Stelle noch einmal -,
die Erfüllung der Aufgaben in den Bereichen erneuerbare
Energien, Klimaschutz und Schutz des Tropenwaldes auf
hohem finanziellen Niveau zu stabilisieren. Ich bin überzeugt, dass uns dies selbst in den laufenden Haushaltsverhandlungen gelingen wird.
Im multilateralen Bereich - das ist öffentlich viel zu
wenig bekannt - ist die Bundesrepublik Deutschland nach
den USA und Japan der drittgrößte Geber der so genannten Global Environment Facility, das heißt der Globalen
Umweltfazilität. Das ist eine Initiative, bei der es um die
Finanzierung von Know-how etwa im Bereich des Transfers von konkreten Maßnahmen zur Minderung der Emission von CO2 und auch bei der Hilfe für die Entwicklungsländer geht, sie dabei zu beraten, damit sie
überhaupt Klimaschutz in Gang bringen und in diesen
Fragen einen Schwerpunkt setzen können.
Die Global Environment Facility ist das Finanzierungsinstrument der Klimarahmenkonvention, und sie
finanziert auch andere Bereiche - Biodiversität, internationalen Gewässerschutz und dergleichen. Unsere finanziellen Beiträge zur Global Environment Facility stellen
einen Beitrag dazu dar, die Verpflichtungen zu erfüllen,
die wir bei dem Erdgipfel 1992 in Rio eingegangen sind.
Wir sind jetzt in die Neuverhandlungen zur Wiederauffüllung dieser entsprechenden Finanzen eingetreten. Wir
werden auch unseren laufenden Verpflichtungen in Höhe
von 420 Millionen DM in vollem Umfang nachkommen
und damit bei den Verhandlungen unsere Entschlossenheit unterstreichen.
({5})
Ich möchte an dieser Stelle, bezogen auf die anstehende Konferenz, sagen: Wir halten nichts davon, neue
Töpfe neben dieser Global Environmental Facility zu machen. Das könnte nur zu mangelnder Kohärenz führen.
Das ist eine Orientierung, die manche Entwicklungsländer gerne möchten. Aber wir halten es für richtig, die Mittel in diesem Bereich zu konzentrieren.
Zum Schluss: Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht
- ich glaube, das ist heute Morgen deutlich geworden;
vielleicht sollten wir das hier im Plenum dann auch untermauern - um neue Partnerschaften im Klimaschutz.
Denn Klimaschutz liegt im Interesse aller Staaten. Wir
sind in einer Verantwortungsgemeinschaft. Wir sitzen im
wahrsten Sinne des Wortes in einem Boot.
({6})
Er liegt also im Interesse der Industrie- und der Entwicklungsländer. Daher ist es von zentraler Bedeutung, dass
die Konferenz in Den Haag glaubwürdig und wirksam das
gesamte Kioto-Protokoll stärkt und wir dann die entsprechenden Konsequenzen ziehen können.
({7})
Ich möchte an dieser Stelle auf den Zusammenhang
von Klimaschutz und Armutsbekämpfung hinweisen.
Das hat vorhin der Kollege Lippold angesprochen. Es ist
richtig: Wir koppeln die Fragen Armutsbekämpfung und
Klimaschutz. Es ist doch logisch, dass es Sinn macht,
auch durch die Bekämpfung der Armut in den Partnerländern dem Raubbau an der Natur, dem Raubbau an den
Ressourcen entgegenzuarbeiten. Das tun wir zum Beispiel, indem die Armutsbekämpfungsstrategien ab dem
Jahr 2000 für alle ärmsten Entwicklungsländer verpflichtend werden. Das ist ein Ergebnis, das mancher noch gar
nicht zur Kenntnis genommen hat.
Wir müssen bei diesen Armutsbekämpfungsstrategien
darauf aufpassen, dass sie auf Energie sparende Technik
und erneuerbare Energien setzen. Denn bei der wirtschaftlichen Entwicklung dieser Länder brauchen wir
Technologien, die verhindern, dass das wirtschaftliche
Wachstum dieser Länder sich weiter in dramatischen Umwelt- und Klimabelastungen auswirkt. So integriert müssen wir diese Bereiche sehen.
({8})
Ich möchte, wenn es um ein neues Bündnis und neue
Partnerschaft für Klimaschutz geht, einen weiteren Punkt
ansprechen. Wenn wir im Verhältnis zu den Partnerländern auf erneuerbare Energien setzen, dann leisten wir
auch einen Beitrag zu einer Entwicklung weg vom Öl.
Ein Land wie Bangladesch gibt in diesem Jahr doppelt so
viel für seine Ölrechnung aus wie im letzten Jahr. Wenn
wir dazu beitragen, dass die Entwicklungsländer bei
erneuerbaren Energien einen Schwerpunkt setzen können
- das wollen wir -, dann haben wir einen dramatischen
Beitrag dazu geleistet, vom Öl wegzukommen, aber
gleichzeitig auch Klimaschutz und eine sinnvolle, dezentrale Energieversorgung in den betroffenen Entwicklungsländern voranzubringen, und darum geht es.
({9})
Wir reden aber nicht nur von solchen Ansätzen. Vielmehr propagieren wir als Bundesregierung - das hat diese
Bundesregierung in Gang gesetzt - das Konzept Entwicklungspartnerschaft mit der Wirtschaft. Wir sagen
nämlich: Nur staatliche Investitionen werden in diesem
Bereich nicht ausreichen.
({10})
- Darf ich das als Zwischenfrage verstehen, Frau Präsidentin? Ich bin auch gleich fertig.
({11})
Das bringt Ihnen
keinen Vorteil.
Dann
wird es eben auf meine Zeit angerechnet.
Herr Repnik, das ist in Ordnung. Sie haben es gesagt.
({0})
Aber was ich im Amt vorgefunden habe, war ein klitzekleines Pilotprojektchen „Entwicklungspartnerschaft mit
der Wirtschaft“. Was bei uns neu ist - das wundert vielleicht immer noch manchen der Konservativen -, ist, dass
wir sagen: Wir wollen bei jeder Aktion prüfen, was die
private Wirtschaft besser finanzieren und leisten kann und
was die öffentliche Hand machen muss. Das tun wir bei
all unseren Projekten.
Bei der Entwicklungspartnerschaft mit der Wirtschaft
geht es darum, dass wir erneuerbare Energien und neue
Technologien fördern und dass wir dies als einen Schwerpunkt betrachten. Wir arbeiten heute schon mit etwa 300
Unternehmen auch in anderen Wirtschaftsbereichen zusammen. Das wollen wir ausweiten. Wenn der Clean Development Mechanism in all seinen Details entwickelt
ist, wie der Kollege Trittin das heute Morgen dargestellt
hat, dann können wir bereits ab diesem Jahr erreichen,
dass dieser Clean Development Mechanism so eingesetzt
wird, dass die Entwicklungsländer die Möglichkeit haben, mit den Investitionen, die aus den Industrieländern
kommen, eine neue Energieversorgung aufzubauen. Das
ist eine wichtige Voraussetzung für die Länder, damit sie
neue Technologien, erneuerbare Energien bekommen und
große Potenziale erhalten. Es ist aber auch ein großes Potenzial der Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und öffentlicher Hand und Entwicklungszusammenarbeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wollte damit
deutlich machen - jetzt stört den einen oder anderen wahrscheinlich wieder die Leidenschaft -:
({1})
Es ist immer gut, in Diskussionen abstrakt darüber zu
sprechen, wofür man eintritt. Aber es kommt darauf an
- auch wenn das in der Bevölkerung manchmal schwierig
ist -, zu diesen Fragen zu stehen und keine widerwärtigen
Kampagnen, zum Beispiel in Sachen Ökosteuer, durchzuführen. Ich halte es nämlich für konsequent und richtig,
dass man, wenn man für Klimaschutz weltweit und für die
Ziele, die in Den Haag anstehen, eintritt, auch hier zu
Hause dafür einsteht und nicht an der einen Stelle so und
der anderen Stelle so spricht.
Ich danke Ihnen sehr.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Ruck.
({0})
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als letzter Redner in dieser Debatte kann ich festhalten, dass wir uns wenigstens in der Ausgangsposition einig sind. Einig sind
wir uns, dass der Treibhauseffekt seine dramatischen Vorboten schickt. Einig sind wir uns auch, dass die internationalen Klimaschutzbemühungen an einer sehr kritischen Stelle stehen und dass in Den Haag sehr viel auf
dem Spiel steht. Einig sind wir uns auch, dass sich einige
Länder wirklich noch weit bewegen müssen, zum Beispiel auch die Vereinigten Staaten, auf deren Verhandlungsführer eine große Verantwortung liegt.
Als CSU-Abgeordneter möchte ich ausdrücklich dem
grünen Umweltminister Glück und Verhandlungserfolg
bei dieser Konferenz wünschen. Es ist unser gemeinsames
Ziel, dass Den Haag ein positives Datum im Kampf gegen
Klimarisiken wird. Allerdings bin ich auch der Meinung,
dass er dann schon mehr Überzeugungskraft und Begeisterung entwickeln müsste als heute Morgen bei seiner
einschläfernden Rede.
({0})
Ich bin auch der Überzeugung, dass die rot-grüne Bundesregierung inzwischen die internationale Führungsrolle, die die frühere Bundesregierung übernommen hatte,
verspielt hat und dass sie deswegen mit einer schwächeren Verhandlungsposition nach Den Haag fährt, als es
eigentlich sein könnte.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal Folgendes
zum Ausdruck bringen: Wenn sogar Rot-Grün zugibt,
dass Deutschland bisher mehr an Reduktionsverpflichtungen eingelöst hat als alle anderen europäischen Staaten
zusammen, dann ist das sicherlich nicht das Resultat Ihrer
zweijährigen Amtszeit,
({1})
sondern das Resultat der Politik Ihrer Vorgänger.
Dass es Kioto, dass es Rio, dass es Den Haag überhaupt
gibt, ist auch das Resultat der Politik von Helmut
Kohl & Co.
({2})
Ich glaube, das muss man immer wieder klarstellen. Sie
behaupten nämlich immer wieder das Gegenteil, und das
Gegenteil ist falsch.
({3})
- Herr Müller, ich glaube, das ist eine seriöse Debatte. Da
kann man auch seriöse Argumente austauschen.
({4})
Sie sind zum Beispiel damit angetreten, dass Sie die
Welt ökologischer gestalten wollten. Aber davon ist doch
überhaupt nichts zu spüren. Das beginnt schon damit, dass
Sie Ihre nationalen Hausaufgaben im Klimaschutz eben
nicht gemacht haben, dass Sie zwei Jahre gebraucht haben, um überhaupt ein Klimaschutzprogramm auf die
Beine zu stellen.
({5})
- Herr Müller, dass in diesem Programm vieles drinsteht,
was richtig ist, auch Vorschläge, die von uns mitgetragen
werden, bleibt Ihnen ja unbenommen. Aber selbst der
Wirtschaftsminister, Ihr Namenskollege Müller, und die
großen Naturschutz- und Umweltorganisationen in
Deutschland sagen,
({6})
dass Sie mit diesem Programm zu kurz springen, weil es
löchrig ist wie Schweizer Käse.
Was wir Ihnen bei der Ökosteuer vorwerfen, ist doch
nicht, dass Sie der Bevölkerung schmerzhafte Schritte abverlangen, sondern dass Sie Maßnahmen ergreifen, die
ökologisch inkonsistent sind und darüber hinaus wahnsinnig viel Geld kosten. Das fällt im Endeffekt auf den
Umweltschutz zurück.
Ein gutes Beispiel ist das 100 000-Dächer-Programm. Sie freuen sich, dass es gut läuft. Letzten Endes
kostet es aber etwa 1 Milliarde DM und bringt für den Klimaschutz zumindest bei uns überhaupt nichts.
({7})
Sie verpassen also, was die eigenen Ziele anlangt, international den Anschluss beim Klimaschutz. Das wird von
den anderen Staaten natürlich registriert. Das ist ein
Punkt, weshalb Ihre Verhandlungsposition in Den Haag
nicht so stark ist, wie sie sein könnte.
Auch wir wollen Geld in die Hand nehmen. Sie, Herr
Kollege Hermann, haben schon darauf hingewiesen.
({8})
Wir glauben, dass es volkswirtschaftlich günstiger ist,
wenn man eine Komplettsanierung des deutschen Gebäudebestandes macht. Dazu ist das, was Sie vorgelegt
haben, zu kurz gesprungen.
({9})
Wir wollen zum Beispiel eine massive Festbetragsförderung, weil damit auch die Hauseigentümer erreicht werden, die nichts von der Steuer absetzen können. Das
betrifft oft gerade die Häuser, die dringend sanierungsbedürftig sind. Außerdem wollen wir dadurch verhindern,
dass es zu weiteren Preissteigerungsspiralen kommt, ohne
dass sich klimapolitisch etwas ändert.
Wir sind uns doch alle darüber einig, dass sich gerade
im Bereich der Gebäude sehr viel Einsparungspotenzial
befindet. Wir könnten 50 Prozent der Energie, die im
Gebäudebereich verbraucht wird - dort werden immerhin
40 Prozent der Gesamtenergie verbraucht -, einsparen.
Allein für Bayern ergäbe sich dadurch eine Reduzierung
um bis zu 25 Millionen Tonnen CO2. Ich glaube, dass dieser Ansatz über zehn oder fünfzehn Jahre verfolgt werden
muss. Dadurch könnten die Klimaschutzziele wesentlich
billiger und wesentlich kosteneffizienter erreicht werden
als mit Ökosteuer, erneuerbaren Energien und KWK.
Es gibt aber leider noch einige andere Gründe, warum
unsere Verhandlungsposition in Den Haag nicht zu den allerstärksten gehört. Einer dieser Gründe ist die Entwicklungspolitik. Die Entwicklungspolitik befindet sich im
freien Fall. Entgegen allen Ankündigungen im Koalitionsvertrag und allen Regierungserklärungen auch von
Bundeskanzler Schröder verliert der Haushalt des BMZ
innerhalb weniger Jahre über 1 Milliarde DM.
({10})
Davon massiv betroffen sind gerade die Sektoren Umwelt- und Ressourcenschutz sowie Bevölkerungspolitik.
Der Anteil des Entwicklungshaushalts am Gesamthaushalt wird von 1,7 Prozent im Jahr 1998 auf 1,3 Prozent im
Jahr 2003 sinken.
({11})
Das hat natürlich auch Folgen für die Verhandlungsposition gegenüber den Entwicklungs- und Schwellenländern.
Wir waren uns alle doch darüber einig, dass wir gerade
auch diese Länder ins Boot holen müssen, zum Beispiel
Mexiko. Mexiko steht bei den globalen CO2-Emittenten
schon an 14. Stelle. Die entscheidende Frage ist, wie die
Menschen in China, in Indien, in Brasilien oder in Mexiko
auch nur annähernd auf unser Wohlstandsniveau kommen, ohne dass das Klima endgültig kippt. Wenn wir als
Deutsche darauf Einfluss nehmen wollen, dann dürfen wir
die Entwicklungspolitik nicht zum Steinbruch machen,
sondern müssen unsere Entwicklungszusammenarbeit
finanziell und konzeptionell deutlich verbessern.
({12})
Ein Hearing unserer Arbeitsgruppe Entwicklungspolitik hat ergeben, dass hochnäsige Besserwisserei, gepaart
mit einer Einschränkung der Entwicklungshilfe, kein
Ausgangspunkt für einen Dialog mit Entwicklungs- und
Schwellenländern ist. Das gilt im Übrigen auch für deren
Wahl ihrer zukünftigen Energietechnologie. Kohlekraftwerke mit niedrigen Umweltstandards sind inzwischen
auch aus Sicht vieler Entwicklungsländer in der Tat keine
Lösung mehr. Deswegen werden, ob uns das passt oder
nicht, Länder wie China, Indien, Brasilien und andere
zukünftig noch erheblich mehr in Kernenergie investieren. Eine gute deutsche Politik wäre es, in diesem Bereich,
gerade im Sicherheitsbereich, technologische Hilfe und
Beratung anzubieten, statt erfolglos den moralischen Zeigefinger zu heben.
({13})
Ein anderes entscheidendes Ergebnis des Hearings
war, dass Wissenschaft, Wirtschaft und Politik in den Industrieländern, auch in Deutschland, noch immer zu sehr
Nabelschau betreiben, auf Absatzmärkte im eigenen Land
starren und die gewaltigen Anwendungsbereiche für ihre
wissenschaftlichen und technischen Kapazitäten in Entwicklungs- und Schwellenländern übersehen. Beispiele
dafür sind die Brennstoffzelle, die Wasserstofftechnologie
oder die Photovoltaik, deren natürliche Voraussetzungen in
vielen Entwicklungs- und Schwellenländern weit günstiger
sind als bei uns. Vielfach ist jede eingesetzte Mark in Energieeffizienz, Energieeinsparungs-technik oder CO2Minderungstechnologien in China und Indien um ein Vielfaches mehr wert, als wenn sie in Deutschland, zum
Beispiel bei BASF oder BP, eingesetzt würde.
Dazu bedarf es aber auch vonseiten der Politik größerer Anstrengungen, Wirtschaft, Forschung und alle betroffenen Bundesministerien auf einen massiven Technologietransfer einzuschwören. Die Kioto-Instrumente,
insbesondere der Clean Development Mechanism, böten
dazu die Grundlage. Deswegen halten wir es für ganz entscheidend, dass wir gerade in diesem Punkt in Den Haag
einen Durchbruch erzielen und die Verhandlungen nicht
zum Beispiel an starren 50-Prozent-Grenzen scheitern.
Ich möchte abschließend noch das Problem der CO2Senken ansprechen. Auch ich habe dafür keine Patentlösung. Aber es ist unbestritten, dass die Zerstörung, dass
das Abbrennen der Wälder, insbesondere in den Tropen,
den Treibhauseffekt zu einem erheblichen Teil mit bewirkt. Es ist auch unbestritten, dass die Zerstörung ungebrochen voranschreitet, dass in einigen Ländern der Wald
auf ein Minimum geschrumpft ist, zum Beispiel in vielen
Ländern Südostasiens oder Westafrikas, und dass uns die
Zeit davonläuft. Zudem sind gerade diese Ökosysteme
gleichzeitig die Orte mit der höchsten Artenvielfalt der
Erde.
Würde den Tropenwaldländern zumindest teilweise
oder in irgendeiner anderen Form die Bewahrung des
Waldes als CO2-Senken gutgeschrieben und so zu Einnahmen führen, hätten diese ein größeres Eigeninteresse
an der Erhaltung des Waldes und einen größeren finanziellen Spielraum. Ich trete deshalb - trotz aller Schwierigkeiten und aller möglichen Missbräuche, die natürlich
auch ich kenne - dafür ein, die Bemühungen um eine Verknüpfung der Kioto-Mechanismen mit dem Schutz bedrohter Ökosysteme nicht aufzugeben, sondern mit Nachdruck weiter zu betreiben.
({14})
Lippenbekenntnisse wie in der Entwicklungspolitik
oder Ideologien wie in der Energiepolitik der Bundesregierung bringen uns national nicht weiter und kosten uns
unsere internationale Überzeugungsfähigkeit. Kehren Sie
deshalb, liebe Kollegen von Rot-Grün, zu einer ergebnisorientierten Umwelt- und Klimaschutzpolitik zurück,
die mit pragmatischen Instrumenten den Erfolg sucht.
({15})
Einen Erfolg auf der Klimakonferenz in der nächsten Woche in Den Haag wünschen wir uns alle.
({16})
Ich schließe da-
mit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge zur Regierungserklärung. Zunächst stimmen
wir über den Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD
und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache
14/4532 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag?
- Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der F.D.P. und eines Teils der CDU/CSU bei
Enthaltung der PDS und eines Teils der CDU/CSU an-
genommen worden.
Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf
Drucksache 14/4533. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? - Gegenstimmen? - Gibt es Enthaltungen?
- Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen, der F.D.P. 1) und der PDS gegen die
Stimmen von CDU/CSU abgelehnt worden.
Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
auf Drucksache 14/3835. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des An-
trages der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die
Grünen zum Klimaschutz durch ökologische Modernisie-
rung und Verbesserung der internationalen Zusammenar-
beit auf Drucksache 14/1956. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten
Opposition1) angenommen worden.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion der
CDU/CSU zur Vertragsstaatenkonferenz zur Klimarah-
menkonvention in Bonn auf Drucksache 14/1853. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstim-
men? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-
men von CDU/CSU und F.D.P. bei einigen Enthaltungen
aus der PDS angenommen worden.2)
Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss die Ablehnung des Entschließungsantrages der
Fraktion der F.D.P. zur Abgabe einer Erklärung der Bun-
desregierung zu den Ergebnissen der 5. Vertragsstaaten-
konferenz der Klimarahmenkonvention in Bonn auf
Drucksache 14/1998. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koaliti-
onsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und
F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen worden.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Entschlie-
ßungsantrages der Fraktion der PDS zur Abgabe einer
Erklärung der Bundesregierung zu den Ergebnissen der
5. Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkonvention
in Bonn auf Drucksache 14/1992. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses bis auf die Stimmen der PDS, die dagegen
gestimmt hat, angenommen worden.2)
Tagesordnungspunkt 12 c: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/4379 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das scheint der Fall zu
sein. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten
Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Erfolgreiche Verbrechensbekämpfung in
Deutschland
- Drucksachen 14/2592, 14/4113 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Norbert Geis.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung
stellt in ihrer Antwort vom 20. September dieses Jahres
fest, dass die Bekämpfung der Kriminalität eine der wichtigsten Aufgaben der Innen- und Rechtspolitik ist. Dies ist
eine richtige Feststellung.
Wenn Menschen in ihren Wohnungen nicht mehr vor
Einbruch sicher sind, wenn sie sich nicht mehr trauen,
spätabends auf öffentlichen Straßen und Wegen zu gehen,
({0})
wenn sie nachts nicht mehr in Ruhe und ohne Angst mit
der U-Bahn fahren können und diese Fahrt zu einem Albtraum wird oder wenn eine Frau nicht mehr ungefährdet
von der Bushaltestelle zu ihrer Wohnung gehen kann,
dann müssen bei uns die Alarmglocken läuten. Wenn Unsicherheit und Angst in der Bevölkerung herrschen, kann
eine ganze Gesellschaft aus den Fugen geraten. Deshalb
ist es richtig: Die Kriminalitätsbekämpfung ist die wichtigste Aufgabe der Innen- und Rechtspolitik. Das Zusammenleben in unserer Gesellschaft und auch unser wirtschaftlicher Fortschritt hängen davon ab.
({1})
Dies ist nicht nur eine Aufgabe des Bundes allein, son-
dern gleichermaßen auch eine der Länder. Der Bund hat
die Gesetze zu erlassen, die Länder aber haben mithilfe ih-
rer Polizei die Verbrechen zu verfolgen, die Staats-
anwaltschaften haben zu ermitteln und die Gerichte haben
entsprechend den gesetzlichen Vorgaben zu urteilen. Sie
haben dann auch entsprechend dem Urteil den Strafvoll-
zug durchzusetzen. Hier ist mittlerweile eine Mangel-
situation zu beklagen: In vielen Ländern wird der Straf-
vollzug, wie wir leider feststellen müssen, zu lässig
1) Anlage 2
2) Anlage 3
gehandhabt. Der Strafvollzug ist niemals eine Freizeitveranstaltung. Es geht darum, dass der Täter die Konsequenzen seiner Tat tragen muss und dass der Öffentlichkeit klargemacht wird: Unser Staat wehrt sich, wenn seine
Rechtsordnung verletzt wird.
Aus dieser Antwort geht hervor, dass die Häufigkeitszahlen in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich
sind.
Herr Kollege
Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Marschewski?
Bitte sehr.
Herr Kollege Geis, können Sie mir bestätigen, dass es sich
heute um eine wichtige Debatte über Kriminalität und innere Sicherheit handelt? Können Sie mir vielleicht sagen,
wo eigentlich die Bundesjustizministerin ist?
Unsere Große Anfrage hat
sich an das Innenministerium und an das Justizministerium gerichtet. Ich habe keine Erklärung dafür, weshalb
das Justizministerium heute hier nicht vertreten ist.
Vor allem geben die zum Teil sehr unterschiedlichen
Häufigkeitszahlen in den verschiedenen Bundesländern
Anlass zur Besorgnis. Zwar ist die Kriminalität in Großstädten schon immer stärker ausgeprägt gewesen; das
liegt wohl in der Natur solcher Städte. Aber der Unterschied zwischen den Großstädten im Norden, vor allem
zwischen denen in SPD-regierten Bundesländern, und
den Großstädten in südlichen Bundesländern wie Bayern
und Baden-Württemberg ist exorbitant. Das kann der
Bundesregierung nicht gleichgültig sein; denn sie trägt
die Verantwortung für das ganze Land.
({0})
Es fällt schon auf, dass in Bayern und Baden-Württemberg die Häufigkeitszahlen gering sind und die Aufklärungsquote sehr hoch ist.
({1})
In Bayern liegt die Aufklärungsquote bei 60 Prozent. Die
bundesweite Aufklärungsquote lag bei 46 Prozent; inzwischen liegt sie bei 50 Prozent. Es hat sich gebessert; das
ist wahr. Dennoch ist die Aufklärungsquote in den südlichen Ländern, die von der CDU oder von der CSU regiert
werden, noch immer viel höher als in den übrigen Bundesländern. Das ergibt die Antwort der Bundesregierung
ganz eindeutig.
Darüber muss man sich ein paar Gedanken machen.
Wir können ohne weiteres feststellen, dass Verbrechen in
den südlichen Ländern, in Bayern und in Baden-Württemberg, in der Tat konsequenter bekämpft werden.
({2})
Die Polizeien dort verfolgen Verbrechen energischer. Die
Staatsanwaltschaften ermitteln intensiver. Es wird angeklagt und es wird, entsprechend dem gesetzlichen Rahmen, im Einzelfall geurteilt. Vor allem ist der Strafvollzug
dort stärker. Damit wird dem potenziellen Täter schon
klargemacht, dass er, wenn er entdeckt wird, mit einer harten Strafe rechnen muss - ich erinnere an die hohe Aufklärungsquote von 60 Prozent in Bayern -, die er - im
Bundesjustizministerium wird in Bezug auf schwere
Straftaten im Erstfall überlegt, nach der Hälfte der Strafzeit die Reststrafe auf Bewährung auszusetzen - komplett
verbüßen muss. Vor diesem Hintergrund wird er sich vielleicht überlegen, ob er die Straftat begeht. Die generalpräventive Kraft des Strafrechts würde dann seine Wirkung entfalten.
({3})
Die konsequentere Bekämpfung von Straftaten halte ich
für den wesentlichen Grund dafür, dass wir in Bayern und
in Baden-Württemberg niedrigere Häufigkeitszahlen und
eine höhere Aufklärungsquote als in allen anderen Bundesländern haben.
Das muss in der Öffentlichkeit endlich einmal diskutiert werden. Diese Frage muss uns alle angehen; denn es
muss festgestellt werden, wo die Schuldigen für so exorbitante Unterschiede sitzen.
({4})
Aus den gewonnenen Erkenntnissen müssen entsprechende Schlussfolgerungen gezogen werden.
Die Antwort der Bundesregierung vom 20. September
lässt keinen Zweifel daran, dass die Vorgängerregierung
der Koalitionsparteien CDU/CSU und F.D.P. unter
Helmut Kohl ihre Hausaufgaben gemacht hat. Die Antwort besagt nämlich ganz eindeutig, dass die jetzt bestehenden gesetzlichen Maßnahmen eigentlich ausreichend sind, um Verbrechen wirksam zu bekämpfen.
Denken Sie an das Gesetz zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität aus dem Jahre 1992, an das Verbrechensbekämpfungsgesetz aus dem Jahre 1994, an das
neue Gesetz für den Bundesgrenzschutz, ebenfalls aus
dem Jahre 1994, und an die große Strafrechtsreform aus
dem Jahre 1996 mit einer Neuformulierung der Sexualstraftaten und einer Erleichterung der Möglichkeit, einen
Täter in die Sicherungsverwahrung zu geben, wenn fest
steht, dass er sich voraussichtlich nach wie vor straffällig
verhalten wird. Wir haben im Jahre 1997 das Antikorruptionsgesetz beschlossen.
({5})
1998 haben wir ein weiteres Gesetz gegen die organisierte
Kriminalität verabschiedet, und zwar mit Änderung des
Art. 13 Grundgesetz und der Einführung der Möglichkeit
der akustischen Wohnraumüberwachung. Dies haben wir
damals zusammen mit der F.D.P. und auch der SPD gemacht, die an diesen Verhandlungen auch in Person des
heutigen Bundesinnenministers beteiligt gewesen ist.
Ich glaube also schon, dass eine gute gesetzliche
Grundlage für den Bund besteht, um Verbrechen erfolgreich bekämpfen zu können. Aber damit können wir uns
nicht zufrieden geben. Im Augenblick stagniert zwar die
Kriminalitätsrate, aber - das sagt die Bundesregierung
selbst - kein Mensch kann sich jetzt ruhig zurücklehnen
und sagen: Jetzt haben wir es geschafft. Vielmehr geht es
weiter im Kampf gegen das Verbrechen. Deswegen brauchen wir nach unserer Meinung neben der akustischen
Überwachung auch die Videoüberwachung. Wir brauchen
auch die Kronzeugenregelung. Wir halten es für einen
ganz großen Fehler, dass die jetzige Regierungskoalition
die Kronzeugenregelung abgeschafft hat. Wir könnten sie
vielleicht gerade jetzt im Kampf gegen den Rechtsextremismus gebrauchen, auch im Kampf gegen die Korruption. Zudem brauchen wir nach wie vor, obwohl dies in
der Verbrechensskala tiefer angesiedelt und nur ein Vergehen ist, ein Gesetz gegen das Graffitiunwesen, weil gerade von diesem Milieu Verbrechen ausgehen, wie wir aus
der Erfahrung wissen.
({6})
Der Anstieg der Kinder- und Jugendkriminalität
muss uns Sorge machen. 30 Prozent aller Tatverdächtigten sind jünger als 21 Jahre. Bei den Jugendlichen
haben wir insbesondere einen starken Anstieg der Gewaltkriminalität zu verzeichnen. Das kann uns nicht
gleichgültig sein.
Christian Pfeiffer, der Spezialist aus Hannover, wo er,
wie ich gehört habe, als möglicher Justizminister im Gespräch ist - er ist ein guter Mann; ich würde ihm gratulieren -, sagt, dass das Nord-Süd-Gefälle gerade bei der Jugendkriminalität vielschichtige Gründe habe. Er findet
die Gründe vor allem darin, dass nicht so gute familiäre
Bindungen bestehen, dass nicht so gute Bindungen an
christliche Gemeinden bestehen - das sagt Pfeiffer, das
sage nicht ich -,
({7})
dass weniger Bindungen an Vereine und Jugendverbände
bestehen. Er zieht daraus den Schluss, dass dies alles
- auch die höhere Jugendarbeitslosigkeit - mit dazu
beiträgt, dass im Norden eine stärkere Jugendkriminalität,
vor allen Dingen auch Gewaltkriminalität, als im Süden
zu verzeichnen ist. Das gilt auch für die rechtsextremistisch motivierte Jugendkriminalität. Rechtsextremismus
wird ja vor allem von Skinheads, die im heranwachsenden
Alter sind, verübt. Das alles führt Christian Pfeiffer auf
die Gründe zurück, die ich angeführt habe. Ich meine,
auch der Bund müsste mehr dafür werben, dass solche
Voraussetzungen, wie sie im Süden bestehen, auch im
Norden geschaffen werden.
Ich glaube überhaupt, dass vor allem die Familie eine
wichtige Aufgabe bei der Kriminalitätsbekämpfung hat.
Dort, wo intakte Familien bestehen, geraten die Kinder
und Jugendlichen nicht so leicht auf die schiefe Bahn.
Deswegen geht es bei den Familien nicht um konservativ
oder progressiv, nicht um christlich oder unchristlich,
sondern um die Menschlichkeit der Menschen. Deswegen
müssen wir vor allen Dingen die Familien stützen. Insofern ist das morgen zu verabschiedende Gesetz in unseren
Augen destruktiv.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch die Flut
der Drogen, die nach Angabe der Bundesregierung längst
nicht abgeebbt ist, sondern ansteigt, und die insbesondere
über Kinder und Jugendliche hinweggeht, kann am besten
in den Familien bekämpft werden. Es hat aber keinen
Sinn, dass sich Familie und Schule gegen die Drogen
wenden, wenn selbst ernannte Drogenspezialisten
draußen im Lande
({8})
von der Entkriminalisierung von Einstiegsdrogen und von
der Freiheit des Drogenkonsums reden, wie dies leider oft
geschehen ist. Das halte ich für kontraproduktiv.
({9})
Den Menschen, die so etwas verkünden, müssen wir mit
aller Entschiedenheit entgegentreten.
Ein Wort noch zu den rechtsextremistisch motivierten
Gewalttaten, die zu 90 Prozent von jugendlichen
Skinheads verübt werden. Ich glaube, dass Demonstrationen allein nicht ausreichen. Sie sind wichtig - das will ich
nicht herabspielen -, aber sie reichen nicht aus. Es muss
ein stärkerer polizeilicher Schutz bestehen. Es ist für mich
nicht zu erklären, weshalb Synagogen - obwohl bekannt
war, dass sie Angriffsobjekte für solche Wahnsinnstäter
sind - so wenig geschützt werden. Hier kann vieles im
Vorfeld verhindert werden, wenn die Polizei stärker präsent ist. Ich möchte noch einmal das Beispiel Bayern hervorheben. Dort gab es im ersten Halbjahr dieses Jahres die
niedrigsten Häufigkeitszahlen pro 100 000 Einwohner im
rechtsextremistischen Bereich.
Im Juli und August ist die Situation in unserem Land
umgeschlagen; die Kriminalität ist im ganzen Land außer
Kontrolle geraten. Aber sie muss wieder auf normale Verhältnisse zurückgeführt werden. Wir dürfen uns mit diesen Straftaten nie abfinden. Ausländerfeindliche Straftaten sind besonders hässliche Straftaten, die wir mit aller
Entschiedenheit bekämpfen müssen. Wir müssen im Vorfeld mehr tun, als dies vielleicht in manchen Ländern der
Fall ist.
Wir müssen überlegen - wir haben den Gesetzentwurf
bereits im April dieses Jahres eingebracht -, ob wir nicht
bei Heranwachsenden das Erwachsenenstrafrecht stärker
heranziehen. Bei ganz schweren Delikten Jugendlicher
wie Mord und Totschlag, bei denen das Jugendstrafrecht
herangezogen wird, weil das Verbrechen noch als jugendliche Straftat zu werten ist, müssen wir die Möglichkeit
schaffen, das Strafmaß von 10 Jahren auf 15 Jahre zu erweitern. Das halte ich für dringend erforderlich. Ich sehe
nicht ein, dass ein 20-Jähriger, auf den das Jugendstrafrecht angewendet wird, bei einer schweren Straftat
mit nur 10 Jahren bestraft wird, ein 21-Jähriger aber im
gleichen Fall mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe rechnen muss. Hier müssen wir zu einer Änderung kommen.
({10})
Vor allem glaube ich, dass wir insgesamt vor der Aufgabe stehen, stärker Jugendarbeit zu betreiben. Im
präventiven Bereich ist sehr viel möglich. Dies ist eine
große Anstrengung, die die ganze Gesellschaft zu leisten
hat. Wir von der CDU/CSU-Fraktion sind gerne bereit,
hierbei mitzuhelfen.
Danke schön.
({11})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hans-Peter Kemper.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Anfang einige
Bemerkungen zum Thema und zum Vorredner machen.
Zunächst einmal finde ich es sehr gut, dass wir das Problem der Kriminalitätsbekämpfung und der inneren Sicherheit heute bei Tageslicht diskutieren. Das ist nicht immer so. Kriminalität findet oft im Dunkeln statt und
unsere Diskussionen darüber auch oft zur Nachtstunde.
Wichtig ist, dass wir dieses Thema heute in der Kernzeit
diskutieren; denn es bewegt die Menschen. Herr Geis, Sie
haben völlig Recht: Viele Menschen sind unsicher und
haben Angst. Das ist nach 16 Jahren Kohl-Regierung auch
kein Wunder.
({0})
Ein angstfreies Leben ist ein Stück Lebensqualität und die
Menschen haben einen Anspruch darauf.
Sie haben die Vorgänge um Kohl angesprochen und auf
das Gesetz zur Verbrechensbekämpfung und andere Gesetze hingewiesen. Ich sage Ihnen: Die Vorgänge um Kohl
haben auf die innere Sicherheit eine verheerende Wirkung
gehabt. Sie haben das Vertrauen der Menschen in den
Rechtsstaat erschüttert.
({1})
- Wir haben das nicht aufgebauscht.
Sie haben eine Große Anfrage zur erfolgreichen Verbrechensbekämpfung in Deutschland gestellt. Ich sage Ihnen: Sie haben Recht. Nomen est omen. Die Verbrechensbekämpfung der Bundesregierung ist erfolgreich. Herr Marschewski, ich habe gesehen, dass Sie als Nächster für die CDU/CSU sprechen.
({2})
Es war lange guter Brauch, dass Sie der Bundesregierung
für die hervorragenden Leistungen gedankt haben. Das
haben Sie oft unberechtigterweise getan. Aber heute haben Sie einen Grund, der Bundesregierung zu danken, da
sie auf diesem Gebiet eine hervorragende Leistung vollbracht hat.
({3})
Das Ergebnis der Großen Anfrage liegt vor und es ist
erfreulich. Dennoch - insofern haben Sie Recht, Herr
Geis - können wir uns nicht zufrieden zurücklehnen und
sagen, wir hätten alles geschafft. Ich will nur einige
Punkte aufgreifen: Erstens. Seit 1993 haben wir beim
Straftatenaufkommen stagnierende bzw. rückläufige
Zahlen; die Häufigkeitsziffern machen das deutlich. Jede
verhinderte Straftat bedeutet mindestens ein Opfer weniger. Ich denke, das ist ein ganz wichtiges Signal. Zweitens. Wir haben steigende Aufklärungsquoten. Auch das
ist ein wichtiges Signal: Straftaten werden schneller und
häufiger aufgeklärt. Beide Entwicklungen wirken sich positiv auf das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung aus.
Ich will noch eines sagen, weil Sie die Regierung angesprochen haben: Die Häufigkeit der Straftaten ist seit
dem Amtsantritt der rot-grünen Regierung in besonderer
Weise zurückgegangen, während gleichzeitig die
Aufklärungsquote auf über 50 Prozent angestiegen ist.
({4})
Sie hätten Ihre Sache damals besser machen sollen, anstatt
heute das Ergebnis Ihrer 16-jährigen Politik zu kritisieren.
({5})
Sie haben Recht: Die Menschen haben Angst - oft eine
irreale Angst -, denn das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung hat sich sehr stark abweichend vom tatsächlichen
Straftatenaufkommen und von der Aufklärungsquote verändert. Die Menschen haben Angst, Opfer einer Straftat
zu werden und das hat zu Verhaltensänderungen geführt:
Viele, besonders ältere Menschen trauen sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr, ihre Wohnung zu verlassen; sie vermeiden bestimmte Stadtteile, bestimmte
Parks und öffentliche Verkehrsmittel. Sie geben ein Stück
ihrer persönlichen Freiheit auf, weil sie ihre Verwandten
und Bekannten abends nicht mehr besuchen und auch keinen Besuch mehr bekommen. Sie geben damit ein Stück
Lebensqualität preis und soziale Bindungen gehen verloren. Deswegen ist es gut, dass wir dieses Thema heute
diskutieren und dass wir diese positive Entwicklung deutlich machen können. Das wirkt sich letztlich positiv auf
das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung aus.
Sie haben die Kinder- und Jugendkriminalität angesprochen. Ich greife diesen Bereich heraus, weil er für die
Zukunft besonders wichtig ist. Hier entscheidet sich, wie
die Kriminalitätsbekämpfung zukünftig aussehen wird,
ob wir Dauerstraftäter bekommen oder ob Straftaten pubertierender Jugendlicher nur ein episodenhaftes Verhalten darstellen. Es hat - auch insofern haben Sie Recht einen explosionsartigen Anstieg der Kinder- und
Jugendkriminalität gegeben; aber im Wesentlichen nur bis
1997. Die Kinder- und Jugendkriminalität ist seit dem
Wechsel der Bundesregierung zurückgegangen. Das hat
etwas mit Prävention zu tun.
Sie haben die Familien und die Perspektiven, die Kinder und Jugendliche brauchen, angesprochen. Die jetzige
Regierung ist in diesem Bereich massiv tätig geworden:
Wir haben die Situation der Familien durch die Erhöhung
des Kindergeldes und die Ausweitung des Familieneinkommens stark verbessert.
({6})
Wir haben auch im Bildungs- und Ausbildungsbereich
eine Menge getan. So haben wir das BAföG erhöht und
die Jugendarbeitslosigkeit massiv bekämpft. Das sind
präventive Maßnahmen, die sich positiv auf die Jugendkriminalität auswirken. Das haben Sie in den vergangenen
16 Jahren versäumt.
({7})
- Die Kinder- und Jugendkriminalität steigt längst nicht
mehr in dem Maße, wie wir das unter Ihrer Regierung beobachten konnten; in einigen Bereichen ist sie sogar rückgängig.
Ich will noch einen wichtigen Bereich ansprechen,
nämlich die ausländischen Jugendlichen.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?
Ja, bitte.
Ist Ihnen bekannt, dass
der vorhin von mir zitierte Christian Pfeiffer in der von
mir genannten Studie festgestellt hat, dass der Höhepunkt
der Jugend- und Kinderkriminalität 1997 gewesen ist und
dass danach eine konsequente Abflachung zu verspüren
war, also zu einer Zeit, als ganz offensichtlich noch die
Kohl-Regierung noch im Amt war?
Sie haben völlig Recht.
Ich sehe allerdings keinen Unterschied zu dem, was ich
gesagt habe. Den Höhepunkt der Kinder- und Jugendkriminalität, die seit 1993 zunahm, gab es im Jahre 1997. Da
haben Sie Recht. Es ist klar, wer damals regiert hat. Erst
danach flachte sie ab. Auch da ist klar, wer regiert hat.
({0})
Ich möchte noch etwas zur Entwicklung der Kriminalität bei ausländischen Kindern und Jugendlichen sagen;
denn über dieses Problem streiten wir uns ständig. Auch
hier gab es bis 1997 einen Anstieg. Aber selbst während
Ihrer Regierungszeit nahm die Kriminalität bei ausländischen Kindern und Jugendlichen nicht so stark zu wie bei
den deutschen. Seitdem die SPD mit den Grünen regiert,
ist die Kriminalität bei ausländischen Kindern und Jugendlichen zurückgegangen. Das steht im krassen Gegensatz zu dem, was Sie über Jahre hinweg über Ausländerkriminalität und die Gefährlichkeit von ausländischen
Kindern und Jugendlichen verbreitet haben. Wir haben
dagegen immer betont: Die ausländische Wohnbevölkerung ist zum Teil gesetzestreuer als die deutsche. Sie haben allen Grund, sich bei unseren ausländischen
Mitbürgerinnen und Mitbürgern für das zu entschuldigen,
was Sie in den letzten Jahren über sie gesagt haben.
({1})
Ich möchte noch auf ein anderes Problem zu sprechen
kommen, das hier auch angesprochen worden ist, nämlich
die Drogen. Dies ist in der Tat ein großes Problem, sowohl
im Gesundheitsbereich als auch im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung. Ich nehme letzteren Bereich als Beispiel heraus, weil es hier um die Dealerproblematik und
die Beschaffungskriminalität geht. Die Aufklärungsquote
ist sehr hoch. Sie liegt bei etwa 95 Prozent. Dabei liegt
Deutschland im europäischen Vergleich hinsichtlich der
Zahl jener Straftaten, die im Zusammenhang mit Drogen
begangen worden sind, eher in der unteren Hälfte.
Nun muss man wissen, dass sowohl die Entwicklung
der Drogenkriminalität als auch die Höhe der Aufklärungsquote sehr stark von der Ermittlungsintensität der
Polizei abhängen. Drogenkriminalität ist immer auch
Dunkelfeldkriminalität. Je mehr die Polizei ermittelt, desto mehr Licht wird in das Dunkel der Drogenkriminalität
gebracht. Fast immer wird der Täter ermittelt. Die Fälle,
in denen kein Täter ermittelt werden kann, sind eher die
Ausnahme. Ein Beispiel für einen solchen Fall - Stichwort: Schneegestöber - ist der Bundestag: Es gibt zwar
den Verdacht einer Straftat, aber es gibt keine Täter, zumindestens keine, die man benennen könnte. Aber das ist,
wie gesagt, eher der Ausnahmefall. Man wird sehen, wie
sich das entwickeln und was dabei herauskommen wird.
Meine Redezeit ist weitestgehend abgelaufen. Deshalb
möchte ich das Ergebnis zusammenfassen: Die Große Anfrage hat gezeigt: Es gibt noch viel zu tun. Es gibt keinen
Grund, dass wir uns zurücklehnen. Die Bekämpfung der
Internetkriminalität und die Kooperation auf europäischer
Ebene - Stichwort: Eurodac - müssen deutlich verbessert
werden. Hier sind wir erst am Anfang. Die Große Anfrage
hat aber auch gezeigt, dass Kriminalität und eine hohe
Kriminalitätsrate nicht gottgegeben sind. Man kann etwas
dagegen machen. Die rot-grüne Koalition und die Regierung haben etwas dagegen getan. Wir sind auf einem
guten Weg, den wir fortsetzen werden.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Guido Westerwelle.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Es
muss zunächst einmal festgehalten werden, dass sowohl
die Große Anfrage als auch die Antwort der Bundesregierung auf diese Anfrage in bemerkenswerter Weise geeignet sind, einen Beitrag zur Versachlichung der öffentlichen Diskussion zu leisten. Als ich die Anfrage gelesen
habe, fand ich es bemerkenswert, wie zielführend die Fragen gestellt worden sind. Ich muss ausdrücklich anerkennen, dass die Antwort der Bundesregierung für die Arbeit
der Parlamentarier wirklich weiterführend ist und erhebliches Material beinhaltet, das geeignet ist, die Diskussion
zu versachlichen.
({0})
Man muss im Grunde genommen feststellen, dass
manche in der Öffentlichkeit hysterisch geführte Diskussion im Lichte der Großen Anfrage und der Antwort der
Bundesregierung wirklich lächerlich erscheint. Es gibt
Personen in der Öffentlichkeit - ich denke da an einen
speziellen Fall in Hamburg -, die meinen, sie könnten mit
hysterischen Bemerkungen Menschen hinter sich bringen. Wir erleben immer wieder, wie bestimmte Personen
die Durchsetzung ihrer politischen Interessen über
Katastrophenmeldungen versuchen. Die Große Anfrage
und die Antwort darauf zeigen - und zwar jenseits der Parteigrenzen -, dass die innere Sicherheit in Deutschland in
einigen Bereichen ausgesprochen problematisch ist, aber
überwiegend im Griff ist. Das muss man einmal festhalten dürfen.
({1})
Ich möchte davon abraten, dass man eine so kluge
Diskussionsgrundlage dafür nutzt, sozusagen das parteipolitisch kleine Karo zu fahren. Die Spekulation darüber,
ob Helmut Kohl das Problem der Jugendkriminalität
schon 1997 gelöst hat oder ob die Jugendkriminalität angesichts der frohen Erwartung auf einen Regierungswechsel zurückgegangen ist, sollten wir den Kabarettisten
überlassen. Die Regel ist - das wissen diejenigen, die sich
damit befassen -, dass kriminologische Entwicklungen in
unserer Gesellschaft viel längerfristig angelegt sind. Wir
wollen doch nicht ernsthaft den Eindruck hier erwecken:
Es gab einen Regierungswechsel 1998 und plötzlich ist
die Kriminalität weg von den Straßen.
({2})
- Ich glaube Ihnen vieles. Ich glaube auch, dass Sie das
meiste, das Sie sagen, ernst meinen. Aber ich glaube nicht,
dass Sie das ernst gemeint haben. Dafür kenne ich Sie zu
gut.
({3})
Wir haben in Deutschland kein Gesetzesdefizit, sondern ein Vollzugsdefizit.
({4})
Wir diskutieren im Deutschen Bundestag regelmäßig über
die Gesetze. Wir sind auf Bundesebene in erster Linie
- wenn ich einmal vom BGS und anderen Bundesbehörden für die Bekämpfung von bestimmten Kriminalitätsstrukturen absehe - für die Gesetze zuständig. Man muss
aber kritisch sehen, dass in weiten Teilen ein Vollzugsdefizit besteht. Dieses Defizit besteht insbesondere im Bereich der Länder. Ich will in diesem Zusammenhang nicht
die spektakulären Fälle ansprechen. Aber trotzdem muss
ich sagen, die Tatsache, dass ein Gewalttäter wie Frank
Schmökel zum x-ten Male entkommen konnte, zeigt, dass
es kein Gesetzesdefizit, sondern ein klar erkennbares
Vollzugsdefizit gibt. Ich wundere mich darüber, dass ein
Staatssekretär zurücktreten muss, aber nicht diejenigen,
die diese Sache verbockt haben.
({5})
Der zurückgetretene Staatssekretär gehört nicht meiner
Partei an; ich habe mit ihm auch nichts zu tun. Aber dennoch muss ich sagen, dass uns diese Art und Weise der
Diskussion nicht weiterführt.
Es ist auch viel zu kurz gegriffen, wenn man sagt, die
Politik habe eine Vorbildfunktion. Die Politiker sollten
sich diesbezüglich nicht überschätzen.
Bei allem Respekt, Herr Kollege, muss ich Ihnen sagen
- obwohl ich der Einschätzung in weiten Teilen zustimmen kann, der Fall Kohl habe Auswirkungen auf das
Rechtsbewusstsein -: Meine Mitarbeiter haben mir gerade telefonisch durchgegeben, dass gegen einen amtierenden Bundesminister, nämlich gegen Herrn Klimmt, am
heutigen Tage ein Strafbefehl von der Staatsanwaltschaft
beantragt worden ist. Wer mit Steinen wirft, der sitzt in der
Regel im Glashaus.
({6})
Aus meiner Sicht haben die unzureichenden Schutzmaßnahmen auf das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung
eine größere Auswirkung als manche theoretische politische Diskussion, die wir führen. Ich frage mich - das fragen sich sicherlich viele Kolleginnen und Kollegen -: Wie
muss sich eine junge Frau fühlen, wenn ihr Schänder zum
fünften Mal wieder auf freiem Fuß ist und zum fünften
Mal versucht, zu seinem früheren Opfer zu gelangen?
Welches Martyrium muss diese junge Frau über Jahre hinweg durchgemacht haben? Ein Staat, der ein solches Problem nicht mit Schloss und Riegel lösen kann, der versagt.
Dabei ist es für mich nicht entscheidend, auf welcher
Ebene dies passiert.
({7})
Es geht selbstverständlich nicht darum, dass man dem
Wegsperren das Wort reden sollte. Jeder weiß, dass die
Resozialisierung und das Zurückführen der Straftäter auf
den rechten Weg die beste Maßnahme ist. Wenn ein ehemaliger Straftäter nicht erneut straffällig wird, ist das der
beste Opferschutz. Aber es gibt - das liegt in der Natur der
Sache - Straftäter, die nicht auf den rechten Weg zurückzuführen sind. Wir sollten also unter dem Eindruck einer
völlig überholten Diskussion, die einer bestimmten Phase
unserer Republik entstammt, uns nicht davon abbringen
lassen, die Härte des Gesetzes anzuwenden.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen
Irmer?
Ja. Aber Sie meinen:
unseres Kollegen Irmer; denn er ist Kollege von uns allen.
Herr Kollege Westerwelle, ich
habe heute früh zu meiner Verblüffung Folgendes in der
Zeitung gelesen:
({0})
Der brandenburgische Gesundheitsminister Alwin
Ziel, SPD, hat gestern nicht ausgeschlossen, dass der
am Dienstag gefasste Gewaltverbrecher Frank
Schmökel wieder in den Maßregelvollzug überstellt
wird und dass er dann einen erneuten Freigang bekommt.
Ich frage Sie, was Sie davon halten. Ich frage Sie auch,
ob solche Meldungen nicht Wasser auf die Mühlen derjenigen sind, die sich für die Todesstrafe einsetzen.
Das ist eine sehr gefährliche Diskussion. Sie sprechen etwas an, hinsichtlich
dessen es in diesem Hause zu Recht ein Tabu gibt, worüber in der Bevölkerung aber diskutiert wird. Nur, eines
muss ich genauso klar feststellen: Ich verstehe nicht, wie
man als Verantwortlicher - hierbei geht es mir wirklich
nicht um die Parteizugehörigkeit - eine solche Erklärung
zu einem solchen Zeitpunkt in die Presse setzen kann. Das
ist mir, ehrlich gesagt, unbegreiflich.
({0})
Die Menschen müssen doch kirre werden, wenn sie so etwas lesen. Genauso klar muss ich Ihnen sagen: Wer behauptet, dass die bestehende Gesetzeslage nicht das lebenslange Wegsperren von solchen pathologischen
Tätern erlaube, der kennt die Gesetzeslage nicht. Diese
Menschen können und müssen weggesperrt werden.
({1})
Denn es gibt auf solche Menschen keine andere Antwort.
Das sind, wie wir alle aus der Kriminologie wissen, Menschen, die nicht auf den rechten Weg zurückzuführen sind,
weil sie bestimmte Fehlschaltungen nicht nur in ihrer Psyche haben. Deswegen ist hier meiner Einschätzung nach
nur die Härte des Rechtsstaates geboten.
Bei der Kriminalitätsbekämpfung geht es um weit
mehr. Ich finde sehr bemerkenswert, was in der Antwort
der Bundesregierung zu den jugendlichen und heranwachsenden Straftätern ausgeführt wird. Das ist eine Besorgnis erregende Entwicklung. Nur, ich empfehle allen
hier, nicht sofort aus der Hüfte zu schießen und zu glauben, das Problem werde dadurch gelöst.
Wer sich von Berufs wegen ein bisschen mit dem Jugendstrafrecht befasst hat, der weiß eines ganz genau: Es
gibt in unserer gesamten Strafrechtskultur und -struktur
kaum einen Bereich, in dem so erfolgreich gearbeitet wird
wie im Jugendstrafrecht. In kaum einem anderen Bereich
ist man so erfolgreich, Menschen wieder auf den rechten
Weg zurückzuführen. Man muss eben auch hier vorsichtig sein, dass man das Kind nicht mit dem Bade ausschüttet. Das wird regelmäßig vergessen.
Ich will Ihnen sagen, wo aus meiner Sicht das größte
Defizit bei der Bekämpfung von Kriminalität im Bereich
der Jugendlichen und Heranwachsenden besteht: Es besteht darin, dass zwischen dem Zeitpunkt der Tat, dem
Zeitpunkt der Festnahme und dem Zeitpunkt der Verurteilung eine zu große Zeitspanne liegt.
({2})
Gerade in diesen Bereichen muss wieder folgender Satz
gelten - das ist nicht konservativ; das ist nicht „law and
order“ -: Die Strafe muss der Tat auf dem Fuße folgen;
denn nur dann ist eine entsprechende Wirkung auf einen
jugendlichen Straftäter zu erwarten.
({3})
Ich finde die Bemühungen - Sie werden mir gestatten,
dass ich das ausdrücklich erwähne - von Herrn Professor
Goll in Baden-Württemberg und von Herrn Mertin in
Rheinland-Pfalz, um bewusst zwei Landesregierungen
unterschiedlicher Färbung zu nennen, ausgesprochen lohnend.
({4})
- Herr Beck, Sie haben völlig Recht: Die besten Landesregierungen werden mit von der F.D.P. gestellt.
({5})
Ich erkenne an, dass dies auch Sie so wie mich stets zur
Freude veranlasst. Man könnte so etwas - bei allem Respekt - von den Landesregierungen, an denen Sie beteiligt
sind, wirklich nicht behaupten, auch wenn Sie sich Mühe
geben.
({6})
- Sie sind jetzt ruhig; Sie wurden gerade gelobt.
Gerade der Jugendbereich zeigt aus meiner Sicht, dass
wir in der Lage sein müssen, Jugendlichen eine zweite
Chance zu geben. Ich selber habe im Gerichtssaal gestanden und erlebt, wie jemand verurteilt worden ist, dessen
Bruder - in bestimmten Verfahren sind ja nur Verwandte
zugelassen - anwesend war, und wie der Richter sagte:
„Sie kenne ich doch auch“, worauf der Bruder antwortete:
Ja, von vor sechs Jahren. Der Richter fragte ihn: Was machen Sie jetzt? - Mittlerweile ist aus ihm ein anständiger
Kerl geworden, der in der Mitte der Gesellschaft lebt.
Man muss zur Kenntnis nehmen, dass sich Jugendliche
in einem bestimmten Alter auch einmal verirren. Es ist ein
Fehler, dann lebenslang den Stab über diese Jugendlichen
zu brechen.
({7})
Wir haben in der letzten Legislaturperiode viele Gesetzesdefizite in der Regel nicht streitig, sondern einvernehmlich - Herr Kollege Geis, Sie haben auf überparteiliche Maßnahmen im Deutschen Bundestag hingewiesen - beseitigt. Mittlerweile geht es aber nicht mehr um
Gesetzesdefizite, sondern ausdrücklich um Vollzugsdefizite.
Es ist eine Katastrophe, wenn die Einsatzfahrzeuge der
Polizei eigentlich in das Polizeimuseum gehören. Es ist
eine Katastrophe, wenn sich Polizeibeamte auf eigene
Rechnung Computer im Sonderangebot kaufen, damit sie
wenigstens halbwegs auf dem neueren technischen Stand
sind.
({8})
Aus meiner Sicht ist es eine Katastrophe, dass in einem
deutschen Bundesland Computer, die von Amts wegen
zur Verfügung gestellt werden, faktisch nicht genutzt werden können, weil die Programme nicht funktionieren. Es
ist eine Katastrophe, wenn das Budget für den Unterhalt,
für Benzin und die Reparatur von Fahrzeugen zu knapp
bemessen ist und dies zur Folge hat, dass Streifenfahrten
nicht oder nicht in dem erforderlichen Umfang durchgeführt werden.
Heute Morgen habe ich mit einem Abgeordnetenkollegen aus dem nordrhein-westfälischen Landtag, der selbst
Polizeibeamter ist, Herrn Engel, telefoniert. Er berichtete
mir - in einer solchen Diskussion hört man sich ja ein wenig um - von einem Erlass der nordrhein-westfälischen
Landesregierung aus dem April 2000, in diesem Fall von
Innenminister Behrens, in dem steht, dass ein 400-DMZuschuss gewährt wird, damit sich Polizeibeamte eine eigene schusssichere Weste kaufen können. Dieser Betrag
reicht natürlich nicht aus, wie wir wissen,
({9})
weil Schusswesten in der Regel an den Körper angepasst
werden müssen, damit sie funktionieren können.
({10})
Gleichzeitig wird in diesem Erlass hinzugefügt: Ihr bekommt zwar den Zuschuss in Höhe von 400 DM für die
schusssichere Weste, aber, wenn ihr die Weste verwendet
und sie nicht in Ordnung war, übernimmt der Dienstherr
keine Haftung, wenn euch Polizeibeamten etwas passiert.
Dies zeigt in meinen Augen das Versagen des Staates in
einem Kernbereich, nämlich bei der inneren Sicherheit.
({11})
Deswegen appelliere ich an Sie, dass wir uns auf die
Kernaufgaben des Staates konzentrieren und dass die
Kernaufgabe des Staates in den Mittelpunkt gerückt wird.
Warum organisieren Menschen Staat? Geschichtlich gesehen zunächst einmal für die äußere und innere Sicherheit, für ein gedeihliches Zusammenleben.
Ich habe die Nase voll, dass jedes Mal nach einer
Straftat nach einem neuen Gesetz gerufen wird, auch in
diesem Hause.
({12})
Wir müssen endlich begreifen: Wir brauchen nicht mehr
Gesetze. Wir brauchen mehr und besser ausgestattete
Vollzugs- und Polizeibeamte, die in der Lage sind, die
Straftäter zu fassen. Man kann einen Straftäter nicht verurteilen, wenn man ihn nicht vorher fasst.
({13})
Deswegen ist das Vollzugsdefizit der entscheidende
Punkt, über den wir gerade nach dieser bemerkenswerten
Antwort der Bundesregierung reden müssen.
({14})
Jetzt hat der Abgeordnete Volker Beck das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Redner
der Opposition haben versucht, bestimmte Länder gegeneinander auszuspielen.
({0})
Ich denke, die Antwort der Bundesregierung auf die
Große Anfrage gibt das einfach nicht her. Die Antwort legt
dar: Bei der Kriminalitätsentwicklung gibt es zwischen
Stadt und Land eine viel stärkere Differenzierung als zwischen den einzelnen Bundesländern. Wenn wir hier keine
Wahlkampfdebatte machen, sondern ernsthaft darüber reden wollen, was wir tun müssen, um die Verbrechensbekämpfung voranzubringen - was wir alle wollen, weil
es eine zentrale Frage für das Lebensgefühl der Menschen
im Lande ist -, sollten wir solche sachfremden Argumentationen mit billiger parteipolitischer Polemik hinten
anstellen.
({1})
- Das gefällt Ihnen nicht. Da Sie aber fordern, dass wir die
Länder miteinander vergleichen, will ich Ihnen zur Warnung eine statistische Größe entgegenhalten. Sie führen
diese Debatte ja wegen des baden-württembergischen
Landtagswahlkampfs. Bei den Fragen, die Sie nicht gestellt haben, sieht Baden-Württemberg nicht mehr so gut
aus. Im letzten Jahr gab es nach einer AP-Meldung 291
antisemitisch motivierte Straftaten. Davon fand mehr als
jede sechste, nämlich 50, in Baden-Württemberg statt.
Dieses Thema war Ihnen in der Anfrage keiner Erwähnung wert. Das, finde ich, ist bezeichnend für den Fragesteller.
Wir sollten hier ernsthaft über die Strategien zur
Kriminalitätsbekämpfung reden und solche Vergleiche
besser lassen. Wir alle könnten uns solche Zahlen um die
Ohren schlagen; ich habe noch andere dabei. Aber ich
denke, wir sollten uns das ersparen. Auch die Menschen
draußen im Land sind es müde, anzusehen, wie wir ein so
ernsthaftes Problem auf diesem Niveau diskutieren.
({2})
Rot-grüne Kriminalpolitik ist eine Trias von Prävention, Repression und Maßnahmen der Resozialisierung.
Das heißt, wir wollen die Ursachen der Kriminalität
bekämpfen, auf Kriminalität deutlich und angemessen
reagieren. Dabei müssen die Sanktionen so ausfallen, dass
sie dem Täter das Unrecht der Tat vor Augen führen und
ihn möglichst von der Begehung weiterer Straftaten abhalten.
Eine Schwäche unseres heutigen Strafrechts ist, dass
wir dem Richter nicht die Möglichkeit geben, auf die Persönlichkeit des Täters und die Umstände der Tat im Einzelfall angemessen und differenziert zu reagieren. Diese
Koalition wird deshalb sehr bald eine Sanktionenrechtsreform auf den Weg bringen. Für die Bürgerinnen und
Bürger wird diese Reform am Ende auch mehr Schutz vor
Straftätern bedeuten; denn eine erfolgreiche Resozialisierung bedeutet noch immer den besten Schutz vor Rückfalltätern. Das hat die Bundesregierung auch in ihrer Antwort ganz deutlich gemacht.
Mit einem ausdifferenzierten Instrumentarium von
Sanktionen werden wir den Gerichten die Mittel in die
Hand geben, mit denen angemessen und nachhaltig auf
begangenes Unrecht reagiert werden kann. Wer eine solche Reform, wie kürzlich der bayerische Justizminister
Weiß, mit den Worten „Freiheit für Schwerverbrecher“ tituliert, will offensichtlich die Probleme, die wir haben,
nicht verstehen und mag sich auch an einer Lösungsdiskussion nicht beteiligen.
Selbstverständlich sind Sanktionen wie gemeinnützige
Arbeit oder Ausweitung des Fahrverbots zur selbstständigen Hauptstrafe nicht für den Bereich der Schwerkriminalität gedacht. Aber es ist wichtig, dass wir gerade bei
den kleineren kriminellen Handlungen reagieren. Gegenwärtig ist es so, dass der Richter da im Erwachsenenstrafrecht nur die Möglichkeit der Geldstrafe oder der Bewährungsstrafe hat. Das beeindruckt oftmals nicht.
Deshalb ist es ein wesentlicher Gewinn für die Kriminalitätsdebatte, wenn wir angemessen reagieren und bei
kleinen Delikten sagen: Wir schauen nicht weg, aber wir
holen auch nicht jedes Mal sozusagen die ganz große
Keule des Justizvollzugs heraus,
({3})
weil wir genau wissen, dass dort kriminelle Karrieren oftmals erst begonnen werden. Deshalb sind solche differenzierten Maßnahmen notwendig.
Das sollten wir auch den Menschen draußen erklären.
Wir sollten ihnen nicht an den Stammtischen nach dem
Mund reden, aber wir sollten an den Stammtischen darüber reden. Ich habe erlebt, dass die Menschen das verstehen, wenn man es ihnen erklärt. Da ist Rot-Grün auf dem
richtigen Weg.
({4})
Wenn hier im Zusammenhang mit der Bewährungsstrafe denunziert wird, dass wir - Sie werden es sicher
noch ansprechen - dem Richter künftig ermöglichen,
auch jenseits der Zweijahresgrenze, nämlich zwischen
zwei und drei Jahren, eine Straftat zur Bewährung auszusetzen, dann sage ich: Das bedeutet nicht unbedingt mehr
Liberalität, sondern wir bringen das Spannungsverhältnis
zwischen Schuldstrafrecht und dem Resozialisierungsgedanken wieder ins Lot. Wir wissen doch alle, dass die
Richter oftmals bei Ersttätern, die eine schwerere Straftat
begangen haben und eigentlich eine Strafe von mehr als
zwei Jahren verdient hätten, versuchen, unter die Zweijahresgrenze zu kommen, damit sie noch eine Bewährungsstrafe verhängen können, weil sie denken, dass
das noch am ehesten zu dem Ergebnis der Reintegration
des Täters in die Gesellschaft führen wird.
Herr Westerwelle hat es gerade gesagt: Man kann sich
einmal verirren und die Irrungen können sehr schlimm
ausfallen. Dann ist es besser, wir schaffen hier oberhalb
der Zweijahresgrenze - unter engeren Voraussetzungen
als unterhalb der Zweijahresgrenze - eine Bewährungsmöglichkeit, mit Auflagen, mit gemeinnütziger Arbeit,
mit Wiedergutmachungsmaßnahmen. Das heißt nicht einfach Wegschauen, sondern das ist eine konkrete Reaktion,
die vielleicht dazu führt, dass ein solcher Mensch reintegriert wird; denn das ist das Beste für die Gesellschaft.
Wir werden auch die Qualität des Strafvollzuges verbessern. Wir haben alle nicht mehr Geld zu verteilen. Deshalb ist es ein ganz entscheidender Schritt, dass wir in Zukunft damit Schluss machen, dass Ersatzfreiheitsstrafen
abgesessen werden, also solche Strafen, die verhängt werden, weil jemand eine Geldstrafe nicht bezahlen will oder
kann. Sie sollen durch gemeinnützige Arbeit ersetzt werden. Das schafft Platz im Strafvollzug, und es wird auch
von Beamten geäußert. - Herr Geis, ich würde mir wünschen, dass Sie öfter einmal eine Justizvollzugsanstalt besuchen.
({5})
In Diskussionen mit den Beamten ist immer wieder zu
hören, es belaste sie in ihrer Arbeit mit den Mittel- und
Langstraflern ungeheuer, dass Leute für eine Woche in
den Strafvollzug kommen, eingecheckt werden müssen,
ausgecheckt werden müssen; sie machen nur Arbeit.
({6})
Das führt dazu, dass man für die Täter, mit denen man arbeiten muss, keine Zeit hat.
Wir haben festgestellt, dass sich die Jugendkriminalität in bestimmten Deliktbereichen in der letzten Zeit
eher rückläufig entwickelt hat. Die Statistik hat ergeben,
dass 1999 die Delikte in diesem Bereich um 2 Prozent
gesunken sind. Ich denke, das ist in der Tat nicht ganz unbeeinflusst von den Maßnahmen, die wir vonseiten der
neuen Koalition getroffen haben, geschehen. Mit dem
JUMP-Programm haben wir vielen Jugendlichen, die am
Volker Beck ({7})
Rande der Gesellschaft standen, die perspektivlos waren,
eine neue Perspektive gegeben.
Das Gleiche gilt übrigens auch für ein Thema, das Ihnen in der Anfrage schon wieder sehr viel Platz wert war,
für die Ausländerkriminalität. Auch diese ist 1999 weiter gesunken. Ich glaube, dass die Staatsbürgerschaftsreform dazu einen Beitrag leistet,
({8})
weil wir sagen: Ihr gehört zu unserer Gesellschaft, ihr bekommt ein Eintrittsrecht mit gleichen Rechten und gleichen Pflichten, aber dann müsst ihr euch auch an die Regeln halten. - Das ist gerade bei denjenigen, die ein wenig
gefährdet sind, ein neues Angebot zur Integration und Ermutigung.
({9})
An diesem Kurs der Prävention durch mehr Integration
werden wir festhalten.
({10})
Prävention ist bei uns ein ganz entscheidender Punkt. Das
haben der Innenminister und die Justizministerin auch mit
der Gründung des Forums Kriminalprävention deutlich
gemacht. Wir sind da auf einem guten Kurs.
Repression und Prävention darf man nicht als Gegensätze sehen, sondern man muss hier einen Policymix haben, mit dem das aufeinander abgestimmt wird. Ich
glaube, da sind wir auf einem guten Weg. Das tut Ihnen
natürlich Leid, denn eigentlich hätten Sie vonseiten der
konservativen Opposition dieses Thema gern abonniert.
Die Menschen draußen werden sehen, dass unsere Politik
dieses Land sicherer macht,
({11})
ohne dass an der Rechtsstaatlichkeit Abstriche gemacht
werden müssen.
({12})
Es spricht jetzt
die Abgeordnete Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Auch wir sind der Meinung, dass eine wirksame und erfolgreiche Kriminalitätsbekämpfung nur
durch eine wirklich effiziente soziale Prävention erreicht
werden kann. Gerade weil wir die Sorgen der Bürgerinnen
und Bürger ernst nehmen und keine populistischen Spielchen treiben wollen, sagen wir ihnen - das sage ich heute
zum wiederholten Male -, dass ohne die Bekämpfung und
Korrektur der gesellschaftlichen und sozialen Ursachen
alle Versuche, Kriminalität durch immer mehr Polizei, immer schärfere Gesetze, immer längere Strafen zurückdrängen zu wollen, zum Scheitern verurteilt sind.
({0})
Ich möchte sehr deutlich wiederholen, was Herr Beck hier
auch schon gesagt hat.
Ursachenbekämpfung ist einer der wichtigsten Punkte,
die in der Kriminalitätsbekämpfung beachtet werden sollen. Dabei möchte ich auf die Ausführungen von Herrn
Westerwelle eingehen. Ich gebe Ihnen in allem Recht.
({1})
- In fast allem.
Wir führen bei jedem Fall wie dem Fall Schmökel immer wieder solche Debatten, aber wir führen keine Diskussion über die wirklichen Ursachen und darüber, was
wir bekämpfen müssen.
Ich bin seit 20 Jahren Strafvollzugshelferin. Seit
20 Jahren steht in den Urteilen der Richter, dass Therapie
gemacht werden muss, dass es bestimmte Auflagen gibt.
Ich habe gerade wieder eine Tour durch nordrhein-westfälische Gefängnisse hinter mir und die Anstaltsleiter gefragt. Sie haben alle gesagt, dass diese Therapieauflagen
nicht eingehalten werden können, weil man das dafür qualifizierte Personal im Gefängnis nicht hat, weil es keine
entsprechende Forschung gibt, weil es keine Ursachenbekämpfung gibt.
Ich sage Ihnen: Solange dieses nicht möglich gemacht
wird, wird man in den Gefängnissen weiter Zeitbomben
wie Schmökel produzieren.
({2})
- Es mag sein, dass Sie in Bayern da ein Stück weiter sind.
Ich würde auch das gern untersuchen, Herr Geis.
Damit komme ich zu einem weiteren Punkt, zur Drogenpolitik. Sie haben das angesprochen und haben heute
hier wieder gefordert, dass Drogenabhängige kriminalisiert werden sollen.
Sie haben hier vor allen Dingen sehr populistisch dargestellt, dass die Drogenkriminalität weiter ansteigt. Sie
haben Recht. Auch Wissenschaftler und Forscher vertreten diese Auffassung und wir sind in den Anhörungen, die
wir im Bundestag durchgeführt haben, ebenfalls immer
wieder zu dieser Erkenntnis gekommen. Immerhin hat die
neue Bundesregierung die Verantwortlichkeit für die Drogenpolitik endlich vom innenpolitischen und Rechtsbereich in den eigentlich zuständigen Gesundheitsbereich
gelegt.
Deswegen appelliere ich an Sie: Drogenabhängige
Menschen sind kranke Menschen. Sie müssen entkriminalisiert werden. Deswegen müssen auch Drogen entkriminalisiert werden. Sie würden in Bezug auf die
Volker Beck ({3})
Kriminalitätsbekämpfung eine Menge mehr erreichen,
wenn in diesem Bereich endlich Maßnahmen ergriffen
würden.
Das nächste Thema: Videoüberwachung. Zu diesem
Thema hat die CDU/CSU in Ihrer Großen Anfrage ebenfalls Fragen gestellt. Auch hier wollen Sie jetzt verstärkt
Ihrem Vorbild Großbritannien nacheifern. Meine Damen
und Herren, wer sich genau anschaut, was in Großbritannien, aber auch in den Teilen Deutschlands, in denen Videokameras aufgestellt werden, stattfindet, wird feststellen: Mit Videokameras wird die Kriminalität im
Wesentlichen vom Zentrum in die Randgebiete verlagert.
Ich glaube nicht, dass dies die angestrebte Wirkung sein
kann. Ganz im Gegenteil muss man sagen, dass mit Videoüberwachung - wir werden in diesem Hause noch die
Debatte über das Datenschutzgesetz führen - Bürgerrechte eingeengt und abgebaut werden. Das findet auf gar
keinen Fall unsere Zustimmung.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auf Folgendes
hinweisen: Die Mitglieder des Innenausschusses waren in
Großbritannien. Es gibt genügend Analysen, die aufzeigen, dass die Kriminalität dort eher gestiegen als gesunken ist. Von daher muss diese Diskussion auch hier bei uns
sehr sorgfältig geführt werden. Der Ruf nach mehr Kameras reicht nicht aus.
({4})
Bisher war es so, dass vor allen Dingen die Kameraindustrie profitiert hat, die Bürgerrechte aber abgebaut wurden.
Im Übrigen gibt es ein Beispiel für die Wirkungslosigkeit von Videokameras aus den letzten Wochen: den
Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge. Dort gab
es Kameras. Diese haben aber nicht die Täter aufgenommen - sie sind bis heute nicht gefasst -, sondern auf den
Bildern hat man die mutige Nachbarin, die über einen
Zaun gestiegen ist und die Brandsätze gelöscht hat, gesehen. Das zeigt, wie unsinnig die Überwachung mit Videokameras ist.
Stichwort: Kinder- und Jugendkriminalität. Ich verstehe nicht, warum der CDU/CSU seit Jahren nichts anderes einfällt, als noch mehr geschlossene Heime zu fordern. Wenn Sie sich einmal anschauen, um welche Kinder
und Jugendliche es sich handelt, werden Sie feststellen:
Es sind meistens Kinder, die von Sozialhilfe abhängig
sind und aus armen Familien kommen. Auch hier fordern
wir soziale Maßnahmen für Kinder und kinderreiche Familien, damit Kriminalität abgebaut bzw. entsprechende
Prävention betrieben werden kann.
Ein weiteres Thema: Eurodac. Die Bundesregierung
spricht gar nicht mehr davon, was Eurodac eigentlich ist.
Demnächst werden Ausländern zum Beispiel an den
Grenzen ihre Fingerabdrücke abgenommen, egal, ob sie
etwas getan haben oder nicht. Auch Kindern soll ihr Fingerabdruck abgenommen werden. Ich möchte ganz deutlich sagen: Ich finde es sehr unmenschlich, mit Flüchtlingen an der Grenze so umzugehen. Kein Steuerbetrüger,
kein Parteispendenbetrüger und niemand anders würde
solch eine Behandlung erfahren, bevor überhaupt ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden ist. Auch hier sind
Bürger- und Menschenrechte gegenüber den Flüchtligen
einzuhalten. Diese Maßnahme, die im Übrigen noch nicht
beschlossen ist, darf auf gar keinen Fall durchgesetzt werden.
({5})
Ein letzter Punkt. Auch heute ist hier angesprochen
worden, dass die CDU/CSU in denjenigen Bundesländern,
in denen sie mitregiert bzw. regiert, im Zusammenhang
mit rechtsextremistischen Straftätern eine Strafverschärfung plant. Sie wollen einen § 224 a im Strafgesetzbuch
einführen mit dem Ziel, dass die Körperverletzung aus niederer Gesinnung mit schärferen Strafen belegt wird.
Einmal abgesehen davon, dass das ein alter Hut ist, den
die CDU/CSU hier wieder auf die Tagesordnung setzt,
möchte ich Sie daran erinnern: Juristen, Kriminologen,
aber auch wir sagen ganz klar, dass wir dagegen sind, das
Tatprinzip zum Täterprinzip zu machen und zu einem Gesinnungsstrafrecht zu kommen. Das werden wir auf gar
keinen Fall mitmachen.
({6})
- Ja, wir haben die Gesetzesvorlage schon gesehen.
({7})
- Im Bundesrat wird sie über die Länder bereits eingebracht.
({8})
Ich sage Ihnen: Gesinnungsstrafrecht machen wir nicht
mit. Es ist höchste Zeit, § 129 a StGB abzuschaffen;
({9})
denn dieser hat demokratische Rechte in diesem Land
massiv abgebaut. In diesem Zusammenhang kann ich Ihnen nur sagen: Ich bin froh, dass wir die Kronzeugenregelung nicht mehr haben. Sie wissen ganz genau, dass es
eine Maßnahme war, bei der man Prozesse auf Denunziation aufgebaut hat. Das darf in einem demokratischen
Staat nicht passieren.
Zum Schluss. Ich bin der Meinung, hier kann und muss
für alle Parteien die alte Parole gelten: Die beste Kriminalitätsbekämpfung sind immer noch die soziale Prävention und eine gute Sozialpolitik. Ich hoffe, dass wir das
mit Ihrer Großen Anfrage ein Stückchen erreichen.
({10})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Jürgen Meyer.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir debattieren
heute über eine Große Anfrage, die nützlich ist, und die
Antwort der Bundesregierung, die informativ ist. Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion,
haben dem Ganzen die zutreffende Überschrift „Erfolgreiche Verbrechensbekämpfung in Deutschland“
gegeben. Insofern hätte es Ihnen gut angestanden, der
Bundesregierung für ihre Arbeit zu danken. Wir tun das
jedenfalls.
({0})
Herr Kollege Geis, was mir an Ihrer Rede nicht gefallen hat, ist, dass Sie erneut zu weit mehr als 90 Prozent
über Repression gesprochen haben. Das entspricht der Politik
({1})
der früheren Regierung. Auch die Anfrage richtet sich wesentlich auf die Thematik Repression.
({2})
Es ist schon so - das unterstütze ich mit großem Nachdruck -, dass die neue Bundesregierung einen behutsamen Paradigmenwechsel eingeleitet hat. Es soll nämlich
neben der notwendigen Repression zunehmend auch
Prävention zur Verhinderung von Straftaten versucht
werden.
({3})
Ich weise Sie auf ein kleines Beispiel hin, nämlich dass
seit dem Regierungswechsel das Forum für Kriminalprävention
({4})
gemeinsam von Innen- und Justizressort, gemeinsam von
Bund und Ländern und gemeinsam mit unabhängigen
Wissenschaftlern und Initiativen engagiert aufgebaut
wird. Ich finde, das ist ein wichtiges Signal, dass wir es
mit der Prävention sehr ernst nehmen.
Weil dies in der bisherigen Debatte noch keine Rolle
spielte, will ich das Thema ansprechen, das Sie nur gestreift haben, das uns aber in den vergangenen Jahren sehr
beschäftigt hat, nämlich organisierte Kriminalität.
Ich möchte dazu drei Anmerkungen machen.
Erste Anmerkung. Herr Innenminister, Sie werden sich
genau erinnern, wie sorgfältig wir Art. 13 des Grundgesetztes, der eine bessere Kontrolle der technischen
Wohnraumüberwachung ermöglichen sollte, formuliert
haben. Ich freue mich, dass das Gremium zur Kontrolle
der technischen Wohnraumüberwachung im Bundestag in
dieser Woche erneut getagt hat. Ich meine, wir sind hier
auf einem guten Weg.
Erstaunlich war für uns alle fraktionsübergreifend in
diesem Gremium aber, dass wir in der Mitteilung der Bundesregierung, die allgemein zugänglich ist, nämlich in der
Drucksache 14/3998, Anlage 3, lesen mussten: „BadenWürttemberg, Berlin, Sachsen und Thüringen haben mitgeteilt, das Landesparlament werde nicht unterrichtet.“
Das ist nach meiner Auffassung ein klarer Verfassungsverstoß; denn wir haben gemeinsam in Art. 13 des Grundgesetzes im Anschluss an die vorgesehene Einrichtung
des Gremiums im Bundestag festgelegt: „Die Länder gewährleisten eine gleichwertige parlamentarische Kontrolle.“ Wir haben deshalb übereinstimmend beschlossen,
die vier betroffenen Landesregierungen bis zum 31. Dezember zur Abgabe einer Stellungnahme aufzufordern.
Ich hoffe, dass dieser Verfassungsverstoß, mit dem wir es
hier zu tun haben, in Ordnung gebracht wird.
({5})
Zweite Anmerkung. Wir sind ja schon seit einigen Jahren einig darüber, dass es eine Novellierung der Telefonüberwachung in § 100 a StPO geben sollte,
({6})
zum einen hinsichtlich der Delikte, deretwegen überwacht werden kann, zum anderen hinsichtlich der Kontrolle. Leider hat der Bundesrat die mehrfach angekündigte Vorlage nicht geliefert.
({7})
Deshalb, finde ich - da sind wir wahrscheinlich übereinstimmender Auffassung -, ist jetzt die Bundesregierung am Zug. Denn inzwischen gibt es Staatsanwaltschaften, die sehr viel mit typischen Delikten der
organisierten Kriminalität zu tun haben, nämlich Bestechung und Bestechlichkeit. Beide Tatbestände sind in
§ 100 a StPO nicht aufgeführt. Das führt in der Praxis nach
meiner Information dazu, dass man sagt: Dann müssen
wir eben eine technische Wohnraumüberwachung durchführen; denn eine derartige Maßnahme ist auch wegen
Bestechung und Bestechlichkeit möglich.
Ich halte das für nicht vertretbar, weil wir in der Verfassung festgelegt haben, dass die Wohnraumüberwachung nur Ultima Ratio ist, also im äußersten Fall als letztes Mittel durchgeführt werden darf. Diese Praxis des
Ausweichens auf § 100 c müssen wir ändern und deshalb
eine Reform des § 100 a StPO durchführen.
Jetzt möchte ich als dritten Punkt auf das eingehen, was
mir im Zusammenhang mit der organisierten Kriminalität
am wichtigsten ist. Ich fordere in aller Freundlichkeit die
Bundesregierung auf,
({8})
sich mit dem Vorschlag auseinander zu setzen, der ein Vorschlag der SPD-Rechtspolitiker ist, nämlich die schwere
Steuerhinterziehung als Vortat in den Geldwäschetatbestand, § 261 StGB, aufzunehmen. Schwere Steuerhinterziehung ist in der Abgabenordnung definiert. Da geht es
um Steuerhinterziehung in großem Ausmaß, also in Millionenhöhe, oder auch um Steuerhinterziehung unter Verwendung nachgemachter oder verfälschter Belege.
Ich erinnere an die Debatte im Fall Kanther zum Stichwort „jüdische Vermächtnisse“.
({9})
Dr. Jürgen Meyer ({10})
Mein Vorschlag zum Thema schwere Steuerhinterziehung
ist vor drei Jahren von Herrn Innenminister Kanther abgelehnt worden.
({11})
Dies muss jetzt in Ordnung gebracht werden.
({12})
- Ich habe dazu einen Vorschlag vorgelegt, der zurzeit von
der Bundesregierung geprüft wird.
({13})
Organisierte Kriminalität ist auf Geldwäsche angewiesen. Welcher Kriminelle wird denn seinen Millionengewinn steuerlich deklarieren, was er wegen der Wertneutralität des Steuerrechtes eigentlich tun müsste? Er
würde sich dann ja den Ermittlungsbehörden geradezu
ausliefern. Es gibt also keine organisierte Kriminalität
ohne schwere Steuerhinterziehung, wenn auch nicht jede
schwere Steuerhinterziehung organisierte Kriminalität ist.
({14})
Deshalb sage ich, Herr Kollege Geis: Es ist eine Frage
der Gerechtigkeit, dass wir sowohl die bekannte Eigentums- und Vermögenskriminalität mit einem jährlichen
Schaden im einstelligen Milliardenbereich zum Gegenstand von Strafverfahren und gegebenenfalls von Geldwäscheverfahren machen - für sich genommen ist das in
Ordnung - als auch die Schäden durch Steuerhinterziehung und schwere Steuerhinterziehung in dreifacher Milliardenhöhe mit aller Energie, also auch mit Geldwäscheverfahren, bekämpfen. Meine Überzeugung ist im
Übrigen, dass sich seriöse Kreditinstitute nicht dafür hergeben dürfen, die durch schwere Steuerhinterziehung ergaunerten Gelder auch noch zu waschen.
Schönen Dank.
({15})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ronald Pofalla.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Was tut die Bundesregierung
in Sachen Verbrechensbekämpfung? Diese Frage beschäftigt die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes ganz
besonders. Die Antwort lautet kurz und bündig: nichts
Besonderes. Noch immer setzt die Bundesregierung auf
dieselben alten Hausmittelchen, obwohl sich das Krankheitsbild verändert hat.
Die Kriminalität in Deutschland ist zwar insgesamt
rückläufig. Doch gerade im Bereich der Kinder- und Jugendkriminalität sowie vor allem bei Gewaltdelikten
und im Rahmen von Rauschgiftdelikten gibt es erschreckende Zuwachsraten. Eine Antwort auf die Frage, wie
dieser veränderten Situation begegnet werden kann, hat
die Bundesregierung nicht gegeben.
Anhand des Besorgnis erregenden Beispiels der Kinder- und Jugendkriminalität möchte ich zunächst die Ineffizienz rot-grüner Kriminalpolitik verdeutlichen. Nach
der polizeilichen Kriminalstatistik für das Jahr 1999 ist
ein Drittel aller Tatverdächtigen - ich betone: über 30 Prozent - jünger als 21 Jahre. Mit den herkömmlichen Methoden ist diese Entwicklung nach meiner festen Überzeugung nicht in den Griff zu bekommen. Doch was tut
die Bundesregierung? Nichts! Die Bedenken der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion hinsichtlich der von der
gesetzlichen Regelung abweichenden Anwendung des
§ 105 des Jugendgerichtsgesetzes durch die Justiz werden
von der Bundesregierung ignoriert.
({0})
Der von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion eingebrachte Gesetzentwurf zur Verbesserung der gesetzlichen
Maßnahmen gegenüber Kinder- und Jugenddelinquenz
könnte bestehende Unklarheiten beseitigen. Durch die in
dem Entwurf beabsichtigte Änderung des § 105 des Jugendgerichtsgesetzes könnte die Regel-Ausnahme-Anwendung wieder hergestellt werden.
Heutzutage wird der Heranwachsende im Alter zwischen 18 und 21 Jahren entgegen dem Regelungsziel des
§ 105 des Jugendgerichtsgesetzes in den allermeisten Fällen nach dem Jugendstrafrecht verurteilt, obwohl die
gesetzliche Regelung die Verurteilung nach dem Erwachsenenstrafrecht als Regelfall vorsieht. Diese Entwicklung
hält die CDU/CSU-Bundestagsfraktion für völlig inakzeptabel.
({1})
Die Anwendung des Jugendstrafrechts auf heranwachsende Schwer- und Schwerstkriminelle führt zu himmelschreiendem Unrecht und schädigt den Ruf der Justiz.
Ich will jetzt auf das eingehen, was Herr Westerwelle
gesagt hat. Herr Westerwelle hat einen Punkt genannt, den
ich unterstütze. Er hat dabei aber nach meiner Überzeugung einen ganz wesentlichen Teil nicht angesprochen.
Er hat richtigerweise gesagt, dass Heranwachsende,
also die 18- bis 21-Jährigen, die das erste Mal straffällig
werden oder bei denen es sich um eine jugendspezifische
Tat handelt, mit der Nachsicht, die das Jugendstrafrecht
zulässt, verurteilt werden sollen. Hierbei werden Sie die
totale Zustimmung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
finden.
Zu dem Teil, den Sie nicht angesprochen haben. Ich
selber habe in Dutzenden von Verfahren, bei denen es
eine entsprechende anwaltliche Vertretung gab, erlebt,
dass bei schwerstkriminellen Wiederholungstätern im
Heranwachsendenalter die Anwendung des Jugendstrafrechts in der weitaus überwiegenden Anzahl der Fälle
trotz des Regel-Ausnahme-Verhältnisses des § 105 JGG entgegen jeglicher Vernunft - zum Regelfall und die des
Dr. Jürgen Meyer ({2})
Erwachsenenstrafrechts zur Ausnahme wurde. Diese Entwicklung, die auch von Praktikern bestätigt wird, muss
gestoppt werden.
({3})
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?
Bitte.
Herr Kollege, Sie haben zutreffend darauf hingewiesen, dass sich aus der Antwort der Bundesregierung
ergibt, dass die Kinder- und Jugendlichendelinquenz, vor
allen Dingen bei deutschen Kindern und Jugendlichen,
sehr hoch ist. Sie haben aber nicht erwähnt, dass im Jahr
1999 - nach einer Antwort der Bundesregierung - die
Zahlen straffälliger deutscher Kinder um 1,9 Prozent
zurückgegangen und auch die für jugendliche Straftäter
rückläufig sind. Dagegen sind in den Jahren 1993 bis
1997 Zuwachsraten festzustellen, die teilweise im zweistelligen Bereich liegen. Wenn ich mich recht erinnere,
gab es damals eine Bundesregierung, die von anderen
Fraktionen getragen wurde als das heute der Fall ist. Ich
möchte mir gerne Ihr Konzept anhören, das Sie damals
umgesetzt oder auch nur vorgeschlagen haben.
({0})
Unter der neuen Bundesregierung - ich will nicht sagen, dass das ihr Verdienst ist - sind die Zahlen rückläufig. Das müssen Sie doch zur Kenntnis nehmen - oder
nicht?
Herr Ströbele, wenn Sie
es beruhigend finden, dass wir in dem Berichtszeitraum
von 1993 bis 1999 im Bereich der Kinder- und Jugendkriminalität einen Anstieg von über 140 Prozent und im
letzten Jahr einen geringfügigen Rückgang hatten, dann
muss ich sagen, dass mich das nicht beruhigt.
Ich will Ihnen eine zweite Zahl nennen: Die Kriminalstatistik des Jahres 1999 - wenn ich es richtig sehe,
haben doch die Vertreter der Bundesregierung ihre Ämter
in diesem Jahr über volle 365 Tage ausgeübt - weist aus,
dass über ein Drittel aller Tatverdächtigen in Deutschland
jünger als 21 Jahre ist. Das muss uns doch alle gemeinsam
beunruhigen. Ansonsten verstehe ich die Debatten, die
wir hier führen, nicht mehr.
({0})
- Auf die Position der Grünen werde ich gleich noch näher
eingehen.
Gestatten Sie
auch eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?
Ja, gerne.
Herr Kollege - in
diesem Falle trifft das ja sowohl auf unsere Tätigkeit als
Abgeordnete als auch auf die als Anwälte zu -, ich möchte
bei dem nachhaken, was Sie zum Veränderungsbedarf bei
der Anwendung des Heranwachsendenstrafrechtes gesagt
haben. Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie bei Mehrfachtätern öfter das Erwachsenenstrafrecht angewendet
sehen möchten? - Ich entnehme Ihrem Nicken, dass ich
Sie richtig verstanden habe.
Ich bitte Sie, hierbei Folgendes zu bedenken:
Erstens. Über die Zunahme der Jugendkriminalität brauchen wir uns hier nicht zu streiten. Aber die Verantwortungsreife eines Täters - darum geht es ja hier - kann nicht
per Gesetz definiert werden, sondern sie wird von einem
Richter festgestellt, der sich vor Ort ein Bild darüber
macht. Es kann doch nur ein Richter entscheiden, wie weit
die Persönlichkeit eines jungen Menschen entwickelt ist
und ob man ihn nach dem Jugendstrafrecht oder nach dem
Erwachsenenstrafrecht behandeln muss.
Zweitens. Teilen Sie nicht auch die Meinung, dass
die Frage, ob jemand die nötige Verantwortungsreife besitzt, nichts damit zu tun hat, ob jemand Mehrfachtäter
oder Erst-täter ist? Hierbei geht es ausschließlich um die
Persönlichkeitsentwicklung. Man erlebt sogar oftmals,
dass gerade Mehrfachtäter eine geringere Verantwortungsreife haben und weniger weit entwickelt sind.
Ich will Ihre Frage beantworten, indem ich von einem Fall berichte, mit dem ich
es als Anwalt selber zu tun hatte. Zu mir kam ein Heranwachsender, über 18 Jahre alt, der selber ein Unternehmen
mit drei Mitarbeitern hatte. Es ging damals um den Vorwurf, dass er eine Straftat mittlerer Schwere begangen
habe. Ich habe mit ihm gesprochen und ihn darüber informiert, dass ich aufgrund des Eindrucks, den ich von
ihm hätte, keinen Antrag nach § 105 JGG stellen würde.
Ich habe ihm gesagt, dass ich ihm, wenn er sich auf diesen Paragraphen berufen wollte, empfehlen würde, zu
einem Anwaltskollegen zu gehen, da ich aufgrund des
Eindrucks, den ich von ihm gewonnen hätte, diesen
Antrag nicht stellen würde. Im Rahmen der sich dann
anschließenden Gerichtsverhandlung erhielt ich mit dem
Hinweis auf das Anwaltshaftungsrecht die gerichtliche
Belehrung, doch den Antrag nach § 105 JGG zu stellen.
({0})
So sieht die Realität aus; das erleben wir in unseren Gerichten.
Nach der Regelung des § 105 JGG ist es natürlich richtig, wie Sie formuliert haben, dass die Verantwortungsreife überprüft werden muss. Nur in der Realität praktizieren unsere Gerichte - natürlich nach einer formalen
Prüfung - im Grunde genommen per se und kursorisch die
Anwendung von § 105 JGG. Die Praxis der Gerichte, so
wie sie heute praktiziert wird, halten wir für falsch.
Gestatten Sie
eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?
Bitte.
Da ich glaube, dass
sich diese Debatte lohnt und wir uns noch lange mit diesem Thema beschäftigen werden, erlaube ich mir, noch
einmal nachzufragen. Wir wissen ja auch, dass entsprechende Initiativen vorbereitet werden.
Sind Sie nicht auch der Auffassung, dass ein Richter,
der, nachdem er im Gerichtssaal Ihren Mandanten kennen
gelernt hat, zu einer anderen Einschätzung bezüglich der
Verantwortungsreife des Angeklagten als Sie selbst gekommen ist, gezwungen ist, Ihnen einen solchen Hinweis
zu geben?
Nein. Zumindest in diesem Fall wäre der Richter nicht gezwungen gewesen, einen solchen Hinweis zu geben. Um es noch einmal zu sagen: In den Schriftsätzen wurde der § 105 JGG - das ist
das Absurde - offen angesprochen. Es ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass weder der Mandant noch
der Anwalt § 105 JGG anwenden will, weil es - um es
deutlich zu sagen - ein völlig eindeutiger Fall war. Dennoch ergeht der richterliche Hinweis. - Das ist unsere Gerichtspraxis. Wir beanstanden sie und wir halten sie für
veränderungsbedürftig.
Herr Westerwelle, ich verstehe Ihre Einlassung auch
so, dass Sie sehr wohl bereit sind, auch über diese Praxis
des § 105 JGG zu reden. Das sollten wir im Rahmen der
Beratungen über den Gesetzentwurf der Bundestagsfraktion von CDU und CSU, der in erster Lesung bereits beraten worden ist, gemeinsam besprechen.
({0})
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben sich im Rahmen der ersten Lesung unseres Gesetzentwurfs im Grunde genommen eher ablehnend zu einer
Veränderung des § 105 JGG geäußert. Die Bestrafung
nach Jugendstrafrecht erzeugt bei einem schwerkriminellen 18-, 19- oder 20-Jährigen doch nur Heiterkeit und
Verachtung gegenüber der Justiz. Über entsprechende
Fälle ist auch in der Öffentlichkeit an verschiedenen Stellen berichtet worden.
Ich würde mich freuen, wenn die Koalitionsfraktionen
im Rahmen der Beratungen über den Gesetzentwurf der
Unionsfraktion - Herr Professor Meyer, dies könnte im
Zusammenhang mit den Diskussionen über die Neuordnung des strafrechtlichen Sanktionensystems geschehen diese Frage einbeziehen. Wir sollten über - zumindest
graduelle - Veränderungen in der gesetzlichen Formulierung des § 105 JGG sprechen.
Ein weiteres Beispiel macht deutlich, dass ein Kriminalitätsbekämpfungskonzept der Bundesregierung überhaupt nicht existiert. So wird in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage unserer Fraktion die
Videoüberwachung gefährdeter Plätze eher abgelehnt.
In der Antwort ist etwas diffus von „Länderzuständigkeit“
und „Maßnahmen der Gefahrenabwehr“ die Rede, was juristisch zwar durchaus einleuchten mag, den Kern des
Problems jedoch nicht trifft.
Tatsache ist: Der Bürger fühlt sich sicherer, wenn bestimmte Orte durch Videokameras überwacht werden.
Straftäter werden abgeschreckt, Objekte können mit geringerem Aufwand als üblich bewacht werden und im
Falle der Rauschgiftkriminalität kann durch Videoüberwachung die Schaffung von Treffpunkten und Fixerplätzen verhindert werden. Ein klares Ja der Bundesregierung
zu einer Verstärkung dieser Art der Kriminalitätsprävention und -aufklärung wäre auch ein Zeichen für die Verantwortlichen in den Bundesländern. Doch auch hier widersetzt sich Rot-Grün jeder vernünftigen, zeitgemäßen
Lösung. Die Bundesregierung hat es im Rahmen der Beantwortung unserer Anfrage versäumt, ein klares und offenes Bekenntnis zur Möglichkeit der Prävention abzulegen.
({1})
Ein letztes Beispiel für die Untätigkeit der Bundesregierung und der sie tragenden Regierungskoalition ist die
Weigerung, wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung des
Graffiti-Unwesens einer gesetzlichen Regelung zuzuführen. Ideologisches Scheuklappendenken hat einen Gesetzentwurf der Union scheitern lassen, der eine Neuregelung der §§ 303 und 304 StGB vorsah und der Klarheit
zu dem Thema Graffiti geschaffen hätte. Sie, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, haben sich auf
Druck der Grünen dazu bringen lassen, eine solche Gesetzesinitiative abzulehnen.
Kriminalität fängt im Kleinen an, und zwar versteckt.
Wenn wir an dieser Stelle nicht genau hinsehen und zu
klaren gesetzlichen Regelungen kommen, dann dürfen
Sie sich nicht darüber wundern, dass gerade im Bereich
von Kindern und Jugendlichen der Kriminalitätszuwachs
so ist, wie er ist. Sie hätten einer Gesetzesinitiative der
Unionsfraktion zustimmen können.
({2})
Diesen entscheidenden Schritt haben Sie nicht getan.
Dafür tragen Sie die Verantwortung. Wir werden Sie immer wieder daran erinnern.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Ströbele.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde die Diskussion äußerst wichtig und fortführenswert. Deshalb möchte ich dort anschließen, wo
Sie, Herr Pofalla, aufgehört haben, und von dem abweichen, was ich eigentlich sagen wollte.
({0})
Das Problem des § 105 JGG verkennen Sie meiner Ansicht nach aus folgendem Grund: Selbst wenn es richtig
wäre, dass die Gerichte in der Bundesrepublik Deutschland - in Berlin, überall - heutzutage Heranwachsende zu
häufig als Jugendliche behandeln, so unterstellt dies doch,
dass sie damit günstiger behandelt werden, dass sie damit
besser wegkommen. Die Richter machen das aus ganz anderem Grunde. Ich kenne genügend Beispiele, bei denen
die Strafen, die verhängt worden sind, wesentlich gravierender waren, als sie es gewesen wären, wenn die Heranwachsenden nach dem Erwachsenenstrafrecht behandelt worden wären. Die Richter machen das heute
deshalb - dies nehmen jetzt auch Gesetzesinitiativen der
Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen auf -, weil
sie damit viel flexibler auf Lebenstatbestände und auf die
Verwirklichung von Straftatbeständen reagieren können.
Das Jugendstrafrecht gibt diesbezüglich sehr viel bessere, sehr viel modernere Möglichkeiten an die Hand.
Deshalb ist auch - da gebe ich Ihnen Recht - in dieser
Hinsicht eine gewisse Tendenz zu spüren. Ich halte dies
für richtig und wichtig, solange das Erwachsenenstrafrecht noch so aussieht, wie es jetzt aussieht, und nicht
geändert wird, so wie wir es vorhaben.
Herr Kollege Ströbele, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?
Ja.
Bitte sehr,
Herr Geis.
Können Sie mir dann erklären, weshalb gerade in den nördlichen Bundesländern
und in den Stadtstaaten das Jugendstrafrecht viel häufiger
angewendet wird als im südlichen Bereich, und sehen Sie
so wie ich einen Zusammenhang mit der weit geringeren
Jugendkriminalität in den südlichen Bundesländern im
Vergleich zu den nördlichen Bundesländern?
Herr Kollege Geis, den sehe ich nicht. Es gibt
natürlich Unterschiede in der Kriminalitätshäufigkeit und
in der Straffälligkeit gerade von Kindern und Jugendlichen aus Großstädten - oder gar Weltstädten - und aus
kleineren Orten, und zwar nicht, weil die Menschen in den
kleineren Orten besser sind als in den Großstädten, sondern weil die soziale Kontrolle in kleineren Gemeinschaften - auf dem Dorf, auf dem Land, in kleineren Städten - sehr viel größer ist als in Großstädten. Außerdem
gibt es - das dürfen wir auch nicht übersehen - in den größeren Städten, beispielsweise in Berlin oder in Hamburg,
({0})
eine ganze Szene gerade von Kindern und Jugendlichen,
die aus den ländlichen Bereichen in die Großstädte kommen, weil sie dort nicht mehr verwurzelt sind, weil sie
sich dort nicht so entwickeln konnten, wie sie meinten,
sich entwickeln zu müssen. Das ist natürlich eine bestimmte Auswahl und das erklärt, warum die Kriminalität
anders zusammengesetzt ist. Gerade im Hinblick auf Drogendelikte - ich komme nachher noch einmal darauf zu
sprechen - wird häufig die Erfahrung gemacht, dass viele
in die Städte gegangen sind bzw. gehen, weil es auf dem
Dorfe schwieriger ist - jedenfalls schwieriger war -, an illegale Drogen zu kommen. Dort werden sie dann erwischt
oder auch straffällig, wenn sie Beschaffungskriminalität
betreiben.
Das heißt, es hat etwas damit zu tun, dass die soziale
Kontrolle in den ländlichen Bereichen, in den kleineren,
überschaubaren Regionen größer ist und dass die Metropolen Kinder und Jugendliche und Heranwachsende
anziehen.
({1})
Herr Kollege Ströbele, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage,
und zwar des Kollegen Beck?
Ja.
Bitte sehr,
Herr Beck.
Herr Kollege Ströbele, stimmen Sie mir darin zu, dass der
Befund, auf den Herr Geis gerade hingewiesen hat, gar
nicht den in der Antwort veröffentlichten statistischen
Auswertungen des Bundesinnenministeriums entspricht,
weil zum Beispiel im Jahre 1999 in der - nördlichen Freien und Hansestadt Hamburg ein Rückgang der
Straftaten bei deutschen Heranwachsenden von 19,6 Prozent zu verzeichnen war,
({0})
während Baden-Württemberg und Bayern Steigerungsraten von mehr als 3 Prozent bzw. mehr als 5 Prozent aufwiesen, was auch gegenüber den nördlichen Bundesländern eher im oberen Bereich liegt, und dass wir vielleicht
diese Debatte um Nord und Süd abbrechen sollten, weil
dies statistisch keine Bestätigung findet,
({1})
sodass wir versuchen könnten, über die Sache zu reden
und vielleicht näher zu erläutern, dass das Jugendstrafrecht gerade durch die Diversifizierung, die auf die individuelle Täterpersönlichkeit eingeht
({2})
- ich frage ja, ob Herr Ströbele dies auch so sieht -, eine
Resozialisierung in dieser Phase des Lebens leichter ermöglicht?
Kollege
Ströbele, bevor Sie antworten, darf ich darauf hinweisen,
dass die Fragen ausweislich der Geschäftsordnung kurz
und präzise gestellt werden sollen;
({0})
Gleiches gilt für die Antworten.
Herr Kollege Beck, ich gebe Ihnen Recht, dass die
Vertreter der CDU/CSU-Fraktion nicht nur die Antwort
der Bundesregierung ganz offensichtlich in vielen Punkten nicht zu Ende gelesen haben, sondern dass sie auch
versuchen, die Statistik zu parteipolitischer Profilierung
zu missbrauchen.
({0})
Sie können mit diesen Zahlen alles beweisen. Es ist
zwar richtig, was Sie gesagt haben, aber Sie können genauso belegen, dass die Aufklärungsrate etwa in SachsenAnhalt oder in Mecklenburg-Vorpommern in den letzten
Jahren, seit 1993, um 15 Prozent, 18 Prozent oder 22 Prozent gestiegen ist und dass die Zahlen in den letzten zwei
Jahren - also in der Zeit der SPD/PDS-Regierung in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern - sogar wesentlich besser sind als die in Baden-Württemberg; da haben wir eine Steigerungsrate von 3 bzw. 4 Prozent. Also,
lassen wir das doch bitte! Wir wissen alle, dass man mit
solchen Statistiken alles und nichts beweisen kann. So etwas bringt nichts, sondern es lenkt vom eigentlichen Problem ab.
Die wichtigen Probleme sind ja angesprochen worden.
Ich möchte zu drei Punkten Stellung nehmen.
Herr Kollege Ströbele, erlauben Sie eine dritte Zwischenfrage,
eine des Kollegen Geis? - Das ist aber die letzte Zwischenfrage, die ich zulasse. Bitte schön.
Herr Ströbele, können Sie
mir den Unterschied zwischen Prozentzahlen und Häufigkeitszahlen nennen? Stimmen Sie mir zu, dass sich aus
der Antwort der Bundesregierung ergibt, dass die Häufigkeitszahlen in den nördlichen Bundesländern weit höher
sind als die in den südlichen Bundesländern? Stimmen Sie
mir auch zu, dass diese Feststellungen so nicht nur von der
Bundesregierung, sondern auch von dem kriminologischen Institut in Hannover, von Herr Professor Pfeiffer,
getroffen worden sind?
Da stimme ich Ihnen zu, Herr Kollege Geis. Die
Zahlen kannten Sie vorher. Deshalb haben Sie sie ja auch
abgefragt, um Ihre Rede vorbereiten zu können. Aber Sie
haben auch hier nicht weiter gelesen.
Die Bundesregierung hat völlig zutreffend darauf hingewiesen, was die Gründe sein können. Die genauen
Gründe kennen wir alle nicht, auch nicht Herr Professor
Pfeiffer. Vielmehr können wir nur vermuten, dass die unterschiedlichen Fallzahlen unter anderem damit zusammenhängen, dass in Bayern oder Baden-Württemberg
eine größere Zurückhaltung bei der Anzeige von Straftaten besteht - aus welchen Gründen auch immer: weil man
meint, man regelt das anders; weil man meint, man regelt
das auf dem Zivilrechtsweg oder weil man meint, das regelt man so in der Dorfgemeinschaft oder Kleinstadt. Jedenfalls gibt es genügend Anhaltspunkte dafür, dass die
unterschiedlichen Fallzahlen auf solche Phänomene
zurückzuführen sind und so erklärt werden können - so
auch die Antwort der Bundesregierung.
Nun darf ich fortfahren. Ich wollte zu drei Punkten
noch etwas sagen. Bei den Rauschgiftdelikten haben Sie
bereits darauf hingewiesen, dass das, was wir hier an Zahlen haben, nur ein ganz kleiner Bodensatz ist. Denn
Rauschgiftdelikte werden ja in der Regel nicht angezeigt. Nur wenige regen sich darüber auf und zeigen sie
an - hier im Deutschen Bundestag soll das ja anders sein.
Diese Zahlen - deshalb auch die hohen Aufklärungsquoten - werden eigentlich nur aus den Fällen gespeist, wo
tatsächlich strafrechtliche Ermittlungsverfahren durchgeführt werden, die dann zu dem einen oder anderen Ergebnis führen.
Für mich ist entscheidend, dass die Bundesregierung
festgestellt hat, dass sich die Bundesrepublik Deutschland
im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten im unteren Mittelfeld befindet. Und auch im Vergleich zu den
USA weisen wir in diesem Bereich eine deutlich günstigere Kriminalitätsrate auf. Alle Konzepte, die uns immer
wieder aus New York, aus Chicago oder anderen Städten
zur Nachahmung angeboten werden, haben dort nicht
dazu geführt, dass ein exorbitanter Abfall dieser Rate festzustellen ist. Das heißt, die Bundesrepublik Deutschland
liegt relativ gut.
Lassen Sie mich einen Gedanken zur Frage hinzufügen, was man gegen den „abuse“, also den Gebrauch von
illegalen Drogen, tun soll. Bei dieser Frage kann man nur
dann zu richtigen Antworten kommen, wenn man endlich
einmal zur Kenntnis nimmt, dass für Millionen von Bundesbürgern - vor allen Dingen für Kinder, Jugendliche
und Heranwachsende - überhaupt nicht nachvollziehbar
ist, dass es auf der einen Seite legale Drogen gibt, mit denen man sich sein ganzes Leben, seine Gesundheit, seine
Familie, seine Umgebung, seinen Beruf und alles zerstören und für die Gesellschaft unendlichen Schaden anrichten darf, während es auf der anderen Seite Drogen gibt
wie zum Beispiel Haschisch, Hanf oder Marihuana, deren
Gebrauch in einer Weise verfolgt wird, die überhaupt
nicht nachvollziehbar ist.
All das, was sich im Illegalen und Unkontrollierten abspielt, führt vermehrt zu Straftaten. Das bedeutet: Solange
wir diese Gerechtigkeitslücke nicht erkennen und etwas
dagegen tun, kommen wir auf diesem Feld nicht weiter.
({0})
Sie haben auf die Kinder- und Jugendkriminalität
hingewiesen. Für mich ist an der Antwort der Bundesregierung das Wichtigste die Erkenntnis - in diesem Fall ist
die Statistik so eindeutig, dass es daran nichts zu kritteln
gibt -, dass all das, was durch Zeitungsberichte, durch
Medien allgemein und durch Wahlkampfslogans immer
wieder versucht wird, der Bevölkerung einzuimpfen,
nicht wahr ist: Es gibt keine erhöhte Kriminalität bei Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden nicht deutscher Herkunft. Wir stellen für diese Gruppe vielmehr
eine vergleichsweise geringere Steigerung fest - sie liegt
bei 20 bis 30 Prozent, bei Heranwachsenden sind die Zahlen sogar fallend -; im Gegensatz dazu gibt es in den letzten Jahren bei deutschen Kindern, Jugendlichen und
Heranwachsenden eine Steigerung bis zu 163 Prozent.
Die Realität steht somit in krassem Gegensatz zu all dem,
was immer wieder behauptet wird, nämlich dass die Bürgerinnen und Bürger in den Städten und Gemeinden vor
dieser drohenden Form der Kriminalität Angst haben
müssten. Das ist einfach nicht richtig und das sollte man
an dieser Stelle deutlich betonen, weil Fehlvorstellungen
auf diesem Feld auch eine Grundlage für Rassismus und
Fremdenhass sein können. Wir müssen uns einer solchen
Entwicklung entgegenstemmen, indem wir die wahren
Verhältnisse darstellen.
({1})
Nun die Frage nach den Konzepten: Was macht man?
Keiner freut sich über steigende Kriminalität, sei es Jugendkriminalität, sei es Kriminalität von Erwachsenen.
Die Konzepte liegen auf dem Tisch. Es ist nicht das Mittel der Repression: Es gibt unendlich viele Untersuchungen darüber - auch im Bundestag wurde immer wieder
über dieses Thema diskutiert -, dass Repression, dass
schärfere Gesetze, ein Ausschöpfen des Strafrahmens,
was auch in Ihrer Anfrage angesprochen wurde, oder
mehr Stellen für Richter und Staatsanwälte nicht weiterführten. Die entscheidenden Mittel sind Resozialisierung
und Prävention. Resozialisierung muss bedeuten, dass
jede Mark, die wir in ein Resozialisierungsprogramm
stecken, durch das wir auch nur einen Jugendlichen oder
Heranwachsenden davon abhalten, in Zukunft Straftaten
zu begehen, nicht nur für den betroffenen Jugendlichen
oder Heranwachsenden hervorragend angelegt ist, sondern auch für die Gesellschaft weniger Gefahren bringt
und letztlich bedeutend billiger ist, als den straffälligen
Jugendlichen oder Heranwachsenden mit einem Kostenaufwand von täglich 200 bis 250 Mark ins Gefängnis zu
stecken.
Zudem gibt es unendlich viele Möglichkeiten der
Prävention; es wurden heute bereits eine Reihe von Mitteln genannt. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch
auf technische Mittel der Prävention aufmerksam machen. Sie haben darauf hingewiesen, dass wir bei der Ausstattung der Ermittlungsbehörden, das heißt der Polizei,
der Staatsanwaltschaften sowie der Gerichte, mit PCs,
Faxgeräten - es gibt zum Beispiel bei der großen Justizverwaltung in Moabit nur ein Faxgerät - ungeheure Defizite zu verzeichnen haben.
Ich nenne Ihnen ein anderes Beispiel: In Berlin gab es
eine hohe Zahl an Autodiebstählen. Diese große Zahl an
Autodiebstählen ist nicht etwa durch drakonische Strafen
der Gerichte zurückgegangen, sie ist vielmehr dadurch
zurückgegangen, dass man im Vorfeld bei den Fahrzeugen, vor allem den Luxuslimousinen, Nummern eingebrannt hat, die nicht mehr zu entfernen sind. Das hatte zur
Folge, dass die Anzahl der in Berlin gestohlenen und danach verschobenen Autos exorbitant zurückgegangen ist,
weil sie nicht mehr oder nur schwer zu verkaufen sind.
Das bedeutet: Man muss durch alle, auch technische
Maßnahmen, dafür sorgen, dass Kriminalität erschwert
wird. Das fängt im Kaufhaus an und hört bei der Luxuslimousine auf.
Herr Kollege Ströbele, kommen Sie bitte zum Schluss!
Ich komme zum letzten Satz: Sie haben die Geldwäsche angesprochen. Die Verabschiedung des Gesetzes
zur Bekämpfung der Geldwäsche, das vorschreibt, dass
die Einzahlung von Summen über 20 000 DM von den
Banken
({0})
genauso gemeldet werden muss wie der Name des Einzahlers, war gut und richtig. Der Bürgermeister von Palermo hat einmal gesagt: Am besten bekämpft man die organisierte Kriminalität dadurch, dass man rechtliche
Möglichkeiten zur Einsicht in Konten und zu deren Beschlagnahmung schafft, nicht durch die Vielzahl der anderen Maßnahmen, auch nicht durch die Kronzeugenregelung.
({1})
Hier müssen wir weitermachen. Vor allem muss in Zukunft sichergestellt werden, dass derartige Meldungen
von Einzahlern und Summen tatsächlich erfolgen. Wenn
der Kriminalpolizei gemeldet worden wäre, dass ein
CDU-Schatzmeister oder ein CDU-Steuerberater
Herr Kollege Ströbele, das ist bereits Ihr drittletzter Satz.
- 100 000 DM oder 1 Million DM in bar auf der
Bank eingezahlt hat, dann hätten wir uns und der Bundesrepublik Deutschland viel ersparen können.
({0})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Günter Graf
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte die juristische Debatte, die in der letzten halben Stunde geführt
worden ist, so nicht fortsetzen. Ich bin kein Jurist. Ich bin
in erster Linie Bürger dieses Landes. Ich war ehemals Polizeibeamter und bin nun Mitglied des Deutschen Bundestages. Ich sehe meine Aufgabe darin, deutlich zu machen, worum es eigentlich geht. Deswegen möchte ich
mich nicht in Detailfragen, die juristischer Natur sind,
verlieren; vielmehr möchte ich auf einige allgemeine
Dinge eingehen.
Vorweg möchte ich Ihnen, Herr Westerwelle, für Ihre
Eingangsbemerkung danken. Es hilft uns überhaupt nicht
weiter, wenn hier, wie Sie es, Herr Geis - leider wider besseres Wissen -, und zum Teil auch Herr Pofalla getan haben, der Eindruck erweckt wird, als ließe sich die Kriminalitätsbekämpfung in unserem Lande durch immer neue
Gesetze mit immer höheren Strafen verbessern, wie Sie es
fordern. Wir alle - davon bin ich überzeugt - sind uns über
Folgendes einig: Wenn es einen Mangel in Deutschland
gibt, dann sind es Defizite beim Strafvollzug. Zudem
dauert es zu lange, bis Straftäter abgeurteilt werden. Das
ist zwar ein Mangel, aber die Voraussetzungen, um diesen
Mangel zu beseitigen, sind vorhanden. Sie müssen nur genutzt werden. Ich bin froh darüber - das konnten wir in
diesem Jahr gerade erst feststellen -, dass es auch Gerichte gibt, die schneller handeln und aburteilen. Das hat
Wirkung.
Worum geht es uns, wenn wir über Verbrechensbekämpfung reden? Unser Anliegen muss es doch sein,
den Bürgern wieder das Gefühl zu geben, in einem Staat
sicher leben zu können. Sie alle erinnern sich sicherlich
noch an die Diskussionen, die wir in den letzten Jahren
geführt haben, als Umfragen veröffentlicht wurden, die
zum Ergebnis hatten, dass etwa 75 bis 80 Prozent der Bevölkerung befürchteten - es gab allerdings Unterschiede
zwischen alten und den neuen Bundesländern -, Opfer einer Straftat zu werden. Das war beängstigend.
Wir haben heute zur Kenntnis zu nehmen, dass sich die
Zahlen nicht mehr auf einem solch hohen Niveau bewegen. Sie sind rückläufig. Das ist gut so. Sie sind genauso
rückläufig wie die Gesamtzahl der Straftaten. Es ist auch
gut, dass die Aufklärungsquoten gestiegen sind. Wenn
man dann wie Sie, Herr Geis, versucht, Vergleiche zwischen den süddeutschen und den norddeutschen Ländern
anzustellen,
({0})
so ist das für mich ein Stück weit der Versuch, den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land Sand in die Augen
zu streuen.
({1})
Sie selber wissen genau, dass die Ursachen ganz woanders liegen.
Ich will nicht verhehlen, dass das eine oder andere
Bundesland mehr Mittel für bestimmte Maßnahmen aufwendet. Das mag zwar so sein. Aber letztlich kommt es
darauf an, dass wir uns als Bundesgesetzgeber an unsere
eigenen Pflichten erinnern und daran, welche Sicherheitsorgane uns in unserem Zuständigkeitsbereich zur Verfügung stehen. Das Stichwort Bundesgrenzschutz ist schon
vorhin gefallen. In der letzten Sitzungswoche ist festgestellt worden, dass die Bundesregierung eine Menge für
diejenigen, die mit der Bewahrung von Recht und Ordnung betraut sind - ich meine die Beamten des Bundesgrenzschutzes, die in Grenzbereichen und an den Bahnhöfen eingesetzt werden -, getan hat und damit auch
anerkannt hat, dass diese Großartiges geleistet haben.
Wir alle erinnern uns an die letzten beiden spektakulären Fälle, an den Fall Schmökel und an das so genannte Balkonmonster, einen Sexualstraftäter, der die Bevölkerung in Niedersachsen und Hamburg über Wochen
und Monate in Angst und Schrecken gehalten hatte, weil
er über Balkone in Wohnungen eindrang und reihenweise
Frauen vergewaltigte. Diese Täter sind gefasst worden.
Ich bin stolz darauf, dass es zwei junge Polizeibeamte, 22
und 23 Jahre alt, aus meinem ehemaligen Dienststellenbereich Hannover-Langenhagen in Niedersachsen waren,
die letzteren Täter stellen konnten, weil sie sehr aufmerksam und motiviert waren. Dieser Täter sitzt jetzt hinter
Schloss und Riegel. Ich hoffe, dass er lange dort bleibt.
Das heißt für mich: Wir als Bundesgesetzgeber können
dazu beitragen, die Motivation der Beamten des Bundesgrenzschutzes und des Bundeskriminalamtes zu erhöhen.
Dort gibt es Anstrengungen, um verstärkt Verbrechen zu
verhindern und Straftaten aufzuklären.
Auf der anderen Seite sind in erster Linie - das sollte
man immer wieder betonen - die Länder gefordert und ist
es nicht Aufgabe des Bundes, deren Verantwortung zu
übernehmen. Wir haben aus gutem Grund ein föderatives
System; die Zuständigkeiten sind klar verteilt. Wir haben
genügend Gesetze; wir brauchen keine neuen. Wenn es
marginal etwas zu verändern gibt, dann muss man keine
großen Debatten führen, sondern handeln. Mit der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage haben
wir eine gute Grundlage, in aller Sachlichkeit der Frage
nachzugehen, wo wir in Sachen Verbrechensbekämpfung
etwas verändern können, um ein Stück mehr Sicherheit zu
gewährleisten.
Ich will dem Kollegen Ströbele noch ausdrücklich für
seinen Hinweis bezüglich der Jugendkriminalität danken, insbesondere was die ausländischen Jugendlichen
angeht. Ich weiß, wovon ich rede. Ich komme aus einer
Gegend, in der man mit diesem Phänomen viel zu tun hat.
Die getroffene Feststellung kann ich nur mit Nachdruck
unterstreichen: Wir sollten es tunlichst unterlassen - der
heutige 9. November ist ein guter Anlass dafür -, der Öffentlichkeit mit fragwürdigen Stellungnahmen weismachen zu wollen - man spricht damit bestimmte Gefühle
an -, dass einzelne Gruppen in unserem Land für die gegenwärtige Situation verantwortlich sind. Das ist ein gefährliches Spiel, das Sie betreiben.
({2})
- Ich will Ihnen darauf antworten: Wir haben in diesem
Hause eine Reihe von Maßnahmen debattiert, bei denen
unterschwellig immer der Eindruck entstand, als sei für
die Kriminalität eine Gruppe verantwortlich, die wir in
unserem Land nicht wollen. Wir haben vor zwei Wochen
Günter Graf ({3})
über mehr Sicherheit an der Grenze zu Tschechien gesprochen. Es ging um Menschen, die in unser Land wollen. Auch in dieser Debatte geht es wieder um Ausländer.
({4})
Man nutzt die Situation aus, um eine bestimmte Stimmung im Land zu erzeugen, was nicht richtig ist.
({5})
- Das mache ich nicht.
({6})
Ich habe nur das ausdrücklich hervorgehoben, was Herr
Ströbele ausgeführt hat. Das halte ich für richtig und vernünftig.
({7})
Sie sollten sich überlegen, welche Anträge Sie einbringen.
({8})
- Manchen Kollegen aus Ihren Reihen würde ich diese
Entrüstung abnehmen, Ihnen aber nicht. Es tut mir Leid,
ich hätte gerne etwas anderes gesagt.
({9})
Ich würde mich mit Ihnen jetzt gerne differenziert auseinander setzen, wenn meine Redezeit nicht schon abgelaufen wäre. Ich danke, Herr Präsident, dass ich noch die
Gelegenheit hatte, diese letzte Bemerkung zu machen.
Vielen Dank.
({10})
Als
nächster Redner hat der Kollege Erwin Marschewski von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Diese Debatte hat viele Facetten. Aber ich meine, man
kann an diesem 9. November nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Ich jedenfalls will und werde das nicht
tun.
Ich möchte in dieser Debatte daran erinnern, dass vor
80 Jahren Philipp Scheidemann vom Balkon des Reichstages den demokratischen Rechtsstaat gefordert hat.
Diese Tatsache sollte man gerade in einer rechtspolitischen Debatte erwähnen. Man sollte auch daran erinnern,
dass vor elf Jahren das Schandmal von Sowjet- und SEDUnrechtsherrschaft, die Mauer, gefallen ist, an der Menschen gegen jedes Recht verbrecherisch ermordet wurden. Und schließlich möchte ich den 9. November 1938 in
Erinnerung rufen, die wilden Pogrome gegen Deutsche
jüdischen Glaubens. Jüdische Geschäfte und Wohnungen
wurden geplündert und zerstört, Synagogen wurden verbrannt. Das waren Verbrechen gegen Menschen nach
hasserfüllter Hetze. - Und heute, meine verehrten Damen
und Herren? Ohne Untersagung und Bestrafung durfte der
NPD-Pressesprecher vom „verjudeten Bonner System“,
vom „jüdisch-amerikanischen Protektoratsregieren über
die Marionetten in Berlin“ faseln oder, genauso fatal, von
„Rassenhygiene“ ein anderer.
Darüber hinaus ist leider auch wahr: Menschen werden
bei uns durch Straftaten Einzelner oder kleiner Gruppen
Opfer von Gewalt, nur weil sie anders aussehen, weil sie
eine andere Kultur haben, eine andere Sprache sprechen.
Friedrich Merz hat Recht: Antisemitismus, Rassenhass
und Fremdenhass bilden oft einen Zusammenhang im
Denken und Handeln vor allem der Rechtsextremisten.
Deswegen müssen wir dies alles zugleich bekämpfen.
Wir als Rechtspolitiker haben die Aufgabe, Gesetze zu
schaffen. - Es gibt weitere Aufgaben; darüber ist sehr
lange diskutiert worden. - So haben wir in Zeiten der Regierungsverantwortung der Union den Straftatbestand der
Volksverhetzung erweitert. Wir haben das Bekennen
zur Auschwitzlüge bestraft. Wir haben vor allem die
Telekommunikationsüberwachung durch die Nachrichtendienste bei Verdacht verfassungsfeindlicher Tätigkeit eingeführt, um die Regierung und die Strafverfolgungsbehörden zu informieren, um Abwehrmaßnahmen
zu treffen. - Ich meine, das ist ein Ausdruck wehrhafter
Demokratie. Denn nur die wehrhafte Demokratie und ein
wehrhafter Staat sorgen für die Sicherheit der Menschen
und für demokratische Stabilität.
Aber es ist kein Signum der Wehrhaftigkeit, wenn man,
wie Herr Ströbele von den Grünen, den Verfassungsschutz abschaffen will. Wer den Verfassungsschutz abschaffen will, Herr Kollege Ströbele, verzichtet auf ein
wirksames Mittel im Kampf gegen Extremisten.
({0})
Das hat gerade die Beschaffung von Material über die
NPD - Herr Minister Schily gibt mir da Recht - gezeigt.
Wer den Verfassungsschutz abschaffen will, der schwächt
den Rechtsstaat im Einsatz gegen aktiv kämpferisches
und aggressives Verhalten der Rechtsextremisten, aber
auch im Kampf gegen Linksextremisten. Denn auch Letztere haben ihre verfassungsfeindlichen Ziele nicht aufgegeben. Im Verfassungsschutzbericht steht - Zitat aus dem
Untergrundblatt „Radikal“ -:
Wenn wir diese Gesellschaft umwälzen wollen, dann
gilt es, sie jetzt zu bekämpfen, mit allen Mitteln.
Und weiter:
Gezielte politische Aktionen gegen Personen und Sachen sind völlig legitim.
Beide sind zu bekämpfen, auch die Linksextremen. Die
Straftatenzahl von 3 000 im letzten Jahr - bei den Rechten ist sie dreimal so hoch; auch das ist wahr - spricht für
sich. Man darf also nicht auf einem Auge blind sein.
Günter Graf ({1})
Unsere Politik muss sich gegen Rechtsextremisten und
gegen Linksextremisten richten.
({2})
Wehrhafte Demokratie heißt auch, Kriminalität zu
verhindern bzw. zu bekämpfen. Raubüberfälle, Drogenhandel und Diebstahl sind kein unabänderliches Naturgesetz, auch nicht, dass Chaoten prügelnd durch die Straßen
ziehen, dass Dealer in Diskotheken immer mehr Pillen
verkaufen und dass sich alte Menschen abends kaum
mehr auf die Straße trauen.
Es war eben nicht gut, dass Sozialdemokraten und
Grüne jahrelang die Entkriminalisierung propagiert haben. Denn die Verharmlosung von Bagatelldelikten - das
wissen doch wir alle - führt zu mehr Kriminalität, weil
Hemmschwellen gesenkt und Rechtsbrecher ermutigt
werden.
({3})
Auch nicht gut ist, dass die Staatsanwaltschaft einen
Strafbefehl gegen einen amtierenden Bundesminister, gegen den Sozialdemokraten Klimmt, beantragen musste.
Wehret den Anfängen und gebt ein gutes Beispiel, muss
da die Parole lauten.
({4})
- Auch das ist vielleicht ein Problem. Aber der von mir
Genannte ist ein besonderes Problem: Es geht um einen
amtierenden Bundesminister. Das ist der Unterschied.
({5})
- In einem Punkt sind wir sicherlich einer Meinung: Wir
wollen null Toleranz für jeden Rechtsbruch.
Ich freue mich, dass die Deliktzahl gesunken ist, Herr
Bundesinnenminister, aber - hier sind wir einer Meinung 6 Millionen Straftaten sind noch zu viel. Ich freue mich
auch, dass die Aufklärungsquote gestiegen ist. Hier geht
der Dank an die Polizeibeamten, an meine Kollegen
- auch an die der SPD - und selbstverständlich auch an
Ihre Kollegen, Herr Minister. Aber Sie können nicht leugnen, dass dies auch die Früchte der Arbeit sind, die damals
CDU/CSU und F.D.P. geleistet haben, damit zum Beispiel
die Strafe der Tat auf dem Fuß folgt.
({6})
Nach jahrelangem Ringen ist die Hauptverhandlungshaft endlich durchgesetzt worden. Ich war im Vermittlungsausschuss dabei.
({7})
Ich weiß, wie sich damals die jetzt amtierende Bundesjustizministerin mit allen Kräften gegen die Hauptverhandlungshaft gesträubt hat, die bedeutet, dass jemand
unmittelbar nach einer Straftat festgenommen und verurteilt wird und er dann auch sofort die Strafe antreten
muss. Frau Däubler-Gmelin hat sich damals mit Händen
und Füßen dagegen gewehrt. Das war nicht gut.
Es ist auch nicht gut, dass die Bundesjustizministerin
so wenig Interesse an der für sie entscheidenden und sehr
wichtigen Debatte zeigt. Wenn sich eine Bundesjustizministerin nicht die Mühe macht, bei einer Debatte über Kriminalitätsbekämpfung im Deutschen Bundestag zu sein
- gut, dass Sie da sind, Herr Minister Schily -,
({8})
ist dies kein gutes Zeichen. Es zeigt ihr fehlendes Interesse an dieser Debatte.
({9})
Wir haben den genetischen Fingerabdruck ermöglicht. Das ist gut. Wir haben Schleppern und Schleusern
ihr schmutziges Handwerk erschwert. Letzten Endes haben wir gemeinsam mit Ihnen den Einsatz technischer
Mittel in Gangsterwohnungen beschlossen. Das ist
wahr. Auch Herr Schily hat dabei Beträchtliches geleistet.
Aber das hat alles viel zu lange gedauert. Wir hätten das
Gesetz viel eher beschließen können. Dies zeigt, dass letzten Endes die Union die entscheidende politische Kraft
ist, die den Schutz des Bürgers vor Verbrechen gewährleistet, und nicht der Herr Ströbele und andere aus dem
grün-linken Bereich.
({10})
Bevor Sie noch lauter rufen und schreien, sage ich Ihnen Folgendes:
({11})
Es ist eigentlich gar nicht mehr zu ertragen, dass Sie in
zwei Jahren Regierungsverantwortung keinen einzigen
wirksamen Gesetzentwurf zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität vorgelegt haben - und dies, obwohl
dort Handlungsbedarf besteht.
({12})
Herr Kollege Westerwelle, natürlich gibt es Defizite
beim Vollzug, das ist wahr. Aber es gibt auch Gesetzesdefizite. Dazu nenne ich nur einige Punkte. Mich fragen Polizeibeamte: Wollt ihr nicht endlich eine Korrektur der
Regelungen für die akustische Überwachung vornehmen? Dort gibt es zu viele Ausnahmen. Selbst der jetzige
Bundesinnenminister war im ersten Gespräch und auch in
den nachfolgenden Gesprächen anderer Meinung. Er
wollte diese Ausnahmen gar nicht, die die Linken in der
SPD letzten Endes durchgesetzt haben.
({13})
Es darf doch nicht sein, dass Schwerstverbrecher die
Wohnung als Rückzugsraum missbrauchen können, um
ihr kriminelles Treiben fortzusetzen. Deswegen wollen
wir auch die optische Überwachung, denn dadurch wird
Erwin Marschewski ({14})
die Identifizierung erleichtert. Deswegen wollen wir auch
die Verschärfung der Vorschriften gegen Geldwäsche.
Wir sagen: Wer verdächtiges Geld hat, muss darlegen,
woher das Geld kommt.
({15})
Wichtig ist insbesondere die Verstärkung der internationalen Zusammenarbeit. Es ist gut, dass Europol gegründet worden ist. Meine Damen und Herren, Sie haben
das, was wir vorbereitet haben, vollzogen. Dafür herzlichen Dank. Aber warum dehnen Sie die Zuständigkeiten
von Europol nicht aus? Es ist eigentlich gar nicht einzusehen, dass bei länderübergreifenden Straftaten gegen das
Leben oder das Eigentum oder bei Computerdelikten Europol gerade nicht zuständig ist.
({16})
Ich denke an eine Aufgabenerweiterung im operativen,
nicht im exekutiven Bereich, Herr Minister Schily.
Warum soll sich Europol nicht an Ermittlungsteams beteiligen dürfen? Warum soll es nicht um Einleitung oder
Koordination von Ermittlungen ersuchen dürfen? In Ihrer
Antwort auf unsere Große Anfrage erklären Sie, im Hinblick auf operative Aufgaben von Europol bestehe kein
aktueller gesetzgeberischer Bedarf; man wolle zu gegebener Zeit prüfen, ob Maßnahmen erforderlich sind und,
wenn ja, welche. Dies ist, meine ich, kein Erfolg versprechender Kampf gegen die organisierte Kriminalität. Die
Bedingungen für internationale Kriminalität verändern
sich ständig. Globalität ist gerade im Verbrechensbereich
leider Realität.
({17})
Ich meine, es besteht Handlungsbedarf. Wenn Sie
nichts überzeugt, so doch dies: Wir sind uns einig darüber,
dass insbesondere die Schwachen leiden, wenn der Staat
und die Verantwortlichen Schwäche zeigen. Daher sind
Sie als Bundesregierung, Herr Bundesinnenminister, Frau
Bundesjustizministerin bzw. in Vertretung Herr Staatssekretär - etwas später angekommen, aber immerhin; herzlichen Dank -, gefordert. Daher unsere Große Anfrage: in
Sorge um dieses Land, in Sorge darum, dass sich Bürger
in diesem Land frei bewegen können, ohne Kriminalität.
Denn der Bürger hat ein Recht auf Sicherheit in diesem
Lande und wir als Politiker haben die Pflicht, ihm dies zu
gewährleisten.
Herzlichen Dank.
({18})
Als letzter Redner hat der Bundesinnenminister Otto Schily das
Wort.
Herr Kollege
Marschewski, ich habe Verständnis dafür, dass Sie die
Bundesjustizministerin heute vermissen. Aber ich glaube,
wenn sie Ihre Rede im Protokoll nachliest, wird sie ihre
Abwesenheit nicht bedauern.
({0})
Aber ich möchte auf den Ton eingehen, den Herr Kollege Westerwelle zu Beginn der Debatte angeschlagen
hat. Ich finde, das war die angemessene Tonlage bei einem
so ernsten Thema. Jenseits der Polemik, in der sich heute
einige vergeblich geübt haben, gibt es eines, das uns miteinander verbindet: dass die innere Sicherheit zu den ernsteren und wichtigeren Fragen gehört, weil nämlich ein
Kernbestandteil der Lebensqualität von Menschen ist,
angstfrei leben zu können.
Wir können mit Stolz und Selbstbewusstsein sagen,
dass Deutschland im internationalen Vergleich eines der
sichersten Länder ist.
({1})
Das sollte man hier einmal an den Anfang stellen. Das ist
zuallererst das Ergebnis der engagierten, zuverlässigen,
risikobereiten und kompetenten Arbeit unserer Sicherheitskräfte, der Polizeibeamten und -beamtinnen in den
Ländern und im Bund, des Verfassungsschutzes und
solcher Institutionen wie etwa des Bundesamtes für
Sicherheit in der Informationstechnik. Ich finde, es gehört
sich, dass wir diesen Beamtinnen und Beamten in einer solchen Debatte einen ganz herzlichen Dank aussprechen.
({2})
Man kann diese günstige Diagnose anhand der Zahlen
belegen. Die Zahl der Straftaten geht deutlich zurück. Sie
ist im vergangenen Jahr zurückgegangen und sie geht in
diesem Jahr zurück. Die Aufklärungsquote erhöht sich.
({3})
Auch das subjektive Sicherheitsempfinden der Menschen
hat sich deutlich verbessert. 80 bis 90 Prozent, sowohl im
Osten der Bundesrepublik Deutschland als auch im
Westen - es ist interessant, dass sich das angleicht -,
sagen, sie seien mit der Sicherheitslage einigermaßen
zufrieden. Ich sage „einigermaßen“, weil natürlich an der
einen oder anderen Stelle noch etwas verbessert werden
kann. Ich bin nicht derjenige - da stimme ich Herrn
Marschewski zu -, der meint: Weil wir diese Zahlen
haben, können wir uns zurücklehnen, uns ruhig verhalten
und sagen, es sei nichts mehr zu tun. Das ist nicht der Fall.
Die absolute Zahl der Straftaten ist noch viel zu hoch.
Ich glaube, es ist auch richtig, an dieser Stelle zu sagen,
dass wir in Deutschland durch die Zusammenarbeit
zwischen Bund und Ländern ein sehr gutes System
der Sicherheitspolitik haben. Wir haben eine sehr enge
und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen dem
Erwin Marschewski ({4})
Bundesinnenminister und den Länderinnenministern. Ich
will mich an dieser Stelle bei den Kollegen aus den Ländern dafür herzlich bedanken.
Außerdem haben wir aber auch die Sicherheitsarchitektur über die Strukturen in unserem Lande hinaus - im
europäischen Rahmen, bilateral, multilateral, also über
die Grenzen unseres Landes hinweg - deutlich ausgebaut
und verstärkt. Ich will nur einige Beispiele dafür nennen.
Wir haben im vergangenen Jahr mit der Schweiz - einem kleinen, aber, wie ich finde, durchaus beachtlichen
Land - einen Vertrag zur Bekämpfung der organisierten
Kriminalität geschlossen. Ich glaube, das ist ein mustergültiger Vertrag, das ist ein Modell für gute bilaterale Zusammenarbeit. Wir werden demnächst einen ähnlichen
Vertrag mit Österreich, mit meinem Kollegen Strasser,
schließen.
({5})
Auch das ist eine vernünftige Zusammenarbeit, die wir
zustande gebracht haben.
Wir haben eine multilaterale Zusammenarbeit mit einigen Ländern, die der Alpenregion zuzurechnen sind. Wir
haben eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit
den Ländern, die Beitrittskandidaten sind; auch das ist
wichtig. Wir beteiligen uns an Programmen zur Erreichung der Beitrittsfähigkeit, die ja auch im Bereich der inneren Sicherheit, der Grenzsicherheit, der Bekämpfung
von Kriminalität notwendig ist.
Es ist uns aber auch über die EU-Grenzen hinaus gelungen, gute Strukturen zustande zu bringen. Ich habe
kürzlich den FBI-Direktor Freeh getroffen, und wir haben
verabredet, dass wir eine engere Kooperation zur Bekämpfung einer Kriminalitätsform suchen, die uns neuerdings Sorgen bereitet, nämlich der Kriminalität, die im
Internet stattfindet. Wenn wir daran denken, dass die abscheulichsten rechtsextremen, nazistischen, antisemitischen Inhalte auf heute etwa 400 Websites unsere Jugend
negativ beeinflussen, dann müssen wir etwas dagegen
tun, und das tun wir in Zusammenarbeit auch mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Ich freue mich darüber,
dass Herr Freeh diese Zusammenarbeit zugesagt hat.
({6})
Meine Damen, meine Herren, es gehört auch zur
Sicherheit, die wir nicht mehr borniert national definieren
können, wenn wir mit unseren Polizeikräften etwa dafür
sorgen, dass im Kosovo Strukturen der Sicherheit aufgebaut werden. Auch hier möchte ich den jungen Kolleginnen und Kollegen aus den Länderpolizeien und dem Bundesgrenzschutz meinen ausdrücklichen Dank sagen, dass
sie sich zu solchen Missionen bereit erklären.
({7})
Meine Damen und Herren, weiter möchte ich eine
Form der Zusammenarbeit im Ostseebereich erwähnen,
die Ostsee-Taskforce. Oder denken Sie an das Abkommen, das ich im vergangenen Jahr mit Russland zur
Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der organisierten
Kriminalität abgeschlossen habe. Es hat auch andere Abkommen internationaler Art gegeben.
Meine Damen und Herren, wir können auch im europäischen Rahmen auf große Erfolge verweisen. Herr Kollege Marschewski, Sie haben behauptet, zu Europol seien
einige Vorarbeiten geleistet worden. Dass das so ist, will
ich gar nicht bestreiten.
({8})
Aber zu behaupten, so wie Sie es hier ein wenig lässig
meinten darstellen zu sollen, wir hätten das Ganze praktisch nur noch vollzogen, ist falsch. So war es nicht.
Uns ist es gelungen - das wird nun gerade von den EULändern positiv vermerkt; ich habe dafür sehr viel Lob
und Anerkennung von den anderen europäischen Mitgliedsländern erhalten, übrigens ausnahmslos, ganz egal,
ob nun eher konservativ oder sozialdemokratisch regiert -,
die großen Hindernisse, die hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit von Europol noch bestanden, während der deutschen
Präsidentschaft beiseite zu schaffen. Insofern bin ich
dankbar dafür, dass uns das gelungen ist.
Das, was Sie angesprochen haben, ist eine Perspektive,
die man diskutieren muss, Herr Marschewski, wenn ich
um Ihre Aufmerksamkeit bitten darf.
({9})
Sie haben mich darauf angesprochen; deshalb verdienen
Sie ja, dass ich darauf eingehe. Wenn Sie es nicht wünschen, dann lassen wir es.
({10})
- Nein, nein, ist ja in Ordnung.
Die Hindernisse, die noch bestehen, bestehen auf exekutiver Ebene.
({11})
- Entschuldigung, auf operativer Ebene. Ich weiß, dass
Sie operative Maßnahmen meinen. Sie müssen, wenn
Sie sich ein bisschen in Europa auskennen, sehen, dass
das eine schwierige Frage ist. Nicht zufällig ist die
Zusammenarbeit der Polizeien in der dritten Säule der
Verträge geregelt, und die polizeilichen Zuständigkeiten
sind nun für das Verständnis mancher das Herzstück der
nationalen Souveränität. Es ist ja schon schwierig, unsere
Mitgliedsländer dazu zu ermuntern, dass sie überhaupt
Europol Daten liefern, damit Europol zunächst einmal
- nach dem jetzigen Status - arbeitsfähig wird. Da bestehen also viele Schwierigkeiten.
Wichtig ist aber, dass wir auch dafür sorgen, Herr
Marschewski, dass nicht Doppelarbeit zweier wichtiger
Institutionen, Interpol und Europol, entsteht. Gerade gestern war ich bei Interpol zu Besuch und habe dem neuen
Generalsekretär Nobel, der übrigens fließend deutsch
spricht, was die Zusammenarbeit sicher fördern wird, gratuliert. Genau genommen spricht er bayrisch. Das ist ja
auch ganz gut.
({12})
Das ist hervorragend.
An dieser Stelle möchte ich übrigens auf den Erfolg zu
sprechen kommen, dass der Präsident des Bundeskriminalamtes, Herr Dr. Kersten, in den Exekutivrat von Interpol gewählt worden ist. Auch ihm gratuliere ich von dieser Stelle aus zu seiner Wahl.
Meine Damen und Herren, wir müssen eine enge Zusammenarbeit zwischen Interpol und Europol zustande
bringen.
Am gleichen Tage haben wir in Lyon eine ganz wichtige Eröffnung zusammen mit dem französischen Innenministerkollegen Vaillant und dem Justiz- und dem Innenminister Schwedens - das die Präsidentschaft künftig
innehat - gefeiert.
({13})
Wir haben nämlich eine deutsche Initiative auf den Weg
gebracht, die in Tampere zum Beschluss geworden ist: die
Schaffung einer europäischen Polizeiakademie. Diese
Akademie ist gestern eröffnet worden.
({14})
Das ist wichtig. Dort werden unsere Polizeibeamtinnen
und Polizeibeamten lernen, sich von den national
begrenzten Denk- und Handlungsgewohnheiten zu lösen
und europäisch zu denken. Denn die heutige Kriminalitätsbekämpfung kann nur noch europäisch gesichert
werden. Das müssen wir alle wissen.
({15})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auf den nationalen Rahmen zurückkommen. Herr Pofalla, Sie haben
die Antworten der Bundesregierung - ich möchte das nur
kurz erwähnen; es ist ja schön, dass Sie die Antworten wenigstens lesen - auf die Fragen zum Thema Videoüberwachung nicht ganz genau gelesen. Die Position der Bundesregierung ist in diesem Punkt ganz klar: Wir sind
gegen eine flächendeckende Videoüberwachung, die jede
Ecke des privaten Lebens ausleuchtet.
({16})
Das halte ich für mit Art. 1 des Grundgesetzes nicht vereinbar.
Aber an Kriminalitätsschwerpunkten werden solche
Maßnahmen - gerade auf der Bundesebene - schon heute
praktiziert. Selbstverständlich ist es die Position der Bundesregierung, in denjenigen Bereichen, in denen der Bundesgrenzschutz zuständig ist - etwa im Bahnbereich solche Maßnahmen zu ergreifen. Ich selbst habe mir das
einmal angesehen. Dagegen habe ich gar keine Einwände.
Denn hier kann es sich um Kriminalitätsschwerpunkte
handeln. Wenn man solche Installationen zur Verfügung
hat, kann man für mehr Sicherheit sorgen. Dies hat sich
als erfolgreich erwiesen.
Ich möchte jetzt nicht auf die Diskussion über das Verhältnis zwischen Repression und Prävention eingehen.
Dass die Prävention für uns eine herausgehobene Bedeutung hat, ist inzwischen wohl klar geworden. Ein Symbol
dafür - eigentlich ist es mehr als ein Symbol, weil es praktische Perspektiven bietet - ist das Deutsche Forum für
Kriminalprävention, dessen Implementierung wir im
Bundeskabinett gerade beschlossen haben. Ich freue mich
sehr darüber. Wir haben es als eine Zusammenarbeit zwischen Staat, Wirtschaft und Wissenschaft angelegt. Denn
man muss wissen, dass wir auf wissenschaftliche Erkenntnisse angewiesen sind.
Herr Geis, Sie haben Herrn Pfeiffer angesprochen, den
ich wie Sie sehr schätze. Dieser hat zum Beispiel auf einen interessanten Zusammenhang bei der Gewaltkriminalität von Jugendlichen hingewiesen - hier hat er Feldforschung betrieben -,
({17})
dass nämlich diejenigen Jugendlichen, die gewalttätig
werden, in ihrer Kindheit Opfer von Gewalt waren. Auffälligerweise sind diejenigen Jugendlichen, die brutale
Gewalt ausüben, in ihrer Kindheit Opfer von brutaler
Gewalt gewesen. Das ist ein Hinweis darauf, was man tun
muss: Man muss gewaltfreie Erziehung durchsetzen.
Auch das ist Präventionsarbeit.
({18})
Hier ist viel Richtiges zum Thema technische Prävention gesagt worden. Es ist völlig richtig - Herr Ströbele
hat es erwähnt -: In Bezug auf Kraftfahrzeuge bestehen
zwei Möglichkeiten: nicht nur die Markierung, sondern
auch die Wegfahrsperre. Diese ist das Entscheidende. Das
haben Sie wahrscheinlich auch gemeint.
({19})
Wir müssen dem Kreditkartenmissbrauch entgegentreten. Denn hier gibt es einen Aufwuchs der Straftaten.
({20})
Deshalb ist es wichtig, die technische Prävention voranzutreiben. Es gibt eine ganze Reihe von Maßnahmen.
Ich freue mich darüber, dass ich kürzlich in einem
Kreis von hochrangigen Vertretern der Wirtschaft großen
Zuspruch für die Unterstützung unserer Initiative gefunden habe, die in Zusammenarbeit gemeinsam von den
beiden Bundesministerien Justiz und Inneres sowie den
Ländern getragen wird. Davon verspreche ich mir sehr
viel, weil beim Thema innere Sicherheit Ähnliches
gilt wie beim Umweltschutz: Vorsorge ist allemal besser
und billiger als Nachsorge. Es ist besser, die Jugendlichen
an kriminellen Handlungen zu hindern und sie gegen
Kriminalität zu immunisieren, als Jugendgefängnisse zu
bauen. Das ist eindeutig.
({21})
Meine Damen und Herren, es fehlt mir die Zeit, zu allen Bereichen einen Hinweis zu geben. Ich will deswegen
zum Schluss nur Folgendes sagen: Wir müssen ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Repression und Prävention
haben! Es geht nie um ein Entweder-oder.
Ich gebe übrigens all denjenigen Recht, die das sagen:
Natürlich sind Resozialisierung, Therapie und Ähnliches
notwendig. Aber in einem Punkt gibt es für mich überhaupt keinen Zweifel: Die Sicherheit potenzieller Opfer
hat absoluten Vorrang.
({22})
Wenn jemand seine Psyche und seinen Charakter nicht
steuern kann, muss die Sicherheit potenzieller Opfer
allerersten Rang haben. Wir haben schreckliche Fälle
- ich habe sie noch in deutlicher Erinnerung - in Bayern
erlebt, wo kleine Kinder Opfer von Sexualverbrechern
geworden sind und man den Sicherheitsgedanken vernachlässigt hat. Das können wir bei aller Humanität, die
auch im Strafvollzug und in der Therapie gelten muss,
nicht zulassen. Das nur einmal vorweg.
Prävention hat viele Seiten. Prävention hat eine technische Seite, eine organisatorische Seite, eine soziale Seite.
Natürlich stimmt es: Wenn Jugendliche keinen Ausbildungsplatz oder keinen Arbeitsplatz finden, wenn sie in
einer schlechten Stadtgegend leben, sind sie gefährdeter.
Auch Städte können kriminalitätsfördernd sein, Stadtbilder, alles das.
({23})
Die „broken windows“-Theorie ist richtig. Es gibt viele
verwahrloste Städte. Es gibt vieles, was dazu zu sagen ist;
das ist ein ganz breites Feld. Mir fehlt die Zeit, das alles
auszubreiten. Da müssen wir etwas tun. Das Projekt
„Soziale Stadt“ ist ein gutes Projekt.
({24})
Urbanität ist ein gutes Projekt. Es gibt vieles, was wir tun
können und müssen. Natürlich ist das JUMP-Programm
auch ein Programm gegen Jugendkriminalität.
({25})
Dafür müssen wir dankbar sein.
Ich will jetzt nicht mit den Zahlen prunken. Aber es ist
in der Tat so: Das erste Mal, dass Jugend- und Kinderdelinquenz abnimmt, ist das Jahr 1999. Ich mache daraus
wirklich keine große Sache; aber es ist eine Tatsache.
({26})
Ich sage im Übrigen nicht, dass das alles ist. Zu glauben, dass Kriminalität nur aus der sozialen Umgebung
entsteht, ist falsch. Deshalb sage ich - damit bin ich beim
letzten Punkt -: Prävention hat auch eine kulturelle Dimension. Das ist das, was ich immer sage: Wir brauchen
auch so etwas wie eine kulturelle Prävention.
Wenn ich mir vorstelle, in welcher Welt unsere Kinder
und Jugendlichen eigentlich aufwachsen, mit welchen
Gewaltbildern, Bildern scheußlichster Brutalität sie jeden
Abend in den Medien, im Fernsehen, in den Printmedien,
in ihrer unmittelbaren Umgebung traktiert werden, dann
muss man sich nicht wundern, welche Handlungsweisen,
welche Charaktere unsere Kinder und Jugendlichen entwickeln.
({27})
Wenn Sie merken, dass die Würde des Menschen in den
Medien zum Teil nichts mehr gilt, dann muss man sich
nicht über das wundern, was passiert.
Ich gebe in einem Punkt auch Ihnen Recht, Herr Geis:
Man muss etwas für die Familien tun. An dieser Stelle
können wir uns alle selbst einmal fragen, welch ein kulturelles Milieu wir den Kindern und Jugendlichen in unseren Erziehungsformen und -inhalten eigentlich anbieten.
Zum Schluss wiederhole ich, was ich auch schon zu
Beginn meiner Amtszeit gesagt habe: Es ist notwendig,
Jugendlichen in ihrer Entwicklung musische Erziehung
anzubieten.
({28})
Man soll das nicht als Luxus betrachten. Yehudi Menuhin
hat auf einen interessanten Zusammenhang hingewiesen.
Es gibt einen Distrikt in London, in dem die Jugendkriminalität vergleichsweise besonders niedrig ist. In diesem
Distrikt ist das Angebot an musischer Betätigung für Jugendliche und Kinder besonders groß. Das ist eine
Botschaft.
({29})
Ich
schließe die Aussprache.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis e sowie Zu-
satzpunkte 3 a und b auf:
27 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen vom 19. Mai 1999 zum Europipe-Abkommen vom 20. April 1993 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Norwegen über den Transport von Gas
durch eine neue Rohrleitung ({0}) vom
Königreich Norwegen in die Bundesrepublik
Deutschland
- Drucksache 14/4300 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Versicherungsaufsichtsgesetzes,
insbesondere zur Durchführung der EG-Richtlinie 98/78/EG vom 27. Oktober 1998 über die
zusätzliche Beaufsichtigung der einer Versicherungsgruppe angehörenden Versicherungsunternehmen sowie zur Umstellung von Vorschriften auf Euro
- Drucksache 14/4453 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Entfernungspauschale und zur
Zahlung eines einmaligen Heizkostenzuschusses
- Drucksache 14/4435 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des
Strafvollzugsgesetzes
- Drucksache 14/4452 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
e) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
({4}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung
Technikfolgenabschätzung
hier: Monitoring „Nachwachsende Rohstoffe“ - Einsatz nachwachsender Rohstoffe im Baubereich
- Drucksache 14/2949 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
ZP3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren
({6})
a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Erkenntnisse der Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern zur Verfassungswidrigkeit der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“
- Drucksache 14/4500 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({7})
Rechtsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Winfried Wolf, Eva Bulling-Schröter,
Dr. Gregor Gysi, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der PDS
Gesellschaftliche Debatte zu den Energiepreisen für eine ökologische verkehrspolitische Wende nutzen
- Drucksache 14/4534 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit
Haushaltsausschuss
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/4435 soll zu-
sätzlich an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit überwiesen werden. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b sowie
28 d bis 28 j auf. Es handelt sich um Beschlussfassungen
zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 28 c ist abgesetzt.
Wir kommen zunächst zu Tagesordnungspunkt 28 a:
28 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Ausprägung einer 1-DM-Goldmünze
und die Errichtung der Stiftung „Geld und
Währung“
- Drucksache 14/4225 ({9}) ({10})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({11})
- Drucksache 14/4481 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Jörg-Otto Spiller
Heinz Seiffert
bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({12}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 14/4482 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans Jochen Henke
Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Uwe-Jens Rössel
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksa-
che 14/4481, den Gesetzentwurf unverändert anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? -
Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der PDS-Fraktion gegen die Stimmen von CDU/CSU und
F.D.P. angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
in dritter Lesung mit demselben Stimmenverhältnis
angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 b:
b) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung der Grenze des Freihafens
Emden
- Drucksache 14/4223 ({13})
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung der Grenze des Freihafens Bremen
- Drucksache 14/4224 ({14})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({15})
- Drucksache 14/4480 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Detlev von Larcher
Jochen-Konrad Fromme
Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksa-
che 14/4480 unter Buchstabe a, den Entwurf eines Geset-
zes zur Änderung der Grenze des Freihafens Emden un-
verändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
in dritter Lesung einstimmig angenommen.
Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksa-
che 14/4480 unter Buchstabe b, den Entwurf eines Geset-
zes zur Änderung der Grenze des Freihafens Bremen un-
verändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
in dritter Lesung einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 d:
d) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Joachim Stüncker,
Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten
Volker Beck ({16}), Christian Ströbele, Irmingard
Schewe-Gerigk, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der Besetzungsreduktion bei Strafkammern
- Drucksache 14/3370 ({17})
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Wolfgang
Bosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
... Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege und des Jugendgerichtsgesetzes
- Drucksache 14/2992 ({18})
- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Änderungen im Gerichtsverfassungsrecht ({19})
- Drucksache 14/3831 ({20})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({21})
- Drucksache 14/4542 Berichterstattung:
Abgeordnete Joachim Stünker
Dr. Wolfgang Frhr. von Stetten
Volker Beck ({22})
Jörg van Essen
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4542 unter Buchstabe a, den Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der Besetzungsreduktion bei Strafkammern anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Lesung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
in dritter Lesung einstimmig angenommen.
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4542 unter Buchstabe b, den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege und des Jugendgerichtsgesetzes für erledigt zu
erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4542 unter Buchstabe c, den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu Änderungen im
Gerichtsverfassungsgesetz für erledigt zu erklären. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
einstimmig angenommen.
Jetzt kommen wir zu Tagesordnungspunkt 28 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({23})
Übersicht 6 über die dem Deutschen Bundestag
zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesver-
fassungsgericht
- Drucksache 14/4355 -
Der Ausschuss empfiehlt, von einer Äußerung oder ei-
nem Verfahrensbeitritt abzusehen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-
nommen worden.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 28 f bis j:
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 207 zu Petitionen
- Drucksache 14/4404 -
g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 208 zu Petitionen
- Drucksache 14/4405 -
h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 209 zu Petitionen
- Drucksache 14/4406 -
i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 210 zu Petitionen
- Drucksache 14/4407 -
j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 211 zu Petitionen
- Drucksache 14/4408 Sammelübersicht 207 auf Drucksache 14/4404. Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 207 ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Sammelübersicht 208 auf Drucksache 14/4405. Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Sammelübersicht 208 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der anderen Fraktionen angenommen.
Sammelübersicht 209 auf Drucksache 14/4406. Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Die Sammelübersicht 209 ist mit den Stimmen
aller Fraktionen bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Sammelübersicht 210 auf Drucksache 14/4407.
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Die Sammelübersicht 210 ist mit den Stimmen
aller Fraktionen bei Enthaltung der PDS angenommen.
Sammelübersicht 211 auf Drucksache 14/4408. Wer
stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Sammelübersicht 211 ist damit einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta Zapf,
Brigitte Adler, Rainer Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Dr. Uschi Eid,
Angelika Beer, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Förderung der Handlungsfähigkeit zur zivilen
Krisenprävention, zivilen Konfliktregelung
und Friedenskonsolidierung
- Drucksache 14/3862 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({29})
Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Uta Zapf von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gerade eben in einem anderen Bereich von Prävention gesprochen. Dazu passt das
Sprichwort, das Herr Schily zitiert hat, sehr gut - ich hatte
es als Eingangssatz vorgesehen -: „Vorbeugen ist besser
als heilen.“ Es gibt ein weiteres Sprichwort, das, wie ich
meine, sehr gut in diesen politischen Kontext passt. Vielleicht klingt es ein bisschen makaberer: „Es ist leichter,
Geld für den Sarg als für die Medizin einzusammeln.“
Dies ist ein chinesisches Sprichwort.
Krisenprävention - darüber sind wir uns alle im Klaren ist eine zentrale Aufgabe der Außen-, Entwicklungs- und
Sicherheitspolitik. Aber sie reicht darüber hinaus. Dazu
gehören Abrüstung und Rüstungskontrolle, regionale Sicherheit mit vertrauensbildenden Maßnahmen, Transparenz und Kooperation. Dazu gehören natürlich auch Rüstungsexportkontrolle und in zunehmendem Maße
Maßnahmen gegen Gewaltökonomien.
Wir sind uns alle darüber einig, dass Krisenprävention
die beste Friedenspolitik ist. Aber Erfolge von Prävention
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
lassen sich leider schwer messen. Die Verhinderung von
Gewalt ist nicht sichtbar. Der CNN-Faktor tritt nicht ein,
weil kein Blut fließt. Dennoch sind dies Erfolge, die wir
immer wieder bemerken sollten, damit wir sehen, dass die
Instrumente, die wir nutzen, Erfolg haben.
Eine Politik der Krisenprävention basiert auf einem
erweiterten Sicherheitsbegriff. Er umfasst nicht nur militärische Sicherheit, sondern auch die so genannte menschliche Sicherheit, also politische, ökonomische, ökologische und soziale Sicherheit. Dieses beschreibt auch die
Ursachen, die Konflikten zugrunde liegen, die - das wissen wir doch - nicht militärisch bekämpft werden können.
Vielmehr müssen die Konfliktursachen als solche angegangen werden.
({0})
Das beinhaltet Achtung der Menschenrechte, Demokratie
und Rechtsstaatlichkeit sowie die Bewahrung der natürlichen Ressourcen und Entwicklungschancen für alle Weltregionen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist wahrlich ein
umfassender Politikansatz. Ich glaube, dass wir ihn ernst
nehmen müssen. Wenn wir ihn umsetzen wollen, erfordert
das auch die Anwendung und die Nutzung friedlicher und
gewaltfreier Konfliktregelungsmechanismen. Diese
Mechanismen sind vorhanden. Ganz sicher müssen sie
ausgebaut, gestärkt und weiterentwickelt werden. Es
muss aber auch - diese Erfahrung haben wir gemacht bei den Konfliktparteien dafür gesorgt werden, dass sie
diese Instrumente akzeptieren und dann tatsächlich auch
in Anspruch nehmen. Nur wenn sie in Anspruch genommen werden, können sie auch wirken.
({1})
In der Koalitionsvereinbarung steht, dass wir eine Infrastruktur für präventive Konfliktbearbeitung schaffen
wollen. Ich denke, dies ist nach dem Ende des Ost-WestKonfliktes wichtiger denn je. Wir haben es mit inneren
Konflikten zerfallender Staaten und den unterschiedlichen Schwierigkeiten der Transformationsländer zu
tun. Allein 1999 hat es 34 Gewaltkonflikte gegeben, das
heißt Konflikte, bei denen Blut geflossen ist. Keiner von
uns könnte sie hier jetzt vollständig aufzählen, wie ich
glaube. Wir haben in Bosnien und Kosovo zwei Konflikte
vor unserer Haustür erlebt. Wir wissen inzwischen, dass
dort Prävention versagt hat. Aus den Fehlern, die dort gemacht wurden, müssen und wollen wir die Lehren ziehen.
Wir fangen dabei ja nicht bei Null an, sondern stehen
in der Tradition von Willy Brandts Entspannungspolitik
und des Brandt-Reportes, der hervorgehoben hat - genau
dasselbe hat Kofi Annan erst kürzlich wieder getan -, dass
Armutsbekämpfung, Investitionen in Bildung und Gesundheit wichtiger Bestandteil von Friedenspolitik sind.
Frieden braucht Entwicklung, liebe Kolleginnen und Kollegen. Deshalb ist Präventionspolitik natürlich auch
Weltwirtschaftspolitik und Entwicklungspolitik. Darauf
wird nachher meine Kollegin Dagmar Schmidt intensiver
eingehen.
In der Realität haben wir es leider nicht nur mit Fällen
von Prävention zu tun, sondern häufiger mit „post conflict
peace-building“, wie das so schön heißt.
({2})
- Ich wollte es gerade übersetzen, Herr Kollege Irmer, damit auch Sie es verstehen.
({3})
Dabei handelt es sich um Konflikte, bei denen das Kind
schon in den Brunnen gefallen ist, Blut geflossen ist und
die ersten Schüsse gefallen sind. Außerdem haben wir es
mit dem so genannten Peace-making zu tun - ich übersetze es jetzt gleich wieder -, nämlich mit der Frage, ob
durch Interventionen Gewalt unterbunden werden kann.
Ich denke, wir müssen dazu kommen, dass es gar nicht
erst so weit kommt. Wenn wir das, was wir heute als einen ganz wichtigen Bestandteil unserer Präventionspolitik betrachten, nämlich den Stabilitätspakt, früher konzipiert und in dieser Region eingesetzt hätten, dann müssten
wir diese Maßnahmen jetzt vielleicht nicht „post conflict“, also nach dem Konflikt, anwenden, sondern hätten
sie vielleicht schon vor dem Konflikt mit Erfolg anwenden können.
({4})
Es ist auch richtig - diese Tatsache darf man in diesem
Zusammenhang nicht verschweigen -, dass in der politischen Diskussion die Entwicklung der militärischen Instrumente zum Krisenmanagement viel größere Aufmerksamkeit findet und viel größere Bedeutung hat. Wir
müssen aber auch den anderen Bereich sehen, obwohl
natürlich die Entwicklung der entsprechenden Reaktionsfähigkeit in Krisensituationen und die Möglichkeit, die so
genannten Petersberg-Aufgaben erfüllen zu können,
wichtige Fragen in unserer Diskussion sind.
Genauso richtig ist, dass wir den Übergang von einer
Kultur der Reaktion zu einer Kultur der Prävention
schaffen müssen, wie es Kofi Annan 1999 gesagt hat.
Dazu leistet die Bundesrepublik einen guten Beitrag.
({5})
Auf der Grundlage der Koalitionsvereinbarungen haben wir - natürlich nicht als Einzige - auf der nationalen
Ebene, auf der EU-Ebene und bei den internationalen Organisationen OSZE und UNO Initiativen ergriffen. Man
muss hier einmal ganz deutlich sagen, dass die Bundesrepublik dort einen großen Anteil zur Förderung der präventiven Instrumente geleistet hat. Zum Beispiel haben wir
im nationalen Rahmen einen zivilen Friedensdienst eingerichtet. Wir bilden Fachkräfte wie Rechtsexperten, Juristen, Diplomaten und andere Zivilexperten aus, die in
Friedensmissionen eingesetzt werden können. Es gibt Frau Schmidt wird das näher beleuchten - eine Neuausrichtung der Entwicklungspolitik. Außerdem haben wir
einen Sonderbeauftragten für Konfliktprävention eingesetzt, der auf allen Ebenen, also auch auf der der internationalen Organisationen, die Aufgaben koordiniert.
Wir haben auf dem OSZE-Gipfel in Istanbul 1999 beschlossen - das war eine EU-Initiative zur Zeit der deutschen Präsidentschaft -, zivile Krisenreaktionskräfte,
die so genannten REACT-Kräfte - das heißt: Rapid Expert Assistance and Cooperation Teams -, aufzustellen.
({6})
Es handelt sich also um Experten, die zur Beratung und
zur Unterstützung da sind. Sie sollen helfen, Konflikte zu
lösen. Wir kommen auch auf dieser Ebene zu mehr Verbindlichkeit und zu einer schnelleren Reaktion auf Krisen.
Dies ist ein wichtiger Punkt.
Unsere Arbeit schlägt sich nicht nur auf nationaler
Ebene - Herr Schily hat das vorhin erwähnt -, sondern
auch auf der Ebene der UNO und der EU nieder. Man
weiß, dass wir mehr Polizei brauchen, weil wir die zivile
Ordnungsmacht über Ausbildung, Schulungen für solche
Einsätze und über das Vorhalten von in Krisenfällen einsatzbereiten Kontingenten stärken wollen.
Nachdem wir zunächst über eine Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik diskutiert und in diesem Rahmen
eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik
bzw. eine Verteidigungsinitiative konzipiert haben, haben
wir in der EU begriffen - ich finde das besonders erfreulich -, dass wir - das geht auf eine deutsche Initiative
zurück; das muss man hier einmal ganz laut sagen - eine
zivile Komponente brauchen. Eine solche zivile Komponente ist gleichrangig mit dem Militärischen eingebaut
worden, indem man für das zivile, nicht militärische Krisenmanagement einen Ausschuss eingerichtet hat. Dies
zeigt den Stellenwert, den wir der Prävention mittlerweile
Gott sei Dank beimessen. Ich halte das für wichtig.
({7})
Lassen Sie mich als Letztes die UNO erwähnen. Die
UNO wurde in den letzten Jahren immer als ein Papiertiger bezeichnet. Sie hat Missionen ausgeführt, die in
Schwierigkeiten geraten sind. Sie hat keine ausreichenden
Mittel gehabt, um die Aufträge des Sicherheitsrates sachgemäß zu erfüllen. Wer der UNO keine sachgemäßen Mittel, sowohl was Geld als auch was Personalstärke, Kapazitäten für Planung und Ähnliches angeht, an die Hand
gibt und sie nach einer misslungenen Mission als Papiertiger bezeichnet, der argumentiert falsch. Nur wer hinsichtlich seiner Mittel in der Lage ist, zu tun, was man ihm
aufträgt, der kann so agieren, wie man es von ihm erwartet. Unter diesem Gesichtspunkt halte ich die Stärkung der
UNO für ganz wichtig. Die Strukturen und die Fähigkeiten der UNO für Friedensoperationen müssen dringend
gestärkt werden.
({8})
Wir müssen den Brahimi-Bericht, der, glaube ich, im
August erschienen ist, sehr ernst nehmen. Er beschreibt
auf eine sehr offene und ungeschminkte Art und Weise die
vorhandenen Defizite. An diesen Defiziten sind nicht die
UNO, sondern die Mitgliedstaaten schuld, die sich zu Reformen nicht durchringen können und die immer aufschreien, wenn etwas Geld kostet.
Mit diesem Bahimi-Bericht sollten wir uns, denke ich,
näher auseinander setzen. Ich möchte alle Fraktionen auffordern, unsere Regierung darin zu unterstützen, dass
diese Maßnahmen so gut wie möglich in der UNO verankert werden, sodass auch die Kapazitäten zur Planung von
Friedensmissionen geschaffen werden können, dass es
Stand-by-Kontingente gibt - die Bundesregierung hat ja
bereits ihre Kontingente zugesagt -, dass die Polizeimissionen gestärkt werden, dass eine Datenbasis vorhanden
ist, um einen Pool von Experten schnell abrufen zu können und wirklich zu „early warning“ und „early action“ zu
kommen, damit wir nicht erst mit militärischen Kräften
Frieden stiften müssen.
Krisenprävention kostet auch Geld. Aber ich erinnere
daran, dass Kriege ein Stückchen teurer sind: alleine
13 Milliarden DM für den Golfkrieg, einen Krieg, an dem
wir physisch gar nicht teilgenommen haben. Wenn man
dies so betrachtet, ist Prävention im Verhältnis sicherlich
eine billige Maßnahme. Wenn wir über Prävention reden
- das tun wir alle seit vielen Jahren, ohne dass so viel geschehen ist, wie ich meine, dass hätte geschehen müssen -,
dann sage ich - Herr Irmer, Sie werden es mir verzeihen:
wieder in Englisch -: „Take your money where your
mouth is.“ Das heißt: Nimm das Geld in die Hand und
mach keine großen Sprüche.
({9})
- Thank you.
({10})
Das heißt auch, dass wir die in den Haushalt 2000 eingestellten Mittel, die die Bundesregierung für Krisenprävention vorgesehen hat, in der Tat verstetigen müssen.
Ich denke, alle Parteien werden unterstützend helfen, dass
diese Mittel in den Haushalten verstetigt werden. Prävention, meine Damen und Herren, ist eine Daueraufgabe und
keine Eintagsfliege.
Deutschland hat großen Anteil daran - ich habe es geschildert -, dass die Krisenprävention in der internationalen Diskussion wieder in den Vordergrund gerückt ist.
Prävention kann aber nur greifen, wenn sich die beteiligten Konfliktparteien bereit erklären, die Hilfe anzunehmen, die ihnen präventive Instrumente bieten können. Insoweit haben wir auch noch eine gewisse politische Arbeit
vor uns, um es verbindlicher zu machen, Hilfe der UNO,
Hilfe der OSZE oder auch Einzelhilfe von Beratungsteams anzunehmen, wo Konflikte auftauchen.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich bin beim letzten Satz, Herr
Präsident. - Wir wollen alle gemeinsam kein neues
Bosnien, kein neues Kosovo, wir wollen aber auch keine
militärische Interventionskultur, sondern wir wollen eine
politische, zivile Präventionskultur. Lassen Sie uns gemeinsam darauf hinarbeiten.
Danke sehr.
({0})
Als
nächster Redner hat der Kollege Clemens Schwalbe von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Konflikte
der letzten Jahre haben die internationale Staatengemeinschaft massiv überfordert, seien es die Konflikte im
ehemaligen Jugoslawien, seien es die Konflikte in Afrika
oder Asien. Warum? Die herkömmlichen Konflikt- und
Präventionsszenarien gingen zumeist von Konflikten zwischen zwei Staaten aus, bei denen die Vereinten Nationen
als Vermittler und Schlichter dazwischentreten konnten.
Heute dagegen sind Konflikte mehr und mehr innerstaatlich, regional, religiös und ethnisch begründet, sodass die
althergebrachten Eingriffsmittel nicht mehr anwendbar
sind. Die Konflikte entwickeln sich durch die innerstaatliche Abgeschottetheit subtiler und langsamer, ehe sie der
Weltöffentlichkeit auffallen. Dann ist es meist zu spät und
die Situation oftmals verfahren, weil die Ursachen viel
tiefer liegen und für Außenstehende zunächst schwer zu
analysieren sind.
Nach dem Ende des Kalten Krieges haben sich daher
für die Vereinten Nationen völlig neue Handlungserfordernisse, insbesondere bei der Bewältigung von Krisen
und Konflikten, gestellt. Deshalb ist der Antrag von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen in der Analyse der Situation
und der erforderlichen Maßnahmen im Grundsatz zutreffend.
({0})
Präventionen, Eindämmungen und Beendigung der
Vielfalt von ethnischen, religiösen und bürgerkriegsähnlichen Konflikten sind eine der gegenwärtig wichtigsten sicherheitspolitischen Herausforderungen der internationalen Politik.
Dass die Vereinten Nationen ebenso wie die meisten
der regionalen Sicherheitseinrichtungen dieser Herausforderung in der gegenwärtigen Ausgestaltung nicht gewachsen sind, ist nach den zahlreichen Erfahrungen zum
Beispiel in Somalia, Ruanda, Sudan oder Bosnien mehr
als offensichtlich. Die Gründe hierfür sind verschieden.
Erstens. Die Zahl der Konflikte ist überwältigend und
nimmt nicht ab, sondern eher zu. Sie erstrecken sich vom
Süden Afrikas über Nordafrika, den Nahen und Mittleren
Osten, das südliche Europa bis in die asiatischen Gebiete
der früheren Sowjetunion. Dabei geht es keineswegs um
kleine Auseinandersetzungen, sondern um Dimensionen,
bei denen Millionen von Menschen umgebracht oder vertrieben werden. Dabei sind es meist Zivilisten, Frauen,
Kinder und alte Menschen, die es am schwersten trifft.
Zweitens. Weniger zwischenstaatliche, sondern meist
innerstaatliche Konflikte sind es, die den Frieden gefährden. Das frühere Jugoslawien hat es sehr deutlich gemacht. In Somalia war es ähnlich; plötzlich wurden aus
den innerstaatlichen Unruhen aufgrund der hohen Opferzahlen internationale Konflikte. Es geht also nicht mehr
allein um die Sicherheit von Staaten vor Angriffen von
Aggressoren von außen, sondern um die Sicherheit der in
den Staaten lebenden zivilen Bevölkerungsgruppen, insbesondere wenn deren physisches Überleben gefährdet
und die allgemeinen Menschenrechte grundlegend und in
massiver Weise verletzt und missachtet werden.
Waren früher Regierungen Ansprechpartner für Friedenslösungen, die eventuell durch internationale Verträge
Verpflichtungen eingehen konnten, stellt sich heute für
die internationale Gemeinschaft oft die Frage: Wer ist
überhaupt Ansprechpartner für welche Verhandlung; wer
hat von wem welches Mandat?
({1})
Dies erfordert von den eingesetzten Vermittlern und
von dem Friedenspersonal umfassende Kenntnisse der regionalen und kulturellen Gegebenheiten, die meist nicht
oder nur unzureichend vorhanden sind. Dies fängt bei der
Sprache an und geht bis hin zu der Frage - das habe ich
im Gespräch mit deutschen Soldaten im Kosovo, die dort
eingesetzt waren, selbst erlebt -: Wie unterscheide ich eigentlich Bosnier und Serben? Das sind schlichtweg unbeantwortbare Fragen für Außenstehende, die eine Schlichtung im Einzelfall ungemein erschweren.
Drittens. Sanktionsmechanismen wie humanitäre
Hilfe und wirtschaftliche Embargos, deren sich die Vereinten Nationen bedienten, haben sich weit weniger
durchschlagskräftig erwiesen als vielfach angenommen.
Vor allen Dingen treffen sie in erster Linie wieder die Zivilbevölkerung, wie zum Beispiel die Sanktionen gegen
den Irak oder gegen Restjugoslawien. Wirtschaftssanktionen wirken in der Regel nur längerfristig und auch nur,
wenn diese konsequent durchgeführt werden. Aber so
lange können bedrohte Menschen in den jeweiligen Ländern nicht warten.
Viertens. Das zivile und militärische Personal der Friedenseinsätze ist oft durch die unkontrollierte Gewaltbereitschaft der lokalen, regionalen und nationalen Gruppen
und Bürgerkriegsparteien gefährdet. Ohne militärische
Absicherung bleibt bei diesen Einsatzkräften oft nur die
Resignation und der Rückzug aus den Krisengebieten.
Denn es besteht die Gefahr für die UN-Einsatzkräfte, in
einen Konflikt hineingezogen zu werden und die Unparteilichkeit zu verlieren. Die Einsatzgruppen müssen deshalb besser ausgebildet und besser ausgestattet werden.
({2})
Sie müssen diesen Herausforderungen gewachsen sein.
Das führt bis zu der Tatsache, dass sie ein klares Mandat
zum Selbstschutz haben müssen.
All das zeigt: Die Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft des 21. Jahrhunderts ist in erster Linie die
Krisenprävention. Deshalb unterstützen wir die in Ihrem
Antrag angemahnte Stärkung und Reform der Vereinten
Nationen einschließlich des Sicherheitsrates. Ich weise in
diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hin, dass die
CDU seit langem ein umfangreiches Konzept zur Reform
der Vereinten Nationen formuliert hat.
Ich will auf diesen Fakt nicht näher eingehen, weil wir
bereits gestern Abend in der Debatte zu den Vereinten Nationen ausgiebig darüber gesprochen haben.
({3})
- Oder besser gesagt: geschrieben haben; denn wir haben
die Reden zu Protokoll gegeben. Aber sie sind ja für jeden
nachlesbar. Beide Anträge betreffen den Millenniumsgipfel und wir werden beide Anträge mit Sicherheit gemeinsam behandeln.
Allerdings halte ich es für nicht gut - Frau Zapf, Sie haben es ja etwas korrigiert -, dass im Antrag so formuliert
wird, als würden erst seit 1998 von der deutschen Bundesregierung Konfliktprävention und Konfliktregelung
betrieben. Es gab schon vor der heutigen SPD-Regierung
eine Zeit, in der maßgebliche Weichenstellungen erarbeitet wurden.
({4})
- Dies war eine sehr gute Zeit.
Dies trifft übrigens auch für die Einrichtung des Internationalen Gerichtshofes zu, die nicht allein auf die Verdienste der jetzigen Regierung zurückgeht; sie findet
ihren Ursprung vielmehr in der erfolgreichen Kohl-Ära.
({5})
Die hehren Forderungen, die verschiedenen nationalen
und internationalen Ansätze für die Einrichtung rasch verfügbarer ziviler Friedens- und Katastrophenhilfseinheiten
zu überprüfen und weiter zu entwickeln, wie Sie sie in
Ihrem Antrag formuliert haben, sind aus unserer Sicht
durchaus lobenswert und finden auch unsere Unterstützung.
Dennoch sei die Frage erlaubt: Aus welchen Mitteln
sollen diese Hilfseinheiten eigentlich bezahlt werden?
Die Haushaltsansätze sind doch in all diesen Bereichen
gekürzt worden. Frühere Ausbildungshilfen der Bundesrepublik für ausländische Polizeien, um vor Ort demokratische Strukturen bei den Sicherheitskräften zu schaffen, wurden von Ihrer Seite regelmäßig verurteilt. Heute
fehlt uns auf diesem Feld entsprechendes Personal. Deshalb ist in Ihrem Antrag richtig erkannt worden, dass unsere Polizeien kaum in der Lage sind, diese Lücke zu füllen.
Des Weiteren klingen Ihre Forderungen nach einer Erhöhung der freiwilligen Beiträge der Bundesrepublik zu
den Organisationen des Wirtschafts- und Sozialbereiches
der Vereinten Nationen, insbesondere zu dem Bevölkerungsfonds und dem Entwicklungsprogramm, ebenfalls sehr großzügig. Aber schauen wir den Tatsachen in
die Augen: Von welchem Geld soll das bezahlt werden?
Diese Frage
({6})
- das ist keine Gretchenfrage - beantworten Sie in Ihrem
Antrag nicht. Wir haben Haushaltsrealitäten, die eine andere Sprache sprechen. Im Haushaltsausschuss werden
Ihre Forderungen durch Ihre eigenen Kollegen wieder
kassiert. Das ist eine Tatsache.
({7})
Ein weiteres Hauptproblem besteht ganz banal in den
währungspolitischen Realitäten. Schließlich werden die
Beiträge zu den Vereinten Nationen in Dollar gezahlt,
wodurch sich aufgrund des sich ständig verschlechternden Kursverhältnisses zum Euro die Aufwendungen für
die UNO-Beiträge erheblich erhöhen. Über dieses Problem ist in der Haushaltsbereinigung noch kein Wort gesprochen worden.
Die Forderung nach der Verankerung der Menschenrechtskriterien im Rahmen einer restriktiven Rüstungsexportpolitik halte ich für begrüßenswert; sie wird aber
von Ihnen selbst - ich nenne als Beispiel die Türkei - konterkariert.
({8})
- Frau Zapf, es ist doch Realität, dass Sie das, was Sie
früher an der Kohl-Regierung bemängelt haben, heute in
der eigenen Regierung umsetzen. Das betrifft besonders
die Türkei; die Türkei ist NATO-Partner und deshalb müssen Sie sie anders behandeln. Auf diesem Feld hat die
Macht des Faktischen auch Joschka Fischer eingeholt.
Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass
es außerordentlich wichtig ist, das Personal, welches unter großen Entbehrungen, mit großem Elan und Enthusiasmus an internationalen Einsätzen teilnimmt, entsprechend vorzubereiten. Auch dürfen die Auslandseinsätze
den Betroffenen nicht zum Nachteil gereichen. Es muss
gewährleistet werden, dass ihr Auslandseinsatz respektiert und gewürdigt wird. Die Tatsache, dass dies heute
noch nicht der Fall ist, wird deutlich, wenn man sich die
Frage stellt: Warum gehen so wenige in die Auslandseinsätze? Dies liegt nicht zuletzt daran, dass den Betroffenen im Inland häufig nachgesagt wird, sie gingen auf
Vergnügungsreise.
Die UNO-Einsätze sind auch im Hinblick auf Personal
und Material noch unzureichend ausgestattet. Die Zusage
von Verteidigungsminister Scharping, mehr Material für
UNO-Einsätze zur Verfügung zu stellen, ist zwar sehr
begrüßenswert, allerdings darf darunter nicht die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik als solches leiden.
Wie die Bundesregierung in Anbetracht der massiven
Einsparungen im Verteidigungshaushalt diesen Spagat
bewerkstelligen will, muss ebenfalls noch geklärt werden.
Kommen
Sie bitte zum Schluss.
Letzter Satz, Herr
Präsident. - Der Tatsache, dass all diese genannten Forderungen Geld kosten, steht eine Haushaltspolitik gegenüber, die dem nicht gerecht wird. Die Entwicklungshilfe
wird gekürzt, und es werden - darauf wird mein Kollege
Weiß noch eingehen - Botschaften in vielen Ländern geschlossen. Ich würde mich freuen, wenn wir die Details
bei der Beratung des Antrages in den Ausschüssen klären
könnten, damit die von mir eben genannten Ziele und Forderungen nicht nur auf dem Papier stehen, sondern auch
umgesetzt werden.
Vielen Dank.
({0})
Das
Wort hat jetzt der Kollege Winfried Nachtwei vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Zapf und Kollege Schwalbe haben sehr deutlich gemacht: Gewalt- und Krisenprävention bei innerstaatlichen Konflikten sind keine Modewörter, sondern eine
dringende Notwendigkeit.
Die internationale Gemeinschaft hat seit geraumer Zeit
Erfahrungen mit innerstaatlichen Gewaltkonflikten. Daraus ergeben sich sehr deutlich die Anforderungen an eine
Krisenprävention. Erstens. Sie sollte möglichst früh ansetzen, vor allem auch strukturell. Hierzu hat die Kollegin
Zapf deutliche Ausführungen gemacht.
Zweitens. Es ist notwendig, dass die internationale
Staatengemeinschaft Kohärenz in ihrem Handeln beweist
und dass die Akteure nicht gegeneinander arbeiten, dass
also die staatlichen und die nicht staatlichen Akteure genauso wie die internationalen und die einheimischen Akteure möglichst kooperieren und nicht nebeneinander herarbeiten oder sogar gegeneinander arbeiten, dass
schließlich ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den
verschiedenen Instrumenten der Krisenprävention besteht
und dass natürlich eine kontraproduktive Politik unterlassen wird.
({0})
Im Gegensatz zu diesen konkreten Anforderungen ist
in der Öffentlichkeit und in der Politik, auch in unserer
Politik, noch immer die Vorstellung verbreitet, Krisenprävention und -verhütung wäre vornehmlich oder fast
ausschließlich eine militärische Aufgabe. Entsprechend
unausgewogen ist bisher das Verhältnis zwischen den
Fähigkeiten militärischer Krisenreaktion und denen ziviler Krisenprävention, und zwar sowohl auf europäischer
Ebene als auch auf der weltweiten Bühne. Aus dieser Einsicht heraus vereinbarten SPD und Bündnisgrüne in ihrem
Koalitionsvertrag unter anderem den Aufbau einer Infrastruktur für zivile Krisenprävention und Konfliktverhütung.
Die Bundesregierung machte sich sofort an die Umsetzung, wartete also nicht die schlimmen Erfahrungen des
Kosovo-Krieges ab. In der Entwicklungszusammenarbeit
bekam die Krisenfrüherkennung einen deutlich höheren
Stellenwert. Endlich aufgenommen und gefördert wurden
die Initiativen der Kirchen und der Friedensbewegung für
einen zivilen Friedensdienst, deren Vertreter bei der alten Koalition - daran kann ich mich noch sehr deutlich erinnern - immer gegen eine Wand der Ignoranz gelaufen
sind.
({1})
In der nächsten Ausbaustufe sollten die Fachkräfte der
Friedensdienste mit denen der anerkannten Entwicklungsdienste gleichgestellt werden. Im Bereich des Auswärtigen Amtes wurde ein Training für Teilnehmer an internationalen Friedensmissionen der Vereinten Nationen
und der OSZE entwickelt. Das bedarf unbedingt einer
„richtigen“ finanziellen und personellen Absicherung und
der Weiterentwicklung um Einsatzbegleitung und -auswertung. Das Auswärtige Amt bestellt einen Krisenbeauftragten und unterstützt seit 2000 internationale Maßnahmen der Krisenprävention und Friedenskonsolidierung in
einem erheblich höheren Maße als vorher.
Auf multilateraler Ebene, sowohl auf der Ebene der
G-8-Staaten, also der bedeutendsten Industriestaaten, als
auch auf der Ebene der Europäischen Union, gehörte die
Bundesregierung zu den tatsächlich treibenden Kräften
auf dem Feld der Krisenprävention und der Weiterentwicklung der entsprechenden Fähigkeiten. Das Beispiel
der OSZE-React-Einheiten ist schon genannt worden.
Wer weiß schon, dass im Rahmen der europäischen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik nun auch Mechanismen und Fähigkeiten der nicht militärischen Krisenbewältigung aufgebaut werden? Bis 2003 will die Europäische Union 5 000 Polizeibeamte für Kriseneinsätze
zur Verfügung haben. Planziele werden zurzeit für Fachpersonal entwickelt, das zur Stärkung des Rechtsstaats,
beispielsweise im Justizwesen, eingesetzt werden soll. Es
wurde inzwischen ein Sonderfonds zur schnellen Finanzierung von kurzfristigen Maßnahmen der nicht militärischen Krisenbewältigung eingerichtet; ein entsprechender Koordinierungsausschuss wurde aufgebaut.
Die bisherigen Leistungen der Bundesregierung zusammengefasst: Das Jahr 2000 markiert einen Durchbruch beim Aufbau ziviler Krisenkräfte.
({2})
Dafür möchte ich den beiden Ministerien - hier vertreten
durch die beiden Staatssekretäre, die diesen Politikbereich vorantreiben - ausdrücklich danken. Zu danken ist
aber auch den Nichtregierungsorganisationen und den
Friedensforscherinnen und -forschern, die zu dem Durchbruch beigetragen haben.
({3})
Durchbruch heißt aber nicht, das Ziel erreicht zu haben. Wir sollten uns nichts vormachen: Wir stehen am
Anfang eines längeren Weges. Ich will an zwei Aspekten
verdeutlichen, was notwendig ist, um weiter voranzukommen.
Erstens nenne ich die internationalen Polizeimissionen. In den letzten Jahren haben sie sich immer deutlicher
zu ganz zentralen Instrumenten der Friedenskonsolidierung und der Gewalteindämmung herausgebildet. Hierzu
leistet die Bundesrepublik quantitativ und qualitativ hervorragende und vorbildliche Beiträge. Das wäre ohne die
Mitwirkung der Länder nicht möglich gewesen. Den
Ländern ist für diesen Beitrag, der zum Teil auf eigene
Personalkosten ging, vom ganzen Bundestag ausdrücklich zu danken.
({4})
Ich sagte vorhin schon, dass die Europäische Union bis
zum Jahr 2003 über 5 000 Polizisten für solche Einsätze
zur Verfügung haben will. Das heißt aber für die Bundesrepublik, dass wir dafür erheblich mehr Polizeibeamte zur
Verfügung stellen müssen als die zurzeit im auswärtigen
Einsatz befindlichen rund 600 Beamten. Im Klartext bedeutet das, dass wir in diesem Bereich ohne zusätzliche
Stellen beim Bundesgrenzschutz und bei den Länderpolizeien wohl nicht auskommen werden; denn die Länderpolizeien werden die erheblichen zusätzlichen Aufgaben
wohl kaum aus eigener Kraft bewältigen können.
Zweitens. Notwendig ist eine ausgewogene Beteiligung aller Länder und des Bundes bei der Entsendung,
Ausbildung, Einsatzbegleitung und Reintegration der
Beamten. Es ist vorbildlich, wie viele Beamte NordrheinWestfalen entsendet und was es mit dem Polizeifortbildungsinstitut „Carl Severing“ bei der Ausbildungsbegleitung leistet. Es ist aber zugleich wenig verantwortlich,
wenn einige Länder kaum oder gar keine Polizisten entsenden und wenn es weiterhin die Auffassung gibt, dass
die Betreuung und Reintegration überflüssig sind.
Die Weiterentwicklung des deutschen Beitrags zu internationalen nicht militärischen Polizeimissionen ist eine
gesamtstaatliche Aufgabe, die sich endlich auch in Berlin
widerspiegeln muss. Wenn sich der Verteidigungsausschuss in besonderem Maße mit dem Thema beschäftigt
hat, aber der Innenausschuss meines Wissens noch gar
nicht, dann muss man sagen, dass da etwas nicht stimmt.
({5})
Ein letzter Punkt: die Finanzen. Die Krisenprävention
ist erheblich billiger als zu spätes Krisenmanagement;
aber sie ist nicht zum Nulltarif zu haben und auch nicht
aus der Portokasse zu bezahlen. Die neuen Aufgaben und
neuen Instrumente brauchen ausreichende, verlässliche
und mittelfristig steigende Finanzmittel. Meiner Auffassung nach lassen sich diese aus den äußerst begrenzten
Haushalten des Auswärtigen Amtes, des Ministeriums für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und der Innenministerien nicht mehr erwirtschaften. Die Größenordnung
dieses Finanzbedarfs - es geht um einige Dutzend Millionen DM - dürfte und sollte aber unseren Finanzminister
nicht abschrecken.
Wir Antragsteller sehen uns in der Pflicht, für den Kurs
der Bundesregierung zur Stärkung der zivilen Krisenprävention die unbedingt notwendige Basis zu schaffen.
Danke schön.
({6})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Ulrich Irmer
von der F.D.P.-Fraktion.
Sorry, Mrs. Zapf. I give my
speach in German. I hope you understand nevertheless. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rot-Grünen haben uns hier wieder einen wunderschönen Antrag
vorgelegt.
({0})
Schon rein sprachlich ist er ein absoluter Genuss, wenn ich
zum Beispiel lese: „humanitäre und gewalttätige Krisen“.
Ich wandle einen Spruch aus dem Film „Sein oder
Nichtsein“ von Ernst Lubitsch geringfügig ab: Was Sie
mit der deutschen Sprache machen, das machen die Russen mit Tschetschenien.
({1})
- Ich bin liberal; ich darf das.
Meine Damen und Herren, zur Sache: Zivile Krisenprävention, ziviler Friedensdienst - wir haben das vorhin
schon gehört - sind die letzten „leftovers“ des Koalitionsvertrages zur Bedienung der friedensbewegten rotgrünen Stammklientel.
({2})
Der vorliegende Antrag beeindruckt besonders durch
seine Leistung, die Organigramme des Auswärtigen Amtes und des BMZ mit ihren Aufzählungen fachlicher Zuständigkeiten zu einem literarischen Meisterwerk zu verdichten. Unter Prävention gewalttätiger Krisen versteht
der Antrag das Zusammenwirken verschiedener staatlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Akteure und
vermittelnder Kräfte zur Früherkennung und Behebung
von Krisensituationen.
Herr Kollege Irmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dr. Schuster?
Gerne.
Herr
Schuster, bitte schön.
Ich kann ja verstehen, dass Sie mit dem sprachlichen Duktus dieses Antrages nicht einverstanden sind. Aber halten Sie es in diesem
Hause für wirklich angemessen, einen Vergleich mit
Tschetschenien zu ziehen, wo Menschenrechte in einer
Form verletzt werden, die wirklich unerträglich ist?
Herr Kollege Schuster, ich habe
den Film „Sein oder Nichtsein“ zitiert. Ich spiele ihn Ihnen gerne vor. Das ist erlaubte Satire.
({0})
Zur Satire fordert Ihr Antrag nun weiß Gott heraus. Dazu
kann man nichts anderes sagen.
Was Sie hier aufzählen, ist nichts anderes als das, was
die klassische Diplomatie längst tut, nämlich das Zusammenführen aller möglichen Kräfte. Das ist Querschnittsaufgabe der Diplomatie als des klassischen Instruments
gewaltfreier Konfliktlösung. Was Sie hier unterstellen, ist,
dass ein Gegensatz zwischen der edlen zivilgesellschaftlichen Friedensinitiative, der moralisch eher fragwürdigen klassischen Diplomatie und der moralisch geradezu
verwerflichen Sicherheitspolitik besteht. Das finde ich
daran so bedenklich. Sie messen Ihren Dingen einen Edelmut bzw. eine moralische Herausgehobenheit über alles
andere zu, und in der Sache ist es ein Schmarren.
({1})
Allerdings wollen Sie ja nicht nur friedlich sein. Sie
wollen eine schnelle Einsatztruppe, die weltweit für Harmonie unter den Völkern sorgen soll. Wissen Sie, was Ihre
schnelle Eingreiftruppe ist? Das ist eine Art Heilsarmee
({2})
von Gutmenschen und Fernethikern, die, mit guten Ratschlägen bewaffnet, auf diversen Kontinenten zwischen
die Kampfhähne laufen und dort für Friede, Freude, Eierkuchen sorgen sollen.
({3})
Am deutschen Wesen soll die Welt genesen, das ist die rotgrüne Leitkultur.
({4})
Wissen Sie, wie das in der Praxis aussieht? Das können
Sie nächsten Donnerstag erleben. Nächsten Donnerstag
wird im Mitteldeutschen Rundfunk, der eine öffentlichrechtliche Anstalt ist, ein von unseren Gebühren finanziertes Feature über die Ex-RAF-Terroristin Silke MaierWitt gezeigt. Die macht nämlich zurzeit in der Krajina
ein Praktikum im Rahmen ihrer Ausbildung zur staatlich
alimentierten Friedensfachkraft. Ich halte das für einen
Skandal.
({5})
Wir sind ja schon gewöhnt, dass mehr oder weniger gefährliche schwarze Schafe der Vergangenheit einer besonderen Resozialisierung unterzogen werden. Bei Frau
Maier-Witt ist es jetzt die Krajina; auch am Kabinettstisch
gab es ja bereits einen Fall.
({6})
Insgesamt 17 Millionen DM stellt die Bundesregierung
in diesem Jahr für den zivilen Friedensdienst zur Verfügung. Sie bestreiten dann auch noch, dass hier ein krasser
Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft,
wenn man auf der anderen Seite die Kürzungen im deutschen Entwicklungsetat betrachtet. Wissen Sie, was das,
was Sie hier machen, ist? Sie schmieren weiße Salbe auf
die grüne Seele.
({7})
Zynisch ist auch Ihre Forderung in dem Antrag auf Erhöhung der Beiträge der Bundesrepublik Deutschland zu
den UNO-Organisationen des Wirtschafts- und Sozialbereichs. Dies verlangen Sie, aber was machen Sie in der
Praxis? Sie haben die freiwilligen Beiträge Deutschlands
zum Kinderhilfswerk UNICEF und zum Flüchtlingshilfswerk UNHCR um circa 10 Prozent gekürzt. Jetzt sind Sie
dran.
({8})
Was macht es denn auf unsere Partner für einen Eindruck,
wenn flächendeckend Botschaften geschlossen werden
und man dafür ein Heer von Friedensfachleuten in den
Busch schickt?
Sie verlangen den Einsatz deutscher Soldaten im Rahmen eines Stand-by-Abkommens. Haben Sie sich eigentlich einmal darüber Gedanken gemacht, dass Sie damit
die verfassungsrechtliche Lage völlig aushebeln? Der
Deutsche Bundestag ist der Einzige, der über Friedenseinsätze deutscher Soldaten zu entscheiden hat. Diese
kann man doch nicht dem Kommando irgendeines UNOBefehlshabers unterstellen. Die schnelle deutsche Einsatztruppe, die Sie fordern, ist eine feine Sache. Aber darüber, dass wir vielleicht im Sicherheitsrat der Vereinten
Nationen als ständiges Mitglied Verantwortung übernehmen dürfen, sagen Sie kein Wort.
Nun will ich Ihnen am Schluss noch eines draufsetzen.
({9})
Als ich Ihren Antrag gelesen habe, ist mir spontan eine
Geschichte von Heinrich Böll eingefallen. Wenn Sie diese
Geschichte gekannt hätten, hätten Sie Ihre Stiftung im
Zweifel nicht nach ihm benannt. Ich werde Ihnen einen
Teil dieser Geschichte erzählen, denn ich habe noch ein
wenig Zeit, und für gute Literatur muss immer Zeit sein.
Die Geschichte handelt von einem permanent gefeierten Weihnachtsfest. Dort ist von gläsernen Zwergen
die Rede, die in ihren hoch erhobenen Armen einen
Korkhammer hielten und zu deren Füßen glockenförmige
Ambosse hingen. Unter den Fußsohlen der Zwerge waren
Kerzen befestigt. Als ein gewisser Wärmegrad erreicht
war, geriet ein verborgener Mechanismus in Bewegung,
eine hektische Unruhe teilte sich den Zwergenarmen mit,
sie schlugen wie irr mit ihren Korkhämmern auf die
glockenförmigen Ambosse ein. Dann war dort der Engel,
der immer flüsterte: Frieden, Frieden.
({10})
Am Schluss heißt es: Als die Lampen gelöscht, die
Kerzen angezündet waren, als die - das ergänze jetzt ich:
rot-grünen - Zwerge anfingen zu hämmern, der Engel
„Frieden, Frieden“ flüsterte, fühlte ich mich lebhaft
zurückversetzt in eine Zeit, von der ich angenommen
hatte, sie sei vorbei. Liebe Rot-Grüne, herzlich willkommen im Jahre 1968.
({11})
Jetzt hat
der Kollege Carsten Hübner von der PDS-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich feststellen,
dass aus Sicht der PDS-Bundestagsfraktion die Förderung
ziviler Krisenprävention, des zivilen Konfliktmanagements und der Konfliktnachsorge das Gebot der Stunde,
die einzig adäquate Antwort auf eine Welt der Bürgerkriege und der militärischen Bedrohungsszenarien ist.
Hierzu habe ich eine gänzlich andere Einstellung als der
Kollege Irmer. Insoweit gehe ich mit dem Antrag der Koalitionsfraktionen durchaus mit.
({0})
Dennoch habe ich mich bei der Lektüre dieses Antrages
ernsthaft gefragt, was er eigentlich soll, welches Ziel er hat.
Ich habe mich gefragt, ob er eher so etwas wie das Pfeifen
im dunklen Walde ist, weil eigentlich nichts von dem, was
in diesem Antrag an Substanziellem enthalten ist, von der
Bundesregierung wirklich in Angriff genommen,
({1})
letztlich wohl nicht einmal wirklich ernst genommen
wird, obwohl es auf den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag fußt.
Ist der Antrag also eine stille Revolte gegen die real
existierende Außen- und Militärpolitik von Fischer,
Scharping und nicht zuletzt natürlich von Gerhard
Schröder? Oder ist er stattdessen eher so eine Art Nebelwand, die durchaus im Einverständnis mit der Außen- und
Militärpolitik der Bundesregierung gezogen werden soll,
um all das in Unkenntlichkeit zu hüllen, was dem Koalitionsvertrag, den Ankündigungen aus der Oppositionszeit
oder schlicht den offenkundigen tagespolitischen Notwendigkeiten widerspricht? Die Länge des Antrages - er
hat im Feststellungs- und Forderungsteil immerhin rund
50 Anstriche ({2})
und vor allem die Lobhudelei auf das, was die Bundesregierung bereits auf den Weg gebracht haben soll, könnten
für diese Variante sprechen.
Wie dem auch sei, liebe Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie mir anhand des Antrages an fünf Punkten zu
verdeutlichen, welches strukturelle und nicht zuletzt per
se politische Defizit bei dieser Bundesregierung in
der Frage ziviler Konfliktvorbeugung, -bearbeitung und
-nachsorge auszumachen ist:
Erstens. Da wird etwa im sechsten und siebten Anstrich
von Punkt 1 des Feststellungsteils und in Punkt 3 des Forderungsteils ausgedrückt, welchen wichtigen Anteil die
Entwicklungspolitik und ihre angemessene Finanzierung beim zivilen Handling von Konflikten hat,
({3})
gerade was die strukturellen und sozialen Bedingungen
betrifft. Das ist wahr. Nur, was ist denn mit dem BMZHaushalt?
({4})
Er sinkt und sinkt und sinkt. Das ist die Realität. Er liegt
nicht etwa, wie eigentlich international vereinbart, bei
0,7 Prozent, sondern bei rund 0,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und - so Leid es mir tut - unter Rosa-Grün
niedriger als unter Schwarz-Gelb.
({5})
Schöne Worte ändern daran nichts.
({6})
- Das hoffe ich sehr.
Zweitens. Im neunten Anstrich unter Punkt 1 wird hervorgehoben, mit der Aufnahme des BMZ in den Bundessicherheitsrat sei eine Weichenstellung hin zu einem erweiterten Sicherheitsbegriff vollzogen worden. Ich
möchte gern wissen, wo sich dieser erweiterte Sicherheitsbegriff eigentlich ausdrückt. In der Teilnahme der
Bundeswehr an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg? In der Umgestaltung der Bundeswehr zu einer global handlungsfähigen Interventionsarmee? Oder in der
Entsendung eines völlig unsinnigen militärischen Sanitätskontingents nach Osttimor, obwohl dort dringend
um zivile Hilfe, nämlich um das THW, gebeten worden
war? Mir ist deshalb bis heute völlig rätselhaft geblieben,
was sich eigentlich dank des BMZ am Sicherheitsbegriff,
an der Militärpolitik de facto geändert haben soll. Denn
als Selbstzweck überzeugt die Teilnahme am runden
Tisch der Sicherheit nicht.
({7})
Drittens nenne ich die Frage der Waffenlieferungen,
des Geschäfts mit dem Tod, einer Säule der ausufernden
Konflikte überall auf der Welt. So hat die rosa-grüne Bundesregierung 1999 Waffenexporte in Höhe von 5,92 Milliarden DM genehmigt, unter anderem in die Türkei und
in die Vereinigten Arabischen Emirate. Allein Handfeuerwaffen wurden in einer Größenordnung von 461 Millionen DM exportiert. Die Kindersoldatenproblematik
spreche ich bloß am Rande an. Lediglich 85 Anträge, insgesamt in Höhe von 10,2 Millionen DM, wurden abgelehnt.
Das Ganze ging 2000 ungebremst weiter, zum Beispiel
mit der Munitionsfabrik für die Türkei. Auch der Leo 2 ist
ja noch immer nicht endgültig vom Tisch. Der Punkt jedenfalls, in dem Sie in Ihrem Antrag auf die angeblich
menschenrechtsgeleitete restriktive Rüstungsexportpolitik verweisen, ist vor diesem Hintergrund wohl eher als
Irrläufer zu bezeichnen - oder als Trauerspiel, wie Sie
wollen.
Viertens. Mit Blick auf die Stärkung und Reform der
Vereinten Nationen heißt es bei Ihnen unter Punkt 4, vierter Anstrich, des Forderungsteils, Sie fordern die Bundesregierung dazu auf, „sich für effektivere, zielgenaue und
flexible nicht militärische Sanktionen einzusetzen“. Sehr
richtig! Aber wie wäre es denn, wenn sich die Bundesregierung zunächst einmal offensiv gegen die völlig inakzeptablen Sanktionen einsetzte, die zielgenau ganze Bevölkerungen an den Rand der Verelendung gedrängt
haben, wie etwa im Falle Kubas oder des Iraks, wo bereits
Hunderttausende Zivilisten ums Leben gekommen sind,
zumeist Kinder und alte Menschen, ohne dass am Stuhl
von Saddam Hussein auch nur ernsthaft gerüttelt worden
wäre?
({8})
Womit ich bei Punkt fünf wäre: Im Begründungsteil
haben Sie unter Punkt 4 formuliert, dass originär zivile
Aufgaben in Krisenregionen auch zivil und nicht durch
Soldaten wahrgenommen werden sollen. Aber fragen Sie
doch einmal Ihren Verteidigungsminister und seine militärischen Berater, ob sie das auch so sehen
({9})
oder ob sie sich diese Aufgabenfelder nicht geradezu als
Feigenblatt heranziehen. Die UN-Kommissarin für
Flüchtlinge, Ogata, hat vor einigen Monaten genau auf
diesen Umstand, auf die Militarisierung der humanitären
Hilfe, verwiesen, und zwar sehr kritisch.
Kommen
Sie bitte zum Schluss.
Jetzt mache ich „fast speaking“, okay?
({0})
Ich bin gleich am Ende.
Ein Satz zum Schluss. Sie schreiben im Forderungsteil,
Absatz 4, erster Anstrich, dass darauf zu achten sei, „dass
das Monopol der Vereinten Nationen zur Ermächtigung
von Einsätzen nach Kapitel VII der VN-Charta bewahrt“
bleiben soll. Nun wissen Sie, dass ich Kapitel-VIIEinsätze, dass ich Kampfeinsätze aus prinzipiellen Erwägungen ablehne. Aber ich kann mich durchaus in Ihre
Logik versetzen und frage mich - mit aufrichtigem Erstaunen -, wer wohl mit dieser Formulierung gemeint ist,
wer wohl davon abgehalten werden soll, sich statt der VN
Kompetenzen anzueignen, etwa nach Kapitel VII. Da fällt
mir mit Blick auf die letzten Jahre eigentlich nur die
NATO ein, besonders natürlich die USA und Großbritannien, aber nicht zuletzt auch die Bundesrepublik Deutschland. Mit fällt da vor allem der Kosovo-Krieg ein, bei dem
offenkundig planmäßig die UNO ausgeschaltet worden
ist. Ein solches Verfahren hier derart zu kritisieren und für
die Zukunft ausschließen zu wollen begrüße ich ausdrücklich; das möchte ich hier schon sagen.
Vielen Dank.
({1})
Als
nächste Rednerin hat Kollegin Dagmar Schmidt von der
SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Entwicklungspolitikerin frage ich mich: Was hat sich in der Welt verändert,
dass wir nach neuen Ansätzen im Umgang mit Krisen und
Konflikten suchen? Weshalb wollen wir den Begriff der
Krisenprävention einer Neubewertung unterziehen? Welche Folgerungen müssen wir in der Entwicklungspolitik
ziehen?
Mit dem Fall der Mauer ist das 20. Jahrhundert zu Ende
gegangen. Wir haben lernen müssen, dass an die Stelle der
waffenstarrenden Konfrontation von Allianzen und
Blöcken eine alles andere als friedliche Welt getreten ist.
Ohne Frieden ist nachhaltige Entwicklung aber schwierig,
wenn nicht sogar unmöglich.
Das 21. Jahrhundert darf kein Jahrhundert zunehmender sozialer Unterschiede werden. Die ärmsten Länder
und Regionen drohen mehr und mehr marginalisiert zu
werden. Armut, Umweltzerstörung, knappe Ressourcen,
zerfallende Staaten - das alles birgt viel Konfliktstoff und
beeinträchtigt das Recht auf Entwicklung.
Rot-grüne Regierungsverantwortung mit ihrem erweiterten Sicherheitsbegriff schließt die entwicklungspolitische Komponente ein. Die drei Kernbereiche der internationalen Beziehungen, Außen-, Verteidigungs- und
Entwicklungspolitik, bilden ein gleichschenkliges strategisches Dreieck. Wir in der Entwicklungspolitik gehen
natürlich davon aus, dass unser Ressort die Basis dieses
Dreiecks bildet, auf der die beiden anderen Schenkel aufbauen.
({0})
Sicher, Entwicklungspolitik verspricht nicht blühende
Landschaften überall, sofort und gleichzeitig, aber sie
stößt Prozesse an, die in vielfältiger Weise Beiträge zu eigenständiger Entwicklung leisten. Der zivile Friedensdienst kann nicht oft genug genannt werden. Auch der
Stabilitätspakt für Südosteuropa ist in unserem Ressort in
guten Händen.
({1})
Die Mitgliedschaft des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im
Bundessicherheitsrat und die Verankerung der Menschenrechtskriterien im Rahmen einer restriktiven Rüstungsexportpolitik gehören ebenfalls dazu.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie wissen, wir wollen eine weltweite Festlegung des Mindestalters für Soldaten auf 18 Jahre.
({2})
Wir wollen ein unabhängiges deutsches Menschenrechtsinstitut.
Auswärtiges Amt, BMZ und andere Ressorts wirken
im Sinne einer globalen Strukturpolitik zusammen,
um den neuen globalen Herausforderungen zu begegnen.
Das hat Herr Kollege Hedrich vor vier Jahren gesagt,
meine Damen und Herren von der Opposition, in Ihrer
Zeit recht vernünftige Erkenntnisse, aber eben nur Erkenntnisse. Heute wird es gemacht.
({3})
Globale Strukturpolitik, das ist rot-grüne Praxis. Globale Strukturpolitik, das ist die Grundlage dieses Antrags.
Was sind die Ziele und Maßstäbe einer Entwicklungspolitik, die sich in dieses Konzept des neuen Sicherheitsbegriffs einfügt? - Menschenrechte, Demokratie, Gleichberechtigung, Recht auf Entwicklung, Bekämpfung der
Armut und ökologische Nachhaltigkeit, das alles gehört
zusammen. Entwicklung hat viele Dimensionen.
({4})
Deshalb bedarf es eines integrierten Ansatzes, der Entwicklung als Querschnittsaufgabe begreift. Frieden
kann es nur geben, wo menschenwürdige Lebensbedingungen herrschen.
({5})
Zivile Kräfte zu stärken, das gehört seit Jahren zu den
Zielen sozialdemokratischer Entwicklungspolitik. Zivile
Kräfte bauen auf, wo militärische zerstören. Zivile Kräfte
sind unerlässlich für intakte demokratische Strukturen eines jeden Staates.
Es geht also um die Stärkung eigener Strukturen in den
von Konfliktszenarien bedrohten oder betroffenen Ländern. Es geht um den Abbau struktureller Konfliktursachen. Es geht schlicht um Entwicklung.
Vertrauensbildende Maßnahmen, Dialogprogramme
und Friedenserziehung, Versöhnungsarbeit und gesellschaftlicher Wiederaufbau - das sind aus entwicklungspolitischer Sicht entscheidende präventive Maßnahmen,
Maßnahmen der Friedenskonsolidierung.
Ist es nicht ökonomischer und vor allem menschlicher,
Konflikte im Vorfeld ohne den Einsatz militärischer Mittel zu entschärfen? Das Engagement der Bundesregierung
gibt eine klare Antwort, auch auf der internationalen
Ebene. Die Beschlüsse des Europäischen Rates von Helsinki und Santa Maria da Feira zeigen: Europa insgesamt
will die Stärkung der nicht miliärischen Krisenprävention. Die entwicklungspolitische Komponente muss daher
bei der Ausgestaltung der Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik unbedingt berücksichtigt werden.
({6})
Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi
Annan, hat im vergangenen Jahr zu einer Kultur der
Prävention aufgerufen. Das Problem ist also auf internationaler Ebene erkannt. Es geht jetzt um die Umsetzung
des als richtig Erkannten. Es bedarf eines leistungsfähigen
Frühwarnsystems, das es uns erlaubt, politische Maßnahmen krisenpräventiv auszurichten. Endlich wird es zudem
wieder staatliche Unterstützung für die Friedens- und
Konfliktforschung geben.
({7})
Sie dürfen mir glauben, dass mich das persönlich sehr
freut, weil ich dies in meiner allerersten Rede an der alten
Regierung moniert habe.
({8})
Entwicklungspolitik verfügt über das Instrument der
Evaluierung. Wir sind es gewohnt, die Mittel-Ziel-Relationen zu bestimmen und die eingesetzten Instrumente
ständig zu überprüfen.
({9})
Regionale Zusammenarbeit und Dialog - Wasser kann in
diesem Zusammenhang eine Quelle des Friedens sein sind entscheidend für die Kultur der Prävention, von der
der Generalsekretär gesprochen hat. Eine Kultur der
Prävention und der Konfliktvermeidung fängt beim Menschen an. An dieser Stelle möchte ich mich ausdrücklich
für das Engagement der Nichtregierungsorganisationen
und der Kirchen bedanken.
({10})
Auch die Wirtschaft kann, wenn sie verantwortlich
handelt, in vielen Regionen der Welt zu größerer Stabilität
beitragen. Noch vor wenigen Tagen hat unsere Ministerin
auf dem Petersberg in Erinnerung gerufen, woran sich unsere Politik orientiert. Sie hat die Friedenspolitik Willy
Dagmar Schmidt ({11})
Brandts zitiert, das Wort vom Frieden, der nicht alles, aber
ohne den alles nichts ist. Unsere Politik der zivilen Krisenprävention steht in der Kontinuität der Friedenspolitik
des Nobelpreisträgers Willy Brandt. Wir halten daran fest,
weil sie in ihrer damaligen Form zum Frieden in Europa
beigetragen hat. Wir sind uns sicher, dass sie in ihrer heutigen Gestalt ihren Beitrag zum Frieden in der Welt leistet.
Sie alle sind herzlich eingeladen, uns auf diesem Wege zu
begleiten.
Schönen Dank.
({12})
Nächster Redner ist
der Kollege Peter Weiß für die Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Eine Politik, die sich zum Ziel setzt, internationale
Gewaltursachen abzubauen, zivile Konfliktlösungen
zu unterstützen und die Rahmenbedingungen für einen selbsttragenden gerechten und stabilen Friedensprozess zu schaffen, kann nur erfolgreich sein, wenn
schrittweise die notwendigen Ressourcen bereitgestellt werden. Der Aufbau einer effektiven Infrastruktur und die Beseitigung struktureller Konfliktursachen benötigen nicht nur Zeit, sondern auch
Personal, Infrastruktureinrichtungen und Geld.
Das sind zwei der letzten Sätze in der Begründung des Antrags von Rot-Grün, über den wir hier diskutieren.
({0})
Er ist voll und ganz zu unterstreichen. Nur eines stimmt
nicht: Ihre Praxis.
({1})
Erstens. Sie von Rot-Grün schließen Botschaften,
Konsulate und Goethe-Institute. Sie kürzen die Mittel für
die deutschen Auslandsschulen und für die Wissenschaftskooperation. Sie kürzen den politischen Stiftungen
die Mittel, sodass sie ihre Auslandsbüros abbauen oder
personell ausdünnen müssen. Indem Sie diese verschiedenen Formen deutscher außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischer Präsenz und Fachkompetenz weltweit abbauen und ausdünnen, beschädigen Sie das
wichtigste, ja das zentrale Instrument ziviler Konfliktprävention und Konfliktbearbeitung, nämlich die nur über
konkrete Personen wahrnehmbare und auf langjährige Arbeit und auf Vertrauen begründete Vermittlung zwischen
möglichen Konfliktparteien. Auch Früherkennung von
und Frühwarnung vor möglichen Krisenherden ist nur
über persönliche Präsenz und Kenntnis vor Ort möglich.
Die von Rot-Grün zu verantwortende schwere Beschädigung der deutschen Möglichkeiten, wirklich etwas zur zivilen Krisenprävention und zur zivilen Konfliktregelung
beizutragen, wird eben nicht dadurch ausgeglichen, dass
Sie nun ankündigen, dann, wenn es einmal irgendwo
kracht oder zu krachen droht, schnell einen Zivilen Friedensdienst oder zivile Friedensfachkräfte, die wir ausgebildet haben, entsenden zu wollen; denn dann ist es bereits
zu spät.
({2})
Sie führen neue Instrumente ein. Die alten, bewährten Instrumente zerstören Sie.
({3})
Zweitens. Wie wissenschaftliche Untersuchungen belegen, ist Armut die tief sitzende Ursache für vielfältige
Konflikte in der Welt. Ohne aktive Armutsbekämpfung
sind alle anderen Maßnahmen der Krisenprävention vergebens. Deshalb ist die von Rot-Grün zu verantwortende
Kürzung der Mittel für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit eine Katastrophe für all diejenigen, die wirklich zivile Friedensprävention betreiben wollen.
({4})
Auch die so genannte Konzentration der deutschen Entwicklungszusammenarbeit auf weniger Länder erweist
sich als zusätzlicher Tiefschlag für die Armutsbekämpfung.
({5})
- Doch, Frau Kollegin; denn von den 48 am wenigsten
entwickelten Ländern der Welt werden 26 Staaten von
Rot-Grün schlichtweg vor die Tür gesetzt.
({6})
Von 40 hoch verschuldeten armen Ländern der Welt wird
vor 18 Staaten von Rot-Grün die Tür schlichtweg zugeschlagen. Wer bei den Kernaufgaben deutscher Entwicklungszusammenarbeit so versagt wie Rot-Grün, der
braucht gar nicht erst zu versuchen, mit eilig gestrickten
Reparaturinstrumenten noch hinterherzukommen.
({7})
Drittens. Sie tun in dem Antrag so, als sei zivile Krisenprävention eine Erfindung von Rot-Grün. Sie war
schon immer - und sollte es auch bleiben - wesentlicher
Inhalt und grundlegende Zielsetzung deutscher Außen-,
Sicherheits- und Entwicklungszusammenarbeit. Die in
der Entwicklungszusammenarbeit aktiven kirchlichen
Hilfswerke haben im vergangenen Jahr gemeinsam unter
dem Titel „Frieden muss von innen wachsen - Zivile Konfliktbearbeitung und Entwicklungszusammenarbeit“ einen Bericht über ihre Tätigkeit vorgestellt, aus dem deutlich hervorgeht, dass Krisenprävention gerade in der
nicht staatlichen Entwicklungszusammenarbeit seit
Jahren durchgängig Zielsetzung und Aufgabe ist. Zu
Recht stellen die kirchlichen Hilfswerke fest:
Frieden muss von innen kommen. Erfolgreiche Konfliktbearbeitung und nachhaltiger Friedensaufbau
Dagmar Schmidt ({8})
muss in erster Linie von der lokalen Bevölkerung getragen werden. Und deshalb ist Friedensförderung
nicht als gesonderter Arbeitsbereich der Entwicklungszusammenarbeit zu verstehen, sondern sie entsteht aus der Art und Weise, wie Hilfsmaßnahmen
durchgeführt werden.
Wer jedoch wie Rot-Grün die Kernaufgaben der Entwicklungszusammenarbeit vernachlässigt, der beschädigt
diese Friedensförderung und rettet nichts, wenn er zur Beseitigung seines schlechten Gewissens ein neues Wundermittel namens Ziviler Friedensdienst einführt.
({9})
- Der Zivile Friedensdienst ist sicherlich eine sinnvolle
Ergänzung der Entwicklungszusammenarbeit; dem
stimme ich gerne zu.
({10})
Sowohl die Friedensfachkräfte als auch der Zivile Friedensdienst sind sinnvolle Ergänzungen der Entwicklungszusammenarbeit. Es entsteht mit Ihnen aber nichts
Neues; denn wenn man sich das einmal genau anschaut,
sieht man: Über 90 Prozent der Projekte, die bislang aus
dem neuen Haushaltstitel des Bundesministeriums für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung für einen Zivilen Friedensdienst bedacht worden sind, hätten
ohne jeden Abstrich am Konzept auch durch die bisherigen entwicklungspolitischen Instrumente staatlicherseits
mit gefördert und mit finanziert werden können.
Viertens. Die kirchlichen Hilfswerke stellen in ihrer
Dokumentation „Frieden muss von innen wachsen“ weiter fest - ich zitiere -:
Konflikte entstehen aber heute - manchmal unbemerkt - in vielen anderen Sektoren der Arbeit: bei
der Organisation von Basisgesundheitsdiensten,
schon bei der Organisation von Grundbildung, beim
Zugang zur Grundbildung, bei der Frage der Finanzierung der Grundbildung, beim Zugang zum Trinkwasser, zum Wasser, zum Wald, zum Markt, zur Ausbildung. Alle natürlichen und sozialen Ressourcen
werden knapper, sind umkämpft.
Diese Feststellung zeigt, wie notwendig es ist, Investitionen in soziale Grunddienste zu verstärken.
Nun hat kürzlich die Arbeitsgruppe 20:20 des deutschen Nichtregierungsforums „Weltsozialgipfel“ belegt,
dass im Haushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ein dramatischer
Abbau der bilateralen Zusagen für soziale Grunddienste
stattfindet: von 18,9 Prozent im Jahr 1998 auf nunmehr
13,5 Prozent in der Planung für 2001. Grundbildung ist
für das Jahr 2001 nur noch mit 3,3 Prozent oder 80 Millionen DM ausgewiesen. Basisgesundheitsdienste kommen
gerade noch auf 2,1 Prozent oder 51,3 Millionen DM.
Angesichts dieser Tatsachen ist Folgendes festzustellen: Der Antrag von Rot-Grün beschwört vieles, was auch
wir unterstreichen können; Herr Kollege Schwalbe hat es
vorgetragen. Aber der Antrag muss einem schlichtweg als
der untaugliche Versuch von Rot-Grün erscheinen, das eigene schlechte Gewissen zu beruhigen.
({11})
Dieser Antrag ist kein Aufbruch zu neuen Ufern, sondern
Ausdruck schlechten Gewissens. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist mit der Bundesregierung einig, dass einer
Politik ziviler Krisenprävention und ziviler Konfliktregelung höchste Priorität beizumessen ist. Aber Ihr schlechtes Gewissen, meine Damen und Herren von Rot-Grün,
können nicht wir von der Opposition beruhigen. Das können nur Sie, indem Sie die Fehler Ihrer Politik schnellstens korrigieren.
Vielen Dank.
({12})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Staatsminister im Auswärtigen Amt,
Ludger Vollmer.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundesregierung knüpft ihre Politik der Krisenprävention an die schon von VN-Generalsekretär BoutrosGhali 1992 in der „Agenda for Peace, Development and
Democracy“ getroffene Feststellung an, dass Konflikte
zwar unvermeidlich und nötig seien, ihre Eskalation aber
sehr wohl vermeidbar sei. Obwohl die Politik seit Anfang
der 90er-Jahre dies erkannt hatte, standen bei Regierungsübernahme 1998 die Mittel für militärische und die
Mittel und Instrumente für nicht militärische, zivile Konfliktprävention in einem eklatanten Missverhältnis.
({0})
Als wir frisch in die Regierung gekommen sind und die
Kosovo-Verifikationsmission mit 80 Personen beschicken mussten, haben wir allergrößte Mühe gehabt,
diese Personen zusammenzutrommeln, weil von der alten
Regierung nicht die mindeste Vorkehrung getroffen war.
Daraus haben wir jetzt die Konsequenzen gezogen.
Heute, zehn Jahre nach Öffnung der Berliner Mauer
und dem Ende des Ost-West-Konfliktes, machen die steigende Zahl mit großer Brutalität und Härte ausgetragener
innerstaatlicher Konflikte und die im Zuge der Globalisierung gewachsenen Interdependenzen ökonomischer
und ökologischer, technologischer und medialer Art die
Förderung einer weltweiten Kultur der Prävention zum
vordringlichen Politikfeld. Ein ganzheitlicher Ansatz, die
Verzahnung der Außen- und Sicherheitspolitik mit Elementen der Entwicklungs-, Wirtschafts-, Finanz-, Umwelt- und Rechtspolitik, ist ebenso vonnöten wie eine
strukturelle, langfristig angelegte Krisenpräventionsstrategie und die Entwicklung geeigneter Instrumente. Dieser
Ansatz basiert auf einem erweiterten Sicherheitsbegriff
und schließt Rüstungskontrolle und Abrüstung ein. Der
Peter Weiß ({1})
Antrag der Koalitionsfraktionen betont zu Recht, dass
dieser Ansatz subsidiär, multilateral und multidimensional angelegt sein muss.
Unter Federführung des Auswärtigen Amtes wurde daher in diesem Jahr mit dem ressortübergreifenden Gesamtkonzept zur zivilen Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung eine politische
Gesamtstrategie der Bundesregierung ausgearbeitet und
verabschiedet. Im nationalen Bereich sind die hauptsächlich betroffenen Ministerien und die enge Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen die tragenden
Säulen dieses Konzeptes.
Entscheidendes hat sich seitdem verbessert: Das Auswärtige Amt hat im Juli 1999 ein Ausbildungszentrum für
ziviles Friedenspersonal geschaffen. Seitdem sind in 16
Kursen 280 Teilnehmer ausgebildet worden. Dies ist
keine weiße Salbe, verehrte Kolleginnen und Kollegen.
60 von ihnen sind mittlerweile in Langzeitmissionen der
VN und der OSZE tätig; 100 weitere sind in Kurzzeitmissionen eingesetzt. Diese Woche haben wir begonnen,
international auszubilden und unser Konzept auch anderen Ländern zur Verfügung zu stellen.
({2})
Der erreichte Umfang und der Erfolg dieses Programms legen nahe, dass über eine strukturelle Sicherung
auch in haushaltspolitischer Hinsicht entschieden werden
muss. Wir werden eine Verstetigung der Mittel und eine
institutionelle Förderung brauchen. Ich rechne wirklich
mit Ihrer Unterstützung. Wir brauchen sie spätestens im
Jahr 2002.
({3})
Parallel zu diesem Ansatz hat das BMZ die Zivilen
Friedensdienste als neues und zusätzliches Element der
Krisenprävention und Konfliktbearbeitung in enger Abstimmung mit NGOs und dem AA ins Leben gerufen. Das
ist keine Wunderwaffe, wie hier suggeriert worden ist,
sondern ein weiteres Element der Infrastruktur, die wir
ausbauen.
({4})
Aus dem Bereich des BMI und der Landesinnenbehörden haben sich Bundes- sowie auch Länderpolizeien in ihrer substanziellen Beteiligung an internationalen Missionen einen hervorragenden Ruf erworben. Hier werden im
Bereich des nicht militärischen Krisenmanagements der
EU wie auch der VN und der OSZE noch erhebliche weitere Anforderungen auf Deutschland zukommen. Ich
danke den Ländern ausdrücklich für ihr Engagement und
möchte sie herzlich bitten, damit fortzufahren.
({5})
Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch das Technische Hilfswerk, das, in regionale Konzepte integriert,
mit den anderen Institutionen zusammenarbeitet. Zu erwähnen sind auch die friedenserhaltenden Einsätze der
Bundeswehr.
Es geht auf die Initiative der Bundesregierung zurück,
dass heute in der NATO wie auch in der EU verstärkt über
die nicht militärischen Elemente der Außen- und Sicherheitspolitik nachgedacht wird.
({6})
Die prägnante deutsche Position im Kosovo-Konflikt, die
Forderung, wirklich alle Möglichkeiten einer zivilen und
präventiven Konfliktlösung auszuloten und den militärischen Einsatz nur als Ultima Ratio zu verwenden, wie
auch der deutsche Friedensplan, der letztlich zum Erfolg
führte, haben sowohl unser Ansehen bei unseren Partnern
gestärkt als auch auf internationaler Ebene einen nicht zu
unterschätzenden Politikwechsel herbeigeführt.
({7})
Seit der deutschen G-8-Präsidentschaft 1999 und auf
unsere Initiative hin ist Krisenprävention für die G 8 ein
zentrales Politikziel. Ich verweise hier beispielhaft auf
die Erklärung zur koreanischen Halbinsel und die
Kleinwaffeninitiative. Die EU - darauf wurde hingewiesen - hat sich zur Verbesserung ihrer außen- und sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit als erstes Planziel im
Rahmen der ESVP vorgenommen, bis zum Jahre 2003
bis zu 5 000 Polizisten für nicht militärische Auslandseinsätze zur Verfügung zu stellen. Auch dies trägt die
Handschrift der Bundesregierung.
Der OSZE kommt eine zentrale Bedeutung für Krisenprävention und Krisenmanagement in ihren Teilnehmerländern zu, wie der Antrag zu Recht betont. Die Sprachengesetze in Lettland und Estland sind ein wunderbares
Beispiel für die Entschärfung eines Konfliktes um die russische Minderheit. Wie auch viele andere verhütende
Tätigkeiten findet ein solches Beispiel kaum die Aufmerksamkeit der Medien; denn es knallt nicht, es gibt keinen Rauch.
({8})
Die bei der OSZE konsequenterweise beschlossene
Schaffung von zivilen Krisenreaktionskräften wird seit
Juli 2000 bereits schrittweise implementiert. Ziel ist der
Ausbau einer Personalreserve. Daher begrüßt die OSZE
nachhaltig und nachdrücklich unser deutsches Ausbildungsprogramm und empfiehlt es anderen Ländern zur
Teilnahme und Nachahmung.
Die Bundesregierung hat den Ausbau des Instrumentariums der Konfliktbearbeitung zur außenpolitischen Priorität erklärt. Für ein weltumspannendes System eignet
sich allerdings keiner so gut wie die VN, um diesen Ansatz durchzusetzen. Daher unterstützt Deutschland die
„peace building unit“ der VN und zahlt in den Treuhandfonds für „Preventive Action“, der die frühzeitige Evaluierung eines möglichen vorbeugenden VN-Engagements ermöglichen soll.
Der jüngste „Brahimi-Bericht“ bestätigt mit dem Ruf
nach „early warning“, „early action“ und „post conflict
peace building“ die Richtigkeit der politischen Forderungen der Bundesregierung.
Herr Staatsminister,
ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Ich komme zu meinem letzten Satz, Frau Präsidentin. - Deshalb wird die Bundesregierung ganz im Sinne
des vorliegenden Antrags die Bemühungen um dieses
Kernstück nicht militärischer Friedenspolitik unterstützen. Sie sieht sich dabei völlig einig mit der Politik des
Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Kofi Annan,
und der Hoffnung der Bürgerinnen und Bürger dieses
Landes auf eine friedlichere Welt.
Ich danke Ihnen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3862 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie an den Innenausschuss und an
den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 sowie Zusatzpunkt 4 auf:
15. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike
Flach, Cornelia Pieper, Birgit Homburger, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Zukunftsorientierte Energieforschung - Fusionsforschung
- Drucksache 14/3813 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Martin Mayer ({1}), Dr. Gerhard
Friedrich ({2}), Thomas Rachel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Kernfusionsforschung für eine zukünftige
Energieversorgung
- Drucksache 14/4498 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Ulrike Flach für die F.D.P.-Fraktion
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einem Zitat beginnen:
Das Projekt Wendelstein 7-X ist die bedeutendste
Experimentier-Einrichtung des europäischen Fusionsprogramms.
Dies sagte - das ist Ihnen wahrscheinlich besser bekannt
als mir - Bundeskanzler Schröder bei seinem Besuch am
7. Juli in Greifswald und fügte hinzu:
Die Bundesrepublik steht zu dem Großexperiment,
weil es Raum gibt für eine qualifizierte Grundlagenforschung.
Das BMBF beteiligt sich mit insgesamt 690 Millionen DM an Wendelstein 7-X. Liebe Kollegen, das gibt es
nicht sehr oft, aber ich kann Ihnen versichern, dass es von
Herzen kommt: Die F.D.P. stimmt dem Bundeskanzler
voll zu.
Wir brauchen diese zukunftsorientierte Grundlagenforschung im Energiebereich mehr als dringend. Der
weltweite Energiebedarf steigt an. Fossile Energieträger
sind endlich. Das wissen Sie genauso gut wie wir. Windund Solarenergie werden den wachsenden Bedarf nicht
decken können,
({0})
aus der Kernkraft jedoch steigen Sie aus. Kurz: Wir brauchen Optionen. Vor diesem Hintergrund ist die Kernfusion eine wichtige Option für eine zukunftsfähige, sichere
und umweltfreundliche Energieversorgung.
({1})
Bei Wendelstein 7-X soll die Kernfusion nach dem
Stellarator-Prinzip erprobt werden. Dieses Prinzip steht in
Konkurrenz zum so genannten Tokamak-Verfahren. Eines
dieser Prinzipien soll Grundlage für den geplanten Versuchsreaktor ITER sein. In Greifswald, Jülich, Karlsruhe und Garching laufen Forschungs- und Entwicklungsvorhaben, um in internationaler Kooperation einen
Versuchsreaktor zu bauen.
Um den Standort von ITER konkurriert Europa mit Japan, Russland und Kanada. Die Kanadier haben bereits im
Frühjahr 2000 ihr Interesse an einem Standort in ihrem
Land angemeldet; in Japan werden seit 1998 Standorterkundungen durchgeführt. Frankreich hat nun kürzlich
einen konkreten Standort, nämlich Cadarache, vorgeschlagen und wird diesen Vorschlag auf der EU-Forschungsministerkonferenz am 16. November durchzusetzen versuchen. Liebe Kollegen, als wir unseren Antrag
eingebracht haben, war die französische Entscheidung
noch nicht gefallen. Wir halten den Standort Cadarache
für geeignet. Uns geht es vor allem darum, ITER in Europa zu realisieren. Das möchte ich deutlich und klar sagen. Wir werden also unseren Antrag in den Ausschussberatungen entsprechend modifizieren.
Unsere Forderungen an die Bundesregierung sind
allerdings ebenso klar: Deutschland soll sich an der
Entwicklung von ITER beteiligen. Die Bundesregierung wird aufgefordert, die französische Bewerbung zu
unterstützen. Die F.D.P. lehnt entschieden die Versuche
von Bündnis 90/Die Grünen ab, aus der Fusionsforschung
auszusteigen, und setzt sich für einen ausreichenden Ansatz im BMBF-Haushalt ein.
({2})
Herr Fell, ich spreche Sie ganz konkret an, weil es ja
gerade die Grünen sind, die bei modernen Technologien
reflexartig zu Magenschmerzen neigen:
({3})
bei Kernenergie, Magnetschwebetechnik, Gentechnik
und nun auch bei der Fusionsforschung. In Ihrem Eckpunktepapier Energieforschung fordern Sie:
Die Bundesregierung sollte daher … offiziell den
Ausstieg aus dem Kernfusionsprojekt ITER erklären.
Für die Nuklearforschung sei nur noch der Erhalt der Mindestkompetenz zu berücksichtigen. Auch wenn Sie, Herr
Fell, Mindestkompetenz für ausreichend halten: Für eine
moderne, zukunftsfähige Energieversorgung ist uns das
entschieden zu wenig.
({4})
Das kanadische Interesse wird von der Regierung
Kanadas, von der Provinzregierung Ontarios, von den
Gewerkschaften und von einer Unternehmensgruppe unterstützt. Hier herrscht also ganz offensichtlich Gemeinsamkeit. Ich appelliere deshalb an die Bundesregierung,
dem zu folgen: Frau Bulmahn, machen Sie am 16. November den Weg für eine gemeinsame Bewerbung der Europäer um den Standort in Frankreich frei. Ich bin gespannt, was Sie gleich dazu sagen.
Spanien und Italien haben ihre Unterstützung bereits
signalisiert. Wenn Europa mit einer Stimme spricht, dann
haben wir gute Chancen, das Projekt zu realisieren. Es
geht hier nicht um Mindestkompetenz, sondern um Forschung zum Zwecke der Energieversorgung des 21. Jahrhunderts. Frau Bulmahn, packen Sie es an!
({5})
Das Wort hat die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard
Bulmahn.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Herren und Damen! Eine zukunftsorientierte Energieforschung muss sich an den Leitbildern und
an den Zielen orientieren, die auch für eine Energiepolitik
der Zukunft gelten. Die Bundesregierung hat dies mit
ihrem Schlussdokument zum Energiedialog 2000 im
Sommer überzeugend dargelegt.
({0})
Die Ziele unserer Energiepolitik lassen sich mit den
Begriffen Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit und
Umweltverträglichkeit zusammenfassen.
({1})
Mit dem Klimaschutzprogramm, mit der Ökosteuer, mit
dem 100 000-Dächer-Programm und vor allem mit dem
Einspeisungsgesetz für erneuerbare Energien haben wir
die Weichen bereits richtig gestellt.
({2})
Wir verringern mit diesen Maßnahmen, mit diesen Instrumenten den Energieverbrauch. Dies ist ein wichtiges
Ziel, das wir langfristig verfolgen. Mit den Mitteln für die
eingesparten Zinsausgaben aus den UMTS-Mitteln fördern wir zum Beispiel bis zum Jahre 2003 Wärmeschutzmaßnahmen bei Altbauten mit 1,2 Milliarden DM. Auf
diesem Gebiet gibt es noch einen erheblichen Nachholbedarf.
Wir als Gesetzgeber schaffen Rahmenbedingungen,
damit es sich für die Wirtschaft lohnt, auf die Ökologie zu
setzen. Ziel der Bundesregierung ist eine kostengünstige
und sichere Energieversorgung ohne Subventionen und
ohne Kernenergie.
({3})
Mit unserer Energieforschung unterstützen wir diese
Neuorientierung.
({4})
Wir konzentrieren uns auf die Entwicklung der Brennstoffzelle, auf die Solarforschung - dort gibt es noch erhebliches Entwicklungs- und Forschungspotenzial -, auf
die Entwicklung von Speichertechnologien, die ein wichtiges Instrument sind, um eine sichere Energieversorgung
zu gewährleisten, und auch auf kostengünstige Photovoltaikanlagen. Es darf nicht vergessen werden, dass die Informations- und Kommunikationstechnologien, zum Beispiel die Sensorik, neue Antriebstechnologien und neue
Materialien natürlich ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, um das Ziel einer ressourcenschonenden Energieversorgung zu erreichen.
Viele Diskussionen in unserem Land haben eines immer wieder deutlich gemacht: dass die Menschen in unserem Land eine Politik wollen, die sich konsequent
am Ziel der Zukunftsfähigkeit orientiert. Das heißt,
sie wollen eine Energieforschung, die eine klare Strategie
verfolgt. Auf den Punkt gebracht: Sie wollen eine
Energieforschung, deren Ziel es ist, Innovationen, die
wirtschaftlich und umweltverträglich sind und gleichzeitig Versorgungssicherheit gewährleisten, zu beschleunigen.
({5})
Mit unseren Programmen, die im Ausschuss diskutiert
werden - wir haben darüber geredet; ich gehe davon aus,
dass Sie sowohl ein Kurzzeit- als auch ein Langzeitgedächtnis haben -, haben wir diese Ziele in Angriff genommen.
({6})
Wir haben sowohl mit den Verkehrsforschungsprogrammen als auch mit dem Wohnforschungsprogramm zur
Entwicklung einer neuen Methodik und neuer Materialien
wichtige Weichenstellungen vorgenommen. Ich habe vorhin ebenfalls die anderen Bereiche genannt. Man kann
zum Beispiel keine optimale Energieverbrauchssteuerung
ohne Sensorik und ohne IuK-Technologien durchführen.
Deshalb wäre es kurzsichtig, wenn man diese notwendige Querschnittsbetrachtung nicht ins Auge fasste und
durchführte.
({7})
Diese Bundesregierung räumt dem Klimaschutz endlich Priorität ein. Wir werden die vereinbarten CO2-Reduktionsziele erreichen
({8})
und aufgrund des besonderen Engagements der Wirtschaft sogar übertreffen. Außerdem haben wir - das ist ein
wichtiger Schritt - endlich auch Chancengleichheit im
Wettbewerb der Energieträger hergestellt,
({9})
die es jahrelang nicht gab. Dahinter steht die Vision einer
hoch entwickelten Industrienation, die für Europa und
weltweit den Weg in eine postnukleare Wirtschaftsweise
weist. Das EEG hat eine Leuchtturmfunktion für andere
Industrieländer.
({10})
Unsere Energieforschung flankiert dies und setzt hier
auch einen Schwerpunkt. Forschung in diesem Bereich
zahlt sich nämlich heute und auch morgen unmittelbar
aus. Deswegen wäre es geradezu widersinnig, wenn man
hier Abstriche machte, um sich stärker auf eine Technologie zu konzentrieren, die Ergebnisse erst in 40, 50 oder
60 Jahren bringen wird, also nicht die Umweltprobleme
von heute oder morgen löst.
({11})
Denn der Klimawandel und die Energieprobleme warten
nicht 40, 50 oder 60 Jahre. Vielmehr entwickeln sie sich
jetzt, sie sind jetzt schon vorhanden. Deshalb müssen wir
eben auch Technologien haben, die bereits heute und morgen wirksam sind. Daher verfolgen wir eine Politik des
Energiemix, des Mix von Technologien
({12})
und wir verfolgen eine Strategie, die gleichzeitig Optionen offen hält.
({13})
- In der Fusionsforschung haben wir eine ganz klare
Position. Deswegen gibt es auch gar keinen Grund zur
Aufregung. Sie ist jedoch - bei allem Stolz auf das in der
Bundesrepublik Erreichte - von Nüchternheit gekennzeichnet. Das halte ich auch für notwendig.
Ich fasse in vier Punkten zusammen.
Erstens. Die Bundesregierung wird die Fusionsforschung auch in den kommenden Jahren auf einem angemessenen Niveau weiterführen. Für das Jahr 2001 sind
Programmförderungen in Höhe von 213 Millionen DM
vorgesehen, so wie wir das gerade vor zwei Tagen im Ausschuss diskutiert haben. Das brauchen wir, um die Aufgaben angemessen durchzuführen.
Zweitens. Die Bundesregierung steht zu dem Großexperiment Wendelstein 7-X des Max-Planck-Instituts für
Plasmaphysik in Greifswald, weil dies Raum gibt für
wichtige Grundlagenforschung.
Drittens. Ich zitiere:
Unter diesen Bedingungen können und wollen
Frankreich und Deutschland sich nicht als ITERStandorte bewerben.
({14})
- Das hat mein Amtsvorgänger Jürgen Rüttgers gemeinsam mit seinem französischen Kollegen vor ungefähr vier
Jahren, genau am 17. Juli 1996, in einer Presseerklärung
festgestellt. Die damalige Bundesregierung wurde
von CDU/CSU und F.D.P. getragen. Die jetzige Bundesregierung setzt in diesem Punkt - ich betone: in diesem
Punkt - die Politik ihrer Vorgängerin fort. Wenn also die
Opposition meinen sollte, hier sei eine Chance verpasst
worden, dann hätte sie dies in allererster Linie selbst zu
verantworten.
({15})
Viertens. Die Bundesregierung hält das ITER-Projekt
noch nicht für spruchreif. Deshalb bemühen wir uns in
dem Entscheidungsprozess um einen weitgehenden Einklang mit unseren europäischen Partnern. Wir sind uns
mit Frankreich einig, dass zunächst eine Reihe von Fragen geklärt werden muss, so zum Beispiel die Frage der
Chancen und Risiken der Fusionstechnik, die wissenschaftlich-technischen Fragen, die wir noch haben, wo
man beispielsweise in der Materialentwicklung und Materialforschung Schwerpunkte setzt, welche Schritte man
zuerst bzw. an zweiter oder dritter Stelle macht. Wir sind
uns auch darin einig, dass wir eine wirtschaftliche Betrachtung anstellen, dass die ökologischen Gesichtspunkte berücksichtigt werden und dass wir auch die Versorgungsunternehmen in die Verantwortung einbeziehen
müssen, bevor weitreichende Beschlüsse gefasst werden.
Dies ist die übereinstimmende Meinung von Frankreich
und Deutschland und von vielen Partnern in Europa.
Alle Forschungsminister sind sich ebenfalls einig, dass
Rahmenbedingungen wie Angebot und Nachfrage von
Energie, Preise und Umweltbelastungen einzubeziehen
sind. Über eine Großtechnik kann ohne Kenntnis der
Märkte und ohne Beteiligung der Industrie heute nicht
entschieden werden. Das ist unsere gemeinsame Position.
Was Sie, Frau Flach, gesagt haben, ist insofern nicht
richtig, als auf dem Forschungsministerrat kein Vorschlag
über einen Standort vorgebracht werden wird. Vielmehr
wird in Frankreich intern darüber diskutiert, ob und mit
welchen Standorten man sich bewerben soll. Wir sind uns
darüber einig, dass wir die Kommission bitten, genau
diese Fragen zu beantworten, bevor wir Entscheidungen
treffen. In der Politik ist nichts schlimmer, als wenn Entscheidungen ohne wirklich fundierte Kenntnisse aller relevanten Aspekte und Faktoren getroffen werden.
({16})
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Frage der Kollegin Flach? - Ich bitte aber
um eine kurze Fassung. Wir wissen alle: Der Demonstrationstermin steht bevor.
Ich bitte nur um Präzisierung.
Heißt das, dass sich Frankreich nicht weiter bewirbt?
Wenn es sich doch weiter bewirbt: in welchem Zeitraum,
Frau Bulmahn?
Frau Flach, dass heißt genau das, was ich
eben gesagt habe. Entscheidungen über ITER selbst und
über mögliche Standorte von ITER können erst dann
getroffen werden, wenn die Fragen, die ich Ihnen eben genannt habe, geklärt sind und wenn wir als Forschungsminister - ich hoffe, dass das Parlament genauso entscheidet - über alle relevanten Informationen und Fakten
verfügen. Erst dann kann man eine solide, begründete
Entscheidung treffen. Darin sind wir uns einig. Ich halte
das für ein logisches, rationales und nachvollziehbares
Vorgehen. Es wäre falsch, wenn wir erst die Entscheidungen treffen und hinterher die Fragen klären.
({0})
Angesichts dieser Aufgabe - damit lassen Sie mich
schließen - ist meine Begeisterung, offen gesagt, gering,
mich mit missglückten Versuchen parteipolitischen
Schaulaufens zu beschäftigen. Wir sollten uns der Sache
widmen.
({1})
Der nächste Redner ist
Kollege Dr. Martin Mayer von der CDU/CSU-Fraktion.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Energie ist Leben
und letztlich von großer Bedeutung für all das, was in der
Politik geschieht. Wir hatten heute schon zwei Debatten
- die Debatte zum Klimaschutz und die Debatte zu friedlichen Konfliktlösungen -, bei denen es im Wesentlichen
um die Energie ging. Wo Energie knapp wird, gibt es Konflikte. Was es für das Leben des Einzelnen bedeuten kann,
haben wir schon in den 70er-Jahren gespürt. Auch jetzt haben wir wieder eine Lektion gelernt. Beim Blick auf die
Heizkostenabrechnung wird uns mittlerweile schwindelig.
({0})
Die Frage der Energieversorgung ist eine der entscheidenden Zukunftsfragen. Die Statistik zeigt klar: Die
westlichen Industrienationen, Europa und die USA, verbrauchen pro Kopf ein Vielfaches der Energiemenge der
großen Nationen Indien, China und anderer Länder. Wenn
diese Länder - was wir alle hoffen - einmal unseren
Wohlstand erreicht haben werden, dann wird es einen
enormen Energiebedarf geben. Es entsteht eine riesige
Energielücke, die mit den herkömmlichen Mitteln allein
nicht geschlossen werden kann - zumindest nicht ohne
Kernenergie und eine neue alternative Energie.
({1})
Gleichzeitig ist absehbar, dass die fossilen Energieträger Öl, Gas und Kohle, die wir eigentlich künftigen Generationen als Rohstoffe erhalten sollten, zur Neige gehen. Deshalb ist die Energiefrage eine der größten
Herausforderungen unserer Zeit.
Da die Beiträge von Solarenergie, Wind, Wasser und
Biomasse sowie eine effizientere Energienutzung das
Energieproblem allein nicht lösen können, muss eine verantwortungsvolle Energiepolitik, -forschung und -vorsorge auch andere Energiequellen erkunden und erforschen. Eine der möglichen Optionen ist die kontrollierte
Kernfusion. Sie könnte die entscheidende Option für eine
nachhaltige, sichere und verträgliche Energieversorgung
ab der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts sein - bei der
Frage des Zeitpunktes stimme ich mit Ihnen überein, Frau
Ministerin Bulmahn.
Bei der Kernfusion wird der physikalische Vorgang des
Verschmelzens von Atomkernen, der in der Sonne natürlich abläuft, auf der Erde künstlich nachvollzogen und
technisch zur Energieerzeugung genutzt. Für diese Energiequelle wird weltweit seit vier Jahrzehnten intensive
Forschung betrieben. Dabei spielt Deutschland innerhalb
Europas eine führende Rolle. Zu nennen sind hier das
Max-Planck-Institut in Garching und in Greifswald sowie
die Forschungszentren Jülich und Karlsruhe. Die Europäer haben mit dem Fusionsreaktor JET - Joint European Torus - in Culham bei Oxford in Großbritannien
weltweit eine führende Rolle. Mit JET wurde bereits kurzzeitig eine Fusionsleistung von 16 Megawatt erreicht. Mit
diesem erfolgreichen Experiment haben die Europäer fast
den „break even“ erreicht, das heißt, die Fusion liefert
schon fast so viel Energie, wie man zum Ingangsetzen des
Prozesses braucht.
({2})
Zu diesem Erfolg beglückwünsche ich alle Beteiligten.
Ich möchte an dieser Stelle auch allen Wissenschaftlern
und Technikern aus Jülich, Karlsruhe, Greifswald und
natürlich auch aus Garching - meinem Heimatlandkreis ein sehr herzliches Wort des Dankes sagen.
({3})
Ein wichtiger Schritt, nämlich der Schritt zu einem
Energie erzeugenden Plasma, ist nun nicht mehr groß. Im
internationalen Fusionsreaktor ITER - Internationaler
Thermonuklearer Experimental-Reaktor - wollen die Europäer gemeinsam mit Kanada, Russland und Japan diesen Schritt gehen. Das Konzept für den ITER ist weitgehend fertig; nunmehr geht es um Fragen des Standortes,
der Rechtsform und der Finanzierung.
Sehr geehrte Frau Bundesministerin, nach dem, was
mir der Wind zuträgt, ist es wohl Ihre Absicht, die Prüfungen zu verzögern, um damit Ihren grünen Koalitionspartner zufrieden zu stellen.
({4})
Ich fordere Sie auf, alle diese Fragen einer zügigen Prüfung zu unterziehen.
({5})
Es gab Überlegungen, Greifswald als Standort für ITER
vorzuschlagen. Diese wurden aber bald wieder begraben.
Aufgrund der sektiererischen Stimmungsmache der Grünen und von Teilen der SPD gegen die Atomkraft im Allgemeinen wäre eine Bewerbung Deutschlands schon im
eigenen Land gescheitert.
({6})
Eine Chance für einen Standort in den neuen Bundesländern wurde damit durch die Stimmungsmache der Grünen
vertan. Ich halte das für schade, da mit ITER hoch qualifizierte, neue Arbeitsplätze in Greifswald hätten entstehen
können.
({7})
Mecklenburg-Vorpommern hätte auf diese Weise ein zukunftsweisendes Forschungs- und Entwicklungsprojekt
erhalten. Doch das ist Vergangenheit.
Nunmehr geht es um ein neues Projekt. Frau Ministerin Bulmahn, Sie haben vorhin eine Vereinbarung von
Frankreich mit der Bundesrepublik zitiert, die zur Amtszeit von Minister Rüttgers getroffen wurde. Sie haben dabei aber unterschlagen - das muss ich Ihnen vorwerfen -,
dass es sich bei ITER um ein neues Projekt handelt.
({8})
Es ist sowohl von den Kosten als auch von den Leistungen ein wesentlich reduziertes Projekt, aber es ist nach
wie vor ein Projekt, das die notwendigen Forderungen erfüllt. Es gibt inzwischen Überlegungen zur Standortbewerbung aus Japan, Kanada und - neuerdings - auch aus
Frankreich. Ein Standort in Frankreich wäre für ganz Europa eine einmalige Chance, die bisher erreichten Erfolge
weiterzuführen.
({9})
Ich habe gehofft und hoffe immer noch, dass die Bundesregierung das auch so sieht und die Bewerbung Frankreichs unterstützt. Ich gebe Ihnen insofern Recht, als man
vor einer endgültigen Entscheidung viele Fragen - nicht
zuletzt Rechtsfragen - prüfen muss.
({10})
Bei Ihnen aber hört sich das so an: Wir prüfen und prüfen
und prüfen. Dazu sage ich: Wenn sie nicht gestorben sind,
prüfen sie noch heute. Das ist eine reine Verzögerungstaktik.
({11})
Die Entwicklung der Fusionsenergien muss deshalb
vorangetrieben werden, weil sie gegenüber anderen Energieträgern eine Reihe von Vorteilen hat: Die Grundstoffe
sind in nahezu unbegrenzter Menge verfügbar. Bei der Fusion entstehen - im Gegensatz zur Verbrennung von
Kohle, Erdöl und Erdgas - keine Schadstoffe.
({12})
Dr. Martin Mayer ({13})
Bei dem Fusionsreaktor haben wir eine inhärente Sicherheit und wir haben - im Gegensatz zur Kernspaltung - keine abgebrannten Kernelemente.
({14})
Ich streite allerdings nicht ab, dass es auch bei der
Kernfusion Probleme gibt. Die Bauelemente würden nach
dem Abbau des Reaktors wahrscheinlich eine höhere Radioaktivität aufweisen als die eines Spaltungskraftwerks.
Aber das ist im Vergleich zu der radioaktiven Belastung,
die von abgebrannten Brennelementen heutiger Kernkraftwerke ausgeht, ein relativ geringes Problem. Ich
möchte auch nicht verschweigen, dass es bei der Fusionsforschung das Sonderproblem gibt, wie mit dem radioaktiven Wasserstoff umgegangen werden soll. Aber auch
das ist begrenzbar.
Die USA beschäftigen sich inzwischen mit vielen
Grundsatzfragen der Kernfusion, zum Beispiel mit der
Transmutation und mit der Trägheitsfusion. Sie haben
mittlerweile andere Schwerpunkte als die Europäer gesetzt. In den USA wird die Fusionsforschung wie auch die
gesamte Atomforschung auch unter militärischen Gesichtspunkten gesehen.
Außerdem beteiligen sich die USA kaum an Kooperationen und an strategisch bedeutsamen Projekten, wenn
sie nicht selbst die Führerschaft haben. Deshalb beteiligen
sich die USA nicht mehr an ITER. Aus der Sicht der USA
mag das zwar richtig sein. Aber, Herr Fell, es ist abwegig,
wenn die Grünen das Ausscheiden der USA aus ITER
nunmehr als Argument gegen dieses Projekt verwenden;
denn hinter dem Ausscheiden stecken ganz andere
Gründe, als Sie vermuten.
({15})
Eine der wichtigsten Fragen bei der Fusionsforschung
lautet: Wann wird es so weit sein? Ich teile die Auffassung
der Ministerin, dass es wohl noch ein halbes Jahrhundert
({16})
- 50 Jahre! - dauern wird. Umso wichtiger ist es, dass wir
bald anfangen und keine Zeit verstreichen lassen.
({17})
Die Einschätzungen sind mittlerweile wesentlich sicherer
geworden, weil es schon viele Erfahrungen und Fakten
gibt. Ich meine, dass wir letztlich mit der Fusionsforschung einen wichtigen Beitrag zur künftigen Energieversorgung leisten können.
({18})
Die grüne Polemik gegen die Atomkraft hat übrigens
auch dazu geführt, dass sich in Deutschland kaum noch jemand mit der Kernkraft und der Ingenieurwissenschaft
befasst.
({19})
Der Kanzler wird wohl bald eine neue Green-Card-Initiative für Kernenergieingenieure ankündigen müssen. Wir
sollten besser jetzt Zeichen setzen.
({20})
Die Erforschung und Entwicklung der Kernfusion zum
Zweck der Energieerzeugung sind eine große Herausforderung, für die wir gerade junge Menschen begeistern
sollten. Die Kernfusion ist zwar keine Technik, die heute
oder morgen Nutzen bringt. Aber sie ist sehr wahrscheinlich die Technik, die es unseren Enkelkindern ermöglichen wird, genauso gut wie wir zu leben. Ich rufe daher
die Regierung auf
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
- nur
noch einen Satz -, die kurzfristige Strategie, die nur auf
die Tagespolitik abzielt, aufzugeben und auf das Zukunftsprojekt ITER zu setzen. Geben Sie der Kernfusion in
Deutschland den notwendigen Rückhalt und kämpfen Sie
dafür, dass Europa der Standort für das ITER-Projekt
wird!
({0})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege HansJosef Fell.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mich hat heute ein Zitat - Herr Mayer, hören Sie gut
zu! - sehr erstaunt, das ich Ihnen jetzt vortragen möchte:
Aus prinzipiellen physikalischen Gründen sind in der
Fusion keine Unfälle wie beim Kernspaltungsreaktor
in Tschernobyl mit katastrophalen Folgen denkbar.
({0})
Ich denke, Sie würden dieses Zitat sicherlich als grüne Polemik bezeichnen; denn es wird behauptet, dass Kernspaltung katastrophale Folgen habe. Wissen Sie, woher
ich das Zitat habe? Es stammt aus Ihrem der heutigen Debatte zugrunde liegenden Antrag. Ich begrüße es, dass Sie
zu der Erkenntnis gekommen sind, dass die Kernspaltung ein katastrophal schlimmes Problem darstellt.
({1})
- Lesen Sie es doch in Ihrem Antrag nach.
Auch Sie, Frau Flach, wollen den Grünen - das ist der
Grundgedanke - schon wieder Technikfeindlichkeit unterstellen.
({2})
Dr. Martin Mayer ({3})
Wir sind schon lange nicht mehr technikfeindlich. Auch
Sie erkennen allmählich, dass die Techniken, die nach unserer Meinung schon immer verstärkt auf den Markt gebracht werden sollten, wichtig sind. Das sind die Techniken, mit denen sich die erneuerbaren Energien nutzen
lassen, die so genannten Effizienztechnologien. Sie aber
haben 16 Jahre lang in der Bundesrepublik diese Technologien ganz massiv blockiert.
({4})
Jetzt kommen Sie angesichts der knapper werdenden Ölvorräte darauf, dass die erneuerbaren Energien - aus Ihrer
Sicht: möglicherweise - eine Ergänzung sein könnten. Sie
können aber in einem weitaus größeren Umfang die
Energielücke, von der Sie immer sprechen, schließen. Wir
brauchen nicht mehr die Energie aus fossilen Brennstoffen und schon gar nicht die aus Fusions- und Kerntechnologie gewonnene Energie.
({5})
Ich möchte auf diesen Punkt etwas näher eingehen: Die
Fusionstechnologie ist nämlich keine Zukunftsoption,
wie Sie sagen. Wir haben schon jetzt ein Klimaproblem
und auch ein Energieproblem. Mittelfristig werden auch
die zur Neige gehenden Ressourcen ein Energieproblem
darstellen.
({6})
Für uns muss die Frage wichtig sein, wann die Kernfusion überhaupt zur Verfügung steht. Vor 40 Jahren sagten
uns die Fusionsforscher, in 30 bis 40 Jahren werde die Fusion zur Verfügung stehen. Heute sagen die Kernfusionsforscher:
({7})
Vielleicht in 50 Jahren werden wir einen kommerziell betriebenen Reaktor haben. Ich sage in aller Deutlichkeit:
Dies ist keine Lösung, die zeitnah angestrebt werden
kann. Sie kommt für die drängenden Energieprobleme
dieser Welt zu spät
({8})
und sie blockiert die Gelder, die notwendig sind, um die
wirklichen Alternativen voranzubringen.
({9})
- Herr Fischer, die Sintflut haben wir schon jetzt. Schauen
Sie nach England und auf andere Teile Europas, wo die
Regenfälle als Sintflut infolge des Klimaproblems massiv
über uns hereinbrechen. Diese vorhandene Sintflut hat
sich aufgrund der Nutzung der fossilen Energieträger und
des Ignorierens der Klimaprobleme immer mehr verstärkt.
({10})
Herr Mayer, Sie sagten, wir sollten einmal über den
Tellerrand hinaus nach den USA schauen.
({11})
Ich will Ihnen anhand der Debatte in den USA einige
Punkte deutlich machen. Sie könnten auch Ihre Kollegen
fragen. Herr Friedrich, Frau Flach und Frau Pieper - sie
ist nicht mehr anwesend - waren mit dem Forschungsausschuss im letzten Herbst in den USA. Wir haben uns
dort über das Thema Fusion sachkundig gemacht. Wir
hatten ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des Forschungsausschusses, Herrn Sensenbrener, einem Republikaner. Wir haben ihn gefragt, was er von ITER hält. Er
hat uns in deutlichen Worten gesagt: ITER ist ein Kind des
Kalten Krieges und sollte so schnell wie der Kalte Krieg
selbst verschwinden.
({12})
Die USA haben sich längst aus der Technologie verabschiedet, die Sie hier fordern. Es kommt immer das Argument, die USA wollten weiterhin Forschung im Bereich
der Fusion betreiben. Die USA, so heißt es, wollen weiterhin in der Laserfusionsforschung vorankommen und
die Fusionstechnologie vorantreiben. Ich kann Ihnen sagen, was der Senat kürzlich bei den Haushaltsberatungen
beschlossen hat. Die Zweifel des Senats in Bezug auf NIF,
das große Laserfusionsexperiment in Lawrence Livermore, für das bis 2008 4 Milliarden US-Dollar investiert
werden sollten, sind inzwischen so groß geworden, dass
er vor kurzem die im Haushalt bereitgestellten 95 Millionen US-Dollar Fusionsforschungsmittel blockiert hat. Er
hat dies aus der Erkenntnis heraus getan, dass es noch zu
viele offene Fragen gibt und dass die Laserfusionstechnologie keine sinnvolle Perspektive hat.
Die Zweifel in den USA sind groß. Ich rate Ihnen dringend: Beachten Sie die Ergebnisse aus den USA! Wir
werden dies tun. Wir werden keinerlei Schnellschüsse
machen und schon jetzt einen ITER-Standort für Deutschland festlegen.
({13})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir hatten per Blickkontakt vereinbart,
dass keine Fragen mehr zugelassen werden sollen. Die
Großdemonstration, die ein außergewöhnliches gesellschaftliches Ereignis ist, beginnt um 16.30 Uhr. Ich denke
daher, dass wir die Debatte jetzt zu Ende führen sollten. Herr Kollege, auch Sie müssten bitte zum Schluss kommen.
Dann komme ich zu meinem letzten Satz: Wir sind nicht
gegen die Fusionsenergie. Wir wollen den Fusionsreaktor
der Sonne massiv nutzen. Die Energien, die sie auf die
Erde strahlt, reichen dicke aus. Wir brauchen auf der Erde
kein Nachahmen dieser Fusionsenergie.
({0})
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dem Antrag
der CDU/CSU und in dem der F.D.P. werden keine Argumente für die Entwicklung und den Bau des Internationalen Thermonuklearen Experimentierreaktors ITER geliefert. Eine Weiterführung der Fusionsforschung wird durch
Aufzählung energiepolitischer Allgemeinplätze beschworen. In Form von Spiegelstrichen wird unter anderem genannt - ich zitiere -: „Energieversorgungssicherheit“,
„Erhaltung einer lebenswerten Umwelt“, „Erhaltung eines angemessenen Energie-Preis-Niveaus“ und die „Verringerung der ... energiebedingten Spannungspotenziale
angesichts der absehbaren Verknappung von Energieressourcen“. - Das ist die eine Seite. Es ist klar, das ist ein
Problem; da stimmen wir alle überein.
Auf der anderen Seite sollen die sich langfristig abzeichnenden „Herausforderungen des Weltenergieverbrauchs und der Entwicklung in der Dritten Welt“ mit einem „Ausbau der Nutzung erneuerbarer Energien“ und
mit der „Weiterführung der Fusionsforschung“ beantwortet werden.
Das in den Anträgen von F.D.P. und CDU/CSU skizzierte Langfristszenario ist unserer Meinung nach falsch.
In diesen Anträgen wird ein entscheidender Schritt ausgelassen, nämlich der, dass am Anfang aller langfristigen
Überlegungen der Gedanke des Umbaus aller wirtschaftlichen Vorgänge hin zu einer Ressourcen schonenden
Produktion und Verteilung stehen muss. Dieser Schritt
ist unabdingbar und der wichtigste von allen daraus folgenden.
Denn auf ein Business-as-usual-Szenario mit unreguliertem Wachstum der Weltenergieverbräuche gibt es nach
allem, was wir heute im Hinblick auf die begleitenden
stofflichen Folgen des Anwachsens von Energieverbräuchen abschätzen können, schlicht keine Antwort. Darüber
diskutieren wir auch in der Enquete-Kommission „Energie“. Dabei sind Klimaveränderungen durch die Verfeuerung von Kohlenwasserstoffen nur ein Problem unter anderen.
Sie erhoffen sich von Kernfusionsreaktoren unerschöpfliche Energien. Optimisten rechnen frühestens in 30 Jahren
mit der Fertigstellung eines Prototyps eines leistungsstarken Fusionsreaktors. Ein nennenswerter Beitrag zur
Stromerzeugung dürfte danach allerfrühestens in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts möglich sein.
({0})
- Doch, natürlich tun wir das. Ich bin ja Mitglied der
entsprechenden Enquete-Kommission. Wir diskutieren
darüber.
Nun stellen Sie sich einmal nur für einen kurzen Moment das Fortbestehen der heutigen Produktion in der
zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts in seiner globalen Dimension vor: Die Reichtumsschere zwischen den Industrienationen und der heutigen so genannten Dritten Welt
würde so extreme Ausmaße angenommen haben, dass bei
der Lösung von Energiefragen an gemeinsame Strategien
überhaupt nicht mehr zu denken wäre.
Nach heutigen Kenntnissen können allein die regenerativen Energien Sonne, Wind, Geothermie, etwas Wasserkraft und Biomasse die Basis einer gemeinsamen weltweiten Energieerzeugung abgeben. Für den erfolgreichen
Ausbau dieser Technologien werden allenfalls lokale und
regionale Netze benötigt und keine Stromtrassen kontinentalen Ausmaßes. Das heißt, wir wollen dezentrale
Energien.
Wir lehnen - leider ist meine Redezeit fast abgelaufen;
ich kann das nicht mehr genauer ausführen - die Fortsetzung der Fusionsforschung auf dem bestehenden Niveau
ab. Weder sollte sich die Bundesregierung weiterhin
am ITER-Projekt beteiligen noch seine Errichtung in
Deutschland anstreben.
Danke.
({1})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Ulrich Kasparick für die SPDFraktion.
Verehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Flach, ich beziehe
mich auf die Begründung Ihres Antrages. Sie haben festgestellt, die Fusionsenergie sei eine zentrale Option zur
Energieversorgung des 21. Jahrhunderts. Als ich diese Begründung hörte, dachte ich an den schönen Spruch: Wenn
die Katze ein Pferd wäre, dann könnte man die Bäume
hinaufreiten.
({0})
Denn jeder, der etwas von der Materie versteht, weiß: Im
Hinblick auf die Energieversorgung ist diese Option die
teuerste und die ineffektivste Lösung überhaupt.
({1})
Deshalb hat diese Regierung, die Ihre Regierung abgelöst
hat, in der Koalitionsvereinbarung eine kleine Sensation
festgelegt. Diese kleine Sensation wird meist überlesen.
In unserem Koalitionsvertrag steht: Diese Regierung
räumt der Effizienzsteigerung Vorrang vor neuen Energiegewinnungstechniken ein.
({2})
In diese Richtung gehen wir. Diese Regierung sorgt
dafür, dass wir das Geld intelligenter ausgeben, dass wir
mit den erheblichen Mitteln, die der ITER kosten würde,
vor allen Dingen auf dem Arbeitsmarkt erhebliche Effekte
erzielen können. Deswegen ist die Linie der Regierung
völlig richtig.
Wir sagen, wir machen mit der Grundlagenforschung
bei der Kernfusion genauso wie in der Physik und der Mathematik weiter. Aber als Energieerzeugungs- und -versorgungsoption ist diese zu teuer und zu ineffektiv, weshalb die Franzosen und die Deutschen zusammen die
Kommission bitten werden, diesen Sachverhalt noch einmal sehr genau zu prüfen. Auch der Kanzler hat in Greifswald noch einmal darauf aufmerksam gemacht, dass die
Option neu zu prüfen und zu bewerten sei. Genau dies
muss jetzt erfolgen.
Ich möchte Ihnen noch eine Zahl mitgeben. In der Vorgängerregierung wurde der Wirtschaftsminister von der
F.D.P. gestellt. Es gibt ein Gutachten des Wirtschaftsministeriums von 1997. Darin steht, dass nach den vorliegenden Untersuchungen die unausgenutzten Potenziale
zur rationellen Energiewandlung und zum Einsatz erneuerbaren Energien aus Sicht der Technik schon heute
ausreichend sind, um die Energieversorgung Deutschlands sicherzustellen.
({3})
Das bedeutet, dass wir die Option Fusionsenergie zur Energieversorgung überhaupt nicht benötigen.
({4})
Die jetzigen unausgenutzten Potenziale genügen, um
die Energieversorgung sicherzustellen. Allein die stärkere
Nutzung der rationellen Energiewandlung bringt uns
50 bis 60 Prozent des gegenwärtigen Endenergieverbrauchs. In diese Richtung muss der Weg gehen.
Wir haben in den eigenen Reihen führende Politiker,
die die Energiedebatte weit vorangebracht haben. Ich erinnere an Ernst Ulrich von Weizsäcker mit dem Buch
„Faktor 4“. Das Stichwort heißt „Effizienzsteigerung“,
denn dadurch gibt es neue Jobs.
Letzter Punkt: Neue Energietechnologien müssen sich
auf den internationalen Märkten behaupten. Gerade dann,
wenn man eine Technologie entwickeln möchte, die auch
in der Dritten Welt angewendet werden kann, sieht man
schon allein bei einem Blick auf die Kosten, dass der
ITER diese auf keinen Fall sein kann.
({5})
Wir brauchen vielmehr kleine, preiswerte Lösungen.
Diese liegen im Bereich der Energiespartechnologien.
Diesen Weg haben wir beschritten und den werden wir
weiter gehen. Das Energieforschungsprogramm der
neuen Bundesregierung geht genau in diese Richtung.
Hierfür hat die Regierung die volle Unterstützung des
Parlaments.
Schönen Dank.
({6})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/3813 und 14/4498 an die in
der Tagesordnung ausgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, die Mitglieder des Bundestages werden geschlossen an der heutigen Großdemonstration zum Thema „Wir stehen auf für
Menschlichkeit und Toleranz“ teilnehmen. Deshalb sind
wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Dies war
interfraktionell vereinbart worden.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 10. November, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.