Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/9/2000

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Jürgen Trittin (Minister:in)

Politiker ID: 11003246

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wieder einmal schrecken uns Berichte von Überschwemmungen, von Erdrutschen und von Sturmkatastrophen auf, sei es im Aostatal oder - erinnert sei an die jüngsten Hochwasser - in Yorkshire. Auch in Europa, so die Anmerkungen von Experten, zeigen sich die Auswirkungen des Klimawandels. Der neue Berichtsentwurf des zwischenstaatlichen Expertengremiums für Klimafragen der Vereinten Nationen lässt keinen Zweifel mehr: Es ist von einer beschleunigten Erderwärmung auszugehen. Doch während sich Unwetter und Katastrophen häufen, die Schadenslisten länger werden, insbesondere auch und gerade in den besonders verwundbaren Entwicklungsländern, setzt sich fast überall auf der Welt der Trend zu steigenden Emissionen fort. Wenn es ein Gebot gibt, dann lautet es schlicht: Die Zeit ist überfällig; wir müssen endlich Konsequenzen aus diesen Warnsignalen ziehen; der Klimawechsel muss gebremst werden. Das Protokoll von Kioto war dafür ein Meilenstein. Zum ersten Mal haben sich die Industrienationen gemeinsam verbindlich zu absoluten Reduktionen ihrer Treibhausgasemissionen verpflichtet. Es war ein Durchbruch auf dem Weg zu einer neuen Energiepolitik, zu einer Industriegesellschaft, in der der Verbrauch fossiler Brennstoffe tatsächlich zurückgeführt wird. Seitdem geht es darum, Kioto mit Leben zu füllen, das Protokoll ratifizierbar zu machen und in Kraft treten zu lassen. Doch es scheint, als wollten sich gerade jetzt viele der großen Industriestaaten vor verantwortlichem Handeln drücken. Lassen Sie es mich offen aussprechen: Mit der bevorstehenden Konferenz in Den Haag erreicht der Klimaprozess eine kritische Phase. Auf dem Spiel steht nicht nur die Integrität des Protokolls, sondern auch die Glaubwürdigkeit eines großen internationalen Klimaprozesses, eines Prozesses, der über 20 Jahre langsame, aber stetige Fortschritte gemacht hat. Dieses treibende Moment des Klimaprozesses ist gefährdet. Von einigen Seiten droht faktisch eine Rückverhandlung des Kioto-Protokolls, bevor es überhaupt in Kraft getreten ist. Wir müssen verhindern, dass sich in den kommenden zwei Wochen in Den Haag diejenigen Kräfte durchsetzen, die die Verhandlungen dazu nutzen wollen, um Hintertüren und Schlupflöcher zu öffnen, die die Präsident Wolfgang Thierse klaren Verpflichtungen des Protokolls zu Appellen und Konferenzlyrik zurückdrehen wollen. ({0}) Ich weiß, die Positionen in den zentralen Fragen liegen noch weit auseinander. Es wird außerordentlich schwierig werden, umweltpolitisch tragfähige Brücken zu schlagen. Wir brauchen, wie Sie wissen, zum Schluss die Einstimmigkeit von circa 180 souveränen Staaten. Ich habe mich seit Anbeginn meiner Amtstätigkeit dafür eingesetzt, gerade die Umweltintegrität des Protokolls zu wahren. Diese ist an mehreren wirklich neuralgischen Punkten gefährdet. Lassen Sie mich das an drei konkreten Beispielen beleuchten: Erstes Problem: Die Anrechnung von so genannten Senken auf die Reduktionsverpflichtung. Wenn Sie Äcker flacher pflügen, wenn Sie Brandschutzkorridore in Wäldern oder Windschutzhecken gegen Bodenerosionen anlegen, dann kann dies unter bestimmten Annahmen zu erheblichen Einbindungen von Kohlendioxid aus der Atmosphäre führen. Das kann in vielen großen Staaten, etwa in den USA oder in Kanada, so viel sein, dass diese ihre Emissionen aus Industrie, Verkehr und allen anderen Sektoren zusammen noch einmal erheblich steigern könnten, anstatt sie zu reduzieren. Dennoch hätten sie, würde man diese Senken anrechnen, ihr Protokollziel erfüllt. Die Anrechnung von Senken hat aber gleich mehrere Haken. Erstens hätten wir die Senken großenteils ohnehin; denn, „gedüngt“ durch die vielen Kohlendioxidemissionen, wächst gerade auf der Nordhalbkugel die Vegetation derzeit stark an. Zweitens ist schon jetzt absehbar, dass sich die Senkenspeicher in wenigen Jahren wieder entleeren werden. Ich erinnere nur an die diesjährigen Waldbrände in den USA. Dabei ist in einem Sommer eine Fläche abgebrannt, die ungefähr der Fläche von Baden-Württemberg entspricht. Drittens frage ich mich: Wie viele Emissionsgutschriften wollen Sie eigentlich jemandem dafür geben, dass er durch das Anlegen eines Brandschutzkorridors seinen Wald jetzt nicht mehr abbrennen lässt? Emissionsgutschriften womöglich für den gesamten Wald, da dieser ja komplett hätte abbrennen können? Ist dies nicht vielmehr eine Regelung, von der nun gerade und ausschließlich diejenigen profitieren, die bisher besonders rücksichtslos gewirtschaftet haben? Meine Antwort ist knapp: Senken können das Klimaschutzproblem nicht lösen. Sie drohen vielmehr selber zu tickenden Kohlenstoffbomben zu werden. Jede zweifelhafte Senkenaktivität bindet Ressourcen, die dann für Maßnahmen echter Emissionsminderungen fehlen. ({1}) Wir haben uns deshalb mit den europäischen Kollegen auf die Linie verständigt, dass diese Art der Senkenaktivitäten, das heißt, Senkenaktivitäten, die über die Aufforstung in Annex-1-Staaten hinaus gehen, bis auf weiteres nicht angerechnet werden sollten. Frühestens ab der zweiten Verpflichtungsperiode kann man über jenes reden. Dann hat man auch ein paar methodologische Fragen geklärt. Das zweite Problem ist der Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung, eine Idee zur Förderung der nachhaltigen Entwicklung in Entwicklungsländern. Ein Beispiel: Ein Industrieland baut ein Solarkraftwerk in Afrika. Das spart dort Emissionen, die das Industrieland schließlich mehr emittieren darf. Dieser Ansatz ist nachdrücklich zu unterstützen, gerade weil er das Interesse der Entwicklungsländer an einer Entwicklung und am Transfer von Technologie hin zu einer sauberen Entwicklung begünstigt. Unter diesen Mechanismus kann man natürlich auch andere Dinge als das erwähnte Solarkraftwerk fassen. Vorschläge gibt es zuhauf: konventionelle Kohlekraftwerke, Atommeiler, Riesenstaudämme. Damit kann dieses Instrument auch für Technologien gebraucht und - ich sage - missbraucht werden, die in den Industrieländern selber längst Ladenhüter sind und dort nicht mehr akzeptiert werden. Konventionelle Kohlekraftwerke in China sind doch das Problem und nicht die Lösung des Problems. ({2}) Atomkraftwerke in Indien, importiert von Japan unter dem Gütesiegel der umweltverträglichen Entwicklung und jenseits aller Regelungen über die Nichtweiterverbreitung und Proliferation von nuklearen Waren - soll das etwa die versprochene Nachhaltigkeit im Klimaschutz sein? Es wäre absurd, wenn dieser vorgeblich umweltverträgliche Mechanismus Anreiz dafür böte, dass die Entwicklungsländer noch einmal all die Fehler durchlaufen, die wir in den Industrieländern gemacht haben, etwa in eine Technologie einzusteigen, deren Müllproblem noch in keinem Industrieland gelöst wurde. Ich sage Ihnen mit Nachdruck: Das wollen wir nicht, jetzt nicht und in Zukunft nicht. ({3}) Deswegen finde ich es erfreulich, dass wir uns in Europa, mit Großbritannien, mit Frankreich zusammen, darauf verständigt haben, dass eine Positivliste der zulässigen Projektkategorien für diesen Mechanismus umweltverträglicher Entwicklung bestimmt werden soll. Damit soll garantiert werden, dass nur hoch effiziente und wirklich nachhaltige Technologien zum Zuge kommen. Wir wollen sicherstellen, dass im Rahmen dieses Mechanismus eben keine Nuklearprojekte zugelassen werden. Diese gemeinsame Position der EU ist, wie Sie vermuten werden, noch weit davon entfernt, die ungeteilte Zustimmung aller Staaten zu finden. Aber die Diskussion zeigt, dass viele Entwicklungsländer nachdrücklich insbesondere an hoch effizienten und, was die Stromversorgung angeht, vor allem an dezentralen Technologien interessiert sind, weil sie in ihren Ländern in der Regel nicht über das verfügen, was wir haben, nämlich ein entsprechendes Netz, über das Elektrizität auch in dünn besiedelten Gebieten verbreitet werden kann. Drittens. Es geht um die Frage der Zusätzlichkeit: Welchen Teil meiner angestrebten Reduktionen darf ich im Ausland einkaufen und wie viel muss ich im eigenen Lande erbringen? Das ist eine Diskussion, die wir in der Bundesrepublik mit ziemlicher Eindeutigkeit bei der Verabschiedung des Klimaschutzprogramms geklärt haben. Ich frage Sie allerdings - ich frage auch in Richtung anderer Industriestaaten -: Wie glaubwürdig ist ein Protokoll, bei dem die größten Verschmutzer im eigenen Land untätig sein können? Kann es sein, dass sich Länder wie etwa die USA, die allein mehr als ein Drittel der Emissionen der Industrieländer aufweisen, fast ausschließlich über eingekaufte Emissionsreduktionen aus anderen Ländern Klimaschutzmaßnahmen im eigenen Lande ersparen? Kann das Treibhausproblem so gelöst werden? Kioto - darüber sind sich die Wissenschaftler einig kann mit dem 5-Prozent-Reduktionserfordernis für die Industrieländer nur ein erster Schritt sein. Bis zur Mitte des Jahrhunderts müssen die Industriestaaten ihre Emissionen noch einmal um gut die Hälfte senken, um den Treibhauseffekt wenigstens einigermaßen wirkungsvoll einzudämmen. Das bedeutet eine drastische Kehrtwende in den meisten Industriestaaten. Um diese überhaupt vollziehen zu können, brauchen wir permanente und weit reichende technische Innovationen. Genau hier liegt das Problem des unbeschränkten grenzüberschreitenden Emissionshandels und anderer Kioto-Mechanismen: Wenn Treibhausgase im Ausland immer nur da reduziert werden, wo es am billigsten ist, dann drosselt dies die frühe Entwicklung von Zukunftstechnologien; es fördert nicht die notwendigen technischen Quantensprünge. Es wird dann unmöglich werden, die notwendigen Ziele für die kommenden Dekaden zu vereinbaren. ({4}) Deswegen hat sich die EU bereits unter der deutschen Ratspräsidentschaft auf eine Position zur Zusätzlichkeit geeinigt, wonach höchstens die Hälfte der Reduktionen im Ausland erbracht werden darf. Diese Regelung begrenzt wirkungsvoll auch den Verkauf von nicht benötigten Emissionsrechten, etwa in einer Reihe von osteuropäischen Ländern, die so genannte heiße Luft. Auch dies wird sicherlich ein zentrales Verhandlungsthema in Den Haag. Nachdem die EU anfänglich mit dieser Position kaum Gehör fand, werden wir nach intensiven Gesprächen mittlerweile von Ländern wie Indien, China, von der Gruppe der afrikanischen Staaten und von der Gruppe der kleinen Inselstaaten unterstützt. Südafrika fordert sogar einen 70prozentigen Anteil für Maßnahmen im eigenen Land, was die Verpflichtung der Industriestaaten angeht. Die Bundesregierung will in Den Haag ein Ergebnis erreichen. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass wir nachdrücklich an der Bildung der EU-Verhandlungsposition beteiligt waren und sind. Nun geht es darum, diese abschließend zu verhandeln. Ich will aber auch sagen: Sosehr wir uns ein In-Kraft-Treten des Protokolls im Jahre 2002 wünschen - nicht jedes Ergebnis ist ein gutes Ergebnis. Wir suchen einen Kompromiss, aber wir suchen keinen Kompromiss um jeden Preis. Wir wollen - wir greifen damit eine Forderung des Bundeskanzlers auf der 5. Klimakonferenz auf - die Ratifikation des Protokolls im Jahre 2002, zehn Jahre nach dem Erdgipfel in Rio. Zu diesem Ziel haben sich inzwischen viele Staaten bekannt - neben Europa Japan, Norwegen und Russland sowie viele Entwicklungsländer. Ungeachtet der unterschiedlichen klimapolitischen Positionen treffen bei der Frage des In-Kraft-Tretens des Protokolls sehr unterschiedliche Interessen zusammen: Nur mit einem verbindlichen Protokoll wird es für die Entwicklungsländer zusätzliche Maßnahmen für eine saubere Entwicklung geben. Nur mit einem ratifizierten Protokoll wird ein internationaler Emissionshandel möglich sein. Deshalb halte ich einen Kompromiss zwischen Europa, den konstruktiven Staaten der so genannten Umbrella-Group und Schlüsselländern der G 77, also den Entwicklungsländern, für möglich. ({5}) Die Messlatte für einen solchen Kompromiss liegt heute schon auf: Die Umsetzung des Kioto-Protokolls muss zu echten, signifikanten Minderungen von Treibhausgasemissionen in Industrieländern führen. Die Industrienationen haben mit ihren Emissionen die Hauptverantwortung für den Treibhauseffekt; deswegen müssen sie sie mindern. Nur wenn unter dem Strich der Einstieg in eine solche Entwicklung sichergestellt ist, können wir behaupten, dass Den Haag ein Erfolg war. ({6}) Ich habe das Thema Klima bei allen Gesprächen mit inner- und außereuropäischen Kollegen zu einem meiner Hauptpunkte gemacht. Immer wieder habe ich das Gespräch gerade mit schwierigen Verhandlungspartnern gesucht, um sie besser zu verstehen, unsere Sicht darzulegen und für unsere Position zu werben. Den USA und den sie unterstützenden Industrieländern sage ich Folgendes: So sehr ich mit den USA über die von ihnen angestrebten Schlupflöcher streite, so sehr verstehe ich eine der Hauptforderungen der USA. Der Treibhauseffekt ist ein globales Problem und er verlangt nach globalen Lösungen. Deshalb wird immer wieder eine frühzeitige Verpflichtung auch von Schwellenländern gefordert. Es ist aber gleichzeitig wahr, dass 80 Prozent aller Treibhausgase in der Atmosphäre von den Industrienationen stammen, die auch heute noch pro Einwohner etwa fünfmal so viel Treibhausgase emittieren wie die Entwicklungsländer; die USA emittieren sogar etwa zehnmal mehr. Deswegen spreche ich mich nicht gegen Emissionsreduktionen in Entwicklungsländern aus, sondern setze mich dafür ein, dass die Industrieländer voranschreiten müssen. ({7}) Nur so werden wir das Problem langfristig in den Griff bekommen. Den Entwicklungsländern möchte ich sagen: Ich sehe mit Sorge, dass im Zusammenhang mit der globalen Erwärmung die Entwicklungsländer besonders verwundbar sind. Die verstärkte Ausbreitung von Epidemien, die Versalzung von Böden bis hin zu extremen Sturmschäden oder der schiere Existenzkampf kleiner Inselstaaten, die im wahrsten Sinne des Wortes abzusaufen drohen, sind bereits heute schwerwiegende Probleme; sie werden nicht erst in der Zukunft sichtbar werden. Deswegen müssen wir die Entwicklungsländer dabei unterstützen, dem Klimawandel wirkungsvoll zu begegnen. ({8}) Hierzu gehören institutionelle Kapazitäten, hierzu gehören aber schlicht und ergreifend auch Gelder für Deichbau und ähnliche Maßnahmen, die die Anpassungsfähigkeit dieser Länder verstärken. Ich habe deshalb im Rahmen des Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung Regelungen vorgeschlagen, die die Nachhaltigkeit der Projekte unterstützen sollen. Hierzu gehört insbesondere die Bevorzugung kleiner Projekte. Hierzu gehört in meinen Augen auch ganz dringend, dass wir Sorge dafür tragen müssen, diesen so genannten Clean Development Mechanism möglichst frühzeitig in Bewegung zu bringen, bevor im Jahre 2002 das Protokoll in Kraft treten wird. Wir sind Teil des Problems und deswegen haben wir eine Verantwortung. Die Bundesrepublik will international eine Vorreiterrolle einnehmen; denn nur wenn wir vormachen, dass sich Klimaschutz lohnen kann, dass er Arbeitsplätze schafft und technologische Zukunft sichert, nur wenn wir vorleben, dass wir zu unseren Prinzipien stehen und dabei Spitzenpositionen in der Wirtschaft belegen können, können wir erreichen, dass auch andere diesen Weg einschlagen und aktive Klimaschutzpolitik betreiben. ({9}) Das ist unser Beitrag, um den Prozess des Klimaschutzes am laufen zu halten und vorwärts zu bringen. Deswegen ist es so wichtig, dass die Bundesregierung ein Klimaschutzprogramm vorgelegt hat, das die anspruchsvollen Ziele der Bundesrepublik zu einer Emissionsreduktion - die übrigens in einem breiten Konsens von allen Kräften in der Bundesrepublik getragen werden durch rein nationale Maßnahmen verwirklicht. Die Bundesrepublik setzt damit um, was auch

Not found (Kanzler:in)

Reduktion der CO2-Emissionen um 25 Prozent bis zum Jahre 2005. Deutschland hat heute mit 180 Millionen Tonnen mehr CO2 reduziert als ganz Europa zusammen. Wir wollen den Emissionsausstoß noch einmal um 50 Millionen bis 70 Millionen Tonnen bis 2005 mindern. Das verpflichtet allerdings auch, wie eine philippinische Delegierte auf der 5. Vertragsstaatenkonferenz 1999 in Bonn unterstrich. Wenn aber Deutschland, sagte sie, von seinem bisherigen Pfad abweicht und seine Klimaschutzziele verfehlt, dann wird auch das Signalcharakter haben. Die Staaten der Welt schauen nach Deutschland und sie schauen genau hin. Die Bundesregierung ist für die Klimaschutzkonferenz in Den Haag gewappnet. Wir freuen uns, mit einer Delegation aus Mitgliedern dieses Hauses sowie Vertretern der Bundesländer und der Nichtregierungsorganisationen dort verhandeln zu können. Ich glaube, wir haben in der Phase der Vorbereitung auf diese Verhandlungen unsere Hausaufgaben gemacht und unsere Verhandlungslinie zusammen mit unseren europäischen Partnern festgelegt. Wir werden auf dieser Konferenz eine konstruktive, aber auch eine feste Haltung einnehmen, und zwar sowohl innerhalb der Europäischen Union als auch gegenüber unseren Vertragspartnern aus Nord und Süd. Wir wissen, was wir erreichen wollen. Wir sind uns allerdings auch darüber im Klaren, dass es Grenzen der Akzeptanz gibt. Die Bundesrepublik steht zu ihrer Vorreiterrolle im Klimaschutzprozess und wird sie weiter aktiv gestalten; denn wir haben nur eine Erde und der Erhalt ihrer natürlichen Lebensgrundlagen sollte für uns alle oberstes Gebot sein. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Klaus Lippold, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Trittin, wir wünschen Ihnen viel Erfolg auf der Konferenz in Den Haag. Wir wollen, dass Sie dort erfolgreich sind, weil wir der Meinung sind, dass das Problem, um das es geht, groß genug ist, um über Differenzen in Einzelheiten hinwegzusehen. Es gibt sicherlich die eine oder andere Position, bei der wir nicht einer Meinung sind. Aber das wird uns nicht davon abhalten, für die Positionen, wie Sie sie in den Grundzügen beschrieben haben, zu werben und zu deren erfolgreicher Durchsetzung beizutragen. ({0}) Wir können es uns nicht erlauben, in einer so zentralen Frage wie der des Klimaschutzes weltweit keinen Erfolg zu erzielen. Klimaschutz ist kein Randthema für Ökofetischisten. Vielmehr ist es eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Wir arbeiten in der Bundesrepublik schon sehr lange an Strategien zur Beantwortung der Frage, wie die Probleme des Klimaschutzes erfolgreich angegangen werden können. Dass der Erfolg auf diesem Gebiet notwendig ist, wird deutlich, wenn man sich die Katastrophen anschaut, die es schon zurzeit gibt: Flutkatastrophen, Überschwemmungen und Erdrutsche. Im Vergleich zu dem, was uns noch erwarten wird, ist dies noch wenig. Wenn erst große Teile der Welt versteppt und verödet sind und wenn Völkerwanderungen wegen Hungersnöten einsetzen, dann werden wir vor ganz anderen Problemen stehen. Deshalb ist es wichtig, dass wir handeln, und zwar umgehend, dass wir uns die Ergebnisse der Wissenschaftler und Experten zu Eigen machen und so zu entscheidenden Resultaten kommen. Ein Ansatz zur Kritik, Herr Minister: Ich glaube, wir hätten wesentlich früher - das ist unter der damaligen Umweltministerin Merkel schon angegangen worden die Wissenschaft bei den essenziellen Fragen, um die es in diesem Protokoll geht, zurate ziehen müssen und die Ergebnisse der Wissenschaft früher instrumentalisieren müssen, als Sie es getan haben. Vielleicht hätten wir dann einen besseren Beitrag zur Beantwortung der Frage leisten können, wie wir mit dem Problem des Emissions Trading auf der einen Seite und mit den Problemen der Clean Development Mechanism und der Senken auf der anderen Seite umgehen sollen. ({1}) Wir hatten diese Probleme auf der Konferenz in Kioto damals direkt angesprochen. Daher, so meine ich, hätte hier früher etwas geschehen können. Wenn wir wollen, dass nach den - man muss dies ungeschminkt sagen - erfolglosen Konferenzen in Buenos Aires und in Bonn jetzt kein dritter Flop folgen soll, dann werden wir mit Klarheit - auch in diesem Punkt folgen wir Ihnen, Herr Trittin -, aber auch, so will ich hinzufügen, mit einer gewissen Flexibilität argumentieren müssen, ohne das Leitziel aus den Augen zu verlieren. Ich sage das auch vor dem Hintergrund, dass wir ansonsten scheitern werden, das große Ziel, die Ratifikation des Kioto-Protokolls bis 2002, zu erreichen. Ein solches Scheitern wäre katastrophal. Unser Wille, Flexibilität zu zeigen, beruht auch auf der Einsicht, dass wir als Europäer - ich sage ganz deutlich: als Europäer - keine falsche Selbstgerechtigkeit an den Tag legen dürfen. Völlig zu Recht haben Sie hervorgehoben, dass die Erfolge im Klimaschutz in Europa nicht europäische, sondern deutsche Erfolge sind. Wenn jetzt anlässlich des Umweltministerrates gesagt wird, die Staaten der EU haben ihre Emissionen reduziert, dann muss man feststellen, dass dies nur möglich war, weil die Bundesrepublik Deutschland ihre Emissionen entsprechend reduziert hat. Wenn man sieht, dass viele, die den Mund voll genommen haben - zum Beispiel die nordischen Staaten und Dänemark -, weiterhin eine Erhöhung und nicht Reduktion ihrer Emissionen anmelden, dann muss man den Finger in die Wunde legen und deutlich sagen, worauf es ankommt. ({2}) Es hilft in diesem Zusammenhang dann auch nicht, wenn von einem Teil dieser Staaten die Forderung nach Ausstieg aus der Kernenergie unterstützt wird. Ich glaube, wir können die notwendigen Emissionsreduktionen im Durchschnitt auf Dauer nicht erreichen, wenn wir aus der Kernenergie aussteigen. Ich fordere Sie, Herr Minister, deshalb auf, Ihren Weg bezüglich dieser Frage zu überdenken. Es geht dabei nicht um die Lösung des Problems bis 2005. Diesen Zeitpunkt hat Ihr Koalitionspartner Ihnen ohnehin schon ausgetrieben. Aber gerade in der entscheidenden Phase, von 2020 bis 2050, werden wir darauf angewiesen sein, einen Durchbruch in dieser Frage zu erzielen. ({3}) Herr Minister, Sie haben mit einem warnenden Unterton die Mechanismen angesprochen, die wir brauchen. Ich habe festgestellt, dass Sie diese Mechanismen trotzdem nicht so einseitig dargestellt haben, wie ich das eine Zeit lang befürchtet habe. Ich sehe zum Beispiel im Clean Development Mechanism durchaus eine Chance, während ein internes Papier Ihres Hauses zu dem Schluss kommt, dieses Instrument sei kein geeignetes Instrument zur Armutsbekämpfung. Ich glaube schon, dass man die Synergieeffekte, die sich aus diesem Instrument ergeben, nutzen sollte, nämlich auf der einen Seite Fortschritte im Klimaschutz zu erreichen und auf der anderen Seite damit die Armut zu bekämpfen. Wenn man sich anschaut, was Sie bei früheren internationalen Verhandlungen in Sachen Technologietransfer und Entwicklungshilfe zugesagt haben - ich will Sie gar nicht an Ihre Versprechen erinnern, die Sie zu früheren Zeiten in diesem Hause abgegeben hatten -, dann muss man eindeutig konstatieren, dass das alles nicht eingetreten ist. Ich bin sehr dafür, mithilfe dieses Instruments den Klimaschutz mit der Entwicklungshilfe und Armutsbekämpfung zu verbinden. Dies ist ein ganz entscheidender Punkt. Ein zweiter Punkt. Wenn wir über die Senken diskutieren - ich habe gerade schon gesagt, wir hätten den wissenschaftlichen Sachverstand schneller nutzen sollen, so wie wir das vorgeschlagen haben -, dann muss man auch die Aufforstung als Möglichkeit in Betracht ziehen. Auch hier, so habe ich gerade festgestellt, besteht zwischen uns kein Widerspruch. Es gibt eine Reihe von Schwellenländern, bei denen demonstriert werden kann, dass schädliche Entwicklungen wie Versteppung und Erosion von Böden mit Aufforstung unter Einsatz des Klimaschutzinstrumentariums wieder rückgängig gemacht werden können. ({4}) Die Bundesrepublik Deutschland hat früher neben diesem Mechanismus das Instrument Joint Implementation vorangetrieben. Angesichts der Tatsache, dass andere Länder dieses Instrument viel stärker nutzen als wir, sehe ich in diesem wichtigen Bereich einen ganz großen Nachholbedarf. Der Minister hat nicht zu Unrecht darüber gesprochen, dass derjenige, der im Ausland etwas bewirken will, zu Hause etwas tun muss. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland in der Vergangenheit viel erreicht. Herr Minister, ich möchte aber dennoch darum bitten - in anderen Debatten habe ich dies anders formuliert -, dass Sie das Tempo, mit dem wir im Klimaschutz voranschreiten, endlich verschärfen. Ich möchte in diesem Zusammenhang ein ganz klassisches Beispiel anführen: Im Klimaschutzprogramm nennen Sie Ziele. Aber die meisten dieser Maßnahmen haben Dr. Klaus W. Lippold ({5}) Sie noch nicht einmal eingeleitet. Da liegen noch gar keine konkreten Aussagen vor. Arbeiten Sie daran! Beschleunigen Sie dies! Wir haben Ihnen vor gut zwei Jahren eine nahezu fertige Energieeinsparverordnung hinterlassen, mit der wir im Gebäudebereich in wesentlichen Teilen Verbesserungen erreichen wollten. Nutzen Sie diese doch! Zwei Jahre haben Sie vertan. Sie diskutieren intern immer noch über Dinge, die ich für Kleinigkeiten halte. Es ist viel zu schade, dieses Instrument ungenutzt zu lassen. Sie vertun Zeit, die dringend erforderlich wäre. ({6}) Herr Minister, springen Sie doch einmal über Ihren Schatten! Nutzen Sie nicht nur das Instrument der Zinsbezuschussung, das im Rahmen der KfW-Programme besteht, die wir seinerzeit eingeführt haben und die Sie erfreulicherweise fortführen. - Ich akzeptiere auch, dass Sie auf diesem Gebiet mehr investieren wollen. - Ringen Sie sich vielmehr dazu durch, auch auf eine steuerliche Förderung zu setzen, damit wir das in diesem Bereich bestehende Potenzial wirklich ausschöpfen können! Auch in meiner Fraktion waren in diesem Zusammenhang lange Diskussionen nötig. Aber wir haben uns jetzt entgegen allen steuersystematischen Bedenken, die es auch bei uns gab, dazu durchgerungen, zu sagen: Damit wir dieses Instrument voll ausreizen können, fordern wir eine steuerliche Förderung gerade im Altbaubestand. Schließen Sie sich dem doch an! Dann haben Sie sogar die Chance, das für 2005 vorgesehene Klimaschutzziel zu erreichen. Das sollten Sie tun. ({7}) Herr Minister, diese Maßnahmen sollten Sie damit verbinden, Ihren falschen Weg in Bezug auf die Erhebung der Ökosteuer und den Kernenergieausstieg - das sage ich ganz deutlich - aufzugeben. Im Hinblick auf das Instrument der Selbstverpflichtungen haben Sie hinzugelernt. Ich akzeptiere das und bin sehr zufrieden. Früher haben Sie Selbstverpflichtungen abgelehnt; heute praktizieren Sie sie. Wenden Sie dieses Instrument nicht nur im Hinblick auf die Wirtschaft insgesamt an, sondern treffen Sie Vereinbarungen zum Beispiel konkret mit der Automobilindustrie. Wir müssen das Instrument der Selbstverpflichtung im Bereich der Automobilindustrie verstärken. Dazu höre ich von Ihnen nichts. Es kann nicht sein, dass der Fraktionsvorsitzende der Grünen hier positiv über die durch das Auto bestehende Mobilität spricht und zusammen mit der Automobilindustrie eine entsprechende Strategie fordert, während Sie diesen Punkt völlig unerwähnt lassen und ihn nicht aufgreifen. Ich meine, auch hier besteht Handlungsbedarf, damit wir die wesentlichen Felder, um die es geht, abdecken. Mein Appell am heutigen Tag geht dahin, dass auch der amerikanische Präsident - wie auch immer er heißen wird - die in seinem Land gegen den Klimaschutz bestehende Blockade lockert. Ich hatte mir früher von Al Gore mehr versprochen. Ich hoffe, er wird, wenn er denn Präsident werden wird, diese Blockade beenden. Ich hoffe, dass Bush, wenn er denn Präsident werden sollte, ähnliche Initiativen in diese Richtung ergreift. ({8}) In vielen Gesprächen mit amerikanischen Politikern habe ich immer wieder deutlich gemacht, dass dies nicht zu einer Wettbewerbsverzerrung und zu einer Benachteiligung der USA führen wird: Wenn wir gemeinsam Maßnahmen ergreifen, dann ändern sich die zwischen den USA und der Bundesrepublik Deutschland bestehenden Wettbewerbsbedingungen nicht. Die „Denke“ der USA hatten auch wir vor 15 Jahren. Lassen Sie uns durch Diskussionen und mit viel Überzeugungsarbeit erreichen, dass auch andere Länder hier in Bewegung kommen. Denn ohne die USA werden wir den Weg des Klimaschutzes nur schwer mit Erfolg beschreiten können. Noch einmal, Herr Trittin: Wir wünschen Ihnen für die anstehenden Verhandlungen viel Erfolg im Sinne der gemeinsamen Anstrengung, das Klimaschutzziel zu erreichen. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Ulrike Mehl, SPD-Fraktion.

Ulrike Mehl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001454, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Lippold, ich habe noch nie hier im Plenum von Ihnen eine so moderate Rede gehört. Ich bin ganz überrascht. ({0}) Ich dachte, jetzt kommt wieder unser aller Blutdruck in Wallung. Ich war vorher schon wach; deswegen störte Ihre moderate Rede dann nicht. Ich freue mich, dass Sie mit uns an einem Strang ziehen wollen. Dieses internationale Thema ist in der Tat nicht für innenpolitische Auseinandersetzungen, wie sie üblicherweise ablaufen, geeignet. ({1}) Aber lassen Sie mich eines anmerken: Ich finde es hochspannend, dass Sie sagen, steuerliche Anreizinstrumente hätten Sie während Ihrer Oppositionszeit als richtig erkannt, und dass Sie nun in eine Richtung gehen wollen, die Sie vorher, wie Sie sagten, nicht bzw. in zu geringem Umfang gegangen seien. ({2}) Wäre Ihnen das ein bisschen früher aufgegangen, hätten wir beim Klimaschutz einige Probleme weniger. - Dabei will ich es zu diesem Thema belassen. ({3}) Dr. Klaus W. Lippold ({4}) Klar ist - hierin sind sich die Forscher weitgehend einig -, dass der Klimawandel bereits begonnen hat und ein Vorgeschmack durchaus schon zu spüren ist. So ist - wie wir wissen - zum Beispiel eine drastische Zunahme schwerer Stürme zu verzeichnen. Die sieben der zehn heißesten Jahre seit der Messung und Aufzeichnung von Wetter, nämlich seit der Mitte des letzten Jahrhunderts, waren in den 90er-Jahren. Dies ist kein Zufall. Das deutliche Abschmelzen von Gletschern auch in den Alpen ist ein Beleg dafür, dass es hier einen Wandel gegeben hat und wir handeln müssen, und zwar sehr schnell. Deshalb halte ich es für besonders wichtig und richtig, dass die Bundesregierung das nationale Klimaschutzprogramm bereits beschlossen hat, und zwar unabhängig von den Ergebnissen der bevorstehenden Klimaschutzkonferenz in Den Haag. Damit werden wir Lücken im Klimaschutz schließen. Wir können es noch schaffen, das Ziel, das sich schon die alte Regierung gesteckt hat und das die neue Regierung aufrechterhält, nämlich eine 25-prozentige CO2-Minderung gegenüber dem Stand von 1990, zu erreichen. Ich will mich nicht so sehr mit der Vergangenheit und der Frage beschäftigen, was in den letzten Legislaturperioden alles hätte erreicht werden können, wenn man es rechtzeitig angepackt hätte, denn damit kommen wir dem Klimaschutzziel keinen Millimeter näher. Vielmehr wird es neben der Umsetzung des vorhandenen Wissens für den innenpolitischen Erfolg der Klimaschutzpolitik entscheidend sein, die Akzeptanz für diese lebensnotwendige politische Weichenstellung zu fördern. Wir müssen den von der Rio-Konferenz 1992 ausgesandten Impuls für die internationale und nationale Umwelt- und Klimapolitik aufgreifen und verstärken. Wir müssen es schaffen, die Begriffe „Nachhaltigkeit“, „Klimaschutz“ und „Erhaltung der biologischen Vielfalt“ mit klaren politischen Inhalten zu untermauern. Eines der Probleme ist - auch in der internen Diskussion -, dass es viele unterschiedliche Vorstellungen über den Inhalt und die Bedeutung dieser Begriffe gibt und man uneins ist, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Umso wichtiger ist es, über sie zu kommunizieren und klarzumachen, welche Ziele und welche Wege zum Erreichen dieser Ziele hinter diesen Begriffen stehen. Wir werden das unter anderem mit der Einrichtung des Rates für Nachhaltigkeit umsetzen. Immerhin haben in Rio 150 Staaten die Klimarahmenkonvention unterzeichnet und damit das Ziel der Konvention, nämlich die Stabilisierung der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre auf einem Niveau zu erreichen, auf dem eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems verhindert wird, anerkannt. Im Dezember 1997 verpflichteten sich die Industrieländer mit dem schon mehrfach genannten Kioto-Protokoll, die Emissionen der sechs festgelegten Treibhausgase um mindestens 5 Prozent gegenüber dem Niveau von 1990 in einem bestimmten Zeitrahmen zu reduzieren. Jetzt steht die 6. Vertragsstaatenkonferenz in Den Haag unmittelbar vor der Tür. Dort wird es um die Formulierung und Festlegung der flexiblen Mechanismen, um Emissionshandel, um die gemeinsame Umsetzung von Reduktionsverpflichtungen und um Mechanismen für eine umweltverträgliche Entwicklung gehen. Dies wird ein entscheidender Schritt sein. Wenn diese Konferenz scheitert, dann wird dies - dafür gibt es viele Gründe - ein herber Rückschlag für die internationalen Bemühungen um den Klimaschutz sein. Aber eines ist für mich klar: Das kann nicht heißen, dass etwa Deutschland oder Europa von den selbst gesteckten Zielen, die spätestens mit Kioto noch einmal festgelegt worden sind, abrückt. Die Bemühungen müssen auf jeden Fall weitergehen. ({5}) Auf der Konferenz muss erstens sichergestellt werden, dass es global zu echten überprüfbaren Emissionsreduktionen kommt, die durch ein durchschaubares Kontrollund Sanktionssystem gesteuert werden können. Es nützt überhaupt nichts, nur Zahlen hinzuschreiben und zu formulieren, was man erreichen möchte, wenn man nicht kontrollieren kann, ob diese Ziele tatsächlich erreicht werden, und wenn es nicht sanktioniert wird, sofern diese Ziele nicht ernsthaft angegangen, sondern nur auf dem Papier festgelegt werden. Zweitens. Die Kioto-Mechanismen dürfen nationale Klimaschutzmaßnahmen nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. Mindestens 50 Prozent der Treibhausgasminderungen müssen im eigenen Land erreicht werden. Drittens. Im Rahmen des Clean Development Mechanism und der gemeinsamen Umsetzung dürfen ausschließlich modernste, hoch effiziente, umweltfreundliche und sozialverträgliche Technologien von den westlichen Industrieländern in die Entwicklungsländer und in die Staaten Mittel- und Osteuropas transferiert werden. Projekte mit zweifelhafter Umwelt- und Sozialauswirkung darf es nicht geben. ({6}) Viertens. Der Einbeziehung der CO2-Senken in die Emissionsbilanzen stehen wir durchaus skeptisch gegenüber. Aufforstung und Wiederaufforstung sind zwar sinnvolle Maßnahmen des Klimaschutzes, können aber nur sehr schwer eingerechnet werden. Wir wissen aus den bisherigen Diskussionen, dass gerade in diesem Instrument der Senken das höchste Missbrauchspotenzial steckt, weil die Möglichkeiten, abzugrenzen - Minister Trittin hat Beispiele dafür genannt -, was tatsächlich klimaschutzrelevant ist, sehr vage sind. Deshalb muss mit diesem Instrument mit allergrößter Skepsis umgegangen werden. Würden sich die USA mit ihren sehr weit gehenden Vorstellungen hinsichtlich der flexiblen Mechanismen und der Anrechnung von CO2-Senken durchsetzen, dann könnten sie ihren CO2-Ausstoß sogar steigern - ausgerechnet die USA! Das - ich denke, da sollten wir uns einig sein - gilt es zu verhindern, wenn wir acht Jahre nach Rio wirklich ernsthafte Schritte in der Klimaschutzpolitik vorankommen wollen. Wie auch immer die Präsidentenwahl in den USA ausgehen wird: Das Verhältnis der USA zum Klimaschutzprozess und zum Kioto-Protokoll wird immer schwierig sein. Aber es kann nicht sein, dass dieses Thema weltweit ins Stocken gerät oder sogar rückwärts geht, weil eine Nation nicht in der Lage oder nicht willens ist, diese Schritte zu gehen. Wir sollten uns als Europa und als Deutschland dadurch überhaupt nicht davon abbringen lassen, die Ziele, die wir bisher gesteckt haben, forsch anzugehen. ({7}) Im Zusammenhang mit der Überlegung, welche Dinge man einrechnen kann und welche nicht, will ich nicht unerwähnt lassen, dass wir es nicht für verantwortbar halten, Kernkraftwerke oder die Kernkraft insgesamt im Rahmen von CDM anrechenbar zu machen. Wir brauchen den Ausstieg aus dieser Risikotechnologie und wir brauchen ihn nicht nur in Deutschland; denn das ist keine ideologische Debatte, sondern das ist eine Frage von Zukunftstechnologien und von Sicherheit und damit eine internationale Frage. Deswegen sind wir der Meinung, dass die Kernkraft auf keinen Fall einem dieser Mechanismen angerechnet werden darf. ({8}) Ich will es deutlich sagen: Es wäre eine große Gefahr, wenn die führenden Industrienationen allein durch die flexiblen Mechanismen rechnerisch in der Lage wären, ihre Emissionsverpflichtungen einzuhalten. Dann gäbe es nämlich keinen Anreiz für mehr entsprechende Technologien, für Energiesparmaßnahmen oder für regenerative Energien, die über den derzeitigen Stand der Technik hinausgehen. Es geht nicht darum, nur die Entwicklung, die wir bisher hatten, fortzusetzen, sondern wir brauchen einen besonderen Schwung - den haben wir jetzt in den Anfängen - für eine Effizienzrevolution und für die erneuerbaren Energien. Wir wollen nicht, dass dieser Trend einen empfindlichen Dämpfer bekommt. Deswegen dürfen wir, auch auf internationaler Ebene, nicht bestrebt sein, mit fossilen Energien, mit alten Technologien voranzukommen, sondern müssen die Klimaschutzziele überwiegend im eigenen Land erreichen und die neuen Technologien, auch im Interesse der Entwicklungsländer, hier voranbringen. ({9}) Deshalb ist es wichtig, dass die deutsche Bundesregierung mit solchen Vorgaben nach Den Haag geht. Denn Deutschland verhandelt in Den Haag ja nicht alleine, sondern die Staaten der Europäischen Union verhandeln gemeinsam und haben auch schon ein gemeinsames, bisher gutes Fundament gefunden. Die Devise muss lauten: weg von der Energieverschwendung, hin zu regenerativen Energien und zu optimaler Ressourcennutzung, hin zu Kreislaufwirtschaft und Produktverantwortung. Das bedeutet nämlich auch ein Stück Unabhängigkeit von Ölimporten und Dollarkursschwankungen. Wir müssen im Sinne der nachhaltigen Entwicklung und der Agenda-21Prozesse, die ja auch in Rio beschlossen worden sind, weiterdenken und an neuen Lebensstilen arbeiten und forschen. Ich denke, das Spektakel um Benzinpreise und Ökosteuer ist der beste Beweis dafür, dass wir weltweit eine technologische und energiepolitische Revolution brauchen. Wenn wir heute schon das Zwei- oder Dreiliterauto hätten oder gar Brennstoffzellen als Antrieb genutzt werden könnten, wenn die überwiegende Zahl der Häuser auf der Grundlage von Niedrigenergiestandards gebaut würden, dann würde sich doch heute kein Mensch darüber aufregen, dass Energiepreise von Rohöl steigen. ({10}) Wenn diese Schritte schon sehr viel früher eingeleitet und konsequenter gegangen worden wären, dann hätten wir heute eine ganz andere Diskussion. ({11}) Diese Bundesregierung und diese Koalitionsfraktionen haben in den zwei Jahren, in denen sie jetzt die Mehrheiten haben und die Regierung stellen, schon eine ganze Reihe von Projekten in Marsch gesetzt. Diese Chance hätten auch Sie vorher gehabt, ({12}) liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition. Sie haben sie leider nicht nutzen können; aber wir haben sie genutzt, insbesondere im Energiebereich. Wir werden auf diesem Weg weitergehen, und wir werden diese Bundesregierung weiterhin intensiv dabei begleiten, damit wir unsere Klimaschutzziele auch zukünftig erfüllen können. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile Kollegin Birgit Homburger, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Birgit Homburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000952, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich zunächst an Herrn Minister Trittin wenden und auf seine Rede eingehen. Ich muss sagen, es ist bemerkenswert: Es war eine richtige Energiesparrede, die Sie hier gehalten haben. ({0}) Da geht es um die Zukunft des internationalen Klimaschutzes, und Sie halten hier im deutschen Parlament eine lustlose Vorlesung, die aller Welt noch einmal deutlich macht, dass Sie überhaupt kein Interesse an diesem Prozess des internationalen Klimaschutzes haben. ({1}) Die Zeit für salbungsvolle Worte ist wirklich allmählich vorbei. Es geht in Den Haag um sehr viel; es geht darum, ob der Prozess des internationalen Klimaschutzes endlich zu Ergebnissen führt. Werden die Verhandlungsergebnisse zu weich, dann nützt es dem Klima nichts. Werden die Bedingungen zu hart, steigen die wichtigen Industrieländer aus. Natürlich ist auch uns klar, dass es bei den so genannten Senken Mess- und Umrechnungsprobleme gibt, dass Waldprojekte keinen großen Beitrag leisten und auch nur langfristig wirken. Und auch wir wollen, dass es in den Industrieländern nationale Maßnahmen zur Reduzierung von Emissionen gibt. ({2}) Aber hier nur zu sagen und im Antrag nur zu schreiben, was Sie nicht wollen und dass Sie da und dort skeptisch sind, das reicht meines Erachtens für einen Auftritt auf der internationalen Bühne absolut nicht aus. ({3}) Was jetzt zählt, sind Taten. Was haben Sie denn dazu beigetragen, dass es in Den Haag zu Ergebnissen kommt? Das ist die Frage, die wir uns hier stellen müssen. Selbstverständlich hat sich Deutschland an den Koordinationssitzungen beteiligt. Selbstverständlich haben Sie diese Woche am Umweltministerrat teilgenommen. Aber glauben Sie denn wirklich, dass das reicht? Die bisherigen Fortschritte beim internationalen Klimaschutz wurden alle dadurch erreicht, dass man nicht nur das Pflichtprogramm abgespult hat. Es waren immer die besonderen, zusätzlichen Initiativen, die dazu beigetragen haben, andere Länder zu überzeugen - und da ist bei Ihnen absolute Fehlanzeige. ({4}) Auch diese Woche beim Ministerrat kam von Ihnen nur Bedenkenträgerei. Konstruktive Vorschläge, wie man in Den Haag zum Erfolg kommen kann, hat man von Ihnen nicht vernommen. Sie stressen lediglich den Begriff der Vorbildfunktion Deutschlands. Diese Vorbildfunktion, die uns in den internationalen Verhandlungen tatsächlich Gewicht verleihen könnte, haben wir längst nicht mehr. Die F.D.P. fordert Sie jetzt seit Monaten dazu auf, in Deutschland endlich die Voraussetzungen zur Einführung des Zertifikatehandels zu schaffen - wir haben erst in der letzten Umweltdebatte auch über den entsprechenden F.D.P.-Antrag beraten -, aber Sie haben hochmütig während der ganzen Legislaturperiode nichts unternommen, um Deutschland konkret auf den Börsenhandel mit Emissionszertifikaten vorzubereiten. ({5}) Wenn man international einen solchen Zertifikatehandel will, muss man schlichtweg die Hausaufgaben machen und das eigene Land darauf vorbereiten. ({6}) Während andere Länder den Börsenhandel mit Emissionsrechten längst vorbereitet haben und ein solcher Handel im Übrigen in Dänemark in wenigen Wochen tatsächlich beginnen wird, verlautet jetzt immerhin, dass die Bundesregierung der Einführung eines Emissionshandels aufgeschlossen gegenübersteht. Sie haben das auch heute in Ihrer Rede so gesagt. Da sind wir aber beruhigt. Gratulation, Herr Minister! Immerhin beobachten Sie, was auf der internationalen Bühne passiert, auf der Bühne, die im Augenblick im internationalen Klimaschutz die Welt bewegt. Aber die Bühne beherrschen jetzt andere. Das war früher anders. Die alte Bundesregierung war noch ein maßgeblicher Impulsgeber für die internationale Klimapolitik. Grün war für manchen die Hoffnung, aber sie wurde bitter enttäuscht. ({7}) Auch mit der heutigen Rede haben Sie sich wieder öffentlich in Schweigen gehüllt. Anders kann man das nicht deuten. Ihr Fraktionskollege und Parteifreund Loske hat an dieser Stelle vor einigen Tagen zu Ihrer Verteidigung stolz eine Arbeitsgruppe zu diesem Thema im Bundesumweltministerium erwähnt. Aber welche Ergebnisse hat denn diese Arbeitsgruppe erzielt? Ich bin der Meinung, dass der Vorabend der 6. Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkonvention kein schlechter Zeitpunkt wäre, um der Öffentlichkeit und dem Deutschen Bundestag konkrete Resultate zu präsentieren. ({8}) Wie wollen Sie denn Emissionszertifikate einführen? An welche Maßnahmen haben Sie gedacht? Wie sieht der Zeitplan aus? Befürwortet die Bundesregierung ein Handelssystem auf Staatenebene, wie im Kioto-Protokoll vorgesehen, oder eines auf Unternehmensebene, wie im Grünbuch der EU-Kommission vorgesehen? An welche Verfahren zur Überwachung, Durchsetzung und Sanktionierung denkt die Bundesregierung dabei, zumal Sie der Industrie - letzte Sitzungswoche haben wir das diskutiert versprochen haben, auf ordnungsrechtliche Eingriffe zu verzichten? Zu alldem hört man von Ihnen nichts. Ich muss sagen, das ist wirklich eine ganz famose Arbeitsgruppe. ({9}) Dann hat Ihr Fraktionskollege uns letzte Woche auch noch bestätigt, was wir längst wussten: Es existiert unter Ihrer Mitwirkung und hinter verschlossenen Türen eine Arbeitsgruppe zum Thema Emissionsrechtehandel bei der Deutschen Börse, im Übrigen die einzige ernst zu nehmende Initiative zu einem Börsenhandel mit Emissionszertifikaten in Deutschland. Sie wurde von privater Seite ergriffen. Private Unternehmen, Verbände, Wissenschaftler haben den Stillstand nicht länger ertragen, haben sich zusammengetan, sind aktiv geworden, und Sie haben sich drangehängt. Wirklich eine Glanzleistung, Herr Minister! ({10}) Aber mit dieser Peinlichkeit noch nicht genug: Da existiert diese Expertengruppe, die sich unter Beteiligung aller einschlägigen Bundesministerien um diese Frage kümmert, und sie ist offenbar ein Geheimklub. Wer ist denn daran beteiligt? Man weiß es nicht genau. Es ist auch kaum zu fassen: Die Vertreter der Bundesregierung in dieser Runde haben eine Verschwiegenheitserklärung unterschrieben. Alle Vorlagen und Gesprächsinhalte sind vertraulich - Klimapolitik also hinter verschlossenen Türen mit anschließender Verkündigung. Das ist Umweltpolitik nach Gutsherrenart. ({11}) Ich kann nur bestätigen, was Herr Loske von den Grünen in der letzten Sitzungswoche hier gesagt hat. Es wird immer deutlicher und immer offensichtlicher, dass Absprachen außerhalb des Parlaments stattfinden, dass dem Parlament gewissermaßen nur noch ein Beobachterstatus eingeräumt wird. Eine Frechheit, Herr Trittin, wie Sie mit dem Parlament umgehen! ({12}) Die F.D.P. fordert Sie auf, dem Deutschen Bundestag bei der internationalen Klimapolitik endlich Rede und Antwort zu stehen. Wir haben genug von salbungsvollen Worten und Kaffeekränzchen hinter verschlossenen Türen. Die F.D.P. will den Erfolg von Den Haag, und ich möchte, dass Sie endlich etwas dafür tun. Danke. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Reinhard Loske, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Kollegin Homburger, ich will erstens gerne noch einmal darauf verweisen, dass das Instrument des Emissionshandels ein Mittel und kein Zweck ist. Die Art und Weise, wie Sie das Ganze hier idealisieren, geht wirklich völlig an der Sache vorbei. ({0}) Das Zweite. Wenn Sie wollen, dass Emissionshandel tatsächlich stattfindet, müssen Sie sich im Wesentlichen dafür einsetzen, dass das Kioto-Protokoll ratifiziert wird; ({1}) denn ohne Kioto-Protokoll wird es keinen Emissionshandel geben. Setzen Sie sich dafür ein, dann tun Sie etwas Gutes. Nächster Punkt. Emissionshandel ist vom Kioto-Protokoll ohnehin erst ab dem Jahr 2007 vorgesehen. ({2}) Wir brauchen hier überhaupt nichts übers Knie zu brechen, wir haben nämlich noch ein paar Jahre Zeit. Wir sollten hier mit dem Instrument Erfahrungen sammeln, Pilotprojekte durchführen. ({3}) Aber jetzt unsere gesamte Klimapolitik daran auszurichten, dass Sie so gern Emissionshandel haben möchten, da müssten wir völlig verrückt sein. Das sind wir aber nicht. ({4}) Jetzt zu dem Thema Klimaproblematik. Erstens. Von mehreren Vorrednern wurde schon gesagt: Die wissenschaftlichen Fakten verdichten sich. Durch den neuen Bericht des Wissenschaftlergremiums der Vereinten Nationen werden sie noch einmal bestätigt. Sie sind besorgniserregender als das, was wir bisher wussten. Die Wetterextreme nehmen zu, Klimazonen verschieben sich. Ein zweites Indiz, das wir zur Kenntnis nehmen müssen, ist, dass die Rückversicherer uns mit immer größerer Sorge sagen, die Klimaschäden seien demnächst nicht mehr zu versichern, wenn wir so fortfahren wie bislang. Das ist ein deutliches Indiz dafür, dass Klimaschutz die beste Langzeitökonomie ist. Je länger wir mit dem Klimaschutz warten, desto teuerer wird das Ganze später. Das darf nicht sein. Drittens - auf diesen Punkt möchte ich mit allem Nachdruck verweisen -: Es besteht ein elementarer Zusammenhang zwischen nationaler Glaubwürdigkeit und der Art und Weise, wie man auf internationaler Ebene agieren kann. Sie müssen doch zugeben, dass das Problem in der Vergangenheit in hohem Maße darin lag, dass man zu Hause so getan hat, als sei man der große Klimaschützer, und international die Leute gefragt haben: Ja, was macht ihr denn wirklich? - Da sah die Bilanz dann doch sehr dünn aus. Sie haben früher Herrn Töpfer und Frau Merkel auf die großen Konferenzen geschickt und zu Hause haben dann Rexrodt und Waigel sozusagen obstruiert, so gut es eben ging, und wir sind nicht weitergekommen. Diese Glaubwürdigkeitslücke ist jetzt dadurch geschlossen, dass wir das nationale Klimaschutzprogramm verabschiedet haben. ({5}) Zu den Konferenzen. Man muss vielleicht die Geschichte der Konferenzen noch einmal rekapitulieren. Wir hatten 1992 in Rio die Konferenz über Umwelt und Entwicklung. Man darf nicht vergessen: Es ging um beide Themen. Dort lag die Konvention zur Unterzeichnung aus. Sie ist 1994 in Kraft getreten. 1995 war hier in Berlin die erste große Vertragsstaatenkonferenz. 1997 sind in Kioto erstmalig klare Reduktionsziele festgeschrieben worden. Jetzt, 2000, werden hoffentlich alle Hindernisse aus dem Weg geräumt, damit das Protokoll ratifiziert werden kann. Idealerweise wird es so sein, dass wir im Jahr 2002 - also Rio plus zehn Jahre - das Kioto-Protokoll in Kraft setzen können. Das wäre ein schöner Erfolg. Darauf sollten wir hinarbeiten. ({6}) Dennoch muss man sagen: Wir haben es hier mit einer schwierigen Balance zu tun. Auf der einen Seite müssen wir ein Interesse daran haben - auch, um sozusagen das Momentum im Prozess zu halten -, dass das Kioto-Protokoll bis 2002 in Kraft tritt. Auf der anderen Seite können wir jetzt in Den Haag auf keinen Fall einem Kompromiss zustimmen, der die Substanz aushöhlt und zu viele Schlupflöcher zulässt. Denn dann hätten wir 2002 zwar ein Protokoll, das ratifiziert werden könnte, aber es würde nichts für den Klimaschutz bringen. Wenn wir vor dieser Wahl stehen, entscheiden wir uns ganz klar für die Priorität Substanzerhaltung beim Kioto-Protokoll. Das hat für uns absoluten Vorrang. Jetzt zu den Fragen: Vor welcher Situation stehen wir aktuell? Wie ist die Konfliktlandschaft? Wo liegen die Probleme? Vor welcher Situation stehen wir? Wenngleich wir Klimaschützer der Meinung sind, es ist nicht hinreichend, haben wir es erstmalig geschafft, dass im Kioto-Protokoll Reduktionsziele vereinbart worden sind: bis 2010 für die Europäische Union minus 8 Prozent, für die Vereinigten Staaten minus 7 Prozent, für Japan minus 6 Prozent, die Russen müssen auf dem Niveau von 1990 stabilisieren. Wir sind der Meinung: Das ist nicht ausreichend, aber es ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Insofern ist diese Vereinbarung positiv. Wir schwenken auf einen Pfad ein, der tendenziell zukunftsfähig ist. Aber man muss auch hinzufügen, dass in Kioto weitere Dinge verabredet worden sind, die die Sache nicht gerade einfacher machen, nämlich zum einen die so genannten flexiblen Mechanismen und zum anderen die Einbeziehung der Senken, also quasi des natürlichen Kohlenstoffkreislaufs, des Kohlenstoffs, der in den Böden und in den Wäldern gespeichert ist. Was die flexiblen Mechanismen Emissionshandel, Joint Implementation und Clean-Development-Mechanismus betrifft, so haben sie sicherlich theoretische Vorzüge, aber sie haben natürlich auch enorme praktische Probleme. Man muss ganz klar erkennen: Wenn man die konkrete Ausgestaltung dieser Instrumente falsch vornimmt, werden sich nicht die Emissionen reduzieren, sondern die Verpflichtungen der Staaten. Das werden wir nicht akzeptieren. ({7}) Welche Konfliktfelder gibt es? Die Europäische Union ist - das darf man sagen - bei der Klimapolitik Vorreiter. Sie hat das höchste Ziel übernommen, nämlich die Reduktion der Emissionen um 8 Prozent bis 2010. Innerhalb der Europäischen Union haben wir Deutsche und die Briten sehr anspruchsvolle Ziele übernommen. Man muss aber feststellen - das sage ich versehen mit einem „leider“ -, dass sich nicht alle Staaten an ihre Zusagen halten. Außer der Bundesrepublik Deutschland, dem Vereinigten Königreich und Luxemburg hat bislang kein Staat Emissionen gemindert. Das ist problematisch und kann auf Dauer nicht akzeptiert werden. Auch folgender Punkt ist nicht unproblematisch: Einige Mitgliedstaaten der Europäischen Union geben Positionen, die im Ministerrat verabredet wurden, gegenüber den Amerikanern hinter vorgehaltener Hand wieder preis, vor allen Dingen in Bezug auf die Senken und in Bezug darauf, dass man die flexiblen Mechanismen in Grenzen hält. Ich glaube, die EU hat nur dann eine Chance, sich in Den Haag durchzusetzen, wenn sie mit einer Stimme spricht und wenn sie eine Allianz mit den Entwicklungsländern schließt, wie das schon in Kioto der Fall war. Die Russen - der zweite große Akteur - haben bis zum Jahr 2010 im Prinzip keine Reduktionsverpflichtungen; sie müssen ihre Emissionen nur auf dem Niveau von 1990 stabilisieren. Die Höhe ihre Emissionen ist heute gegenüber 1990 aber um etwa ein Drittel geringer, weil ihre Industrie kollabiert ist. Deswegen haben die Russen natürlich ein Interesse daran, diese Differenz - wir bezeichnen das gemeinhin als „heiße Luft“ - zu verkaufen. Solch ein Schlupfloch ist nicht unproblematisch. Die Russen haben aber auch ein Interesse an Investitionen. Sie wollen einen Technologietransfer. Joint Implementation als einer der Mechanismen schafft die Möglichkeit, Technologie zu transferieren. Wenn es uns gelänge, dass dieser Handel mit „heißer Luft“ wenigstens dazu führen würde, dass die Einnahmen der Russen in die Modernisierung des Energiesystems fließen, dann, glaube ich, wäre das ein akzeptabler Kompromiss zugunsten des Klimaschutzes. ({8}) Zu den Entwicklungsländern. Die Entwicklungsländer haben in der ersten Verpflichtungsperiode bis zum Jahr 2010 keinerlei spezifische Reduktionsverpflichtungen. Das ist auch gut so, vor allem dann, wenn man sich die historische Verantwortung vor Augen führt. Es ist richtig: Langfristig wird Klimaschutz ohne China, ohne Indien und ohne Brasilien nicht möglich sein. Wer aber jetzt quasi den dritten Schritt vor dem ersten fordert, der will in Wahrheit gar keinen Klimaschutz. Die Hausaufgaben müssen also wir machen. Wir müssen zeigen, dass Klimaschutz möglich ist. Die Position der Entwicklungsländer lässt sich im Prinzip in zwei Punkten zusammenfassen. Sie sagen erstens: Wenn ihr wollt, dass wir in unserem Entwicklungsprozess nicht die gleichen Fehler machen wir ihr in der Vergangenheit, wenn wir uns also nicht mit der gleichen Energieintensität entwickeln sollen, dann müsst ihr uns helfen. Ihr müsst den Finanz- und Technologietransfer sicherstellen. Sie sagen zweitens: Ihr müsst eure Hausaufgaben erledigen, um uns zu zeigen, dass sich Klimaschutz und wirtschaftliche Entwicklung vereinbaren lassen. Nur wenn diese Dinge realisiert werden, dann können wir dem Kioto-Protokoll zustimmen. - Ich glaube, diese Position ist legitim. Es ist jetzt an uns, klar zu machen, dass sich Klimaschutz sowie wirtschaftliche und soziale Entwicklung vertragen; und außerdem müssen wir klar machen, dass wir die Mechanismen des Kioto-Protokolls, vor allem den Clean-Development-Mechanismus, dazu nutzen werden, moderne Technologien in die Entwicklungsländer zu transferieren. Wir brauchen dezentrale Technologien, die zu diesen Ländern passen. Dort brauchen wir gerade keine großen Kohlekraftwerke, keine großen Staudämme oder gar, was völlig absurd ist, Atomkraftwerke. ({9}) Zu der Rolle der Vereinigten Staaten. Wir tun gut daran, die Ratifizierung des Protokolls bis zum Jahr 2002 durch die Europäische Union, durch die beitrittswilligen Länder, durch einen Kompromiss mit den Russen und durch die Einbeziehung der Japaner zu realisieren. Die Japaner haben, auch weil das Kioto-Protokoll mit dem Namen ihrer Stadt Kioto verbunden ist, ein essenzielles Interesse daran, dass es in Kraft tritt. Das In-Kraft-Treten bis 2002 könnte also gelingen. Wir sollten natürlich großes Interesse daran haben, dass die Vereinigten Staaten früher oder später beitreten. Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass die Situation in Amerika sehr schwierig ist: Der Senat muss mit einer Zweidrittelmehrheit zustimmen. Aber der Senat hat bereits eine Resolution verabschiedet, in der es heißt: Erstens. Wir ratifizieren nur dann, wenn die Entwicklungsländer schon jetzt Verpflichtungen übernehmen. Zweitens. Wir ratifizieren nur dann, wenn totale Flexibilität bei den Mechanismen sichergestellt ist. - Das beides sind Forderungen, die wir als Europäer in dieser Situation nicht unterstützen können. Wir haben mit dem Senat Erfahrungen. Der Senat hat beim Atomteststoppvertrag, beim Landminenvertrag und bei der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofes Schwierigkeiten gemacht. Es ist unrealistisch zu glauben, dass die Amerikaner das Protokoll bis zum Jahr 2002 ratifizieren. Deswegen sollten wir alles daransetzen, die anderen - die Europäer, die Russen und die Japaner - dazu zu bewegen, das Protokoll 2002 zusammen mit den Entwicklungsländern in Kraft zu setzen. Das wäre ein gutes Ergebnis. Damit würde dann eine Dynamik entstehen, die erkennen lässt, dass das Ganze auch technologisch interessant und attraktiv sein kann, sodass früher oder später auch die Vereinigten Staaten beitreten werden. Ich glaube, das ist der richtige Weg. ({10}) Zum Thema Emissionshandel. Hier liegen Gefahren. Die Aufgabe ist klar definiert: Wir müssen den Handel mit „heißer Luft“ in engen Grenzen halten. Ich glaube, für die Entwicklungsländer liegt im Clean-Development-Mechanismus eine große Chance, wenn er richtig ausgestaltet wird. Deshalb brauchen wir eine Positivliste, die klar macht, welche Projekte wir unterstützen wollen. Das sind im Wesentlichen erneuerbare Energien, Energieeffizienz und die Nachrüstung alter Kraftwerke. Wir müssen den Entwicklungsländern die Möglichkeit geben, mit dem Klimaschutz Erfahrungen zu sammeln, sodass sie in der nächsten Verpflichtungsperiode ab 2010 ein wirkliches materielles Interesse daran haben, dem Protokoll beizutreten, um in den Genuss von technologischen Entwicklungen zu kommen. Die Entwicklungsländer können und müssen in diesem Prozess unsere Verbündeten sein. Als Letztes zum Thema „cap“, zu der Frage, ob man die flexiblen Mechanismen begrenzen, ihnen also einen Deckel auflegen soll. Die Position der Europäischen Union, maßgeblich durch die Bundesregierung bestimmt, ist Folgende: Wir wollen, dass der Löwenanteil zu Hause erledigt wird, Domestic Action, wie es so schön heißt. Dafür gibt es einen wichtigen technologiepolitischen Grund. Innovationen kommen dadurch zustande, dass man einen gewissen Druck in eine bestimmte Entwicklungsrichtung hat. Wenn wir Druck aus dem Kessel lassen und es nur darum geht, unsere State-of-the-Art-Technologie auf den Rest der Welt zu übertragen, dann würde das zwar in der Tat dazu führen, dass in China die Wirkungsgrade der Kraftwerke steigen, was in Ordnung ist, aber das würde keine weiteren technischen Innovationen in unserem eigenen Lande stimulieren. Wir wissen: Wenn wir den Klimaschutz ernst nehmen wollen, dann brauchen wir technologische Quantensprünge und nicht nur die einfache Verbreiterung des heutigen technologischen Niveaus der Bundesrepublik auf den Rest der Welt. Zusammengefasst möchte ich sagen: Wir ermutigen die Bundesregierung auf der Basis dessen, was hier vorgetragen worden ist und was der Ministerrat vorgestern beschlossen hat, in Den Haag zu agieren und auf der Grundlage einer klaren gemeinsamen Position zusammen mit den Entwicklungsländern für das In-Kraft-Treten des Kioto-Protokolls zu streiten. Danke schön. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile der Kollegin Eva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion, das Wort.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als drohende Geiselnahme der EU-Staaten und vieler anderer Länder durch die USA beschreibt dpa das Kräfteverhältnis für Den Haag. Ein interessantes Bild! In einer der wichtigsten Fragen der Menschheit, dem internationalen Klimaschutz, droht wieder einmal der Weltpolizist Nummer eins: Entweder ihr lasst uns weiter die Umwelt verpesten oder wir sprengen die Konferenz. Vielleicht sollte die Bundesregierung einmal ihr Verhältnis zum brüderlichen Bündnispartner überprüfen, und zwar nicht nur beim Klimaschutz; es gibt noch einige andere Themen. Doch zurück zur Politik im eigenen Land. ({0}) Die Bundesregierung hat ein Klimaschutzprogramm verabschiedet. Das war höchste Zeit; denn die verbleibende Deckungslücke für das deutsche Klimaschutzziel, wie die Bundesregierung die klimapolitische Altlast aus der Kohl-Ära nennt, beträgt 7 Prozent. Nun scheint das bis 2005 nicht viel zu sein. Doch der Eindruck trügt. Das vereinigte Deutschland zehrt diesbezüglich noch immer vom Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie. Ohne diesen Sondereffekt hätten die produzierenden Bereiche seit 1990 niemals eine CO2-Reduktion von 18 Prozent erreicht. Im Westen kommt unter dem Strich sogar eine leichte Erhöhung des Ausstoßes heraus. Die Vereinigungsrendite hat allerdings auch etwas gekostet, beispielsweise die Steuerzahler, die die Subventionen für westdeutsche Investoren bezahlt haben, und die Beschäftigten in Ostdeutschland, die auf die Straße flogen. Nun gut, seien wir ein wenig zynisch, indem wir die klimapolitische Dimension dieses Markterschließungsprogrammes gutwillig zur Kenntnis nehmen. Doch lässt sich diese Entwicklung langfristig fortschreiben? Nehmen wir für die Analyse einmal die umweltökonomische Gesamtrechnung des Statistischen Bundesamtes zur Hand. Dessen Präsident gab vor einem Monat zu bedenken, dass mehr als die Hälfte des gesamten Rückgangs des CO2-Ausstoßes in Deutschland zwischen 1990 und 1999 in den ersten zwei Jahren nach der Vereinigung realisiert wurde. Seitdem verlangsamte sich die Reduktion drastisch. Dazu kommt ein internationaler Aspekt: Die Importe von Energieträgern wie Kohle, Gas, Öl stiegen von 1991 bis 1997 um fast 16 Prozent an, während die Gewinnung von einheimischen Energieträgern um 26 Prozent zurückgefahren wurde. So werden Umweltprobleme ins Ausland verlagert. Vor dem Hintergrund dieser Gesichtspunkte relativiert sich die Zahl von 16,2 Prozent CO2-Gesamtreduktion in der Bundesrepublik Deutschland sowohl im Umfang als auch im Trend schon erheblich. Die Frage lautet also: Sind wir für die anspruchsvollen Ziele der Bundesregierung gerüstet? Schließlich geht es ja nicht nur um eine 25-prozentige Reduktion bis 2005. Es geht um 45 Prozent bis 2020. Als Kernprobleme identifiziert die Bundesregierung den Verkehr und die Wärmedämmung. Im Verkehrsbereich wachsen die Emissionen unvermindert an. Nun soll bis 2003 eine entfernungsabhängige Schwerlastabgabe eingeführt werden. Dies ist sicher zu begrüßen. Doch wo bleibt das Tempolimit? Wir sind da in der EU völlig isoliert. Freie Fahrt für freie Bürger - dies scheint jetzt auch der Schlachtruf von Rot-Grün zu sein. ({1}) Ich habe schon mehrmals in diesem Hause folgende Aussage aus einer Studie des Wuppertal-Instituts zitiert: Ohne wirksame Gegenmaßnahmen wird das Wachstum des Verkehrs bis zum Jahre 2020 sämtliche Einsparungen von Klimagasen in den anderen Bereichen zunichte machen. Die LKW-Emissionen werden drastisch, um 38 Prozent, wachsen und der Flugverkehr wird im Jahr 2020 das Klima genauso stark belasten wie der PKW-Verkehr. Herr Mehdorn hat ja beim Kassensturz seines Unternehmens graue Haare bekommen. Verdeckte Altlasten aus Zeiten ausgedienter CDU-Parteifreunde an der Spitze der Bahn AG, so wird jetzt das Milliardendefizit umschrieben. ({2}) - Wer brüllt, fühlt sich betroffen. - Da ist zwar etwas dran, aber es ist nur die halbe Wahrheit. Die Streckenstilllegungen gehen weiter und der Interregio steht zur Disposition. ({3}) Damit würden aber ganze Regionen von einem Zugverkehr abgekoppelt werden, der größere Strecken auch in vertretbarer Zeit zurücklegt. Wo soll eine solche Verkehrspolitik hinführen? Wieder einmal wird eine Energiesparverordnung angekündigt. Auch wir sind wie die Bundesregierung der Auffassung, dass gerade die möglichen Energieeinsparungen im Gebäudebereich große Potenziale für den Klimaschutz enthalten. Die Summe von 400 Millionen DM pro Jahr aus dem Bundeshaushalt dafür macht aber nicht einmal ein Fünftel des Betrages aus, den die Bundesregierung im Zuge der Entlastungen dank der Ökosteuer den Unternehmen schenkt. ({4}) Ich möchte noch einmal wiederholen, dass die Nettoentlastung der Wirtschaft in Höhe von 2,2 Milliarden DM nicht nur von den Bürgerinnen und Bürgern bezahlt werden muss, sondern auch zulasten der Umwelt geht. Wenn gerade die Energiegroßverbraucher außen vor bleiben, ist das Wort „Ökosteuer“ eher ein Witz. ({5}) Das Ganze ist nicht nur politisch - wegen der Proteste an der Zapfsäule, denen man sich stellen könnte, wenn man vernünftige und gerechte Konzepte hätte -, sondern auch volkswirtschaftlich ein teures Vergnügen. Denn die Ressourcen für den Klimaschutz sind ja nicht unerschöpflich. Aus volkswirtschaftlicher Sicht geht es letztlich auch darum, Klimaschutzpolitik effizient zu gestalten. Jetzt springt leider niemand von der F.D.P. auf und schreit nach flexiblen Instrumenten. Deshalb zum Abschluss noch einmal zurück zu Den Haag. Der Klimaschutz soll laut Modell mittels Emissionshandels für alle Beteiligten bei gleichen umweltpolitischen Ergebnissen billiger werden. Abgesehen von der Tatsache, dass die als umweltpolitisches Ziel dienenden Kioto-Vorgaben für die Gemeinschaft von 8 Prozent Reduktion aus naturwissenschaftlicher Sicht völlig unzureichend sind, ist eine solche Überlegung natürlich sinnvoll. Doch ist der Emissionshandel auch zielführend und praktikabel vollzugsfähig? Wir haben bezüglich des Handels innerhalb Europas starke Zweifel. Für den Handel in größerem Maßstab, beispielsweise zwischen den USA und Osteuropa, lehnen wir ihn, Stichwort „heiße Luft“, schlichtweg ab. Das Grünbuch der EU stellt wirklich kluge Fragen, die noch nicht beantwortet sind: Wie und zu welchem Preis werden die Emissionsmengen verteilt? Wie wird das Verhältnis zwischen am Handel teilnehmenden und am Handel nicht teilnehmenden Staaten bzw. Unternehmen unter Wettbewerbsgesichtspunkten organisiert? Vor allem: Wie lässt sich ein so gewaltiges System mit vertretbarem Aufwand tatsächlich kontrollieren? Es geht nicht um die überschlägige Abschätzung der CO2-Emissionen einzelner Bereiche der Volkswirtschaft. Es geht um die genaue Erfassung des CO2-Ausstoßes jedes einzelnen beteiligten Unternehmens. Das Problem der Schlupflöcher ist bekannt; es wurde schon angesprochen. Wir haben den Verdacht, dass der globale Klimaschutz mit den flexiblen Instrumenten auf eine falsche Fährte gelenkt werden soll, zugunsten cleverer Unternehmen und zulasten wirksamer Klimaschutzprogramme - letztlich gerade zulasten der ärmeren Teile dieser Welt. Das, Herr Minister Trittin, muss verhindert werden. Wir werden das auf keinen Fall mittragen. Danke. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Michael Müller, SPD-Fraktion, das Wort.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Lippold hat zu Recht darauf hingewiesen, dass dieses Haus nicht nur wegen der anstehenden Konferenz in Den Haag, sondern auch weil es ebenfalls in der Vergangenheit zum Thema Klimaschutz wirklich wichtige Beiträge geleistet hat, bei dieser Debatte eine besondere Verpflichtung hat. Das ist richtig. Das, was wir nach 1987, nach der Einsetzung der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre“, an wissenschaftlichen und politischen Arbeiten geleistet haben, ist etwas, worauf dieses Haus stolz sein kann. ({0}) Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass diese Arbeiten nicht kleingeredet werden. Sie sind ein Schwerpunkt des ökologischen und politischen Profils des Bundestages, das wir nicht verspielen und das sich jetzt bestätigen muss. Es ist völlig richtig: Vor dem Hintergrund dieser Arbeiten stellten wir uns die Frage, wie es sein kann, dass noch immer ein so eklatanter Widerspruch zwischen unserem weitgehend gesicherten Wissen und den nach wie vor in vielen Bereichen halbherzigen Konsequenzen besteht: Die Klimaveränderungen und die damit für die Menschheit verbundenen Herausforderungen sind offenkundig eine Schlüsselfrage der Menschheit; trotzdem bewegt sich nur so wenig. Diese Problematik gehört ins Zentrum unserer politischen Diskussion. Ich möchte zu den Chancen und zu den Risiken sprechen. Der erste Grund, warum der Klimaschutz wichtig ist, liegt darin, dass wir wissen: In der Zukunft wird es ohne ökologische Stabilität auf der Erde keinen Frieden geben. ({1}) Ökologische Stabilität ist ein zentraler Punkt einer nach vorne gerichteten Politik. So wie in der Vergangenheit die Frage der sozialen Gerechtigkeit wichtig war - und bleiben wird -, so wird in der Zukunft die Behandlung der Frage der ökologischen Stabilität darüber entscheiden, ob wir zu einer partnerschaftlichen, friedlichen Welt kommen oder ob Spannungen und Konflikte zunehmen. Deshalb ist diese Angelegenheit kein Randthema. Wir tragen hier große Verantwortung in einer immer mehr zusammenwachsenden Welt. ({2}) Der zweite Grund, warum wir auf den Klimaschutz so viel Wert legen: Die Klimafrage ist wie kaum ein anderes Thema mit der Nachhaltigkeitsdebatte verbunden. Wir werden, was die Herstellung von Nachhaltigkeit angeht, nicht weiterkommen, wenn wir nicht koordinierte Schritte hin zu mehr Klimaschutz machen. Klimaschutz ist das zentrale Thema. Darin bündelt sich alles, was an ökologischen, an technologischen, an sozialen und an umweltpolitischen Herausforderungen der Zukunft zu sehen ist. Insofern bedeuten Fortschritte beim Klimaschutz auch Fortschritte bei der Nachhaltigkeit. Der dritte wichtige Punkt ist: Wir erleben, dass die lange Phase der Industriegesellschaft, die vor allem mit der Erwerbsarbeit verbunden war, also mit einer Arbeit, die in hohem Maße auch auf Kosten des Naturkapitals gelebt hat, zu Ende geht. Die Zukunft wird andere Formen von Arbeit brauchen und es wird sich vor allem in den Industriestaaten entscheiden, ob die Erwerbsgesellschaft in Zukunft eine Organisationsform findet, die Frieden mit der Natur schließt, oder ob wir künftig weiter auf Kosten kommender Generationen leben. Der Klimaschutz ist für uns eine Chance, Arbeit und Umwelt miteinander zu verbinden. Diese Chance müssen wir nutzen. Deshalb ist übrigens auch die ökologische Steuerreform so wichtig. Es gibt weltweit kein Dokument zum Klimaschutz, in dem sich nicht die Forderung nach mehr ökologischer Steuerreform findet. ({3}) Und natürlich ist der Klimaschutz auch eine Herausforderung an die Effizienzrevolution. Wir haben die große Chance, die höhere Produktivität zu nutzen, die wir durch Energieeinsparung und rationelle Ressourcenverwendung ermöglichen können. Sosehr wir es akzeptieren und auch stolz darauf sind, dass wir in der Bundesrepublik die CO2-Emissionen gegenüber 1990 erheblich verringert haben - wir wissen auch, dass ein Großteil auf den Strukturwandel in den neuen Bundesländern zurückzuführen ist -, ist es doch alarmierend, dass das Wachstum der Energieproduktivität in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen ist. Wir hatten in den 70er-Jahren nach der ersten Energiepreiskrise ein Wachstum von rund 2,5 Prozent. In dem darauf folgenden Jahrzehnt hatten wir einen Schnitt von etwas über 2 Prozent zu verzeichnen und heute liegen wir jetzt nur noch bei 1,5 Prozent im Wachstum der Energieproduktivität. Wir nutzen bei weitem nicht das, was wir könnten. Insofern müssen wir zugeben, dass ein Großteil der CO2-Reduktion auf den Strukturwandel und - leider nicht auf eine aktive Energie- und Umweltpolitik zurückzuführen ist. Hier hätte unser Land mehr tun können; denn wir haben erhebliche Produktivitätsreserven, die bisher aber nicht genutzt worden sind. Meine Damen und Herren, ich will auch über die Risiken sprechen. Das größte Risiko - und auch eine gewaltige Herausforderung an unser Denken - ist der zeitliche Druck, die große Beschleunigung und Hektik, unter der die moderne Zivilisation steht. Wir wissen: Klimaänderungen haben einen zeitlichen Vorlauf von vier bis fünf Jahrzehnten. Das heißt: Das, was in den letzten 40 bis 50 Jahren an Wärme stauenden Gasen freigesetzt wurde, werden wir erst in der Zukunft zu spüren bekommen. Ein Teil der Zukunft ist also schon nicht mehr veränderbar. Das ist für uns, die wir immer sehr auf die Gegenwart, auf die Aktualität bezogen sind, eine gewichtige Herausforderung an unsere Verantwortung und unser Handeln. Dies fällt in einer Phase, in der wir durch die Globalisierung wie noch nie zuvor nur auf eine kurzfristige Verwertungslogik ausgerichtet sind, umso schwerer. Um es deutlich zu sagen: Die heutigen Mechanismen der Globalisierung sind mit ökologischer Verantwortung nicht vereinbar. Hier brauchen wir eine ökologische Gestaltung. ({4}) Wir müssen auch wissen, dass wir in der Klimaproblematik unterschiedliche Betroffenheiten haben. Auch das macht einen Teil der Problematik aus, dass zu wenig getan wird. Ein Teil dieser Welt wird weitaus später und geringer von ökologischen Katastrophen betroffen sein als insbesondere die instabilen Länder in den tropischen und subtropischen Zonen. Auch dies ist eine Herausforderung an unsere Verantwortung, an unser Denken in globalen Zusammenhängen und an unser Handeln für eine friedliche Welt. Ich will einen weiteren Aspekt nennen. In vielen Fragen haben wir es mit einem hohen Maß an Nichtwissen zu tun. Ein Beispiel: Das vielleicht aktivste Treibhausgas ist Wasserdampf. Wir reden fast nur über den so genannten trockenen Treibhauseffekt, also über Kohlendioxid, Methan und andere Wärme stauende Gase. Wir wissen nicht, welche Folgen beispielsweise die Erwärmung der Erde und die hierdurch verstärkte Verdunstung in die Atmosphäre haben kann. Wir wissen aber, dass sich durch die bisherige Erwärmung bereits etwa 5 Prozent mehr Wasserdampf in der Atmosphäre befinden und sich insofern die Wärmebilanz und der Energiehaushalt der Atmosphäre verändern. Das kann auch schon kurzfristig zu sehr gravierenden Wetterextremen und -veränderungen führen. Wir wissen zu wenig über diese Prozesse. Umso wichtiger ist es, vorsorgend zu handeln und nicht zu warten, bis wir durch Ereignisse gezwungen werden, tätig zu werden. ({5}) Als letzter Punkt kommt hinzu - er ist noch nicht oft genug angesprochen worden -: Wenn wir das heutige Niveau der Industrieländer beibehalten, müsste die Ressourcenmenge für die Erde etwa zehn Mal höher sein, als sie tatsächlich ist, um die Bedürfnisse der wachsenden Weltbevölkerung zu befriedigen. Das ist nicht machbar. Insofern bringe ich es auf den Punkt: Klimaschutz bedeutet im Kern ein radikales Umdenken in den Industriestaaten. Sie müssen die Fähigkeit zeigen, mit den begrenzten Ressourcen der Erde umzugehen. Das ist der entscheidende Punkt. An dem werden wir gemessen. ({6}) Wir haben heute bereits eine Situation, dass die Temperaturen etwa ein Grad Celsius über dem natürlichen Treibhauseffekt liegen. Wenn der Trend anhält, werden wir Ende dieses Jahrhunderts mit einem weiteren Ansteigen der Temperatur um 1,5 bis 3,0 Grad Celsius rechnen müssen. Die kritische Erwärmungsobergrenze, die im äußersten Fall noch vertretbar ist, liegt bei etwa 1,5 Grad Celsius. Das heißt: Wir liegen heute schon knapp an der Grenze dessen, was die Erde verkraften kann - und das vor dem Hintergrund der Zeitverzögerung, die Klimaprozesse haben. Die Klimaänderungen sind sehr viel dramatischer, als wir es uns in der Regel eingestehen. Das Schlimme ist: Durch die alltägliche Berichterstattung haben wir uns so an diese Meldungen gewöhnt, dass wir die Tragweite der Informationen scheinbar gar nicht mehr richtig wahrnehmen können. Umso mehr stellt sich die politische Verantwortung. Wir, die politisch Verantwortlichen, können nicht sagen, dass wir die Fakten nicht gewusst haben. Insofern wünschen wir uns, dass der Umweltminister in Den Haag Erfolg hat. Die Grundlinie heißt: Wir müssen in Europa und in Deutschland ein Beispiel dafür liefern, dass Ökologie und Ökonomie dauerhaft miteinander verbunden werden können und dass dieses vor allem sozial verträglich organisiert werden kann. Das sind die beiden Herausforderungen an uns. Erste wichtige Schritte haben wir gemacht, beispielsweise durch die Einleitung der Energiewende und durch eine Reihe von anderen Programmen, wozu auch die Ökosteuer gehört. Natürlich ist die Ökosteuer unbequem, aber es ist viel schlimmer, sich am Ende, wenn große Veränderungen eintreten, vorwerfen zu lassen, dass nicht gehandelt hätten. Wir müssen die Verantwortung der Politik auch wirklich wahrnehmen. Deshalb werden wir an der Ökosteuer festhalten. ({7}) Die Wissenschaft sagt - ich zitiere Professor Hasselmann vom Max-Planck-Institut -: Wir haben beim Klimawechsel von einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent auszugehen. Das ist eine Herausforderung, aus der man sich nicht durch parteipolitische Tricks herausstehlen kann. Hier sind wir alle gefordert, auch unbequeme Wahrheiten zu sagen, aber auch die Chancen einer Klimapolitik zu ergreifen. Die Chancen habe ich genauso aufgezeigt wie die Risiken. Wir müssen beides sehen und handeln. Vielen Dank. ({8})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Peter Paziorek, CDU/CSU-Fraktion. Michael Müller ({0})

Dr. Peter Paziorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001685, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Konferenz in Den Haag darf nur ein Ergebnis haben: Es muss eine Einigung erzielt werden, wie das weltweite Wirtschaftswachstum endlich einen klimafreundlichen Weg einschlagen kann. Herr Müller, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu: Im Vorfeld dieser Konferenz müssen wir über den Tellerrand unserer nationalen Klimaschutzpolitik hinwegschauen. Es kann heute nicht nur darum gehen, darüber zur reden, wie gut wir sind und was wir noch besser machen müssen. Vielmehr müssen wir heute auch darüber reden, dass die Industrieländer handeln müssen, damit es anderen auf dieser Erde nicht schlechter geht. Das müssen wir - das ist das große politische Problem - auch der Bevölkerung in unserem Land verdeutlichen. Aber ich sage: Wenn man das so lustlos macht, wie das der Bundesumweltminister heute Morgen hier getan hat, dann frage ich mich: Wo ist die Begeisterungsfähigkeit, um die Menschen von diesem Weg zu überzeugen und sie auf diesem Weg mitzunehmen? ({0}) Herr Minister, ich muss deutlich sagen: Ihr Redebeitrag heute Morgen war eine personifizierte Energieeinsparverordnung. Es war falsch, sich bei diesem Punkt so zurückhaltend zu verhalten. ({1}) Ich kann dafür nur einen Grund finden: Sie haben die Befürchtung, dass Den Haag scheitern könnte, und wollen wahrscheinlich nicht mit einem Misserfolg identifiziert werden. Ich kann nur sagen: Nehmen Sie sich ein Vorbild an Töpfer und Frau Merkel. Diese standen Jahr für Jahr vor schwierigen Klimaschutzkonferenzen - die immer auf der Kippe standen - und haben sich sowohl in Deutschland als auch international bei den Vorbereitungen persönlich engagiert, um durch ihren persönlichen Einsatz die Fronten aufzuweichen und trotz unterschiedlicher Interessen zu einem Ergebnis zu kommen. Man hat persönlich gespürt - ich war bei verschiedenen Konferenzen, zum Beispiel in Rio, dabei -, wie beide versucht haben, zu einem vernünftigen Kompromiss zu kommen. Sie sind aber niemals hier so aufgetreten, wie Sie es eben gemacht haben. Wer von einer Sache nicht selbst begeistert ist, kann andere Menschen nicht mitnehmen. ({2}) - Eben. ({3}) Wenn ich mir ansehe, wie Sie in der letzten Zeit bei manchen Talkrunden - auch bei Angriffen gegen die Union - ganz massiv, teilweise überaus engagiert und stark polemisch an die Sache herangegangen sind, muss ich sagen: Sie können es auch anders. Deshalb stelle ich mir die Frage: Warum waren Sie heute Morgen so zurückhaltend? ({4}) Im Rahmen der globalen Umweltpolitik ist es natürlich auch richtig, dass wir über unsere nationalen Maßnahmen reden. Das können wir aber nur mit einem klaren Konzept und großer Begeisterungsfähigkeit; an beiden Punkten hat es heute gefehlt. ({5}) Ich möchte hinsichtlich der Frage eines klaren internationalen Konzeptes einige Zahlen nennen: Die Volksrepublik China hat 1995 3,3 Milliarden Tonnen CO2 emittiert, 1997 3,1 Milliarden Tonnen; mittlerweile - nach einem kurzzeitigen Rückgang durch eine Änderung der Wirtschaftspolitik - hat man wieder 3,3 Milliarden Tonnen erreicht. Damit liegen in absoluten Zahlen gemessen viele Staaten in Südostasien vor den Staaten der Industrieländer. Stellt man einen Pro-Kopf-Vergleich an, wird man erkennen, dass pro Kopf die USA etwa achtmal so viel CO2 ausstoßen wie China. Die neuesten Forschungsergebnisse, die am Wochenende in der Presse veröffentlicht worden sind, machen deutlich: Es muss schnell gehandelt werden, es muss nicht nur national, sondern auch global sinnvoll gehandelt werden. Es ist nicht länger zu leugnen, dass Klimaschutzpolitik auch Wirtschafts- und Entwicklungshilfepolitik ist. Die rasante Industrialisierung Asiens, der Hunger nach immer mehr Energie und das Bedürfnis der Länder Asiens, Konsum nachzuholen, stellen uns in dem Bemühen, die globalen CO2-Emissionen zu reduzieren, vor gewaltige Herausforderungen. Diese Herausforderungen können nicht allein national bewältigt werden; auch für die Europäische Union ist dabei unter realistischer Sichtweise der Rahmen zu klein. Es hilft nur eine globale Sichtweise und hinsichtlich des globalen Klimaschutzes hat - das muss man leider feststellen - die Bundesregierung in den letzten Monaten konzeptionell versagt. Das von Ihnen, Herr Umweltminister Trittin, kürzlich vorgestellte Programm zum Klimaschutz enthält gute Ansätze - ich will das gar nicht leugnen -, bezeichnet aber die vorgesehenen Maßnahmen nicht konkret genug und kommt zeitlich eindeutig zu spät. ({6}) Die Maßnahmen hätten schon vor zwei Jahren in Angriff genommen werden müssen. Weiterhin weisen Sie voller Stolz darauf hin, Sie hätten eine Vereinbarung mit der deutschen Industrie hinsichtlich einer Selbstverpflichtung erzielt. Zunächst einmal, Frau Bulling-Schröter, muss ich Ihnen sagen: Ihre Zahl stimmt nicht; der Fortschritt im gewerblichen Bereich der Industrie bei dem Bemühen, die CO2-Emissionen zu reduzieren, liegt seit 1990 bei minus 31 Prozent. Herr Trittin, Sie weisen auf die neue Vereinbarung zur Selbstverpflichtung hin. Ich kann mich noch daran erinnern, dass dieses Instrument der Selbstverpflichtung, das wir 1995 in die deutsche Umweltpolitik eingeführt haben, vor wenigen Jahren von Ihnen massiv bekämpft worden ist. ({7}) Sie haben es als ein Instrument bezeichnet, das zeigt, dass wir nicht den Mut hätten, gegen den CO2-Ausstoß wirklich engagiert vorzugehen. Nun gehen Sie hin und sagen: Das ist ein erfolgreiches Instrument. ({8}) Sie kopieren das, was unter Töpfer und Merkel bahnbrechend entwickelt worden ist. ({9}) Wir geben natürlich zu: Die Situation ist sehr schwierig. Die Bereitschaft einiger internationaler Partner zu Kompromissen in der Klimaschutzpolitik hat - ich will das mal so formulieren - nicht zugenommen. Staaten wie USA und Japan versuchen in den angestrebten rechtlichen Vereinbarungen Schlupflöcher abzusichern; dies können wir nicht akzeptieren. In diesem Punkt haben Sie die ausdrückliche Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion. Wer bei der Bekämpfung der Folgen des Klimawandels auf Schlupflöcher setzt, ist für die negativen Folgen einer solchen Politik mitverantwortlich. Wir müssen damit an die USA appellieren: Macht bei glaubwürdigen Vereinbarungen und effektiven Reduktionen mit und setzt euch nicht immer von einer sinnvollen Klimaschutzpolitik ab. ({10}) Wir werden heute Zeugen einer Verschiebung des Schwergewichts an Emissionen vom Nordatlantikraum nach Asien. Die Reduktionserfolge in Deutschland und in ganz Europa werden binnen kürzester Zeit durch das Wirtschaftswachstum in Asien aufgezehrt werden. Um nicht missverstanden zu werden: Auch die CDU/CSU-Fraktion steht eindeutig zu dem Ziel, den nationalen CO2-Ausstoß um 25 Prozent bis zum Jahre 2005 zu reduzieren. Das mag im globalen Vergleich zwar nur ein geringer Beitrag sein. Aber er ist notwendig, um bei den anstehenden internationalen Verhandlungen glaubwürdig auftreten zu können. Wir können mit den Entwicklungsländern nur glaubwürdig verhandeln, wenn wir selbst unsere Hausaufgaben machen und Lösungen entwickeln und anbieten, die im globalen Rahmen effektiv und auch finanziell sinnvoll sind. Ich glaube, dass wir in diesem Hause in vielen Punkten des Klimaschutzes übereinstimmen. Es ist im Interesse der Klimaschutzpolitik, dass wir gemeinsam agieren. Deshalb sage ich ganz deutlich: Es ist sehr schade, dass es nicht gelungen ist, in Vorbereitung auf Den Haag noch kurzfristig, wie ich es erst gestern noch im Umweltausschuss angeregt habe, einen fraktionsübergreifenden Entschließungsantrag zu verabschieden. Das hätte die deutsche Verhandlungsposition enorm verbessert. ({11}) - Nein, Frau Ganseforth, Sie hätten mit Ihrer Regierungsmehrheit die Aufgabe gehabt, auf die Opposition zuzugehen, und zwar so, wie wir es 1992 auch getan haben. ({12}) - Doch, das ist wahr. Am 6. Mai 1992 haben die Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. - die Grünen waren damals nur durch das Bündnis 90 in diesem Hause vertreten, weil sie bei den Bundestagswahlen 1990 die Fünfprozenthürde nicht überwunden hatten - einen gemeinsamen, also einen fraktionsübergreifenden, Antrag - er trägt die Unterschriften von Schäuble, Klose und Solms - verabschiedet, in dem es heißt: Der Deutsche Bundestag begrüßt den jetzt vorgelegten Bericht der Enquete-Kommission und fordert die Bundesregierung auf, die Empfehlung des Berichts auf nationaler und internationaler Ebene bei ihren Initiativen und Entscheidungen zu berücksichtigen. ({13}) So lautet der gemeinsame Beschluss der Fraktionen vor der Rio-Konferenz 1992. Sie hatten überhaupt kein Interesse an einer gemeinsamen Position. Ich finde es schade, dass es jetzt keinen fraktionsübergreifenden Antrag gibt. Ich habe schon gestern gesagt, wir hätten einen solchen Antrag mitgetragen. ({14}) Ich darf Sie, Herr Trittin, daran erinnern: Es wird jetzt darauf ankommen, eine Strategie zu entwickeln, die Antwort auf die Fragen gibt ({15}) - Frau Ganseforth, es hat Sie wohl ziemlich getroffen, dass ich mich daran erinnern konnte, was wir 1992 gemeinsam verabschiedet haben; tut mir Leid! -: ({16}) Wie können flexible Instrumente auf globaler Ebene möglichst effektiv eingesetzt werden? Wie kann ein Technologietransfer zwischen den Schwellenländern und Europa organisiert werden? Wie kann das berechtigte Streben der Länder Asiens nach mehr Wohlstand mit der Sorge um das Weltklima in Einklang gebracht werden? Es wird nicht ausreichen, dass man sich in Deutschland und in Europa gegenseitig Erfolge bescheinigt; vielmehr wird es darauf ankommen, dass wir in einen echten Dialog mit den großen Emittenten von morgen treten und mit diesen eine Partnerschaft zum Schutze des Weltklimas begründen. Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, Vorschläge für eine Strategie, die zu einer echten Partnerschaft zugunsten des Weltklimas führt, vorzulegen, die es den anderen Staaten ermöglicht, das Kioto-Protokoll zu ratifizieren, damit es endlich verbindlich wird, eine Strategie zu entwickeln, die Ökonomie und Ökologie versöhnt, den Belangen der Schwellenländer und der Entwicklungsländer Rechnung trägt und auch die zaudernden europäischen Partner motiviert, sich an ihre Reduktionsverpflichtungen zu halten. Herr Trittin, machen Sie die deutsche Klimaschutzpolitik wieder glaubwürdiger in der Welt; engagieren Sie sich auch persönlich stärker für eine solche Politik und verpassen Sie nicht die Chance, Den Haag zu einem Erfolg für den Klimaschutz zu machen! Wenn Sie diese Punkte berücksichtigen, aber nur dann, wird Ihnen die Unterstützung der Umweltpolitiker der CDU/CSU sicher sein. Vielen Dank. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man mit einer gewissen Distanz die internationalen Verhandlungen betrachtet und sie einmal ins Verhältnis zu dem setzt, was viele Rednerinnen und Redner in der heutigen Debatte unter den großen Herausforderungen verstehen, dann muss man festhalten, dass es eigentlich schier unerträglich ist, wie langsam der Prozess des Klimaschutzes vorangeht. ({0}) Ich finde es nur schwer erträglich, dass die Ziele nur minimal und - gemessen an den großen Herausforderungen - nicht ambitioniert genug sind. Schließlich ärgert mich - das finde ich gar nicht mehr erträglich -, dass in manchen Ländern offenbar die Mentalität vorherrscht, zu fragen, wie man es vermeiden kann, etwas zu tun. Das ist eine grundlegend falsche Haltung. Wir brauchen vielmehr die Einsicht, dass wir etwas tun müssen. Wir müssen uns fragen, auf welchem Wege wir etwas erreichen können. ({1}) Ich beklage diesen schleppenden internationalen Prozess - ich habe bei Ihnen durchaus ähnliche Tendenzen ausgemacht - und bin der Meinung, dass es notwendig ist, dass wir auf nationaler Ebene alles in unserer Verantwortung Stehende tun und dass wir nicht länger auf die anderen starren und sagen: Erst wenn die etwas machen, tun wir etwas. Wir müssen vielmehr sagen: Lasst uns gemeinsam voranschreiten! Das ist unsere Verpflichtung. Es kommt jetzt darauf an, im eigenen Land sinnvolle Projekte und Strategien für den Klimaschutz zu entwickeln. Ich bin froh, dass wir heute darüber diskutieren können, nachdem eine Klimaschutzstrategie der Regierung bereits vorgelegt wurde und nachdem wir in vielen Bereichen einiges erreicht haben. Beispielsweise konnten wir im Bereich der Energiepolitik die Wende einleiten. Was müssen wir tun? Was ist die neue Maxime? Man kann unsere Ziele als einen neuen Dreiklang formulieren: weniger Energieverbrauch und CO2-Emissionen, effizienterer Einsatz von Energie sowie intelligentere Nutzung der Energie, was eine Nutzung regenerativer Energien beinhaltet. Die Politik der Koalition hat auf diesem Gebiet zweifellos große Fortschritte erzielt. Ich will Ihnen jetzt nicht vorwerfen - das ist ja ansonsten ein beliebtes Spiel in diesem Hause -, was Sie nicht gemacht haben. Ich denke, wir sind heute an einem Punkt angelangt, an dem wir nicht mehr zurückschauen sollten, sondern an dem sich alle bemühen sollten, neue Konzepte in die öffentliche Debatte einzubringen. Ich freue mich, dass die CDU/CSU einen Vorschlag hinsichtlich eines Altbauprogramms vorgelegt hat. ({2}) - Ja, das haben Sie schon öfter getan. Ich finde es gut, dass Sie jetzt einen systematischen Katalog vorlegen. Sie haben sich immer wieder darüber beklagt, dass wir bei der Energieeinsparverordnung nicht schnell genug vorankommen. Wir werden in den nächsten Monaten einen Vorschlag vorlegen, der in Richtung Ihres Antrags geht. ({3}) Natürlich sehen wir Energiekennzahlen sowohl für die Neubauten als auch für die Altbauten vor, damit transparent wird, wie viel Energie in den Häusern verbraucht wird. So werden wir sowohl im Neubaubereich als auch im Altbaubereich die Wende einleiten. ({4}) - Warten Sie es ab und seien Sie nicht gleich so skeptisch! Wir haben eine Reihe von Ihren Vorschlägen aufgegriffen. Im Übrigen kann ich Sie nur dazu auffordern, dass die von Ihnen regierten Bundesländer dazu beitragen, eine ambitionierte und anspruchsvolle Energieeinsparverordnung durch den Bundesrat zu bringen. Man sollte hier nicht starke Reden halten und auf Landesebene das Vorhaben ausbremsen. Ich bitte in diesem Punkt um Ihre Unterstützung. ({5}) Herr Paziorek, Sie haben zu Recht darauf verwiesen, dass im Bereich des Klimaschutzes die Selbstverpflichtung für uns inzwischen eine andere Rolle spielt als früher. Dazu möchte ich Ihnen sagen: Die ersten Selbstverpflichtungen haben darunter gelitten, dass sie relativ zahnlos, ({6}) nicht präzise genug und nicht überprüfbar waren, sodass sie relativ wirkungslos waren. Wir haben daraus gelernt und in unser Klimaschutzprogramm die Selbstverpflichtung nur zu einem kleinen Teil - für den größeren Teil haben wir härtere Maßnahmen vorgesehen, dazu haben Sie geschwiegen - aufgenommen. Aber diese Selbstverpflichtung haben wir sozusagen so scharf gemacht, damit etwas Wirkungsvolles dabei herauskommt. Ich glaube, das ist ein wichtiges Element einer neuen Umweltpolitik. ({7}) Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung zur PDS. Ich amüsiere mich manchmal darüber, dass Sie von der PDS im Umweltausschuss und auch hier in Ihren Reden immer eins draufsetzen und sagen: Macht endlich mehr! Ihr habt doch früher mehr gefordert! Immer dann, wenn eine Maßnahme greift, seid ihr die Ersten, die larmoyant rufen, dass es irgendwie die Falschen trifft. ({8}) - Beispielsweise Ökosteuer. ({9}) Ihr sagt andersrum: Bei der Ökosteuer werden die größten Verbraucher ausgenommen. ({10}) Das ist banal gedacht. Wir haben diese Regelung doch nicht eingeführt, weil wir die Großverbraucher schonen wollen, sondern weil Arbeitsplätze dort gefährdet werden würden, wo die Energie eine große Rolle bei der Produktion spielt. Nachhaltige Politik heißt, soziales Denken mit ökologischem Denken zu verbinden und in diesem Sinne zu sagen: Wir brauchen eine Übergangsregelung. ({11}) Man ist auch deswegen so vorgegangen, um nicht Arbeitsplätze zu gefährden. Das müssen Sie doch verstehen. Denn an anderer Stelle sind Sie immer diejenigen, die sofort nach der - aus meiner Sicht nicht ausgeklügelten Strategie des sozialen Ausgleichs rufen. ({12}) Das alles sollten Sie einmal zur Kenntnis nehmen. Ich warte auf eine Kampagne der PDS, wie man in besonderer Weise in den neuen Bundesländern etwas zum Klimaschutz beitragen kann. ({13}) Denn dort gibt es sowohl bei den Strukturen als auch bei den Menschen besondere Ansatzpunkte. Was wir heute wirklich brauchen, ist nicht das Rufen nach dem Staat und der Politik; denn an den Rahmenbedingungen haben wir viel geändert. Was wir vielmehr brauchen, ist, dass auf allen Ebenen gesellschaftliche Gruppen, Organisationen, ja Bündnisse entstehen, die sich für den Klimaschutz einsetzen. Das, was vor Jahren auf kommunaler Ebene begonnen hat, muss in allen anderen Bereichen der Gesellschaft fortgesetzt werden, zum Beispiel bei den Verbrauchern. Auch der ADAC sollte nicht nur zum Spritsparen aufrufen, sondern in diesem Zusammenhang eine richtige Kampagne durchführen. ({14}) Auch die Bauindustrie und die Eigentümer von Wohnhäusern und Eigentumswohnungen sollte eine Kampagne dahin gehend durchführen, dass sie in ihrem Eigentum den Klimaschutz beachten, da es zukünftig für alle sinnvoll ist, dem Klima etwas Gutes zu tun. Wir brauchen auch in der Wirtschaft, dort, wo viel Energie verbraucht wird, Impulse bzw. Bündnisse, die dafür sorgen, dass in allen Bereichen möglichst wenig Energie verbraucht wird. Wenn wir es nicht schaffen, dass sich neben der Politik viele Bürgerinnen und Bürger sowie Organisationen, also das, was man Zivilgesellschaft nennt, für den Klimaschutz stark machen und sich für ihn einsetzen, werden wir all die ambitionierten Ziele, die wir haben, nicht erfüllen können. Ich bitte sehr darum, dass Sie in Ihren Kreisen und in Ihren Bereichen, in denen Sie tätig sind, dafür werben, ein Bündnis für den Klimaschutz zu schaffen. Vielen Dank. ({15})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Eva BullingSchröter.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Kollege Winfried Hermann hat festgestellt, die PDS beziehe eine unglaubwürdige Position zur Ökosteuer. Ich möchte kurz die Position der PDS zur Ökosteuer darlegen - vielleicht ist sie Ihnen nicht mehr im Gedächtnis -: Erstens. Wir lehnen Ihre Ökosteuer ab. Wir sind nicht gegen eine Ökosteuer, sondern gegen Ihre Ökosteuer, weil wir sie für sozial ungerecht halten. ({0}) Denn mit dem Aufkommen aus dieser Ökosteuer werden Lohnnebenkosten kompensiert. Alle diejenigen, die keine Lohnnebenkosten zahlen, erfahren keinen sozialen Ausgleich. Das betrifft Sozialhilfeempfänger, BAföGEmpfänger sowie Rentnerinnen und Rentner, also eine ganze Reihe von Menschen. ({1}) - Sie sind zum Teil auch schwer belastet. Es gibt Rentnerinnen und Rentner, die sehr hohe Renten haben; aber es gibt auch andere. - Wir meinen, auch Sozialhilfeempfänger sollten ökologisch leben können. Durch den Umverteilungsprozess werden laut Herrn Minister Trittin 2,2 Milliarden DM von unten nach oben verschoben. Das heißt, die Unternehmen erzielen dadurch Gewinne. Dass man das Ganze vielleicht stufenweise einführen könnte, darüber haben Sie offensichtlich nicht nachgedacht. ({2}) Natürlich muss auch die Frage der Arbeitsplätze eine Rolle spielen; aber nicht nur diese Frage ist hierbei wichtig. Zweitens zur ökologischen Lenkungswirkung. Sie könnte wesentlich größer sein. Dies wäre dann der Fall, wenn man bei der Primärenergie ansetzen würde, wie die Umweltverbände das immer wieder fordern. ({3}) - Sie können gerne später darauf eingehen. Drittens zum ökologischen Umbau. Wir meinen, dass das Aufkommen aus der Ökosteuer komplett in den ökologischen Umbau fließen sollte. ({4}) Das hieße dann, dass zum Beispiel der öffentliche Nahverkehr ausgebaut werden müsste. Auch im Gebäudebereich wären Maßnahmen nötig. ({5}) Zu Ostdeutschland nur eine Zahl: Zu Zeiten der DDR wurden 80 Prozent der Güter auf der Schiene transportiert. Jetzt hat sich diese Zahl an die im Westen angeglichen. Natürlich wird jetzt mehr Verkehr erzeugt. Man hätte das frühere Transportsystem belassen können. Die Binnenschifffahrt der DDR war zu 80 Prozent ausgelastet. Die Auslastung liegt in den neuen Bundesländern jetzt bei 30 Prozent. Hier wären Kapazitäten frei. Dies würde auch zur CO2-Reduzierung beitragen. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Zu einer Antwort erteile ich dem Kollegen Winfried Hermann das Wort.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin, worauf es mir ankam und was ich jetzt in Ihrer Antwort wieder nicht gehört habe, ist Folgendes: Sie müssen das Grundlegende zur Kenntnis nehmen. Wenn Sie eine ökologische Steuerreform machen, also eine indirekte Steuer erheben, treffen Sie zunächst alle gleich. Eine indirekte Steuer können Sie nicht sozial ausgewogen erheben; sie trifft eben diejenigen, die wenig haben, härter als diejenigen, die viel haben. ({0}) Parallel dazu müssen Sie etwas Zweites tun. Das hat diese Koalition gemacht. Parallel dazu haben wir eine sozial orientierte Steuerreform gemacht, die zu einer deutlichen Entlastung der unteren und mittleren Einkommensgruppen geführt hat, und wir haben eine Reihe von Ersatz- und Stützmaßnahmen zum Beispiel für Sozialhilfeempfänger, für Wohngeldempfänger oder auch für Rentner ergriffen. Wir haben uns darüber Gedanken gemacht, wie man die Rentner dauerhaft auf einem hohen Niveau absichern kann. Dies muss man zusammenzählen und darf es nicht auseinander dividieren. ({1}) Dasselbe gilt für die Investitionen. Wir haben zwar nicht die Einnahmen aus der Ökosteuer - wie Sie das wollen - für Investitionen genommen, aber wir haben in den letzten zwei Jahren in erheblichem Umfang aus allgemeinen Steuereinnahmen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung in die Infrastruktur und die Modernisierung investiert, gerade im Bereich der Bahn, und zwar vom Volumen her in einer Höhe, die sich auch im internationalen Vergleich wirklich sehen lassen kann.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat der Abgeordnete Michael Goldmann das Wort.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einige von uns sitzen jetzt seit zwei Stunden hier und beschäftigen sich mit dem Thema „Klimaschutz“. Wenn wir ein Fazit ziehen, kann man zu dem Ergebnis kommen: Wir haben viele schöne Worte gehört, aber es fehlt an vielen Stellen an den ganz konkreten Taten. Schon früher habe ich den Slogan „Global denken und lokal handeln“ ganz gut gefunden. Vorhin habe ich die Worte von Herrn Müller gehört, der gesagt hat, die ökologische Herausforderung habe ganz entschieden etwas mit Friedensbildung in der Welt insgesamt zu tun. Dies kann man nur unterstreichen. Herr Hermann hat gesagt: Wir stehen vor großen Herausforderungen, es handelt sich um einen schleppenden internationalen Prozess, der aber vor Ort mit Taten aufgefüllt werden muss. Wenn das alles so ist, sollten wir uns mit einem Bereich einmal ganz konkret befassen. Ich meine die Wohnungsbaupolitik und die dort vorhandenen CO2-Einsparpotenziale. Herr Hermann, ich bin sehr gespannt auf das, was Sie vorlegen. Aber bis jetzt haben Sie nichts vorgelegt. Sie haben in diesem Bereich bis jetzt nichts auf den Weg gebracht. Sie haben Ihre umweltpolitischen Hausaufgaben schlicht und ergreifend nicht gemacht. Sie werden die CO2-Minderungsziele im Gebäudesektor durch Ihr Nichtstun verfehlen. Das ist bedauerlich. Sie haben eine Energieeinsparverordnung nicht zustande gebracht, weil Sie sich in technischen Details verloren haben, weil Sie sich von Interessenvertretern haben beeinflussen lassen. Jetzt zum Schluss haben Sie auch noch Ärger in der eigenen Regierung, denn endlich ist der Minister in dieser Hinsicht aufgewacht - auch wenn ich ihn heute Morgen eher müde und einschläfernd erlebt habe - und nimmt auch noch Einfluss. Das führt dazu, dass wir hier nicht weiterkommen. Die Folgen Ihrer Untätigkeit, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, sind schon schlimm. Dieses ökologische Durchwursteln ({0}) - ja, so ist das - führt zu einer massiven Verunsicherung beim Mittelstand und beim Handwerk, ({1}) bei den Investoren, bei den Bauherren und den Energieversorgern. Ein großer Bereich, ein volkswirtschaftlich wichtiger Sektor mit Arbeitsplätzen und Investitionschancen, weiß nicht, wie es weitergehen soll, welche Standards, wann und mit welcher Ausgestaltung sie kommen. Es ist alles unklar. Herr Hermann, dass es nicht ganz so ist, wie Sie es darstellen, will ich anhand eines Beispiels belegen: In der letzten oder vorletzten Ausschusssitzung und auch hier im Plenum haben wir klammheimlich eine Verlängerung des Ökobonus für einen langen Zeitraum, nämlich über die Legislaturperiode hinausgehend, beschlossen. Sie haben das klammheimlich gemacht, weil Sie wussten, dass dieses Thema Ihnen, der Bundesregierung und auch den sie tragenden Fraktionen, nicht gerade zur Ehre gereicht. Aber es ist Beweis dafür, dass in dieser Wahlperiode nichts mehr passieren wird. Ich glaube, wir reden hier nicht nur über eine Kleinigkeit. Im Rahmen der globalen Herausforderung ist das, was in diesem Bereich zu leisten ist, sicherlich nur ein unwesentlicher Beitrag zur Verbesserung der Gesamtsituation. Aber wenn man nicht in den kleinen, vor Ort wichtigen Dingen anfängt, wird man bei den großen Weichenstellungen keinen Erfolg haben. Das Scheitern in dieser Frage wirft uns in genau den Bereichen zurück, in Bezug auf die das vorhin beklagt worden ist. Während wir früher, bei aller Auseinandersetzung in der Sache, ökologische Vorreiter waren, laufen wir, läuft in besonderer Weise die Bundesregierung jetzt Gefahr, sich vor der gesamten Ökogemeinde zu blamieren. ({2}) - Nein, das ist leider nicht albern. Sie werden bei Gesprächen mit Umweltinteressierten sehr genau erleben, dass das so eingeschätzt wird. ({3}) Wir sollten die Situation hier nicht durch schöne Reden und viele Worte wie Ökofrieden ganz generell übertünchen, sondern wir sollten uns wirklich ganz konkret daran begeben, unsere Hausaufgaben vor Ort zu machen. Wir sind dazu sehr bereit. Wir haben im Ausschuss zu dieser Thematik mehrere Vorstöße unternommen. Wir haben im Ausschuss ein eigenes Modell vorgestellt, das wesentlich effektiver wäre als das, was jetzt seitens der Bundesregierung angedacht wird. Denn das Modell der Bundesregierung wird die Probleme, die wir haben, nicht lösen, weil die Standards sehr unterschiedlich sind und weil das Verhalten der Menschen sehr unterschiedlich ist. Sie werden in diesen Bereichen nicht von oben einen Umerziehungsprozess verordnen können, sondern Sie müssen Weichenstellungen vornehmen, die dazu führen, dass die Menschen das von sich aus machen. ({4}) In diesen Bereichen haben Sie riesige Chancen verpasst. Wer Ökologie gestalten will, muss die Menschen dabei mitnehmen. Das darf er nicht nur global machen, nicht nur in Den Haag, sondern das muss er durch praktisches Tun in der Politik machen. ({5}) Was Herr Trittin sich heute Morgen hier geleistet hat, war in meinen Augen so verletzend gegenüber denjenigen, die umweltpolitische Interessen haben, dass ich darüber nur noch erschüttert bin. Ich will hier ganz persönlich sagen: Ich habe Herrn Trittin auch im niedersächsischen Landtag schon erlebt. Da war er zumindest kämpferisch. Heute Morgen war er dilettantisch in allen Fragen, in allen Herausforderungen, die an einen Minister zu stellen sind. Das ist eine für die ökologische Herausforderung betrübliche Entwicklung, die wir hier zu beklagen haben. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Frau Bundesministerin Heidemarie WieczorekZeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute Morgen ist mehrfach angesprochen worden, in welchem dramatischen Umfang auch europäische Länder bereits heute vom Klimawandel betroffen sind. Ich möchte an dieser Stelle einmal deutlich machen, was der Anstieg der Durchschnittstemperatur, die Häufung von Klimakatastrophen - Stürme, Regen, aber auch Dürre, häufig in den gleichen Regionen - und der Anstieg des Meeresspiegels bedeuten würden: nämlich dass Millionen von Menschen in den Küstengebieten von Bangladesch oder China ihr Land verlieren, dass trockenheitsbedingte Missernten in Afrika noch häufiger und bedrohlicher werden, als sie es heute schon sind, dass die Anbaugebiete für Kaffee, zum Beispiel in Zentralamerika, bedroht sind und dass sich Malaria etwa in Brasilien oder auch Pakistan rapide ausbreiten würde. Wir können so viel über Entwicklungszusammenarbeit reden, wie wir wollen: Wir müssen in dem Bereich des Klimaschutzes alles tun, um eine solche Entwicklung zu verhindern. Dabei müssen wir in unseren eigenen Ländern beginnen. Deshalb ist zum Beispiel das ökologische Umsteuern durch die ökologische Steuerreform ({0}) ein wichtiges Signal, auch an die Partnerländer, dass wir es mit diesen Fragen ernst meinen. ({1}) Ausgerechnet diejenigen Staaten - das wäre die Dramatik der Entwicklung -, deren Treibhausgasemissionen pro Kopf der Bevölkerung am niedrigsten sind, nämlich die Entwicklungsländer, würden am meisten unter den Folgen des Klimawandels leiden, denn sie liegen in den Regionen, die besonders betroffen sind, etwa was den Monsun anlangt, und sie haben häufig nicht die Finanzmittel, um sich frühzeitig zu schützen. Wir wissen, dass die Schäden, von denen alle Länder betroffen wären, in Milliardenhöhe lägen, und es ist ganz sicher, dass der Wohlfahrtsverlust in Entwicklungsländern mindestens etwa 10 Prozent des Bruttosozialproduktes betragen würde. Das ist eine dramatische Perspektive, der wir entgegenwirken müssen. ({2}) Ich möchte einen zweiten Punkt ansprechen. Hinsichtlich der Entwicklung der Energienachfrage geht man je nach Szenario davon aus, dass der Primärenergieverbrauch in den nächsten Jahren jedenfalls drastisch ansteigen wird, schon allein deshalb, weil es einen berechtigten Nachholbedarf der Entwicklungsländer gibt. Wenn wir es also tatsächlich schaffen wollen, den Anteil fossiler Brennstoffe signifikant zu senken, dann müssen wir sehr große Anstrengungen zur Energieeinsparung, zur rationellen Energieanwendung und zur Verbreitung erneuerbarer Energien auch in den Ländern des Südens unternehmen und fördern. Auch das ist Aufgabe unserer Entwicklungszusammenarbeit. ({3}) Es ist an den Industrieländern als den Hauptverursachern von Treibhausgasemissionen, beim Klimaschutz die Führungsrolle zu übernehmen. In einer späteren Phase - das sage ich allerdings ausdrücklich dazu - wird es auch darum gehen, Entwicklungsländer mit in verbindliche Verpflichtungen einzubeziehen, vor allem diejenigen, die hohe, stark anwachsende Treibhausgasemissionen haben. Das gebietet die globale Verantwortungsgemeinschaft, in der wir stehen. Was tut entwicklungspolitische Zusammenarbeit für den globalen Klimaschutz, und was kann sie dafür tun? Das sind häufig schwierige bilaterale Verhandlungen mit den Partnerländern, aber ich will an dieser Stelle einfach einmal sagen, welche praktischen Aktionen bisher stattgefunden haben. Erstens ist die Bundesrepublik Deutschland der weltweit größte Geber beim Programm für den Tropenwaldschutz, und das ist eine wichtige Leistung. Dieser Verpflichtung kommen viele andere G-7-Länder nach wie vor nicht ausreichend nach. ({4}) Wir stehen zu diesen Verpflichtungen und finanzieren das auch, und zwar in vollem Umfang. Zweitens. Wir fördern Photovoltaikanlagen in bestimmten Partnerländern, solare Systeme, die dazu beitragen, die Stromerzeugung weiter zu entwickeln. Wir unterstützen auch andere erneuerbare Energien, etwa Windkraftwerke in Indien und China oder auch die Nutzung von Biogas in Nepal. Ein Ziel der Bundesregierung ist es - das habe ich eben angesprochen; ich betone es an dieser Stelle noch einmal -, die Erfüllung der Aufgaben in den Bereichen erneuerbare Energien, Klimaschutz und Schutz des Tropenwaldes auf hohem finanziellen Niveau zu stabilisieren. Ich bin überzeugt, dass uns dies selbst in den laufenden Haushaltsverhandlungen gelingen wird. Im multilateralen Bereich - das ist öffentlich viel zu wenig bekannt - ist die Bundesrepublik Deutschland nach den USA und Japan der drittgrößte Geber der so genannten Global Environment Facility, das heißt der Globalen Umweltfazilität. Das ist eine Initiative, bei der es um die Finanzierung von Know-how etwa im Bereich des Transfers von konkreten Maßnahmen zur Minderung der Emission von CO2 und auch bei der Hilfe für die Entwicklungsländer geht, sie dabei zu beraten, damit sie überhaupt Klimaschutz in Gang bringen und in diesen Fragen einen Schwerpunkt setzen können. Die Global Environment Facility ist das Finanzierungsinstrument der Klimarahmenkonvention, und sie finanziert auch andere Bereiche - Biodiversität, internationalen Gewässerschutz und dergleichen. Unsere finanziellen Beiträge zur Global Environment Facility stellen einen Beitrag dazu dar, die Verpflichtungen zu erfüllen, die wir bei dem Erdgipfel 1992 in Rio eingegangen sind. Wir sind jetzt in die Neuverhandlungen zur Wiederauffüllung dieser entsprechenden Finanzen eingetreten. Wir werden auch unseren laufenden Verpflichtungen in Höhe von 420 Millionen DM in vollem Umfang nachkommen und damit bei den Verhandlungen unsere Entschlossenheit unterstreichen. ({5}) Ich möchte an dieser Stelle, bezogen auf die anstehende Konferenz, sagen: Wir halten nichts davon, neue Töpfe neben dieser Global Environmental Facility zu machen. Das könnte nur zu mangelnder Kohärenz führen. Das ist eine Orientierung, die manche Entwicklungsländer gerne möchten. Aber wir halten es für richtig, die Mittel in diesem Bereich zu konzentrieren. Zum Schluss: Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht - ich glaube, das ist heute Morgen deutlich geworden; vielleicht sollten wir das hier im Plenum dann auch untermauern - um neue Partnerschaften im Klimaschutz. Denn Klimaschutz liegt im Interesse aller Staaten. Wir sind in einer Verantwortungsgemeinschaft. Wir sitzen im wahrsten Sinne des Wortes in einem Boot. ({6}) Er liegt also im Interesse der Industrie- und der Entwicklungsländer. Daher ist es von zentraler Bedeutung, dass die Konferenz in Den Haag glaubwürdig und wirksam das gesamte Kioto-Protokoll stärkt und wir dann die entsprechenden Konsequenzen ziehen können. ({7}) Ich möchte an dieser Stelle auf den Zusammenhang von Klimaschutz und Armutsbekämpfung hinweisen. Das hat vorhin der Kollege Lippold angesprochen. Es ist richtig: Wir koppeln die Fragen Armutsbekämpfung und Klimaschutz. Es ist doch logisch, dass es Sinn macht, auch durch die Bekämpfung der Armut in den Partnerländern dem Raubbau an der Natur, dem Raubbau an den Ressourcen entgegenzuarbeiten. Das tun wir zum Beispiel, indem die Armutsbekämpfungsstrategien ab dem Jahr 2000 für alle ärmsten Entwicklungsländer verpflichtend werden. Das ist ein Ergebnis, das mancher noch gar nicht zur Kenntnis genommen hat. Wir müssen bei diesen Armutsbekämpfungsstrategien darauf aufpassen, dass sie auf Energie sparende Technik und erneuerbare Energien setzen. Denn bei der wirtschaftlichen Entwicklung dieser Länder brauchen wir Technologien, die verhindern, dass das wirtschaftliche Wachstum dieser Länder sich weiter in dramatischen Umwelt- und Klimabelastungen auswirkt. So integriert müssen wir diese Bereiche sehen. ({8}) Ich möchte, wenn es um ein neues Bündnis und neue Partnerschaft für Klimaschutz geht, einen weiteren Punkt ansprechen. Wenn wir im Verhältnis zu den Partnerländern auf erneuerbare Energien setzen, dann leisten wir auch einen Beitrag zu einer Entwicklung weg vom Öl. Ein Land wie Bangladesch gibt in diesem Jahr doppelt so viel für seine Ölrechnung aus wie im letzten Jahr. Wenn wir dazu beitragen, dass die Entwicklungsländer bei erneuerbaren Energien einen Schwerpunkt setzen können - das wollen wir -, dann haben wir einen dramatischen Beitrag dazu geleistet, vom Öl wegzukommen, aber gleichzeitig auch Klimaschutz und eine sinnvolle, dezentrale Energieversorgung in den betroffenen Entwicklungsländern voranzubringen, und darum geht es. ({9}) Wir reden aber nicht nur von solchen Ansätzen. Vielmehr propagieren wir als Bundesregierung - das hat diese Bundesregierung in Gang gesetzt - das Konzept Entwicklungspartnerschaft mit der Wirtschaft. Wir sagen nämlich: Nur staatliche Investitionen werden in diesem Bereich nicht ausreichen. ({10}) - Darf ich das als Zwischenfrage verstehen, Frau Präsidentin? Ich bin auch gleich fertig. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das bringt Ihnen keinen Vorteil.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Dann wird es eben auf meine Zeit angerechnet. Herr Repnik, das ist in Ordnung. Sie haben es gesagt. ({0}) Aber was ich im Amt vorgefunden habe, war ein klitzekleines Pilotprojektchen „Entwicklungspartnerschaft mit der Wirtschaft“. Was bei uns neu ist - das wundert vielleicht immer noch manchen der Konservativen -, ist, dass wir sagen: Wir wollen bei jeder Aktion prüfen, was die private Wirtschaft besser finanzieren und leisten kann und was die öffentliche Hand machen muss. Das tun wir bei all unseren Projekten. Bei der Entwicklungspartnerschaft mit der Wirtschaft geht es darum, dass wir erneuerbare Energien und neue Technologien fördern und dass wir dies als einen Schwerpunkt betrachten. Wir arbeiten heute schon mit etwa 300 Unternehmen auch in anderen Wirtschaftsbereichen zusammen. Das wollen wir ausweiten. Wenn der Clean Development Mechanism in all seinen Details entwickelt ist, wie der Kollege Trittin das heute Morgen dargestellt hat, dann können wir bereits ab diesem Jahr erreichen, dass dieser Clean Development Mechanism so eingesetzt wird, dass die Entwicklungsländer die Möglichkeit haben, mit den Investitionen, die aus den Industrieländern kommen, eine neue Energieversorgung aufzubauen. Das ist eine wichtige Voraussetzung für die Länder, damit sie neue Technologien, erneuerbare Energien bekommen und große Potenziale erhalten. Es ist aber auch ein großes Potenzial der Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und öffentlicher Hand und Entwicklungszusammenarbeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wollte damit deutlich machen - jetzt stört den einen oder anderen wahrscheinlich wieder die Leidenschaft -: ({1}) Es ist immer gut, in Diskussionen abstrakt darüber zu sprechen, wofür man eintritt. Aber es kommt darauf an - auch wenn das in der Bevölkerung manchmal schwierig ist -, zu diesen Fragen zu stehen und keine widerwärtigen Kampagnen, zum Beispiel in Sachen Ökosteuer, durchzuführen. Ich halte es nämlich für konsequent und richtig, dass man, wenn man für Klimaschutz weltweit und für die Ziele, die in Den Haag anstehen, eintritt, auch hier zu Hause dafür einsteht und nicht an der einen Stelle so und der anderen Stelle so spricht. Ich danke Ihnen sehr. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Ruck. ({0})

Dr. Christian Ruck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001893, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als letzter Redner in dieser Debatte kann ich festhalten, dass wir uns wenigstens in der Ausgangsposition einig sind. Einig sind wir uns, dass der Treibhauseffekt seine dramatischen Vorboten schickt. Einig sind wir uns auch, dass die internationalen Klimaschutzbemühungen an einer sehr kritischen Stelle stehen und dass in Den Haag sehr viel auf dem Spiel steht. Einig sind wir uns auch, dass sich einige Länder wirklich noch weit bewegen müssen, zum Beispiel auch die Vereinigten Staaten, auf deren Verhandlungsführer eine große Verantwortung liegt. Als CSU-Abgeordneter möchte ich ausdrücklich dem grünen Umweltminister Glück und Verhandlungserfolg bei dieser Konferenz wünschen. Es ist unser gemeinsames Ziel, dass Den Haag ein positives Datum im Kampf gegen Klimarisiken wird. Allerdings bin ich auch der Meinung, dass er dann schon mehr Überzeugungskraft und Begeisterung entwickeln müsste als heute Morgen bei seiner einschläfernden Rede. ({0}) Ich bin auch der Überzeugung, dass die rot-grüne Bundesregierung inzwischen die internationale Führungsrolle, die die frühere Bundesregierung übernommen hatte, verspielt hat und dass sie deswegen mit einer schwächeren Verhandlungsposition nach Den Haag fährt, als es eigentlich sein könnte. An dieser Stelle möchte ich noch einmal Folgendes zum Ausdruck bringen: Wenn sogar Rot-Grün zugibt, dass Deutschland bisher mehr an Reduktionsverpflichtungen eingelöst hat als alle anderen europäischen Staaten zusammen, dann ist das sicherlich nicht das Resultat Ihrer zweijährigen Amtszeit, ({1}) sondern das Resultat der Politik Ihrer Vorgänger. Dass es Kioto, dass es Rio, dass es Den Haag überhaupt gibt, ist auch das Resultat der Politik von Helmut Kohl & Co. ({2}) Ich glaube, das muss man immer wieder klarstellen. Sie behaupten nämlich immer wieder das Gegenteil, und das Gegenteil ist falsch. ({3}) - Herr Müller, ich glaube, das ist eine seriöse Debatte. Da kann man auch seriöse Argumente austauschen. ({4}) Sie sind zum Beispiel damit angetreten, dass Sie die Welt ökologischer gestalten wollten. Aber davon ist doch überhaupt nichts zu spüren. Das beginnt schon damit, dass Sie Ihre nationalen Hausaufgaben im Klimaschutz eben nicht gemacht haben, dass Sie zwei Jahre gebraucht haben, um überhaupt ein Klimaschutzprogramm auf die Beine zu stellen. ({5}) - Herr Müller, dass in diesem Programm vieles drinsteht, was richtig ist, auch Vorschläge, die von uns mitgetragen werden, bleibt Ihnen ja unbenommen. Aber selbst der Wirtschaftsminister, Ihr Namenskollege Müller, und die großen Naturschutz- und Umweltorganisationen in Deutschland sagen, ({6}) dass Sie mit diesem Programm zu kurz springen, weil es löchrig ist wie Schweizer Käse. Was wir Ihnen bei der Ökosteuer vorwerfen, ist doch nicht, dass Sie der Bevölkerung schmerzhafte Schritte abverlangen, sondern dass Sie Maßnahmen ergreifen, die ökologisch inkonsistent sind und darüber hinaus wahnsinnig viel Geld kosten. Das fällt im Endeffekt auf den Umweltschutz zurück. Ein gutes Beispiel ist das 100 000-Dächer-Programm. Sie freuen sich, dass es gut läuft. Letzten Endes kostet es aber etwa 1 Milliarde DM und bringt für den Klimaschutz zumindest bei uns überhaupt nichts. ({7}) Sie verpassen also, was die eigenen Ziele anlangt, international den Anschluss beim Klimaschutz. Das wird von den anderen Staaten natürlich registriert. Das ist ein Punkt, weshalb Ihre Verhandlungsposition in Den Haag nicht so stark ist, wie sie sein könnte. Auch wir wollen Geld in die Hand nehmen. Sie, Herr Kollege Hermann, haben schon darauf hingewiesen. ({8}) Wir glauben, dass es volkswirtschaftlich günstiger ist, wenn man eine Komplettsanierung des deutschen Gebäudebestandes macht. Dazu ist das, was Sie vorgelegt haben, zu kurz gesprungen. ({9}) Wir wollen zum Beispiel eine massive Festbetragsförderung, weil damit auch die Hauseigentümer erreicht werden, die nichts von der Steuer absetzen können. Das betrifft oft gerade die Häuser, die dringend sanierungsbedürftig sind. Außerdem wollen wir dadurch verhindern, dass es zu weiteren Preissteigerungsspiralen kommt, ohne dass sich klimapolitisch etwas ändert. Wir sind uns doch alle darüber einig, dass sich gerade im Bereich der Gebäude sehr viel Einsparungspotenzial befindet. Wir könnten 50 Prozent der Energie, die im Gebäudebereich verbraucht wird - dort werden immerhin 40 Prozent der Gesamtenergie verbraucht -, einsparen. Allein für Bayern ergäbe sich dadurch eine Reduzierung um bis zu 25 Millionen Tonnen CO2. Ich glaube, dass dieser Ansatz über zehn oder fünfzehn Jahre verfolgt werden muss. Dadurch könnten die Klimaschutzziele wesentlich billiger und wesentlich kosteneffizienter erreicht werden als mit Ökosteuer, erneuerbaren Energien und KWK. Es gibt aber leider noch einige andere Gründe, warum unsere Verhandlungsposition in Den Haag nicht zu den allerstärksten gehört. Einer dieser Gründe ist die Entwicklungspolitik. Die Entwicklungspolitik befindet sich im freien Fall. Entgegen allen Ankündigungen im Koalitionsvertrag und allen Regierungserklärungen auch von Bundeskanzler Schröder verliert der Haushalt des BMZ innerhalb weniger Jahre über 1 Milliarde DM. ({10}) Davon massiv betroffen sind gerade die Sektoren Umwelt- und Ressourcenschutz sowie Bevölkerungspolitik. Der Anteil des Entwicklungshaushalts am Gesamthaushalt wird von 1,7 Prozent im Jahr 1998 auf 1,3 Prozent im Jahr 2003 sinken. ({11}) Das hat natürlich auch Folgen für die Verhandlungsposition gegenüber den Entwicklungs- und Schwellenländern. Wir waren uns alle doch darüber einig, dass wir gerade auch diese Länder ins Boot holen müssen, zum Beispiel Mexiko. Mexiko steht bei den globalen CO2-Emittenten schon an 14. Stelle. Die entscheidende Frage ist, wie die Menschen in China, in Indien, in Brasilien oder in Mexiko auch nur annähernd auf unser Wohlstandsniveau kommen, ohne dass das Klima endgültig kippt. Wenn wir als Deutsche darauf Einfluss nehmen wollen, dann dürfen wir die Entwicklungspolitik nicht zum Steinbruch machen, sondern müssen unsere Entwicklungszusammenarbeit finanziell und konzeptionell deutlich verbessern. ({12}) Ein Hearing unserer Arbeitsgruppe Entwicklungspolitik hat ergeben, dass hochnäsige Besserwisserei, gepaart mit einer Einschränkung der Entwicklungshilfe, kein Ausgangspunkt für einen Dialog mit Entwicklungs- und Schwellenländern ist. Das gilt im Übrigen auch für deren Wahl ihrer zukünftigen Energietechnologie. Kohlekraftwerke mit niedrigen Umweltstandards sind inzwischen auch aus Sicht vieler Entwicklungsländer in der Tat keine Lösung mehr. Deswegen werden, ob uns das passt oder nicht, Länder wie China, Indien, Brasilien und andere zukünftig noch erheblich mehr in Kernenergie investieren. Eine gute deutsche Politik wäre es, in diesem Bereich, gerade im Sicherheitsbereich, technologische Hilfe und Beratung anzubieten, statt erfolglos den moralischen Zeigefinger zu heben. ({13}) Ein anderes entscheidendes Ergebnis des Hearings war, dass Wissenschaft, Wirtschaft und Politik in den Industrieländern, auch in Deutschland, noch immer zu sehr Nabelschau betreiben, auf Absatzmärkte im eigenen Land starren und die gewaltigen Anwendungsbereiche für ihre wissenschaftlichen und technischen Kapazitäten in Entwicklungs- und Schwellenländern übersehen. Beispiele dafür sind die Brennstoffzelle, die Wasserstofftechnologie oder die Photovoltaik, deren natürliche Voraussetzungen in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern weit günstiger sind als bei uns. Vielfach ist jede eingesetzte Mark in Energieeffizienz, Energieeinsparungs-technik oder CO2Minderungstechnologien in China und Indien um ein Vielfaches mehr wert, als wenn sie in Deutschland, zum Beispiel bei BASF oder BP, eingesetzt würde. Dazu bedarf es aber auch vonseiten der Politik größerer Anstrengungen, Wirtschaft, Forschung und alle betroffenen Bundesministerien auf einen massiven Technologietransfer einzuschwören. Die Kioto-Instrumente, insbesondere der Clean Development Mechanism, böten dazu die Grundlage. Deswegen halten wir es für ganz entscheidend, dass wir gerade in diesem Punkt in Den Haag einen Durchbruch erzielen und die Verhandlungen nicht zum Beispiel an starren 50-Prozent-Grenzen scheitern. Ich möchte abschließend noch das Problem der CO2Senken ansprechen. Auch ich habe dafür keine Patentlösung. Aber es ist unbestritten, dass die Zerstörung, dass das Abbrennen der Wälder, insbesondere in den Tropen, den Treibhauseffekt zu einem erheblichen Teil mit bewirkt. Es ist auch unbestritten, dass die Zerstörung ungebrochen voranschreitet, dass in einigen Ländern der Wald auf ein Minimum geschrumpft ist, zum Beispiel in vielen Ländern Südostasiens oder Westafrikas, und dass uns die Zeit davonläuft. Zudem sind gerade diese Ökosysteme gleichzeitig die Orte mit der höchsten Artenvielfalt der Erde. Würde den Tropenwaldländern zumindest teilweise oder in irgendeiner anderen Form die Bewahrung des Waldes als CO2-Senken gutgeschrieben und so zu Einnahmen führen, hätten diese ein größeres Eigeninteresse an der Erhaltung des Waldes und einen größeren finanziellen Spielraum. Ich trete deshalb - trotz aller Schwierigkeiten und aller möglichen Missbräuche, die natürlich auch ich kenne - dafür ein, die Bemühungen um eine Verknüpfung der Kioto-Mechanismen mit dem Schutz bedrohter Ökosysteme nicht aufzugeben, sondern mit Nachdruck weiter zu betreiben. ({14}) Lippenbekenntnisse wie in der Entwicklungspolitik oder Ideologien wie in der Energiepolitik der Bundesregierung bringen uns national nicht weiter und kosten uns unsere internationale Überzeugungsfähigkeit. Kehren Sie deshalb, liebe Kollegen von Rot-Grün, zu einer ergebnisorientierten Umwelt- und Klimaschutzpolitik zurück, die mit pragmatischen Instrumenten den Erfolg sucht. ({15}) Einen Erfolg auf der Klimakonferenz in der nächsten Woche in Den Haag wünschen wir uns alle. ({16})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe da- mit die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie- ßungsanträge zur Regierungserklärung. Zunächst stimmen wir über den Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache 14/4532 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungs- antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der F.D.P. und eines Teils der CDU/CSU bei Enthaltung der PDS und eines Teils der CDU/CSU an- genommen worden. Entschließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/4533. Wer stimmt für diesen Entschlie- ßungsantrag? - Gegenstimmen? - Gibt es Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der F.D.P. 1) und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU abgelehnt worden. Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 14/3835. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Annahme des An- trages der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zum Klimaschutz durch ökologische Modernisie- rung und Verbesserung der internationalen Zusammenar- beit auf Drucksache 14/1956. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun- gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition1) angenommen worden. Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrages der Fraktion der CDU/CSU zur Vertragsstaatenkonferenz zur Klimarah- menkonvention in Bonn auf Drucksache 14/1853. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstim- men? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim- men von CDU/CSU und F.D.P. bei einigen Enthaltungen aus der PDS angenommen worden.2) Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Entschließungsantrages der Fraktion der F.D.P. zur Abgabe einer Erklärung der Bun- desregierung zu den Ergebnissen der 5. Vertragsstaaten- konferenz der Klimarahmenkonvention in Bonn auf Drucksache 14/1998. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koaliti- onsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen worden. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 4 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Entschlie- ßungsantrages der Fraktion der PDS zur Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zu den Ergebnissen der 5. Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkonvention in Bonn auf Drucksache 14/1992. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun- gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bis auf die Stimmen der PDS, die dagegen gestimmt hat, angenommen worden.2) Tagesordnungspunkt 12 c: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/4379 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das scheint der Fall zu sein. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Erfolgreiche Verbrechensbekämpfung in Deutschland - Drucksachen 14/2592, 14/4113 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Norbert Geis.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung stellt in ihrer Antwort vom 20. September dieses Jahres fest, dass die Bekämpfung der Kriminalität eine der wichtigsten Aufgaben der Innen- und Rechtspolitik ist. Dies ist eine richtige Feststellung. Wenn Menschen in ihren Wohnungen nicht mehr vor Einbruch sicher sind, wenn sie sich nicht mehr trauen, spätabends auf öffentlichen Straßen und Wegen zu gehen, ({0}) wenn sie nachts nicht mehr in Ruhe und ohne Angst mit der U-Bahn fahren können und diese Fahrt zu einem Albtraum wird oder wenn eine Frau nicht mehr ungefährdet von der Bushaltestelle zu ihrer Wohnung gehen kann, dann müssen bei uns die Alarmglocken läuten. Wenn Unsicherheit und Angst in der Bevölkerung herrschen, kann eine ganze Gesellschaft aus den Fugen geraten. Deshalb ist es richtig: Die Kriminalitätsbekämpfung ist die wichtigste Aufgabe der Innen- und Rechtspolitik. Das Zusammenleben in unserer Gesellschaft und auch unser wirtschaftlicher Fortschritt hängen davon ab. ({1}) Dies ist nicht nur eine Aufgabe des Bundes allein, son- dern gleichermaßen auch eine der Länder. Der Bund hat die Gesetze zu erlassen, die Länder aber haben mithilfe ih- rer Polizei die Verbrechen zu verfolgen, die Staats- anwaltschaften haben zu ermitteln und die Gerichte haben entsprechend den gesetzlichen Vorgaben zu urteilen. Sie haben dann auch entsprechend dem Urteil den Strafvoll- zug durchzusetzen. Hier ist mittlerweile eine Mangel- situation zu beklagen: In vielen Ländern wird der Straf- vollzug, wie wir leider feststellen müssen, zu lässig 1) Anlage 2 2) Anlage 3 gehandhabt. Der Strafvollzug ist niemals eine Freizeitveranstaltung. Es geht darum, dass der Täter die Konsequenzen seiner Tat tragen muss und dass der Öffentlichkeit klargemacht wird: Unser Staat wehrt sich, wenn seine Rechtsordnung verletzt wird. Aus dieser Antwort geht hervor, dass die Häufigkeitszahlen in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich sind.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Marschewski?

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Geis, können Sie mir bestätigen, dass es sich heute um eine wichtige Debatte über Kriminalität und innere Sicherheit handelt? Können Sie mir vielleicht sagen, wo eigentlich die Bundesjustizministerin ist?

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Unsere Große Anfrage hat sich an das Innenministerium und an das Justizministerium gerichtet. Ich habe keine Erklärung dafür, weshalb das Justizministerium heute hier nicht vertreten ist. Vor allem geben die zum Teil sehr unterschiedlichen Häufigkeitszahlen in den verschiedenen Bundesländern Anlass zur Besorgnis. Zwar ist die Kriminalität in Großstädten schon immer stärker ausgeprägt gewesen; das liegt wohl in der Natur solcher Städte. Aber der Unterschied zwischen den Großstädten im Norden, vor allem zwischen denen in SPD-regierten Bundesländern, und den Großstädten in südlichen Bundesländern wie Bayern und Baden-Württemberg ist exorbitant. Das kann der Bundesregierung nicht gleichgültig sein; denn sie trägt die Verantwortung für das ganze Land. ({0}) Es fällt schon auf, dass in Bayern und Baden-Württemberg die Häufigkeitszahlen gering sind und die Aufklärungsquote sehr hoch ist. ({1}) In Bayern liegt die Aufklärungsquote bei 60 Prozent. Die bundesweite Aufklärungsquote lag bei 46 Prozent; inzwischen liegt sie bei 50 Prozent. Es hat sich gebessert; das ist wahr. Dennoch ist die Aufklärungsquote in den südlichen Ländern, die von der CDU oder von der CSU regiert werden, noch immer viel höher als in den übrigen Bundesländern. Das ergibt die Antwort der Bundesregierung ganz eindeutig. Darüber muss man sich ein paar Gedanken machen. Wir können ohne weiteres feststellen, dass Verbrechen in den südlichen Ländern, in Bayern und in Baden-Württemberg, in der Tat konsequenter bekämpft werden. ({2}) Die Polizeien dort verfolgen Verbrechen energischer. Die Staatsanwaltschaften ermitteln intensiver. Es wird angeklagt und es wird, entsprechend dem gesetzlichen Rahmen, im Einzelfall geurteilt. Vor allem ist der Strafvollzug dort stärker. Damit wird dem potenziellen Täter schon klargemacht, dass er, wenn er entdeckt wird, mit einer harten Strafe rechnen muss - ich erinnere an die hohe Aufklärungsquote von 60 Prozent in Bayern -, die er - im Bundesjustizministerium wird in Bezug auf schwere Straftaten im Erstfall überlegt, nach der Hälfte der Strafzeit die Reststrafe auf Bewährung auszusetzen - komplett verbüßen muss. Vor diesem Hintergrund wird er sich vielleicht überlegen, ob er die Straftat begeht. Die generalpräventive Kraft des Strafrechts würde dann seine Wirkung entfalten. ({3}) Die konsequentere Bekämpfung von Straftaten halte ich für den wesentlichen Grund dafür, dass wir in Bayern und in Baden-Württemberg niedrigere Häufigkeitszahlen und eine höhere Aufklärungsquote als in allen anderen Bundesländern haben. Das muss in der Öffentlichkeit endlich einmal diskutiert werden. Diese Frage muss uns alle angehen; denn es muss festgestellt werden, wo die Schuldigen für so exorbitante Unterschiede sitzen. ({4}) Aus den gewonnenen Erkenntnissen müssen entsprechende Schlussfolgerungen gezogen werden. Die Antwort der Bundesregierung vom 20. September lässt keinen Zweifel daran, dass die Vorgängerregierung der Koalitionsparteien CDU/CSU und F.D.P. unter Helmut Kohl ihre Hausaufgaben gemacht hat. Die Antwort besagt nämlich ganz eindeutig, dass die jetzt bestehenden gesetzlichen Maßnahmen eigentlich ausreichend sind, um Verbrechen wirksam zu bekämpfen. Denken Sie an das Gesetz zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität aus dem Jahre 1992, an das Verbrechensbekämpfungsgesetz aus dem Jahre 1994, an das neue Gesetz für den Bundesgrenzschutz, ebenfalls aus dem Jahre 1994, und an die große Strafrechtsreform aus dem Jahre 1996 mit einer Neuformulierung der Sexualstraftaten und einer Erleichterung der Möglichkeit, einen Täter in die Sicherungsverwahrung zu geben, wenn fest steht, dass er sich voraussichtlich nach wie vor straffällig verhalten wird. Wir haben im Jahre 1997 das Antikorruptionsgesetz beschlossen. ({5}) 1998 haben wir ein weiteres Gesetz gegen die organisierte Kriminalität verabschiedet, und zwar mit Änderung des Art. 13 Grundgesetz und der Einführung der Möglichkeit der akustischen Wohnraumüberwachung. Dies haben wir damals zusammen mit der F.D.P. und auch der SPD gemacht, die an diesen Verhandlungen auch in Person des heutigen Bundesinnenministers beteiligt gewesen ist. Ich glaube also schon, dass eine gute gesetzliche Grundlage für den Bund besteht, um Verbrechen erfolgreich bekämpfen zu können. Aber damit können wir uns nicht zufrieden geben. Im Augenblick stagniert zwar die Kriminalitätsrate, aber - das sagt die Bundesregierung selbst - kein Mensch kann sich jetzt ruhig zurücklehnen und sagen: Jetzt haben wir es geschafft. Vielmehr geht es weiter im Kampf gegen das Verbrechen. Deswegen brauchen wir nach unserer Meinung neben der akustischen Überwachung auch die Videoüberwachung. Wir brauchen auch die Kronzeugenregelung. Wir halten es für einen ganz großen Fehler, dass die jetzige Regierungskoalition die Kronzeugenregelung abgeschafft hat. Wir könnten sie vielleicht gerade jetzt im Kampf gegen den Rechtsextremismus gebrauchen, auch im Kampf gegen die Korruption. Zudem brauchen wir nach wie vor, obwohl dies in der Verbrechensskala tiefer angesiedelt und nur ein Vergehen ist, ein Gesetz gegen das Graffitiunwesen, weil gerade von diesem Milieu Verbrechen ausgehen, wie wir aus der Erfahrung wissen. ({6}) Der Anstieg der Kinder- und Jugendkriminalität muss uns Sorge machen. 30 Prozent aller Tatverdächtigten sind jünger als 21 Jahre. Bei den Jugendlichen haben wir insbesondere einen starken Anstieg der Gewaltkriminalität zu verzeichnen. Das kann uns nicht gleichgültig sein. Christian Pfeiffer, der Spezialist aus Hannover, wo er, wie ich gehört habe, als möglicher Justizminister im Gespräch ist - er ist ein guter Mann; ich würde ihm gratulieren -, sagt, dass das Nord-Süd-Gefälle gerade bei der Jugendkriminalität vielschichtige Gründe habe. Er findet die Gründe vor allem darin, dass nicht so gute familiäre Bindungen bestehen, dass nicht so gute Bindungen an christliche Gemeinden bestehen - das sagt Pfeiffer, das sage nicht ich -, ({7}) dass weniger Bindungen an Vereine und Jugendverbände bestehen. Er zieht daraus den Schluss, dass dies alles - auch die höhere Jugendarbeitslosigkeit - mit dazu beiträgt, dass im Norden eine stärkere Jugendkriminalität, vor allen Dingen auch Gewaltkriminalität, als im Süden zu verzeichnen ist. Das gilt auch für die rechtsextremistisch motivierte Jugendkriminalität. Rechtsextremismus wird ja vor allem von Skinheads, die im heranwachsenden Alter sind, verübt. Das alles führt Christian Pfeiffer auf die Gründe zurück, die ich angeführt habe. Ich meine, auch der Bund müsste mehr dafür werben, dass solche Voraussetzungen, wie sie im Süden bestehen, auch im Norden geschaffen werden. Ich glaube überhaupt, dass vor allem die Familie eine wichtige Aufgabe bei der Kriminalitätsbekämpfung hat. Dort, wo intakte Familien bestehen, geraten die Kinder und Jugendlichen nicht so leicht auf die schiefe Bahn. Deswegen geht es bei den Familien nicht um konservativ oder progressiv, nicht um christlich oder unchristlich, sondern um die Menschlichkeit der Menschen. Deswegen müssen wir vor allen Dingen die Familien stützen. Insofern ist das morgen zu verabschiedende Gesetz in unseren Augen destruktiv. Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch die Flut der Drogen, die nach Angabe der Bundesregierung längst nicht abgeebbt ist, sondern ansteigt, und die insbesondere über Kinder und Jugendliche hinweggeht, kann am besten in den Familien bekämpft werden. Es hat aber keinen Sinn, dass sich Familie und Schule gegen die Drogen wenden, wenn selbst ernannte Drogenspezialisten draußen im Lande ({8}) von der Entkriminalisierung von Einstiegsdrogen und von der Freiheit des Drogenkonsums reden, wie dies leider oft geschehen ist. Das halte ich für kontraproduktiv. ({9}) Den Menschen, die so etwas verkünden, müssen wir mit aller Entschiedenheit entgegentreten. Ein Wort noch zu den rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten, die zu 90 Prozent von jugendlichen Skinheads verübt werden. Ich glaube, dass Demonstrationen allein nicht ausreichen. Sie sind wichtig - das will ich nicht herabspielen -, aber sie reichen nicht aus. Es muss ein stärkerer polizeilicher Schutz bestehen. Es ist für mich nicht zu erklären, weshalb Synagogen - obwohl bekannt war, dass sie Angriffsobjekte für solche Wahnsinnstäter sind - so wenig geschützt werden. Hier kann vieles im Vorfeld verhindert werden, wenn die Polizei stärker präsent ist. Ich möchte noch einmal das Beispiel Bayern hervorheben. Dort gab es im ersten Halbjahr dieses Jahres die niedrigsten Häufigkeitszahlen pro 100 000 Einwohner im rechtsextremistischen Bereich. Im Juli und August ist die Situation in unserem Land umgeschlagen; die Kriminalität ist im ganzen Land außer Kontrolle geraten. Aber sie muss wieder auf normale Verhältnisse zurückgeführt werden. Wir dürfen uns mit diesen Straftaten nie abfinden. Ausländerfeindliche Straftaten sind besonders hässliche Straftaten, die wir mit aller Entschiedenheit bekämpfen müssen. Wir müssen im Vorfeld mehr tun, als dies vielleicht in manchen Ländern der Fall ist. Wir müssen überlegen - wir haben den Gesetzentwurf bereits im April dieses Jahres eingebracht -, ob wir nicht bei Heranwachsenden das Erwachsenenstrafrecht stärker heranziehen. Bei ganz schweren Delikten Jugendlicher wie Mord und Totschlag, bei denen das Jugendstrafrecht herangezogen wird, weil das Verbrechen noch als jugendliche Straftat zu werten ist, müssen wir die Möglichkeit schaffen, das Strafmaß von 10 Jahren auf 15 Jahre zu erweitern. Das halte ich für dringend erforderlich. Ich sehe nicht ein, dass ein 20-Jähriger, auf den das Jugendstrafrecht angewendet wird, bei einer schweren Straftat mit nur 10 Jahren bestraft wird, ein 21-Jähriger aber im gleichen Fall mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe rechnen muss. Hier müssen wir zu einer Änderung kommen. ({10}) Vor allem glaube ich, dass wir insgesamt vor der Aufgabe stehen, stärker Jugendarbeit zu betreiben. Im präventiven Bereich ist sehr viel möglich. Dies ist eine große Anstrengung, die die ganze Gesellschaft zu leisten hat. Wir von der CDU/CSU-Fraktion sind gerne bereit, hierbei mitzuhelfen. Danke schön. ({11})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Hans-Peter Kemper.

Hans Peter Kemper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001083, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Anfang einige Bemerkungen zum Thema und zum Vorredner machen. Zunächst einmal finde ich es sehr gut, dass wir das Problem der Kriminalitätsbekämpfung und der inneren Sicherheit heute bei Tageslicht diskutieren. Das ist nicht immer so. Kriminalität findet oft im Dunkeln statt und unsere Diskussionen darüber auch oft zur Nachtstunde. Wichtig ist, dass wir dieses Thema heute in der Kernzeit diskutieren; denn es bewegt die Menschen. Herr Geis, Sie haben völlig Recht: Viele Menschen sind unsicher und haben Angst. Das ist nach 16 Jahren Kohl-Regierung auch kein Wunder. ({0}) Ein angstfreies Leben ist ein Stück Lebensqualität und die Menschen haben einen Anspruch darauf. Sie haben die Vorgänge um Kohl angesprochen und auf das Gesetz zur Verbrechensbekämpfung und andere Gesetze hingewiesen. Ich sage Ihnen: Die Vorgänge um Kohl haben auf die innere Sicherheit eine verheerende Wirkung gehabt. Sie haben das Vertrauen der Menschen in den Rechtsstaat erschüttert. ({1}) - Wir haben das nicht aufgebauscht. Sie haben eine Große Anfrage zur erfolgreichen Verbrechensbekämpfung in Deutschland gestellt. Ich sage Ihnen: Sie haben Recht. Nomen est omen. Die Verbrechensbekämpfung der Bundesregierung ist erfolgreich. Herr Marschewski, ich habe gesehen, dass Sie als Nächster für die CDU/CSU sprechen. ({2}) Es war lange guter Brauch, dass Sie der Bundesregierung für die hervorragenden Leistungen gedankt haben. Das haben Sie oft unberechtigterweise getan. Aber heute haben Sie einen Grund, der Bundesregierung zu danken, da sie auf diesem Gebiet eine hervorragende Leistung vollbracht hat. ({3}) Das Ergebnis der Großen Anfrage liegt vor und es ist erfreulich. Dennoch - insofern haben Sie Recht, Herr Geis - können wir uns nicht zufrieden zurücklehnen und sagen, wir hätten alles geschafft. Ich will nur einige Punkte aufgreifen: Erstens. Seit 1993 haben wir beim Straftatenaufkommen stagnierende bzw. rückläufige Zahlen; die Häufigkeitsziffern machen das deutlich. Jede verhinderte Straftat bedeutet mindestens ein Opfer weniger. Ich denke, das ist ein ganz wichtiges Signal. Zweitens. Wir haben steigende Aufklärungsquoten. Auch das ist ein wichtiges Signal: Straftaten werden schneller und häufiger aufgeklärt. Beide Entwicklungen wirken sich positiv auf das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung aus. Ich will noch eines sagen, weil Sie die Regierung angesprochen haben: Die Häufigkeit der Straftaten ist seit dem Amtsantritt der rot-grünen Regierung in besonderer Weise zurückgegangen, während gleichzeitig die Aufklärungsquote auf über 50 Prozent angestiegen ist. ({4}) Sie hätten Ihre Sache damals besser machen sollen, anstatt heute das Ergebnis Ihrer 16-jährigen Politik zu kritisieren. ({5}) Sie haben Recht: Die Menschen haben Angst - oft eine irreale Angst -, denn das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung hat sich sehr stark abweichend vom tatsächlichen Straftatenaufkommen und von der Aufklärungsquote verändert. Die Menschen haben Angst, Opfer einer Straftat zu werden und das hat zu Verhaltensänderungen geführt: Viele, besonders ältere Menschen trauen sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr, ihre Wohnung zu verlassen; sie vermeiden bestimmte Stadtteile, bestimmte Parks und öffentliche Verkehrsmittel. Sie geben ein Stück ihrer persönlichen Freiheit auf, weil sie ihre Verwandten und Bekannten abends nicht mehr besuchen und auch keinen Besuch mehr bekommen. Sie geben damit ein Stück Lebensqualität preis und soziale Bindungen gehen verloren. Deswegen ist es gut, dass wir dieses Thema heute diskutieren und dass wir diese positive Entwicklung deutlich machen können. Das wirkt sich letztlich positiv auf das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung aus. Sie haben die Kinder- und Jugendkriminalität angesprochen. Ich greife diesen Bereich heraus, weil er für die Zukunft besonders wichtig ist. Hier entscheidet sich, wie die Kriminalitätsbekämpfung zukünftig aussehen wird, ob wir Dauerstraftäter bekommen oder ob Straftaten pubertierender Jugendlicher nur ein episodenhaftes Verhalten darstellen. Es hat - auch insofern haben Sie Recht einen explosionsartigen Anstieg der Kinder- und Jugendkriminalität gegeben; aber im Wesentlichen nur bis 1997. Die Kinder- und Jugendkriminalität ist seit dem Wechsel der Bundesregierung zurückgegangen. Das hat etwas mit Prävention zu tun. Sie haben die Familien und die Perspektiven, die Kinder und Jugendliche brauchen, angesprochen. Die jetzige Regierung ist in diesem Bereich massiv tätig geworden: Wir haben die Situation der Familien durch die Erhöhung des Kindergeldes und die Ausweitung des Familieneinkommens stark verbessert. ({6}) Wir haben auch im Bildungs- und Ausbildungsbereich eine Menge getan. So haben wir das BAföG erhöht und die Jugendarbeitslosigkeit massiv bekämpft. Das sind präventive Maßnahmen, die sich positiv auf die Jugendkriminalität auswirken. Das haben Sie in den vergangenen 16 Jahren versäumt. ({7}) - Die Kinder- und Jugendkriminalität steigt längst nicht mehr in dem Maße, wie wir das unter Ihrer Regierung beobachten konnten; in einigen Bereichen ist sie sogar rückgängig. Ich will noch einen wichtigen Bereich ansprechen, nämlich die ausländischen Jugendlichen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?

Hans Peter Kemper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001083, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, bitte.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ist Ihnen bekannt, dass der vorhin von mir zitierte Christian Pfeiffer in der von mir genannten Studie festgestellt hat, dass der Höhepunkt der Jugend- und Kinderkriminalität 1997 gewesen ist und dass danach eine konsequente Abflachung zu verspüren war, also zu einer Zeit, als ganz offensichtlich noch die Kohl-Regierung noch im Amt war?

Hans Peter Kemper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001083, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie haben völlig Recht. Ich sehe allerdings keinen Unterschied zu dem, was ich gesagt habe. Den Höhepunkt der Kinder- und Jugendkriminalität, die seit 1993 zunahm, gab es im Jahre 1997. Da haben Sie Recht. Es ist klar, wer damals regiert hat. Erst danach flachte sie ab. Auch da ist klar, wer regiert hat. ({0}) Ich möchte noch etwas zur Entwicklung der Kriminalität bei ausländischen Kindern und Jugendlichen sagen; denn über dieses Problem streiten wir uns ständig. Auch hier gab es bis 1997 einen Anstieg. Aber selbst während Ihrer Regierungszeit nahm die Kriminalität bei ausländischen Kindern und Jugendlichen nicht so stark zu wie bei den deutschen. Seitdem die SPD mit den Grünen regiert, ist die Kriminalität bei ausländischen Kindern und Jugendlichen zurückgegangen. Das steht im krassen Gegensatz zu dem, was Sie über Jahre hinweg über Ausländerkriminalität und die Gefährlichkeit von ausländischen Kindern und Jugendlichen verbreitet haben. Wir haben dagegen immer betont: Die ausländische Wohnbevölkerung ist zum Teil gesetzestreuer als die deutsche. Sie haben allen Grund, sich bei unseren ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern für das zu entschuldigen, was Sie in den letzten Jahren über sie gesagt haben. ({1}) Ich möchte noch auf ein anderes Problem zu sprechen kommen, das hier auch angesprochen worden ist, nämlich die Drogen. Dies ist in der Tat ein großes Problem, sowohl im Gesundheitsbereich als auch im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung. Ich nehme letzteren Bereich als Beispiel heraus, weil es hier um die Dealerproblematik und die Beschaffungskriminalität geht. Die Aufklärungsquote ist sehr hoch. Sie liegt bei etwa 95 Prozent. Dabei liegt Deutschland im europäischen Vergleich hinsichtlich der Zahl jener Straftaten, die im Zusammenhang mit Drogen begangen worden sind, eher in der unteren Hälfte. Nun muss man wissen, dass sowohl die Entwicklung der Drogenkriminalität als auch die Höhe der Aufklärungsquote sehr stark von der Ermittlungsintensität der Polizei abhängen. Drogenkriminalität ist immer auch Dunkelfeldkriminalität. Je mehr die Polizei ermittelt, desto mehr Licht wird in das Dunkel der Drogenkriminalität gebracht. Fast immer wird der Täter ermittelt. Die Fälle, in denen kein Täter ermittelt werden kann, sind eher die Ausnahme. Ein Beispiel für einen solchen Fall - Stichwort: Schneegestöber - ist der Bundestag: Es gibt zwar den Verdacht einer Straftat, aber es gibt keine Täter, zumindestens keine, die man benennen könnte. Aber das ist, wie gesagt, eher der Ausnahmefall. Man wird sehen, wie sich das entwickeln und was dabei herauskommen wird. Meine Redezeit ist weitestgehend abgelaufen. Deshalb möchte ich das Ergebnis zusammenfassen: Die Große Anfrage hat gezeigt: Es gibt noch viel zu tun. Es gibt keinen Grund, dass wir uns zurücklehnen. Die Bekämpfung der Internetkriminalität und die Kooperation auf europäischer Ebene - Stichwort: Eurodac - müssen deutlich verbessert werden. Hier sind wir erst am Anfang. Die Große Anfrage hat aber auch gezeigt, dass Kriminalität und eine hohe Kriminalitätsrate nicht gottgegeben sind. Man kann etwas dagegen machen. Die rot-grüne Koalition und die Regierung haben etwas dagegen getan. Wir sind auf einem guten Weg, den wir fortsetzen werden. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Guido Westerwelle.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren Kollegen! Es muss zunächst einmal festgehalten werden, dass sowohl die Große Anfrage als auch die Antwort der Bundesregierung auf diese Anfrage in bemerkenswerter Weise geeignet sind, einen Beitrag zur Versachlichung der öffentlichen Diskussion zu leisten. Als ich die Anfrage gelesen habe, fand ich es bemerkenswert, wie zielführend die Fragen gestellt worden sind. Ich muss ausdrücklich anerkennen, dass die Antwort der Bundesregierung für die Arbeit der Parlamentarier wirklich weiterführend ist und erhebliches Material beinhaltet, das geeignet ist, die Diskussion zu versachlichen. ({0}) Man muss im Grunde genommen feststellen, dass manche in der Öffentlichkeit hysterisch geführte Diskussion im Lichte der Großen Anfrage und der Antwort der Bundesregierung wirklich lächerlich erscheint. Es gibt Personen in der Öffentlichkeit - ich denke da an einen speziellen Fall in Hamburg -, die meinen, sie könnten mit hysterischen Bemerkungen Menschen hinter sich bringen. Wir erleben immer wieder, wie bestimmte Personen die Durchsetzung ihrer politischen Interessen über Katastrophenmeldungen versuchen. Die Große Anfrage und die Antwort darauf zeigen - und zwar jenseits der Parteigrenzen -, dass die innere Sicherheit in Deutschland in einigen Bereichen ausgesprochen problematisch ist, aber überwiegend im Griff ist. Das muss man einmal festhalten dürfen. ({1}) Ich möchte davon abraten, dass man eine so kluge Diskussionsgrundlage dafür nutzt, sozusagen das parteipolitisch kleine Karo zu fahren. Die Spekulation darüber, ob Helmut Kohl das Problem der Jugendkriminalität schon 1997 gelöst hat oder ob die Jugendkriminalität angesichts der frohen Erwartung auf einen Regierungswechsel zurückgegangen ist, sollten wir den Kabarettisten überlassen. Die Regel ist - das wissen diejenigen, die sich damit befassen -, dass kriminologische Entwicklungen in unserer Gesellschaft viel längerfristig angelegt sind. Wir wollen doch nicht ernsthaft den Eindruck hier erwecken: Es gab einen Regierungswechsel 1998 und plötzlich ist die Kriminalität weg von den Straßen. ({2}) - Ich glaube Ihnen vieles. Ich glaube auch, dass Sie das meiste, das Sie sagen, ernst meinen. Aber ich glaube nicht, dass Sie das ernst gemeint haben. Dafür kenne ich Sie zu gut. ({3}) Wir haben in Deutschland kein Gesetzesdefizit, sondern ein Vollzugsdefizit. ({4}) Wir diskutieren im Deutschen Bundestag regelmäßig über die Gesetze. Wir sind auf Bundesebene in erster Linie - wenn ich einmal vom BGS und anderen Bundesbehörden für die Bekämpfung von bestimmten Kriminalitätsstrukturen absehe - für die Gesetze zuständig. Man muss aber kritisch sehen, dass in weiten Teilen ein Vollzugsdefizit besteht. Dieses Defizit besteht insbesondere im Bereich der Länder. Ich will in diesem Zusammenhang nicht die spektakulären Fälle ansprechen. Aber trotzdem muss ich sagen, die Tatsache, dass ein Gewalttäter wie Frank Schmökel zum x-ten Male entkommen konnte, zeigt, dass es kein Gesetzesdefizit, sondern ein klar erkennbares Vollzugsdefizit gibt. Ich wundere mich darüber, dass ein Staatssekretär zurücktreten muss, aber nicht diejenigen, die diese Sache verbockt haben. ({5}) Der zurückgetretene Staatssekretär gehört nicht meiner Partei an; ich habe mit ihm auch nichts zu tun. Aber dennoch muss ich sagen, dass uns diese Art und Weise der Diskussion nicht weiterführt. Es ist auch viel zu kurz gegriffen, wenn man sagt, die Politik habe eine Vorbildfunktion. Die Politiker sollten sich diesbezüglich nicht überschätzen. Bei allem Respekt, Herr Kollege, muss ich Ihnen sagen - obwohl ich der Einschätzung in weiten Teilen zustimmen kann, der Fall Kohl habe Auswirkungen auf das Rechtsbewusstsein -: Meine Mitarbeiter haben mir gerade telefonisch durchgegeben, dass gegen einen amtierenden Bundesminister, nämlich gegen Herrn Klimmt, am heutigen Tage ein Strafbefehl von der Staatsanwaltschaft beantragt worden ist. Wer mit Steinen wirft, der sitzt in der Regel im Glashaus. ({6}) Aus meiner Sicht haben die unzureichenden Schutzmaßnahmen auf das Rechtsbewusstsein der Bevölkerung eine größere Auswirkung als manche theoretische politische Diskussion, die wir führen. Ich frage mich - das fragen sich sicherlich viele Kolleginnen und Kollegen -: Wie muss sich eine junge Frau fühlen, wenn ihr Schänder zum fünften Mal wieder auf freiem Fuß ist und zum fünften Mal versucht, zu seinem früheren Opfer zu gelangen? Welches Martyrium muss diese junge Frau über Jahre hinweg durchgemacht haben? Ein Staat, der ein solches Problem nicht mit Schloss und Riegel lösen kann, der versagt. Dabei ist es für mich nicht entscheidend, auf welcher Ebene dies passiert. ({7}) Es geht selbstverständlich nicht darum, dass man dem Wegsperren das Wort reden sollte. Jeder weiß, dass die Resozialisierung und das Zurückführen der Straftäter auf den rechten Weg die beste Maßnahme ist. Wenn ein ehemaliger Straftäter nicht erneut straffällig wird, ist das der beste Opferschutz. Aber es gibt - das liegt in der Natur der Sache - Straftäter, die nicht auf den rechten Weg zurückzuführen sind. Wir sollten also unter dem Eindruck einer völlig überholten Diskussion, die einer bestimmten Phase unserer Republik entstammt, uns nicht davon abbringen lassen, die Härte des Gesetzes anzuwenden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen Irmer?

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja. Aber Sie meinen: unseres Kollegen Irmer; denn er ist Kollege von uns allen.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Westerwelle, ich habe heute früh zu meiner Verblüffung Folgendes in der Zeitung gelesen: ({0}) Der brandenburgische Gesundheitsminister Alwin Ziel, SPD, hat gestern nicht ausgeschlossen, dass der am Dienstag gefasste Gewaltverbrecher Frank Schmökel wieder in den Maßregelvollzug überstellt wird und dass er dann einen erneuten Freigang bekommt. Ich frage Sie, was Sie davon halten. Ich frage Sie auch, ob solche Meldungen nicht Wasser auf die Mühlen derjenigen sind, die sich für die Todesstrafe einsetzen.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das ist eine sehr gefährliche Diskussion. Sie sprechen etwas an, hinsichtlich dessen es in diesem Hause zu Recht ein Tabu gibt, worüber in der Bevölkerung aber diskutiert wird. Nur, eines muss ich genauso klar feststellen: Ich verstehe nicht, wie man als Verantwortlicher - hierbei geht es mir wirklich nicht um die Parteizugehörigkeit - eine solche Erklärung zu einem solchen Zeitpunkt in die Presse setzen kann. Das ist mir, ehrlich gesagt, unbegreiflich. ({0}) Die Menschen müssen doch kirre werden, wenn sie so etwas lesen. Genauso klar muss ich Ihnen sagen: Wer behauptet, dass die bestehende Gesetzeslage nicht das lebenslange Wegsperren von solchen pathologischen Tätern erlaube, der kennt die Gesetzeslage nicht. Diese Menschen können und müssen weggesperrt werden. ({1}) Denn es gibt auf solche Menschen keine andere Antwort. Das sind, wie wir alle aus der Kriminologie wissen, Menschen, die nicht auf den rechten Weg zurückzuführen sind, weil sie bestimmte Fehlschaltungen nicht nur in ihrer Psyche haben. Deswegen ist hier meiner Einschätzung nach nur die Härte des Rechtsstaates geboten. Bei der Kriminalitätsbekämpfung geht es um weit mehr. Ich finde sehr bemerkenswert, was in der Antwort der Bundesregierung zu den jugendlichen und heranwachsenden Straftätern ausgeführt wird. Das ist eine Besorgnis erregende Entwicklung. Nur, ich empfehle allen hier, nicht sofort aus der Hüfte zu schießen und zu glauben, das Problem werde dadurch gelöst. Wer sich von Berufs wegen ein bisschen mit dem Jugendstrafrecht befasst hat, der weiß eines ganz genau: Es gibt in unserer gesamten Strafrechtskultur und -struktur kaum einen Bereich, in dem so erfolgreich gearbeitet wird wie im Jugendstrafrecht. In kaum einem anderen Bereich ist man so erfolgreich, Menschen wieder auf den rechten Weg zurückzuführen. Man muss eben auch hier vorsichtig sein, dass man das Kind nicht mit dem Bade ausschüttet. Das wird regelmäßig vergessen. Ich will Ihnen sagen, wo aus meiner Sicht das größte Defizit bei der Bekämpfung von Kriminalität im Bereich der Jugendlichen und Heranwachsenden besteht: Es besteht darin, dass zwischen dem Zeitpunkt der Tat, dem Zeitpunkt der Festnahme und dem Zeitpunkt der Verurteilung eine zu große Zeitspanne liegt. ({2}) Gerade in diesen Bereichen muss wieder folgender Satz gelten - das ist nicht konservativ; das ist nicht „law and order“ -: Die Strafe muss der Tat auf dem Fuße folgen; denn nur dann ist eine entsprechende Wirkung auf einen jugendlichen Straftäter zu erwarten. ({3}) Ich finde die Bemühungen - Sie werden mir gestatten, dass ich das ausdrücklich erwähne - von Herrn Professor Goll in Baden-Württemberg und von Herrn Mertin in Rheinland-Pfalz, um bewusst zwei Landesregierungen unterschiedlicher Färbung zu nennen, ausgesprochen lohnend. ({4}) - Herr Beck, Sie haben völlig Recht: Die besten Landesregierungen werden mit von der F.D.P. gestellt. ({5}) Ich erkenne an, dass dies auch Sie so wie mich stets zur Freude veranlasst. Man könnte so etwas - bei allem Respekt - von den Landesregierungen, an denen Sie beteiligt sind, wirklich nicht behaupten, auch wenn Sie sich Mühe geben. ({6}) - Sie sind jetzt ruhig; Sie wurden gerade gelobt. Gerade der Jugendbereich zeigt aus meiner Sicht, dass wir in der Lage sein müssen, Jugendlichen eine zweite Chance zu geben. Ich selber habe im Gerichtssaal gestanden und erlebt, wie jemand verurteilt worden ist, dessen Bruder - in bestimmten Verfahren sind ja nur Verwandte zugelassen - anwesend war, und wie der Richter sagte: „Sie kenne ich doch auch“, worauf der Bruder antwortete: Ja, von vor sechs Jahren. Der Richter fragte ihn: Was machen Sie jetzt? - Mittlerweile ist aus ihm ein anständiger Kerl geworden, der in der Mitte der Gesellschaft lebt. Man muss zur Kenntnis nehmen, dass sich Jugendliche in einem bestimmten Alter auch einmal verirren. Es ist ein Fehler, dann lebenslang den Stab über diese Jugendlichen zu brechen. ({7}) Wir haben in der letzten Legislaturperiode viele Gesetzesdefizite in der Regel nicht streitig, sondern einvernehmlich - Herr Kollege Geis, Sie haben auf überparteiliche Maßnahmen im Deutschen Bundestag hingewiesen - beseitigt. Mittlerweile geht es aber nicht mehr um Gesetzesdefizite, sondern ausdrücklich um Vollzugsdefizite. Es ist eine Katastrophe, wenn die Einsatzfahrzeuge der Polizei eigentlich in das Polizeimuseum gehören. Es ist eine Katastrophe, wenn sich Polizeibeamte auf eigene Rechnung Computer im Sonderangebot kaufen, damit sie wenigstens halbwegs auf dem neueren technischen Stand sind. ({8}) Aus meiner Sicht ist es eine Katastrophe, dass in einem deutschen Bundesland Computer, die von Amts wegen zur Verfügung gestellt werden, faktisch nicht genutzt werden können, weil die Programme nicht funktionieren. Es ist eine Katastrophe, wenn das Budget für den Unterhalt, für Benzin und die Reparatur von Fahrzeugen zu knapp bemessen ist und dies zur Folge hat, dass Streifenfahrten nicht oder nicht in dem erforderlichen Umfang durchgeführt werden. Heute Morgen habe ich mit einem Abgeordnetenkollegen aus dem nordrhein-westfälischen Landtag, der selbst Polizeibeamter ist, Herrn Engel, telefoniert. Er berichtete mir - in einer solchen Diskussion hört man sich ja ein wenig um - von einem Erlass der nordrhein-westfälischen Landesregierung aus dem April 2000, in diesem Fall von Innenminister Behrens, in dem steht, dass ein 400-DMZuschuss gewährt wird, damit sich Polizeibeamte eine eigene schusssichere Weste kaufen können. Dieser Betrag reicht natürlich nicht aus, wie wir wissen, ({9}) weil Schusswesten in der Regel an den Körper angepasst werden müssen, damit sie funktionieren können. ({10}) Gleichzeitig wird in diesem Erlass hinzugefügt: Ihr bekommt zwar den Zuschuss in Höhe von 400 DM für die schusssichere Weste, aber, wenn ihr die Weste verwendet und sie nicht in Ordnung war, übernimmt der Dienstherr keine Haftung, wenn euch Polizeibeamten etwas passiert. Dies zeigt in meinen Augen das Versagen des Staates in einem Kernbereich, nämlich bei der inneren Sicherheit. ({11}) Deswegen appelliere ich an Sie, dass wir uns auf die Kernaufgaben des Staates konzentrieren und dass die Kernaufgabe des Staates in den Mittelpunkt gerückt wird. Warum organisieren Menschen Staat? Geschichtlich gesehen zunächst einmal für die äußere und innere Sicherheit, für ein gedeihliches Zusammenleben. Ich habe die Nase voll, dass jedes Mal nach einer Straftat nach einem neuen Gesetz gerufen wird, auch in diesem Hause. ({12}) Wir müssen endlich begreifen: Wir brauchen nicht mehr Gesetze. Wir brauchen mehr und besser ausgestattete Vollzugs- und Polizeibeamte, die in der Lage sind, die Straftäter zu fassen. Man kann einen Straftäter nicht verurteilen, wenn man ihn nicht vorher fasst. ({13}) Deswegen ist das Vollzugsdefizit der entscheidende Punkt, über den wir gerade nach dieser bemerkenswerten Antwort der Bundesregierung reden müssen. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat der Abgeordnete Volker Beck das Wort.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Redner der Opposition haben versucht, bestimmte Länder gegeneinander auszuspielen. ({0}) Ich denke, die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage gibt das einfach nicht her. Die Antwort legt dar: Bei der Kriminalitätsentwicklung gibt es zwischen Stadt und Land eine viel stärkere Differenzierung als zwischen den einzelnen Bundesländern. Wenn wir hier keine Wahlkampfdebatte machen, sondern ernsthaft darüber reden wollen, was wir tun müssen, um die Verbrechensbekämpfung voranzubringen - was wir alle wollen, weil es eine zentrale Frage für das Lebensgefühl der Menschen im Lande ist -, sollten wir solche sachfremden Argumentationen mit billiger parteipolitischer Polemik hinten anstellen. ({1}) - Das gefällt Ihnen nicht. Da Sie aber fordern, dass wir die Länder miteinander vergleichen, will ich Ihnen zur Warnung eine statistische Größe entgegenhalten. Sie führen diese Debatte ja wegen des baden-württembergischen Landtagswahlkampfs. Bei den Fragen, die Sie nicht gestellt haben, sieht Baden-Württemberg nicht mehr so gut aus. Im letzten Jahr gab es nach einer AP-Meldung 291 antisemitisch motivierte Straftaten. Davon fand mehr als jede sechste, nämlich 50, in Baden-Württemberg statt. Dieses Thema war Ihnen in der Anfrage keiner Erwähnung wert. Das, finde ich, ist bezeichnend für den Fragesteller. Wir sollten hier ernsthaft über die Strategien zur Kriminalitätsbekämpfung reden und solche Vergleiche besser lassen. Wir alle könnten uns solche Zahlen um die Ohren schlagen; ich habe noch andere dabei. Aber ich denke, wir sollten uns das ersparen. Auch die Menschen draußen im Land sind es müde, anzusehen, wie wir ein so ernsthaftes Problem auf diesem Niveau diskutieren. ({2}) Rot-grüne Kriminalpolitik ist eine Trias von Prävention, Repression und Maßnahmen der Resozialisierung. Das heißt, wir wollen die Ursachen der Kriminalität bekämpfen, auf Kriminalität deutlich und angemessen reagieren. Dabei müssen die Sanktionen so ausfallen, dass sie dem Täter das Unrecht der Tat vor Augen führen und ihn möglichst von der Begehung weiterer Straftaten abhalten. Eine Schwäche unseres heutigen Strafrechts ist, dass wir dem Richter nicht die Möglichkeit geben, auf die Persönlichkeit des Täters und die Umstände der Tat im Einzelfall angemessen und differenziert zu reagieren. Diese Koalition wird deshalb sehr bald eine Sanktionenrechtsreform auf den Weg bringen. Für die Bürgerinnen und Bürger wird diese Reform am Ende auch mehr Schutz vor Straftätern bedeuten; denn eine erfolgreiche Resozialisierung bedeutet noch immer den besten Schutz vor Rückfalltätern. Das hat die Bundesregierung auch in ihrer Antwort ganz deutlich gemacht. Mit einem ausdifferenzierten Instrumentarium von Sanktionen werden wir den Gerichten die Mittel in die Hand geben, mit denen angemessen und nachhaltig auf begangenes Unrecht reagiert werden kann. Wer eine solche Reform, wie kürzlich der bayerische Justizminister Weiß, mit den Worten „Freiheit für Schwerverbrecher“ tituliert, will offensichtlich die Probleme, die wir haben, nicht verstehen und mag sich auch an einer Lösungsdiskussion nicht beteiligen. Selbstverständlich sind Sanktionen wie gemeinnützige Arbeit oder Ausweitung des Fahrverbots zur selbstständigen Hauptstrafe nicht für den Bereich der Schwerkriminalität gedacht. Aber es ist wichtig, dass wir gerade bei den kleineren kriminellen Handlungen reagieren. Gegenwärtig ist es so, dass der Richter da im Erwachsenenstrafrecht nur die Möglichkeit der Geldstrafe oder der Bewährungsstrafe hat. Das beeindruckt oftmals nicht. Deshalb ist es ein wesentlicher Gewinn für die Kriminalitätsdebatte, wenn wir angemessen reagieren und bei kleinen Delikten sagen: Wir schauen nicht weg, aber wir holen auch nicht jedes Mal sozusagen die ganz große Keule des Justizvollzugs heraus, ({3}) weil wir genau wissen, dass dort kriminelle Karrieren oftmals erst begonnen werden. Deshalb sind solche differenzierten Maßnahmen notwendig. Das sollten wir auch den Menschen draußen erklären. Wir sollten ihnen nicht an den Stammtischen nach dem Mund reden, aber wir sollten an den Stammtischen darüber reden. Ich habe erlebt, dass die Menschen das verstehen, wenn man es ihnen erklärt. Da ist Rot-Grün auf dem richtigen Weg. ({4}) Wenn hier im Zusammenhang mit der Bewährungsstrafe denunziert wird, dass wir - Sie werden es sicher noch ansprechen - dem Richter künftig ermöglichen, auch jenseits der Zweijahresgrenze, nämlich zwischen zwei und drei Jahren, eine Straftat zur Bewährung auszusetzen, dann sage ich: Das bedeutet nicht unbedingt mehr Liberalität, sondern wir bringen das Spannungsverhältnis zwischen Schuldstrafrecht und dem Resozialisierungsgedanken wieder ins Lot. Wir wissen doch alle, dass die Richter oftmals bei Ersttätern, die eine schwerere Straftat begangen haben und eigentlich eine Strafe von mehr als zwei Jahren verdient hätten, versuchen, unter die Zweijahresgrenze zu kommen, damit sie noch eine Bewährungsstrafe verhängen können, weil sie denken, dass das noch am ehesten zu dem Ergebnis der Reintegration des Täters in die Gesellschaft führen wird. Herr Westerwelle hat es gerade gesagt: Man kann sich einmal verirren und die Irrungen können sehr schlimm ausfallen. Dann ist es besser, wir schaffen hier oberhalb der Zweijahresgrenze - unter engeren Voraussetzungen als unterhalb der Zweijahresgrenze - eine Bewährungsmöglichkeit, mit Auflagen, mit gemeinnütziger Arbeit, mit Wiedergutmachungsmaßnahmen. Das heißt nicht einfach Wegschauen, sondern das ist eine konkrete Reaktion, die vielleicht dazu führt, dass ein solcher Mensch reintegriert wird; denn das ist das Beste für die Gesellschaft. Wir werden auch die Qualität des Strafvollzuges verbessern. Wir haben alle nicht mehr Geld zu verteilen. Deshalb ist es ein ganz entscheidender Schritt, dass wir in Zukunft damit Schluss machen, dass Ersatzfreiheitsstrafen abgesessen werden, also solche Strafen, die verhängt werden, weil jemand eine Geldstrafe nicht bezahlen will oder kann. Sie sollen durch gemeinnützige Arbeit ersetzt werden. Das schafft Platz im Strafvollzug, und es wird auch von Beamten geäußert. - Herr Geis, ich würde mir wünschen, dass Sie öfter einmal eine Justizvollzugsanstalt besuchen. ({5}) In Diskussionen mit den Beamten ist immer wieder zu hören, es belaste sie in ihrer Arbeit mit den Mittel- und Langstraflern ungeheuer, dass Leute für eine Woche in den Strafvollzug kommen, eingecheckt werden müssen, ausgecheckt werden müssen; sie machen nur Arbeit. ({6}) Das führt dazu, dass man für die Täter, mit denen man arbeiten muss, keine Zeit hat. Wir haben festgestellt, dass sich die Jugendkriminalität in bestimmten Deliktbereichen in der letzten Zeit eher rückläufig entwickelt hat. Die Statistik hat ergeben, dass 1999 die Delikte in diesem Bereich um 2 Prozent gesunken sind. Ich denke, das ist in der Tat nicht ganz unbeeinflusst von den Maßnahmen, die wir vonseiten der neuen Koalition getroffen haben, geschehen. Mit dem JUMP-Programm haben wir vielen Jugendlichen, die am Volker Beck ({7}) Rande der Gesellschaft standen, die perspektivlos waren, eine neue Perspektive gegeben. Das Gleiche gilt übrigens auch für ein Thema, das Ihnen in der Anfrage schon wieder sehr viel Platz wert war, für die Ausländerkriminalität. Auch diese ist 1999 weiter gesunken. Ich glaube, dass die Staatsbürgerschaftsreform dazu einen Beitrag leistet, ({8}) weil wir sagen: Ihr gehört zu unserer Gesellschaft, ihr bekommt ein Eintrittsrecht mit gleichen Rechten und gleichen Pflichten, aber dann müsst ihr euch auch an die Regeln halten. - Das ist gerade bei denjenigen, die ein wenig gefährdet sind, ein neues Angebot zur Integration und Ermutigung. ({9}) An diesem Kurs der Prävention durch mehr Integration werden wir festhalten. ({10}) Prävention ist bei uns ein ganz entscheidender Punkt. Das haben der Innenminister und die Justizministerin auch mit der Gründung des Forums Kriminalprävention deutlich gemacht. Wir sind da auf einem guten Kurs. Repression und Prävention darf man nicht als Gegensätze sehen, sondern man muss hier einen Policymix haben, mit dem das aufeinander abgestimmt wird. Ich glaube, da sind wir auf einem guten Weg. Das tut Ihnen natürlich Leid, denn eigentlich hätten Sie vonseiten der konservativen Opposition dieses Thema gern abonniert. Die Menschen draußen werden sehen, dass unsere Politik dieses Land sicherer macht, ({11}) ohne dass an der Rechtsstaatlichkeit Abstriche gemacht werden müssen. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Es spricht jetzt die Abgeordnete Ulla Jelpke.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch wir sind der Meinung, dass eine wirksame und erfolgreiche Kriminalitätsbekämpfung nur durch eine wirklich effiziente soziale Prävention erreicht werden kann. Gerade weil wir die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen und keine populistischen Spielchen treiben wollen, sagen wir ihnen - das sage ich heute zum wiederholten Male -, dass ohne die Bekämpfung und Korrektur der gesellschaftlichen und sozialen Ursachen alle Versuche, Kriminalität durch immer mehr Polizei, immer schärfere Gesetze, immer längere Strafen zurückdrängen zu wollen, zum Scheitern verurteilt sind. ({0}) Ich möchte sehr deutlich wiederholen, was Herr Beck hier auch schon gesagt hat. Ursachenbekämpfung ist einer der wichtigsten Punkte, die in der Kriminalitätsbekämpfung beachtet werden sollen. Dabei möchte ich auf die Ausführungen von Herrn Westerwelle eingehen. Ich gebe Ihnen in allem Recht. ({1}) - In fast allem. Wir führen bei jedem Fall wie dem Fall Schmökel immer wieder solche Debatten, aber wir führen keine Diskussion über die wirklichen Ursachen und darüber, was wir bekämpfen müssen. Ich bin seit 20 Jahren Strafvollzugshelferin. Seit 20 Jahren steht in den Urteilen der Richter, dass Therapie gemacht werden muss, dass es bestimmte Auflagen gibt. Ich habe gerade wieder eine Tour durch nordrhein-westfälische Gefängnisse hinter mir und die Anstaltsleiter gefragt. Sie haben alle gesagt, dass diese Therapieauflagen nicht eingehalten werden können, weil man das dafür qualifizierte Personal im Gefängnis nicht hat, weil es keine entsprechende Forschung gibt, weil es keine Ursachenbekämpfung gibt. Ich sage Ihnen: Solange dieses nicht möglich gemacht wird, wird man in den Gefängnissen weiter Zeitbomben wie Schmökel produzieren. ({2}) - Es mag sein, dass Sie in Bayern da ein Stück weiter sind. Ich würde auch das gern untersuchen, Herr Geis. Damit komme ich zu einem weiteren Punkt, zur Drogenpolitik. Sie haben das angesprochen und haben heute hier wieder gefordert, dass Drogenabhängige kriminalisiert werden sollen. Sie haben hier vor allen Dingen sehr populistisch dargestellt, dass die Drogenkriminalität weiter ansteigt. Sie haben Recht. Auch Wissenschaftler und Forscher vertreten diese Auffassung und wir sind in den Anhörungen, die wir im Bundestag durchgeführt haben, ebenfalls immer wieder zu dieser Erkenntnis gekommen. Immerhin hat die neue Bundesregierung die Verantwortlichkeit für die Drogenpolitik endlich vom innenpolitischen und Rechtsbereich in den eigentlich zuständigen Gesundheitsbereich gelegt. Deswegen appelliere ich an Sie: Drogenabhängige Menschen sind kranke Menschen. Sie müssen entkriminalisiert werden. Deswegen müssen auch Drogen entkriminalisiert werden. Sie würden in Bezug auf die Volker Beck ({3}) Kriminalitätsbekämpfung eine Menge mehr erreichen, wenn in diesem Bereich endlich Maßnahmen ergriffen würden. Das nächste Thema: Videoüberwachung. Zu diesem Thema hat die CDU/CSU in Ihrer Großen Anfrage ebenfalls Fragen gestellt. Auch hier wollen Sie jetzt verstärkt Ihrem Vorbild Großbritannien nacheifern. Meine Damen und Herren, wer sich genau anschaut, was in Großbritannien, aber auch in den Teilen Deutschlands, in denen Videokameras aufgestellt werden, stattfindet, wird feststellen: Mit Videokameras wird die Kriminalität im Wesentlichen vom Zentrum in die Randgebiete verlagert. Ich glaube nicht, dass dies die angestrebte Wirkung sein kann. Ganz im Gegenteil muss man sagen, dass mit Videoüberwachung - wir werden in diesem Hause noch die Debatte über das Datenschutzgesetz führen - Bürgerrechte eingeengt und abgebaut werden. Das findet auf gar keinen Fall unsere Zustimmung. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf Folgendes hinweisen: Die Mitglieder des Innenausschusses waren in Großbritannien. Es gibt genügend Analysen, die aufzeigen, dass die Kriminalität dort eher gestiegen als gesunken ist. Von daher muss diese Diskussion auch hier bei uns sehr sorgfältig geführt werden. Der Ruf nach mehr Kameras reicht nicht aus. ({4}) Bisher war es so, dass vor allen Dingen die Kameraindustrie profitiert hat, die Bürgerrechte aber abgebaut wurden. Im Übrigen gibt es ein Beispiel für die Wirkungslosigkeit von Videokameras aus den letzten Wochen: den Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge. Dort gab es Kameras. Diese haben aber nicht die Täter aufgenommen - sie sind bis heute nicht gefasst -, sondern auf den Bildern hat man die mutige Nachbarin, die über einen Zaun gestiegen ist und die Brandsätze gelöscht hat, gesehen. Das zeigt, wie unsinnig die Überwachung mit Videokameras ist. Stichwort: Kinder- und Jugendkriminalität. Ich verstehe nicht, warum der CDU/CSU seit Jahren nichts anderes einfällt, als noch mehr geschlossene Heime zu fordern. Wenn Sie sich einmal anschauen, um welche Kinder und Jugendliche es sich handelt, werden Sie feststellen: Es sind meistens Kinder, die von Sozialhilfe abhängig sind und aus armen Familien kommen. Auch hier fordern wir soziale Maßnahmen für Kinder und kinderreiche Familien, damit Kriminalität abgebaut bzw. entsprechende Prävention betrieben werden kann. Ein weiteres Thema: Eurodac. Die Bundesregierung spricht gar nicht mehr davon, was Eurodac eigentlich ist. Demnächst werden Ausländern zum Beispiel an den Grenzen ihre Fingerabdrücke abgenommen, egal, ob sie etwas getan haben oder nicht. Auch Kindern soll ihr Fingerabdruck abgenommen werden. Ich möchte ganz deutlich sagen: Ich finde es sehr unmenschlich, mit Flüchtlingen an der Grenze so umzugehen. Kein Steuerbetrüger, kein Parteispendenbetrüger und niemand anders würde solch eine Behandlung erfahren, bevor überhaupt ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden ist. Auch hier sind Bürger- und Menschenrechte gegenüber den Flüchtligen einzuhalten. Diese Maßnahme, die im Übrigen noch nicht beschlossen ist, darf auf gar keinen Fall durchgesetzt werden. ({5}) Ein letzter Punkt. Auch heute ist hier angesprochen worden, dass die CDU/CSU in denjenigen Bundesländern, in denen sie mitregiert bzw. regiert, im Zusammenhang mit rechtsextremistischen Straftätern eine Strafverschärfung plant. Sie wollen einen § 224 a im Strafgesetzbuch einführen mit dem Ziel, dass die Körperverletzung aus niederer Gesinnung mit schärferen Strafen belegt wird. Einmal abgesehen davon, dass das ein alter Hut ist, den die CDU/CSU hier wieder auf die Tagesordnung setzt, möchte ich Sie daran erinnern: Juristen, Kriminologen, aber auch wir sagen ganz klar, dass wir dagegen sind, das Tatprinzip zum Täterprinzip zu machen und zu einem Gesinnungsstrafrecht zu kommen. Das werden wir auf gar keinen Fall mitmachen. ({6}) - Ja, wir haben die Gesetzesvorlage schon gesehen. ({7}) - Im Bundesrat wird sie über die Länder bereits eingebracht. ({8}) Ich sage Ihnen: Gesinnungsstrafrecht machen wir nicht mit. Es ist höchste Zeit, § 129 a StGB abzuschaffen; ({9}) denn dieser hat demokratische Rechte in diesem Land massiv abgebaut. In diesem Zusammenhang kann ich Ihnen nur sagen: Ich bin froh, dass wir die Kronzeugenregelung nicht mehr haben. Sie wissen ganz genau, dass es eine Maßnahme war, bei der man Prozesse auf Denunziation aufgebaut hat. Das darf in einem demokratischen Staat nicht passieren. Zum Schluss. Ich bin der Meinung, hier kann und muss für alle Parteien die alte Parole gelten: Die beste Kriminalitätsbekämpfung sind immer noch die soziale Prävention und eine gute Sozialpolitik. Ich hoffe, dass wir das mit Ihrer Großen Anfrage ein Stückchen erreichen. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Jürgen Meyer.

Prof. Dr. Jürgen Meyer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001494, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute über eine Große Anfrage, die nützlich ist, und die Antwort der Bundesregierung, die informativ ist. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, haben dem Ganzen die zutreffende Überschrift „Erfolgreiche Verbrechensbekämpfung in Deutschland“ gegeben. Insofern hätte es Ihnen gut angestanden, der Bundesregierung für ihre Arbeit zu danken. Wir tun das jedenfalls. ({0}) Herr Kollege Geis, was mir an Ihrer Rede nicht gefallen hat, ist, dass Sie erneut zu weit mehr als 90 Prozent über Repression gesprochen haben. Das entspricht der Politik ({1}) der früheren Regierung. Auch die Anfrage richtet sich wesentlich auf die Thematik Repression. ({2}) Es ist schon so - das unterstütze ich mit großem Nachdruck -, dass die neue Bundesregierung einen behutsamen Paradigmenwechsel eingeleitet hat. Es soll nämlich neben der notwendigen Repression zunehmend auch Prävention zur Verhinderung von Straftaten versucht werden. ({3}) Ich weise Sie auf ein kleines Beispiel hin, nämlich dass seit dem Regierungswechsel das Forum für Kriminalprävention ({4}) gemeinsam von Innen- und Justizressort, gemeinsam von Bund und Ländern und gemeinsam mit unabhängigen Wissenschaftlern und Initiativen engagiert aufgebaut wird. Ich finde, das ist ein wichtiges Signal, dass wir es mit der Prävention sehr ernst nehmen. Weil dies in der bisherigen Debatte noch keine Rolle spielte, will ich das Thema ansprechen, das Sie nur gestreift haben, das uns aber in den vergangenen Jahren sehr beschäftigt hat, nämlich organisierte Kriminalität. Ich möchte dazu drei Anmerkungen machen. Erste Anmerkung. Herr Innenminister, Sie werden sich genau erinnern, wie sorgfältig wir Art. 13 des Grundgesetztes, der eine bessere Kontrolle der technischen Wohnraumüberwachung ermöglichen sollte, formuliert haben. Ich freue mich, dass das Gremium zur Kontrolle der technischen Wohnraumüberwachung im Bundestag in dieser Woche erneut getagt hat. Ich meine, wir sind hier auf einem guten Weg. Erstaunlich war für uns alle fraktionsübergreifend in diesem Gremium aber, dass wir in der Mitteilung der Bundesregierung, die allgemein zugänglich ist, nämlich in der Drucksache 14/3998, Anlage 3, lesen mussten: „BadenWürttemberg, Berlin, Sachsen und Thüringen haben mitgeteilt, das Landesparlament werde nicht unterrichtet.“ Das ist nach meiner Auffassung ein klarer Verfassungsverstoß; denn wir haben gemeinsam in Art. 13 des Grundgesetzes im Anschluss an die vorgesehene Einrichtung des Gremiums im Bundestag festgelegt: „Die Länder gewährleisten eine gleichwertige parlamentarische Kontrolle.“ Wir haben deshalb übereinstimmend beschlossen, die vier betroffenen Landesregierungen bis zum 31. Dezember zur Abgabe einer Stellungnahme aufzufordern. Ich hoffe, dass dieser Verfassungsverstoß, mit dem wir es hier zu tun haben, in Ordnung gebracht wird. ({5}) Zweite Anmerkung. Wir sind ja schon seit einigen Jahren einig darüber, dass es eine Novellierung der Telefonüberwachung in § 100 a StPO geben sollte, ({6}) zum einen hinsichtlich der Delikte, deretwegen überwacht werden kann, zum anderen hinsichtlich der Kontrolle. Leider hat der Bundesrat die mehrfach angekündigte Vorlage nicht geliefert. ({7}) Deshalb, finde ich - da sind wir wahrscheinlich übereinstimmender Auffassung -, ist jetzt die Bundesregierung am Zug. Denn inzwischen gibt es Staatsanwaltschaften, die sehr viel mit typischen Delikten der organisierten Kriminalität zu tun haben, nämlich Bestechung und Bestechlichkeit. Beide Tatbestände sind in § 100 a StPO nicht aufgeführt. Das führt in der Praxis nach meiner Information dazu, dass man sagt: Dann müssen wir eben eine technische Wohnraumüberwachung durchführen; denn eine derartige Maßnahme ist auch wegen Bestechung und Bestechlichkeit möglich. Ich halte das für nicht vertretbar, weil wir in der Verfassung festgelegt haben, dass die Wohnraumüberwachung nur Ultima Ratio ist, also im äußersten Fall als letztes Mittel durchgeführt werden darf. Diese Praxis des Ausweichens auf § 100 c müssen wir ändern und deshalb eine Reform des § 100 a StPO durchführen. Jetzt möchte ich als dritten Punkt auf das eingehen, was mir im Zusammenhang mit der organisierten Kriminalität am wichtigsten ist. Ich fordere in aller Freundlichkeit die Bundesregierung auf, ({8}) sich mit dem Vorschlag auseinander zu setzen, der ein Vorschlag der SPD-Rechtspolitiker ist, nämlich die schwere Steuerhinterziehung als Vortat in den Geldwäschetatbestand, § 261 StGB, aufzunehmen. Schwere Steuerhinterziehung ist in der Abgabenordnung definiert. Da geht es um Steuerhinterziehung in großem Ausmaß, also in Millionenhöhe, oder auch um Steuerhinterziehung unter Verwendung nachgemachter oder verfälschter Belege. Ich erinnere an die Debatte im Fall Kanther zum Stichwort „jüdische Vermächtnisse“. ({9}) Dr. Jürgen Meyer ({10}) Mein Vorschlag zum Thema schwere Steuerhinterziehung ist vor drei Jahren von Herrn Innenminister Kanther abgelehnt worden. ({11}) Dies muss jetzt in Ordnung gebracht werden. ({12}) - Ich habe dazu einen Vorschlag vorgelegt, der zurzeit von der Bundesregierung geprüft wird. ({13}) Organisierte Kriminalität ist auf Geldwäsche angewiesen. Welcher Kriminelle wird denn seinen Millionengewinn steuerlich deklarieren, was er wegen der Wertneutralität des Steuerrechtes eigentlich tun müsste? Er würde sich dann ja den Ermittlungsbehörden geradezu ausliefern. Es gibt also keine organisierte Kriminalität ohne schwere Steuerhinterziehung, wenn auch nicht jede schwere Steuerhinterziehung organisierte Kriminalität ist. ({14}) Deshalb sage ich, Herr Kollege Geis: Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, dass wir sowohl die bekannte Eigentums- und Vermögenskriminalität mit einem jährlichen Schaden im einstelligen Milliardenbereich zum Gegenstand von Strafverfahren und gegebenenfalls von Geldwäscheverfahren machen - für sich genommen ist das in Ordnung - als auch die Schäden durch Steuerhinterziehung und schwere Steuerhinterziehung in dreifacher Milliardenhöhe mit aller Energie, also auch mit Geldwäscheverfahren, bekämpfen. Meine Überzeugung ist im Übrigen, dass sich seriöse Kreditinstitute nicht dafür hergeben dürfen, die durch schwere Steuerhinterziehung ergaunerten Gelder auch noch zu waschen. Schönen Dank. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ronald Pofalla.

Ronald Pofalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001726, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was tut die Bundesregierung in Sachen Verbrechensbekämpfung? Diese Frage beschäftigt die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes ganz besonders. Die Antwort lautet kurz und bündig: nichts Besonderes. Noch immer setzt die Bundesregierung auf dieselben alten Hausmittelchen, obwohl sich das Krankheitsbild verändert hat. Die Kriminalität in Deutschland ist zwar insgesamt rückläufig. Doch gerade im Bereich der Kinder- und Jugendkriminalität sowie vor allem bei Gewaltdelikten und im Rahmen von Rauschgiftdelikten gibt es erschreckende Zuwachsraten. Eine Antwort auf die Frage, wie dieser veränderten Situation begegnet werden kann, hat die Bundesregierung nicht gegeben. Anhand des Besorgnis erregenden Beispiels der Kinder- und Jugendkriminalität möchte ich zunächst die Ineffizienz rot-grüner Kriminalpolitik verdeutlichen. Nach der polizeilichen Kriminalstatistik für das Jahr 1999 ist ein Drittel aller Tatverdächtigen - ich betone: über 30 Prozent - jünger als 21 Jahre. Mit den herkömmlichen Methoden ist diese Entwicklung nach meiner festen Überzeugung nicht in den Griff zu bekommen. Doch was tut die Bundesregierung? Nichts! Die Bedenken der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hinsichtlich der von der gesetzlichen Regelung abweichenden Anwendung des § 105 des Jugendgerichtsgesetzes durch die Justiz werden von der Bundesregierung ignoriert. ({0}) Der von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion eingebrachte Gesetzentwurf zur Verbesserung der gesetzlichen Maßnahmen gegenüber Kinder- und Jugenddelinquenz könnte bestehende Unklarheiten beseitigen. Durch die in dem Entwurf beabsichtigte Änderung des § 105 des Jugendgerichtsgesetzes könnte die Regel-Ausnahme-Anwendung wieder hergestellt werden. Heutzutage wird der Heranwachsende im Alter zwischen 18 und 21 Jahren entgegen dem Regelungsziel des § 105 des Jugendgerichtsgesetzes in den allermeisten Fällen nach dem Jugendstrafrecht verurteilt, obwohl die gesetzliche Regelung die Verurteilung nach dem Erwachsenenstrafrecht als Regelfall vorsieht. Diese Entwicklung hält die CDU/CSU-Bundestagsfraktion für völlig inakzeptabel. ({1}) Die Anwendung des Jugendstrafrechts auf heranwachsende Schwer- und Schwerstkriminelle führt zu himmelschreiendem Unrecht und schädigt den Ruf der Justiz. Ich will jetzt auf das eingehen, was Herr Westerwelle gesagt hat. Herr Westerwelle hat einen Punkt genannt, den ich unterstütze. Er hat dabei aber nach meiner Überzeugung einen ganz wesentlichen Teil nicht angesprochen. Er hat richtigerweise gesagt, dass Heranwachsende, also die 18- bis 21-Jährigen, die das erste Mal straffällig werden oder bei denen es sich um eine jugendspezifische Tat handelt, mit der Nachsicht, die das Jugendstrafrecht zulässt, verurteilt werden sollen. Hierbei werden Sie die totale Zustimmung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion finden. Zu dem Teil, den Sie nicht angesprochen haben. Ich selber habe in Dutzenden von Verfahren, bei denen es eine entsprechende anwaltliche Vertretung gab, erlebt, dass bei schwerstkriminellen Wiederholungstätern im Heranwachsendenalter die Anwendung des Jugendstrafrechts in der weitaus überwiegenden Anzahl der Fälle trotz des Regel-Ausnahme-Verhältnisses des § 105 JGG entgegen jeglicher Vernunft - zum Regelfall und die des Dr. Jürgen Meyer ({2}) Erwachsenenstrafrechts zur Ausnahme wurde. Diese Entwicklung, die auch von Praktikern bestätigt wird, muss gestoppt werden. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele?

Ronald Pofalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001726, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, Sie haben zutreffend darauf hingewiesen, dass sich aus der Antwort der Bundesregierung ergibt, dass die Kinder- und Jugendlichendelinquenz, vor allen Dingen bei deutschen Kindern und Jugendlichen, sehr hoch ist. Sie haben aber nicht erwähnt, dass im Jahr 1999 - nach einer Antwort der Bundesregierung - die Zahlen straffälliger deutscher Kinder um 1,9 Prozent zurückgegangen und auch die für jugendliche Straftäter rückläufig sind. Dagegen sind in den Jahren 1993 bis 1997 Zuwachsraten festzustellen, die teilweise im zweistelligen Bereich liegen. Wenn ich mich recht erinnere, gab es damals eine Bundesregierung, die von anderen Fraktionen getragen wurde als das heute der Fall ist. Ich möchte mir gerne Ihr Konzept anhören, das Sie damals umgesetzt oder auch nur vorgeschlagen haben. ({0}) Unter der neuen Bundesregierung - ich will nicht sagen, dass das ihr Verdienst ist - sind die Zahlen rückläufig. Das müssen Sie doch zur Kenntnis nehmen - oder nicht?

Ronald Pofalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001726, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Ströbele, wenn Sie es beruhigend finden, dass wir in dem Berichtszeitraum von 1993 bis 1999 im Bereich der Kinder- und Jugendkriminalität einen Anstieg von über 140 Prozent und im letzten Jahr einen geringfügigen Rückgang hatten, dann muss ich sagen, dass mich das nicht beruhigt. Ich will Ihnen eine zweite Zahl nennen: Die Kriminalstatistik des Jahres 1999 - wenn ich es richtig sehe, haben doch die Vertreter der Bundesregierung ihre Ämter in diesem Jahr über volle 365 Tage ausgeübt - weist aus, dass über ein Drittel aller Tatverdächtigen in Deutschland jünger als 21 Jahre ist. Das muss uns doch alle gemeinsam beunruhigen. Ansonsten verstehe ich die Debatten, die wir hier führen, nicht mehr. ({0}) - Auf die Position der Grünen werde ich gleich noch näher eingehen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie auch eine Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?

Ronald Pofalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001726, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gerne.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege - in diesem Falle trifft das ja sowohl auf unsere Tätigkeit als Abgeordnete als auch auf die als Anwälte zu -, ich möchte bei dem nachhaken, was Sie zum Veränderungsbedarf bei der Anwendung des Heranwachsendenstrafrechtes gesagt haben. Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie bei Mehrfachtätern öfter das Erwachsenenstrafrecht angewendet sehen möchten? - Ich entnehme Ihrem Nicken, dass ich Sie richtig verstanden habe. Ich bitte Sie, hierbei Folgendes zu bedenken: Erstens. Über die Zunahme der Jugendkriminalität brauchen wir uns hier nicht zu streiten. Aber die Verantwortungsreife eines Täters - darum geht es ja hier - kann nicht per Gesetz definiert werden, sondern sie wird von einem Richter festgestellt, der sich vor Ort ein Bild darüber macht. Es kann doch nur ein Richter entscheiden, wie weit die Persönlichkeit eines jungen Menschen entwickelt ist und ob man ihn nach dem Jugendstrafrecht oder nach dem Erwachsenenstrafrecht behandeln muss. Zweitens. Teilen Sie nicht auch die Meinung, dass die Frage, ob jemand die nötige Verantwortungsreife besitzt, nichts damit zu tun hat, ob jemand Mehrfachtäter oder Erst-täter ist? Hierbei geht es ausschließlich um die Persönlichkeitsentwicklung. Man erlebt sogar oftmals, dass gerade Mehrfachtäter eine geringere Verantwortungsreife haben und weniger weit entwickelt sind.

Ronald Pofalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001726, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich will Ihre Frage beantworten, indem ich von einem Fall berichte, mit dem ich es als Anwalt selber zu tun hatte. Zu mir kam ein Heranwachsender, über 18 Jahre alt, der selber ein Unternehmen mit drei Mitarbeitern hatte. Es ging damals um den Vorwurf, dass er eine Straftat mittlerer Schwere begangen habe. Ich habe mit ihm gesprochen und ihn darüber informiert, dass ich aufgrund des Eindrucks, den ich von ihm hätte, keinen Antrag nach § 105 JGG stellen würde. Ich habe ihm gesagt, dass ich ihm, wenn er sich auf diesen Paragraphen berufen wollte, empfehlen würde, zu einem Anwaltskollegen zu gehen, da ich aufgrund des Eindrucks, den ich von ihm gewonnen hätte, diesen Antrag nicht stellen würde. Im Rahmen der sich dann anschließenden Gerichtsverhandlung erhielt ich mit dem Hinweis auf das Anwaltshaftungsrecht die gerichtliche Belehrung, doch den Antrag nach § 105 JGG zu stellen. ({0}) So sieht die Realität aus; das erleben wir in unseren Gerichten. Nach der Regelung des § 105 JGG ist es natürlich richtig, wie Sie formuliert haben, dass die Verantwortungsreife überprüft werden muss. Nur in der Realität praktizieren unsere Gerichte - natürlich nach einer formalen Prüfung - im Grunde genommen per se und kursorisch die Anwendung von § 105 JGG. Die Praxis der Gerichte, so wie sie heute praktiziert wird, halten wir für falsch.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Westerwelle?

Ronald Pofalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001726, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Da ich glaube, dass sich diese Debatte lohnt und wir uns noch lange mit diesem Thema beschäftigen werden, erlaube ich mir, noch einmal nachzufragen. Wir wissen ja auch, dass entsprechende Initiativen vorbereitet werden. Sind Sie nicht auch der Auffassung, dass ein Richter, der, nachdem er im Gerichtssaal Ihren Mandanten kennen gelernt hat, zu einer anderen Einschätzung bezüglich der Verantwortungsreife des Angeklagten als Sie selbst gekommen ist, gezwungen ist, Ihnen einen solchen Hinweis zu geben?

Ronald Pofalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001726, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein. Zumindest in diesem Fall wäre der Richter nicht gezwungen gewesen, einen solchen Hinweis zu geben. Um es noch einmal zu sagen: In den Schriftsätzen wurde der § 105 JGG - das ist das Absurde - offen angesprochen. Es ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass weder der Mandant noch der Anwalt § 105 JGG anwenden will, weil es - um es deutlich zu sagen - ein völlig eindeutiger Fall war. Dennoch ergeht der richterliche Hinweis. - Das ist unsere Gerichtspraxis. Wir beanstanden sie und wir halten sie für veränderungsbedürftig. Herr Westerwelle, ich verstehe Ihre Einlassung auch so, dass Sie sehr wohl bereit sind, auch über diese Praxis des § 105 JGG zu reden. Das sollten wir im Rahmen der Beratungen über den Gesetzentwurf der Bundestagsfraktion von CDU und CSU, der in erster Lesung bereits beraten worden ist, gemeinsam besprechen. ({0}) Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen haben sich im Rahmen der ersten Lesung unseres Gesetzentwurfs im Grunde genommen eher ablehnend zu einer Veränderung des § 105 JGG geäußert. Die Bestrafung nach Jugendstrafrecht erzeugt bei einem schwerkriminellen 18-, 19- oder 20-Jährigen doch nur Heiterkeit und Verachtung gegenüber der Justiz. Über entsprechende Fälle ist auch in der Öffentlichkeit an verschiedenen Stellen berichtet worden. Ich würde mich freuen, wenn die Koalitionsfraktionen im Rahmen der Beratungen über den Gesetzentwurf der Unionsfraktion - Herr Professor Meyer, dies könnte im Zusammenhang mit den Diskussionen über die Neuordnung des strafrechtlichen Sanktionensystems geschehen diese Frage einbeziehen. Wir sollten über - zumindest graduelle - Veränderungen in der gesetzlichen Formulierung des § 105 JGG sprechen. Ein weiteres Beispiel macht deutlich, dass ein Kriminalitätsbekämpfungskonzept der Bundesregierung überhaupt nicht existiert. So wird in der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage unserer Fraktion die Videoüberwachung gefährdeter Plätze eher abgelehnt. In der Antwort ist etwas diffus von „Länderzuständigkeit“ und „Maßnahmen der Gefahrenabwehr“ die Rede, was juristisch zwar durchaus einleuchten mag, den Kern des Problems jedoch nicht trifft. Tatsache ist: Der Bürger fühlt sich sicherer, wenn bestimmte Orte durch Videokameras überwacht werden. Straftäter werden abgeschreckt, Objekte können mit geringerem Aufwand als üblich bewacht werden und im Falle der Rauschgiftkriminalität kann durch Videoüberwachung die Schaffung von Treffpunkten und Fixerplätzen verhindert werden. Ein klares Ja der Bundesregierung zu einer Verstärkung dieser Art der Kriminalitätsprävention und -aufklärung wäre auch ein Zeichen für die Verantwortlichen in den Bundesländern. Doch auch hier widersetzt sich Rot-Grün jeder vernünftigen, zeitgemäßen Lösung. Die Bundesregierung hat es im Rahmen der Beantwortung unserer Anfrage versäumt, ein klares und offenes Bekenntnis zur Möglichkeit der Prävention abzulegen. ({1}) Ein letztes Beispiel für die Untätigkeit der Bundesregierung und der sie tragenden Regierungskoalition ist die Weigerung, wirksame Maßnahmen zur Bekämpfung des Graffiti-Unwesens einer gesetzlichen Regelung zuzuführen. Ideologisches Scheuklappendenken hat einen Gesetzentwurf der Union scheitern lassen, der eine Neuregelung der §§ 303 und 304 StGB vorsah und der Klarheit zu dem Thema Graffiti geschaffen hätte. Sie, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, haben sich auf Druck der Grünen dazu bringen lassen, eine solche Gesetzesinitiative abzulehnen. Kriminalität fängt im Kleinen an, und zwar versteckt. Wenn wir an dieser Stelle nicht genau hinsehen und zu klaren gesetzlichen Regelungen kommen, dann dürfen Sie sich nicht darüber wundern, dass gerade im Bereich von Kindern und Jugendlichen der Kriminalitätszuwachs so ist, wie er ist. Sie hätten einer Gesetzesinitiative der Unionsfraktion zustimmen können. ({2}) Diesen entscheidenden Schritt haben Sie nicht getan. Dafür tragen Sie die Verantwortung. Wir werden Sie immer wieder daran erinnern. Herzlichen Dank.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Christian Ströbele.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde die Diskussion äußerst wichtig und fortführenswert. Deshalb möchte ich dort anschließen, wo Sie, Herr Pofalla, aufgehört haben, und von dem abweichen, was ich eigentlich sagen wollte. ({0}) Das Problem des § 105 JGG verkennen Sie meiner Ansicht nach aus folgendem Grund: Selbst wenn es richtig wäre, dass die Gerichte in der Bundesrepublik Deutschland - in Berlin, überall - heutzutage Heranwachsende zu häufig als Jugendliche behandeln, so unterstellt dies doch, dass sie damit günstiger behandelt werden, dass sie damit besser wegkommen. Die Richter machen das aus ganz anderem Grunde. Ich kenne genügend Beispiele, bei denen die Strafen, die verhängt worden sind, wesentlich gravierender waren, als sie es gewesen wären, wenn die Heranwachsenden nach dem Erwachsenenstrafrecht behandelt worden wären. Die Richter machen das heute deshalb - dies nehmen jetzt auch Gesetzesinitiativen der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen auf -, weil sie damit viel flexibler auf Lebenstatbestände und auf die Verwirklichung von Straftatbeständen reagieren können. Das Jugendstrafrecht gibt diesbezüglich sehr viel bessere, sehr viel modernere Möglichkeiten an die Hand. Deshalb ist auch - da gebe ich Ihnen Recht - in dieser Hinsicht eine gewisse Tendenz zu spüren. Ich halte dies für richtig und wichtig, solange das Erwachsenenstrafrecht noch so aussieht, wie es jetzt aussieht, und nicht geändert wird, so wie wir es vorhaben.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Ströbele, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis?

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte sehr, Herr Geis.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Können Sie mir dann erklären, weshalb gerade in den nördlichen Bundesländern und in den Stadtstaaten das Jugendstrafrecht viel häufiger angewendet wird als im südlichen Bereich, und sehen Sie so wie ich einen Zusammenhang mit der weit geringeren Jugendkriminalität in den südlichen Bundesländern im Vergleich zu den nördlichen Bundesländern?

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Geis, den sehe ich nicht. Es gibt natürlich Unterschiede in der Kriminalitätshäufigkeit und in der Straffälligkeit gerade von Kindern und Jugendlichen aus Großstädten - oder gar Weltstädten - und aus kleineren Orten, und zwar nicht, weil die Menschen in den kleineren Orten besser sind als in den Großstädten, sondern weil die soziale Kontrolle in kleineren Gemeinschaften - auf dem Dorf, auf dem Land, in kleineren Städten - sehr viel größer ist als in Großstädten. Außerdem gibt es - das dürfen wir auch nicht übersehen - in den größeren Städten, beispielsweise in Berlin oder in Hamburg, ({0}) eine ganze Szene gerade von Kindern und Jugendlichen, die aus den ländlichen Bereichen in die Großstädte kommen, weil sie dort nicht mehr verwurzelt sind, weil sie sich dort nicht so entwickeln konnten, wie sie meinten, sich entwickeln zu müssen. Das ist natürlich eine bestimmte Auswahl und das erklärt, warum die Kriminalität anders zusammengesetzt ist. Gerade im Hinblick auf Drogendelikte - ich komme nachher noch einmal darauf zu sprechen - wird häufig die Erfahrung gemacht, dass viele in die Städte gegangen sind bzw. gehen, weil es auf dem Dorfe schwieriger ist - jedenfalls schwieriger war -, an illegale Drogen zu kommen. Dort werden sie dann erwischt oder auch straffällig, wenn sie Beschaffungskriminalität betreiben. Das heißt, es hat etwas damit zu tun, dass die soziale Kontrolle in den ländlichen Bereichen, in den kleineren, überschaubaren Regionen größer ist und dass die Metropolen Kinder und Jugendliche und Heranwachsende anziehen. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Ströbele, erlauben Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar des Kollegen Beck?

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte sehr, Herr Beck.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Ströbele, stimmen Sie mir darin zu, dass der Befund, auf den Herr Geis gerade hingewiesen hat, gar nicht den in der Antwort veröffentlichten statistischen Auswertungen des Bundesinnenministeriums entspricht, weil zum Beispiel im Jahre 1999 in der - nördlichen Freien und Hansestadt Hamburg ein Rückgang der Straftaten bei deutschen Heranwachsenden von 19,6 Prozent zu verzeichnen war, ({0}) während Baden-Württemberg und Bayern Steigerungsraten von mehr als 3 Prozent bzw. mehr als 5 Prozent aufwiesen, was auch gegenüber den nördlichen Bundesländern eher im oberen Bereich liegt, und dass wir vielleicht diese Debatte um Nord und Süd abbrechen sollten, weil dies statistisch keine Bestätigung findet, ({1}) sodass wir versuchen könnten, über die Sache zu reden und vielleicht näher zu erläutern, dass das Jugendstrafrecht gerade durch die Diversifizierung, die auf die individuelle Täterpersönlichkeit eingeht ({2}) - ich frage ja, ob Herr Ströbele dies auch so sieht -, eine Resozialisierung in dieser Phase des Lebens leichter ermöglicht?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kollege Ströbele, bevor Sie antworten, darf ich darauf hinweisen, dass die Fragen ausweislich der Geschäftsordnung kurz und präzise gestellt werden sollen; ({0}) Gleiches gilt für die Antworten.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Beck, ich gebe Ihnen Recht, dass die Vertreter der CDU/CSU-Fraktion nicht nur die Antwort der Bundesregierung ganz offensichtlich in vielen Punkten nicht zu Ende gelesen haben, sondern dass sie auch versuchen, die Statistik zu parteipolitischer Profilierung zu missbrauchen. ({0}) Sie können mit diesen Zahlen alles beweisen. Es ist zwar richtig, was Sie gesagt haben, aber Sie können genauso belegen, dass die Aufklärungsrate etwa in SachsenAnhalt oder in Mecklenburg-Vorpommern in den letzten Jahren, seit 1993, um 15 Prozent, 18 Prozent oder 22 Prozent gestiegen ist und dass die Zahlen in den letzten zwei Jahren - also in der Zeit der SPD/PDS-Regierung in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern - sogar wesentlich besser sind als die in Baden-Württemberg; da haben wir eine Steigerungsrate von 3 bzw. 4 Prozent. Also, lassen wir das doch bitte! Wir wissen alle, dass man mit solchen Statistiken alles und nichts beweisen kann. So etwas bringt nichts, sondern es lenkt vom eigentlichen Problem ab. Die wichtigen Probleme sind ja angesprochen worden. Ich möchte zu drei Punkten Stellung nehmen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Ströbele, erlauben Sie eine dritte Zwischenfrage, eine des Kollegen Geis? - Das ist aber die letzte Zwischenfrage, die ich zulasse. Bitte schön.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Ströbele, können Sie mir den Unterschied zwischen Prozentzahlen und Häufigkeitszahlen nennen? Stimmen Sie mir zu, dass sich aus der Antwort der Bundesregierung ergibt, dass die Häufigkeitszahlen in den nördlichen Bundesländern weit höher sind als die in den südlichen Bundesländern? Stimmen Sie mir auch zu, dass diese Feststellungen so nicht nur von der Bundesregierung, sondern auch von dem kriminologischen Institut in Hannover, von Herr Professor Pfeiffer, getroffen worden sind?

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Da stimme ich Ihnen zu, Herr Kollege Geis. Die Zahlen kannten Sie vorher. Deshalb haben Sie sie ja auch abgefragt, um Ihre Rede vorbereiten zu können. Aber Sie haben auch hier nicht weiter gelesen. Die Bundesregierung hat völlig zutreffend darauf hingewiesen, was die Gründe sein können. Die genauen Gründe kennen wir alle nicht, auch nicht Herr Professor Pfeiffer. Vielmehr können wir nur vermuten, dass die unterschiedlichen Fallzahlen unter anderem damit zusammenhängen, dass in Bayern oder Baden-Württemberg eine größere Zurückhaltung bei der Anzeige von Straftaten besteht - aus welchen Gründen auch immer: weil man meint, man regelt das anders; weil man meint, man regelt das auf dem Zivilrechtsweg oder weil man meint, das regelt man so in der Dorfgemeinschaft oder Kleinstadt. Jedenfalls gibt es genügend Anhaltspunkte dafür, dass die unterschiedlichen Fallzahlen auf solche Phänomene zurückzuführen sind und so erklärt werden können - so auch die Antwort der Bundesregierung. Nun darf ich fortfahren. Ich wollte zu drei Punkten noch etwas sagen. Bei den Rauschgiftdelikten haben Sie bereits darauf hingewiesen, dass das, was wir hier an Zahlen haben, nur ein ganz kleiner Bodensatz ist. Denn Rauschgiftdelikte werden ja in der Regel nicht angezeigt. Nur wenige regen sich darüber auf und zeigen sie an - hier im Deutschen Bundestag soll das ja anders sein. Diese Zahlen - deshalb auch die hohen Aufklärungsquoten - werden eigentlich nur aus den Fällen gespeist, wo tatsächlich strafrechtliche Ermittlungsverfahren durchgeführt werden, die dann zu dem einen oder anderen Ergebnis führen. Für mich ist entscheidend, dass die Bundesregierung festgestellt hat, dass sich die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten im unteren Mittelfeld befindet. Und auch im Vergleich zu den USA weisen wir in diesem Bereich eine deutlich günstigere Kriminalitätsrate auf. Alle Konzepte, die uns immer wieder aus New York, aus Chicago oder anderen Städten zur Nachahmung angeboten werden, haben dort nicht dazu geführt, dass ein exorbitanter Abfall dieser Rate festzustellen ist. Das heißt, die Bundesrepublik Deutschland liegt relativ gut. Lassen Sie mich einen Gedanken zur Frage hinzufügen, was man gegen den „abuse“, also den Gebrauch von illegalen Drogen, tun soll. Bei dieser Frage kann man nur dann zu richtigen Antworten kommen, wenn man endlich einmal zur Kenntnis nimmt, dass für Millionen von Bundesbürgern - vor allen Dingen für Kinder, Jugendliche und Heranwachsende - überhaupt nicht nachvollziehbar ist, dass es auf der einen Seite legale Drogen gibt, mit denen man sich sein ganzes Leben, seine Gesundheit, seine Familie, seine Umgebung, seinen Beruf und alles zerstören und für die Gesellschaft unendlichen Schaden anrichten darf, während es auf der anderen Seite Drogen gibt wie zum Beispiel Haschisch, Hanf oder Marihuana, deren Gebrauch in einer Weise verfolgt wird, die überhaupt nicht nachvollziehbar ist. All das, was sich im Illegalen und Unkontrollierten abspielt, führt vermehrt zu Straftaten. Das bedeutet: Solange wir diese Gerechtigkeitslücke nicht erkennen und etwas dagegen tun, kommen wir auf diesem Feld nicht weiter. ({0}) Sie haben auf die Kinder- und Jugendkriminalität hingewiesen. Für mich ist an der Antwort der Bundesregierung das Wichtigste die Erkenntnis - in diesem Fall ist die Statistik so eindeutig, dass es daran nichts zu kritteln gibt -, dass all das, was durch Zeitungsberichte, durch Medien allgemein und durch Wahlkampfslogans immer wieder versucht wird, der Bevölkerung einzuimpfen, nicht wahr ist: Es gibt keine erhöhte Kriminalität bei Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden nicht deutscher Herkunft. Wir stellen für diese Gruppe vielmehr eine vergleichsweise geringere Steigerung fest - sie liegt bei 20 bis 30 Prozent, bei Heranwachsenden sind die Zahlen sogar fallend -; im Gegensatz dazu gibt es in den letzten Jahren bei deutschen Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden eine Steigerung bis zu 163 Prozent. Die Realität steht somit in krassem Gegensatz zu all dem, was immer wieder behauptet wird, nämlich dass die Bürgerinnen und Bürger in den Städten und Gemeinden vor dieser drohenden Form der Kriminalität Angst haben müssten. Das ist einfach nicht richtig und das sollte man an dieser Stelle deutlich betonen, weil Fehlvorstellungen auf diesem Feld auch eine Grundlage für Rassismus und Fremdenhass sein können. Wir müssen uns einer solchen Entwicklung entgegenstemmen, indem wir die wahren Verhältnisse darstellen. ({1}) Nun die Frage nach den Konzepten: Was macht man? Keiner freut sich über steigende Kriminalität, sei es Jugendkriminalität, sei es Kriminalität von Erwachsenen. Die Konzepte liegen auf dem Tisch. Es ist nicht das Mittel der Repression: Es gibt unendlich viele Untersuchungen darüber - auch im Bundestag wurde immer wieder über dieses Thema diskutiert -, dass Repression, dass schärfere Gesetze, ein Ausschöpfen des Strafrahmens, was auch in Ihrer Anfrage angesprochen wurde, oder mehr Stellen für Richter und Staatsanwälte nicht weiterführten. Die entscheidenden Mittel sind Resozialisierung und Prävention. Resozialisierung muss bedeuten, dass jede Mark, die wir in ein Resozialisierungsprogramm stecken, durch das wir auch nur einen Jugendlichen oder Heranwachsenden davon abhalten, in Zukunft Straftaten zu begehen, nicht nur für den betroffenen Jugendlichen oder Heranwachsenden hervorragend angelegt ist, sondern auch für die Gesellschaft weniger Gefahren bringt und letztlich bedeutend billiger ist, als den straffälligen Jugendlichen oder Heranwachsenden mit einem Kostenaufwand von täglich 200 bis 250 Mark ins Gefängnis zu stecken. Zudem gibt es unendlich viele Möglichkeiten der Prävention; es wurden heute bereits eine Reihe von Mitteln genannt. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch auf technische Mittel der Prävention aufmerksam machen. Sie haben darauf hingewiesen, dass wir bei der Ausstattung der Ermittlungsbehörden, das heißt der Polizei, der Staatsanwaltschaften sowie der Gerichte, mit PCs, Faxgeräten - es gibt zum Beispiel bei der großen Justizverwaltung in Moabit nur ein Faxgerät - ungeheure Defizite zu verzeichnen haben. Ich nenne Ihnen ein anderes Beispiel: In Berlin gab es eine hohe Zahl an Autodiebstählen. Diese große Zahl an Autodiebstählen ist nicht etwa durch drakonische Strafen der Gerichte zurückgegangen, sie ist vielmehr dadurch zurückgegangen, dass man im Vorfeld bei den Fahrzeugen, vor allem den Luxuslimousinen, Nummern eingebrannt hat, die nicht mehr zu entfernen sind. Das hatte zur Folge, dass die Anzahl der in Berlin gestohlenen und danach verschobenen Autos exorbitant zurückgegangen ist, weil sie nicht mehr oder nur schwer zu verkaufen sind. Das bedeutet: Man muss durch alle, auch technische Maßnahmen, dafür sorgen, dass Kriminalität erschwert wird. Das fängt im Kaufhaus an und hört bei der Luxuslimousine auf.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Ströbele, kommen Sie bitte zum Schluss!

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum letzten Satz: Sie haben die Geldwäsche angesprochen. Die Verabschiedung des Gesetzes zur Bekämpfung der Geldwäsche, das vorschreibt, dass die Einzahlung von Summen über 20 000 DM von den Banken ({0}) genauso gemeldet werden muss wie der Name des Einzahlers, war gut und richtig. Der Bürgermeister von Palermo hat einmal gesagt: Am besten bekämpft man die organisierte Kriminalität dadurch, dass man rechtliche Möglichkeiten zur Einsicht in Konten und zu deren Beschlagnahmung schafft, nicht durch die Vielzahl der anderen Maßnahmen, auch nicht durch die Kronzeugenregelung. ({1}) Hier müssen wir weitermachen. Vor allem muss in Zukunft sichergestellt werden, dass derartige Meldungen von Einzahlern und Summen tatsächlich erfolgen. Wenn der Kriminalpolizei gemeldet worden wäre, dass ein CDU-Schatzmeister oder ein CDU-Steuerberater

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Ströbele, das ist bereits Ihr drittletzter Satz.

Hans Christian Ströbele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002273, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- 100 000 DM oder 1 Million DM in bar auf der Bank eingezahlt hat, dann hätten wir uns und der Bundesrepublik Deutschland viel ersparen können. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Günter Graf von der SPD-Fraktion.

Günter Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000719, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte die juristische Debatte, die in der letzten halben Stunde geführt worden ist, so nicht fortsetzen. Ich bin kein Jurist. Ich bin in erster Linie Bürger dieses Landes. Ich war ehemals Polizeibeamter und bin nun Mitglied des Deutschen Bundestages. Ich sehe meine Aufgabe darin, deutlich zu machen, worum es eigentlich geht. Deswegen möchte ich mich nicht in Detailfragen, die juristischer Natur sind, verlieren; vielmehr möchte ich auf einige allgemeine Dinge eingehen. Vorweg möchte ich Ihnen, Herr Westerwelle, für Ihre Eingangsbemerkung danken. Es hilft uns überhaupt nicht weiter, wenn hier, wie Sie es, Herr Geis - leider wider besseres Wissen -, und zum Teil auch Herr Pofalla getan haben, der Eindruck erweckt wird, als ließe sich die Kriminalitätsbekämpfung in unserem Lande durch immer neue Gesetze mit immer höheren Strafen verbessern, wie Sie es fordern. Wir alle - davon bin ich überzeugt - sind uns über Folgendes einig: Wenn es einen Mangel in Deutschland gibt, dann sind es Defizite beim Strafvollzug. Zudem dauert es zu lange, bis Straftäter abgeurteilt werden. Das ist zwar ein Mangel, aber die Voraussetzungen, um diesen Mangel zu beseitigen, sind vorhanden. Sie müssen nur genutzt werden. Ich bin froh darüber - das konnten wir in diesem Jahr gerade erst feststellen -, dass es auch Gerichte gibt, die schneller handeln und aburteilen. Das hat Wirkung. Worum geht es uns, wenn wir über Verbrechensbekämpfung reden? Unser Anliegen muss es doch sein, den Bürgern wieder das Gefühl zu geben, in einem Staat sicher leben zu können. Sie alle erinnern sich sicherlich noch an die Diskussionen, die wir in den letzten Jahren geführt haben, als Umfragen veröffentlicht wurden, die zum Ergebnis hatten, dass etwa 75 bis 80 Prozent der Bevölkerung befürchteten - es gab allerdings Unterschiede zwischen alten und den neuen Bundesländern -, Opfer einer Straftat zu werden. Das war beängstigend. Wir haben heute zur Kenntnis zu nehmen, dass sich die Zahlen nicht mehr auf einem solch hohen Niveau bewegen. Sie sind rückläufig. Das ist gut so. Sie sind genauso rückläufig wie die Gesamtzahl der Straftaten. Es ist auch gut, dass die Aufklärungsquoten gestiegen sind. Wenn man dann wie Sie, Herr Geis, versucht, Vergleiche zwischen den süddeutschen und den norddeutschen Ländern anzustellen, ({0}) so ist das für mich ein Stück weit der Versuch, den Bürgerinnen und Bürgern in unserem Land Sand in die Augen zu streuen. ({1}) Sie selber wissen genau, dass die Ursachen ganz woanders liegen. Ich will nicht verhehlen, dass das eine oder andere Bundesland mehr Mittel für bestimmte Maßnahmen aufwendet. Das mag zwar so sein. Aber letztlich kommt es darauf an, dass wir uns als Bundesgesetzgeber an unsere eigenen Pflichten erinnern und daran, welche Sicherheitsorgane uns in unserem Zuständigkeitsbereich zur Verfügung stehen. Das Stichwort Bundesgrenzschutz ist schon vorhin gefallen. In der letzten Sitzungswoche ist festgestellt worden, dass die Bundesregierung eine Menge für diejenigen, die mit der Bewahrung von Recht und Ordnung betraut sind - ich meine die Beamten des Bundesgrenzschutzes, die in Grenzbereichen und an den Bahnhöfen eingesetzt werden -, getan hat und damit auch anerkannt hat, dass diese Großartiges geleistet haben. Wir alle erinnern uns an die letzten beiden spektakulären Fälle, an den Fall Schmökel und an das so genannte Balkonmonster, einen Sexualstraftäter, der die Bevölkerung in Niedersachsen und Hamburg über Wochen und Monate in Angst und Schrecken gehalten hatte, weil er über Balkone in Wohnungen eindrang und reihenweise Frauen vergewaltigte. Diese Täter sind gefasst worden. Ich bin stolz darauf, dass es zwei junge Polizeibeamte, 22 und 23 Jahre alt, aus meinem ehemaligen Dienststellenbereich Hannover-Langenhagen in Niedersachsen waren, die letzteren Täter stellen konnten, weil sie sehr aufmerksam und motiviert waren. Dieser Täter sitzt jetzt hinter Schloss und Riegel. Ich hoffe, dass er lange dort bleibt. Das heißt für mich: Wir als Bundesgesetzgeber können dazu beitragen, die Motivation der Beamten des Bundesgrenzschutzes und des Bundeskriminalamtes zu erhöhen. Dort gibt es Anstrengungen, um verstärkt Verbrechen zu verhindern und Straftaten aufzuklären. Auf der anderen Seite sind in erster Linie - das sollte man immer wieder betonen - die Länder gefordert und ist es nicht Aufgabe des Bundes, deren Verantwortung zu übernehmen. Wir haben aus gutem Grund ein föderatives System; die Zuständigkeiten sind klar verteilt. Wir haben genügend Gesetze; wir brauchen keine neuen. Wenn es marginal etwas zu verändern gibt, dann muss man keine großen Debatten führen, sondern handeln. Mit der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage haben wir eine gute Grundlage, in aller Sachlichkeit der Frage nachzugehen, wo wir in Sachen Verbrechensbekämpfung etwas verändern können, um ein Stück mehr Sicherheit zu gewährleisten. Ich will dem Kollegen Ströbele noch ausdrücklich für seinen Hinweis bezüglich der Jugendkriminalität danken, insbesondere was die ausländischen Jugendlichen angeht. Ich weiß, wovon ich rede. Ich komme aus einer Gegend, in der man mit diesem Phänomen viel zu tun hat. Die getroffene Feststellung kann ich nur mit Nachdruck unterstreichen: Wir sollten es tunlichst unterlassen - der heutige 9. November ist ein guter Anlass dafür -, der Öffentlichkeit mit fragwürdigen Stellungnahmen weismachen zu wollen - man spricht damit bestimmte Gefühle an -, dass einzelne Gruppen in unserem Land für die gegenwärtige Situation verantwortlich sind. Das ist ein gefährliches Spiel, das Sie betreiben. ({2}) - Ich will Ihnen darauf antworten: Wir haben in diesem Hause eine Reihe von Maßnahmen debattiert, bei denen unterschwellig immer der Eindruck entstand, als sei für die Kriminalität eine Gruppe verantwortlich, die wir in unserem Land nicht wollen. Wir haben vor zwei Wochen Günter Graf ({3}) über mehr Sicherheit an der Grenze zu Tschechien gesprochen. Es ging um Menschen, die in unser Land wollen. Auch in dieser Debatte geht es wieder um Ausländer. ({4}) Man nutzt die Situation aus, um eine bestimmte Stimmung im Land zu erzeugen, was nicht richtig ist. ({5}) - Das mache ich nicht. ({6}) Ich habe nur das ausdrücklich hervorgehoben, was Herr Ströbele ausgeführt hat. Das halte ich für richtig und vernünftig. ({7}) Sie sollten sich überlegen, welche Anträge Sie einbringen. ({8}) - Manchen Kollegen aus Ihren Reihen würde ich diese Entrüstung abnehmen, Ihnen aber nicht. Es tut mir Leid, ich hätte gerne etwas anderes gesagt. ({9}) Ich würde mich mit Ihnen jetzt gerne differenziert auseinander setzen, wenn meine Redezeit nicht schon abgelaufen wäre. Ich danke, Herr Präsident, dass ich noch die Gelegenheit hatte, diese letzte Bemerkung zu machen. Vielen Dank. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Erwin Marschewski von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Erwin Marschewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001424, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diese Debatte hat viele Facetten. Aber ich meine, man kann an diesem 9. November nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Ich jedenfalls will und werde das nicht tun. Ich möchte in dieser Debatte daran erinnern, dass vor 80 Jahren Philipp Scheidemann vom Balkon des Reichstages den demokratischen Rechtsstaat gefordert hat. Diese Tatsache sollte man gerade in einer rechtspolitischen Debatte erwähnen. Man sollte auch daran erinnern, dass vor elf Jahren das Schandmal von Sowjet- und SEDUnrechtsherrschaft, die Mauer, gefallen ist, an der Menschen gegen jedes Recht verbrecherisch ermordet wurden. Und schließlich möchte ich den 9. November 1938 in Erinnerung rufen, die wilden Pogrome gegen Deutsche jüdischen Glaubens. Jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden geplündert und zerstört, Synagogen wurden verbrannt. Das waren Verbrechen gegen Menschen nach hasserfüllter Hetze. - Und heute, meine verehrten Damen und Herren? Ohne Untersagung und Bestrafung durfte der NPD-Pressesprecher vom „verjudeten Bonner System“, vom „jüdisch-amerikanischen Protektoratsregieren über die Marionetten in Berlin“ faseln oder, genauso fatal, von „Rassenhygiene“ ein anderer. Darüber hinaus ist leider auch wahr: Menschen werden bei uns durch Straftaten Einzelner oder kleiner Gruppen Opfer von Gewalt, nur weil sie anders aussehen, weil sie eine andere Kultur haben, eine andere Sprache sprechen. Friedrich Merz hat Recht: Antisemitismus, Rassenhass und Fremdenhass bilden oft einen Zusammenhang im Denken und Handeln vor allem der Rechtsextremisten. Deswegen müssen wir dies alles zugleich bekämpfen. Wir als Rechtspolitiker haben die Aufgabe, Gesetze zu schaffen. - Es gibt weitere Aufgaben; darüber ist sehr lange diskutiert worden. - So haben wir in Zeiten der Regierungsverantwortung der Union den Straftatbestand der Volksverhetzung erweitert. Wir haben das Bekennen zur Auschwitzlüge bestraft. Wir haben vor allem die Telekommunikationsüberwachung durch die Nachrichtendienste bei Verdacht verfassungsfeindlicher Tätigkeit eingeführt, um die Regierung und die Strafverfolgungsbehörden zu informieren, um Abwehrmaßnahmen zu treffen. - Ich meine, das ist ein Ausdruck wehrhafter Demokratie. Denn nur die wehrhafte Demokratie und ein wehrhafter Staat sorgen für die Sicherheit der Menschen und für demokratische Stabilität. Aber es ist kein Signum der Wehrhaftigkeit, wenn man, wie Herr Ströbele von den Grünen, den Verfassungsschutz abschaffen will. Wer den Verfassungsschutz abschaffen will, Herr Kollege Ströbele, verzichtet auf ein wirksames Mittel im Kampf gegen Extremisten. ({0}) Das hat gerade die Beschaffung von Material über die NPD - Herr Minister Schily gibt mir da Recht - gezeigt. Wer den Verfassungsschutz abschaffen will, der schwächt den Rechtsstaat im Einsatz gegen aktiv kämpferisches und aggressives Verhalten der Rechtsextremisten, aber auch im Kampf gegen Linksextremisten. Denn auch Letztere haben ihre verfassungsfeindlichen Ziele nicht aufgegeben. Im Verfassungsschutzbericht steht - Zitat aus dem Untergrundblatt „Radikal“ -: Wenn wir diese Gesellschaft umwälzen wollen, dann gilt es, sie jetzt zu bekämpfen, mit allen Mitteln. Und weiter: Gezielte politische Aktionen gegen Personen und Sachen sind völlig legitim. Beide sind zu bekämpfen, auch die Linksextremen. Die Straftatenzahl von 3 000 im letzten Jahr - bei den Rechten ist sie dreimal so hoch; auch das ist wahr - spricht für sich. Man darf also nicht auf einem Auge blind sein. Günter Graf ({1}) Unsere Politik muss sich gegen Rechtsextremisten und gegen Linksextremisten richten. ({2}) Wehrhafte Demokratie heißt auch, Kriminalität zu verhindern bzw. zu bekämpfen. Raubüberfälle, Drogenhandel und Diebstahl sind kein unabänderliches Naturgesetz, auch nicht, dass Chaoten prügelnd durch die Straßen ziehen, dass Dealer in Diskotheken immer mehr Pillen verkaufen und dass sich alte Menschen abends kaum mehr auf die Straße trauen. Es war eben nicht gut, dass Sozialdemokraten und Grüne jahrelang die Entkriminalisierung propagiert haben. Denn die Verharmlosung von Bagatelldelikten - das wissen doch wir alle - führt zu mehr Kriminalität, weil Hemmschwellen gesenkt und Rechtsbrecher ermutigt werden. ({3}) Auch nicht gut ist, dass die Staatsanwaltschaft einen Strafbefehl gegen einen amtierenden Bundesminister, gegen den Sozialdemokraten Klimmt, beantragen musste. Wehret den Anfängen und gebt ein gutes Beispiel, muss da die Parole lauten. ({4}) - Auch das ist vielleicht ein Problem. Aber der von mir Genannte ist ein besonderes Problem: Es geht um einen amtierenden Bundesminister. Das ist der Unterschied. ({5}) - In einem Punkt sind wir sicherlich einer Meinung: Wir wollen null Toleranz für jeden Rechtsbruch. Ich freue mich, dass die Deliktzahl gesunken ist, Herr Bundesinnenminister, aber - hier sind wir einer Meinung 6 Millionen Straftaten sind noch zu viel. Ich freue mich auch, dass die Aufklärungsquote gestiegen ist. Hier geht der Dank an die Polizeibeamten, an meine Kollegen - auch an die der SPD - und selbstverständlich auch an Ihre Kollegen, Herr Minister. Aber Sie können nicht leugnen, dass dies auch die Früchte der Arbeit sind, die damals CDU/CSU und F.D.P. geleistet haben, damit zum Beispiel die Strafe der Tat auf dem Fuß folgt. ({6}) Nach jahrelangem Ringen ist die Hauptverhandlungshaft endlich durchgesetzt worden. Ich war im Vermittlungsausschuss dabei. ({7}) Ich weiß, wie sich damals die jetzt amtierende Bundesjustizministerin mit allen Kräften gegen die Hauptverhandlungshaft gesträubt hat, die bedeutet, dass jemand unmittelbar nach einer Straftat festgenommen und verurteilt wird und er dann auch sofort die Strafe antreten muss. Frau Däubler-Gmelin hat sich damals mit Händen und Füßen dagegen gewehrt. Das war nicht gut. Es ist auch nicht gut, dass die Bundesjustizministerin so wenig Interesse an der für sie entscheidenden und sehr wichtigen Debatte zeigt. Wenn sich eine Bundesjustizministerin nicht die Mühe macht, bei einer Debatte über Kriminalitätsbekämpfung im Deutschen Bundestag zu sein - gut, dass Sie da sind, Herr Minister Schily -, ({8}) ist dies kein gutes Zeichen. Es zeigt ihr fehlendes Interesse an dieser Debatte. ({9}) Wir haben den genetischen Fingerabdruck ermöglicht. Das ist gut. Wir haben Schleppern und Schleusern ihr schmutziges Handwerk erschwert. Letzten Endes haben wir gemeinsam mit Ihnen den Einsatz technischer Mittel in Gangsterwohnungen beschlossen. Das ist wahr. Auch Herr Schily hat dabei Beträchtliches geleistet. Aber das hat alles viel zu lange gedauert. Wir hätten das Gesetz viel eher beschließen können. Dies zeigt, dass letzten Endes die Union die entscheidende politische Kraft ist, die den Schutz des Bürgers vor Verbrechen gewährleistet, und nicht der Herr Ströbele und andere aus dem grün-linken Bereich. ({10}) Bevor Sie noch lauter rufen und schreien, sage ich Ihnen Folgendes: ({11}) Es ist eigentlich gar nicht mehr zu ertragen, dass Sie in zwei Jahren Regierungsverantwortung keinen einzigen wirksamen Gesetzentwurf zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität vorgelegt haben - und dies, obwohl dort Handlungsbedarf besteht. ({12}) Herr Kollege Westerwelle, natürlich gibt es Defizite beim Vollzug, das ist wahr. Aber es gibt auch Gesetzesdefizite. Dazu nenne ich nur einige Punkte. Mich fragen Polizeibeamte: Wollt ihr nicht endlich eine Korrektur der Regelungen für die akustische Überwachung vornehmen? Dort gibt es zu viele Ausnahmen. Selbst der jetzige Bundesinnenminister war im ersten Gespräch und auch in den nachfolgenden Gesprächen anderer Meinung. Er wollte diese Ausnahmen gar nicht, die die Linken in der SPD letzten Endes durchgesetzt haben. ({13}) Es darf doch nicht sein, dass Schwerstverbrecher die Wohnung als Rückzugsraum missbrauchen können, um ihr kriminelles Treiben fortzusetzen. Deswegen wollen wir auch die optische Überwachung, denn dadurch wird Erwin Marschewski ({14}) die Identifizierung erleichtert. Deswegen wollen wir auch die Verschärfung der Vorschriften gegen Geldwäsche. Wir sagen: Wer verdächtiges Geld hat, muss darlegen, woher das Geld kommt. ({15}) Wichtig ist insbesondere die Verstärkung der internationalen Zusammenarbeit. Es ist gut, dass Europol gegründet worden ist. Meine Damen und Herren, Sie haben das, was wir vorbereitet haben, vollzogen. Dafür herzlichen Dank. Aber warum dehnen Sie die Zuständigkeiten von Europol nicht aus? Es ist eigentlich gar nicht einzusehen, dass bei länderübergreifenden Straftaten gegen das Leben oder das Eigentum oder bei Computerdelikten Europol gerade nicht zuständig ist. ({16}) Ich denke an eine Aufgabenerweiterung im operativen, nicht im exekutiven Bereich, Herr Minister Schily. Warum soll sich Europol nicht an Ermittlungsteams beteiligen dürfen? Warum soll es nicht um Einleitung oder Koordination von Ermittlungen ersuchen dürfen? In Ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage erklären Sie, im Hinblick auf operative Aufgaben von Europol bestehe kein aktueller gesetzgeberischer Bedarf; man wolle zu gegebener Zeit prüfen, ob Maßnahmen erforderlich sind und, wenn ja, welche. Dies ist, meine ich, kein Erfolg versprechender Kampf gegen die organisierte Kriminalität. Die Bedingungen für internationale Kriminalität verändern sich ständig. Globalität ist gerade im Verbrechensbereich leider Realität. ({17}) Ich meine, es besteht Handlungsbedarf. Wenn Sie nichts überzeugt, so doch dies: Wir sind uns einig darüber, dass insbesondere die Schwachen leiden, wenn der Staat und die Verantwortlichen Schwäche zeigen. Daher sind Sie als Bundesregierung, Herr Bundesinnenminister, Frau Bundesjustizministerin bzw. in Vertretung Herr Staatssekretär - etwas später angekommen, aber immerhin; herzlichen Dank -, gefordert. Daher unsere Große Anfrage: in Sorge um dieses Land, in Sorge darum, dass sich Bürger in diesem Land frei bewegen können, ohne Kriminalität. Denn der Bürger hat ein Recht auf Sicherheit in diesem Lande und wir als Politiker haben die Pflicht, ihm dies zu gewährleisten. Herzlichen Dank. ({18})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner hat der Bundesinnenminister Otto Schily das Wort.

Otto Schily (Minister:in)

Politiker ID: 11001970

Herr Kollege Marschewski, ich habe Verständnis dafür, dass Sie die Bundesjustizministerin heute vermissen. Aber ich glaube, wenn sie Ihre Rede im Protokoll nachliest, wird sie ihre Abwesenheit nicht bedauern. ({0}) Aber ich möchte auf den Ton eingehen, den Herr Kollege Westerwelle zu Beginn der Debatte angeschlagen hat. Ich finde, das war die angemessene Tonlage bei einem so ernsten Thema. Jenseits der Polemik, in der sich heute einige vergeblich geübt haben, gibt es eines, das uns miteinander verbindet: dass die innere Sicherheit zu den ernsteren und wichtigeren Fragen gehört, weil nämlich ein Kernbestandteil der Lebensqualität von Menschen ist, angstfrei leben zu können. Wir können mit Stolz und Selbstbewusstsein sagen, dass Deutschland im internationalen Vergleich eines der sichersten Länder ist. ({1}) Das sollte man hier einmal an den Anfang stellen. Das ist zuallererst das Ergebnis der engagierten, zuverlässigen, risikobereiten und kompetenten Arbeit unserer Sicherheitskräfte, der Polizeibeamten und -beamtinnen in den Ländern und im Bund, des Verfassungsschutzes und solcher Institutionen wie etwa des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik. Ich finde, es gehört sich, dass wir diesen Beamtinnen und Beamten in einer solchen Debatte einen ganz herzlichen Dank aussprechen. ({2}) Man kann diese günstige Diagnose anhand der Zahlen belegen. Die Zahl der Straftaten geht deutlich zurück. Sie ist im vergangenen Jahr zurückgegangen und sie geht in diesem Jahr zurück. Die Aufklärungsquote erhöht sich. ({3}) Auch das subjektive Sicherheitsempfinden der Menschen hat sich deutlich verbessert. 80 bis 90 Prozent, sowohl im Osten der Bundesrepublik Deutschland als auch im Westen - es ist interessant, dass sich das angleicht -, sagen, sie seien mit der Sicherheitslage einigermaßen zufrieden. Ich sage „einigermaßen“, weil natürlich an der einen oder anderen Stelle noch etwas verbessert werden kann. Ich bin nicht derjenige - da stimme ich Herrn Marschewski zu -, der meint: Weil wir diese Zahlen haben, können wir uns zurücklehnen, uns ruhig verhalten und sagen, es sei nichts mehr zu tun. Das ist nicht der Fall. Die absolute Zahl der Straftaten ist noch viel zu hoch. Ich glaube, es ist auch richtig, an dieser Stelle zu sagen, dass wir in Deutschland durch die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern ein sehr gutes System der Sicherheitspolitik haben. Wir haben eine sehr enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen dem Erwin Marschewski ({4}) Bundesinnenminister und den Länderinnenministern. Ich will mich an dieser Stelle bei den Kollegen aus den Ländern dafür herzlich bedanken. Außerdem haben wir aber auch die Sicherheitsarchitektur über die Strukturen in unserem Lande hinaus - im europäischen Rahmen, bilateral, multilateral, also über die Grenzen unseres Landes hinweg - deutlich ausgebaut und verstärkt. Ich will nur einige Beispiele dafür nennen. Wir haben im vergangenen Jahr mit der Schweiz - einem kleinen, aber, wie ich finde, durchaus beachtlichen Land - einen Vertrag zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität geschlossen. Ich glaube, das ist ein mustergültiger Vertrag, das ist ein Modell für gute bilaterale Zusammenarbeit. Wir werden demnächst einen ähnlichen Vertrag mit Österreich, mit meinem Kollegen Strasser, schließen. ({5}) Auch das ist eine vernünftige Zusammenarbeit, die wir zustande gebracht haben. Wir haben eine multilaterale Zusammenarbeit mit einigen Ländern, die der Alpenregion zuzurechnen sind. Wir haben eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Ländern, die Beitrittskandidaten sind; auch das ist wichtig. Wir beteiligen uns an Programmen zur Erreichung der Beitrittsfähigkeit, die ja auch im Bereich der inneren Sicherheit, der Grenzsicherheit, der Bekämpfung von Kriminalität notwendig ist. Es ist uns aber auch über die EU-Grenzen hinaus gelungen, gute Strukturen zustande zu bringen. Ich habe kürzlich den FBI-Direktor Freeh getroffen, und wir haben verabredet, dass wir eine engere Kooperation zur Bekämpfung einer Kriminalitätsform suchen, die uns neuerdings Sorgen bereitet, nämlich der Kriminalität, die im Internet stattfindet. Wenn wir daran denken, dass die abscheulichsten rechtsextremen, nazistischen, antisemitischen Inhalte auf heute etwa 400 Websites unsere Jugend negativ beeinflussen, dann müssen wir etwas dagegen tun, und das tun wir in Zusammenarbeit auch mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Ich freue mich darüber, dass Herr Freeh diese Zusammenarbeit zugesagt hat. ({6}) Meine Damen, meine Herren, es gehört auch zur Sicherheit, die wir nicht mehr borniert national definieren können, wenn wir mit unseren Polizeikräften etwa dafür sorgen, dass im Kosovo Strukturen der Sicherheit aufgebaut werden. Auch hier möchte ich den jungen Kolleginnen und Kollegen aus den Länderpolizeien und dem Bundesgrenzschutz meinen ausdrücklichen Dank sagen, dass sie sich zu solchen Missionen bereit erklären. ({7}) Meine Damen und Herren, weiter möchte ich eine Form der Zusammenarbeit im Ostseebereich erwähnen, die Ostsee-Taskforce. Oder denken Sie an das Abkommen, das ich im vergangenen Jahr mit Russland zur Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität abgeschlossen habe. Es hat auch andere Abkommen internationaler Art gegeben. Meine Damen und Herren, wir können auch im europäischen Rahmen auf große Erfolge verweisen. Herr Kollege Marschewski, Sie haben behauptet, zu Europol seien einige Vorarbeiten geleistet worden. Dass das so ist, will ich gar nicht bestreiten. ({8}) Aber zu behaupten, so wie Sie es hier ein wenig lässig meinten darstellen zu sollen, wir hätten das Ganze praktisch nur noch vollzogen, ist falsch. So war es nicht. Uns ist es gelungen - das wird nun gerade von den EULändern positiv vermerkt; ich habe dafür sehr viel Lob und Anerkennung von den anderen europäischen Mitgliedsländern erhalten, übrigens ausnahmslos, ganz egal, ob nun eher konservativ oder sozialdemokratisch regiert -, die großen Hindernisse, die hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit von Europol noch bestanden, während der deutschen Präsidentschaft beiseite zu schaffen. Insofern bin ich dankbar dafür, dass uns das gelungen ist. Das, was Sie angesprochen haben, ist eine Perspektive, die man diskutieren muss, Herr Marschewski, wenn ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten darf. ({9}) Sie haben mich darauf angesprochen; deshalb verdienen Sie ja, dass ich darauf eingehe. Wenn Sie es nicht wünschen, dann lassen wir es. ({10}) - Nein, nein, ist ja in Ordnung. Die Hindernisse, die noch bestehen, bestehen auf exekutiver Ebene. ({11}) - Entschuldigung, auf operativer Ebene. Ich weiß, dass Sie operative Maßnahmen meinen. Sie müssen, wenn Sie sich ein bisschen in Europa auskennen, sehen, dass das eine schwierige Frage ist. Nicht zufällig ist die Zusammenarbeit der Polizeien in der dritten Säule der Verträge geregelt, und die polizeilichen Zuständigkeiten sind nun für das Verständnis mancher das Herzstück der nationalen Souveränität. Es ist ja schon schwierig, unsere Mitgliedsländer dazu zu ermuntern, dass sie überhaupt Europol Daten liefern, damit Europol zunächst einmal - nach dem jetzigen Status - arbeitsfähig wird. Da bestehen also viele Schwierigkeiten. Wichtig ist aber, dass wir auch dafür sorgen, Herr Marschewski, dass nicht Doppelarbeit zweier wichtiger Institutionen, Interpol und Europol, entsteht. Gerade gestern war ich bei Interpol zu Besuch und habe dem neuen Generalsekretär Nobel, der übrigens fließend deutsch spricht, was die Zusammenarbeit sicher fördern wird, gratuliert. Genau genommen spricht er bayrisch. Das ist ja auch ganz gut. ({12}) Das ist hervorragend. An dieser Stelle möchte ich übrigens auf den Erfolg zu sprechen kommen, dass der Präsident des Bundeskriminalamtes, Herr Dr. Kersten, in den Exekutivrat von Interpol gewählt worden ist. Auch ihm gratuliere ich von dieser Stelle aus zu seiner Wahl. Meine Damen und Herren, wir müssen eine enge Zusammenarbeit zwischen Interpol und Europol zustande bringen. Am gleichen Tage haben wir in Lyon eine ganz wichtige Eröffnung zusammen mit dem französischen Innenministerkollegen Vaillant und dem Justiz- und dem Innenminister Schwedens - das die Präsidentschaft künftig innehat - gefeiert. ({13}) Wir haben nämlich eine deutsche Initiative auf den Weg gebracht, die in Tampere zum Beschluss geworden ist: die Schaffung einer europäischen Polizeiakademie. Diese Akademie ist gestern eröffnet worden. ({14}) Das ist wichtig. Dort werden unsere Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten lernen, sich von den national begrenzten Denk- und Handlungsgewohnheiten zu lösen und europäisch zu denken. Denn die heutige Kriminalitätsbekämpfung kann nur noch europäisch gesichert werden. Das müssen wir alle wissen. ({15}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auf den nationalen Rahmen zurückkommen. Herr Pofalla, Sie haben die Antworten der Bundesregierung - ich möchte das nur kurz erwähnen; es ist ja schön, dass Sie die Antworten wenigstens lesen - auf die Fragen zum Thema Videoüberwachung nicht ganz genau gelesen. Die Position der Bundesregierung ist in diesem Punkt ganz klar: Wir sind gegen eine flächendeckende Videoüberwachung, die jede Ecke des privaten Lebens ausleuchtet. ({16}) Das halte ich für mit Art. 1 des Grundgesetzes nicht vereinbar. Aber an Kriminalitätsschwerpunkten werden solche Maßnahmen - gerade auf der Bundesebene - schon heute praktiziert. Selbstverständlich ist es die Position der Bundesregierung, in denjenigen Bereichen, in denen der Bundesgrenzschutz zuständig ist - etwa im Bahnbereich solche Maßnahmen zu ergreifen. Ich selbst habe mir das einmal angesehen. Dagegen habe ich gar keine Einwände. Denn hier kann es sich um Kriminalitätsschwerpunkte handeln. Wenn man solche Installationen zur Verfügung hat, kann man für mehr Sicherheit sorgen. Dies hat sich als erfolgreich erwiesen. Ich möchte jetzt nicht auf die Diskussion über das Verhältnis zwischen Repression und Prävention eingehen. Dass die Prävention für uns eine herausgehobene Bedeutung hat, ist inzwischen wohl klar geworden. Ein Symbol dafür - eigentlich ist es mehr als ein Symbol, weil es praktische Perspektiven bietet - ist das Deutsche Forum für Kriminalprävention, dessen Implementierung wir im Bundeskabinett gerade beschlossen haben. Ich freue mich sehr darüber. Wir haben es als eine Zusammenarbeit zwischen Staat, Wirtschaft und Wissenschaft angelegt. Denn man muss wissen, dass wir auf wissenschaftliche Erkenntnisse angewiesen sind. Herr Geis, Sie haben Herrn Pfeiffer angesprochen, den ich wie Sie sehr schätze. Dieser hat zum Beispiel auf einen interessanten Zusammenhang bei der Gewaltkriminalität von Jugendlichen hingewiesen - hier hat er Feldforschung betrieben -, ({17}) dass nämlich diejenigen Jugendlichen, die gewalttätig werden, in ihrer Kindheit Opfer von Gewalt waren. Auffälligerweise sind diejenigen Jugendlichen, die brutale Gewalt ausüben, in ihrer Kindheit Opfer von brutaler Gewalt gewesen. Das ist ein Hinweis darauf, was man tun muss: Man muss gewaltfreie Erziehung durchsetzen. Auch das ist Präventionsarbeit. ({18}) Hier ist viel Richtiges zum Thema technische Prävention gesagt worden. Es ist völlig richtig - Herr Ströbele hat es erwähnt -: In Bezug auf Kraftfahrzeuge bestehen zwei Möglichkeiten: nicht nur die Markierung, sondern auch die Wegfahrsperre. Diese ist das Entscheidende. Das haben Sie wahrscheinlich auch gemeint. ({19}) Wir müssen dem Kreditkartenmissbrauch entgegentreten. Denn hier gibt es einen Aufwuchs der Straftaten. ({20}) Deshalb ist es wichtig, die technische Prävention voranzutreiben. Es gibt eine ganze Reihe von Maßnahmen. Ich freue mich darüber, dass ich kürzlich in einem Kreis von hochrangigen Vertretern der Wirtschaft großen Zuspruch für die Unterstützung unserer Initiative gefunden habe, die in Zusammenarbeit gemeinsam von den beiden Bundesministerien Justiz und Inneres sowie den Ländern getragen wird. Davon verspreche ich mir sehr viel, weil beim Thema innere Sicherheit Ähnliches gilt wie beim Umweltschutz: Vorsorge ist allemal besser und billiger als Nachsorge. Es ist besser, die Jugendlichen an kriminellen Handlungen zu hindern und sie gegen Kriminalität zu immunisieren, als Jugendgefängnisse zu bauen. Das ist eindeutig. ({21}) Meine Damen und Herren, es fehlt mir die Zeit, zu allen Bereichen einen Hinweis zu geben. Ich will deswegen zum Schluss nur Folgendes sagen: Wir müssen ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Repression und Prävention haben! Es geht nie um ein Entweder-oder. Ich gebe übrigens all denjenigen Recht, die das sagen: Natürlich sind Resozialisierung, Therapie und Ähnliches notwendig. Aber in einem Punkt gibt es für mich überhaupt keinen Zweifel: Die Sicherheit potenzieller Opfer hat absoluten Vorrang. ({22}) Wenn jemand seine Psyche und seinen Charakter nicht steuern kann, muss die Sicherheit potenzieller Opfer allerersten Rang haben. Wir haben schreckliche Fälle - ich habe sie noch in deutlicher Erinnerung - in Bayern erlebt, wo kleine Kinder Opfer von Sexualverbrechern geworden sind und man den Sicherheitsgedanken vernachlässigt hat. Das können wir bei aller Humanität, die auch im Strafvollzug und in der Therapie gelten muss, nicht zulassen. Das nur einmal vorweg. Prävention hat viele Seiten. Prävention hat eine technische Seite, eine organisatorische Seite, eine soziale Seite. Natürlich stimmt es: Wenn Jugendliche keinen Ausbildungsplatz oder keinen Arbeitsplatz finden, wenn sie in einer schlechten Stadtgegend leben, sind sie gefährdeter. Auch Städte können kriminalitätsfördernd sein, Stadtbilder, alles das. ({23}) Die „broken windows“-Theorie ist richtig. Es gibt viele verwahrloste Städte. Es gibt vieles, was dazu zu sagen ist; das ist ein ganz breites Feld. Mir fehlt die Zeit, das alles auszubreiten. Da müssen wir etwas tun. Das Projekt „Soziale Stadt“ ist ein gutes Projekt. ({24}) Urbanität ist ein gutes Projekt. Es gibt vieles, was wir tun können und müssen. Natürlich ist das JUMP-Programm auch ein Programm gegen Jugendkriminalität. ({25}) Dafür müssen wir dankbar sein. Ich will jetzt nicht mit den Zahlen prunken. Aber es ist in der Tat so: Das erste Mal, dass Jugend- und Kinderdelinquenz abnimmt, ist das Jahr 1999. Ich mache daraus wirklich keine große Sache; aber es ist eine Tatsache. ({26}) Ich sage im Übrigen nicht, dass das alles ist. Zu glauben, dass Kriminalität nur aus der sozialen Umgebung entsteht, ist falsch. Deshalb sage ich - damit bin ich beim letzten Punkt -: Prävention hat auch eine kulturelle Dimension. Das ist das, was ich immer sage: Wir brauchen auch so etwas wie eine kulturelle Prävention. Wenn ich mir vorstelle, in welcher Welt unsere Kinder und Jugendlichen eigentlich aufwachsen, mit welchen Gewaltbildern, Bildern scheußlichster Brutalität sie jeden Abend in den Medien, im Fernsehen, in den Printmedien, in ihrer unmittelbaren Umgebung traktiert werden, dann muss man sich nicht wundern, welche Handlungsweisen, welche Charaktere unsere Kinder und Jugendlichen entwickeln. ({27}) Wenn Sie merken, dass die Würde des Menschen in den Medien zum Teil nichts mehr gilt, dann muss man sich nicht über das wundern, was passiert. Ich gebe in einem Punkt auch Ihnen Recht, Herr Geis: Man muss etwas für die Familien tun. An dieser Stelle können wir uns alle selbst einmal fragen, welch ein kulturelles Milieu wir den Kindern und Jugendlichen in unseren Erziehungsformen und -inhalten eigentlich anbieten. Zum Schluss wiederhole ich, was ich auch schon zu Beginn meiner Amtszeit gesagt habe: Es ist notwendig, Jugendlichen in ihrer Entwicklung musische Erziehung anzubieten. ({28}) Man soll das nicht als Luxus betrachten. Yehudi Menuhin hat auf einen interessanten Zusammenhang hingewiesen. Es gibt einen Distrikt in London, in dem die Jugendkriminalität vergleichsweise besonders niedrig ist. In diesem Distrikt ist das Angebot an musischer Betätigung für Jugendliche und Kinder besonders groß. Das ist eine Botschaft. ({29})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis e sowie Zu- satzpunkte 3 a und b auf: 27 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen vom 19. Mai 1999 zum Europipe-Abkommen vom 20. April 1993 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Norwegen über den Transport von Gas durch eine neue Rohrleitung ({0}) vom Königreich Norwegen in die Bundesrepublik Deutschland - Drucksache 14/4300 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Versicherungsaufsichtsgesetzes, insbesondere zur Durchführung der EG-Richtlinie 98/78/EG vom 27. Oktober 1998 über die zusätzliche Beaufsichtigung der einer Versicherungsgruppe angehörenden Versicherungsunternehmen sowie zur Umstellung von Vorschriften auf Euro - Drucksache 14/4453 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({2}) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Entfernungspauschale und zur Zahlung eines einmaligen Heizkostenzuschusses - Drucksache 14/4435 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({3}) Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes - Drucksache 14/4452 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss e) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({4}) gemäß § 56 a der Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung hier: Monitoring „Nachwachsende Rohstoffe“ - Einsatz nachwachsender Rohstoffe im Baubereich - Drucksache 14/2949 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({5}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ZP3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren ({6}) a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erkenntnisse der Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern zur Verfassungswidrigkeit der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“ - Drucksache 14/4500 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({7}) Rechtsausschuss b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf, Eva Bulling-Schröter, Dr. Gregor Gysi, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Gesellschaftliche Debatte zu den Energiepreisen für eine ökologische verkehrspolitische Wende nutzen - Drucksache 14/4534 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8}) Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit Haushaltsausschuss Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/4435 soll zu- sätzlich an den Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit überwiesen werden. Sind Sie damit ein- verstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überwei- sungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b sowie 28 d bis 28 j auf. Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Tagesordnungspunkt 28 c ist abgesetzt. Wir kommen zunächst zu Tagesordnungspunkt 28 a: 28 a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Ausprägung einer 1-DM-Goldmünze und die Errichtung der Stiftung „Geld und Währung“ - Drucksache 14/4225 ({9}) ({10}) aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({11}) - Drucksache 14/4481 - Berichterstattung: Abgeordnete Jörg-Otto Spiller Heinz Seiffert bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({12}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 14/4482 - Berichterstattung: Abgeordnete Hans Jochen Henke Hans Georg Wagner Oswald Metzger Dr. Günter Rexrodt Dr. Uwe-Jens Rössel Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksa- che 14/4481, den Gesetzentwurf unverändert anzuneh- men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim- men wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS-Fraktion gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung mit demselben Stimmenverhältnis angenommen. Tagesordnungspunkt 28 b: b) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Grenze des Freihafens Emden - Drucksache 14/4223 ({13}) - Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Grenze des Freihafens Bremen - Drucksache 14/4224 ({14}) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({15}) - Drucksache 14/4480 - Berichterstattung: Abgeordnete Detlev von Larcher Jochen-Konrad Fromme Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksa- che 14/4480 unter Buchstabe a, den Entwurf eines Geset- zes zur Änderung der Grenze des Freihafens Emden un- verändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung einstimmig angenommen. Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksa- che 14/4480 unter Buchstabe b, den Entwurf eines Geset- zes zur Änderung der Grenze des Freihafens Bremen un- verändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 28 d: d) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Joachim Stüncker, Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck ({16}), Christian Ströbele, Irmingard Schewe-Gerigk, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der Besetzungsreduktion bei Strafkammern - Drucksache 14/3370 ({17}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Norbert Geis, Ronald Pofalla, Wolfgang Bosbach, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege und des Jugendgerichtsgesetzes - Drucksache 14/2992 ({18}) - Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu Änderungen im Gerichtsverfassungsrecht ({19}) - Drucksache 14/3831 ({20}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({21}) - Drucksache 14/4542 Berichterstattung: Abgeordnete Joachim Stünker Dr. Wolfgang Frhr. von Stetten Volker Beck ({22}) Jörg van Essen Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4542 unter Buchstabe a, den Entwurf eines Gesetzes zur Verlängerung der Besetzungsreduktion bei Strafkammern anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Lesung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in dritter Lesung einstimmig angenommen. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4542 unter Buchstabe b, den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege und des Jugendgerichtsgesetzes für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4542 unter Buchstabe c, den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu Änderungen im Gerichtsverfassungsgesetz für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Jetzt kommen wir zu Tagesordnungspunkt 28 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses ({23}) Übersicht 6 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesver- fassungsgericht - Drucksache 14/4355 - Der Ausschuss empfiehlt, von einer Äußerung oder ei- nem Verfahrensbeitritt abzusehen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltun- gen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange- nommen worden. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 28 f bis j: f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24}) Sammelübersicht 207 zu Petitionen - Drucksache 14/4404 - g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25}) Sammelübersicht 208 zu Petitionen - Drucksache 14/4405 - h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26}) Sammelübersicht 209 zu Petitionen - Drucksache 14/4406 - i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27}) Sammelübersicht 210 zu Petitionen - Drucksache 14/4407 - j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28}) Sammelübersicht 211 zu Petitionen - Drucksache 14/4408 Sammelübersicht 207 auf Drucksache 14/4404. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? Die Sammelübersicht 207 ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der PDS-Fraktion angenommen. Sammelübersicht 208 auf Drucksache 14/4405. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Sammelübersicht 208 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der anderen Fraktionen angenommen. Sammelübersicht 209 auf Drucksache 14/4406. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 209 ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen. Sammelübersicht 210 auf Drucksache 14/4407. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 210 ist mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der PDS angenommen. Sammelübersicht 211 auf Drucksache 14/4408. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Die Sammelübersicht 211 ist damit einstimmig angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Uta Zapf, Brigitte Adler, Rainer Arnold, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Dr. Uschi Eid, Angelika Beer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Förderung der Handlungsfähigkeit zur zivilen Krisenprävention, zivilen Konfliktregelung und Friedenskonsolidierung - Drucksache 14/3862 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({29}) Innenausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Kollegin Uta Zapf von der SPD-Fraktion das Wort.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben gerade eben in einem anderen Bereich von Prävention gesprochen. Dazu passt das Sprichwort, das Herr Schily zitiert hat, sehr gut - ich hatte es als Eingangssatz vorgesehen -: „Vorbeugen ist besser als heilen.“ Es gibt ein weiteres Sprichwort, das, wie ich meine, sehr gut in diesen politischen Kontext passt. Vielleicht klingt es ein bisschen makaberer: „Es ist leichter, Geld für den Sarg als für die Medizin einzusammeln.“ Dies ist ein chinesisches Sprichwort. Krisenprävention - darüber sind wir uns alle im Klaren ist eine zentrale Aufgabe der Außen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik. Aber sie reicht darüber hinaus. Dazu gehören Abrüstung und Rüstungskontrolle, regionale Sicherheit mit vertrauensbildenden Maßnahmen, Transparenz und Kooperation. Dazu gehören natürlich auch Rüstungsexportkontrolle und in zunehmendem Maße Maßnahmen gegen Gewaltökonomien. Wir sind uns alle darüber einig, dass Krisenprävention die beste Friedenspolitik ist. Aber Erfolge von Prävention Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms lassen sich leider schwer messen. Die Verhinderung von Gewalt ist nicht sichtbar. Der CNN-Faktor tritt nicht ein, weil kein Blut fließt. Dennoch sind dies Erfolge, die wir immer wieder bemerken sollten, damit wir sehen, dass die Instrumente, die wir nutzen, Erfolg haben. Eine Politik der Krisenprävention basiert auf einem erweiterten Sicherheitsbegriff. Er umfasst nicht nur militärische Sicherheit, sondern auch die so genannte menschliche Sicherheit, also politische, ökonomische, ökologische und soziale Sicherheit. Dieses beschreibt auch die Ursachen, die Konflikten zugrunde liegen, die - das wissen wir doch - nicht militärisch bekämpft werden können. Vielmehr müssen die Konfliktursachen als solche angegangen werden. ({0}) Das beinhaltet Achtung der Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die Bewahrung der natürlichen Ressourcen und Entwicklungschancen für alle Weltregionen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist wahrlich ein umfassender Politikansatz. Ich glaube, dass wir ihn ernst nehmen müssen. Wenn wir ihn umsetzen wollen, erfordert das auch die Anwendung und die Nutzung friedlicher und gewaltfreier Konfliktregelungsmechanismen. Diese Mechanismen sind vorhanden. Ganz sicher müssen sie ausgebaut, gestärkt und weiterentwickelt werden. Es muss aber auch - diese Erfahrung haben wir gemacht bei den Konfliktparteien dafür gesorgt werden, dass sie diese Instrumente akzeptieren und dann tatsächlich auch in Anspruch nehmen. Nur wenn sie in Anspruch genommen werden, können sie auch wirken. ({1}) In der Koalitionsvereinbarung steht, dass wir eine Infrastruktur für präventive Konfliktbearbeitung schaffen wollen. Ich denke, dies ist nach dem Ende des Ost-WestKonfliktes wichtiger denn je. Wir haben es mit inneren Konflikten zerfallender Staaten und den unterschiedlichen Schwierigkeiten der Transformationsländer zu tun. Allein 1999 hat es 34 Gewaltkonflikte gegeben, das heißt Konflikte, bei denen Blut geflossen ist. Keiner von uns könnte sie hier jetzt vollständig aufzählen, wie ich glaube. Wir haben in Bosnien und Kosovo zwei Konflikte vor unserer Haustür erlebt. Wir wissen inzwischen, dass dort Prävention versagt hat. Aus den Fehlern, die dort gemacht wurden, müssen und wollen wir die Lehren ziehen. Wir fangen dabei ja nicht bei Null an, sondern stehen in der Tradition von Willy Brandts Entspannungspolitik und des Brandt-Reportes, der hervorgehoben hat - genau dasselbe hat Kofi Annan erst kürzlich wieder getan -, dass Armutsbekämpfung, Investitionen in Bildung und Gesundheit wichtiger Bestandteil von Friedenspolitik sind. Frieden braucht Entwicklung, liebe Kolleginnen und Kollegen. Deshalb ist Präventionspolitik natürlich auch Weltwirtschaftspolitik und Entwicklungspolitik. Darauf wird nachher meine Kollegin Dagmar Schmidt intensiver eingehen. In der Realität haben wir es leider nicht nur mit Fällen von Prävention zu tun, sondern häufiger mit „post conflict peace-building“, wie das so schön heißt. ({2}) - Ich wollte es gerade übersetzen, Herr Kollege Irmer, damit auch Sie es verstehen. ({3}) Dabei handelt es sich um Konflikte, bei denen das Kind schon in den Brunnen gefallen ist, Blut geflossen ist und die ersten Schüsse gefallen sind. Außerdem haben wir es mit dem so genannten Peace-making zu tun - ich übersetze es jetzt gleich wieder -, nämlich mit der Frage, ob durch Interventionen Gewalt unterbunden werden kann. Ich denke, wir müssen dazu kommen, dass es gar nicht erst so weit kommt. Wenn wir das, was wir heute als einen ganz wichtigen Bestandteil unserer Präventionspolitik betrachten, nämlich den Stabilitätspakt, früher konzipiert und in dieser Region eingesetzt hätten, dann müssten wir diese Maßnahmen jetzt vielleicht nicht „post conflict“, also nach dem Konflikt, anwenden, sondern hätten sie vielleicht schon vor dem Konflikt mit Erfolg anwenden können. ({4}) Es ist auch richtig - diese Tatsache darf man in diesem Zusammenhang nicht verschweigen -, dass in der politischen Diskussion die Entwicklung der militärischen Instrumente zum Krisenmanagement viel größere Aufmerksamkeit findet und viel größere Bedeutung hat. Wir müssen aber auch den anderen Bereich sehen, obwohl natürlich die Entwicklung der entsprechenden Reaktionsfähigkeit in Krisensituationen und die Möglichkeit, die so genannten Petersberg-Aufgaben erfüllen zu können, wichtige Fragen in unserer Diskussion sind. Genauso richtig ist, dass wir den Übergang von einer Kultur der Reaktion zu einer Kultur der Prävention schaffen müssen, wie es Kofi Annan 1999 gesagt hat. Dazu leistet die Bundesrepublik einen guten Beitrag. ({5}) Auf der Grundlage der Koalitionsvereinbarungen haben wir - natürlich nicht als Einzige - auf der nationalen Ebene, auf der EU-Ebene und bei den internationalen Organisationen OSZE und UNO Initiativen ergriffen. Man muss hier einmal ganz deutlich sagen, dass die Bundesrepublik dort einen großen Anteil zur Förderung der präventiven Instrumente geleistet hat. Zum Beispiel haben wir im nationalen Rahmen einen zivilen Friedensdienst eingerichtet. Wir bilden Fachkräfte wie Rechtsexperten, Juristen, Diplomaten und andere Zivilexperten aus, die in Friedensmissionen eingesetzt werden können. Es gibt Frau Schmidt wird das näher beleuchten - eine Neuausrichtung der Entwicklungspolitik. Außerdem haben wir einen Sonderbeauftragten für Konfliktprävention eingesetzt, der auf allen Ebenen, also auch auf der der internationalen Organisationen, die Aufgaben koordiniert. Wir haben auf dem OSZE-Gipfel in Istanbul 1999 beschlossen - das war eine EU-Initiative zur Zeit der deutschen Präsidentschaft -, zivile Krisenreaktionskräfte, die so genannten REACT-Kräfte - das heißt: Rapid Expert Assistance and Cooperation Teams -, aufzustellen. ({6}) Es handelt sich also um Experten, die zur Beratung und zur Unterstützung da sind. Sie sollen helfen, Konflikte zu lösen. Wir kommen auch auf dieser Ebene zu mehr Verbindlichkeit und zu einer schnelleren Reaktion auf Krisen. Dies ist ein wichtiger Punkt. Unsere Arbeit schlägt sich nicht nur auf nationaler Ebene - Herr Schily hat das vorhin erwähnt -, sondern auch auf der Ebene der UNO und der EU nieder. Man weiß, dass wir mehr Polizei brauchen, weil wir die zivile Ordnungsmacht über Ausbildung, Schulungen für solche Einsätze und über das Vorhalten von in Krisenfällen einsatzbereiten Kontingenten stärken wollen. Nachdem wir zunächst über eine Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik diskutiert und in diesem Rahmen eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik bzw. eine Verteidigungsinitiative konzipiert haben, haben wir in der EU begriffen - ich finde das besonders erfreulich -, dass wir - das geht auf eine deutsche Initiative zurück; das muss man hier einmal ganz laut sagen - eine zivile Komponente brauchen. Eine solche zivile Komponente ist gleichrangig mit dem Militärischen eingebaut worden, indem man für das zivile, nicht militärische Krisenmanagement einen Ausschuss eingerichtet hat. Dies zeigt den Stellenwert, den wir der Prävention mittlerweile Gott sei Dank beimessen. Ich halte das für wichtig. ({7}) Lassen Sie mich als Letztes die UNO erwähnen. Die UNO wurde in den letzten Jahren immer als ein Papiertiger bezeichnet. Sie hat Missionen ausgeführt, die in Schwierigkeiten geraten sind. Sie hat keine ausreichenden Mittel gehabt, um die Aufträge des Sicherheitsrates sachgemäß zu erfüllen. Wer der UNO keine sachgemäßen Mittel, sowohl was Geld als auch was Personalstärke, Kapazitäten für Planung und Ähnliches angeht, an die Hand gibt und sie nach einer misslungenen Mission als Papiertiger bezeichnet, der argumentiert falsch. Nur wer hinsichtlich seiner Mittel in der Lage ist, zu tun, was man ihm aufträgt, der kann so agieren, wie man es von ihm erwartet. Unter diesem Gesichtspunkt halte ich die Stärkung der UNO für ganz wichtig. Die Strukturen und die Fähigkeiten der UNO für Friedensoperationen müssen dringend gestärkt werden. ({8}) Wir müssen den Brahimi-Bericht, der, glaube ich, im August erschienen ist, sehr ernst nehmen. Er beschreibt auf eine sehr offene und ungeschminkte Art und Weise die vorhandenen Defizite. An diesen Defiziten sind nicht die UNO, sondern die Mitgliedstaaten schuld, die sich zu Reformen nicht durchringen können und die immer aufschreien, wenn etwas Geld kostet. Mit diesem Bahimi-Bericht sollten wir uns, denke ich, näher auseinander setzen. Ich möchte alle Fraktionen auffordern, unsere Regierung darin zu unterstützen, dass diese Maßnahmen so gut wie möglich in der UNO verankert werden, sodass auch die Kapazitäten zur Planung von Friedensmissionen geschaffen werden können, dass es Stand-by-Kontingente gibt - die Bundesregierung hat ja bereits ihre Kontingente zugesagt -, dass die Polizeimissionen gestärkt werden, dass eine Datenbasis vorhanden ist, um einen Pool von Experten schnell abrufen zu können und wirklich zu „early warning“ und „early action“ zu kommen, damit wir nicht erst mit militärischen Kräften Frieden stiften müssen. Krisenprävention kostet auch Geld. Aber ich erinnere daran, dass Kriege ein Stückchen teurer sind: alleine 13 Milliarden DM für den Golfkrieg, einen Krieg, an dem wir physisch gar nicht teilgenommen haben. Wenn man dies so betrachtet, ist Prävention im Verhältnis sicherlich eine billige Maßnahme. Wenn wir über Prävention reden - das tun wir alle seit vielen Jahren, ohne dass so viel geschehen ist, wie ich meine, dass hätte geschehen müssen -, dann sage ich - Herr Irmer, Sie werden es mir verzeihen: wieder in Englisch -: „Take your money where your mouth is.“ Das heißt: Nimm das Geld in die Hand und mach keine großen Sprüche. ({9}) - Thank you. ({10}) Das heißt auch, dass wir die in den Haushalt 2000 eingestellten Mittel, die die Bundesregierung für Krisenprävention vorgesehen hat, in der Tat verstetigen müssen. Ich denke, alle Parteien werden unterstützend helfen, dass diese Mittel in den Haushalten verstetigt werden. Prävention, meine Damen und Herren, ist eine Daueraufgabe und keine Eintagsfliege. Deutschland hat großen Anteil daran - ich habe es geschildert -, dass die Krisenprävention in der internationalen Diskussion wieder in den Vordergrund gerückt ist. Prävention kann aber nur greifen, wenn sich die beteiligten Konfliktparteien bereit erklären, die Hilfe anzunehmen, die ihnen präventive Instrumente bieten können. Insoweit haben wir auch noch eine gewisse politische Arbeit vor uns, um es verbindlicher zu machen, Hilfe der UNO, Hilfe der OSZE oder auch Einzelhilfe von Beratungsteams anzunehmen, wo Konflikte auftauchen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin beim letzten Satz, Herr Präsident. - Wir wollen alle gemeinsam kein neues Bosnien, kein neues Kosovo, wir wollen aber auch keine militärische Interventionskultur, sondern wir wollen eine politische, zivile Präventionskultur. Lassen Sie uns gemeinsam darauf hinarbeiten. Danke sehr. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Clemens Schwalbe von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Clemens Schwalbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002121, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Konflikte der letzten Jahre haben die internationale Staatengemeinschaft massiv überfordert, seien es die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien, seien es die Konflikte in Afrika oder Asien. Warum? Die herkömmlichen Konflikt- und Präventionsszenarien gingen zumeist von Konflikten zwischen zwei Staaten aus, bei denen die Vereinten Nationen als Vermittler und Schlichter dazwischentreten konnten. Heute dagegen sind Konflikte mehr und mehr innerstaatlich, regional, religiös und ethnisch begründet, sodass die althergebrachten Eingriffsmittel nicht mehr anwendbar sind. Die Konflikte entwickeln sich durch die innerstaatliche Abgeschottetheit subtiler und langsamer, ehe sie der Weltöffentlichkeit auffallen. Dann ist es meist zu spät und die Situation oftmals verfahren, weil die Ursachen viel tiefer liegen und für Außenstehende zunächst schwer zu analysieren sind. Nach dem Ende des Kalten Krieges haben sich daher für die Vereinten Nationen völlig neue Handlungserfordernisse, insbesondere bei der Bewältigung von Krisen und Konflikten, gestellt. Deshalb ist der Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen in der Analyse der Situation und der erforderlichen Maßnahmen im Grundsatz zutreffend. ({0}) Präventionen, Eindämmungen und Beendigung der Vielfalt von ethnischen, religiösen und bürgerkriegsähnlichen Konflikten sind eine der gegenwärtig wichtigsten sicherheitspolitischen Herausforderungen der internationalen Politik. Dass die Vereinten Nationen ebenso wie die meisten der regionalen Sicherheitseinrichtungen dieser Herausforderung in der gegenwärtigen Ausgestaltung nicht gewachsen sind, ist nach den zahlreichen Erfahrungen zum Beispiel in Somalia, Ruanda, Sudan oder Bosnien mehr als offensichtlich. Die Gründe hierfür sind verschieden. Erstens. Die Zahl der Konflikte ist überwältigend und nimmt nicht ab, sondern eher zu. Sie erstrecken sich vom Süden Afrikas über Nordafrika, den Nahen und Mittleren Osten, das südliche Europa bis in die asiatischen Gebiete der früheren Sowjetunion. Dabei geht es keineswegs um kleine Auseinandersetzungen, sondern um Dimensionen, bei denen Millionen von Menschen umgebracht oder vertrieben werden. Dabei sind es meist Zivilisten, Frauen, Kinder und alte Menschen, die es am schwersten trifft. Zweitens. Weniger zwischenstaatliche, sondern meist innerstaatliche Konflikte sind es, die den Frieden gefährden. Das frühere Jugoslawien hat es sehr deutlich gemacht. In Somalia war es ähnlich; plötzlich wurden aus den innerstaatlichen Unruhen aufgrund der hohen Opferzahlen internationale Konflikte. Es geht also nicht mehr allein um die Sicherheit von Staaten vor Angriffen von Aggressoren von außen, sondern um die Sicherheit der in den Staaten lebenden zivilen Bevölkerungsgruppen, insbesondere wenn deren physisches Überleben gefährdet und die allgemeinen Menschenrechte grundlegend und in massiver Weise verletzt und missachtet werden. Waren früher Regierungen Ansprechpartner für Friedenslösungen, die eventuell durch internationale Verträge Verpflichtungen eingehen konnten, stellt sich heute für die internationale Gemeinschaft oft die Frage: Wer ist überhaupt Ansprechpartner für welche Verhandlung; wer hat von wem welches Mandat? ({1}) Dies erfordert von den eingesetzten Vermittlern und von dem Friedenspersonal umfassende Kenntnisse der regionalen und kulturellen Gegebenheiten, die meist nicht oder nur unzureichend vorhanden sind. Dies fängt bei der Sprache an und geht bis hin zu der Frage - das habe ich im Gespräch mit deutschen Soldaten im Kosovo, die dort eingesetzt waren, selbst erlebt -: Wie unterscheide ich eigentlich Bosnier und Serben? Das sind schlichtweg unbeantwortbare Fragen für Außenstehende, die eine Schlichtung im Einzelfall ungemein erschweren. Drittens. Sanktionsmechanismen wie humanitäre Hilfe und wirtschaftliche Embargos, deren sich die Vereinten Nationen bedienten, haben sich weit weniger durchschlagskräftig erwiesen als vielfach angenommen. Vor allen Dingen treffen sie in erster Linie wieder die Zivilbevölkerung, wie zum Beispiel die Sanktionen gegen den Irak oder gegen Restjugoslawien. Wirtschaftssanktionen wirken in der Regel nur längerfristig und auch nur, wenn diese konsequent durchgeführt werden. Aber so lange können bedrohte Menschen in den jeweiligen Ländern nicht warten. Viertens. Das zivile und militärische Personal der Friedenseinsätze ist oft durch die unkontrollierte Gewaltbereitschaft der lokalen, regionalen und nationalen Gruppen und Bürgerkriegsparteien gefährdet. Ohne militärische Absicherung bleibt bei diesen Einsatzkräften oft nur die Resignation und der Rückzug aus den Krisengebieten. Denn es besteht die Gefahr für die UN-Einsatzkräfte, in einen Konflikt hineingezogen zu werden und die Unparteilichkeit zu verlieren. Die Einsatzgruppen müssen deshalb besser ausgebildet und besser ausgestattet werden. ({2}) Sie müssen diesen Herausforderungen gewachsen sein. Das führt bis zu der Tatsache, dass sie ein klares Mandat zum Selbstschutz haben müssen. All das zeigt: Die Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft des 21. Jahrhunderts ist in erster Linie die Krisenprävention. Deshalb unterstützen wir die in Ihrem Antrag angemahnte Stärkung und Reform der Vereinten Nationen einschließlich des Sicherheitsrates. Ich weise in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hin, dass die CDU seit langem ein umfangreiches Konzept zur Reform der Vereinten Nationen formuliert hat. Ich will auf diesen Fakt nicht näher eingehen, weil wir bereits gestern Abend in der Debatte zu den Vereinten Nationen ausgiebig darüber gesprochen haben. ({3}) - Oder besser gesagt: geschrieben haben; denn wir haben die Reden zu Protokoll gegeben. Aber sie sind ja für jeden nachlesbar. Beide Anträge betreffen den Millenniumsgipfel und wir werden beide Anträge mit Sicherheit gemeinsam behandeln. Allerdings halte ich es für nicht gut - Frau Zapf, Sie haben es ja etwas korrigiert -, dass im Antrag so formuliert wird, als würden erst seit 1998 von der deutschen Bundesregierung Konfliktprävention und Konfliktregelung betrieben. Es gab schon vor der heutigen SPD-Regierung eine Zeit, in der maßgebliche Weichenstellungen erarbeitet wurden. ({4}) - Dies war eine sehr gute Zeit. Dies trifft übrigens auch für die Einrichtung des Internationalen Gerichtshofes zu, die nicht allein auf die Verdienste der jetzigen Regierung zurückgeht; sie findet ihren Ursprung vielmehr in der erfolgreichen Kohl-Ära. ({5}) Die hehren Forderungen, die verschiedenen nationalen und internationalen Ansätze für die Einrichtung rasch verfügbarer ziviler Friedens- und Katastrophenhilfseinheiten zu überprüfen und weiter zu entwickeln, wie Sie sie in Ihrem Antrag formuliert haben, sind aus unserer Sicht durchaus lobenswert und finden auch unsere Unterstützung. Dennoch sei die Frage erlaubt: Aus welchen Mitteln sollen diese Hilfseinheiten eigentlich bezahlt werden? Die Haushaltsansätze sind doch in all diesen Bereichen gekürzt worden. Frühere Ausbildungshilfen der Bundesrepublik für ausländische Polizeien, um vor Ort demokratische Strukturen bei den Sicherheitskräften zu schaffen, wurden von Ihrer Seite regelmäßig verurteilt. Heute fehlt uns auf diesem Feld entsprechendes Personal. Deshalb ist in Ihrem Antrag richtig erkannt worden, dass unsere Polizeien kaum in der Lage sind, diese Lücke zu füllen. Des Weiteren klingen Ihre Forderungen nach einer Erhöhung der freiwilligen Beiträge der Bundesrepublik zu den Organisationen des Wirtschafts- und Sozialbereiches der Vereinten Nationen, insbesondere zu dem Bevölkerungsfonds und dem Entwicklungsprogramm, ebenfalls sehr großzügig. Aber schauen wir den Tatsachen in die Augen: Von welchem Geld soll das bezahlt werden? Diese Frage ({6}) - das ist keine Gretchenfrage - beantworten Sie in Ihrem Antrag nicht. Wir haben Haushaltsrealitäten, die eine andere Sprache sprechen. Im Haushaltsausschuss werden Ihre Forderungen durch Ihre eigenen Kollegen wieder kassiert. Das ist eine Tatsache. ({7}) Ein weiteres Hauptproblem besteht ganz banal in den währungspolitischen Realitäten. Schließlich werden die Beiträge zu den Vereinten Nationen in Dollar gezahlt, wodurch sich aufgrund des sich ständig verschlechternden Kursverhältnisses zum Euro die Aufwendungen für die UNO-Beiträge erheblich erhöhen. Über dieses Problem ist in der Haushaltsbereinigung noch kein Wort gesprochen worden. Die Forderung nach der Verankerung der Menschenrechtskriterien im Rahmen einer restriktiven Rüstungsexportpolitik halte ich für begrüßenswert; sie wird aber von Ihnen selbst - ich nenne als Beispiel die Türkei - konterkariert. ({8}) - Frau Zapf, es ist doch Realität, dass Sie das, was Sie früher an der Kohl-Regierung bemängelt haben, heute in der eigenen Regierung umsetzen. Das betrifft besonders die Türkei; die Türkei ist NATO-Partner und deshalb müssen Sie sie anders behandeln. Auf diesem Feld hat die Macht des Faktischen auch Joschka Fischer eingeholt. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass es außerordentlich wichtig ist, das Personal, welches unter großen Entbehrungen, mit großem Elan und Enthusiasmus an internationalen Einsätzen teilnimmt, entsprechend vorzubereiten. Auch dürfen die Auslandseinsätze den Betroffenen nicht zum Nachteil gereichen. Es muss gewährleistet werden, dass ihr Auslandseinsatz respektiert und gewürdigt wird. Die Tatsache, dass dies heute noch nicht der Fall ist, wird deutlich, wenn man sich die Frage stellt: Warum gehen so wenige in die Auslandseinsätze? Dies liegt nicht zuletzt daran, dass den Betroffenen im Inland häufig nachgesagt wird, sie gingen auf Vergnügungsreise. Die UNO-Einsätze sind auch im Hinblick auf Personal und Material noch unzureichend ausgestattet. Die Zusage von Verteidigungsminister Scharping, mehr Material für UNO-Einsätze zur Verfügung zu stellen, ist zwar sehr begrüßenswert, allerdings darf darunter nicht die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik als solches leiden. Wie die Bundesregierung in Anbetracht der massiven Einsparungen im Verteidigungshaushalt diesen Spagat bewerkstelligen will, muss ebenfalls noch geklärt werden.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Clemens Schwalbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002121, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Letzter Satz, Herr Präsident. - Der Tatsache, dass all diese genannten Forderungen Geld kosten, steht eine Haushaltspolitik gegenüber, die dem nicht gerecht wird. Die Entwicklungshilfe wird gekürzt, und es werden - darauf wird mein Kollege Weiß noch eingehen - Botschaften in vielen Ländern geschlossen. Ich würde mich freuen, wenn wir die Details bei der Beratung des Antrages in den Ausschüssen klären könnten, damit die von mir eben genannten Ziele und Forderungen nicht nur auf dem Papier stehen, sondern auch umgesetzt werden. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Winfried Nachtwei vom Bündnis 90/Die Grünen.

Winfried Nachtwei (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002743, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Zapf und Kollege Schwalbe haben sehr deutlich gemacht: Gewalt- und Krisenprävention bei innerstaatlichen Konflikten sind keine Modewörter, sondern eine dringende Notwendigkeit. Die internationale Gemeinschaft hat seit geraumer Zeit Erfahrungen mit innerstaatlichen Gewaltkonflikten. Daraus ergeben sich sehr deutlich die Anforderungen an eine Krisenprävention. Erstens. Sie sollte möglichst früh ansetzen, vor allem auch strukturell. Hierzu hat die Kollegin Zapf deutliche Ausführungen gemacht. Zweitens. Es ist notwendig, dass die internationale Staatengemeinschaft Kohärenz in ihrem Handeln beweist und dass die Akteure nicht gegeneinander arbeiten, dass also die staatlichen und die nicht staatlichen Akteure genauso wie die internationalen und die einheimischen Akteure möglichst kooperieren und nicht nebeneinander herarbeiten oder sogar gegeneinander arbeiten, dass schließlich ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den verschiedenen Instrumenten der Krisenprävention besteht und dass natürlich eine kontraproduktive Politik unterlassen wird. ({0}) Im Gegensatz zu diesen konkreten Anforderungen ist in der Öffentlichkeit und in der Politik, auch in unserer Politik, noch immer die Vorstellung verbreitet, Krisenprävention und -verhütung wäre vornehmlich oder fast ausschließlich eine militärische Aufgabe. Entsprechend unausgewogen ist bisher das Verhältnis zwischen den Fähigkeiten militärischer Krisenreaktion und denen ziviler Krisenprävention, und zwar sowohl auf europäischer Ebene als auch auf der weltweiten Bühne. Aus dieser Einsicht heraus vereinbarten SPD und Bündnisgrüne in ihrem Koalitionsvertrag unter anderem den Aufbau einer Infrastruktur für zivile Krisenprävention und Konfliktverhütung. Die Bundesregierung machte sich sofort an die Umsetzung, wartete also nicht die schlimmen Erfahrungen des Kosovo-Krieges ab. In der Entwicklungszusammenarbeit bekam die Krisenfrüherkennung einen deutlich höheren Stellenwert. Endlich aufgenommen und gefördert wurden die Initiativen der Kirchen und der Friedensbewegung für einen zivilen Friedensdienst, deren Vertreter bei der alten Koalition - daran kann ich mich noch sehr deutlich erinnern - immer gegen eine Wand der Ignoranz gelaufen sind. ({1}) In der nächsten Ausbaustufe sollten die Fachkräfte der Friedensdienste mit denen der anerkannten Entwicklungsdienste gleichgestellt werden. Im Bereich des Auswärtigen Amtes wurde ein Training für Teilnehmer an internationalen Friedensmissionen der Vereinten Nationen und der OSZE entwickelt. Das bedarf unbedingt einer „richtigen“ finanziellen und personellen Absicherung und der Weiterentwicklung um Einsatzbegleitung und -auswertung. Das Auswärtige Amt bestellt einen Krisenbeauftragten und unterstützt seit 2000 internationale Maßnahmen der Krisenprävention und Friedenskonsolidierung in einem erheblich höheren Maße als vorher. Auf multilateraler Ebene, sowohl auf der Ebene der G-8-Staaten, also der bedeutendsten Industriestaaten, als auch auf der Ebene der Europäischen Union, gehörte die Bundesregierung zu den tatsächlich treibenden Kräften auf dem Feld der Krisenprävention und der Weiterentwicklung der entsprechenden Fähigkeiten. Das Beispiel der OSZE-React-Einheiten ist schon genannt worden. Wer weiß schon, dass im Rahmen der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik nun auch Mechanismen und Fähigkeiten der nicht militärischen Krisenbewältigung aufgebaut werden? Bis 2003 will die Europäische Union 5 000 Polizeibeamte für Kriseneinsätze zur Verfügung haben. Planziele werden zurzeit für Fachpersonal entwickelt, das zur Stärkung des Rechtsstaats, beispielsweise im Justizwesen, eingesetzt werden soll. Es wurde inzwischen ein Sonderfonds zur schnellen Finanzierung von kurzfristigen Maßnahmen der nicht militärischen Krisenbewältigung eingerichtet; ein entsprechender Koordinierungsausschuss wurde aufgebaut. Die bisherigen Leistungen der Bundesregierung zusammengefasst: Das Jahr 2000 markiert einen Durchbruch beim Aufbau ziviler Krisenkräfte. ({2}) Dafür möchte ich den beiden Ministerien - hier vertreten durch die beiden Staatssekretäre, die diesen Politikbereich vorantreiben - ausdrücklich danken. Zu danken ist aber auch den Nichtregierungsorganisationen und den Friedensforscherinnen und -forschern, die zu dem Durchbruch beigetragen haben. ({3}) Durchbruch heißt aber nicht, das Ziel erreicht zu haben. Wir sollten uns nichts vormachen: Wir stehen am Anfang eines längeren Weges. Ich will an zwei Aspekten verdeutlichen, was notwendig ist, um weiter voranzukommen. Erstens nenne ich die internationalen Polizeimissionen. In den letzten Jahren haben sie sich immer deutlicher zu ganz zentralen Instrumenten der Friedenskonsolidierung und der Gewalteindämmung herausgebildet. Hierzu leistet die Bundesrepublik quantitativ und qualitativ hervorragende und vorbildliche Beiträge. Das wäre ohne die Mitwirkung der Länder nicht möglich gewesen. Den Ländern ist für diesen Beitrag, der zum Teil auf eigene Personalkosten ging, vom ganzen Bundestag ausdrücklich zu danken. ({4}) Ich sagte vorhin schon, dass die Europäische Union bis zum Jahr 2003 über 5 000 Polizisten für solche Einsätze zur Verfügung haben will. Das heißt aber für die Bundesrepublik, dass wir dafür erheblich mehr Polizeibeamte zur Verfügung stellen müssen als die zurzeit im auswärtigen Einsatz befindlichen rund 600 Beamten. Im Klartext bedeutet das, dass wir in diesem Bereich ohne zusätzliche Stellen beim Bundesgrenzschutz und bei den Länderpolizeien wohl nicht auskommen werden; denn die Länderpolizeien werden die erheblichen zusätzlichen Aufgaben wohl kaum aus eigener Kraft bewältigen können. Zweitens. Notwendig ist eine ausgewogene Beteiligung aller Länder und des Bundes bei der Entsendung, Ausbildung, Einsatzbegleitung und Reintegration der Beamten. Es ist vorbildlich, wie viele Beamte NordrheinWestfalen entsendet und was es mit dem Polizeifortbildungsinstitut „Carl Severing“ bei der Ausbildungsbegleitung leistet. Es ist aber zugleich wenig verantwortlich, wenn einige Länder kaum oder gar keine Polizisten entsenden und wenn es weiterhin die Auffassung gibt, dass die Betreuung und Reintegration überflüssig sind. Die Weiterentwicklung des deutschen Beitrags zu internationalen nicht militärischen Polizeimissionen ist eine gesamtstaatliche Aufgabe, die sich endlich auch in Berlin widerspiegeln muss. Wenn sich der Verteidigungsausschuss in besonderem Maße mit dem Thema beschäftigt hat, aber der Innenausschuss meines Wissens noch gar nicht, dann muss man sagen, dass da etwas nicht stimmt. ({5}) Ein letzter Punkt: die Finanzen. Die Krisenprävention ist erheblich billiger als zu spätes Krisenmanagement; aber sie ist nicht zum Nulltarif zu haben und auch nicht aus der Portokasse zu bezahlen. Die neuen Aufgaben und neuen Instrumente brauchen ausreichende, verlässliche und mittelfristig steigende Finanzmittel. Meiner Auffassung nach lassen sich diese aus den äußerst begrenzten Haushalten des Auswärtigen Amtes, des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und der Innenministerien nicht mehr erwirtschaften. Die Größenordnung dieses Finanzbedarfs - es geht um einige Dutzend Millionen DM - dürfte und sollte aber unseren Finanzminister nicht abschrecken. Wir Antragsteller sehen uns in der Pflicht, für den Kurs der Bundesregierung zur Stärkung der zivilen Krisenprävention die unbedingt notwendige Basis zu schaffen. Danke schön. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Ulrich Irmer von der F.D.P.-Fraktion.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sorry, Mrs. Zapf. I give my speach in German. I hope you understand nevertheless. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Rot-Grünen haben uns hier wieder einen wunderschönen Antrag vorgelegt. ({0}) Schon rein sprachlich ist er ein absoluter Genuss, wenn ich zum Beispiel lese: „humanitäre und gewalttätige Krisen“. Ich wandle einen Spruch aus dem Film „Sein oder Nichtsein“ von Ernst Lubitsch geringfügig ab: Was Sie mit der deutschen Sprache machen, das machen die Russen mit Tschetschenien. ({1}) - Ich bin liberal; ich darf das. Meine Damen und Herren, zur Sache: Zivile Krisenprävention, ziviler Friedensdienst - wir haben das vorhin schon gehört - sind die letzten „leftovers“ des Koalitionsvertrages zur Bedienung der friedensbewegten rotgrünen Stammklientel. ({2}) Der vorliegende Antrag beeindruckt besonders durch seine Leistung, die Organigramme des Auswärtigen Amtes und des BMZ mit ihren Aufzählungen fachlicher Zuständigkeiten zu einem literarischen Meisterwerk zu verdichten. Unter Prävention gewalttätiger Krisen versteht der Antrag das Zusammenwirken verschiedener staatlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Akteure und vermittelnder Kräfte zur Früherkennung und Behebung von Krisensituationen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Irmer, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Schuster?

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Gerne.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Schuster, bitte schön.

Dr. R. Werner Schuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002118, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich kann ja verstehen, dass Sie mit dem sprachlichen Duktus dieses Antrages nicht einverstanden sind. Aber halten Sie es in diesem Hause für wirklich angemessen, einen Vergleich mit Tschetschenien zu ziehen, wo Menschenrechte in einer Form verletzt werden, die wirklich unerträglich ist?

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Schuster, ich habe den Film „Sein oder Nichtsein“ zitiert. Ich spiele ihn Ihnen gerne vor. Das ist erlaubte Satire. ({0}) Zur Satire fordert Ihr Antrag nun weiß Gott heraus. Dazu kann man nichts anderes sagen. Was Sie hier aufzählen, ist nichts anderes als das, was die klassische Diplomatie längst tut, nämlich das Zusammenführen aller möglichen Kräfte. Das ist Querschnittsaufgabe der Diplomatie als des klassischen Instruments gewaltfreier Konfliktlösung. Was Sie hier unterstellen, ist, dass ein Gegensatz zwischen der edlen zivilgesellschaftlichen Friedensinitiative, der moralisch eher fragwürdigen klassischen Diplomatie und der moralisch geradezu verwerflichen Sicherheitspolitik besteht. Das finde ich daran so bedenklich. Sie messen Ihren Dingen einen Edelmut bzw. eine moralische Herausgehobenheit über alles andere zu, und in der Sache ist es ein Schmarren. ({1}) Allerdings wollen Sie ja nicht nur friedlich sein. Sie wollen eine schnelle Einsatztruppe, die weltweit für Harmonie unter den Völkern sorgen soll. Wissen Sie, was Ihre schnelle Eingreiftruppe ist? Das ist eine Art Heilsarmee ({2}) von Gutmenschen und Fernethikern, die, mit guten Ratschlägen bewaffnet, auf diversen Kontinenten zwischen die Kampfhähne laufen und dort für Friede, Freude, Eierkuchen sorgen sollen. ({3}) Am deutschen Wesen soll die Welt genesen, das ist die rotgrüne Leitkultur. ({4}) Wissen Sie, wie das in der Praxis aussieht? Das können Sie nächsten Donnerstag erleben. Nächsten Donnerstag wird im Mitteldeutschen Rundfunk, der eine öffentlichrechtliche Anstalt ist, ein von unseren Gebühren finanziertes Feature über die Ex-RAF-Terroristin Silke MaierWitt gezeigt. Die macht nämlich zurzeit in der Krajina ein Praktikum im Rahmen ihrer Ausbildung zur staatlich alimentierten Friedensfachkraft. Ich halte das für einen Skandal. ({5}) Wir sind ja schon gewöhnt, dass mehr oder weniger gefährliche schwarze Schafe der Vergangenheit einer besonderen Resozialisierung unterzogen werden. Bei Frau Maier-Witt ist es jetzt die Krajina; auch am Kabinettstisch gab es ja bereits einen Fall. ({6}) Insgesamt 17 Millionen DM stellt die Bundesregierung in diesem Jahr für den zivilen Friedensdienst zur Verfügung. Sie bestreiten dann auch noch, dass hier ein krasser Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft, wenn man auf der anderen Seite die Kürzungen im deutschen Entwicklungsetat betrachtet. Wissen Sie, was das, was Sie hier machen, ist? Sie schmieren weiße Salbe auf die grüne Seele. ({7}) Zynisch ist auch Ihre Forderung in dem Antrag auf Erhöhung der Beiträge der Bundesrepublik Deutschland zu den UNO-Organisationen des Wirtschafts- und Sozialbereichs. Dies verlangen Sie, aber was machen Sie in der Praxis? Sie haben die freiwilligen Beiträge Deutschlands zum Kinderhilfswerk UNICEF und zum Flüchtlingshilfswerk UNHCR um circa 10 Prozent gekürzt. Jetzt sind Sie dran. ({8}) Was macht es denn auf unsere Partner für einen Eindruck, wenn flächendeckend Botschaften geschlossen werden und man dafür ein Heer von Friedensfachleuten in den Busch schickt? Sie verlangen den Einsatz deutscher Soldaten im Rahmen eines Stand-by-Abkommens. Haben Sie sich eigentlich einmal darüber Gedanken gemacht, dass Sie damit die verfassungsrechtliche Lage völlig aushebeln? Der Deutsche Bundestag ist der Einzige, der über Friedenseinsätze deutscher Soldaten zu entscheiden hat. Diese kann man doch nicht dem Kommando irgendeines UNOBefehlshabers unterstellen. Die schnelle deutsche Einsatztruppe, die Sie fordern, ist eine feine Sache. Aber darüber, dass wir vielleicht im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen als ständiges Mitglied Verantwortung übernehmen dürfen, sagen Sie kein Wort. Nun will ich Ihnen am Schluss noch eines draufsetzen. ({9}) Als ich Ihren Antrag gelesen habe, ist mir spontan eine Geschichte von Heinrich Böll eingefallen. Wenn Sie diese Geschichte gekannt hätten, hätten Sie Ihre Stiftung im Zweifel nicht nach ihm benannt. Ich werde Ihnen einen Teil dieser Geschichte erzählen, denn ich habe noch ein wenig Zeit, und für gute Literatur muss immer Zeit sein. Die Geschichte handelt von einem permanent gefeierten Weihnachtsfest. Dort ist von gläsernen Zwergen die Rede, die in ihren hoch erhobenen Armen einen Korkhammer hielten und zu deren Füßen glockenförmige Ambosse hingen. Unter den Fußsohlen der Zwerge waren Kerzen befestigt. Als ein gewisser Wärmegrad erreicht war, geriet ein verborgener Mechanismus in Bewegung, eine hektische Unruhe teilte sich den Zwergenarmen mit, sie schlugen wie irr mit ihren Korkhämmern auf die glockenförmigen Ambosse ein. Dann war dort der Engel, der immer flüsterte: Frieden, Frieden. ({10}) Am Schluss heißt es: Als die Lampen gelöscht, die Kerzen angezündet waren, als die - das ergänze jetzt ich: rot-grünen - Zwerge anfingen zu hämmern, der Engel „Frieden, Frieden“ flüsterte, fühlte ich mich lebhaft zurückversetzt in eine Zeit, von der ich angenommen hatte, sie sei vorbei. Liebe Rot-Grüne, herzlich willkommen im Jahre 1968. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Jetzt hat der Kollege Carsten Hübner von der PDS-Fraktion das Wort.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich feststellen, dass aus Sicht der PDS-Bundestagsfraktion die Förderung ziviler Krisenprävention, des zivilen Konfliktmanagements und der Konfliktnachsorge das Gebot der Stunde, die einzig adäquate Antwort auf eine Welt der Bürgerkriege und der militärischen Bedrohungsszenarien ist. Hierzu habe ich eine gänzlich andere Einstellung als der Kollege Irmer. Insoweit gehe ich mit dem Antrag der Koalitionsfraktionen durchaus mit. ({0}) Dennoch habe ich mich bei der Lektüre dieses Antrages ernsthaft gefragt, was er eigentlich soll, welches Ziel er hat. Ich habe mich gefragt, ob er eher so etwas wie das Pfeifen im dunklen Walde ist, weil eigentlich nichts von dem, was in diesem Antrag an Substanziellem enthalten ist, von der Bundesregierung wirklich in Angriff genommen, ({1}) letztlich wohl nicht einmal wirklich ernst genommen wird, obwohl es auf den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag fußt. Ist der Antrag also eine stille Revolte gegen die real existierende Außen- und Militärpolitik von Fischer, Scharping und nicht zuletzt natürlich von Gerhard Schröder? Oder ist er stattdessen eher so eine Art Nebelwand, die durchaus im Einverständnis mit der Außen- und Militärpolitik der Bundesregierung gezogen werden soll, um all das in Unkenntlichkeit zu hüllen, was dem Koalitionsvertrag, den Ankündigungen aus der Oppositionszeit oder schlicht den offenkundigen tagespolitischen Notwendigkeiten widerspricht? Die Länge des Antrages - er hat im Feststellungs- und Forderungsteil immerhin rund 50 Anstriche ({2}) und vor allem die Lobhudelei auf das, was die Bundesregierung bereits auf den Weg gebracht haben soll, könnten für diese Variante sprechen. Wie dem auch sei, liebe Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie mir anhand des Antrages an fünf Punkten zu verdeutlichen, welches strukturelle und nicht zuletzt per se politische Defizit bei dieser Bundesregierung in der Frage ziviler Konfliktvorbeugung, -bearbeitung und -nachsorge auszumachen ist: Erstens. Da wird etwa im sechsten und siebten Anstrich von Punkt 1 des Feststellungsteils und in Punkt 3 des Forderungsteils ausgedrückt, welchen wichtigen Anteil die Entwicklungspolitik und ihre angemessene Finanzierung beim zivilen Handling von Konflikten hat, ({3}) gerade was die strukturellen und sozialen Bedingungen betrifft. Das ist wahr. Nur, was ist denn mit dem BMZHaushalt? ({4}) Er sinkt und sinkt und sinkt. Das ist die Realität. Er liegt nicht etwa, wie eigentlich international vereinbart, bei 0,7 Prozent, sondern bei rund 0,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und - so Leid es mir tut - unter Rosa-Grün niedriger als unter Schwarz-Gelb. ({5}) Schöne Worte ändern daran nichts. ({6}) - Das hoffe ich sehr. Zweitens. Im neunten Anstrich unter Punkt 1 wird hervorgehoben, mit der Aufnahme des BMZ in den Bundessicherheitsrat sei eine Weichenstellung hin zu einem erweiterten Sicherheitsbegriff vollzogen worden. Ich möchte gern wissen, wo sich dieser erweiterte Sicherheitsbegriff eigentlich ausdrückt. In der Teilnahme der Bundeswehr an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg? In der Umgestaltung der Bundeswehr zu einer global handlungsfähigen Interventionsarmee? Oder in der Entsendung eines völlig unsinnigen militärischen Sanitätskontingents nach Osttimor, obwohl dort dringend um zivile Hilfe, nämlich um das THW, gebeten worden war? Mir ist deshalb bis heute völlig rätselhaft geblieben, was sich eigentlich dank des BMZ am Sicherheitsbegriff, an der Militärpolitik de facto geändert haben soll. Denn als Selbstzweck überzeugt die Teilnahme am runden Tisch der Sicherheit nicht. ({7}) Drittens nenne ich die Frage der Waffenlieferungen, des Geschäfts mit dem Tod, einer Säule der ausufernden Konflikte überall auf der Welt. So hat die rosa-grüne Bundesregierung 1999 Waffenexporte in Höhe von 5,92 Milliarden DM genehmigt, unter anderem in die Türkei und in die Vereinigten Arabischen Emirate. Allein Handfeuerwaffen wurden in einer Größenordnung von 461 Millionen DM exportiert. Die Kindersoldatenproblematik spreche ich bloß am Rande an. Lediglich 85 Anträge, insgesamt in Höhe von 10,2 Millionen DM, wurden abgelehnt. Das Ganze ging 2000 ungebremst weiter, zum Beispiel mit der Munitionsfabrik für die Türkei. Auch der Leo 2 ist ja noch immer nicht endgültig vom Tisch. Der Punkt jedenfalls, in dem Sie in Ihrem Antrag auf die angeblich menschenrechtsgeleitete restriktive Rüstungsexportpolitik verweisen, ist vor diesem Hintergrund wohl eher als Irrläufer zu bezeichnen - oder als Trauerspiel, wie Sie wollen. Viertens. Mit Blick auf die Stärkung und Reform der Vereinten Nationen heißt es bei Ihnen unter Punkt 4, vierter Anstrich, des Forderungsteils, Sie fordern die Bundesregierung dazu auf, „sich für effektivere, zielgenaue und flexible nicht militärische Sanktionen einzusetzen“. Sehr richtig! Aber wie wäre es denn, wenn sich die Bundesregierung zunächst einmal offensiv gegen die völlig inakzeptablen Sanktionen einsetzte, die zielgenau ganze Bevölkerungen an den Rand der Verelendung gedrängt haben, wie etwa im Falle Kubas oder des Iraks, wo bereits Hunderttausende Zivilisten ums Leben gekommen sind, zumeist Kinder und alte Menschen, ohne dass am Stuhl von Saddam Hussein auch nur ernsthaft gerüttelt worden wäre? ({8}) Womit ich bei Punkt fünf wäre: Im Begründungsteil haben Sie unter Punkt 4 formuliert, dass originär zivile Aufgaben in Krisenregionen auch zivil und nicht durch Soldaten wahrgenommen werden sollen. Aber fragen Sie doch einmal Ihren Verteidigungsminister und seine militärischen Berater, ob sie das auch so sehen ({9}) oder ob sie sich diese Aufgabenfelder nicht geradezu als Feigenblatt heranziehen. Die UN-Kommissarin für Flüchtlinge, Ogata, hat vor einigen Monaten genau auf diesen Umstand, auf die Militarisierung der humanitären Hilfe, verwiesen, und zwar sehr kritisch.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Jetzt mache ich „fast speaking“, okay? ({0}) Ich bin gleich am Ende. Ein Satz zum Schluss. Sie schreiben im Forderungsteil, Absatz 4, erster Anstrich, dass darauf zu achten sei, „dass das Monopol der Vereinten Nationen zur Ermächtigung von Einsätzen nach Kapitel VII der VN-Charta bewahrt“ bleiben soll. Nun wissen Sie, dass ich Kapitel-VIIEinsätze, dass ich Kampfeinsätze aus prinzipiellen Erwägungen ablehne. Aber ich kann mich durchaus in Ihre Logik versetzen und frage mich - mit aufrichtigem Erstaunen -, wer wohl mit dieser Formulierung gemeint ist, wer wohl davon abgehalten werden soll, sich statt der VN Kompetenzen anzueignen, etwa nach Kapitel VII. Da fällt mir mit Blick auf die letzten Jahre eigentlich nur die NATO ein, besonders natürlich die USA und Großbritannien, aber nicht zuletzt auch die Bundesrepublik Deutschland. Mit fällt da vor allem der Kosovo-Krieg ein, bei dem offenkundig planmäßig die UNO ausgeschaltet worden ist. Ein solches Verfahren hier derart zu kritisieren und für die Zukunft ausschließen zu wollen begrüße ich ausdrücklich; das möchte ich hier schon sagen. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat Kollegin Dagmar Schmidt von der SPD-Fraktion das Wort. ({0})

Dagmar Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002780, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als Entwicklungspolitikerin frage ich mich: Was hat sich in der Welt verändert, dass wir nach neuen Ansätzen im Umgang mit Krisen und Konflikten suchen? Weshalb wollen wir den Begriff der Krisenprävention einer Neubewertung unterziehen? Welche Folgerungen müssen wir in der Entwicklungspolitik ziehen? Mit dem Fall der Mauer ist das 20. Jahrhundert zu Ende gegangen. Wir haben lernen müssen, dass an die Stelle der waffenstarrenden Konfrontation von Allianzen und Blöcken eine alles andere als friedliche Welt getreten ist. Ohne Frieden ist nachhaltige Entwicklung aber schwierig, wenn nicht sogar unmöglich. Das 21. Jahrhundert darf kein Jahrhundert zunehmender sozialer Unterschiede werden. Die ärmsten Länder und Regionen drohen mehr und mehr marginalisiert zu werden. Armut, Umweltzerstörung, knappe Ressourcen, zerfallende Staaten - das alles birgt viel Konfliktstoff und beeinträchtigt das Recht auf Entwicklung. Rot-grüne Regierungsverantwortung mit ihrem erweiterten Sicherheitsbegriff schließt die entwicklungspolitische Komponente ein. Die drei Kernbereiche der internationalen Beziehungen, Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik, bilden ein gleichschenkliges strategisches Dreieck. Wir in der Entwicklungspolitik gehen natürlich davon aus, dass unser Ressort die Basis dieses Dreiecks bildet, auf der die beiden anderen Schenkel aufbauen. ({0}) Sicher, Entwicklungspolitik verspricht nicht blühende Landschaften überall, sofort und gleichzeitig, aber sie stößt Prozesse an, die in vielfältiger Weise Beiträge zu eigenständiger Entwicklung leisten. Der zivile Friedensdienst kann nicht oft genug genannt werden. Auch der Stabilitätspakt für Südosteuropa ist in unserem Ressort in guten Händen. ({1}) Die Mitgliedschaft des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Bundessicherheitsrat und die Verankerung der Menschenrechtskriterien im Rahmen einer restriktiven Rüstungsexportpolitik gehören ebenfalls dazu. Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie wissen, wir wollen eine weltweite Festlegung des Mindestalters für Soldaten auf 18 Jahre. ({2}) Wir wollen ein unabhängiges deutsches Menschenrechtsinstitut. Auswärtiges Amt, BMZ und andere Ressorts wirken im Sinne einer globalen Strukturpolitik zusammen, um den neuen globalen Herausforderungen zu begegnen. Das hat Herr Kollege Hedrich vor vier Jahren gesagt, meine Damen und Herren von der Opposition, in Ihrer Zeit recht vernünftige Erkenntnisse, aber eben nur Erkenntnisse. Heute wird es gemacht. ({3}) Globale Strukturpolitik, das ist rot-grüne Praxis. Globale Strukturpolitik, das ist die Grundlage dieses Antrags. Was sind die Ziele und Maßstäbe einer Entwicklungspolitik, die sich in dieses Konzept des neuen Sicherheitsbegriffs einfügt? - Menschenrechte, Demokratie, Gleichberechtigung, Recht auf Entwicklung, Bekämpfung der Armut und ökologische Nachhaltigkeit, das alles gehört zusammen. Entwicklung hat viele Dimensionen. ({4}) Deshalb bedarf es eines integrierten Ansatzes, der Entwicklung als Querschnittsaufgabe begreift. Frieden kann es nur geben, wo menschenwürdige Lebensbedingungen herrschen. ({5}) Zivile Kräfte zu stärken, das gehört seit Jahren zu den Zielen sozialdemokratischer Entwicklungspolitik. Zivile Kräfte bauen auf, wo militärische zerstören. Zivile Kräfte sind unerlässlich für intakte demokratische Strukturen eines jeden Staates. Es geht also um die Stärkung eigener Strukturen in den von Konfliktszenarien bedrohten oder betroffenen Ländern. Es geht um den Abbau struktureller Konfliktursachen. Es geht schlicht um Entwicklung. Vertrauensbildende Maßnahmen, Dialogprogramme und Friedenserziehung, Versöhnungsarbeit und gesellschaftlicher Wiederaufbau - das sind aus entwicklungspolitischer Sicht entscheidende präventive Maßnahmen, Maßnahmen der Friedenskonsolidierung. Ist es nicht ökonomischer und vor allem menschlicher, Konflikte im Vorfeld ohne den Einsatz militärischer Mittel zu entschärfen? Das Engagement der Bundesregierung gibt eine klare Antwort, auch auf der internationalen Ebene. Die Beschlüsse des Europäischen Rates von Helsinki und Santa Maria da Feira zeigen: Europa insgesamt will die Stärkung der nicht miliärischen Krisenprävention. Die entwicklungspolitische Komponente muss daher bei der Ausgestaltung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik unbedingt berücksichtigt werden. ({6}) Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, hat im vergangenen Jahr zu einer Kultur der Prävention aufgerufen. Das Problem ist also auf internationaler Ebene erkannt. Es geht jetzt um die Umsetzung des als richtig Erkannten. Es bedarf eines leistungsfähigen Frühwarnsystems, das es uns erlaubt, politische Maßnahmen krisenpräventiv auszurichten. Endlich wird es zudem wieder staatliche Unterstützung für die Friedens- und Konfliktforschung geben. ({7}) Sie dürfen mir glauben, dass mich das persönlich sehr freut, weil ich dies in meiner allerersten Rede an der alten Regierung moniert habe. ({8}) Entwicklungspolitik verfügt über das Instrument der Evaluierung. Wir sind es gewohnt, die Mittel-Ziel-Relationen zu bestimmen und die eingesetzten Instrumente ständig zu überprüfen. ({9}) Regionale Zusammenarbeit und Dialog - Wasser kann in diesem Zusammenhang eine Quelle des Friedens sein sind entscheidend für die Kultur der Prävention, von der der Generalsekretär gesprochen hat. Eine Kultur der Prävention und der Konfliktvermeidung fängt beim Menschen an. An dieser Stelle möchte ich mich ausdrücklich für das Engagement der Nichtregierungsorganisationen und der Kirchen bedanken. ({10}) Auch die Wirtschaft kann, wenn sie verantwortlich handelt, in vielen Regionen der Welt zu größerer Stabilität beitragen. Noch vor wenigen Tagen hat unsere Ministerin auf dem Petersberg in Erinnerung gerufen, woran sich unsere Politik orientiert. Sie hat die Friedenspolitik Willy Dagmar Schmidt ({11}) Brandts zitiert, das Wort vom Frieden, der nicht alles, aber ohne den alles nichts ist. Unsere Politik der zivilen Krisenprävention steht in der Kontinuität der Friedenspolitik des Nobelpreisträgers Willy Brandt. Wir halten daran fest, weil sie in ihrer damaligen Form zum Frieden in Europa beigetragen hat. Wir sind uns sicher, dass sie in ihrer heutigen Gestalt ihren Beitrag zum Frieden in der Welt leistet. Sie alle sind herzlich eingeladen, uns auf diesem Wege zu begleiten. Schönen Dank. ({12})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Peter Weiß für die Fraktion der CDU/CSU.

Peter Weiß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003255, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Eine Politik, die sich zum Ziel setzt, internationale Gewaltursachen abzubauen, zivile Konfliktlösungen zu unterstützen und die Rahmenbedingungen für einen selbsttragenden gerechten und stabilen Friedensprozess zu schaffen, kann nur erfolgreich sein, wenn schrittweise die notwendigen Ressourcen bereitgestellt werden. Der Aufbau einer effektiven Infrastruktur und die Beseitigung struktureller Konfliktursachen benötigen nicht nur Zeit, sondern auch Personal, Infrastruktureinrichtungen und Geld. Das sind zwei der letzten Sätze in der Begründung des Antrags von Rot-Grün, über den wir hier diskutieren. ({0}) Er ist voll und ganz zu unterstreichen. Nur eines stimmt nicht: Ihre Praxis. ({1}) Erstens. Sie von Rot-Grün schließen Botschaften, Konsulate und Goethe-Institute. Sie kürzen die Mittel für die deutschen Auslandsschulen und für die Wissenschaftskooperation. Sie kürzen den politischen Stiftungen die Mittel, sodass sie ihre Auslandsbüros abbauen oder personell ausdünnen müssen. Indem Sie diese verschiedenen Formen deutscher außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischer Präsenz und Fachkompetenz weltweit abbauen und ausdünnen, beschädigen Sie das wichtigste, ja das zentrale Instrument ziviler Konfliktprävention und Konfliktbearbeitung, nämlich die nur über konkrete Personen wahrnehmbare und auf langjährige Arbeit und auf Vertrauen begründete Vermittlung zwischen möglichen Konfliktparteien. Auch Früherkennung von und Frühwarnung vor möglichen Krisenherden ist nur über persönliche Präsenz und Kenntnis vor Ort möglich. Die von Rot-Grün zu verantwortende schwere Beschädigung der deutschen Möglichkeiten, wirklich etwas zur zivilen Krisenprävention und zur zivilen Konfliktregelung beizutragen, wird eben nicht dadurch ausgeglichen, dass Sie nun ankündigen, dann, wenn es einmal irgendwo kracht oder zu krachen droht, schnell einen Zivilen Friedensdienst oder zivile Friedensfachkräfte, die wir ausgebildet haben, entsenden zu wollen; denn dann ist es bereits zu spät. ({2}) Sie führen neue Instrumente ein. Die alten, bewährten Instrumente zerstören Sie. ({3}) Zweitens. Wie wissenschaftliche Untersuchungen belegen, ist Armut die tief sitzende Ursache für vielfältige Konflikte in der Welt. Ohne aktive Armutsbekämpfung sind alle anderen Maßnahmen der Krisenprävention vergebens. Deshalb ist die von Rot-Grün zu verantwortende Kürzung der Mittel für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit eine Katastrophe für all diejenigen, die wirklich zivile Friedensprävention betreiben wollen. ({4}) Auch die so genannte Konzentration der deutschen Entwicklungszusammenarbeit auf weniger Länder erweist sich als zusätzlicher Tiefschlag für die Armutsbekämpfung. ({5}) - Doch, Frau Kollegin; denn von den 48 am wenigsten entwickelten Ländern der Welt werden 26 Staaten von Rot-Grün schlichtweg vor die Tür gesetzt. ({6}) Von 40 hoch verschuldeten armen Ländern der Welt wird vor 18 Staaten von Rot-Grün die Tür schlichtweg zugeschlagen. Wer bei den Kernaufgaben deutscher Entwicklungszusammenarbeit so versagt wie Rot-Grün, der braucht gar nicht erst zu versuchen, mit eilig gestrickten Reparaturinstrumenten noch hinterherzukommen. ({7}) Drittens. Sie tun in dem Antrag so, als sei zivile Krisenprävention eine Erfindung von Rot-Grün. Sie war schon immer - und sollte es auch bleiben - wesentlicher Inhalt und grundlegende Zielsetzung deutscher Außen-, Sicherheits- und Entwicklungszusammenarbeit. Die in der Entwicklungszusammenarbeit aktiven kirchlichen Hilfswerke haben im vergangenen Jahr gemeinsam unter dem Titel „Frieden muss von innen wachsen - Zivile Konfliktbearbeitung und Entwicklungszusammenarbeit“ einen Bericht über ihre Tätigkeit vorgestellt, aus dem deutlich hervorgeht, dass Krisenprävention gerade in der nicht staatlichen Entwicklungszusammenarbeit seit Jahren durchgängig Zielsetzung und Aufgabe ist. Zu Recht stellen die kirchlichen Hilfswerke fest: Frieden muss von innen kommen. Erfolgreiche Konfliktbearbeitung und nachhaltiger Friedensaufbau Dagmar Schmidt ({8}) muss in erster Linie von der lokalen Bevölkerung getragen werden. Und deshalb ist Friedensförderung nicht als gesonderter Arbeitsbereich der Entwicklungszusammenarbeit zu verstehen, sondern sie entsteht aus der Art und Weise, wie Hilfsmaßnahmen durchgeführt werden. Wer jedoch wie Rot-Grün die Kernaufgaben der Entwicklungszusammenarbeit vernachlässigt, der beschädigt diese Friedensförderung und rettet nichts, wenn er zur Beseitigung seines schlechten Gewissens ein neues Wundermittel namens Ziviler Friedensdienst einführt. ({9}) - Der Zivile Friedensdienst ist sicherlich eine sinnvolle Ergänzung der Entwicklungszusammenarbeit; dem stimme ich gerne zu. ({10}) Sowohl die Friedensfachkräfte als auch der Zivile Friedensdienst sind sinnvolle Ergänzungen der Entwicklungszusammenarbeit. Es entsteht mit Ihnen aber nichts Neues; denn wenn man sich das einmal genau anschaut, sieht man: Über 90 Prozent der Projekte, die bislang aus dem neuen Haushaltstitel des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung für einen Zivilen Friedensdienst bedacht worden sind, hätten ohne jeden Abstrich am Konzept auch durch die bisherigen entwicklungspolitischen Instrumente staatlicherseits mit gefördert und mit finanziert werden können. Viertens. Die kirchlichen Hilfswerke stellen in ihrer Dokumentation „Frieden muss von innen wachsen“ weiter fest - ich zitiere -: Konflikte entstehen aber heute - manchmal unbemerkt - in vielen anderen Sektoren der Arbeit: bei der Organisation von Basisgesundheitsdiensten, schon bei der Organisation von Grundbildung, beim Zugang zur Grundbildung, bei der Frage der Finanzierung der Grundbildung, beim Zugang zum Trinkwasser, zum Wasser, zum Wald, zum Markt, zur Ausbildung. Alle natürlichen und sozialen Ressourcen werden knapper, sind umkämpft. Diese Feststellung zeigt, wie notwendig es ist, Investitionen in soziale Grunddienste zu verstärken. Nun hat kürzlich die Arbeitsgruppe 20:20 des deutschen Nichtregierungsforums „Weltsozialgipfel“ belegt, dass im Haushalt des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ein dramatischer Abbau der bilateralen Zusagen für soziale Grunddienste stattfindet: von 18,9 Prozent im Jahr 1998 auf nunmehr 13,5 Prozent in der Planung für 2001. Grundbildung ist für das Jahr 2001 nur noch mit 3,3 Prozent oder 80 Millionen DM ausgewiesen. Basisgesundheitsdienste kommen gerade noch auf 2,1 Prozent oder 51,3 Millionen DM. Angesichts dieser Tatsachen ist Folgendes festzustellen: Der Antrag von Rot-Grün beschwört vieles, was auch wir unterstreichen können; Herr Kollege Schwalbe hat es vorgetragen. Aber der Antrag muss einem schlichtweg als der untaugliche Versuch von Rot-Grün erscheinen, das eigene schlechte Gewissen zu beruhigen. ({11}) Dieser Antrag ist kein Aufbruch zu neuen Ufern, sondern Ausdruck schlechten Gewissens. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist mit der Bundesregierung einig, dass einer Politik ziviler Krisenprävention und ziviler Konfliktregelung höchste Priorität beizumessen ist. Aber Ihr schlechtes Gewissen, meine Damen und Herren von Rot-Grün, können nicht wir von der Opposition beruhigen. Das können nur Sie, indem Sie die Fehler Ihrer Politik schnellstens korrigieren. Vielen Dank. ({12})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Ludger Vollmer.

Not found (Gast)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung knüpft ihre Politik der Krisenprävention an die schon von VN-Generalsekretär BoutrosGhali 1992 in der „Agenda for Peace, Development and Democracy“ getroffene Feststellung an, dass Konflikte zwar unvermeidlich und nötig seien, ihre Eskalation aber sehr wohl vermeidbar sei. Obwohl die Politik seit Anfang der 90er-Jahre dies erkannt hatte, standen bei Regierungsübernahme 1998 die Mittel für militärische und die Mittel und Instrumente für nicht militärische, zivile Konfliktprävention in einem eklatanten Missverhältnis. ({0}) Als wir frisch in die Regierung gekommen sind und die Kosovo-Verifikationsmission mit 80 Personen beschicken mussten, haben wir allergrößte Mühe gehabt, diese Personen zusammenzutrommeln, weil von der alten Regierung nicht die mindeste Vorkehrung getroffen war. Daraus haben wir jetzt die Konsequenzen gezogen. Heute, zehn Jahre nach Öffnung der Berliner Mauer und dem Ende des Ost-West-Konfliktes, machen die steigende Zahl mit großer Brutalität und Härte ausgetragener innerstaatlicher Konflikte und die im Zuge der Globalisierung gewachsenen Interdependenzen ökonomischer und ökologischer, technologischer und medialer Art die Förderung einer weltweiten Kultur der Prävention zum vordringlichen Politikfeld. Ein ganzheitlicher Ansatz, die Verzahnung der Außen- und Sicherheitspolitik mit Elementen der Entwicklungs-, Wirtschafts-, Finanz-, Umwelt- und Rechtspolitik, ist ebenso vonnöten wie eine strukturelle, langfristig angelegte Krisenpräventionsstrategie und die Entwicklung geeigneter Instrumente. Dieser Ansatz basiert auf einem erweiterten Sicherheitsbegriff und schließt Rüstungskontrolle und Abrüstung ein. Der Peter Weiß ({1}) Antrag der Koalitionsfraktionen betont zu Recht, dass dieser Ansatz subsidiär, multilateral und multidimensional angelegt sein muss. Unter Federführung des Auswärtigen Amtes wurde daher in diesem Jahr mit dem ressortübergreifenden Gesamtkonzept zur zivilen Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung eine politische Gesamtstrategie der Bundesregierung ausgearbeitet und verabschiedet. Im nationalen Bereich sind die hauptsächlich betroffenen Ministerien und die enge Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen die tragenden Säulen dieses Konzeptes. Entscheidendes hat sich seitdem verbessert: Das Auswärtige Amt hat im Juli 1999 ein Ausbildungszentrum für ziviles Friedenspersonal geschaffen. Seitdem sind in 16 Kursen 280 Teilnehmer ausgebildet worden. Dies ist keine weiße Salbe, verehrte Kolleginnen und Kollegen. 60 von ihnen sind mittlerweile in Langzeitmissionen der VN und der OSZE tätig; 100 weitere sind in Kurzzeitmissionen eingesetzt. Diese Woche haben wir begonnen, international auszubilden und unser Konzept auch anderen Ländern zur Verfügung zu stellen. ({2}) Der erreichte Umfang und der Erfolg dieses Programms legen nahe, dass über eine strukturelle Sicherung auch in haushaltspolitischer Hinsicht entschieden werden muss. Wir werden eine Verstetigung der Mittel und eine institutionelle Förderung brauchen. Ich rechne wirklich mit Ihrer Unterstützung. Wir brauchen sie spätestens im Jahr 2002. ({3}) Parallel zu diesem Ansatz hat das BMZ die Zivilen Friedensdienste als neues und zusätzliches Element der Krisenprävention und Konfliktbearbeitung in enger Abstimmung mit NGOs und dem AA ins Leben gerufen. Das ist keine Wunderwaffe, wie hier suggeriert worden ist, sondern ein weiteres Element der Infrastruktur, die wir ausbauen. ({4}) Aus dem Bereich des BMI und der Landesinnenbehörden haben sich Bundes- sowie auch Länderpolizeien in ihrer substanziellen Beteiligung an internationalen Missionen einen hervorragenden Ruf erworben. Hier werden im Bereich des nicht militärischen Krisenmanagements der EU wie auch der VN und der OSZE noch erhebliche weitere Anforderungen auf Deutschland zukommen. Ich danke den Ländern ausdrücklich für ihr Engagement und möchte sie herzlich bitten, damit fortzufahren. ({5}) Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch das Technische Hilfswerk, das, in regionale Konzepte integriert, mit den anderen Institutionen zusammenarbeitet. Zu erwähnen sind auch die friedenserhaltenden Einsätze der Bundeswehr. Es geht auf die Initiative der Bundesregierung zurück, dass heute in der NATO wie auch in der EU verstärkt über die nicht militärischen Elemente der Außen- und Sicherheitspolitik nachgedacht wird. ({6}) Die prägnante deutsche Position im Kosovo-Konflikt, die Forderung, wirklich alle Möglichkeiten einer zivilen und präventiven Konfliktlösung auszuloten und den militärischen Einsatz nur als Ultima Ratio zu verwenden, wie auch der deutsche Friedensplan, der letztlich zum Erfolg führte, haben sowohl unser Ansehen bei unseren Partnern gestärkt als auch auf internationaler Ebene einen nicht zu unterschätzenden Politikwechsel herbeigeführt. ({7}) Seit der deutschen G-8-Präsidentschaft 1999 und auf unsere Initiative hin ist Krisenprävention für die G 8 ein zentrales Politikziel. Ich verweise hier beispielhaft auf die Erklärung zur koreanischen Halbinsel und die Kleinwaffeninitiative. Die EU - darauf wurde hingewiesen - hat sich zur Verbesserung ihrer außen- und sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit als erstes Planziel im Rahmen der ESVP vorgenommen, bis zum Jahre 2003 bis zu 5 000 Polizisten für nicht militärische Auslandseinsätze zur Verfügung zu stellen. Auch dies trägt die Handschrift der Bundesregierung. Der OSZE kommt eine zentrale Bedeutung für Krisenprävention und Krisenmanagement in ihren Teilnehmerländern zu, wie der Antrag zu Recht betont. Die Sprachengesetze in Lettland und Estland sind ein wunderbares Beispiel für die Entschärfung eines Konfliktes um die russische Minderheit. Wie auch viele andere verhütende Tätigkeiten findet ein solches Beispiel kaum die Aufmerksamkeit der Medien; denn es knallt nicht, es gibt keinen Rauch. ({8}) Die bei der OSZE konsequenterweise beschlossene Schaffung von zivilen Krisenreaktionskräften wird seit Juli 2000 bereits schrittweise implementiert. Ziel ist der Ausbau einer Personalreserve. Daher begrüßt die OSZE nachhaltig und nachdrücklich unser deutsches Ausbildungsprogramm und empfiehlt es anderen Ländern zur Teilnahme und Nachahmung. Die Bundesregierung hat den Ausbau des Instrumentariums der Konfliktbearbeitung zur außenpolitischen Priorität erklärt. Für ein weltumspannendes System eignet sich allerdings keiner so gut wie die VN, um diesen Ansatz durchzusetzen. Daher unterstützt Deutschland die „peace building unit“ der VN und zahlt in den Treuhandfonds für „Preventive Action“, der die frühzeitige Evaluierung eines möglichen vorbeugenden VN-Engagements ermöglichen soll. Der jüngste „Brahimi-Bericht“ bestätigt mit dem Ruf nach „early warning“, „early action“ und „post conflict peace building“ die Richtigkeit der politischen Forderungen der Bundesregierung.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Staatsminister, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.

Not found (Gast)

Ich komme zu meinem letzten Satz, Frau Präsidentin. - Deshalb wird die Bundesregierung ganz im Sinne des vorliegenden Antrags die Bemühungen um dieses Kernstück nicht militärischer Friedenspolitik unterstützen. Sie sieht sich dabei völlig einig mit der Politik des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Kofi Annan, und der Hoffnung der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes auf eine friedlichere Welt. Ich danke Ihnen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3862 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie an den Innenausschuss und an den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 sowie Zusatzpunkt 4 auf: 15. Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Flach, Cornelia Pieper, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Zukunftsorientierte Energieforschung - Fusionsforschung - Drucksache 14/3813 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Martin Mayer ({1}), Dr. Gerhard Friedrich ({2}), Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Kernfusionsforschung für eine zukünftige Energieversorgung - Drucksache 14/4498 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Ulrike Flach für die F.D.P.-Fraktion das Wort.

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einem Zitat beginnen: Das Projekt Wendelstein 7-X ist die bedeutendste Experimentier-Einrichtung des europäischen Fusionsprogramms. Dies sagte - das ist Ihnen wahrscheinlich besser bekannt als mir - Bundeskanzler Schröder bei seinem Besuch am 7. Juli in Greifswald und fügte hinzu: Die Bundesrepublik steht zu dem Großexperiment, weil es Raum gibt für eine qualifizierte Grundlagenforschung. Das BMBF beteiligt sich mit insgesamt 690 Millionen DM an Wendelstein 7-X. Liebe Kollegen, das gibt es nicht sehr oft, aber ich kann Ihnen versichern, dass es von Herzen kommt: Die F.D.P. stimmt dem Bundeskanzler voll zu. Wir brauchen diese zukunftsorientierte Grundlagenforschung im Energiebereich mehr als dringend. Der weltweite Energiebedarf steigt an. Fossile Energieträger sind endlich. Das wissen Sie genauso gut wie wir. Windund Solarenergie werden den wachsenden Bedarf nicht decken können, ({0}) aus der Kernkraft jedoch steigen Sie aus. Kurz: Wir brauchen Optionen. Vor diesem Hintergrund ist die Kernfusion eine wichtige Option für eine zukunftsfähige, sichere und umweltfreundliche Energieversorgung. ({1}) Bei Wendelstein 7-X soll die Kernfusion nach dem Stellarator-Prinzip erprobt werden. Dieses Prinzip steht in Konkurrenz zum so genannten Tokamak-Verfahren. Eines dieser Prinzipien soll Grundlage für den geplanten Versuchsreaktor ITER sein. In Greifswald, Jülich, Karlsruhe und Garching laufen Forschungs- und Entwicklungsvorhaben, um in internationaler Kooperation einen Versuchsreaktor zu bauen. Um den Standort von ITER konkurriert Europa mit Japan, Russland und Kanada. Die Kanadier haben bereits im Frühjahr 2000 ihr Interesse an einem Standort in ihrem Land angemeldet; in Japan werden seit 1998 Standorterkundungen durchgeführt. Frankreich hat nun kürzlich einen konkreten Standort, nämlich Cadarache, vorgeschlagen und wird diesen Vorschlag auf der EU-Forschungsministerkonferenz am 16. November durchzusetzen versuchen. Liebe Kollegen, als wir unseren Antrag eingebracht haben, war die französische Entscheidung noch nicht gefallen. Wir halten den Standort Cadarache für geeignet. Uns geht es vor allem darum, ITER in Europa zu realisieren. Das möchte ich deutlich und klar sagen. Wir werden also unseren Antrag in den Ausschussberatungen entsprechend modifizieren. Unsere Forderungen an die Bundesregierung sind allerdings ebenso klar: Deutschland soll sich an der Entwicklung von ITER beteiligen. Die Bundesregierung wird aufgefordert, die französische Bewerbung zu unterstützen. Die F.D.P. lehnt entschieden die Versuche von Bündnis 90/Die Grünen ab, aus der Fusionsforschung auszusteigen, und setzt sich für einen ausreichenden Ansatz im BMBF-Haushalt ein. ({2}) Herr Fell, ich spreche Sie ganz konkret an, weil es ja gerade die Grünen sind, die bei modernen Technologien reflexartig zu Magenschmerzen neigen: ({3}) bei Kernenergie, Magnetschwebetechnik, Gentechnik und nun auch bei der Fusionsforschung. In Ihrem Eckpunktepapier Energieforschung fordern Sie: Die Bundesregierung sollte daher … offiziell den Ausstieg aus dem Kernfusionsprojekt ITER erklären. Für die Nuklearforschung sei nur noch der Erhalt der Mindestkompetenz zu berücksichtigen. Auch wenn Sie, Herr Fell, Mindestkompetenz für ausreichend halten: Für eine moderne, zukunftsfähige Energieversorgung ist uns das entschieden zu wenig. ({4}) Das kanadische Interesse wird von der Regierung Kanadas, von der Provinzregierung Ontarios, von den Gewerkschaften und von einer Unternehmensgruppe unterstützt. Hier herrscht also ganz offensichtlich Gemeinsamkeit. Ich appelliere deshalb an die Bundesregierung, dem zu folgen: Frau Bulmahn, machen Sie am 16. November den Weg für eine gemeinsame Bewerbung der Europäer um den Standort in Frankreich frei. Ich bin gespannt, was Sie gleich dazu sagen. Spanien und Italien haben ihre Unterstützung bereits signalisiert. Wenn Europa mit einer Stimme spricht, dann haben wir gute Chancen, das Projekt zu realisieren. Es geht hier nicht um Mindestkompetenz, sondern um Forschung zum Zwecke der Energieversorgung des 21. Jahrhunderts. Frau Bulmahn, packen Sie es an! ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Eine zukunftsorientierte Energieforschung muss sich an den Leitbildern und an den Zielen orientieren, die auch für eine Energiepolitik der Zukunft gelten. Die Bundesregierung hat dies mit ihrem Schlussdokument zum Energiedialog 2000 im Sommer überzeugend dargelegt. ({0}) Die Ziele unserer Energiepolitik lassen sich mit den Begriffen Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit und Umweltverträglichkeit zusammenfassen. ({1}) Mit dem Klimaschutzprogramm, mit der Ökosteuer, mit dem 100 000-Dächer-Programm und vor allem mit dem Einspeisungsgesetz für erneuerbare Energien haben wir die Weichen bereits richtig gestellt. ({2}) Wir verringern mit diesen Maßnahmen, mit diesen Instrumenten den Energieverbrauch. Dies ist ein wichtiges Ziel, das wir langfristig verfolgen. Mit den Mitteln für die eingesparten Zinsausgaben aus den UMTS-Mitteln fördern wir zum Beispiel bis zum Jahre 2003 Wärmeschutzmaßnahmen bei Altbauten mit 1,2 Milliarden DM. Auf diesem Gebiet gibt es noch einen erheblichen Nachholbedarf. Wir als Gesetzgeber schaffen Rahmenbedingungen, damit es sich für die Wirtschaft lohnt, auf die Ökologie zu setzen. Ziel der Bundesregierung ist eine kostengünstige und sichere Energieversorgung ohne Subventionen und ohne Kernenergie. ({3}) Mit unserer Energieforschung unterstützen wir diese Neuorientierung. ({4}) Wir konzentrieren uns auf die Entwicklung der Brennstoffzelle, auf die Solarforschung - dort gibt es noch erhebliches Entwicklungs- und Forschungspotenzial -, auf die Entwicklung von Speichertechnologien, die ein wichtiges Instrument sind, um eine sichere Energieversorgung zu gewährleisten, und auch auf kostengünstige Photovoltaikanlagen. Es darf nicht vergessen werden, dass die Informations- und Kommunikationstechnologien, zum Beispiel die Sensorik, neue Antriebstechnologien und neue Materialien natürlich ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, um das Ziel einer ressourcenschonenden Energieversorgung zu erreichen. Viele Diskussionen in unserem Land haben eines immer wieder deutlich gemacht: dass die Menschen in unserem Land eine Politik wollen, die sich konsequent am Ziel der Zukunftsfähigkeit orientiert. Das heißt, sie wollen eine Energieforschung, die eine klare Strategie verfolgt. Auf den Punkt gebracht: Sie wollen eine Energieforschung, deren Ziel es ist, Innovationen, die wirtschaftlich und umweltverträglich sind und gleichzeitig Versorgungssicherheit gewährleisten, zu beschleunigen. ({5}) Mit unseren Programmen, die im Ausschuss diskutiert werden - wir haben darüber geredet; ich gehe davon aus, dass Sie sowohl ein Kurzzeit- als auch ein Langzeitgedächtnis haben -, haben wir diese Ziele in Angriff genommen. ({6}) Wir haben sowohl mit den Verkehrsforschungsprogrammen als auch mit dem Wohnforschungsprogramm zur Entwicklung einer neuen Methodik und neuer Materialien wichtige Weichenstellungen vorgenommen. Ich habe vorhin ebenfalls die anderen Bereiche genannt. Man kann zum Beispiel keine optimale Energieverbrauchssteuerung ohne Sensorik und ohne IuK-Technologien durchführen. Deshalb wäre es kurzsichtig, wenn man diese notwendige Querschnittsbetrachtung nicht ins Auge fasste und durchführte. ({7}) Diese Bundesregierung räumt dem Klimaschutz endlich Priorität ein. Wir werden die vereinbarten CO2-Reduktionsziele erreichen ({8}) und aufgrund des besonderen Engagements der Wirtschaft sogar übertreffen. Außerdem haben wir - das ist ein wichtiger Schritt - endlich auch Chancengleichheit im Wettbewerb der Energieträger hergestellt, ({9}) die es jahrelang nicht gab. Dahinter steht die Vision einer hoch entwickelten Industrienation, die für Europa und weltweit den Weg in eine postnukleare Wirtschaftsweise weist. Das EEG hat eine Leuchtturmfunktion für andere Industrieländer. ({10}) Unsere Energieforschung flankiert dies und setzt hier auch einen Schwerpunkt. Forschung in diesem Bereich zahlt sich nämlich heute und auch morgen unmittelbar aus. Deswegen wäre es geradezu widersinnig, wenn man hier Abstriche machte, um sich stärker auf eine Technologie zu konzentrieren, die Ergebnisse erst in 40, 50 oder 60 Jahren bringen wird, also nicht die Umweltprobleme von heute oder morgen löst. ({11}) Denn der Klimawandel und die Energieprobleme warten nicht 40, 50 oder 60 Jahre. Vielmehr entwickeln sie sich jetzt, sie sind jetzt schon vorhanden. Deshalb müssen wir eben auch Technologien haben, die bereits heute und morgen wirksam sind. Daher verfolgen wir eine Politik des Energiemix, des Mix von Technologien ({12}) und wir verfolgen eine Strategie, die gleichzeitig Optionen offen hält. ({13}) - In der Fusionsforschung haben wir eine ganz klare Position. Deswegen gibt es auch gar keinen Grund zur Aufregung. Sie ist jedoch - bei allem Stolz auf das in der Bundesrepublik Erreichte - von Nüchternheit gekennzeichnet. Das halte ich auch für notwendig. Ich fasse in vier Punkten zusammen. Erstens. Die Bundesregierung wird die Fusionsforschung auch in den kommenden Jahren auf einem angemessenen Niveau weiterführen. Für das Jahr 2001 sind Programmförderungen in Höhe von 213 Millionen DM vorgesehen, so wie wir das gerade vor zwei Tagen im Ausschuss diskutiert haben. Das brauchen wir, um die Aufgaben angemessen durchzuführen. Zweitens. Die Bundesregierung steht zu dem Großexperiment Wendelstein 7-X des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik in Greifswald, weil dies Raum gibt für wichtige Grundlagenforschung. Drittens. Ich zitiere: Unter diesen Bedingungen können und wollen Frankreich und Deutschland sich nicht als ITERStandorte bewerben. ({14}) - Das hat mein Amtsvorgänger Jürgen Rüttgers gemeinsam mit seinem französischen Kollegen vor ungefähr vier Jahren, genau am 17. Juli 1996, in einer Presseerklärung festgestellt. Die damalige Bundesregierung wurde von CDU/CSU und F.D.P. getragen. Die jetzige Bundesregierung setzt in diesem Punkt - ich betone: in diesem Punkt - die Politik ihrer Vorgängerin fort. Wenn also die Opposition meinen sollte, hier sei eine Chance verpasst worden, dann hätte sie dies in allererster Linie selbst zu verantworten. ({15}) Viertens. Die Bundesregierung hält das ITER-Projekt noch nicht für spruchreif. Deshalb bemühen wir uns in dem Entscheidungsprozess um einen weitgehenden Einklang mit unseren europäischen Partnern. Wir sind uns mit Frankreich einig, dass zunächst eine Reihe von Fragen geklärt werden muss, so zum Beispiel die Frage der Chancen und Risiken der Fusionstechnik, die wissenschaftlich-technischen Fragen, die wir noch haben, wo man beispielsweise in der Materialentwicklung und Materialforschung Schwerpunkte setzt, welche Schritte man zuerst bzw. an zweiter oder dritter Stelle macht. Wir sind uns auch darin einig, dass wir eine wirtschaftliche Betrachtung anstellen, dass die ökologischen Gesichtspunkte berücksichtigt werden und dass wir auch die Versorgungsunternehmen in die Verantwortung einbeziehen müssen, bevor weitreichende Beschlüsse gefasst werden. Dies ist die übereinstimmende Meinung von Frankreich und Deutschland und von vielen Partnern in Europa. Alle Forschungsminister sind sich ebenfalls einig, dass Rahmenbedingungen wie Angebot und Nachfrage von Energie, Preise und Umweltbelastungen einzubeziehen sind. Über eine Großtechnik kann ohne Kenntnis der Märkte und ohne Beteiligung der Industrie heute nicht entschieden werden. Das ist unsere gemeinsame Position. Was Sie, Frau Flach, gesagt haben, ist insofern nicht richtig, als auf dem Forschungsministerrat kein Vorschlag über einen Standort vorgebracht werden wird. Vielmehr wird in Frankreich intern darüber diskutiert, ob und mit welchen Standorten man sich bewerben soll. Wir sind uns darüber einig, dass wir die Kommission bitten, genau diese Fragen zu beantworten, bevor wir Entscheidungen treffen. In der Politik ist nichts schlimmer, als wenn Entscheidungen ohne wirklich fundierte Kenntnisse aller relevanten Aspekte und Faktoren getroffen werden. ({16})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Ministerin, gestatten Sie eine Frage der Kollegin Flach? - Ich bitte aber um eine kurze Fassung. Wir wissen alle: Der Demonstrationstermin steht bevor.

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bitte nur um Präzisierung. Heißt das, dass sich Frankreich nicht weiter bewirbt? Wenn es sich doch weiter bewirbt: in welchem Zeitraum, Frau Bulmahn?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Frau Flach, dass heißt genau das, was ich eben gesagt habe. Entscheidungen über ITER selbst und über mögliche Standorte von ITER können erst dann getroffen werden, wenn die Fragen, die ich Ihnen eben genannt habe, geklärt sind und wenn wir als Forschungsminister - ich hoffe, dass das Parlament genauso entscheidet - über alle relevanten Informationen und Fakten verfügen. Erst dann kann man eine solide, begründete Entscheidung treffen. Darin sind wir uns einig. Ich halte das für ein logisches, rationales und nachvollziehbares Vorgehen. Es wäre falsch, wenn wir erst die Entscheidungen treffen und hinterher die Fragen klären. ({0}) Angesichts dieser Aufgabe - damit lassen Sie mich schließen - ist meine Begeisterung, offen gesagt, gering, mich mit missglückten Versuchen parteipolitischen Schaulaufens zu beschäftigen. Wir sollten uns der Sache widmen. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der nächste Redner ist Kollege Dr. Martin Mayer von der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Martin Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001448, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Energie ist Leben und letztlich von großer Bedeutung für all das, was in der Politik geschieht. Wir hatten heute schon zwei Debatten - die Debatte zum Klimaschutz und die Debatte zu friedlichen Konfliktlösungen -, bei denen es im Wesentlichen um die Energie ging. Wo Energie knapp wird, gibt es Konflikte. Was es für das Leben des Einzelnen bedeuten kann, haben wir schon in den 70er-Jahren gespürt. Auch jetzt haben wir wieder eine Lektion gelernt. Beim Blick auf die Heizkostenabrechnung wird uns mittlerweile schwindelig. ({0}) Die Frage der Energieversorgung ist eine der entscheidenden Zukunftsfragen. Die Statistik zeigt klar: Die westlichen Industrienationen, Europa und die USA, verbrauchen pro Kopf ein Vielfaches der Energiemenge der großen Nationen Indien, China und anderer Länder. Wenn diese Länder - was wir alle hoffen - einmal unseren Wohlstand erreicht haben werden, dann wird es einen enormen Energiebedarf geben. Es entsteht eine riesige Energielücke, die mit den herkömmlichen Mitteln allein nicht geschlossen werden kann - zumindest nicht ohne Kernenergie und eine neue alternative Energie. ({1}) Gleichzeitig ist absehbar, dass die fossilen Energieträger Öl, Gas und Kohle, die wir eigentlich künftigen Generationen als Rohstoffe erhalten sollten, zur Neige gehen. Deshalb ist die Energiefrage eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Da die Beiträge von Solarenergie, Wind, Wasser und Biomasse sowie eine effizientere Energienutzung das Energieproblem allein nicht lösen können, muss eine verantwortungsvolle Energiepolitik, -forschung und -vorsorge auch andere Energiequellen erkunden und erforschen. Eine der möglichen Optionen ist die kontrollierte Kernfusion. Sie könnte die entscheidende Option für eine nachhaltige, sichere und verträgliche Energieversorgung ab der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts sein - bei der Frage des Zeitpunktes stimme ich mit Ihnen überein, Frau Ministerin Bulmahn. Bei der Kernfusion wird der physikalische Vorgang des Verschmelzens von Atomkernen, der in der Sonne natürlich abläuft, auf der Erde künstlich nachvollzogen und technisch zur Energieerzeugung genutzt. Für diese Energiequelle wird weltweit seit vier Jahrzehnten intensive Forschung betrieben. Dabei spielt Deutschland innerhalb Europas eine führende Rolle. Zu nennen sind hier das Max-Planck-Institut in Garching und in Greifswald sowie die Forschungszentren Jülich und Karlsruhe. Die Europäer haben mit dem Fusionsreaktor JET - Joint European Torus - in Culham bei Oxford in Großbritannien weltweit eine führende Rolle. Mit JET wurde bereits kurzzeitig eine Fusionsleistung von 16 Megawatt erreicht. Mit diesem erfolgreichen Experiment haben die Europäer fast den „break even“ erreicht, das heißt, die Fusion liefert schon fast so viel Energie, wie man zum Ingangsetzen des Prozesses braucht. ({2}) Zu diesem Erfolg beglückwünsche ich alle Beteiligten. Ich möchte an dieser Stelle auch allen Wissenschaftlern und Technikern aus Jülich, Karlsruhe, Greifswald und natürlich auch aus Garching - meinem Heimatlandkreis ein sehr herzliches Wort des Dankes sagen. ({3}) Ein wichtiger Schritt, nämlich der Schritt zu einem Energie erzeugenden Plasma, ist nun nicht mehr groß. Im internationalen Fusionsreaktor ITER - Internationaler Thermonuklearer Experimental-Reaktor - wollen die Europäer gemeinsam mit Kanada, Russland und Japan diesen Schritt gehen. Das Konzept für den ITER ist weitgehend fertig; nunmehr geht es um Fragen des Standortes, der Rechtsform und der Finanzierung. Sehr geehrte Frau Bundesministerin, nach dem, was mir der Wind zuträgt, ist es wohl Ihre Absicht, die Prüfungen zu verzögern, um damit Ihren grünen Koalitionspartner zufrieden zu stellen. ({4}) Ich fordere Sie auf, alle diese Fragen einer zügigen Prüfung zu unterziehen. ({5}) Es gab Überlegungen, Greifswald als Standort für ITER vorzuschlagen. Diese wurden aber bald wieder begraben. Aufgrund der sektiererischen Stimmungsmache der Grünen und von Teilen der SPD gegen die Atomkraft im Allgemeinen wäre eine Bewerbung Deutschlands schon im eigenen Land gescheitert. ({6}) Eine Chance für einen Standort in den neuen Bundesländern wurde damit durch die Stimmungsmache der Grünen vertan. Ich halte das für schade, da mit ITER hoch qualifizierte, neue Arbeitsplätze in Greifswald hätten entstehen können. ({7}) Mecklenburg-Vorpommern hätte auf diese Weise ein zukunftsweisendes Forschungs- und Entwicklungsprojekt erhalten. Doch das ist Vergangenheit. Nunmehr geht es um ein neues Projekt. Frau Ministerin Bulmahn, Sie haben vorhin eine Vereinbarung von Frankreich mit der Bundesrepublik zitiert, die zur Amtszeit von Minister Rüttgers getroffen wurde. Sie haben dabei aber unterschlagen - das muss ich Ihnen vorwerfen -, dass es sich bei ITER um ein neues Projekt handelt. ({8}) Es ist sowohl von den Kosten als auch von den Leistungen ein wesentlich reduziertes Projekt, aber es ist nach wie vor ein Projekt, das die notwendigen Forderungen erfüllt. Es gibt inzwischen Überlegungen zur Standortbewerbung aus Japan, Kanada und - neuerdings - auch aus Frankreich. Ein Standort in Frankreich wäre für ganz Europa eine einmalige Chance, die bisher erreichten Erfolge weiterzuführen. ({9}) Ich habe gehofft und hoffe immer noch, dass die Bundesregierung das auch so sieht und die Bewerbung Frankreichs unterstützt. Ich gebe Ihnen insofern Recht, als man vor einer endgültigen Entscheidung viele Fragen - nicht zuletzt Rechtsfragen - prüfen muss. ({10}) Bei Ihnen aber hört sich das so an: Wir prüfen und prüfen und prüfen. Dazu sage ich: Wenn sie nicht gestorben sind, prüfen sie noch heute. Das ist eine reine Verzögerungstaktik. ({11}) Die Entwicklung der Fusionsenergien muss deshalb vorangetrieben werden, weil sie gegenüber anderen Energieträgern eine Reihe von Vorteilen hat: Die Grundstoffe sind in nahezu unbegrenzter Menge verfügbar. Bei der Fusion entstehen - im Gegensatz zur Verbrennung von Kohle, Erdöl und Erdgas - keine Schadstoffe. ({12}) Dr. Martin Mayer ({13}) Bei dem Fusionsreaktor haben wir eine inhärente Sicherheit und wir haben - im Gegensatz zur Kernspaltung - keine abgebrannten Kernelemente. ({14}) Ich streite allerdings nicht ab, dass es auch bei der Kernfusion Probleme gibt. Die Bauelemente würden nach dem Abbau des Reaktors wahrscheinlich eine höhere Radioaktivität aufweisen als die eines Spaltungskraftwerks. Aber das ist im Vergleich zu der radioaktiven Belastung, die von abgebrannten Brennelementen heutiger Kernkraftwerke ausgeht, ein relativ geringes Problem. Ich möchte auch nicht verschweigen, dass es bei der Fusionsforschung das Sonderproblem gibt, wie mit dem radioaktiven Wasserstoff umgegangen werden soll. Aber auch das ist begrenzbar. Die USA beschäftigen sich inzwischen mit vielen Grundsatzfragen der Kernfusion, zum Beispiel mit der Transmutation und mit der Trägheitsfusion. Sie haben mittlerweile andere Schwerpunkte als die Europäer gesetzt. In den USA wird die Fusionsforschung wie auch die gesamte Atomforschung auch unter militärischen Gesichtspunkten gesehen. Außerdem beteiligen sich die USA kaum an Kooperationen und an strategisch bedeutsamen Projekten, wenn sie nicht selbst die Führerschaft haben. Deshalb beteiligen sich die USA nicht mehr an ITER. Aus der Sicht der USA mag das zwar richtig sein. Aber, Herr Fell, es ist abwegig, wenn die Grünen das Ausscheiden der USA aus ITER nunmehr als Argument gegen dieses Projekt verwenden; denn hinter dem Ausscheiden stecken ganz andere Gründe, als Sie vermuten. ({15}) Eine der wichtigsten Fragen bei der Fusionsforschung lautet: Wann wird es so weit sein? Ich teile die Auffassung der Ministerin, dass es wohl noch ein halbes Jahrhundert ({16}) - 50 Jahre! - dauern wird. Umso wichtiger ist es, dass wir bald anfangen und keine Zeit verstreichen lassen. ({17}) Die Einschätzungen sind mittlerweile wesentlich sicherer geworden, weil es schon viele Erfahrungen und Fakten gibt. Ich meine, dass wir letztlich mit der Fusionsforschung einen wichtigen Beitrag zur künftigen Energieversorgung leisten können. ({18}) Die grüne Polemik gegen die Atomkraft hat übrigens auch dazu geführt, dass sich in Deutschland kaum noch jemand mit der Kernkraft und der Ingenieurwissenschaft befasst. ({19}) Der Kanzler wird wohl bald eine neue Green-Card-Initiative für Kernenergieingenieure ankündigen müssen. Wir sollten besser jetzt Zeichen setzen. ({20}) Die Erforschung und Entwicklung der Kernfusion zum Zweck der Energieerzeugung sind eine große Herausforderung, für die wir gerade junge Menschen begeistern sollten. Die Kernfusion ist zwar keine Technik, die heute oder morgen Nutzen bringt. Aber sie ist sehr wahrscheinlich die Technik, die es unseren Enkelkindern ermöglichen wird, genauso gut wie wir zu leben. Ich rufe daher die Regierung auf

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Martin Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001448, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

- nur noch einen Satz -, die kurzfristige Strategie, die nur auf die Tagespolitik abzielt, aufzugeben und auf das Zukunftsprojekt ITER zu setzen. Geben Sie der Kernfusion in Deutschland den notwendigen Rückhalt und kämpfen Sie dafür, dass Europa der Standort für das ITER-Projekt wird! ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege HansJosef Fell.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mich hat heute ein Zitat - Herr Mayer, hören Sie gut zu! - sehr erstaunt, das ich Ihnen jetzt vortragen möchte: Aus prinzipiellen physikalischen Gründen sind in der Fusion keine Unfälle wie beim Kernspaltungsreaktor in Tschernobyl mit katastrophalen Folgen denkbar. ({0}) Ich denke, Sie würden dieses Zitat sicherlich als grüne Polemik bezeichnen; denn es wird behauptet, dass Kernspaltung katastrophale Folgen habe. Wissen Sie, woher ich das Zitat habe? Es stammt aus Ihrem der heutigen Debatte zugrunde liegenden Antrag. Ich begrüße es, dass Sie zu der Erkenntnis gekommen sind, dass die Kernspaltung ein katastrophal schlimmes Problem darstellt. ({1}) - Lesen Sie es doch in Ihrem Antrag nach. Auch Sie, Frau Flach, wollen den Grünen - das ist der Grundgedanke - schon wieder Technikfeindlichkeit unterstellen. ({2}) Dr. Martin Mayer ({3}) Wir sind schon lange nicht mehr technikfeindlich. Auch Sie erkennen allmählich, dass die Techniken, die nach unserer Meinung schon immer verstärkt auf den Markt gebracht werden sollten, wichtig sind. Das sind die Techniken, mit denen sich die erneuerbaren Energien nutzen lassen, die so genannten Effizienztechnologien. Sie aber haben 16 Jahre lang in der Bundesrepublik diese Technologien ganz massiv blockiert. ({4}) Jetzt kommen Sie angesichts der knapper werdenden Ölvorräte darauf, dass die erneuerbaren Energien - aus Ihrer Sicht: möglicherweise - eine Ergänzung sein könnten. Sie können aber in einem weitaus größeren Umfang die Energielücke, von der Sie immer sprechen, schließen. Wir brauchen nicht mehr die Energie aus fossilen Brennstoffen und schon gar nicht die aus Fusions- und Kerntechnologie gewonnene Energie. ({5}) Ich möchte auf diesen Punkt etwas näher eingehen: Die Fusionstechnologie ist nämlich keine Zukunftsoption, wie Sie sagen. Wir haben schon jetzt ein Klimaproblem und auch ein Energieproblem. Mittelfristig werden auch die zur Neige gehenden Ressourcen ein Energieproblem darstellen. ({6}) Für uns muss die Frage wichtig sein, wann die Kernfusion überhaupt zur Verfügung steht. Vor 40 Jahren sagten uns die Fusionsforscher, in 30 bis 40 Jahren werde die Fusion zur Verfügung stehen. Heute sagen die Kernfusionsforscher: ({7}) Vielleicht in 50 Jahren werden wir einen kommerziell betriebenen Reaktor haben. Ich sage in aller Deutlichkeit: Dies ist keine Lösung, die zeitnah angestrebt werden kann. Sie kommt für die drängenden Energieprobleme dieser Welt zu spät ({8}) und sie blockiert die Gelder, die notwendig sind, um die wirklichen Alternativen voranzubringen. ({9}) - Herr Fischer, die Sintflut haben wir schon jetzt. Schauen Sie nach England und auf andere Teile Europas, wo die Regenfälle als Sintflut infolge des Klimaproblems massiv über uns hereinbrechen. Diese vorhandene Sintflut hat sich aufgrund der Nutzung der fossilen Energieträger und des Ignorierens der Klimaprobleme immer mehr verstärkt. ({10}) Herr Mayer, Sie sagten, wir sollten einmal über den Tellerrand hinaus nach den USA schauen. ({11}) Ich will Ihnen anhand der Debatte in den USA einige Punkte deutlich machen. Sie könnten auch Ihre Kollegen fragen. Herr Friedrich, Frau Flach und Frau Pieper - sie ist nicht mehr anwesend - waren mit dem Forschungsausschuss im letzten Herbst in den USA. Wir haben uns dort über das Thema Fusion sachkundig gemacht. Wir hatten ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des Forschungsausschusses, Herrn Sensenbrener, einem Republikaner. Wir haben ihn gefragt, was er von ITER hält. Er hat uns in deutlichen Worten gesagt: ITER ist ein Kind des Kalten Krieges und sollte so schnell wie der Kalte Krieg selbst verschwinden. ({12}) Die USA haben sich längst aus der Technologie verabschiedet, die Sie hier fordern. Es kommt immer das Argument, die USA wollten weiterhin Forschung im Bereich der Fusion betreiben. Die USA, so heißt es, wollen weiterhin in der Laserfusionsforschung vorankommen und die Fusionstechnologie vorantreiben. Ich kann Ihnen sagen, was der Senat kürzlich bei den Haushaltsberatungen beschlossen hat. Die Zweifel des Senats in Bezug auf NIF, das große Laserfusionsexperiment in Lawrence Livermore, für das bis 2008 4 Milliarden US-Dollar investiert werden sollten, sind inzwischen so groß geworden, dass er vor kurzem die im Haushalt bereitgestellten 95 Millionen US-Dollar Fusionsforschungsmittel blockiert hat. Er hat dies aus der Erkenntnis heraus getan, dass es noch zu viele offene Fragen gibt und dass die Laserfusionstechnologie keine sinnvolle Perspektive hat. Die Zweifel in den USA sind groß. Ich rate Ihnen dringend: Beachten Sie die Ergebnisse aus den USA! Wir werden dies tun. Wir werden keinerlei Schnellschüsse machen und schon jetzt einen ITER-Standort für Deutschland festlegen. ({13})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir hatten per Blickkontakt vereinbart, dass keine Fragen mehr zugelassen werden sollen. Die Großdemonstration, die ein außergewöhnliches gesellschaftliches Ereignis ist, beginnt um 16.30 Uhr. Ich denke daher, dass wir die Debatte jetzt zu Ende führen sollten. Herr Kollege, auch Sie müssten bitte zum Schluss kommen.

Hans Josef Fell (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003115, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Dann komme ich zu meinem letzten Satz: Wir sind nicht gegen die Fusionsenergie. Wir wollen den Fusionsreaktor der Sonne massiv nutzen. Die Energien, die sie auf die Erde strahlt, reichen dicke aus. Wir brauchen auf der Erde kein Nachahmen dieser Fusionsenergie. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die PDS-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Eva Bulling-Schröter.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dem Antrag der CDU/CSU und in dem der F.D.P. werden keine Argumente für die Entwicklung und den Bau des Internationalen Thermonuklearen Experimentierreaktors ITER geliefert. Eine Weiterführung der Fusionsforschung wird durch Aufzählung energiepolitischer Allgemeinplätze beschworen. In Form von Spiegelstrichen wird unter anderem genannt - ich zitiere -: „Energieversorgungssicherheit“, „Erhaltung einer lebenswerten Umwelt“, „Erhaltung eines angemessenen Energie-Preis-Niveaus“ und die „Verringerung der ... energiebedingten Spannungspotenziale angesichts der absehbaren Verknappung von Energieressourcen“. - Das ist die eine Seite. Es ist klar, das ist ein Problem; da stimmen wir alle überein. Auf der anderen Seite sollen die sich langfristig abzeichnenden „Herausforderungen des Weltenergieverbrauchs und der Entwicklung in der Dritten Welt“ mit einem „Ausbau der Nutzung erneuerbarer Energien“ und mit der „Weiterführung der Fusionsforschung“ beantwortet werden. Das in den Anträgen von F.D.P. und CDU/CSU skizzierte Langfristszenario ist unserer Meinung nach falsch. In diesen Anträgen wird ein entscheidender Schritt ausgelassen, nämlich der, dass am Anfang aller langfristigen Überlegungen der Gedanke des Umbaus aller wirtschaftlichen Vorgänge hin zu einer Ressourcen schonenden Produktion und Verteilung stehen muss. Dieser Schritt ist unabdingbar und der wichtigste von allen daraus folgenden. Denn auf ein Business-as-usual-Szenario mit unreguliertem Wachstum der Weltenergieverbräuche gibt es nach allem, was wir heute im Hinblick auf die begleitenden stofflichen Folgen des Anwachsens von Energieverbräuchen abschätzen können, schlicht keine Antwort. Darüber diskutieren wir auch in der Enquete-Kommission „Energie“. Dabei sind Klimaveränderungen durch die Verfeuerung von Kohlenwasserstoffen nur ein Problem unter anderen. Sie erhoffen sich von Kernfusionsreaktoren unerschöpfliche Energien. Optimisten rechnen frühestens in 30 Jahren mit der Fertigstellung eines Prototyps eines leistungsstarken Fusionsreaktors. Ein nennenswerter Beitrag zur Stromerzeugung dürfte danach allerfrühestens in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts möglich sein. ({0}) - Doch, natürlich tun wir das. Ich bin ja Mitglied der entsprechenden Enquete-Kommission. Wir diskutieren darüber. Nun stellen Sie sich einmal nur für einen kurzen Moment das Fortbestehen der heutigen Produktion in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts in seiner globalen Dimension vor: Die Reichtumsschere zwischen den Industrienationen und der heutigen so genannten Dritten Welt würde so extreme Ausmaße angenommen haben, dass bei der Lösung von Energiefragen an gemeinsame Strategien überhaupt nicht mehr zu denken wäre. Nach heutigen Kenntnissen können allein die regenerativen Energien Sonne, Wind, Geothermie, etwas Wasserkraft und Biomasse die Basis einer gemeinsamen weltweiten Energieerzeugung abgeben. Für den erfolgreichen Ausbau dieser Technologien werden allenfalls lokale und regionale Netze benötigt und keine Stromtrassen kontinentalen Ausmaßes. Das heißt, wir wollen dezentrale Energien. Wir lehnen - leider ist meine Redezeit fast abgelaufen; ich kann das nicht mehr genauer ausführen - die Fortsetzung der Fusionsforschung auf dem bestehenden Niveau ab. Weder sollte sich die Bundesregierung weiterhin am ITER-Projekt beteiligen noch seine Errichtung in Deutschland anstreben. Danke. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Ulrich Kasparick für die SPDFraktion.

Ulrich Kasparick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003158, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Flach, ich beziehe mich auf die Begründung Ihres Antrages. Sie haben festgestellt, die Fusionsenergie sei eine zentrale Option zur Energieversorgung des 21. Jahrhunderts. Als ich diese Begründung hörte, dachte ich an den schönen Spruch: Wenn die Katze ein Pferd wäre, dann könnte man die Bäume hinaufreiten. ({0}) Denn jeder, der etwas von der Materie versteht, weiß: Im Hinblick auf die Energieversorgung ist diese Option die teuerste und die ineffektivste Lösung überhaupt. ({1}) Deshalb hat diese Regierung, die Ihre Regierung abgelöst hat, in der Koalitionsvereinbarung eine kleine Sensation festgelegt. Diese kleine Sensation wird meist überlesen. In unserem Koalitionsvertrag steht: Diese Regierung räumt der Effizienzsteigerung Vorrang vor neuen Energiegewinnungstechniken ein. ({2}) In diese Richtung gehen wir. Diese Regierung sorgt dafür, dass wir das Geld intelligenter ausgeben, dass wir mit den erheblichen Mitteln, die der ITER kosten würde, vor allen Dingen auf dem Arbeitsmarkt erhebliche Effekte erzielen können. Deswegen ist die Linie der Regierung völlig richtig. Wir sagen, wir machen mit der Grundlagenforschung bei der Kernfusion genauso wie in der Physik und der Mathematik weiter. Aber als Energieerzeugungs- und -versorgungsoption ist diese zu teuer und zu ineffektiv, weshalb die Franzosen und die Deutschen zusammen die Kommission bitten werden, diesen Sachverhalt noch einmal sehr genau zu prüfen. Auch der Kanzler hat in Greifswald noch einmal darauf aufmerksam gemacht, dass die Option neu zu prüfen und zu bewerten sei. Genau dies muss jetzt erfolgen. Ich möchte Ihnen noch eine Zahl mitgeben. In der Vorgängerregierung wurde der Wirtschaftsminister von der F.D.P. gestellt. Es gibt ein Gutachten des Wirtschaftsministeriums von 1997. Darin steht, dass nach den vorliegenden Untersuchungen die unausgenutzten Potenziale zur rationellen Energiewandlung und zum Einsatz erneuerbaren Energien aus Sicht der Technik schon heute ausreichend sind, um die Energieversorgung Deutschlands sicherzustellen. ({3}) Das bedeutet, dass wir die Option Fusionsenergie zur Energieversorgung überhaupt nicht benötigen. ({4}) Die jetzigen unausgenutzten Potenziale genügen, um die Energieversorgung sicherzustellen. Allein die stärkere Nutzung der rationellen Energiewandlung bringt uns 50 bis 60 Prozent des gegenwärtigen Endenergieverbrauchs. In diese Richtung muss der Weg gehen. Wir haben in den eigenen Reihen führende Politiker, die die Energiedebatte weit vorangebracht haben. Ich erinnere an Ernst Ulrich von Weizsäcker mit dem Buch „Faktor 4“. Das Stichwort heißt „Effizienzsteigerung“, denn dadurch gibt es neue Jobs. Letzter Punkt: Neue Energietechnologien müssen sich auf den internationalen Märkten behaupten. Gerade dann, wenn man eine Technologie entwickeln möchte, die auch in der Dritten Welt angewendet werden kann, sieht man schon allein bei einem Blick auf die Kosten, dass der ITER diese auf keinen Fall sein kann. ({5}) Wir brauchen vielmehr kleine, preiswerte Lösungen. Diese liegen im Bereich der Energiespartechnologien. Diesen Weg haben wir beschritten und den werden wir weiter gehen. Das Energieforschungsprogramm der neuen Bundesregierung geht genau in diese Richtung. Hierfür hat die Regierung die volle Unterstützung des Parlaments. Schönen Dank. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/3813 und 14/4498 an die in der Tagesordnung ausgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, die Mitglieder des Bundestages werden geschlossen an der heutigen Großdemonstration zum Thema „Wir stehen auf für Menschlichkeit und Toleranz“ teilnehmen. Deshalb sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Dies war interfraktionell vereinbart worden. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 10. November, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.