Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 10/27/2000

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Peter Rauen.

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Eichel, Sie haben uns im Zusammenhang mit der Ökosteuer eben vorgeworfen, wir wollten die Politik der 70er-Jahre wiederholen. Das wollen wir natürlich nicht. Soweit ich mich erinnern kann, standen damals nicht wir, sondern die SPD in der Regierungsverantwortung. Es war die Union, die in den 80erJahren die Einführung des Katalysators durchgesetzt und Bundesminister Hans Eichel maßgebliche Erfolge bei der Verhütung von Schadstoffemissionen in der Industrie zustande gebracht hat. ({0}) Wir wollen die Politik der 70er-Jahre nicht wiederholen. Ihr Versuch, die gute konjunkturelle Entwicklung Punkt für Punkt der Arbeit der Regierung zuzuschreiben, ist ohnehin bemerkenswert. ({1}) Es ist gut, dass wir in Deutschland ein anständiges Wachstum haben. Das ist wichtig für die Arbeitsplätze und es verbessert die Einnahmen des Staates. Bei genauerem Hinsehen stellt man allerdings fest, dass einiges doch sehr relativiert werden muss. Die Weltkonjunktur ist gut. In den USA betrug das Wirtschaftswachstum 5,3 Prozent. Da nehmen wir uns doch recht bescheiden aus. Im Euro-Raum ist das Bruttoinlandsprodukt im ersten Halbjahr 2000 um 3,5 Prozent gewachsen. Auch hinter diesem Wert bleiben wir zurück. Deutschland war über Jahrzehnte die Wachstumslokomotive in Europa. Wir sind unter Ihrer Regierung in dieser Beziehung zum Fußkranken Europas geworden. ({2}) Es ist unverkennbar, dass mit den Wachstumsprognosen einige Risiken für Deutschland verbunden sind. ({3}) Denn das Wachstum der vergangenen Monate war erheblich begünstigt durch den zwischenzeitlich auf bis zu 83 Cent gefallenen schwachen Euro, durch das starke wirtschaftliche Wachstum in wichtigen Exportmärkten - es lässt inzwischen wieder nach -, durch gestiegene Privatvermögen aufgrund steigender Aktienkurse, die wegen des damit verbundenen Vermögenseffektes einen höheren Konsum ermöglichen, durch eine vorübergehend euphorische Aufbruchstimmung in der New Economy und bei Neugründern, durch vorgezogene Investitionen von Unternehmen aufgrund der Verschlechterung der steuerlichen Abschreibungsbedingungen ab dem 1. Januar 2001 und durch eine viele Monate anhaltende expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, die den Eckzins bis auf 2,5 Prozent gesenkt hatte. Mit diesen Effekten können wir auf Dauer nicht rechnen. Diese Risiken - sie könnten die Annahmen der Forschungsinstitute zunichte machen - sollten bei allem Optimismus nicht unterschätzt werden. Die deutsche Volkswirtschaft zahlt in diesem Jahr für die Ölrechnung 33 Milliarden DM mehr als noch im Jahr 1999. Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank ist nach einer Reihe von Zinserhöhungen derzeit nur noch auf einem neutralen Kurs. Weitere Zinserhöhungen drohen, wenn das Geldmengenwachstum nicht abflacht und wenn der Kurs des Euro noch weiter fällt. Ich halte es im Übrigen für äußerst problematisch, dass der Bundeskanzler selbst den Euro mit seinen Bemerkungen schwachgeredet hat. Natürlich begünstigt die schwache Währung den Export und das Wachstum; dafür importieren wir jedoch Inflation. Versäumte Strukturreformen führen dazu, dass später umso schmerzhaftere Eingriffe erforderlich werden. Es besteht ein Risiko hinsichtlich der anstehenden Lohnforderungen der Gewerkschaften. Wenn sich die gestiegenen Energiepreise Anfang nächsten Jahres in Nachzahlungen und steigenden Abschlagszahlungen im Bereich der Mietnebenkosten bzw. der Energieverbrauchskosten der privaten Haushalte niederschlagen, wenn die nächste Erhöhung der Ökosteuer am 1. Januar 2001 kommt, ist es nicht unrealistisch, mit Forderungen nach Nachschlagzahlungen und höheren Löhnen seitens der Gewerkschaften zu rechnen. ({4}) Das wirtschaftliche Wachstum in der Bundesrepublik ist unausgewogen. So bleibt die Konjunktur der wichtigen Bauwirtschaft nach wie vor ausgesprochen schwach. Neben dem niedrigen Volumen im öffentlichen Bau führen die abgesenkten Einkommensgrenzen für die Eigenheimzulage, die eingeschränkte Verlustverrechnungsmöglichkeit und der Unfug durch den neuen § 2 b EStG zu einem starken Rückgang beim Eigenheimbau und beim Mietwohnungsbau. Die durch den schwachen Euro verursachten Zinserhöhungen, die Diskussion um die Höherbewertung des Grundbesitzes bei der Erbschaftssteuer und die Unsicherheit bei der Altersvorsorge verschärfen die Problematik. Besonders dramatisch ist die Lage der Bauwirtschaft in den neuen Bundesländern. Herr Minister, Sie führen immer wieder die Erfolge auf dem Arbeitsmarkt an. Hier muss man allerdings einmal genauer hinschauen: Die Erwerbstätigenstatistik verzeichnete in der letzten Zeit erhebliche Zuwächse an Erwerbstätigen. Nach der neuesten Statistik lag die Zahl der Erwerbstätigen in der ersten Jahreshälfte 2000 um 630 000 höher als im Vorjahr. Davon sind 530 000 Personen reine statistische Umbuchungen aufgrund der im April 1999 eingeführten Sozialversicherungspflicht für ausschließlich geringfügig Beschäftigte. ({5}) Sie werden jetzt mitgezählt, was vorher nicht der Fall war. Mehr gearbeitet wird deshalb aber in Deutschland nicht. ({6}) Der tatsächliche Zuwachs an Arbeitsplätzen betrug in den gesamten sechs Monaten gerade einmal 100 000 Erwerbstätige. Dies ist angesichts des starken wirtschaftlichen Wachstums in dieser Periode zu wenig. Die Zeitschrift „Wirtschaftswoche“ bemerkt dazu kritisch: Der Rentner, der sich etwas hinzuverdient, die Hausfrau, die ihr Haushaltsgeld durch Putzen aufbessert, die Studentin, die in der Kneipe jobbt, sie alle gelten auf einmal genauso als Erwerbstätige wie der MaloPeter Rauen cher im Stahlwerk, der Uniprofessor oder Angestellte. ({7}) Das Ganze ist ein plumper statistischer Trick. Mit mehr Beschäftigung hat das nichts zu tun. ({8}) Durch diese neue Berechnungsmethode fiel die Erwerbstätigkeit im Durchschnitt des Jahres 1999 um 1,8 Millionen Personen höher aus als gemäß alter Statistik bisher ausgewiesen; im ersten Vierteljahr 2000 gibt es immerhin eine Differenz von 2,2 Millionen Personen. Sicher, der Arbeitsmarkt entspannt sich, die Arbeitslosenzahlen gehen zurück. Dies ist aber kein Erfolg Ihrer Politik. ({9}) Es ist die Konsequenz aus der Tatsache, dass aufgrund der demographischen Entwicklung mehr Arbeitnehmer in den Ruhestand treten, als junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt hinzustoßen. ({10}) Schon im April 1999 haben die wirtschaftswissenschaftlichen Institute festgestellt, dass in den Jahren 1999 und 2000 das Erwerbspersonenpotenzial um 520 000 zurückgehen wird. ({11}) Einerseits rechnet diese Regierung die Erwerbstätigkeit also künstlich hoch. Andererseits beruhen ihre Arbeitsmarkthoffnungen im Wesentlichen darauf, dass möglichst viele ältere Arbeitnehmer in Rente gehen. In Wahrheit hat sich auf dem Arbeitsmarkt viel zu wenig geändert. Es sind dringend Strukturreformen erforderlich. Dies fordern nicht nur wir, sondern auch die OECD und der Internationale Währungsfonds. Meine Damen und Herren, Herr Minister Eichel, Sie feiern immer selbst Ihre eigenen Konsolidierungserfolge. ({12}) - Herr Poß, wenn Sie eine Frage stellen, dann kann ich sie Ihnen beantworten. - Der Rückgang der Nettokreditaufnahme in den letzten Jahren ist allerdings nur zum geringeren Teil auf Ihre Sparsamkeit zurückzuführen. Während Theo Waigel die Ausgaben des Bundes in den Jahren 1993 bis 1998 per saldo konstant gehalten hatte - ich darf die Zahl einmal nennen: 1993 457,5 Milliarden DM, 1998 456,9 Milliarden DM -, ({13}) hat Ihr unmittelbarer Vorgänger Lafontaine vor allem erst einmal die konsumtiven Ausgaben kräftig gesteigert. Was Sie unmittelbar nach Ihrem Amtsantritt als großes Sparprogramm verkauft haben, war im Wesentlichen die Kompensierung der von Lafontaine verteilten Wohltaten. Der Hauptgrund, weshalb Sie heute mit einer geringeren Nettokreditaufnahme auskommen, liegt in dem starken Anstieg der Steuereinnahmen. Dieser starke Anstieg ist zum einen eine Folge der günstigen Konjunkturentwicklung, zum anderen hängt er mit dem Auslaufen der Sonderabschreibungen für die neuen Bundesländer zusammen. Sie verkennen immer wieder die Tatsache, dass es in den Jahren 1994, 1995, 1996 und 1997 Finanzämter gab, die mehr Steuern erstatteten, als Einnahmen da waren. Das hat mit der deutschen Einheit zu tun. Mit dem Auslaufen dieser Sonderabschreibungen ist zwangsläufig auch ein höherer Steuereingang einhergegangen. ({14}) Schließlich ist ein Teil der in diesem Jahr bereits erzielten und für das kommende Jahr zu erwartenden Mehreinnahmen auf den Anstieg der Geldentwertungsrate zurückzuführen. Während Sie noch in der Steuereinschätzung vom Mai von einer Inflationsrate von 0,7 Prozent ausgegangen sind, liegen wir aktuell bei 2,5 Prozent und werden im Jahresdurchschnitt wahrscheinlich bei 1,8 Prozent bis 1,9 Prozent landen. Allein durch diese höhere Inflationsrate werden in diesem Jahr 8 Milliarden DM bis 10 Milliarden DM mehr in die öffentlichen Kassen gespült. ({15}) - Natürlich, es ist ein Entzug der Kaufkraft. Herr Eichel, wenn Sie immer wieder behaupten, dass diese Steuerreform unsere Binnenkonjunktur langfristig stärken wird, muss ich Ihnen sagen: Mit dieser Steuerreform wird der Mittelstand in Deutschland nicht erreicht. ({16}) Wer mit einer Reform den Mittelstand nicht erreicht, wird auch keine durchschlagenden Erfolge auf dem Arbeitsmarkt zu verzeichnen haben. ({17}) Ein Weiteres: Diese Entlastungsstufen kommen viel zu spät. Ich habe es mehrmals gesagt und es ist bisher nicht widerlegt worden: Es ist eine Tatsache, dass ein Arbeitnehmer, der in den nächsten fünf Jahren eine Lohnerhöhung von 2,5 bis 3 Prozentpunkten hat, trotz der nächsten Stufen der Steuerreform und damit eines Steuersatzes von 42 Prozent im Jahre 2005 prozentual mehr Steuern zahlen wird als im Jahr 2001. ({18}) Sie geben den Menschen durch die einzelnen Stufen auf lange Sicht lediglich das zurück, was ihnen durch die kalte Progression vorher weggenommen wird. ({19}) Das ist für die Arbeitsmarktentwicklung und für die Konjunktur von großem Nachteil. Herr Eichel, in allen Ländern, wo durch eine Steuerreform anschließend auch Wachstum und Beschäftigung angestiegen sind, war Voraussetzung, dass damit eine moderate Lohnpolitik einhergegangen ist. Die Tarifpartner können nur zu einer moderaten Lohnpolitik kommen, wenn die Arbeitnehmer durch eine wirkliche und zeitnahe Reform entlastet werden. Dies geschieht durch Ihre Reform nicht. Das wird der entscheidende Schwachpunkt für die Binnenkonjunktur in den nächsten Jahren sein. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert zur Stärkung der Binnenkonjunktur und für ein stabiles Wachstum eine Nachbesserung der Steuerreform zugunsten der mittelständischen Unternehmen und ein Vorziehen der nächsten Stufen der Steuerreform in das nächste und übernächste Jahr ({20}) sowie weitere Schritte zur Senkung der Staatsquote, der Steuer- und Abgabenquote und - wie auch in unserem Antrag gefordert - die Senkung des Beitragssatzes zur gesetzlichen Arbeitslosenversicherung um 0,5 Prozent. Wir fordern ferner geeignete Schritte zur Flexibilisierung und Modernisierung des Arbeitsrechts. Hierbei sagen wir auch in der Zeit der Globalisierung ein klares Ja zur sozialen Partnerschaft. Wir fordern den Abbau und die Modernisierung verkrusteter Regelungen, die die Wirtschaft behindern und nicht mehr in das 21. Jahrhundert passen. ({21}) Es ist schon bemerkenswert, dass Bundeskanzler Schröder selbst das Ladenschlussgesetz nicht mehr anpacken will. Zur Vorlage eines schlüssigen Konzeptes für die Energie- und Umweltpolitik gehört eine bessere Abstimmung zwischen Energie- und Umweltpolitik sowie die Aufhebung der Ökosteuer, die gescheitert ist. ({22}) Von einer konsequenten Wirtschafts- und Finanzpolitik ist diese Bundesregierung meilenweit entfernt. Die scheinbar gute Konjunktur täuscht darüber allenfalls hinweg. Mit der missratenen Steuerreform hat sich der Reformwille dieser Bundesregierung offenbar erschöpft. ({23}) Notwendige Reformen am Arbeitsmarkt, in der gesetzlichen Krankenversicherung, in der Arbeitslosenversicherung, bei der Arbeitslosenhilfe und bei der Sozialhilfe: alles Fehlanzeige. Der Spagat zwischen der von der Regierung entdeckten „neuen Mitte“ und dem Versuch, es allen recht zu machen, wird Ihnen auf Dauer nicht gelingen. ({24})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Abgeordneter, ich muss Sie auf die abgelaufene Redezeit hinweisen.

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja. Diese Regierung will alles gleichzeitig. Sie gibt vor, zu modernisieren, und ist gleichzeitig dabei, wieder kräftig zu reglementieren. Populismus und Beliebigkeit sind mit einer zukunftsgerichteten Politik im Interesse Deutschlands unvereinbar. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Poß, bevor ich Ihnen das Wort gebe, muss ich Sie dringend ermahnen: Mentale Schädigungen anderen Mitgliedern hier im Parlament zu unterstellen entspricht nicht dem parlamentarischen Brauch. ({0}) - Dann werde ich Sie noch einmal ermahnen, dass die Präsidentin nicht kritisiert gehört, jedenfalls nicht, solange ich hier oben sitze. ({1}) Jetzt haben Sie das Wort.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin, ich habe Sie nicht kritisiert, ich habe nur festgestellt, dass wir das anhand des Protokolls klären werden. Das werden Sie doch wohl hinnehmen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Poß, ich erteile Ihnen jetzt einen Ordnungsruf. ({0})

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin, das ändert nichts daran, dass wir das anhand des Protokolls klären werden. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen. ({0}) - Wissen Sie, Herr Ramsauer, ich bin dafür, dass man das sachlich klärt. Wenn ich etwas gesagt habe, was nicht in Ordnung ist, nehme ich das gerne hin. Ich bin nur dafür, dass man das in der Sache feststellt. ({1}) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich verstehe, dass sich Herr Rauen vorhin so schwer getan hat. Herr Rauen, ich muss Ihnen bescheinigen, dass es Ihnen gelingt, die Ideenarmut Ihrer Politik besonders anschaulich zu machen. Das haben Sie heute Morgen deutlich gezeigt. Ihre Aussagen stehen in krassem Gegensatz zu den Ausführungen des Herbstgutachtens der Wirtschaftsforschungsinstitute. Die zentrale Botschaft dieses Gutachtens lautet: Konjunktur und wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland zeigen weiterhin stetig nach oben, wenn auch mit - zugegeben - leicht verringerter Dynamik. Der anhaltend hohe Ölpreis führt zu einem Transfer von Kaufkraft in Milliardenhöhe von Deutschland zu den Erdöl exportierenden Ländern und Unternehmen. Trotzdem wird es keine Einbrüche in der wirtschaftlichen Entwicklung geben. Das Problem, mit dem wir es heute Morgen zu tun haben, ist, dass Ihnen diese Botschaft nicht passt. ({2}) Die Forschungsinstitute machen in ungewöhnlicher Deutlichkeit klar, woran das liegt. Es sind die von uns durchgesetzten massiven steuerlichen Entlastungen, die dafür sorgen, dass die Wirtschaft auf Kurs bleibt, und zwar mit einer beachtlichen Steigerung des Bruttoinlandsprodukts um 2,7 Prozent auch im Jahre 2001. Die Arbeitslosenquote sinkt auf 8,5 Prozent und das Preisniveau bleibt stabil. Das sind positive Botschaften, die von den Menschen in Deutschland durchaus registriert werden, und zwar trotz Ihres Geredes. ({3}) Die ökonomischen Aussichten sind gut, aber Sie versuchen das aus machtpolitischem Kalkül kaputt zu reden. In diesem Zusammenhang möchte ich insbesondere die Herren Austermann und Merz auf eine wesentliche Aussage im Herbstgutachten hinweisen. Die Gutachter weisen detailliert nach, dass die regierende Koalition die Bürgerinnen und Bürger im Jahre 2001 bei den Steuern und Sozialabgaben insgesamt um 46,4 Milliarden DM entlastet. Dabei ist besonders bedeutsam, dass das Aufkommen der Ökosteuer hierbei bereits abgezogen worden ist. Das bedeutet eine Entlastung von knapp 50 Milliarden DM für alle Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik Deutschland, und zwar entgegen Ihrem Gerede und Ihren Täuschungen. ({4}) Wer jetzt noch behauptet, die Steuer- und Abgabensenkungen würden durch die Ökosteuer aufgezehrt, der handelt unredlich und täuscht bewusst die Öffentlichkeit. Daher kann ich jedenfalls verstehen, dass ein Mensch wie Herr Polenz für eine Oppositionspolitik, die sich in gezielten Unwahrheiten und platten Parolen erschöpft, nicht mehr zur Verfügung steht. Der neue Generalsekretär der CDU, Herr Meyer - der „Säbel“ - ist uns aus NordrheinWestfalen als Spezialist für das Täuschen und Verdrehen von Tatsachen sattsam bekannt. Auch dafür ist der Mann von Frau Merkel geholt worden. Die Forschungsinstitute sprechen von „kräftigen Impulsen durch die Steuerreform“ und formulieren: Vor allem aber werden die privaten Haushalte und Unternehmen durch die Verringerung der Einkommensteuersätze und die Reform der Unternehmensbesteuerung deutlich entlastet. ({5}) - Nein, im Jahre 2001! Sie haben das Konjunkturgutachten offenbar gar nicht gelesen, lieber Kollege. Niemand wird bestreiten, dass ein anhaltender hoher Ölpreis die Entwicklung der wirtschaftlichen Dynamik dämpft. Aber durch den von uns eingeleiteten Politikwechsel ist die Lage der Bundesrepublik Deutschland schon heute wesentlich stabiler als noch zu Ihrer Zeit. Selbstverständlich bleibt noch viel zu tun. Der Bundesfinanzminister hat zu Recht auf die schwierige Situation in Ostdeutschland hingewiesen. Durch das im Sommer verabschiedete Steuersenkungsgesetz und das Steuersenkungsergänzungsgesetz haben Investoren und Unternehmen in Deutschland die notwendigen steuerlichen Rahmenbedingungen. Damit können wir uns in Europa und auch weltweit sehen lassen. ({6}) Die große internationale Beratungsgesellschaft Arthur Andersen - das steht im Gegensatz zu dem, was Sie gesagt haben, lieber Herr Kollege Rauen - hat in einem Gutachten für das „Handelsblatt“ erst kürzlich festgestellt: Alle Unternehmen werden unabhängig von ihrer Rechtsform durch das Steuersenkungsgesetz und seine Ergänzung deutlich entlastet. Das gelte vor allem für den Mittelstand. Nehmen Sie das doch einmal zur Kenntnis! ({7}) Auch das beweist, dass Ihr Vorwurf, der Mittelstand werde durch unsere Steuerpolitik benachteiligt, schlicht absurd ist. Das Gegenteil ist richtig: Der Mittelstand ist ein großer Gewinner unserer Steuerpolitik. Ich wiederhole: In Ihrer Verantwortung ist die Schieflage zulasten des Mittelstandes entstanden. Wir korrigieren nun diese Schieflage zugunsten des Mittelstandes. ({8}) Wir erwarten natürlich auch, dass Unternehmen und Investoren die sich jetzt bietenden Chancen und günstigen Bedingungen tatsächlich nutzen, um verstärkt in Deutschland zu investieren und so Arbeitsplätze zu schaffen. Als wir die Regierungsverantwortung übernahmen, haben wir für eine grundlegende Trendwende in der Steuerpolitik gesorgt - diese war auch überfällig -, um die ökonomischen Herausforderungen der Zukunft bestehen zu können. Jetzt gilt es, die Infrastrukturdefizite, die Sie hinterlassen haben, zu beseitigen. Das tun wir mit unserem Zukunftsinvestitionsprogramm, das ein Volumen von 15 Milliarden DM hat. Die Öffentlichkeit weiß doch gar nicht, was Sie hinterlassen haben, wie zum Beispiel der wahre Zustand der Bahn ist. Wir unterstützen die Bahn jährlich mit 2 Milliarden DM und verbessern so Stück für Stück ihren Zustand. ({9}) Ich verspreche Ihnen: Wir werden über Ihre Hinterlassenschaften noch weiter im Bundestag diskutieren. Die eigentliche Bestandsaufnahme ist noch gar nicht gemacht worden. Sie haben nicht nur bei den steuerlichen RahmenJoachim Poß bedingungen, sondern auch bei der Infrastruktur total versagt. Auch das packen wir an. Das unterscheidet unser Handeln von dem, was Sie gemacht haben. Mit der außerplanmäßigen Schuldentilgung in Höhe von fast 100 Milliarden DM verfolgen wir einen Kurs strikter und konsequenter Haushaltskonsolidierung. Wie sah es bei Ihnen aus? Jahr für Jahr wuchs der Schuldenberg. ({10}) Jahr für Jahr mussten Sie sogar bangen, ob Sie überhaupt einen der Verfassung entsprechenden Haushalt aufstellen können. Sie haben die finanzielle Handlungsfähigkeit des Bundes untergraben. Wir müssen diese jetzt mühsam wieder herstellen. So sieht die Situation aus. ({11}) Deswegen werden wir den Konsolidierungspfad konsequent verfolgen, und zwar auch in den nächsten Jahren. Dazu gibt es im Übrigen keine Alternative. Die Struktur dieses Zukunftsinvestitionsprogramms macht deutlich, dass wir zwei Ziele gleichzeitig verfolgen. Wir wollen einerseits das Wirtschaftswachstum verstetigen und andererseits die Strukturen von Produktion und Konsum moderner und zukunftsfähiger machen. Voraussichtlich gut die Hälfte dieser 15 Milliarden DM wird in ökologische Verkehrsstrukturen, in Energieeinsparprogramme und in die Erforschung regenerativer Energiesysteme gehen. Auch die Forschungsinstitute sagen in ihrem Herbstgutachten klar, dass die Anstrengungen erhöht werden müssen, um die Abhängigkeit vom Öl in Deutschland noch weiter zu verringern. Wir machen das, und zwar konkret mit diesem Zukunftsinvestitionsprogramm. ({12}) Es ist ja nicht zu bestreiten, dass in dieser Politik weg vom Öl auch ein großes Beschäftigungspotenzial liegt. Ich möchte an dieser Stelle Herrn Töpfer zitieren. Er sagte in einem Interview in der „Zeit“: Es ist nicht sinnvoll, die Ökosteuer als K.o.-Steuer zu bezeichnen. ... ich sehe mit Besorgnis, in welchen Misskredit ein sinnvolles Instrument gerät. Diese Äußerungen sind deshalb bemerkenswert, weil hier ein früherer Umweltminister, auch nachdem er sein Amt verlassen hat, seine Überzeugung nicht nach dem Wind dreht. Ganz im Unterschied dazu hat Frau Merkel ihren Wechsel in das Amt der Parteivorsitzenden der CDU mit einem grundlegenden Gesinnungswandel in der Umweltpolitik verbunden. Damit hat sie sich völlig um ihre Glaubwürdigkeit gebracht. ({13}) Aber mehr noch - und das ist wohl auch die Sorge von Herrn Töpfer -: Mit der CDU verhält sich eine Volkspartei mit Blick auf die nachfolgenden Generationen vollkommen verantwortungslos. ({14}) Das unterscheidet uns - die Menschen müssen auch wissen, wo die Unterschiede zwischen den Parteien liegen; denn es heißt ja, die Unterschiede würden verschwinden -: Wir Sozialdemokraten stehen für Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit. Sie stehen für blanken Egoismus. ({15}) Sie tun so, als hätten Sie keine Kinder und Enkel. Das machen Sie - das ist bedauerlich - wider besseres Wissen. Wir erleben derzeit die Verwandlung einer konservativen Volkspartei in eine populistische Rechtspartei. Das ist das Bedenkliche in der Bundesrepublik Deutschland. ({16}) Nachdem wir also die Schulaufgaben in den ersten zwei Jahren konsequent angepackt haben, werden wir uns jetzt noch stärker mit der Tatsache beschäftigen, dass unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft immer abhängiger von internationalen Entwicklungen werden. Immer stärker werden weltweit zum Beispiel die Rolle und das Verhalten der internationalen Finanz- und Devisenmärkte diskutiert, und das mit Recht. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass es ausgehend vom Verhalten internationaler Akteure sowie ausländischer Staaten und Institutionen zu Störungen der deutschen Wirtschaft kommen kann. Der Bundesfinanzminister hat zum Euro das Richtige gesagt: Die Entwicklung ist zum großen Teil irrational. Wir haben eine gesunde ökonomische Basis. Also: So wichtig nationale Reformen sind, immer wichtiger wird eine stärkere europäische und internationale Koordination und Zusammenarbeit. Unser Ziel als Sozialdemokratie ist, dass wir in Fragen der europäischen und internationalen Finanzpolitik nun wirklich dafür sorgen - die Bundesregierung ist auf dem Wege dahin -, Europa handlungsfähig zu machen. Europa muss auf diesem Markt Akteur werden; wir dürfen nicht länger Spielball in diesem Hin und Her bleiben, das wir tagtäglich erleben. Ich denke, das ist ein gutes Ansinnen für die zweite Hälfte unserer Legislaturperiode. Wir haben bisher nicht alles geschafft, was Sie uns nach 16 Jahren hinterlassen haben. Helmut Schmidt hat zu Recht einmal auf dem Leipziger Bundesparteitag der SPD gesagt: Man braucht eigentlich zwei Legislaturperioden, um die Fehlentwicklungen, die Sie zu verantworten haben, zu korrigieren. - Wir sind dabei, dies zu tun. ({17}) Dabei werden wir uns jetzt auch noch viel stärker um das kümmern, was international in Ordnung gebracht werden muss. Vielen Dank. ({18})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Rainer Brüderle.

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Konjunkturhimmel verdunkelt sich. BDI und Mittelstand warnen vor einer Verschlechterung der Konjunktur. Die Forschungsinstitute geben ihre Prognosen nur unter Vorbehalt ab, weil die Anzeichen für eine Abschwächung des Wachstums deutlicher werden. Der ifo-Index für das Geschäftsklima ist zum vierten Mal hintereinander zurückgegangen. Die Preise steigen. Die Binnennachfrage ist mangels privater Kaufkraft nach wie vor schwach. Der Euro kränkelt immer stärker. Es ist übrigens bezeichnend, dass der Wirtschaftsminister an dieser Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht gar nicht teilnimmt. ({0}) Das dokumentiert die Bedeutungslosigkeit dieses Ministeriums. Ich muss daher sagen - das hat nichts mit einer mangelnden Würdigung der Arbeit von Herrn Mosdorf zu tun -: Ein Wirtschaftsminister, der bei der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht nicht anwesend ist, ist eigentlich überflüssig. Vielleicht bereitet er sich auf den Ruhestand vor. ({1}) Die direkten und indirekten Interventionen der EZB sind an den Devisenmärkten verpufft, weil bei den großen EU-Ländern, Deutschland, Italien und Frankreich, kein abgestimmter Politikwechsel hin zu mehr Flexibilität auf den Arbeits- und Gütermärkten stattgefunden hat. Jetzt soll dem Zentralbankpräsidenten Duisenberg der schwarze Peter zugeschoben werden. Er ist mit seinen unglücklichen Äußerungen vielleicht für eine Abschwächung von drei Cent verantwortlich. Aber die Politik in Deutschland, Frankreich und Italien ist für eine Abschwächung von 30 Cent verantwortlich. ({2}) Als größte Volkswirtschaft im Euro-Raum trägt Deutschland die größte Verantwortung an der Euro-Misere. Aus der einzigen früheren Konjunkturlokomotive Europas ist eher ein Schlafwagen geworden. Beim Wirtschaftswachstum liegt die Bundesrepublik auf dem vorletzten Platz der elf Euro-Länder. Von der angebotsorientierten Agenda aus dem Schröder/Blair-Papier hinsichtlich Unternehmertum, Verbesserung der Investitionsneigung, Flexibilität der Arbeits- und Gütermärkte ist nichts mehr zu hören und schon gar nichts mehr zu sehen. Die Untätigkeit der Bundesregierung wird von den Devisenmärkten mittlerweile als bewusste Abwertungsstrategie interpretiert. Das beschleunigt den Sinkflug des Euros weiter. Bedenklich stimmt - nicht nur die internationalen Anleger -, dass die Bundesregierung offenbar wieder zur Hühnerhaufenstrategie vom Anfang dieser Legislaturperiode zurückkehrt. Da werden beim Ladenschluss und bei der Betriebsverfassung sozusagen Beruhigungspillen an die Gewerkschaften verteilt, damit sie bei der Rentenreform stillhalten. Da wird der Ölhahn künstlich zugedreht und die Atomenergie ohne Not aufgegeben. Ein Konzept zum Ausgleich des Verlustes im Umfang von 50 Prozent des Primärenergieverbrauchs hat die Bundesregierung nicht. Der Aufbau Ost wird zur Chefsache erklärt. Doch mehr als heiße Luft kommt dabei nicht heraus. Da werden Projekte zur Gen- und Biotechnologie verschoben, weil die Grünen ideologische Gefechte von gestern austragen. ({3}) Ich empfinde es als besonders dreist, dass sich die Grünen als Hüter des Internets aufspielen wollen. In ihrem Parteiprogramm steht immer noch, dass Computer zur Sinnentleerung des Menschen führen. Das ist ihre Programmatik. ({4}) Jahrelang waren es grüne Technikkritiker, die die modernen Kommunikationsmedien abgelehnt und bekämpft haben. Dass genau diese Partei jetzt noch die unzureichende Verbreitung neuester Kommunikationstechniken kritisiert, ist pure Heuchelei. ({5}) Wenn Deutschland bei der Digitalisierung dem Tempo der Grünen gefolgt wäre, würden wir heute nicht über Datenautobahnen, sondern über Buschtrommeln kommunizieren. ({6}) Herr Bundesfinanzminister, einzig die Steuerreform, die die F.D.P. maßgeblich mitgestaltet hat und damit überhaupt erst möglich gemacht hat, verbessert die Angebotsbedingungen langfristig. Es muss möglichst bald eine Steuerreform II folgen, um die Nachteile für den Mittelstand auszugleichen. ({7}) Bis vor kurzem stand Ihre Konsolidierungspolitik noch auf der Habenseite. Doch diese torpedieren die Koalitionsfraktionen immer wieder aufs Neue. Grün-Rot verfällt auf eine strukturkonservierende, zudem prozyklische Nachfragepolitik. Nach bester keynesianischer Manier wird ein zusätzliches Investitionsprogramm in Höhe von 15 Milliarden DM aufgelegt. ({8}) Am Anfang war nur von 5 Milliarden DM die Rede, die im Zuge der UMTS-Erlöse verteilt werden sollten. Jetzt hat sich diese Summe verdreifacht. Ich weiß, dass diese Politik nicht auf Ihrem Mist, Herr Eichel, gewachsen ist. Sie haben sogar für ein anderes Vorgehen gekämpft. Denn auch Sie wissen: Die neu erwachte Ausgabenfreude der Bundesregierung gefährdet Ihren Ruf als Sparminister. Zudem ist dieses Programm volkswirtschaftlich umstritten, weil die vorgesehenen staatlichen Investitionen private Vorhaben verdrängen werden. Es ist mehr als fraglich, ob dadurch ein zusätzliches Wachstum ausgelöst wird. ({9}) Dabei steigen die Preise weiter. Zu den derzeitigen Preistreibern, zur Euro-Schwäche, zur Ökosteuer und zum hohen Ölpreis, kommt das so genannte Zukunftsinvestitionsprogramm der Bundesregierung hinzu. Die nächste Zinserhöhung der EZB ist nur eine Frage der Zeit; die Zinsfalle droht. Was das für Investitionen und für das Wirtschaftswachstum bedeutet, dürfte auch der Bundesregierung klar sein. Ihr vermeintlicher Wahlkampfknüller ZIP wird zum Konjunkturkiller. ({10}) - Auf Sie bin ich bestimmt nicht neidisch. Besonders drollig ist für mich in diesem Zusammenhang das Verhalten der Grünen. Zuerst wollten auch Sie mit den UMTS-Erlösen die bestehenden Schulden tilgen. Ihr haushaltspolitischer Sprecher Metzger warnte - ich zitiere ihn wörtlich -: „Eichels Sparkurs zerrinnt wie Butter in der Sonne.“ Jetzt unterstützen die Grünen das Vorhaben, 3 Milliarden DM aus den UMTS-Erlösen für den Straßenbau einzusetzen, ({11}) obwohl Sie den Bürgern im Rahmen der Ökosteuer das Autofahren eigentlich verbieten wollten. Wer auf unseren Straßen fahren soll, blieb bis letzten Donnerstag Ihr Geheimnis. Doch dann hat sich Herr Schlauch im „Stern“ zum wiederholten Male als Spaßautofahrer geoutet. Die Logik der Grünen ist ganz einfach: Mit der Ökosteuer machen Sie die Straßen frei, damit Ihr Fraktionsvorsitzender ordentlich Gummi geben kann. ({12}) Elitärer geht es nicht mehr. Es ist ein Schlag in das Gesicht des Normalbürgers, wenn die Grünen Straßen bauen, auf denen nur noch Sportwagenökologen fahren können. Das ist die neue Zweiklassengesellschaft. ({13}) Ihr Koalitionspartner, die SPD, hat die soziale Schieflage, die durch die Ökosteuer entsteht, längst erkannt. Sie, Herr Eichel, haben den Anfang gemacht: Als erstes Regierungsmitglied haben Sie das bisherige Ökosteuerkonzept infrage gestellt. Herr Klimmt und Herr Riester haben sich hinzugesellt. Damit verabschieden sich einige SPD-Fachminister von der Ökosteuer. Der Kanzler ebenfalls: Er will über neue Instrumente diskutieren. ({14}) Besonders interessant war Herrn Riesters Aussage, die Rentenversicherung brauche keine weiteren Zuflüsse aus dem Aufkommen der Ökosteuer. Damit gibt er zu, dass die Ökosteuer nur der Teilsanierung seiner Rentenkasse dient. ({15}) Die Argumentation der Grünen, nur mit der Ökosteuer sei die Rente sicher, ist zutiefst unredlich. Eine umfassende Rentenreform ist ohne dieses ganze Geeiere, Geschiebe und Gegackere über die Ökosteuer billiger, bürgerfreundlicher und systematischer zu haben. ({16}) Auch der Verweis auf die Senkung der Lohnnebenkosten ist an den Haaren herbeigezogen. Sie entziehen den Bürgern und den Unternehmen durch die Ökosteuer mehr Kauf- und Investitionskraft, als Sie über die Senkung der Rentenbeiträge zurückgeben. ({17}) Tatsächliche Senkungspotenziale bei der Arbeitslosenversicherung werden nicht realisiert, obwohl selbst Teile der Grünen das öffentlich fordern. Damit versuchen Sie von den Grünen, sich ab und zu zu profilieren. Ihr Koalitionspartner, die SPD, hat Sie aber so platt wie eine Flunder gemacht, sodass Sie nicht einmal mehr aufmucken. ({18}): Am schlimms- ten sind platte Reden!) Soll in Bezug auf die Rentenbeiträge kein Verschiebebahnhof entstehen, müssen wir eine ordentliche Rentenreform durchführen. Nur mit einer Kapitaldeckung und der Steuerfreiheit der Beiträge ist das Rentenproblem wirklich lösbar. Hinsichtlich der Kapitaldeckung sind Sie von den Koalitionsfraktionen unseren Vorstellungen weitgehend gefolgt, obwohl Sie vor der Wahl propagiert haben, das reine Umlagesystem bleibe bestehen. Bei der Rentenbesteuerung steht ein Systemwechsel an. Auch EU-Kommissar Bolkestein hat das gefordert. Ich weiß, dass auch Sie, Herr Eichel, das wollen. Sie müssen es nur durchsetzen. Dabei werden Sie von der F.D.P. unterstützt. Wir werden auch bei der Rentenreform kein populistisches Spiel treiben. Wir werden uns dafür einsetzen, dass die heutigen Rentner bei einem Systemwechsel zu einer nachgelagerten Besteuerung einen Bestandsschutz genießen. Wir werden auch betonen, dass es für viele Jahrgänge Übergangsregelungen geben wird. Doch der Systemwechsel bei der Rentenversicherung muss eingeleitet werden, sonst bleibt die Reform Stückwerk. ({19}) Versagt hat Grün-Rot bei der Arbeitsmarktpolitik. Die positiven Effekte gehen auf das Wohlverhalten der Tarifpartner und die demographische Entwicklung zurück. Der Arbeitsminister hat freie Hand, sodass dieser heute den schon verregelten Arbeitsmarkt noch zusätzlich „verriestern“ darf. Teilzeitzwang, Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung und die Einschränkung befristeter Arbeitsverträge machen den deutschen Arbeitsmarkt noch enger, noch starrer und noch weniger flexibel. So werden wir die Arbeitslosigkeit in Deutschland nicht umfassend abbauen können. ({20}) Hier meldet sogar das sehr leise Wirtschaftsressort Kritik an. Sonst ist es in diesen Fragen leider untätig. Das Desinteresse der Regierungen an Reformen setzt sich auf europäischer Ebene fort. Dort wird auf höchster Ebene für den Erhalt öffentlicher Unternehmen, für unsinnige Steinkohlebeihilfen und für ordnungspolitisch bedenkliche Ökostromförderungen gekämpft. Die wiederholten Versuche von Frankreich, die Geldpolitik zu politisieren, hat die Bundesregierung öffentlich nicht kommentiert. Angesichts der Schwäche des Euro ist das verantwortungslos. Stattdessen leiht sie der PDS politisch das Ohr. Es gibt eine Vorwärtsstrategie mit der PDS nach hinten. Die Kritik von Herrn Gabriel und Herrn Clement daran spricht deutliche Bände, dass das auch in der SPD mit großer Sorge betrachtet wird. Gehen Sie doch auf das Schröder/Blair-Papier zurück. Sorgen Sie für eine ordentliche Reformpolitik. Deutschland braucht Viagra und nicht Valium. Deutschland braucht Gelb und nicht Grün. Vielen Dank. ({21})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Margareta Wolf.

Margareta Wolf-Mayer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002831, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Brüderle, ich weiß nicht, ob Deutschland mehr Viagra braucht, eines scheint mir aber sicher zu sein: Deutschland braucht weniger Miesmacher wie Sie - das hat Herr Eichel schon gesagt -, sondern mehr Mitmacher. ({0}) Das Herbstgutachten der Institute zeigt, dass wir mit unserem Zukunftsprogramm auf dem richtigen Weg waren, dass wir mit den Steuersenkungen für Unternehmen und Beschäftigte sowie mit der Senkung der Arbeitskosten in diesem Land wichtige Signale für Investitionen und somit für Wachstum und Beschäftigung gesetzt haben. Herr Kollege Brüderle, Sie haben gerade gesagt, wir hätten ein fehlendes Unternehmertum in diesem Lande. Es gibt keine Aufbruchstimmung in diesem Lande. Wenn Sie das Telefonieren einstellen könnten - Ihr Büro kann Ihnen sicherlich noch hinterher sagen, dass Ihre Rede unglaublich gut war -, so könnte ich Ihnen etwas vorlesen. ({1}) Herr Kollege Brüderle, in dieser Woche schrieb der Journalist Uwe Jean Heuser in der „Zeit“ - Zitat -: Während die Aufregung sich an Börse und Euro, an New Economy und Öl entzündete, hat sich das Wichtigste an der Wirtschaft gravierend verändert: die Einstellung der Menschen. Noch vor fünf Jahren galt die Marktwirtschaft zwar als notwendig, aber auch als hässlich. Das Unternehmertum stand weithin im Ruf der Ausbeutung, neue Technologie löste bei der Mehrheit Gleichmut oder Angst aus. Und wer redete schon ... über Aktien? Heute lässt sich der tonangebende Teil der Gesellschaft von einer techno-ökonomischen Begeisterung tragen, die an Amerika erinnert ... Die neue Wirtschaft ist Teil der Alltagssprache geworden. Internet hier und Geschäftspläne da ... Sie wollen an den neuen Möglichkeiten teilhaben. Auch der Rückschlag an der Börse hat dieser Grundhaltung nichts anhaben können. Es ist die Zeit der Ökonomie. Abschließend führt „Die Zeit“ aus: Die Aussichten für Wirtschaftsdeutschland sind glänzend. So repliziert „Die Zeit“ auf das Herbstgutachten der Institute. Ihre Miesmacherei interessiert niemanden mehr. ({2}) Und selbst Hans-Olaf Henkel, der scheidende BDI-Präsident, von dem wir wissen, dass er alle Regierungen, die er begleitet hat, kritisiert hat, sagt heute: Und Deutschland bewegt sich doch. Der größte Fortschritt, den wir zurzeit konstatieren können, ist, dass es vorangeht. Wenn er zudem sagt, Herr Kollege Brüderle und Herr Kollege Rauen: „Die Bundesregierung unterstützt den Mittelstand dabei, neue Märkte zu erreichen“, dann empfinden wir das als Kompliment. Ein solches Kompliment haben Sie nie bekommen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Die Bundesbank stellt in ihrem August-Bericht - Herr Poß hat schon auf Arthur Andersen verwiesen; die Bundesbank schreibt es auch - „entgegen der Meinung so mancher Auguren“ fest, die Bundesregierung entlaste mit dem Steuerkonzept die Personengesellschaften mindestens ebenso wie die Kapitalgesellschaften. Herr Rauen, lassen Sie also Ihre Augurensätze; sie bringen uns einfach nicht weiter, sie bringen nur schlechte Stimmung in dieses Land und entbehren jeder Grundlage. Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Wirtschaftsforschungsinstitute prognostizieren ein Wirtschaftswachstum von 3 Prozent. Das Entscheidende an dieser Zahl ist, dass sie eine Verdoppelung der Wachstumsquote gegenüber dem Vorjahr darstellt, obwohl die Ölpreise entgegen den im letzten Jahr geäußerten Erwartungen der Institute angestiegen sind. Die Prognose der Institute unterstellt dabei, dass der Preis im Winterhalbjahr 2000/2001 durchschnittlich 31 US-Dollar pro Barrel beträgt und im weiteren Verlauf des Jahres 2001 auf 25 US-Dollar zurückgeht. Sie gehen davon aus, dass für einen merklichen Rückgang des Rohölpreises die Tatsache spricht, dass die OPEC-Länder einen Preiskorridor von 22 bis 28 US-Dollar anstreben. Ich halte einen festgelegten Preiskorridor in der Größenordnung 25 +/- 3 USDollar pro Barrel, also eine gewisse Preisstabilität, für einen stabilisierenden Faktor für die gesamte Weltwirtschaft. Er läge also sowohl im Interesse der Schwellenländer als auch im Interesse der Industrieländer. Wir sollten mit den OPEC-Ländern darüber reden, dass sie tatsächlich einen solchen Preiskorridor einziehen; wir haben das neulich im Iran schon getan. Für das nächste Jahr prognostizieren die Institute trotz der Euro-Entwicklung und des Ölpreises ein Wachstum von 2,7 Prozent. Sie müssen uns konzedieren, dass die Institute damit sagen, die Weichen seien in diesem Lande für mehr Beschäftigung und Wachstum gestellt. Die Voraussetzung für diese Entwicklung ist die Steuerreform. Das Wichtigste an der Steuerreform ist, dass sie Klarheit und Planungssicherheit schafft und die Menschen bis zum Jahre 2005 um 93 Milliarden DM entlastet. ({4}) - Wissen Sie, Sie haben lange über eine Steuerreform geredet, aber Sie haben keine hingekriegt. Vor allen Dingen konnten Sie keine Planungssicherheit garantieren, Herr Kollege. ({5}) Diese Steuerreform - das konzedieren alle; da können Sie noch so viel dazwischenrufen - wirkt offensichtlich wie ein Turbolader in diesem Land. Der Aufschwung gewinnt an Breite, die Binnennachfrage steigt, Herr Brüderle, ({6}) und aufgrund der soliden Konstitution wird die deutsche Konjunktur die gestiegenen Ölpreise gut verkraften. Lassen Sie mich noch einen anderen Aspekt ansprechen, den ich für besonders erfreulich halte: Die Zahl der Erwerbstätigen ist in diesem Jahr ständig gestiegen. Die Zahl der Arbeitslosen - so sagen die Institute - wird im Jahr 2001 auf 3,5 Millionen sinken. ({7}) Bei weiterhin positiver gesamtwirtschaftlicher Entwicklung können im Jahre 2002, Herr Kollege Niebel, die Lohnnebenkosten unter 40 Prozent gesenkt werden. Das ist unser beschäftigungs- und konjunkturpolitisches Ziel. Als arbeitsmarktpolitische Unterstützung dürfen wir auch das eindeutige Petitum der Institute begreifen, „über neue Wege der Arbeitsmarktpolitik nachzudenken, mit denen die Beschäftigung von Problemgruppen erhöht werden kann“. Die Institute schlagen vor - Herr Niebel, es wäre hilfreich, wenn Sie einmal zuhörten -, in stärkerem Ausmaß zeitlich begrenzt die Einstellung gering Qualifizierter in unserem Land zu subventionieren. Sie wissen vielleicht, dass wir im Bündnis für Arbeit angeregt haben, vier Modellprojekte für den so genannten Niedriglohnsektor zu etablieren. ({8}) Wir werden die Erfahrungen mit diesen Projekten auswerten und dann festlegen, ob die Subventionierung des Niedriglohnsektors eine Strategie zur Erleichterung des Transformationsprozesses in den ersten Arbeitsmarkt sein kann. Darüber hinaus sollte im Zeitalter des Strukturwandels die Koppelung von Zeiten der Erwerbstätigkeit bzw. von Freistellungszeiten mit Weiterbildung im Zentrum der neuen Beschäftigungspolitik stehen. Meine Damen und Herren, vor zehn Jahren wurde in Dänemark ein arbeitsmarktpolitisches Instrument entwickelt, das hohe Aufmerksamkeit verdient, die so genannte Job-Rotation. Dahinter steht die Idee, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, vor allem aus kleinen und mittleren Unternehmen, für die Dauer der Weiterbildungsmaßnahmen durch Arbeitslose zu ersetzen. Wir schätzen das ({9}) - richtig, dazu gibt es auch einen Antrag -, weil dadurch einerseits die Unternehmen angeregt werden, ihre Arbeitskräfte weiterzuqualifizieren, und andererseits den Erwerbslosen die Chance gegeben wird, sich wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Wie die Kollegin von der CDU/CSU richtig sagte, werden wir dazu im Kontext der SGB-III-Novelle einen Antrag in dieses Haus einbringen, ({10}) dem Sie dann hoffentlich zustimmen. ({11}) Das heißt zusammengefasst: Es war und ist richtig, mit viel Kreativität und Experimentierfreude arbeitsmarktpolitisch tätig zu werden. Es war und ist richtig, das Zukunftsprogramm aufzulegen. Es war und ist richtig zu sparen. Denn Sparen ist kein Selbstzweck, Sparen ist Voraussetzung für Modernisierung. ({12}) Das haben wir auch bewiesen. ({13}) Margareta Wolf ({14}) Es war und ist richtig, den Weg der Haushaltskonsolidierung konsequent weiterzugehen. Es war und ist richtig, die Unternehmen und die Bürgerinnen und Bürger mit der Steuerreform in großem Umfang zu entlasten. Es war und ist richtig, die soziale Marktwirtschaft mit neuem Leben zu erfüllen, die Menschen wieder zur Politik zu holen, die Brücke zwischen Menschen und Politik wieder herzustellen. Wenn Sie sich erinnern: Auf den Soziologentagen von 1996 bis 1998 wurde vornehmlich über das Phänomen diskutiert, dass es keine Brücke mehr zwischen Bevölkerung und Politik gibt, dass Politik zum Selbstzweck geworden ist. Dies haben wir geändert. Auch das zeigt dieses Herbstgutachten. ({15}) Es war und ist richtig, mit dem Bündnis für Arbeit den Dialog zwischen Politik und den Sozialpartnern zu verbessern und Letztere in die Gesamtverantwortung für unser Land mit einzubeziehen. Es war und ist richtig - Hans Eichel hat darauf schon hingewiesen -, die Ökosteuer in diesem Lande einzuführen, im Interesse der nachfolgenden Generationen, und die Ökologisierung über die Ökosteuer voranzutreiben. Insofern freuen wir uns besonders, dass die Institute ganz eindeutig dafür plädieren, die beschlossene Ökosteuer zu realisieren. ({16}) Sie verweisen darauf, dass das Aussetzen der Ökosteuer die Steuerpolitik von den recht volatilen Bewegungen des Ölpreises abhängig machen würde, wovor sie dringend warnen. Herr Kollege Niebel, Sie sollten das Gutachten einmal lesen; denn Lesen soll bisweilen weiterhelfen. Die von den Instituten gelobte Lohnzurückhaltung durch den Abschluss von mehrjährigen Vereinbarungen als eine der Säulen für den Konjunkturaufschwung liegt doch in einer gesellschaftspolitisch, in einer gesamtwirtschaftlich verantwortungsvollen Verabredung im Bündnis für Arbeit begründet. Bei aller Kritik am Kooperatismus muss man nach der Halbzeitbilanz sagen, dass sich das Bündnis für Arbeit für dieses Land als Verantwortungsbündnis erwiesen hat, eine Tatsache, die wir ausdrücklich begrüßen. ({17}) Einen weiteren wichtigen Beitrag auf dem Weg zur Wissensgesellschaft stellt das von uns verabschiedete Aktionsprogramm „Innovation und Arbeitsplätze in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts“ dar. Gegenwärtig erleben wir - das kann man, glaube ich, sagen - den dynamischsten Strukturwandel in der Wirtschaft, den man nur noch mit der industriellen Revolution vergleichen kann. Dieser Strukturwandel muss von uns, von der Politik, aktiv gestaltet werden, damit er nicht zu einer Spaltung der Gesellschaft führt. Er muss aber auch gestaltet werden, damit die soziale Marktwirtschaft gestärkt und der Wettbewerb gefördert wird. Die Unternehmen der New Economy sind Vorreiter für eine neue Unternehmenskultur in diesem Land. Sie setzen auf das Miteinander und auf flache Hierarchien. Dort spricht man nicht mehr von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, sondern von Mitunternehmern. Durch die völlig andere Definition von Arbeit im Unternehmen bietet sich auch für die Old Economy eine Chance. Deshalb ist die Brückenbildung zwischen New Economy und Old Economy so wichtig. ({18}) Um diese neue Unternehmenskultur nachhaltig zu fördern, unterstützt meine Fraktion die Initiative der 40 am Neuen Markt gelisteten Unternehmen, Aktienoptionen von Mitarbeitern steuerlich Optionen, die von Privaten gehalten werden, gleichzustellen. Wir glauben, dass Optionen ein wichtiger Weg sind, um Mitarbeiter am Produktivkapital zu beteiligen. Sie sind ein Mittel, um die Eigenkapitalquote der Unternehmen anzuheben, und sie sind ein Mittel, um die Wachstumsprozesse nachhaltig zu unterstützen. Ein weiterer Aspekt, der mir mit Blick auf die New Economy, die Wachstumsbranche der Zukunft, sehr wichtig zu sein scheint, ist: Wir müssen verhindern, dass Monopolstrukturen bei den Herstellern entstehen, und plädieren für die verstärkte Anwendung von Open-Source, wie es ja auch der Bundeswirtschaftsminister respektive Herr Mosdorf tun. Wir halten es für ausgesprochen erfreulich, dass sich die Zahlen beim Zugang zum Internet seit 1998 verdoppelt haben und dass wir es durch die Vereinbarungen in der „D 21“-Initiative geschafft haben, dass 60 000 neue Ausbildungsplätze in der Multimediabranche geschaffen werden - Ausbildungsplätze, die wir 1996/1997 überhaupt noch nicht kannten. Ich denke, das ist ein unglaublicher Kraftakt, den wir begrüßen und unterstützen sollten. Lassen Sie mich aber anknüpfend an die positive Bewertung, der Situation in den neuen Bundesländern durch die Institute noch einige Bemerkungen zur Arbeitsmarktpolitik machen. Es ist Konsens in diesem Hause, dass der wirtschaftliche Strukturwandel, die informationstechnische Revolution, die zunehmenden Qualifikations- und Flexibilitätsanforderungen auch Anpassungen des Arbeits- und Sozialrechts erforderlich machen. Gefragt ist heute eine moderne Beschäftigungspolitik, die sich den Veränderungen stellt und die gestiegenen betrieblichen und individuellen Bedürfnisse nach mehr Flexibilität und Zeitsouveränität mitgestaltet ({19}) und tatsächlich auch als Chance begreift. Wir sehen, dass das System der Flächentarifverträge gerade in den fünf neuen Bundesländern von Erosion gekennzeichnet ist - das ist schon länger so, Herr Niebel; Sie haben gar nichts dagegen getan - und dass gerade in den neuen Wachstumsbranchen die Tarifbindung ausgesprochen gering ist. Wir wollen als Fraktion ausdrücklich das System der Flächentarifverträge erhalten und stellen uns gerade deshalb der notwendigen Reform - die letzte Reform war 1972 und Sie haben in der Zeit danach einfach zugeschaut, Herr Kollege -, die auf Basis des Tarifvorrangs Margareta Wolf ({20}) den Spielraum für betriebliche Lösungen vergrößern sollte. Unser Vorschlag ist, dass der Arbeitsplatzerhalt bei der Günstigkeitsabwägung berücksichtigt werden muss. In angespannten Arbeitsmarktsituationen können ein konditionierter befristeter Lohnverzicht und befristete Arbeitszeitverlängerung für die Arbeitnehmerin und für den Arbeitnehmer günstiger wirken, wenn damit Entlassungen verhindert werden. ({21}) Wir diskutieren über eine Erweiterung des Günstigkeitsprinzips in § 4 Abs. 3 des Tarifvertragsgesetzes, weil wir glauben, dass hier eine Veränderung aus beschäftigungspolitischen Gründen wünschenswert ist. ({22}) - Sie haben einen Antrag eingebracht, der vorsieht, § 77 Abs. 3 völlig abzuschaffen, Herr Kollege. Wir stehen hinter den Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft. Das unterscheidet uns von Ihnen maßgeblich. Eine Schlussbemerkung. Ich möchte unseren Haushälterinnen und Haushältern ganz ausdrücklich zu ihren Verhandlungen in Sachen Verteilung der UMTS-Erlöse gratulieren. Es ist begrüßenswert, dass wir die Investitionen in die Bildungspolitik und in die Erforschung der Brennstoffzelle - heute ist darauf schon hingewiesen worden erhöhen konnten, dass wir mehr Mittel in den Bau von Umgehungsstraßen, in die Bahn und in die Wärmedämmung investieren. Ich denke, das Herbstgutachten und diese Infrastrukturmaßnahmen beweisen: Wir sind eine moderne, eine zukunftsorientierte Regierung. Lassen Sie endlich die Miesepeterei, lassen Sie uns zusammen in die Zukunft schauen. Ich denke, dieses Land ist auf einem guten Weg. Danke schön. ({23})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Christa Luft.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Grundton des Herbstgutachtens, das wir heute debattieren, ist optimistisch und der Bundesfinanzminister fühlt sich angesichts dieses Gutachtens in seiner Politik geadelt. Dabei kommt es vor, dass er für seine Bilanz zutreffende Fakten ebenso verwendet wie solche, die offensichtlich nicht zutreffen. Ich will nur auf einen Satz von ihm zurückkommen. Er sagte, in der Zeit der rot-grünen Regierung seien die Insolvenzzahlen gesunken. Da muss ich ganz energisch protestieren. In einer Mitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 4. Oktober - sie liegt sicherlich auch Ihnen vor - heißt es, dass die Zahl der Insolvenzen im ersten Halbjahr 2000 gegenüber dem ersten Halbjahr 1999 um 25 Prozent zugenommen hat, wobei die Zahl der Unternehmensinsolvenzen um 5 Prozent gestiegen ist. Ich denke, dies darf nicht außer Betracht bleiben. Wenn man schon seine Erfolgsbilanz präsentiert, muss man auch die Dinge ganz deutlich ansprechen, die misslungen sind. - Ich werde noch auf andere Aspekte zurückkommen. ({0}) Herr Brüderle, Sie haben sich hier ganz tapfer ({1}) öffentlich von der PDS distanziert. Aber Sie dürfen auch einem PDS-Mitglied abnehmen, dass die Insolvenzen im Bereich der kleinen und mittelständischen Unternehmen weniger damit zu tun hatten, dass die Steuerbelastung zu hoch ist. Vielmehr hing dies ganz wesentlich damit zusammen, dass die Zahlungsmoral derart schlecht geworden ist, dass viele Unternehmen in ihrer Liquidität beschränkt sind und nicht überleben können. Deshalb sollten wir - unabhängig davon, dass wir uns in der Öffentlichkeit voneinander distanzieren - quer über alle Fraktionen hinweg etwas tun, um der schlechten Zahlungsmoral in diesem Lande sowohl bei privaten Kunden als auch bei der öffentlichen Hand ganz schnell beizukommen. Das wäre eine wichtige Schlussfolgerung aus der heutigen Diskussion. ({2}) Bei allem optimistischen Grundton dieses Gutachtens kommen wir aber nicht umhin, einen Widerspruch zu konstatieren: Das Wirtschaftswachstum hält an, wenngleich auch leicht gedämpft. Der Export wird weiterhin boomen. Die Beschäftigung wird in der Statistik als günstiger ausgewiesen. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen - zumindest in den alten Ländern - nimmt ab. Dennoch, obwohl so viel Positives verzeichnet werden kann, nimmt die allgemeine Wohlfahrt nicht adäquat zu. Das halte ich für einen Widerspruch, der heute angesprochen werden muss. ({3}) Immer mehr Erwerbstätige haben Beschäftigungsverhältnisse, die nicht existenzsichernd sind. Dabei habe ich nicht nur die zunehmende Zahl von 630-Mark-Jobs im Auge. Ich spreche auch die zunehmende Leiharbeit an und die Tatsache, dass in der privaten Wirtschaft - in Ostdeutschland ist das ganz verbreitet, in Westdeutschland nimmt das zu - Stundenlöhne von 7 oder 8 DM gezahlt werden; das ist nicht existenzsichernd. Trotz einer zunehmenden Beschäftigung gibt es immer mehr Menschen, die erwerbstätig sind, aber zum Leben zusätzlich Sozialhilfe brauchen. Das muss hier angesprochen werden; sonst ist die Bilanz unvollständig. ({4}) Die Benachteiligung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt hält an. In Ostdeutschland arbeiten knapp 18 Prozent der Frauen freiwillig Teilzeit. Sie müssen Teilzeitarbeitsverhältnisse eingehen, weil es andere Arbeitsangebote gar Margareta Wolf ({5}) nicht gibt. Aber damit können sie nicht ihren Lebensunterhalt bestreiten. Die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze für junge Leute reicht in den neuen Bundesländern nach wie vor nicht aus. Ich war schon erstaunt über den Akzent des Bundesfinanzministers, der dies positiver gesehen hat. Ich halte es auch für höchst ungerecht, dass dieses JUMPProgramm, für das sich meine Fraktion immer ausgesprochen hat, vom Beitragszahler und nicht vom Steuerzahler finanziert wird. Das ist ungerecht; denn die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Dieses Problem kann nicht beim Beitragszahler abgeladen werden. ({6}) Die Vermögenspolarisierung nimmt zu. Die Dynamik der Spareinlagenentwicklung nimmt - zumindest im Osten - ab. Jedes siebte Kind lebt in einer als arm definierten Familie. Da fragt man sich doch - diese Frage müssen wir uns heute stellen -: Was ist eigentlich der Maßstab für wirtschaftlichen Aufschwung und für wirtschaftlichen Erfolg? ({7}) Wenn die Wirtschaft nicht Selbstzweck sein, sondern im Dienste der menschlichen Gesellschaft stehen soll, dann müssen sich verbesserte Konjunktur- und Arbeitsmarktdaten auch in verbesserten sozialen Bedingungen für die Bevölkerung widerspiegeln. Davon sind wir leider weit entfernt. Das hat viele Gründe. Die Erfolgsmeldungen bezüglich des Arbeitsmarktes stützen sich zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auf eine statistische „Innovation“. Ich weiß nicht, wer in diesem Hause den Bericht, den wir debattieren, wirklich gelesen hat. Lesen Sie die Seite 54 des Herbstgutachtens! Dort bescheinigen Ihnen die Gutachter, dass die Dynamik bezüglich der Beschäftigungslage, die im Bericht statistisch ausgewiesen ist, von dem Faktum getrübt wird, dass die Zahl der 630-Mark-Jobs neu ermittelt wird. Sie können sich also nicht ständig loben, es seien so viele neue Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt entstanden. Nein, es gibt schon eine ganz konkrete Ursache, die Ihnen auch die Gutachter nennen. Die Entlastungen der Erwerbstätigen durch die Einkommensteuerreform werden größtenteils kompensiert durch Mehrbelastungen wegen gekürzter öffentlicher Ausgaben des Bundes und der Länder sowie durch die Ökosteuer. Die Binnenkonjunktur - auch das muss man sagen - hinkt deutlich hinter dem Export her. Sie bleibt anfällig, weil sie vornehmlich auf der Euro-Schwäche beruht. Ich muss den Kolleginnen und Kollegen von der alten Koalition sagen: Sie können die Euro-Schwäche doch bei weitem nicht der neuen Regierung anlasten. Sie haben vielmehr in Ihrer Regierungszeit nicht die Grundlagen dafür gelegt, dass neben einer Einheit Europas im Bereich der Währung auch auf anderen Gebieten eine Harmonisierung erfolgt. Daran krankt der Euro doch ganz wesentlich. ({8}) Die aktive Arbeitsmarktpolitik will die Koalition im Jahr 2001 weiter einschränken, indem sie den Zuschuss für die Bundesanstalt für Arbeit völlig streicht. Dabei wird es im Jahr 2001 - die neuen Eckdaten liegen ja vor - wiederum mindestens 100 000 Arbeitslose mehr geben. Damit ist Ihr Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU-Fraktion, den Sie heute einbringen, nämlich den Beitrag für die Arbeitslosenversicherung zu senken, in diesen Stunden doch schon obsolet geworden. Wir leugnen die positiven Tendenzen, die es gibt, nicht. Wir fordern aber die Bundesregierung auf, in stärkerem Maß zu einer aktiven, zu einer gestaltenden Wirtschaftspolitik zurückzukehren. Dazu gehört erstens ein beschleunigter ökologischer Umbau bei kräftiger Stärkung der Binnennachfrage. Nur so kann man die Abhängigkeit von den hohen Ölpreisen und einem schwachen Euro mindern. Wir fordern, dass die in Koalitions- und Regierungskreisen für das Jahr 2003 angedachte grundlegende Änderung der Ökosteuerverwendung hin zu langfristigen volkswirtschaftlichen Umbauprogrammen vorgezogen wird. Man sollte da nicht noch zweieinhalb Jahre verstreichen lassen. Es ist notwendig, dass früher gehandelt wird. Wir wollen nicht die Aussetzung der Ökosteuer, sondern wir fordern, dass die Einnahmen früher für andere Zwecke verwendet werden. Zweitens brauchen wir eine Innovationsoffensive im ganzen Land, vor allen Dingen in Ostdeutschland. Man kann Ostdeutschland im vereinten Deutschland nicht weiterentwickeln und keinen sich selbst tragenden Aufschwung herbeiführen, wenn man dort weiter auf Lohnzurückhaltung, auf Installierung von Niedriglohnsektoren, auf Verdrängungskonkurrenz, die nur auf einem Kostenwettbewerb beruht, setzt. Wir brauchen dort eine höhere Wertschöpfung. Sonst kommt der Osten nicht aus dem Tal heraus, in dem er sich jetzt befindet, und es werden noch mehr junge qualifizierte Menschen abwandern. Wir fordern einen Stopp der Wirtschaftsförderung, die es heute ermöglicht, dass Unternehmen aus dem Westen in den Osten verlagert werden, ohne dass es einen zusätzlichen Arbeitsplatzeffekt gibt. Das geschieht nur, weil man die niedrigeren Tarife nutzen will. ({9}) Schließlich meinen wir, man könnte insbesondere der Not leidenden ostdeutschen Bauwirtschaft einen Impuls geben, indem man sich schnell entschließt, eine Entschuldung der dauerhaft leer stehenden Wohnungen vorzunehmen. Wir fordern dafür 3 Prozent der UMTS-Lizenzeinnahmen. Das wären 3 Milliarden DM. Sie wären für einen guten Zweck eingesetzt. Die Bauwirtschaft käme auf die Füße. Menschen hätten Arbeit, bekämen existenzsichernde Arbeit. Sie würden wieder Steuerzahler. Es würde etwas in den Steuersack zurückfließen. Das ist einer unserer Vorschläge. Ich bedanke mich. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wieczorek.

Dr. Norbert Wieczorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002502, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist eine Freude, hier zu sein. Ich erinnere mich an viele Debatten zu Jahreswirtschaftsberichten und zu den Gutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute. Ich habe selten eine für die Regierung so gute Konjunkturanalyse gelesen wie die der Institute in dieser Woche. ({0}) Ich finde das sehr erfreulich. Dass es Sie ärgert, kann ich nachvollziehen. Es ist richtig, dass wir im Moment durchaus mit Schwierigkeiten zu rechnen haben. Deswegen ist es wichtig, dass wir in den zwei Jahren, seit wir an der Regierung sind, die Grundlagen für eine stabilere innere wirtschaftliche Entwicklung gelegt haben. Wir sind fast wieder beim früheren klassischen Konjunkturzyklus der Bundesrepublik angekommen: starke Exporte, Investitionen, private Nachfrage. Es ist unbestreitbar - das zeigen ja auch die Zahlen und Einschätzungen des ifo-Institutes und anderer Institute -, dass sich inzwischen die in den 90er-Jahren ausgesprochen schwache private Nachfrage stabilisiert. Es ist ja kein Zufall, dass wir das hinbekommen haben. Wir haben es nämlich geschafft, dass die Zahl der Beschäftigten um 1 Million auf deutlich über 38 Millionen gestiegen ist; am Ende Ihrer Regierungszeit lag sie unter 37 Millionen. ({1}) Außerdem sind die Realeinkommen gerade der Arbeitnehmer gestiegen; dies war in den 90er-Jahren nicht der Fall. Das ist ganz wichtig. Ich möchte Sie daran erinnern, wie wir das zustande gebracht haben: Wir haben durch eine Konsolidierung der Haushalte, auch wenn das in einzelnen Bereichen immer unpopulär ist, Sicherheit gegeben. Die von uns durchgeführte Haushaltskonsolidierung hat den Weg dafür geebnet, dass wir in anderen Bereichen neue Handlungsfähigkeit gewonnen haben. Das hat auch Auswirkungen auf die Lohnpolitik, die allerdings nicht unsere, sondern Sache der Tarifvertragsparteien ist. Aber die durch das Bündnis für Arbeit vermittelte Sicherheit, dass vonseiten des Staates keine weiteren Belastungen auf die Bürger zukommen und die Steuern nicht, wie in den 90erJahren, dauernd erhöht werden, trug ganz entscheidendend dazu bei, dass sich die Gewerkschaften darauf einlassen konnten, langfristige Tarifverträge abzuschließen, und es zuließen, dass die Gehaltssteigerungen zum Teil geringer als die Produktivitätsentwicklung ausfielen. So wurde eine Senkung der Lohnstückkosten möglich. Auch dieses trug zu den Exporterfolgen bei, dafür war nicht allein der schwache Euro verantwortlich. Außerdem haben die Gewerkschaften eine Flexibilisierung in den Betrieben zugelassen; dieses wurde zu einem echten Standortvorteil. Sie dagegen tragen immer noch wie ein Banner die Aussage vor sich her, dass es zu wenig Flexibilisierung in den Betrieben gäbe. Ich nenne Ihnen zwei Gegenbeispiele: Es ist doch kein Zufall, dass Ford seine Autofertigung von London nach Köln verlagert. Das hätte man doch nicht getan, wenn hier alles so schlecht wäre. Das zweite Beispiel stammt aus meinem eigenen Wahlkreis: Es ist doch kein Zufall, dass General Motors entschieden hat, ein bedeutendes neues Werk in Rüsselsheim zu bauen. Es wird zwar auf dem Gelände des alten Werkes gebaut, aber es handelt sich um ein völlig neues Werk. Auch das hat etwas mit unserer Politik zu tun. Vor diesem Hintergrund möchte ich auch noch bemerken, wie wichtig es ist, dass wir uns des Betriebsverfassungsgesetzes annehmen. Dieses wurde seit 1972 nicht mehr novelliert. Es stimmt heute in einigen Bereichen nicht mehr mit der Realität überein. Dies gilt insbesondere für die Bereiche verlängerte Werkbank, Heimarbeitsplätze usw. Dieses Gesetz ist nämlich die Basis dafür, dass es in den Betrieben verlässliche Betriebsräte gibt, mit denen man diese Flexibilisierungsabkommen abschließen kann. Das ist ein wesentlicher Standortvorteil. ({2}) Weil der Strukturwandel vernünftig gestaltet wird, besteht aber zugleich wieder mehr Vertrauen in die zukünftigen Beschäftigungsmöglichkeiten. Das hat - ich habe es schon gesagt - zur Zunahme der privaten Nachfrage geführt. Dank unserer Politik, die Steuern gerade beim Eingangssteuersatz zu senken sowie soziale Gerechtigkeit durch Erhöhung von Kindergeld, Wohngeld, Erziehungsgeld und jetzt BAföG zu verstärken, wissen die Leute, dass sie mehr zur Verfügung haben. Auch statistisch ist das nachweisbar. Auch das führt dazu, dass mehr Vertrauen da ist. Damit befinden wir uns in einer Situation - ich will jetzt auf die anderen Punkte nicht mehr eingehen -, in der wir auf die auf uns zukommenden Bedrohungen viel besser reagieren können als manches andere europäische Land. Wir haben bei den Wachstumszahlen ja deutlich aufgeholt. Das ging bei uns erst langsam, da wir von den Krisen vor drei Jahren - 1998 Russland und seine Nachbarländer und ein halbes Jahr davor die Krise in Ostasien - viel stärker betroffen waren. Ich möchte deswegen einmal fragen, wie denn die Konjunktur bei uns aussehen würde, wenn wir diese Maßnahmen nicht durchgeführt hätten. Es gibt ja eine gewisse Dämpfung durch den Abfluss von Kaufkraft in Richtung OPEC und Ölkonzerne aufgrund der gestiegenen Ölpreise. Wie würde unsere Lage denn aussehen, wenn wir zum Beispiel die Staatsquote nicht auf 47 Prozent abgesenkt hätten? Jetzt ist unsere Lage stabiler als in manch einem anderen europäischen Land. ({3}) Deswegen ist es wichtig, dass wir diese Politik fortsetzen. Es gibt nämlich innerhalb der Euro-Zone Länder, in denen sich erste Auswirkungen dieser Schwierigkeiten viel deutlicher zeigen. Ich verweise hier in einer Randbemerkung auf Spanien. Ich will zwar nichts Negatives über Spanien sagen, da ich es bewundere, wie man dort den Wandel geschafft hat, aber an einigen Stellen - das sage ich insbesondere an Ihre Adresse, Herr Brüderle, da sie eben gerade nickten zeigen sich erste negative Auswirkungen des schnellen Wandels. Wenn für über 40 Prozent der Arbeitsplätze das Hire-and-fire-Prinzip gilt, die Arbeitnehmer also praktisch von heute auf morgen, nämlich innerhalb von 14 Tagen, gekündigt werden können, steigt schon bei den ersten leichten Kälteerscheinungen die Arbeitslosigkeit an. Die Arbeitslosigkeit kann dann nicht mehr abgebaut werden. ({4}) Sie können selber nachrechnen, welche Auswirkungen das auf das Konjunkturklima hat. Es ist sehr wichtig, dass wir diese Politik fortsetzen. Der Haushaltsplan sieht das vor. Wir müssen die Steuerreform so, wie geplant, durchsetzen. Ich halte es auch für wichtig, dass wir bis zum Frühsommer des nächsten Jahres endlich die Rentenreform zustande bringen. Ich hoffe, dass Sie sich darauf besinnen, dass das Grundkonzept der Rentenreform vernünftig ist. Mit dem Gelingen der Rentenreform können wir das Vertrauen der Bevölkerung in die langfristige Entwicklung gewinnen: Die Menschen haben das Gefühl, gesichert zu sein. Wichtig ist auch, dass sie weiterhin mehr Geld in der Tasche haben. Ich sage das, auch wenn Sie alle wissen, dass große finanzielle Sprünge nicht möglich sind. Wir können die Konjunkturstabilisierung auf der Binnenseite mit den derzeitigen Windfall Profits - ich halte diese Bezeichnung insofern für angemessen, als diese Gewinne aus der Euro-Schwäche resultieren - aus dem Export verbinden. Lassen Sie mich etwas zur Euro-Schwäche sagen. Die Schwäche des Euro ist eine Schwäche seines Außenwertes. Ich betone: Es ist nicht seine innere Schwäche. Unsere Inflationsrate bewegt sich trotz dieser immensen Energiepreissteigerungen - nicht nur die Preise für Öl, sondern auch die für Gas sind gestiegen, weil der Gaspreis an den Ölpreis gekoppelt ist - um 2 Prozent. Die Kerninflationsrate hat sich im letzten Jahr praktisch überhaupt nicht geändert; sie liegt bei 1,2 Prozent oder bei 1,3 Prozent. Wir haben also im Grunde genommen ein spannungsfreies Wachstum; denn gegen die externen Effekte kann man sich nicht wehren. Auch was den Umgang mit Öl und Gas angeht, müssen wir aufholen. Vorhin ist das Zukunftsinvestitionsprogramm der alten sozialliberalen Regierung - es bestand bis 1982 - angesprochen worden. Dieses Programm hat Energieeinsparungen gebracht. Danach ist nichts mehr geschehen. Jetzt machen wir wieder so etwas. Auch das ist eine Investition in die Zukunft. Ich erinnere daran, dass die Mittel für die Altbauwärmedämmung gerade in Ostdeutschland für das Bauhandwerk und das Ausbaugewerbe eine bedeutende Wirkung haben werden. ({5}) Ich möchte auf die Bedrohungen der gegenwärtigen Situation zu sprechen kommen. Wir setzen unsere binnenorientierte Politik konsequent fort, weil niemand dafür garantieren kann, dass wir den Teil der Windfall Profits, der sich aus dem Euro-Kurs ergibt, weiterhin haben werden. Im Moment haben wir es mit einer sehr deutlichen Euro-Schwäche zu tun. Dagegen kann man kaum etwas machen. Die Zinserhöhungen der EZB sind an ihr Ende gekommen. Ich bin bei weitem nicht mehr der Einzige - vor vier Wochen war ich es noch -, der diese Ansicht vertritt. Heute besteht auf den Märkten weitgehend Einigkeit: Bei weiteren Zinserhöhungen kann die Konjunktur noch schwächer werden - sie ist schon durch die bisherigen Zinserhöhungen geschwächt worden -, weniger in Deutschland als vielmehr in anderen europäischen Ländern, die bedeutend zinsempfindlicher sind. Das ist eine ganz große Gefahr. Die EZB sollte sich ihre Politik sehr gut überlegen. Wir können ihr keine Ratschläge geben; sie ist zu Recht autonom. Die EZB sollte überlegen, ob eine weitere Schwächung der Konjunktur nicht dazu führt, dass noch mehr privates Geld, zum Beispiel Portfolio-Investitionen, in die USA abwandert, wie wir es bereits erlebt haben. Unsere größte Sorge hinsichtlich dieses Geldes - über 160 Milliarden, davon über die Hälfte in kurzfristigen Portfolio-Investitionen - ist, dass in den USA keine weiche, sondern eine harte Landung - Kollege Poß hat es angesprochen erfolgen können. Für die Weltwirtschaft wäre eine solche Entwicklung außerordentlich problematisch. Es kommt darauf an, dass wir unsere internen Kräfte stärken. Herr Brüderle, Sie haben die Situation so dramatisch dargestellt, dass man das Gefühl hatte, ein Untergang fände statt. Das Gegenteil ist der Fall. Das Problem liegt doch woanders. In den USA gibt es bereits Probleme bei der Kreditversorgung. Die Entwicklung der Positionen in den so genannten Neuen Märkten ist völlig überzogen. Selbst bei einem Unternehmen wie Amazon stellt man die Frage, ob es überhaupt überleben könne. Überlegen Sie, was für ein Land wie die USA mit einer privaten Sparquote, die praktisch bei null liegt, ein Umkippen der Entwicklung bedeutet. Ich erinnere mich daran, wie es war, als in den 80erJahren der Dollar um 3,80 DM kostete. Die gegenwärtige Schwäche des Euro ist im Vergleich damit geradezu moderat. Ich weiß noch, welche Probleme das plötzliche Umkippen der Situation für unsere Konjunktur verursachte. Ich bitte Sie, mit dem Thema sehr vorsichtig umzugehen. Helfen Sie mit, mit einem Policymix - so nennen es die Ökonomen - die interne Konjunktur zu stärken. Dies sollte in Verbindung mit den europäischen Nachbarländern geschehen, damit keiner eine Beggar-my-Neighbour-Policy macht, wie sie ein großes westliches Nachbarland im Bereich der Mineralölsteuer zuletzt praktiziert hat. Das war nicht positiv. Auch das darf man hier einmal sagen. Vielen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gunnar Uldall.

Gunnar Uldall (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Minister Eichel, lieber Herr Kollege Wieczorek, es tut mir herzlich Leid, aber ich muss das Bild von der schönen neuen SPD-Welt, das hier gemalt worden ist, ein wenig eintrüben; ({0}) denn es ist so beim besten Willen nicht richtig. ({1}) Es gibt in der Mitte dieser Legislaturperiode einige interessante Negativrekorde, die bisher von Ihnen, Herr Minister, und von anderen Kollegen der SPD heute Morgen nicht genannt worden sind. Zunächst einmal: Noch nie mussten die Bürger in Deutschland so viel Steuern zahlen wie heute unter Ihnen, Herr Minister Eichel, und unter Bundeskanzler Gerhard Schröder. ({2}) Dazu kommen die Abgaben. Ich will sie gar nicht aufzählen. Aber 33,6 Prozent des Einkommens gehen heute für die Einkommensteuer, die Mehrwertsteuer, die KfzSteuer, die Tabaksteuer, die Kaffeesteuer und was es sonst noch alles an Steuern gibt, weg. ({3}) Eine solche Belastung, Herr Minister Eichel, hat es noch nie gegeben. Das Einzige, was ich bei Ihnen bewundere, ist, dass Sie es geschickt darstellen und den Eindruck erwecken, als ob Sie die Belastungen senken würden. ({4}) Das ist Ihre Kunst. ({5}) Der zweite Rekord ist: Noch nie mussten die Bürger an der Tankstelle für einen Liter Benzin so viel wie heute unter Ihnen bezahlen, Herr Minister. Was nützen die vielen kleinen Prozentzahlen und Trendberichte, die Sie genannt haben, wenn die Bürger - zum Beispiel an der Tankstelle - in diesem Maße zur Kasse gebeten werden? Das ist für die Bürger relevant; nicht die kleinen Zahlen und Erleichterungen, die Sie genannt haben. ({6}) Der dritte Rekord: Noch nie bekamen die Bürger beim Umtausch ihres Euros so wenig wie heute. Es wurde hier eben gesagt, das sei doch alles gar nicht so dramatisch, weil das keinen Einfluss auf die Kaufkraft habe. Herr Minister Eichel rühmte in seiner Erklärung die Preisstabilität. Auch Norbert Wieczorek nannte diesen Aspekt. ({7}) Ich empfehle Ihnen: Investieren Sie heute Morgen einmal 3 DM in den Kauf des „Handelsblatts“ und lesen Sie als Hauptaufmacher: Die Euro-Schwäche treibt die Preise. Nicht nur die Mineralölpreise sind davon betroffen, sondern das gilt auch für alle anderen Preise in Deutschland. Ich kann Ihnen wirklich nur empfehlen, dieses Thema nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, weil Sie glauben, Sie könnten im Moment politisch den Kopf aus der Schlinge ziehen, indem Sie diese drohende Gefahr einfach negieren. ({8}) Nein, dies darf nicht gemacht werden. Die Bürger bekommen heute für einen Euro nur noch 82 Cents. Zu Beginn waren es 117 Cents. Die Finanzmärkte, Herr Minister, sind die objektivsten Beobachter Ihrer Politik. ({9}) Wenn Ihre Politik als zu leicht empfunden wird, dann fällt der Euro. Diese Entwicklung haben wir derzeit. ({10}) Deswegen können wir alle lebhaften Beiträge und Zurufe von den Kollegen der SPD überhören. Sie interessieren nicht. Entscheidend ist, wie Ihre Politik in New York, Tokio und Frankfurt von den objektiven Beobachtern eingestuft wird. Dieses ist schlichtweg negativ. ({11}) Nun spreche ich einen Punkt an, mit dem sich die Sozialdemokraten - das gilt heute Morgen für alle Redner besonders gebrüstet haben, nämlich die angeblich so hervorragende Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Wir müssen zwischen der Arbeitslosenzahl und der Beschäftigtenzahl unterscheiden. Ich komme zunächst zu der Arbeitslosenzahl. Sie schaffen es nicht einmal, die Arbeitslosenzahl so zurückzuführen, wie es allein aufgrund des Überalterungseffektes in Deutschland der Fall sein müsste. ({12}) Stattdessen - das hat Peter Rauen schon sehr eindrucksvoll dargelegt ({13}) ändern Sie schlichtweg die Statistik. Dadurch gelingt es Ihnen, die Arbeitslosenquote um 0,7 Prozent zurückzuführen. ({14}) Meine Damen und Herren, alleine durch eine Neudefinition in der Statistik gelingt es der Regierung von SPD und Grünen, die ausgewiesene Arbeitslosenquote in Deutschland um 0,7 Prozent zurückzuführen. Ich kann wirklich nur sagen: Das ist eine propagandistische SuperGunnar Uldall leistung. Es wäre besser, wenn an dieser Stelle eine effektive Leistung stehen würde, Herr Minister. ({15}) Zum anderen gibt es neben der Zahl der Arbeitslosen die Zahl der Beschäftigten. Norbert Wieczorek hat eben gesagt, wir hätten in diesem Jahr rund 600 000 Beschäftigte mehr als im vergangenen Jahr. Die Ursache ist auch hier eine Änderung der Statistik. Ich empfehle Ihnen allen, einmal einen Blick in das Gutachten zur Lage der Weltwirtschaft zu werfen, über das wir heute debattieren. Das Gutachten wurde vor einigen Tagen von den Wirtschaftsinstituten veröffentlicht, und in einer besonderen Ausführung zur Revision der Erwerbstätigenstatistik heißt es: Diagnose und Prognose der Entwicklung am Arbeitsmarkt werden zurzeit durch erhebliche Korrekturen der amtlichen Erwerbstätigenstatistik erschwert. Es heißt weiter: In der ersten Jahreshälfte 2000 war die Zahl der Erwerbstätigen um 630 000 höher als im Vorjahr. Hurra, werden die Sozialdemokraten rufen. Aber der nächste Satz lautet: Alte Statistik: nur 100 000. Das, meine Damen und Herren, ist das Ergebnis Ihrer Politik: ein Anstieg der Zahl der Beschäftigten um 100 000. Nun schauen wir uns das Ganze einmal an: Bei 38 Millionen Beschäftigten sind das nicht einmal 0,3 Promille; es sind nur gut 0,2 Promille. Es ist Ihnen also gelungen, eine Verbesserung der Zahl der Beschäftigten um 0,2 Promille herbeizuführen. Man kann nun wirklich nicht davon sprechen, dass sich hier eine Trendwende vollzogen hat. Vielmehr müssen wir leider feststellen: Nach wie vor haben wir auf dem Arbeitsmarkt eine Stagnation zu verzeichnen. ({16}) Statistiken werden nur von erfolglosen Regierungen verändert. Eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik bedarf einer Veränderung der Statistik nicht. ({17}) Nun sollte sich Herr Minister Eichel einmal fragen, warum der erwartete Konjunktur- und Wachstumsschub trotz seiner Einkommensteuerreform nicht stattgefunden hat. Es müsste doch eigentlich so sein, dass die Prognosen nicht alle nach unten gehen. ({18}) Vielmehr müsste es so sein, dass die Prognosen, nachdem Ihre Reform verabschiedet worden ist, entsprechend den Erwartungen nach oben gehen. Alle Prognosen sind aber nach unten gegangen,- auch wenn Sie das bezweifeln. ({19}) - Ja. Die Prognosen gehen zurück. Ich lese weitere Prognosen vor. DG Bank: von 3,2 auf 3,0; Institut der Wirtschaft: von 3,0 auf 2,9; ({20}) Hessische Landesbank: von 3,0 auf 2,8; Commerzbank: von 3,0 auf 2,7. Das reicht doch wohl. Nun muss man sich fragen: Warum wurden diese Prognosezahlen nicht alle kräftig nach oben gesetzt, nachdem die grandiose Steuerreform von Herrn Eichel umgesetzt worden ist? Ich möchte nur einen Satz in den Raum stellen. Einer der renommiertesten Finanzwissenschaftler in Deutschland schreibt: Eichel hat sein Ziel mit dieser Reform verfehlt. ({21}) - Professor Lang aus Köln, dessen Kompetenz auch Sie nicht bestreiten werden, Herr Kollege. ({22}) Diese Reform ist keine tiefgreifende Strukturreform. Sie ist eine Tarifreform, aber eine Tarifreform, deren positiven Effekte sofort wieder dadurch aufgehoben werden, dass Sie die Ökosteuer erhöhen und die Abschreibungstabellen korrigieren. Alle Erleichterungen werden also gleich wieder zurückgenommen. All das führt dazu, dass diese Regierung mit der Einkommensteuerreform eine Riesenchance vertan hat. Es wäre für die konjunkturelle Entwicklung gut gewesen, wenn wir eine richtige Reform gehabt hätten. Leider müssen wir auf diese positiven Effekte verzichten. ({23}) Bedauerlicherweise ist es so, dass wir in Deutschland eine politische Entwicklung haben, die das Marktgeschehen kontinuierlich einengt. ({24}) Deswegen ist es dringend erforderlich, dass wir uns wieder zu mehr Marktwirtschaft, zu mehr Vereinfachungen in unseren Systemen und zu mehr Eigenverantwortung von Unternehmen und Arbeitnehmern hinwenden. Damit würden wir mehr Chancen für alle Menschen in Deutschland schaffen. ({25})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär Siegmar Mosdorf.

Siegmar Mosdorf (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001535

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben im Sommer 1998 eine Diskussion über die notorisch schlechte Laune in Deutschland gehabt. Manche werden sich daran erinnern, dass der damalige Bundespräsident davon gesprochen hat, es müsse ein Ruck durch Deutschland gehen, weil Deutschland in einer ungeheuren mentalen Depression verharre; so hat damals Roman Herzog geschrieben. Er hat hinzugefügt, die Deutschen seien mutlos geworden, und wenn sich daran nicht bald etwas ändere, werde das Land im internationalen Vergleich zurückfallen. Das war die Ausgangssituation im Sommer 1998. Nun, lieber Gunnar Uldall, habe ich heute Morgen die Investition in Höhe von 3 DM getätigt und das „Handelsblatt“ gekauft. Dort steht: „Henkel gibt der Regierung Schröder eine gute Gesamtnote für die Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Das kann man nach zwei Jahren Regierungszeit doch als ordentliches Ergebnis bezeichnen. ({0}) Manche sind ja der Auffassung, dass man Olaf Henkel, der als ein unerschrockener Interessenvertreter auftritt, mit Henkell Trocken vergleichen muss: Man kann mit ihm nur anstoßen; wenn man etwas Gutes tun will, muss man aber einen anständigen Wein trinken. Doch in der Sache hat er Recht. Wenn Herr Rauen heute Morgen davon gesprochen hat, wir seien dabei, Deutschland zum Fußkranken Europas zu machen, muss ich sagen: Herr Rauen, ich weiß nicht, wo Sie leben. Ich weiß nicht, ob Sie den „Economist“ lesen, der gerade mit dem Thema „Can do Schröder better?“ aufgemacht hat. „Yes, he can.“ Der „Economist“ schreibt, wir hätten in den letzten zwei Jahren unglaublich viel bewegt. Viele Dinge, die Sie liegen gelassen haben, sind erledigt worden. Wir holen auf und sind dabei, in Europa wieder Spitzenpositionen einzunehmen. Ich glaube, Herr Rauen, Sie haben sich irgendwo im Pfälzer Wald verirrt. ({1}) Jedenfalls sind Sie hier in der falschen Veranstaltung. Ihre Rede war auf jeden Fall mehr als dürftig, und ich bin gespannt, was wir in Zukunft noch von Ihnen hören werden. Das Gutachten, das wir heute debattieren, kommt zu dem Ergebnis, dass im Zuge der kräftigen Konjunktur die Zahl der Arbeitslosen saisonbereinigt Ende 2000 bei 3,8 Millionen und Ende 2001 bei 3,49 Millionen liegen wird. Damit werden wir das Ziel erreichen, das wir uns selbst gesetzt haben, nämlich die Arbeitslosigkeit endlich zu drücken; das ist das zentrale Anliegen dieser Bundesregierung. Wir machen das in einem durchaus schwierigen Spagat. Wir müssen den Haushalt konsolidieren und sanieren, gleichzeitig die Steuern und Abgaben senken und trotzdem in Zukunftsfelder investieren. Dieser Spagat ist nicht einfach, aber wir machen das und finden mittlerweile bei den internationalen Organisationen, bei Einrichtungen, die wirklich unverdächtig sind und ein sachliches Urteil fällen, ein positives Echo. An diesem Montag - vor wenigen Tagen - ist das Deutschlandexamen des IWF abgeschlossen worden. Es hat bestätigt, in welchem Maße die Reformpolitik der Bundesregierung konkrete Wirkungen hat. Der IWF stellt fest, die Steuerreform habe einen entscheidenden Anteil daran, dass in Deutschland der Reformstau überwunden wurde; die niedrigen Steuersätze hätten eine Signalfunktion, insbesondere für die ausländischen Investoren. Das ist ein wichtiges Ergebnis. Der IWF merkt an, dass eine völlige Kehrtwende eingetreten ist. Vorher waren die ausländischen Investoren über zehn Jahre hinweg sehr zurückhaltend. Jetzt kommen wir zu einem Ergebnis, das sich sehen lassen kann. Wenn Herr Stihl am 24. Oktober in der Zeitung „Die Welt“ ausführt, der Standort Deutschland sei heute attraktiver als vor zwei Jahren bei unserem Regierungsantritt, ist das ein Zeugnis, mit dem wir sehr gut leben können. Er hat Recht, wir haben eine Menge bewegt. Es ist völlig klar, dass wir dabei sind, gerade auch in den Wachstumsfeldern zu überzeugen. Das ist übrigens der Grund, warum das World Economic Forum Deutschland in seinem in den letzten Tagen erschienenen „Global Competitiveness Report“, der jährlich vorgelegt wird, höher gruppiert hat, und zwar um zehn Plätze. Deutschland ist hinsichtlich der Produktivität auf Rang drei vorgerückt. ({2}) - Ich glaube auch, dass man denen das schriftlich geben muss. Der Wirtschaftsaufschwung in Deutschland kommt voran. In den ganzen 90er-Jahren lag das Wirtschaftswachstum in Deutschland trotz des Vereinigungsbooms durchschnittlich nur bei 1,4 Prozent. Zum ersten Mal seit längerer Zeit liegt es jetzt wieder bei 3 Prozent. Das ist ein enormer Fortschritt. Das wirtschaftliche Wachstum wirkt sich inzwischen auch positiv auf den Arbeitsmarkt aus. Wir haben angesichts der Erlöse aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen nicht gesagt: Wir nehmen das Geld und geben es aus. Vielmehr haben wir die wichtige Grundsatzentscheidung getroffen, den Erlös in Höhe von 100 Milliarden DM zur Schuldentilgung zu verwenden, und zwar in einer Phase, in der die Konjunktur gut läuft. So etwas hätten wir bei Ihnen nie erlebt. Im Vergleich zu Ihnen gehen wir den umgekehrten Weg: Wir verwenden, wie gesagt, die 100 Milliarden DM zur Schuldentilgung und nutzen den durch die Zinsersparnisse entstehenden geringen Spielraum für wichtige Zukunftsinvestitionen; denn eines ist klar: Der Spagat zwischen Konsolidierung und Zukunftsinvestitionen muss durchgehalten werden. Wir müssen weiter sanieren, weiter Steuern und Abgaben senken und weiter in die Zukunft investieren. Diese Trias wird unsere Politik auch in den nächsten Jahren wesentlich bestimmen. ({3}) Wir haben auch auf den Zukunftsfeldern wichtige Fortschritte erzielt. Wir haben auf den Wachstumsfeldern von morgen, insbesondere bei der Informations- und Kommunikationstechnologie, wichtige Weichenstellungen vorgenommen. Die Informations- und Kommunikationsbranche weist in diesem Jahr ein Wachstum von 10,4 Prozent auf. Im nächsten Jahr rechnen wir mit einem Wachstum von 10 Prozent auf diesem wichtigen Zukunftsfeld. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Pricewaterhouse bezeichnet Deutschland als die derzeit führende Internetnation in Europa, weil von den 150 größten börsennotierten Internetunternehmen 56 aus Deutschland kommen. Das heißt, wir haben uns in diesem wichtigen Zukunftsfeld neu aufgestellt und versprechen uns davon enorme Arbeitsplatzeffekte. Wir erwarten, dass insbesondere durch die Weichenstellungen in der Informations- und Kommunikationstechnik 750 000 neue Arbeitsplätze bis zum Jahr 2010, also in zehn Jahren, entstehen werden, dass wir durch die Weichenstellungen in den Wachstumsbranchen von morgen gut aufgestellt sind und dass wir von der Orientierung hin auf diese Wachstumsfelder profitieren werden. Lassen Sie mich zum Schluss noch Folgendes sagen: Das, was Roman Herzog angemahnt hat, nämlich dass ein Ruck durch Deutschland gehen müsse, ist befolgt worden. Das Klima in Deutschland ist heute ein völlig anderes als das von vor zwei Jahren. Das drückt sich sowohl in dem Herbstgutachten der Sachverständigen als auch im Urteil der wichtigsten internationalen Institute über die Entwicklung in Deutschland aus. Ich finde, man sollte dann auch eine positive Zwischenbilanz ziehen. Man muss nicht immer aus parteipolitischen Gründen gegen alles sein, wenn es einmal positiv in Deutschland läuft. Man kann ruhig einmal zugeben, dass sich etwas verändert hat. ({4}) Das heißt aber nicht, dass wir aufhören können. Wir müssen weiterhin hellwach sein. Wir müssen innovativ sein. Es gilt der Satz von Benjamin Britten: „Lernen ist wie Rudern gegen den Strom. Wer aufhört, fällt zurück.“ Aber das muss man heute nicht der Regierung, sondern der Opposition sagen. Vielen Dank. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile das Wort der Kollegin Dagmar Wöhrl für die CDU/CSU-Fraktion.

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Handwerk hat vor einigen Tagen ein Memorandum zur Mittelstandspolitik vorgelegt. Dieses Memorandum beginnt mit dem Satz: „Mittelstandspolitik ist ihrem Wesen nach eine Querschnittsaufgabe.“ Das heißt mit anderen Worten: Mittelstandspolitik beschränkt sich nicht auf Sonntagsreden, in denen sie ja immer gelobt wird. ({0}) Echte Mittelstandspolitik zu machen heißt, in allen Bereichen der Gesetzgebung und des staatlichen Handelns für Rahmenbedingungen zu sorgen, unter denen mittelständische Betriebe erfolgreich arbeiten können. ({1}) Ich glaube, dem wird niemand hier im Saal widersprechen. Aber handeln Sie auch danach, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierung? ({2}) Das Handwerk ist nicht dieser Meinung. Sein Präsident findet, dass Ihre Mittelstandspolitik allein als Reparaturbetrieb funktioniert. Erst verfassen Sie Gesetze, ohne auf den Mittelstand Rücksicht zu nehmen. Kommt ein Protest, reparieren Sie wieder ein bisschen. Das ist so geschehen bei der Scheinselbstständigkeit, das ist so geschehen bei der Steuergesetzgebung: Immer wieder wird sukzessive ein bisschen nachgebessert. So geschehen ist das jetzt auch bei den Betriebsveräußerungen. Ich rate Ihnen: Bessern Sie richtig nach. Beziehen Sie die Betriebsveräußerungen ab dem Jahr 1999 ein, sonst müssen Sie wieder reparieren. So geschehen ist es auch beim Rechtsanspruch auf Teilzeit, wo Sie nachträglich eine Kleinbetriebsklausel mit eingebaut haben. Warum arbeiten Sie nicht von Anfang an sorgfältig, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierung? ({3}) Hätten Sie im Sinne des Mittelstandes richtig vorgearbeitet, dann hätten Sie sich die ganze Gesetzgebung zur Scheinselbstständigkeit sparen können; denn die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze hätten ausgereicht. Sie hätten eine gute Steuerreform gemacht, wenn Sie nicht zwischen guten und schlechten Einkünften unterschieden hätten. ({4}) Sie hätten außerdem bei der Teilzeitarbeit auf Freiwilligkeit setzen sollen. Zum Thema Teilzeit: Sie wollen jedem Beschäftigten einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit geben. In Ihrem Gesetzentwurf steht, der Arbeitnehmer könne sich sogar eine gewünschte Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Arbeitstage in der Woche aussuchen. ({5}) Können Sie mir sagen, wie Sie dann noch eine vernünftige Personalplanung machen wollen? ({6}) Stellen Sie sich vor, ein Verkäufer aus dem Einzelhandel kommt am 2. November zu seinem Chef und sagt: Chef, ab 1. Dezember will ich nur noch montags bis freitags von 9 bis 13 Uhr arbeiten. Der Chef sagt natürlich - es kommt ja die Weihnachtszeit -: Das geht aus betrieblichen Gründen nicht. Dann sagt der Arbeitnehmer: Diese betrieblichen Gründe erkenne ich nicht an. Was passiert dann? Dann wird diese Interpretation vor dem Gericht ausgetragen. Bis eine Entscheidung des Gerichts vorliegt, ist das Weihnachtsgeschäft vorbei. ({7}) Ich warne auch noch vor etwas anderem: Prozessanfälligkeit hat sich in unserem Staat immer mehr zu einem Standortnachteil entwickelt. ({8}) Dem müssen wir von vornherein durch eine ausgewogene Gesetzgebung entgegenwirken. Sie planen einen massiven Eingriff in die Vertragsfreiheit. Der Arbeitgeber wird zu einer Vertragsänderung gezwungen, die er nicht will. Ob das mit dem Grundgesetz vereinbar ist, wollen wir mal dahingestellt lassen. Wir wissen aber, dass es immer dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen muss, wenn ein starker Grundrechtseingriff vorgenommen wird. Sie brauchen dafür Rechtfertigungsgründe. Bei Ihnen gibt es aber keine Gründe. Bei Ihnen soll jeder einen Anspruch auf Teilzeitarbeit haben. Ihr Konzept beruht auf dem von der Wirtschaftswissenschaft tausendfach widerlegten Irrglauben, man könne Beschäftigung schaffen, indem man einfach die vorhandene Arbeit auf mehr Köpfe umverteilt. Es gibt aber kein feststehendes Arbeitsvolumen - in einer globalisierten Wirtschaftsordnung schon gar nicht. Auch glaube ich, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass mit diesem Gesetz keine Teilzeitstellen geschaffen werden. Im Gegenteil: Es werden Teilzeitstellen vernichtet; denn welcher Arbeitgeber wird zukünftig noch mehr Teilzeitkräfte einstellen, wenn er daran denkt, dass diese später auch einen Anspruch auf Vollzeitstellen in seinem Betrieb haben werden? Sie haben außerdem eine immense Schwellenangst geschaffen: Wer wird zukünftig noch den 16. Arbeitnehmer in seinen Betrieb aufnehmen? In den letzten Wochen hat Sie beim Thema Arbeitsrecht eine immense Regulierungswut erfasst. Sie schaden damit dem Mittelstand und verhindern damit mehr Beschäftigung. Ebenso ist es mit dem von Ihnen geplanten Betriebsverfassungsgesetz. Wir haben bis jetzt schon eines der stärksten Mitbestimmungsgesetze der Welt. ({9}) Die von Ihnen geplante Ausweitung der Mitbestimmung wäre ein fatales Signal gegen Investitionen. Wir entfernen uns damit auch immer mehr von unseren europäischen Partnern. Haben Sie einmal darüber nachgedacht, dass wir in Europa ein immenses Mitbestimmungsgefälle verursachen und somit dem europäischen Binnenmarkt nicht sehr förderlich sind? Sie planen auch eine Ausweitung der Mitbestimmung im Bereich des Umweltschutzes. ({10}) Wissen Sie eigentlich, dass Sie damit einen Systemwechsel mit unabsehbaren Folgen vornehmen? Erstmals würden die Betriebsräte nicht nur für die inneren Angelegenheiten eines Betriebes, sondern auch für die nach außen gerichteten Aktivitäten eines Unternehmens zuständig. Man hat fast das Gefühl, dass Ihnen Demokratie und Minderheitenschutz inzwischen ganz egal sind. Im Hauruck-Verfahren sollen zukünftig Betriebsratswahlen durchgeführt werden. Minderheiten hätten in einer kurzfristig anberaumten Betriebsversammlung die Möglichkeit, einen Betriebsrat durchzusetzen, der möglicherweise nicht dem Interesse der Belegschaft entspricht. Es scheint Ihnen auch völlig egal zu sein, was die Umsetzung Ihrer Pläne kostet. Wir sind ja von Ihnen gewöhnt, dass Sie sich für die Kostenfrage nicht interessieren und dass Sie dem Mittelstand die Kosten, die durch Ihre Gesetze entstehen, einfach auferlegen. Was glauben Sie, welche Kosten sich ergeben, wenn man die Grenze hinsichtlich der Freistellungen und der Betriebsratsgröße herabsetzt? Der Mittelstand ist momentan am wenigsten in der Lage, eine solche Kostenerhöhung zu tragen. ({11}) Wir wissen auch, dass es für die Unternehmen wichtig ist, flexibel und schnell ihre Arbeitsorganisation den Bedürfnissen des Marktes anpassen zu können. Es sind oft schnelle Veränderungen am Produkt und in den Produktionsabläufen gefragt. Deswegen darf die Mitbestimmung das unternehmerische Handeln nicht lahm legen. Ich lege Ihnen ans Herz: Bitte beachten Sie diesen Punkt, wenn Sie Ihren Entwurf vorlegen! Wir brauchen Freiräume für die Betriebe. ({12}) Frau Wolf hat dies zu Recht gesagt. Ich appelliere an Sie: Handeln Sie auch danach! Wir müssen zu einer Ausweitung des Günstigkeitsprinzips kommen. Hören Sie also auf Ihre Kollegin Frau Wolf und setzen Sie ihre Anregung um! ({13}) Ihnen geht es aber gar nicht um eine Stärkung der Betriebsräte. Man hat vielmehr manchmal das Gefühl, es geht Ihnen um eine Stärkung des Gewerkschaftseinflusses. ({14}) Anscheinend soll dies ein verspätetes Dankeschön für die Unterstützung im Wahlkampf sein. Man kann da von einem politischen Kuhhandel sprechen, wie es auch beim Ladenschluss im Zusammenhang mit der Rentenreform der Fall war.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, bitte achten Sie auf Ihre Redezeit.

Dagmar G. Wöhrl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002829, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich will zum Schluss darauf hinweisen: Die wirtschaftliche Lage in Deutschland hängt ganz entscheidend vom Mittelstand ab. ({0}) Wenn es dem Mittelstand gut geht, dann geht es auch der Wirtschaft gut. Denken Sie daran und behandeln Sie die Mittelstandspolitik nicht als „Reparaturbetrieb“! ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich für die SPD-Fraktion dem Kollegen Jörg-Otto Spiller das Wort.

Jörg Otto Spiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002804, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Wöhrl, ich finde, die Maske der Weinerlichkeit steht Ihnen nicht. ({0}) Der Kollege Michelbach hat die Rolle, über die angeblich schlechte Behandlung des Mittelstandes zu klagen, so gut drauf, dass Sie ihm in dieser Hinsicht keine Konkurrenz machen sollten. ({1}) Das schadet auch Ihrem Ansehen. Ich kann allerdings verstehen, dass Sie darüber traurig sind und dass es Sie ärgert, dass die Politik der Bundesregierung und der sie tragenden Koalition mehr und mehr Zustimmung gerade auch im Mittelstand findet. ({2}) Die deutsche Wirtschaft befindet sich seit 1999 wieder in einer Phase des konjunkturellen Aufschwungs. Das ist die Kernaussage des Gemeinschaftsgutachtens der sechs führenden Wirtschaftsforschungsinstitute, das jetzt vorgelegt wurde. ({3}) Herr Kollege Rauen und Herr Kollege Brüderle, wenn man Ihre Reden hört, hat man den Eindruck: Das tut Ihnen richtig Leid. ({4}) Bei Ihnen, Herr Kollege Brüderle, schwingt noch ein bisschen die nostalgische Erinnerung an den Wirtschaftsminister Rexrodt mit, der seine Rolle so verstanden hat, den Standort Deutschland immer madig zu machen. ({5}) Jedes Mal, wenn der Mann in seiner amtlichen Funktion im Deutschen Bundestag geredet hat, hat er die Reformunfähigkeit in Deutschland beklagt. Solange er mit in der Regierung saß, hatte er sogar Recht. ({6}) Es hat sich inzwischen eine Menge getan, und das hat eben auch mit der Politik zu tun. Das heißt, der politische Hintergrund, den der Aufschwung bzw. der Wachstumsprozess benötigen, ist inzwischen wieder vorhanden. Die Institute heben insbesondere hervor, dass der Aufschwung an Breite gewonnen hat. Nicht mehr nur die Auslandsnachfrage trägt den Aufschwung. Vielmehr haben neben dem Export, der auch weiterhin eine Auftriebskraft darstellt, insbesondere die Investitionen, vor allem die Ausrüstungsinvestitionen, zugenommen. Das ist das klassische Muster eines erfolgreichen konjunkturellen Prozesses, ausgelöst durch die starke Konkurrenzfähigkeit. ({7}) Auf internationaler Ebene nimmt die Stärke der deutschen Wirtschaft zu. Sie zieht mit eigenen Investitionen, inzwischen übrigens auch mit Erweiterungsinvestitionen, nach und schafft neue Arbeitsplätze sowie neue Kapazitäten. Das strahlt auf die Massenkaufkraft der Beschäftigten aus. Eine Sache haben Sie die ganze Zeit über angemahnt, aber nie erreicht: Wir befinden uns jetzt endlich wieder in der Situation, dass ein Anstieg der Bruttolöhne und -gehälter nicht durch wachsende Abgaben und durch Lohnsteuerbelastungen kaputtgemacht wird. ({8}) - Frau Wöhrl, hören Sie einmal zu. Wahrscheinlich hatten Sie bei der Vorbereitung Ihrer Rede keine Zeit, in das Herbstgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute hineinzuschauen. ({9}) Sie sollten es einmal nachlesen. Einen wirklich schönen Hinweis werden Sie ({10}) - doch, doch, ich finde ihn schon - auf Seite 50 der jetzigen Fassung finden: Im kommenden Jahr werden von der Verringerung der Abgabenbelastung, insbesondere von der Einkommensteuerreform, spürbare Impulse auf den privaten Konsum ausgehen. ({11}) Die Bruttolöhne und -gehälter werden mit 3,3 Prozent im gleichen Tempo wie im Vorjahr, die Nettolöhne und -gehälter wegen der Steuerentlastung mit 5,3 Prozent deutlich kräftiger zunehmen. Das haben wir immer gewollt. ({12}) Es ist völlig in Ordnung, dass die Wirtschaftsforschungsinstitute darauf mit aller Deutlichkeit hinweisen. Die Politik spielt in der Wirtschaft eine Rolle. Wirtschaft findet eben nicht nur in der Wirtschaft statt, wie die F.D.P. glauben machen wollte. Zu ihr gehört vielmehr auch der richtige politische Rahmen. Man kann sich eben nicht davonstehlen, wie Sie das immer wollten. ({13}) - Das haben Sie aber immer gepredigt. - Wir machen in Deutschland jetzt eine Wirtschafts- und Finanzpolitik, die dem Wachstumsprozess hilft und inzwischen auch zu einer Zunahme der Beschäftigung führt. Das schlägt sich nicht nur in steigender Produktion nieder, sondern auch in steigender Beschäftigung und sinkender Arbeitslosigkeit. Noch immer haben wir zu viele Arbeitslose in Deutschland. Aber Schritt für Schritt sinkt die Arbeitslosigkeit und steigt die Beschäftigung. Herr Kollege Uldall meinte, darauf hinweisen zu müssen, geringfügig Beschäftigte würden in den statistischen Erhebungen anders behandelt als vorher. Das trifft zu. Aber der Kern ist ein anderer Punkt: Geringfügig Beschäftigte werden nicht nur in der Statistik, sondern auch in der Realität anders behandelt. Das, was Sie jahrelang befürwortet oder zumindest hingenommen haben, ({14}) nämlich dass normale versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in Billigjobs umgewandelt wurden, das haben wir zurückgedreht. Auch für Beschäftigte mit geringem Arbeitsumfang haben wir eine anständige soziale Sicherung geschaffen. ({15}) Ein paar Worte noch zur Wirkung der Steuerreform auf die Unternehmen, und zwar insbesondere mit Blick auf Ostdeutschland. Bei aller Freude, die wir über die Zunahme der Beschäftigung und den Rückgang der Arbeitslosigkeit in Deutschland insgesamt empfinden, ist darauf hinzuweisen, dass sich der auf dem Arbeitsmarkt festzustellende Erholungsprozess bisher in Ostdeutschland kaum gezeigt hat. Das liegt insbesondere daran, dass dort nach wie vor die Produktivität der Betriebe geringer ist. Die Lücke ist in vielen Bereichen geringer geworden. Auch die ostdeutschen Unternehmen nehmen inzwischen am Exportwachstum teil. Insgesamt aber bleibt eine Lücke. Deswegen ist gerade unsere Steuerreform, die die Inves-titionskraft der Unternehmen stärkt und die den Gewinn, der im eigenen Unternehmen bleibt, steuerlich deutlich geringer belastet, eine wesentliche Voraussetzung für den weiteren Erholungsprozess in Ostdeutschland. Meine Damen und Herren von der Opposition, ich weiß, dass Ihnen das nicht schmeckt, denn Sie konnten solch gute Ergebnisse nie vorweisen. Das Herbstgutachten der Institute ist eine volle Bestätigung unserer Politik. Vielen Dank. ({16})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses auf Drucksache 14/4076. Der Ausschuss empfiehlt unter Ziffer 1 seiner Beschlussempfehlung, den Jahreswirtschaftsbericht 2000 der Bundesregierung auf Drucksache 14/2611 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Der Finanzausschuss empfiehlt unter Ziffer 2 seiner Beschlussempfehlung, den Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/2721 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen der PDS ist diese Beschlussempfehlung angenommen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/4377 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 sowie Zusatzpunkt 15 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle, Günther Friedrich Nolting, Hildebrecht Braun ({0}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({1}) - Drucksache 14/1728 ({2}) ({3}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({4}) - Drucksache 14/4420 Berichterstattung: Abgeordnete Anni Brandt-Elsweier Volker Beck ({5}) Sabine Jünger Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({6}) - Drucksache 14/4380 ({7}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({8}) - Drucksache 14/4420 Berichterstattung: Abgeordnete Anni Brandt-Elsweier Volker Beck ({9}) Sabine Jünger Ich weise darauf hin, dass über den zuletzt genannten Gesetzentwurf namentlich abgestimmt werden soll. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Auch damit sind Sie einverstanden. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Anni Brandt-Elsweier, SPD-Fraktion.

Anni Brandt-Elsweier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000247, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon bemerkenswert, was eine einzige Frau alles bewegen kann: Erinnern wir uns an Tanja Kreil, die sich 1996 bei der Bundeswehr für den Bereich „Instandsetzung von Waffensystemen“ beworben hatte. Ihre Bewerbung wurde abgelehnt mit dem Hinweis auf Art. 12 a Abs. 4 Satz 2 des Grundgesetzes. Demzufolge war Frauen lediglich der Zugang zum Sanitäts- und Militärmusikdienst offen. Ansonsten waren sie vom Dienst mit der Waffe, auch dem freiwilligen, ausgeschlossen. Der Europäische Gerichtshof stellte in seiner Entscheidung vom 11. Januar 2000 fest, dass dieser allgemeine Ausschluss der Frauen vom Dienst mit der Waffe gegen die europäische Gleichstellungsrichtlinie vom 9. Februar 1976 verstößt. Daran haben wir uns zu halten. Der Verteidigungsminister hat bereits entsprechend reagiert. Durch eine Änderung des Soldatengesetzes und der Laufbahnverordnung ist es jetzt den Frauen möglich, sich freiwillig für den Dienst mit der Waffe in der Bundeswehr zu bewerben. Nun gilt es noch zu klären, ob über diese einfachgesetzliche Regelung hinaus auch eine Änderung des Grundgesetzes erforderlich ist. Die F.D.P. ist dieser Ansicht und hat bereits im Oktober 1999 einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Streichung des Satzes 2 in Art. 12 a Abs. 4 des Grundgesetzes vorsieht. Der Wortlaut dieses Satzes - „Sie dürfen auf keinen Fall Dienst mit der Waffe leisten.“ - begründete das generelle Verbot für Frauen, Dienst an der Waffe zu leisten. Es stellt sich hier jedoch nach wie vor die Frage: Wer sind „sie“? Da diese Formulierung im Abs. 4 als Satz 2 steht, kann sie sich für den unbefangenen Betrachter eigentlich nur auf Satz 1, also auf die dort erwähnten zwangsverpflichteten Frauen im Verteidigungsfall, beziehen. Vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzartikels zur Wehrpflicht der Männer ist dieses Waffendienstverbot aber lange Zeit auf alle Frauen schlechthin bezogen worden. Zwischenzeitlich hat sich das gesellschaftliche Bewusstsein gewandelt. Der Ausschluss von Frauen, die freiwillig Dienst mit der Waffe leisten wollen, wird als Verstoß gegen die Gleichberechtigung von Mann und Frau angesehen. So haben schon seit längerem namhafte Rechtsexperten diesem Artikel eine frauenfreundliche Interpretation gegeben und ihm nur noch das Waffendienstverbot für dienstverpflichtete Frauen entnommen, nicht aber das Verbot des freiwilligen Waffendienstes aller Frauen. Die Anhörung der Sachverständigen am 23. Februar 2000 hat dies im Wesentlichen bestätigt. Auch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zwingt nicht zu einer Grundgesetzänderung. Europarecht ist zweifelsfrei höherrangiges Recht und bei der Auslegung des Art. 12 a GG entsprechend anzuwenden. Bei Zugrundelegung der dargelegten Interpretation des Art. 12 a GG wären die Anforderungen des EuGH erfüllt gewesen. Die Neuauslegung entspräche auch viel eher einem unbefangenen Textverständnis als die bisherige enge Auffassung. Die Verfassung würde also nicht missverständlicher, wenn Art. 12 a GG unverändert bliebe, sodass es meines Erachtens auch im Sinne einer Klarstellung keiner Grundgesetzänderung bedarf. ({0}) Dies war die Auffassung der Regierungskoalition und es war auch meine Auffassung. Es war jedoch nicht die Auffassung der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion; das ist zuzugestehen. Um ihre Ansicht durchzudrücken, verlangten die beiden Oppositionsfraktionen ein Koppelgeschäft mit Art. 16 GG. ({1}) Bei der Änderung des Art. 16 GG geht es darum, dass künftig unter bestimmten Voraussetzungen auch deutsche Staatsbürger aus der Bundesrepublik ausgeliefert werden können. Dies war lange Zeit vollkommen unstrittig, nämlich so lange, bis CDU/CSU und F.D.P. das Mittel der Nötigung entdeckten ({2}) und ihre Zustimmung zur Änderung des Art. 16 davon abhängig machten, dass die Koalitionsfraktionen einer Änderung von Art. 12 a zustimmen. ({3}) - Aber ohne Vorsatz, wie ich hoffe. Dieses Junktim war und ist für mich nicht nachvollziehbar und wird dem Anliegen auch nicht gerecht. So kann man meines Erachtens mit Verfassungsänderungen nicht umgehen. ({4}) Unser Grundgesetz ist eine allgemein gültige Rechtsnorm und sollte nicht Gegenstand von Streitereien sein. Der nach langem Ringen gefundene parteienübergreifende Konsens sieht jetzt die folgende Neuformulierung für Satz 2 vor: Sie dürfen auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet werden. Dieser Kompromiss ermöglicht zum einen den Frauen den freiwilligen Zugang zur Bundeswehr in allen Bereichen und schließt zum anderen aus, dass Frauen einer Vizepräsidentin Anke Fuchs Wehrpflicht unterliegen. Dies entspricht im Ergebnis sicherlich dem politischen Willen aller Fraktionen dieses Hauses. Im Sinne einer parteienübergreifenden Einigung stimmen wir der gefundenen Formulierung zu. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt erteile ich Professor Dr. Rupert Scholz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Prof. Dr. Rupert Scholz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002063, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau BrandtElsweier, das Wort „Nötigung“, das Sie eben benutzt haben - mir steht es nicht zu, die Präsidentin wegen Unterlassung zu kritisieren -, war eine schlichte Unverschämtheit. ({0}) Es war auch wirklich unnötig, denn das Entscheidende ist: Wir sind in diesem Hause in der Sache einig, ({1}) dass der freiwillige Dienst von Frauen an der Waffe künftig zu ermöglichen ist. Darüber besteht Einigkeit. Einigkeit bestand - nun sehe ich: bei Ihnen immer noch nicht - darüber nicht, ob dies einer Verfassungsänderung bedarf. Ich finde es erstaunlich, dass Sie nun wieder die Position vertreten haben, dass es keiner Verfassungsänderung bedürfe. Sie haben das Urteil des EuGH zitiert. Sie vergessen aber, deutsche Gerichte zu zitieren. Sie vergessen, das Bundesverfassungsgericht und auch das Bundesverwaltungsgericht zu zitieren, das noch 1999 ganz klargestellt hat, dass auch der freiwillige Dienst an der Waffe für Frauen nach der geltenden Fassung des Art. 12 a Abs. 4 Satz 2 des GG ausgeschlossen ist. Das ist dann mit Recht Staatspraxis geworden. Art. 12 a Abs. 4 Satz 2 war eine Schutznorm für Frauen, auf der Grundlage trauriger Erfahrungen, die wir vor allem unter dem nationalsozialistischen Regime gegen Ende des Zweiten Weltkriegs machen mussten. Das gesellschaftliche Bewusstsein in dieser Frage hat sich in der Tat geändert. Ich denke, es hat sich mit Recht geändert. Unsere Bundeswehr ist heute integraler Bestandteil unserer Gesellschaft; der Bürger in Uniform ist integraler Bestandteil unserer Gesellschaft. Das führt dazu, dass auch die Bürgerin in Uniform berechtigter integraler Bestandteil unserer demokratischen Gesellschaft sein muss. ({2}) Das ist eine klare Ausgangssituation, die es nun rechtlich umzusetzen gilt. Sie haben zunächst geglaubt, Sie könnten das mit dem Federstrich des Gesetzgebers auf einfachgesetzlicher Ebene über das Soldatengesetz machen. Damit wären Sie wiederum in einen massiven Gegensatz vor allem zur höchstrichterlichen Rechtsprechung geraten. ({3}) Das Feld, um das es hier geht, ist sehr sensibel. Denken Sie einmal an den Ernstfall, daran, wenn eine Frau wirklich einmal in den Krieg muss. Das wünscht man niemandem, weder einem jungen Mann noch einer jungen Frau; aber das ist die Konsequenz. Da geht es um eine Fürsorgepflicht, die nicht nur dieses Haus, sondern jedermann hat. Wollen Sie eine Frau auf einer ungewissen rechtlichen Grundlage in einen bewaffneten Einsatz schicken? ({4}) - Eben, das wäre das Schlimmste, Frau von Renesse. ({5}) Deshalb bedarf es auch insoweit der Verfassungsänderung. Dabei handelt es sich um eine konstitutive Verfassungsänderung. Es ist gut, dass wir diese im Ergebnis heute gemeinsam vornehmen. Über das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in dem Falle Tanja Kreil sollten wir nicht sonderlich streiten. Man mag dieses Urteil begrüßen, man mag es kritisieren. Eines steht auf jeden Fall fest: Dieses Urteil beinhaltet einen eindeutigen Kompetenzverstoß des Europäischen Gerichtshofs. Er hat sich unter Berufung auf die Gleichbehandlungsrichtlinie auf ein Entscheidungsfeld gewagt, das nicht zu den Zuständigkeiten der Europäischen Union gehört, nämlich das Feld der Sicherheitspolitik, der Streitkräftestrukturen. Das geht auch nicht über die Gleichbehandlungsrichtlinie. ({6}) Denken wir an unsere Debatte zur Europäischen Grundrechte-Charta zurück. Damals ist in diesem Haus einhellig begrüßt worden, dass in Art. 49 der Europäischen Grundrechte-Charta steht, dass diese nicht zur Begründung neuer Kompetenzen dienen darf. Die Gleichbehandlungsrichtlinie begründet letztlich den Gleichbehandlungsgrundsatz und damit ein Grundrecht. Der Europäische Gerichtshof hat damit etwas getan - was auch jetzt mit der Grundrechte-Charta bescheinigt wird -, was nicht statthaft war. Also bildet auch dieses Urteil des Europäischen Gerichtshofs für dieses schwierige und - ich betone es noch einmal - sehr sensible Feld ganz eindeutig keine tragfähige Rechtsgrundlage. Deshalb ist es nicht nur verfassungspolitisch richtig, sondern auch verfassungsrechtlich richtig, dass Sie, die Koalition, den Kurs aufgenommen haben, den wir und die F.D.P. eingeschlagen haben, wobei ich ganz ausdrücklich hervorheben möchte: Die F.D.P. hat bereits vor dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs eine entsprechende Verfassungsänderungsinitiative eingebracht. ({7}) Ich möchte noch einmal zurückblicken. Das Thema der Notwendigkeit und der Zweckmäßigkeit einer solchen Verfassungsänderung, durch die den Frauen der freiwillige Dienst an der Waffe ermöglicht wird, ist schon ziemlich lange in der Diskussion, gerade in der Union. Ich darf an die viel zu früh verstorbene Kollegin Michaela Geiger, frühere Parlamentarische Staatssekretärin im Verteidigungsministerium und dann Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, erinnern. Sie hat dieses Thema schon damals mit großem Nachdruck und großer Überzeugungskraft vertreten. Auch das sollte man in einer solchen Stunde nicht vergessen. Die Stimmen und das Werben für diese Änderung sind alt, aber heute ist der Tag, an dem dieses Thema nun in der richtigen Form - mit einer entsprechenden Verfassungsänderung - abgeschlossen wird. Diese Verfassungsänderung ist im Konsens erreicht worden. Noch einmal, Frau Brandt-Elsweier: Man sollte nicht wie Sie mit Vokabeln arbeiten, mit denen man im Grunde diesen Diskussionsprozess, den wir gemeinsam geführt haben, diskreditiert. Das war bedauerlich. Vielen Dank. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile dem Kollegen Volker Beck von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Entwurf stärken wir die Berufsfreiheit in Deutschland. Wir beenden ein Stück Diskriminierung von Frauen im Berufsleben und schaffen hierfür zugleich die notwendige Rechtsklarheit und Rechtssicherheit in der Verfassung. Frauen werden künftig auf freiwilliger Basis in allen Bereichen der Streitkräfte, auch an der Waffe, Dienst leisten können. Die Verfassung jedenfalls legt ihnen ab dem heutigen Tag keine Steine mehr in den Weg. Verfassungsrechtliche Bedenken, die es aufgrund einer unklaren Rechtslage gab, werden mit dem vorliegenden Entwurf ausgeräumt. ({0}) Meine Damen und Herren, der Europäische Gerichtshof hat im Januar dieses Jahres im Fall der Anlagenelektronikerin Tanja Kreil zu Recht gerügt, dass den Frauen in Deutschland bislang bei der Bundeswehr nur der Zugang zum Sanitäts- und Militärmusikdienst erlaubt ist. Dieser Verstoß gegen die europäische Gleichbehandlungsrichtlinie gehört jetzt in Deutschland der Vergangenheit an. Frauen werden künftig alle beruflichen Chancen und Möglichkeiten bei der Bundeswehr haben. Die hierfür erforderlichen Änderungen im Soldatengesetz hat die Bundesregierung bereits auf den Weg gebracht. Mit dieser Grundgesetzänderung erledigt sich endlich der leidige Expertenstreit darüber, ob der bisherige Satz 2 des Art. 12 a Abs. 4 GG auch den freiwilligen Waffendienst von Frauen mit verbietet. Eine Interpretation in diesem Sinne, wie sie übrigens vom überwiegenden juristischen Schrifttum und auch vom Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung geteilt wurde ({1}) und wie es auch jahrzehntelang deutsche Staatspraxis in diesem Bereich war, ({2}) wäre mit dem Judikat des Europäischen Gerichtshofs ohnehin nicht mehr zu vereinbaren gewesen. Jetzt aber widerspricht sie eindeutig unserer Verfassung. Meine Damen und Herren, ich habe mich von Anfang an - wie auch meine Kollegin, die verteidigungspolitische Sprecherin aus unserer Fraktion - für eine solche verfassungsrechtliche Klarstellung ausgesprochen und gegen eine bloße gemeinschaftskonforme Auslegung des Grundgesetzes. Die Rechtslage ist jetzt eindeutig und das ist gut so. Es drohen keine Gerichtsurteile, die den Freiwilligendienst von Frauen für verfassungswidrig erachten. Wir schaffen Rechtssicherheit, die wir den Bürgern - in diesem Fall, besser gesagt, den Bürgerinnen schuldig sind. Diese Gesetzesänderung ist übrigens auch rechtspolitisch vernünftig, so wie wir sie gemacht haben, denn ich halte nichts von einer schleichenden Uminterpretation des Grundgesetzes, nur weil es uns gerade opportun zu sein scheint. ({3}) Beabsichtigt hatte der Gesetzgeber damals, dass Frauen weder aufgrund freiwilliger Meldung noch aufgrund gesetzlichen Zwanges zu einem Dienst mit der Waffe herangezogen werden durften. Ich möchte Sie an die Worte der damaligen Berichterstatterin erinnern - ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin aus der 132. Sitzung des Deutschen Bundestages der 2. Legislaturperiode vom 6. März 1956 -: Es komme darauf an, so hieß es damals, dass mit programmatischem Nachdruck im Grundgesetz ausgesprochen wird, dass unsere Auffassung von der Natur und der Bestimmung der Frau einen Dienst mit der Waffe verbietet. - Soweit das Zitat. Man merkt, seitdem sind doch einige Dinge ins Land gegangen. Ich freue mich darüber, dass diese heutige Grundgesetzänderung auf eine breite, parteiübergreifende Zustimmung stößt. Das war ja nicht immer so. Ich erinnere mich noch recht gut daran, dass der Unionskollege im Rechtsausschuss, Herr Scholz, seinerzeit noch die Auffassung vertrat - annäherungsweise hat er das heute ja wieder getan -, dass die europäische Gleichbehandlungsrichtlinie auf den nationalen militärischen Bereich überhaupt keine Anwendung findet. Das war damals ja nicht nur eine juristische Position, sondern es war vom Kollegen Scholz eben auch in der Sache nicht gewollt, zum letzten Mal nachzulesen in der „FAZ“ vom 22. Juli 1999. Meine Damen und Herren, die heutige Verfassungsänderung öffnet die Bundeswehr für die Frauen, sie führt aber nicht zu einer Wehrpflicht der Frauen. Das sei noch einmal an alle gesagt, die die Befürchtung haben, mit dieser Grundgesetzänderung verbänden sich auch ganz andere Dinge und Möglichkeiten. Das ist auch gut so; denn wir vom Bündnis 90/Die Grünen wollen keine Ausweitung der Zwangsdienste, sondern deren Abschaffung. ({4}) Natürlich drängt sich jetzt die Frage auf, ob die bestehende einseitige Wehrpflicht für Männer verfassungsrechtlich noch zulässig und vernünftig ist. Italien hat in dieser Woche eine nach meiner Überzeugung richtige Entscheidung getroffen. Dort hat man die Armee für Frauen geöffnet und sich zugleich von der Wehrpflicht für Männer verabschiedet. ({5}) Damit verzichtet mittlerweile mehr als die Hälfte der NATO-Staaten, einschließlich der USA, Großbritannien und Frankreich, auf die zwangsweise Heranziehung junger Männer in Friedenszeiten. Dieser konsequente Weg hin zu einer Berufsarmee steht Deutschland noch bevor; das bestätigen die Zahlen der Weizsäcker-Kommission. Die heute zu beschließende Grundgesetzänderung kann somit auch als Anfang und bereits als Bestandteil einer umfassenden Reform der Bundeswehr angesehen werden. Meine Damen und Herren, ich will zum Schluss noch einige Missverständnisse ausräumen, die es im Vorfeld der heutigen Debatte in verschiedenen Fraktionen und Ausschüssen gegeben hat. Es sei noch einmal betont, dass die Klarstellung in Art. 12 a GG zu keinerlei Nachteilen für die betroffenen Frauen führt. Sie schränkt lediglich ein, dass Frauen, die im Kriegsfall zum Zwangsdienst herangezogen werden, nicht zum Dienst mit Waffen verpflichtet werden dürfen. Für diesen Fall bleibt das Verpflichtungsverbot erhalten. Das ist wichtig und richtig und macht auch den entscheidenden Vorteil gegenüber dem Vorschlag der F.D.P.Fraktion aus, die diesen Satz ursprünglich einfach streichen wollte. Dann aber hätte man sich fragen müssen: Wollte der Gesetzgeber mit der Streichung des Satzes 2 zum Ausdruck bringen, dass man Frauen im Rahmen der Zwangsdienste auch zum Waffendienst verpflichten darf oder nicht? Wir haben jetzt eine viel saubere und rechtsklarere Lösung gefunden. Für Frauen, die sich freiwillig in den Dienst der Bundeswehr begeben, hat diese Grundgesetzänderung keine weitere, die Praxis einschränkende Bedeutung; denn für sie ist allein ihr Dienstvertrag maßgeblich. Um es einfach zu formulieren: Wer sich selber verpflichtet hat, kann nicht mehr verpflichtet werden, weil er bereits verpflichtet ist. Einstellungen und Beförderungen werden sich künftig ausschließlich nach dem beamtenrechtlichen Leistungsprinzip in Art. 33 Abs. 2 GG, der persönlichen Eignung und Qualifikation, richten. Nur für Frauen, die aufgrund der in Art. 12 a Abs. 4 Satz 1 GG skizzierten Notlage zum Dienst herangezogen werden, gilt das Verbot. Wir leisten den Frauen und der Rechtsklarheit einen guten Dienst, wenn wir diese Grundgesetzänderung heute einvernehmlich beschließen. Vielen Dank, meine Damen und Herren. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Als Nächster hat der Kollege Jörg van Essen, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P.-Bundestagsfraktion freut sich heute in besonderem Maße; denn wir waren die erste Partei, die sich dafür ausgesprochen hat, den Frauen den gleichberechtigten Zugang zur Bundeswehr zu ermöglichen. ({0}) Wir waren auch die erste und einzige Fraktion, die einen entsprechenden Antrag dazu in den Bundestag eingebracht hat. In dieser Debatte war schon die Rede davon, dass manches konservatives Vorurteil zu überwinden war. Aber auch die andere Seite musste sich bewegen. Ich kann mich noch daran erinnern, dass vor wenigen Jahren die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen ganz heftig gegen das Anliegen der F.D.P. polemisiert hat, indem sie sagte: Wenn der Dienst der Bundeswehr für die Frauen geöffnet wird, dann kommt es zu einer Militarisierung der Gesellschaft. - Ich bin froh, dass wir heute weiter sind. ({1}) Heute ist ein Tag, auf den nicht nur die Frauen, sondern wir alle stolz sein können; denn heute fällt das letzte geschlechtsspezifische Berufsverbot in der Verfassung. Ich denke, dies ist gut so. Sie wissen, dass ich hier nicht nur als Berichterstatter der F.D.P.-Bundestagsfraktion spreche. Wir haben immer die Notwendigkeit gesehen, dass es hier zu einer Verfassungsänderung kommen muss. Die Verfassung muss klar sein. Der bisherige Satz „Sie dürfen auf keinen Fall Dienst mit der Waffe leisten“ war klar und eindeutig. Es musste hier eine Änderung erfolgen, um sicherzustellen, dass der Dienst der Frauen in der Bundeswehr eine eindeutige und klare verfassungsrechtliche Grundlage hat. Das war übrigens auch das Ergebnis der Anhörung. Die meisten Sachverständigen haben uns dringend geraten, eine solche Verfassungsänderung vorzunehmen. Viele wissen, dass ich regelmäßig Dienst in der Bundeswehr tue. ({2}) Als Brigadekommandeur, der ich dann bin, bin ich damit häufig auch Vorgesetzter von vielen Frauen. Mir ist immer wieder begegnet, dass junge Frauen in der Bundeswehr zum Beispiel gesagt haben: Ich möchte Panzerkommandantin, ich möchte Zugführerin eines PanzergrenadierVolker Beck ({3}) zugs sein. Nur weil ich Soldat sein wollte, bin ich in die Sanitätstruppe eingetreten. Es ist gut, dass diese Frauen ihrem Berufswunsch jetzt auch Folge leisten können. ({4}) Deshalb sagt die F.D.P.-Bundestagsfraktion ein klares Ja zu dieser Verfassungsänderung. Wir teilen übrigens nicht die Kritik, die der Kollege Professor Scholz gegen das Urteil auf der europäischen Ebene vorgebracht hat. Wir sind der Auffassung, dass die Befugnis dazu durchaus bestand. Aber wir hätten uns gewünscht, dass es einen Änderungsantrag zu dem ursprünglichen F.D.P.-Antrag gegeben hätte. Das hätte nämlich deutlich gemacht, dass wir uns nicht dem Urteil des europäischen Gerichts beugen, sondern aus eigener Initiative zu einer neuen Bewertung gekommen sind. Es sind leider die Grünen gewesen, die uns dazu gezwungen haben. Das war das kleinste politische Karo, das wir nach vielen Verhandlungen erreicht haben. Ich denke, das war dieser Sache nicht angemessen. ({5}) Frau Kollegin Brandt-Elsweier, ich bin eigentlich traurig, dass Sie hier den Begriff „Nötigung“ verwandt haben. Denn der Sprecher der Grünen hat ja deutlich gemacht, ({6}) dass es auch Auffassung der Grünen war, dass man zu einer Verfassungsänderung kommen musste. Wenn auch Ihr Koalitionspartner das wollte, macht bereits das deutlich, dass hier keine Nötigung stattfinden konnte. Deshalb sollten wir hier nicht solche Töne anschlagen, ({7}) sondern uns darüber freuen, dass wir gemeinsam für die Frauen in unserem Land ein Stück vorangekommen sind. Herzlichen Dank. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort der Kollegin Petra Bläss, PDS-Fraktion.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshof vom Januar dieses Jahres geht es in der politischen Debatte längst nicht mehr um ein Pro und Kontra Frauen in die Bundeswehr. Eine Vielzahl gutachterlicher Interpretationen und die Debatte infolge des Urteilsspruchs haben gezeigt, dass die Umsetzung des Urteils, das heißt die Ermöglichung des Zugangs von Frauen zur Bundeswehr, eigentlich keine Grundgesetzänderung erforderlich macht. Die Diskussionen in dieser Woche auf Fraktions- und Ausschussebene haben aber deutlich gemacht, wie kompliziert die Materie dennoch ist. Fakt ist, dass die heute zur Abstimmung stehende Verfassungsänderung lediglich festschreiben wird, dass Frauen im Verteidigungsfall nicht zum Dienst an der Waffe verpflichtet werden können. Dagegen ist nichts zu sagen. Deshalb werden die Abgeordneten der PDS auch nicht gegen die Verfassungsänderung stimmen. Doch, liebe Kolleginnen und Kollegen, die heutige Debatte und Abstimmung findet nicht im luftleeren Raum statt. Sie ist in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext eingebettet. Der Weg für Frauen in die kämpfenden Einheiten der Bundeswehr ist nun frei. Daran führt kein Weg vorbei. Das ist unsere gemeinsame Geschäftsgrundlage. Doch stellt sich die Frage, ob wir damit der Emanzipation von Frauen tatsächlich näher kommen. Schreitet die Militarisierung der Gesellschaft voran, wenn jetzt auch Frauen kämpfende Soldatinnen werden? Diese Fragen werden auch in meiner Fraktion durchaus kontrovers diskutiert. Die PDS ist eine Antikriegspartei, die sich für eine grundlegende Reform der Bundeswehr ausspricht. Wir fordern, die Bundeswehr auf ihre defensive Aufgabe der Landesverteidigung zu beschränken und den Personalbestand auf 100 000 zu reduzieren. Wir wollen die Wehrpflicht abschaffen und eine Freiwilligenarmee. Ein entsprechender Antrag liegt in den Ausschüssen zur Beratung vor. Aus friedenspolitischen Gründen müssten wir diese Verfassungsänderung eigentlich ablehnen, ({0}) denn sie führt weder zur Abschaffung der Wehrpflicht noch zu einer Reduzierung der Bundeswehr. Im Gegenteil: Die Rekrutierungsbasis wird eher erweitert. Für die PDS ist aber gleichzeitig die Gleichstellung von Frauen und Männern ein zentrales politisches Ziel. Wir wollen Frauen, die für sich die Entscheidung für die Bundeswehr getroffen haben, den Zugang nicht verwehren und sie nicht bevormunden. Die Mehrheit der PDSFraktion wird sich deshalb bei der heutigen Abstimmung der Stimme enthalten. Ich will das auch aus feministischer Sicht begründen. Ob die Öffnung des Waffendienstes in der Bundeswehr für Frauen deren gesellschaftliche Diskriminierung verringert, bleibt mehr als zweifelhaft. Frauen haben bisher formal den freien Zugang zu allen anderen Berufsfeldern. Dennoch wird niemand ernsthaft behaupten wollen, sie würden dort nicht diskriminiert. Allein die einschlägigen Zahlen sprechen Bände. Formale Gleichstellung, liebe Kolleginnen und Kollegen, schafft noch keine Gleichberechtigung. Es gibt einen Unterschied zwischen emanzipatorischer Politik, die auf größtmögliche Freiheitsrechte aller Menschen zielt, und formaler Gleichstellungspolitik. Feministischer Politik geht es darum, die Bürgerinnenund Bürgerrechte sowie die Freiheitsrechte jeder und jedes Einzelnen zu stärken. Für den Bereich der internationalen Beziehungen und für die Verteidigungspolitik heißt das, neue Wege zu finden, zum Beispiel durch den Auf- und Ausbau ziviler Kräfte, die bei gewalttätigen innerstaatlichen oder internationalen Konflikten zur Regulierung eingesetzt werden. Das können Einheiten mit Polizeicharakter sein, die notfalls - auch unter Einsatz von Waffen zum Selbstschutz den Boden für eine Konfliktregulierung bereiten. Das können zivile Friedenskräfte sein, die bereits vor Ausbruch gewalttätiger Konfliktsituationen versuchen, diese zu entschärfen und zu regulieren. Wenn nun sämtliche Laufbahnen der Bundeswehr für Frauen geöffnet werden, dann brauchen wir in der Konsequenz allerdings auch schnell verbindliche Frauenförderpläne für die Bundeswehr und einen effizienten Schutz von Soldatinnen vor sexueller Belästigung. Wir sollten hier die Erfahrungen von Frauen in Armeen anderer Länder berücksichtigen. Vor allem aber müssen wir das Thema Wehrpflicht angehen. In einer für alle offenen Bundeswehr nur die Männer zur Wehrpflicht heranzuziehen, widerspricht gleichstellungspolitischen Prinzipien. Deshalb muss die Wehrpflicht insgesamt weg. Wir werden dazu in Kürze eine parlamentarische Initiative starten. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt erteile ich dem Kollegen Hans Peter Bartels, SPD-Fraktion, das Wort.

Dr. Hans Peter Bartels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003031, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben heute ein Jubiläum zu feiern: Vor 25 Jahren, im Herbst 1975, wurden die ersten Soldatinnen der Bundeswehr eingestellt, zunächst als Ärztinnen, Zahnärztinnen, Apothekerinnen und Veterinärmedizinerinnen im Offiziersrang, seit 1991 auch als Unteroffiziere und Mannschaften im Sanitäts- und Militärmusikdienst. Zurzeit dienen etwas 4 700 Frauen in unseren Streitkräften. Hinzu kommen rund 50 000 Frauen, die zivil in der Bundeswehrverwaltung arbeiten; das sind mehr als ein Drittel der Zivilbeschäftigten. Auch von den 5 000 jungen Leuten, die dort jährlich eine Ausbildung absolvieren, sind mehr als ein Drittel weiblich. 200 Frauenbeauftragte sehen in allen Bereichen der Bundeswehr nach dem Rechten. Frauen und Bundeswehr - das ist also kein ganz neues Thema. Die Bundeswehr ist kein reiner Männerverein, schon heute kein unberührtes Reservat des Patriarchats mehr. Das ist gut so. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 11. Januar 2000 werden nun ab Januar bzw. Juli 2001 die ersten Einstellungen von weiblichen Unteroffizieren, Mannschaften und Offiziersanwärtern in allen Laufbahnen vorgenommen. Einschränkungen soll es nicht geben. Auch KSK-Kämpferinnen, Fallschirmjägerinnen, Fernspäherinnen und Kampfschwimmerinnen sind möglich. Franziska van Almsicks Karriere muss noch nicht vorbei sein. Die Bewerberlage ist gut. Relativ bestehen mehr Frauen als Männer die Eignungstests. Das muss einen gar nicht wundern, denn inzwischen machen in Deutschland auch mehr Mädchen als Jungen Abitur. Die Bundeswehr wird davon profitieren. Mittelfristig rechnet das Verteidigungsministerium mit einem Frauenanteil von 7 bis 10 Prozent am gesamten Bewerberaufkommen. Der Frauenanteil in den Streitkräften dürfte so langfristig auf die 10 Prozent zugehen. Damit liegen wir international im oberen Feld. Es ist übrigens interessant, welche militärischen Tätigkeitsbereiche bei den Bewerberinnen besonders beliebt sind: Das sind der Stabsdienst und der fliegerische Dienst. Wenn alles gut geht, dann kann in 30 Jahren der Inspekteur der Luftwaffe eine Frau sein. Vorher gibt es vielleicht eine Inspekteurin des Sanitätswesens oder eine Verteidigungsministerin. Die Bundeswehr wird gewiss nicht die Vorhut der Gleichstellung sein; aber sie geht mit der Zeit. Wir wollen keine Quoten in der Bundeswehr. Es bleibt bei Einstellungen, Verwendungen und Beförderungen nach Eignung, Befähigung und Leistung. Es wird keine gesonderten weiblichen Dienstgradbezeichnungen geben. ({0}) Gleichbehandlung mit männlichen Kameraden im täglichen Dienst muss die Leitlinie sein. Frauen werden, wie schon jetzt die Soldatinnen des Sanitätsdienstes, an Einsätzen der Bundeswehr im Ausland beteiligt sein, mit allen Risiken und Gefahren. In diesen Einsätzen können übrigens Fähigkeiten eine Rolle spielen, die Frauen zusätzlich in die Bundeswehr einbringen. Es kann durchaus konfliktdämpfend wirken, wenn in einem muslimischem Umfeld beispielsweise Sicherheitskontrollen an Frauen nicht von männlichen, sondern von weiblichen Soldaten durchgeführt werden. Angesichts der Fülle von quasistaatlichen Funktionen, die unsere Kontingente in den Friedenstruppen zu erfüllen haben, böte das Zusammenwirken von Männern und Frauen auch ein staatsbürgerliches Vorbild. Kurz: Die Bundeswehr muss heute auf andere Einsätze als vor zehn Jahren eingestellt sein. Dazu braucht sie zum Teil andere Fähigkeiten. Frauen bringen solche anderen Fähigkeiten mit. Natürlich wird es nicht nur Gleichstellungsjubel, sondern auch Probleme geben, wenn künftig in allen Einheiten der Streitkräfte Frauen dienen werden. Frauen werden auf sehr lange Sicht in der Bundeswehr in der Minderheit sein. Die weibliche Minderheit in einem männerdominierten Umfeld sollte deshalb nie zu klein werden. Es sollten in einer Einheit besser vier oder fünf Soldatinnen als eine einzelne sein. ({1}) Soldatinnen werden alle Benachteiligungen, denen Frauen in der Gesellschaft heute ausgesetzt sind, auch in der Bundeswehr sichtbar machen. Der Beruf des Soldaten und der Soldatin ist kein Beruf wie jeder andere; aber die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist in jedem Beruf ein Thema. Übrigens heißt das Thema nicht nur „Frau und Beruf“, sondern genauso „Mann und Beruf“. Wir brauchen keine in besonderer Weise frauenfreundliche, „durchfeminisierte“ Bundeswehr; vielmehr müssen wir alles tun, damit unsere Gesellschaft familienfreundlicher wird, sodass jeder Beruf für Frauen und Männer besser mit dem Familienleben, das wir alle wollen, zu vereinbaren ist. Dies können wir allerdings nicht durch eine Grundgesetzänderung erreichen. Dazu muss sich viel mehr ändern. Die heutige Debatte ist auch ein Anlass, daran zu erinnern. Schönen Dank. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile nun der Kollegin Irmgard Karwatzki, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Irmgard Karwatzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Unter anderem der Mut einer jungen Frau, Tanja Kreil, hat uns die heutige Debatte beschert. Tanja Kreil hatte den Mut, vor den Europäischen Gerichtshof zu gehen und die Klage in Bezug auf Gleichberechtigung von Frauen in der bisherigen Männerdomäne Bundeswehr einzureichen. ({0}) Die Möglichkeit, Frauen in allen Bereichen der Streitkräfte einzusetzen, wird in unserer Gesellschaft nach wie vor kontrovers diskutiert. Frauen fürchten, Lückenbüßer zu sein. Andere halten die Frau für die Rolle eines Soldaten für völlig ungeeignet. Manche Kritiker fürchten gar, die Kampfkraft der Bundeswehr werde durch den Einsatz von Frauen eingeschränkt. Sie vertreten die Auffassung, bei einer Abwägung von Vor- und Nachteilen überwögen die Nachteile. Ich gebe zu: Vor einigen Jahren war auch ich dieser Meinung. Insgesamt ist die gesellschaftliche Akzeptanz der weiteren Öffnung der Streitkräfte für Frauen inzwischen aber groß. Die Auffassung, dass Frauen ein Dienst an der Waffe nicht zugemutet werden kann, hat mit der Realität wenig zu tun. Viele von ihnen wollen den Sonderstatus, den ihnen das Grundgesetz eingeräumt hat, nicht mehr. Das Bild von Polizistinnen und Bundesgrenzschutzbeamtinnen, die Waffen tragen und auch zum eigenen Schutz benutzen, ist für uns zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Eben hat ein Kollege bereits gesagt - ich glaube, es war Herr van Essen -, wir könnten eine große Gruppe nicht etwa im Wege eines Berufsverbotes von vielen Tätigkeiten ausschließen. ({1}) Ich denke hier an die technisch anspruchsvollen Tätigkeiten, die die Bundeswehr bietet. Auch dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass die Bundeswehr attraktive Ausbildungsplätze stellt, zu denen Frauen bisher keinen Zugang hatten. ({2}) Wichtig ist mir auch der Aspekt, dass es den Frauen nicht nur um eine gute Karriere in der Bundeswehr, sondern auch um eine verantwortungsvolle Aufgabe geht, nämlich die Sicherheit unseres Landes zu gewährleisten. Liebe Kollegen, ich weiß es zu schätzen, dass in den Männern der „Beschützerinstinkt“ bei der Vorstellung erwacht, Frauen könnten im Rahmen von Kampfhandlungen gefangen genommen, vergewaltigt, misshandelt oder sogar ermordet werden. ({3}) - Der Zwischenruf der Kollegin von Renesse ist richtig: „Das können sie als Zivilistinnen auch.“ Aber wir behandeln hier einen ganz speziellen Bereich. - Ich möchte hinzufügen: Trotz allem wissen Frauen, die diesen Dienst freiwillig leisten, dass sie beim Dienst an der Waffe ein besonderes Risiko eingehen. Im Übrigen gilt dies auch für Männer. Frauen und Männer sind im Kampfeinsatz gleichermaßen betroffen. ({4}) Eines möchte ich hier nachdrücklich sagen: Eine Wehrpflicht für Frauen darf es nicht geben. ({5}) Frauen haben in Sachen Dienst an der Gesellschaft keinen Nachholbedarf. Sie leisten ihre Arbeit in der Familie, bei der Kindererziehung und im Ehrenamt, um nur einige Aspekte zu nennen. Bisher stand das Grundgesetz dem Dienst von Frauen an der Waffe entgegen. Nach langen und eingehenden Diskussionen haben wir heute die Möglichkeit, darüber zu entscheiden. Der Gesetzgeber sorgt mit dieser Entscheidung für eine klare verfassungsrechtliche Grundlage. Wir sind uns einig - auch dies möchte ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich festhalten -, dass durch diese Grundgesetzänderung Frauen der freiwillige Dienst in den Streitkräften und damit auch an der Waffe ermöglicht wird. Nicht gewollt ist aber erstens, dass Frauen auch Wehrdienst leisten müssen, und zweitens, dass etwa das gesamte System der Wehrpflicht infrage gestellt wird. Dies wollen wir nicht. ({6}) Es stellt sich nun die Frage: Was ändert sich dadurch konkret für die Frauen? Es ist schon ausgeführt worden, dass Frauen bisher nur im Sanitätsdienst und beim Militärmusikdienst arbeiten konnten. Zukünftig sind die Streitkräfte in ihrer ganzen Vielfalt für den freiwilligen Dienst von Frauen geöffnet. Alle Laufbahngruppen, Laufbahnen und Tätigkeitsbereiche stehen ihnen offen. Das heißt, dass sie in der Bundeswehr ab 2001 in allen militärischen Laufbahnen, auch in jenen, die bisher als ureigene Männerdomänen galten - Kampfjetpilot, Fallschirmjäger und Kampfschwimmer -, Dienst leisten. Es ist für mich außerordentlich wichtig zu erfahren, ob das Bundesverteidigungsministerium überhaupt in der Lage ist, den Frauen, die ab dem 1. Januar 2001 in der Bundeswehr den Dienst leisten wollen, entsprechend ihren Wünschen Plätze anzubieten. Ich will einen weiteren Punkt anmerken. Auch wenn die Dienstleistung von Frauen in den Streitkräften gesellschaftlich zunehmend auf Akzeptanz stößt und die Frauen rechtlich dieselben Karrierechancen wie Männer haben, so sieht die Praxis dennoch anders aus. Das hängt damit zusammen, dass Frauen in vielen Armeen von Kampffunktionen und Kampfeinsätzen fern gehalten werden. Sie üben eher die weniger prestigeträchtigen und damit karrierefeindlichen „Zuliefererjobs“ aus. Ein Problem ist dabei aber sicherlich auch die Tatsache, dass in der männlich dominierten Welt des Militärs die Anerkennung von weiblichen Vorgesetzten und Truppenführern schwer fällt. Lassen Sie mich abschließend anmerken: Ich hoffe, dass die Auffassung der Frauenbeauftragten des Bundesministeriums der Verteidigung, die gesagt hat - ich zitiere sie gerne -: „Frauen von heute treffen auf Männer von gestern“, bald überholt sein wird. Ich persönlich bin sehr gespannt, wie sich unsere heutige Entscheidung auf die Perspektive von Frauen in der Bundeswehr und in unserer Gesellschaft auswirken wird. Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat die Kollegin Margot von Renesse, SPD-Fraktion, das Wort.

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Drei Jahre meines Lebens war ich Schülerin eines katholischen Mädchengymnasiums in Münster, das sich den Namen der Annette von Droste-Hülshoff zugelegt hat. Da wir von ihr viele Gedichte gelernt haben, ist mir bekannt - ich teile es Ihnen hier wahrscheinlich zu Ihrer Überraschung mit -, dass Annette eine Vorkämpferin von Tanja Kreil und des EuGH war. Ich habe von ihr ein Gedicht gelernt, dessen letzte Strophe ich Ihnen teilweise zitieren möchte. Sie müssen sich ein katholisches, unverheiratetes, ältliches Fräulein in Westfalen vorstellen, das mit einer Schwester auf der Meersburg lebt. Sie schaut aus ihrem Zimmer oben im Turm auf den See und sehnt sich nach Freiheit. Die letzte Strophe lautet wie folgt: Wär’ ich ein Jäger auf freier Flur, Ein Stück nur von einem Soldaten, Wär’ ich ein Mann doch mindestens nur, So würde der Himmel mir raten; Nun muss ich sitzen so fein und klar, Gleich einem artigen Kinde, ... Das war es, was Tanja Kreil und was den EuGH bewegt hat. ({0}) Das war das Motiv: das Eingeschnürtsein, das das biedermeierliche Fräulein am eigenen Leibe massiv erfahren musste und das Tanja Kreil von einem heiß ersehnten Hightech-Beruf ausschloss, nur weil sie weiblichen Geschlechts war. Aber der Beruf des Soldaten, wie ihn sich die Annette oben auf der Meersburg ersehnt hat, schien nur Freiheit zu sein. Er war damals die einzige Möglichkeit; für Tanja Kreil ist das schon nicht mehr so. Hightech-Berufe stehen Frauen heute Gott sei Dank offen. Wo es noch Hindernisse gibt, sprechen Gerichte und Gesetze - Gott sei Dank! Wer sich als Frau den Soldatenberuf erwünscht, als ein Stück Freiheit, als „ein Stück nur von einem Soldaten“, verkennt die ganz wichtige Beziehung dieses Berufs zur Umwelt. Es ist kein Beruf wie der des Schreiners, des Arztes, des Lehrers, des Fleischers oder was weiß ich, sondern ein Beruf, dem eine Gewissensentscheidung zugrunde liegt. Es ist ein Beruf, der den Kombattantenstatus nach sich zieht, das heißt, die Erlaubnis oder sogar den Befehl zum Töten oder Sich-töten-Lassen. Das bedeutet mehr als alles andere - Frau Karwatzki hat es angedeutet -: Er schließt eine ganz besondere Verantwortung für sich und andere ein. Auf einer Kommandeurstagung haben mir einmal die Offiziere, mit denen ich dort zu tun hatte, samt und sonders erklärt: Gewissen ist etwas für den Wehrdienstverweigerer; es steht so im Gesetz. Die Bundeswehr ist die Normalität, da wird das Gewissen an den Gesetzgeber abgegeben. Der Gesetzgeber ist das Gewissen. Nein, es ist anders: Der Kombattantenstatus, wie wir ihn aus den Kriegsrechtsordnungen kennen, ist immer auch mit einer Gewissensentscheidung verbunden. ({1}) Herr Bartels hat es ganz deutlich gemacht: Gerade die Einsätze in der heutigen Zeit, mit denen die Bundeswehr ernsthaft zu rechnen hat, verlangen mehr als den Hightech-Könner, als den Technikfreak und allemal mehr als den Rambo oder den Macho. Sie verlangen einen Menschen, der mit sich und anderen verantwortlich umgeht mit den eigenen Leuten und mit denen, denen man gegenübersteht und für die man ein Stück Staat, ein Stück Rechtsstaat, ein Stück freiheitliche Demokratie repräsentiert. Wenn Frauen hier mitmachen wollen, so werden sie durch nichts daran gehindert; ({2}) aber sie sollten es genauso wenig wie Männer nach dem Motto „Herausforderung Bundeswehr“ tun, mit dem die Bundeswehr manchmal wirbt. Freiheit, Abenteuer und Technik werden versprochen. Aber das ist keine gute Werbung. ({3}) Die Bundeswehr ist nicht das Dorado der Abenteurer, schon gar nicht bei Einsätzen im Kosovo oder in Osttimor. Sie ist vielmehr der Ort, an dem sich freiheitliche Demokratie, Verantwortung und Rechtsstaat zu bewähren haben. ({4}) Irmgard Karwatzk Wenn Frauen dazu beitragen, umso besser. Wir kennen dies von der Polizei, zu der Frauen zwar spät Zugang erhielten, in der sie aber schließlich doch sehr stark repräsentiert sind. Die Frauen haben die Polizei verändert. Ich möchte nicht, dass die Bundeswehr die Frauen verändert, bin aber sehr zufrieden, wenn die Frauen die Bundeswehr verändern. Danke! ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen zur Abstimmung. Zur Abstimmung lie- gen mir nach § 31 der Geschäftsordnung Erklärungen der Kollegen Martin Hohmann1) und René Röspel2) sowie mehrere Erklärungen von Kolleginnen und Kollegen der PDS3) vor. Weiter liegen mir Erklärungen von Dr. Antje Vollmer, Steffi Lemke und Franziska Eichstädt-Bohlig4) vor. Die Kollegin Christina Schenk möchte eine mündliche Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung abgeben. Ich möchte alle Kolleginnen und Kollegen darauf hinweisen, dass wir noch zwei namentliche Abstimmungen haben werden. Aber zunächst hat die Kollegin Christina Schenk das Wort.

Christina Schenk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001957, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich werde - im Unterschied zur Mehrheit der PDS-Bundestagsfraktion - dem Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes, Art. 12 a, zustimmen. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes, das die Aufhebung des Ausschlusses von Frauen vom freiwilligen Dienst an Waffen in der Bundeswehr erforderlich macht, habe ich sehr begrüßt. Ich bin der Auffassung, dass niemand wegen seines Geschlechts von Rechten ausgeschlossen werden darf, die andere Menschen haben. Das bisherige Verbot für Frauen, in der Bundeswehr an Waffen Dienst zu tun - auch in Kampfverbänden -, ist eine klare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Die gleiche Rechtsstellung von Frauen und Männern im Gesetz ist für mich eine der unabdingbaren Voraussetzungen für die Abwesenheit von Diskriminierung. Wird dieser Grundsatz - aus welchen Gründen auch immer - zur Disposition gestellt, ist dies aus meiner Sicht das Eingeständnis, dass man letztlich willkürliche Ausschlüsse oder Einschlüsse - Diskriminierungen also beibehalten will bzw. zumindest in Kauf zu nehmen bereit ist. Insofern scheint mir die Haltung zu der Frage, ob Frauen nunmehr Zugang zum freiwilligen Dienst in der Armee unter alleiniger Berücksichtigung von Eignung, Leistung und Befähigung bekommen sollen, im Zusammenhang mit dem Demokratieverständnis zu stehen. Denn ohne konsequente Achtung des Prinzips „Gleichheit im Recht“ sind für mich demokratische Verhältnisse nicht vorstellbar. Daher begrüße ich - ungeachtet meiner ablehnenden Haltung zum Denken in militärischen Optionen und Kategorien im Allgemeinen und zur Bundeswehr und ihrem in verteidigungspolitischen Richtlinien definierten Auftrag im Besonderen - alle Bemühungen, die rechtlichen Rahmenbedingungen für einen freiwilligen Zugang von Frauen zur Bundeswehr klarzustellen. Ich wünschte mir, es gäbe keine Armeen, aber solange es sie gibt, muss der Zugang unabhängig vom Geschlecht, von der Hautfarbe, der sexuellen Orientierung oder der Religionszugehörigkeit möglich sein. Ich begrüße es, dass es zu einer Klarstellung im Grundgesetz kommt. Es täte der Autorität des Grundgesetzes nicht gut, nachdem mehr als 50 Jahre lang der letzte Satz des Art. 12 a Abs. 4 Grundgesetz dergestalt interpretiert wurde, dass der Dienst von Frauen an Waffen ausgeschlossen ist, nun einfach erklären zu wollen, man hätte sich auf eine neue Interpretation verständigt. Ich bin weiterhin der Meinung, dass auch künftig ausgeschlossen bleiben muss, dass Frauen, die im Verteidigungsfall nach Art. 12 a Abs. 4 Grundgesetz dienstverpflichtet werden können, zum Dienst an Waffen gezwungen werden. Dies wird durch die hier vorgeschlagene Änderung des Art. 12 a Abs. 4 Grundgesetz verdeutlicht. Ich stimme ihr daher zu. Zum Abschluss möchte ich noch darauf hinweisen, dass mit dem freiwilligen Zugang von Frauen zur Bundeswehr die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern zwar verringert, nicht aber aufgehoben ist. Wollte man hier Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz Rechnung tragen, kann es nur eine Konsequenz geben: die Abschaffung der Wehrpflicht. Dies steht für mich jetzt auf der Tagesordnung. In diesem Punkt bin ich mit meiner Fraktion wieder einer Meinung. Danke schön. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun kommen wir zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Art. 12 a des Grundgesetzes, Drucksache 14/4380. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4420 unter Buchstabe a, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthal- tungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera- tung bei einigen Gegenstimmen und Enthaltungen ange- nommen. 1) Anlage 2 2) Anlage 3 3) Anlage 4 4) Anlage 5 Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich weise darauf hin, dass nach Art. 79 des Grundgesetzes für ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages, das heißt, mindestens 446 Stimmen, erforderlich ist. Es ist namentliche Abstim- mung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. - Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stim- me noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte die Schrift- führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu be- ginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1) Wir setzen die Beratung fort und kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu dem von der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Art. 12 a des Grundgesetzes, Drucksache 14/1728 ({0}). Der Rechts- ausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4420 unter Buch- stabe b, den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um etwas Disziplin; denn wir kommen jetzt zu den nächsten Punk- ten der Tagesordnung. Das Beste wäre, wenn Sie alle Platz nehmen und zuhören würden. Wer das nicht will, möge sich bitte aus dem Saal begeben; Stehen ist nicht möglich. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a und b auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({1}) - Drucksache 14/2668 ({2}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({3}) - Drucksache 14/4419 Berichterstattung: Abgeordnete Margot von Renesse Volker Beck ({4}) Dr. Evelyn Kenzler b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 ({5}) - Drucksache 14/2682 ({6}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({7}) - Drucksache 14/4421 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Jürgen Meyer ({8}) Norbert Röttgen Volker Beck ({9}) Dr. Evelyn Kenzler Ich weise darauf hin, dass über den Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes namentlich abgestimmt werden muss. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist eine Aussprache von einer Dreiviertelstunde vorgesehen. Sind Sie damit einverstanden? - Dann eröffne ich die Aussprache und erteile das Wort der Bundesjustizministerin, Frau Professor Herta Däubler-Gmelin.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Minister:in)

Politiker ID: 11000347

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den vergangenen Tagen und in den vergangenen Sitzungswochen hatte der Bundestag mehrfach Gelegenheit, die Bedeutung der Grund- und Menschenrechte zu betonen und über den Schutz vor Menschenrechtsverletzungen zu beraten. In der vergangenen Sitzungswoche betraf das die Grundrechte-Charta der Europäischen Union. Gestern haben wir über die Europäische Menschenrechtskonvention debattiert, über dieses einzigartige System zum Schutz der Menschenrechte. Es war gut - lassen Sie mich das mit aller Deutlichkeit sagen, sodass es auch alle Kolleginnen und Kollegen, die jetzt noch reden, ganz klar mitbekommen -, dass wir in diesen Fragen eine Gemeinsamkeit feststellen konnten, die sich deutlich und wohltuend von den üblichen Unterschieden zwischen den Parteien abhebt. ({0}) Heute nun, meine Damen und Herren, wollen wir einen weiteren Schritt beschließen - auch den gemeinsam -: Mit der Zustimmung zum Entwurf eines Gesetzes zum Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs und zu dem damit verbundenen Gesetzentwurf zur Änderung des Art. 16 Abs. 2 unseres Grundgesetzes schaffen wir die Voraussetzungen für die Ratifizierung dieses Statuts durch die Bundesrepublik Deutschland.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Ministerin, entschuldigen Sie bitte. Man gibt mir Signale, dass man Sie nicht versteht. ({0}) - Ach so! Ich dachte schon, die Mikrofonanlage sei nicht in Ordnung. - Die Möglichkeit der Präsidentin, für Ruhe zu sorgen, ist begrenzt. Da wir aber ein wichtiges Thema beraten und die Frau Justizministerin spricht, finde ich, dass der Anstand es gebietet, dass Sie jetzt alle einmal zuhören. ({1}) Frau Ministerin, Sie haben das Wort. Vizepräsidentin Anke Fuchs 1) Ergebnis Seite 12351 C

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Minister:in)

Politiker ID: 11000347

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich werde auch nicht so laut reden müssen, wenn die Lautsprecheranlage entsprechend aufgedreht wird. - Das wäre sehr freundlich. ({0}) Lassen Sie mich sagen, warum das heute ein ganz wichtiger Schritt ist. Wir reihen uns mit dem Beschluss in die Kette der bisher 22 Staaten ein, die die Ratifizierung des Römischen Statuts schon vollzogen haben; darunter befinden sich viele Mitgliedstaaten der EU. Wir haben im außenpolitischen Bereich gerade in dieser Frage eine gewisse Vorbildfunktion für manch andere Staaten, übrigens nicht zuletzt wegen der aktiven Rolle, die die Bundesrepublik Deutschland - hier erwähne ich gerne unsere Vorgängerregierungen - bei den Verhandlungen über den Internationalen Strafgerichtshof gespielt hat. Wir kommen mit dem heutigen Beschluss - ich glaube, dessen sollten wir uns ganz bewusst sein - dem wirklich tief greifenden, ja historischen Ereignis der Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs ein gutes Stück näher. Es wird zwar noch einige Zeit dauern - das wissen wir -, bis die 60 Ratifizierungen wirklich vorliegen. Wir können aber sagen: Der Internationale Strafgerichtshof rückt in greifbare Nähe. Wenn das Gericht seine Arbeit aufnimmt, wird eine Forderung erfüllt, die seit mehr als 100 Jahren mit zunehmender Dringlichkeit gestellt wurde. ({1}) Es ist die Forderung, dass schwerste völkerrechtliche Verbrechen wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen - das alles sind schwerste Menschenrechtsverletzungen - endlich wirksam verfolgt werden. Das ist nur dann möglich, wenn sich die Folterknechte, die Befehlshaber und die anderen an Schreibtischen und in Befehlsstuben dafür Verantwortung Tragenden in ihren Ländern nicht mehr wie bisher sicher fühlen können. Bisher war die staatliche Souveränität - sie ist es leider immer noch - ein wirksamer Schutz für diese Verbrecher. Das können wir jeden Tag mit Trauer und mit Wut feststellen. Künftig soll sich aber keiner der verantwortlichen Folterknechte und Befehlshaber hinter der staatlichen Souveränität von Diktaturen oder vergleichbaren Unrechtsregimen mehr verstecken können. ({2}) Auch die Oppositionsparteien werden mir zustimmen, wenn ich sage: Unser gemeinsames Ziel ist es, das Recht weltweit durchzusetzen, damit das allzu häufig praktizierte Prinzip vom Recht des Stärkeren zurückgedrängt wird und schließlich verschwindet. ({3}) In diesem Ziel waren und sind sich - Gott sei Dank - die Parteien des Bundestages einig. Es ist gut, dass wir diese Gemeinsamkeit haben. Ich darf in diesem Zusammenhang feststellen, dass auch die früheren Regierungen parteiübergreifend unterstützt worden sind, als es darum ging, die Verhandlungen in Rom zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen. Wir können mit Fug und Recht und mit einem gewissen Stolz - allerdings auch in dem Bewusstsein, dass unsere Erfahrungen mit der eigenen Geschichte, speziell mit dem mörderischen Naziregime, uns dazu verpflichten sagen, dass die Bundesrepublik Deutschland die Verhandlungen maßgeblich beeinflusst hat. Die Verhandlungen zum Statut wurden mithilfe der Mitglieder des Deutschen Bundestags und vieler Interessierter aus dem Bereich der Zivilgesellschaft zu einem guten Abschluss gebracht. ({4}) Mit dem Statut soll ein unabhängiges Gericht auf rechtsstaatlicher Basis geschaffen werden, das wirksam tätig werden kann. Dieses Gericht wird die Täter zur Verantwortung ziehen, nämlich die schon genannten Folterknechte, die Massenvergewaltiger, die Kriegsverbrecher und jene staatlichen Repräsentanten, die ihre Macht - in welcher Funktion auch immer - als Terrorinstrument gegen die eigenen und auch gegen ausländische Bürgerinnen und Bürger missbrauchen. Der Internationale Strafgerichtshof wird seine Arbeit aufnehmen. Dennoch bleibt die Verantwortlichkeit der einzelnen Nationalstaaten mit ihren jeweiligen Gerichten voll erhalten. Dies soll schon aus praktischen Gründen der Fall sein; denn jeder internationale Gerichtshof wäre überfordert, wenn er weltweit allein zuständig wäre. Aus diesen pragmatischen, aber auch aus grundsätzlichen Gründen werden die rechtsstaatlichen Demokratien auch auf dem Gebiet der Strafverfolgung schwerster Verbrechen weiterhin selbst tätig werden. Wir in der Bundesrepublik tun es bereits heute und werden dies auch in der Zukunft tun. Der Internationale Strafgerichtshof ist für jene Fälle zuständig, in denen die Gerichte der betroffenen Nationalstaaten entweder nicht anklagen können, weil es die staatliche Ordnung nicht zulässt, oder nicht anklagen wollen, weil es politisch nicht gewollt ist. Der Internationale Strafgerichtshof ist daher als ein komplementärer Gerichtshof anzusehen. Er soll und wird die Gerichtsbarkeit der rechtsstaatlichen Demokratien ergänzen. Es ist auch klar - darauf haben gerade wir in der Bundesrepublik Deutschland großen Wert gelegt; wir legen weiterhin großen Wert darauf -, dass dieses Statut des Internationalen Strafgerichtshofs all unsere Anforderungen an rechtsstaatliche Standards erfüllt. Gerade in dieser Frage können und wollen wir keinerlei Abstriche machen. Das betrifft die Unabhängigkeit des Gerichts selbst, aber auch die Garantien für ein faires Verfahren. Darunter fallen die Schutzgarantien für die Angeklagten und die Verteidigung. Das betrifft ferner den Schutz gefährdeter Zeugen und das Recht der Opfer, im Verfahren angemessen angehört und beteiligt zu werden. ({5}) Meine Damen und Herren, es ist nun gelungen, dies alles in diesem Statut, das weltweit gilt, zu verankern. Das gehört in der Tat zu den historischen Fortschritten. Das ist Grundlage der Rechtsstaatlichkeit, die wir bejahen. Diese Rechtsstaatlichkeit wird eben nicht nur von Anforderungen auf nationaler Ebene geprägt, sondern auch von denen des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte und der gestern zu Recht gefeierten Europäischen Menschenrechtskonvention. ({6}) Diese klare rechtsstaatliche Festschreibung ermöglicht es uns, der Grundgesetzänderung zuzustimmen, die wir heute gemeinsam mit dem Entwurf eines Gesetzes zum Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vorlegen. Denn bisher - wir alle wissen das - verbietet Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes die Auslieferung deutscher Staatsbürger an das Ausland. Grund dafür ist, dass wir deutsche Staatsangehörige mit rechtsstaatlichen Garantien ausgestattet sehen wollen, wenn sie vor Gericht gestellt werden. Jetzt - das ist der Sinn der Ihnen vorliegenden Grundgesetzänderung - machen wir eine Ausnahme von diesem Grundsatz, und zwar bei einem internationalen Gerichtshof wie dem Internationalen Strafgerichtshof, der wie auch andere - denken Sie zum Beispiel an den Jugoslawien-Gerichtshof in Den Haag und dessen hervorragende Arbeit - zweifelsfrei den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit entspricht. Damit leisten wir einen Beitrag zur Schaffung einer wirksamen internationalen Strafgerichtsbarkeit, die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit um der Gerechtigkeit für die Opfer willen nicht ungesühnt lassen will. Wir reihen uns hier ausdrücklich ein, obwohl die Bundesrepublik Deutschland als rechtsstaatliche Demokratie - das habe ich schon erwähnt - schwerste Menschenrechtsverletzungen bereits heute strafrechtlich verfolgt und dies auch weiterhin tun wird. Wir machen eine zweite Ausnahme von dem Grundsatz, dass Deutsche nicht an das Ausland ausgeliefert werden dürfen. In der geänderten Fassung wird es Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes dem Gesetzgeber ermöglichen, die Auslieferung an einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union vorzusehen. Auch das ist ein selbstverständlicher Ausdruck der europäischen Integration, der Integration in ein System von Staaten, die durch hohe rechtsstaatliche Standards geprägt sind, die auch wir in unserem Land wollen und haben. Im geänderten Text des Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes, der Ihnen vorliegt, ist zur Klarstellung der geltenden verfassungsrechtlichen Grundsätze hinzugefügt worden - das war in den Beratungen des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages selbstverständlich -, dass diese Ausnahme vom Verbot, deutsche Staatsbürger an das Ausland auszuliefern, nur bei klarer Beachtung unserer gemeinsamen rechtsstaatlichen Standards, die wir in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union längst haben, in Betracht kommen kann. Ich freue mich, dass wir heute diese klare gemeinsame Formulierung bekräftigen. Die Annahme der beiden vorliegenden Gesetzentwürfe, also des Entwurfes eines Gesetzes zur Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes und des Entwurfes eines Gesetzes zum Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, schaffen die Voraussetzungen für die Ratifizierung des Römischen Statuts. Diese werden wir möglichst bald vornehmen. Weitere Schritte müssen und werden folgen. Das nächste Ziel ist die Einbringung eines Entwurfes eines Ausführungsgesetzes zum Römischen Statut, das die erforderlichen Regelungen hinsichtlich unserer Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof und seine Unterstützung enthalten wird. Der Internationale Strafgerichtshof ist darauf angewiesen, dass die Mitgliedstaaten seine Arbeit unterstützen. Gestern haben wir über die im Bereich des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes bestehenden Probleme gesprochen und die Notwendigkeit der Unterstützung durch Deutschland festgestellt. Das gilt natürlich auch für diesen neuen, weltweit zuständigen Strafgerichtshof. Dabei geht es um weitere Fragen, die wir bereits aus der Zusammenarbeit mit dem Jugoslawien-Gerichtshof in Den Haag kennen. Es geht um die Unterstützung durch Verhaftung und Überstellung von beschuldigten Personen, die Übersendung von Beweismaterial und die Übernahme der Vollstreckung von Haftstrafen in nationalen Strafanstalten, die durch dieses internationale Gericht verhängt wurden. Ein Beispiel dafür ist die Übernahme der Vollstreckung eines vom Gerichtshof in Den Haag verurteilten Verbrechers, die wir gerade in diesen Tagen vollziehen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir arbeiten, wie Sie wissen, in einem weiteren Schritt an der Schaffung eines nationalen Völkerstrafgesetzbuches, das in Verbindung mit der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofes eine moderne und bessere Rechtsgrundlage für die Ahndung von Völkerstraftaten in unserem Land selbst bilden soll. Wir werden mit Unterstützung einer hochrangigen Expertengruppe und in Abstimmung mit den Bundesländern die Arbeit an dem Entwurf im kommenden Jahr abschließen, ihn dann vorlegen und den parlamentarischen Gremien zur Beratung zuleiten. Ich glaube, dann haben wir das, was wir tun können, erreicht. Dies ist auch erforderlich. Ich habe vorhin den Begriff „historischer Fortschritt“ ganz bewusst benutzt. Nüchterne Schwaben wie ich tun dies nicht sehr häufig. Ich denke aber, dass es angebracht ist. Wir wissen, dass mit der Ratifizierung durch die Bundesrepublik Deutschland und alle Staaten der Europäischen Union allen Vorbildfunktionen zum Trotz das gemeinsame Ziel noch nicht erreicht ist. Wir wissen auch, dass wichtige Partnerstaaten der Bundesrepublik, nämlich die USA und die Volksrepublik China, noch erhebliche Vorbehalte haben. Wir sagen deutlich, dass das bedauerlich ist. Selbstverständlich werben wir darum, dass sich auch diese Staaten beteiligen. ({7}) Es wäre gut, wenn das Gericht dann, wenn es seine Arbeit aufnehmen kann, weltweit verankert wäre, obwohl - lasBundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin sen Sie mich das hinzufügen - der jetzige Geltungsbereich für mehr als die Hälfte der Menschheit schon einen riesigen Fortschritt bedeutet. ({8}) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, klar ist, dass wir alle einen internationalen Strafgerichtshof wollen und auch brauchen, der in Unabhängigkeit, für und gegenüber allen auf der Grundlage gemeinsamen Rechtes und unter klarer Beachtung der beschlossenen rechtsstaatlichen Grundsätze seine Aufgaben erfüllen kann. Die Menschenrechte bekommen in unserer Zeit weltweit zu Recht ein immer größeres Gewicht. Die Stärke des Rechts wird und muss die internationale Politik immer stärker bestimmen. Die Opfer der vielen schrecklichen Menschenrechtsverletzungen, der Kriegsgräuel und der Verbrechen gegen Menschen in Bürgerkriegen erwarten von uns nicht nur Schutz, sondern dort, wo trotz aller Bemühungen dieser Schutz nicht gegeben werden konnte, wenigstens einen Beitrag zur Schaffung von Gerechtigkeit. Diesen Beitrag müssen sie von uns erwarten können. Der heutige Schritt führt in die richtige Richtung. Herzlichen Dank. ({9})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Schlussabstimmung über den Gesetzentwurf zur Änderung des Art. 12 a des Grundgesetzes der Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. auf den Drucksachen 14/4380 und 14/4420 bekannt. Abgegebene Stimmen 543. Mit Ja haben gestimmt 512, mit Nein haben gestimmt 5, Enthaltungen 26. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 543; davon ja: 512 nein: 5 enthalten: 26 Ja SPD Brigitte Adler Gerd Andres Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Hermann Bachmaier Ernst Bahr Doris Barnett Klaus Barthel ({0}) Ingrid Becker-Inglau Dr. Axel Berg Hans-Werner Bertl Petra Bierwirth Rudolf Bindig Lothar Binding ({1}) Klaus Brandner Willi Brase Rainer Brinkmann ({2}) Bernhard Brinkmann ({3}) Hans-Günter Bruckmann Edelgard Bulmahn Dr. Michael Bürsch Hans Martin Bury Hans Büttner ({4}) Marion Caspers-Merk Wolf-Michael Catenhusen Dr. Peter Danckert Christel Deichmann Karl Diller Peter Dreßen Detlef Dzembritzki Dieter Dzewas Dr. Peter Eckardt Sebastian Edathy Ludwig Eich Peter Enders Gernot Erler Petra Ernstberger Annette Faße Lothar Fischer ({5}) Iris Follak Norbert Formanski Rainer Fornahl Dagmar Freitag Lilo Friedrich ({6}) Harald Friese Arne Fuhrmann Monika Ganseforth Günter Gloser Uwe Göllner Renate Gradistanac Günter Graf ({7}) Angelika Graf ({8}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Kerstin Griese Wolfgang Grotthaus Karl-Hermann Haack ({9}) Hans-Joachim Hacker Klaus Hagemann Manfred Hampel Christel Hanewinckel Alfred Hartenbach Anke Hartnagel Klaus Hasenfratz Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Frank Hempel Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Monika Heubaum Reinhold Hiller ({10}) Stephan Hilsberg Gerd Höfer Jelena Hoffmann ({11}) Walter Hoffmann ({12}) Iris Hoffmann ({13}) Frank Hofmann ({14}) Eike Hovermann Lothar Ibrügger Barbara Imhof Brunhilde Irber Gabriele Iwersen Renate Jäger Jann-Peter Janssen Ilse Janz Dr. Uwe Jens Volker Jung ({15}) Johannes Kahrs Sabine Kaspereit Susanne Kastner Ulrich Kelber Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Marianne Klappert Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Anette Kramme Nicolette Kressl Volker Kröning Angelika Krüger-Leißner Horst Kubatschka Ernst Küchler Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Konrad Kunick Dr. Uwe Küster Werner Labsch Christine Lambrecht Brigitte Lange Christian Lange ({16}) Detlev von Larcher Christine Lehder Waltraud Lehn Robert Leidinger Klaus Lennartz Dr. Elke Leonhard Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann ({17}) Christa Lörcher Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Dieter Maaß ({18}) Winfried Mante Dirk Manzewski Tobias Marhold Lothar Mark Ulrike Mascher Heide Mattischeck Markus Meckel Ulrike Mehl Ulrike Merten Angelika Mertens Dr. Jürgen Meyer ({19}) Ursula Mogg Christoph Moosbauer Michael Müller ({20}) Jutta Müller ({21}) Christian Müller ({22}) Franz Müntefering Andrea Nahles Volker Neumann ({23}) Gerhard Neumann ({24}) Dr. Rolf Niese Dietmar Nietan Günter Oesinghaus Eckhard Ohl Leyla Onur Manfred Opel Holger Ortel Vizepräsidentin Anke Fuchs Kurt Palis Albrecht Papenroth Dr. Martin Pfaff Georg Pfannenstein Johannes Pflug Dr. Eckhart Pick Karin Rehbock-Zureich Dr. Carola Reimann Bernd Reuter Dr. Edelbert Richter Gudrun Roos Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth ({25}) Birgit Roth ({26}) Marlene Rupprecht Thomas Sauer Dr. Hansjörg Schäfer Gudrun Schaich-Walch Rudolf Scharping Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Horst Schild Dieter Schloten Horst Schmidbauer ({27}) Ulla Schmidt ({28}) Wilhelm Schmidt ({29}) Regina Schmidt-Zadel Heinz Schmitt ({30}) Carsten Schneider Dr. Emil Schnell Walter Schöler Olaf Scholz Karsten Schönfeld Fritz Schösser Ottmar Schreiner Gerhard Schröder Gisela Schröter Dr. Mathias Schubert Richard Schuhmann ({31}) Brigitte Schulte ({32}) Reinhard Schultz ({33}) Volkmar Schultz ({34}) Ewald Schurer Dr. R. Werner Schuster Dr. Angelica Schwall-Düren Bodo Seidenthal Erika Simm Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Antje-Marie Steen Ludwig Stiegler Rita Streb-Hesse Reinhold Strobl ({35}) Dr. Peter Struck Joachim Stünker Joachim Tappe Jörg Tauss Jella Teuchner Dr. Gerald Thalheim Franz Thönnes Uta Titze-Stecher Adelheid Tröscher Hans-Eberhard Urbaniak Rüdiger Veit Simone Violka Hans Georg Wagner Hedi Wegener Dr. Konstanze Wegner Wolfgang Weiermann Reinhard Weis ({36}) Matthias Weisheit Gunter Weißgerber Jochen Welt Dr. Rainer Wend Lydia Westrich Inge Wettig-Danielmeier Dr. Margrit Wetzel Jürgen Wieczorek ({37}) Helmut Wieczorek ({38}) Heino Wiese ({39}) Brigitte Wimmer ({40}) Engelbert Wistuba Barbara Wittig Verena Wohlleben Waltraud Wolff ({41}) Heidemarie Wright Dr. Christoph Zöpel Peter Zumkley CDU/CSU Ilse Aigner Peter Altmaier Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Brigitte Baumeister Meinrad Belle Dr. Sabine Bergmann-Pohl Otto Bernhardt Hans-Dirk Bierling Dr. Joseph-Theodor Blank Renate Blank Dr. Heribert Blens Peter Bleser Dr. Norbert Blüm Dr. Maria Böhmer Sylvia Bonitz Jochen Borchert Wolfgang Börnsen ({42}) Wolfgang Bosbach Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig Dr. Ralf Brauksiepe Paul Breuer Monika Brudlewsky Klaus Bühler ({43}) Hartmut Büttner ({44}) Dankward Buwitt Cajus Caesar Peter H. Carstensen ({45}) Leo Dautzenberg Hubert Deittert Renate Diemers Hansjürgen Doss Marie-Luise Dött Rainer Eppelmann Anke Eymer ({46}) Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Albrecht Feibel Ulf Fink Ingrid Fischbach Axel E. Fischer ({47}) Herbert Frankenhauser Dr. Gerhard Friedrich ({48}) ({49}) Erich G. Fritz Jochen-Konrad Fromme Hans-Joachim Fuchtel Norbert Geis Georg Girisch Dr. Reinhard Göhner Dr. Wolfgang Götzer Kurt-Dieter Grill Hermann Gröhe Manfred Grund Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein Gottfried Haschke ({50}) Norbert Hauser ({51}) Hansgeorg Hauser ({52}) Helmut Heiderich Ursula Heinen Manfred Heise Siegfried Helias Hans Jochen Henke Peter Hintze Klaus Hofbauer Klaus Holetschek Joachim Hörster Hubert Hüppe Georg Janovsky Dr.-Ing. Rainer Jork Dr. Harald Kahl Steffen Kampeter Dr.-Ing. Dietmar Kansy Volker Kauder Eckart von Klaeden Ulrich Klinkert Norbert Königshofen Eva-Maria Kors Thomas Kossendey Dr. Martina Krogmann Dr. Paul Krüger Dr. Hermann Kues Karl Lamers Dr. Karl A. Lamers ({53}) Dr. Norbert Lammert Helmut Lamp Peter Letzgus Ursula Lietz Walter Link ({54}) Dr. Manfred Lischewski Wolfgang Lohmann ({55}) Dr. Michael Luther Erich Maaß ({56}) Erwin Marschewski ({57}) Dr. Martin Mayer ({58}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz Hans Michelbach Elmar Müller ({59}) Claudia Nolte Günter Nooke Franz Obermeier Friedhelm Ost Eduard Oswald Norbert Otto ({60}) Anton Pfeifer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Ruprecht Polenz Marlies Pretzlaff Dr. Bernd Protzner Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Helmut Rauber Christa Reichard ({61}) Katherina Reiche Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Hannelore Rönsch ({62}) Dr. Klaus Rose Kurt J. Rossmanith Dr. Christian Ruck Dr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte Heinz Schemken Karl-Heinz Scherhag Gerhard Scheu Norbert Schindler Dietmar Schlee Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({63}) Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({64}) Michael von Schmude Birgit Schnieber-Jastram Dr. Andreas Schockenhoff Reinhard Freiherr von Schorlemer Gerhard Schulz Diethard Schütze ({65}) Clemens Schwalbe Dr. Christian SchwarzSchilling Wilhelm-Josef Sebastian Nach Art. 79 des Grundgesetzes bedarf ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages, also mindestens 446 Jastimmen. Gemäß § 48 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung stelle ich fest, dass die erforderliche Zweidrittelmehrheit erreicht ist. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. ({66}) In der Debatte zu Tagesordnungspunkt 19 a und b gebe ich nun dem Kollegen Norbert Röttgen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Stellen Sie sich vor, wir hätten in Deutschland zwar ein Strafgesetzbuch, aber keine Staatsanwaltschaft, die Verbrechen und Straftaten anklagt, und kein Gericht, das verurteilt. Bis vor kurzem war ganz genau das die Situation für Kriegsverbrecher, für diejenigen, die Völkermord und schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hatten. Diese mussten kein irdisches Gericht fürchten. Die Errichtung eines internationalen Strafgerichtshofes bedeutet, dass es in Zukunft eben nicht nur ein materielles, humanitäres Völkerrecht gibt, sondern dass es sich auch durchsetzt. Das war bislang der Mangel des Rechts: Es bestand, aber es war ohne Wirkung. Die Frau Bundesjustizministerin hat bereits gesagt, es soll in Zukunft das Recht und nicht das Recht des Stärkeren gelten. Das ist die Veränderung, die stattfindet. ({0}) Bei allem inflationären Gebrauch des Attributs „historisch“ ist auch unsere Fraktion der CDU/CSU der Auffassung, dass wir es hier mit einer historischen Veränderung zu tun haben. Es handelt sich um ein politisches Ergebnis, das in der Tat in der Kontinuität deutscher Außen- und Justizpolitik Vizepräsidentin Anke Fuchs Horst Seehofer Heinz Seiffert Werner Siemann Bärbel Sothmann Wolfgang Steiger Erika Steinbach Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Andreas Storm Dorothea Störr-Ritter Max Straubinger Matthäus Strebl Thomas Strobl ({1}) Michael Stübgen Dr. Susanne Tiemann Edeltraut Töpfer Dr. Hans-Peter Uhl Angelika Volquartz Andrea Voßhoff Peter Weiß ({2}) Heinz Wiese ({3}) Hans-Otto Wilhelm ({4}) Klaus-Peter Willsch Bernd Wilz Willy Wimmer ({5}) Aribert Wolf Elke Wülfing Peter Kurt Würzbach Wolfgang Zeitlmann Wolfgang Zöller BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Marieluise Beck ({6}) Volker Beck ({7}) Angelika Beer Grietje Bettin Annelie Buntenbach Ekin Deligöz Dr. Thea Dückert Franziska Eichstädt-Bohlig Hans-Josef Fell Andrea Fischer ({8}) Joseph Fischer ({9}) Katrin Göring-Eckardt Rita Grießhaber Winfried Hermann Ulrike Höfken Michaele Hustedt Dr. Angelika Köster-Loßack Steffi Lemke Dr. Helmut Lippelt Dr. Reinhard Loske Oswald Metzger Kerstin Müller ({10}) Winfried Nachtwei Christa Nickels Simone Probst Christine Scheel Rezzo Schlauch Albert Schmidt ({11}) Werner Schulz ({12}) Christian Simmert Christian Sterzing Hans-Christian Ströbele Dr. Ludger Volmer Sylvia Voß Helmut Wilhelm ({13}) Margareta Wolf ({14}) F.D.P. Hildebrecht Braun ({15}) Ernst Burgbacher Gisela Frick Paul K. Friedhoff Horst Friedrich ({16}) Hans-Michael Goldmann Joachim Günther ({17}) Dr. Karlheinz Guttmacher Klaus Haupt Birgit Homburger Ulrich Irmer Dr. Klaus Kinkel Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Jürgen Koppelin Ina Lenke Dirk Niebel Günther Friedrich Nolting Hans-Joachim Otto ({18}) Detlef Parr Cornelia Pieper Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Gerhard Schüßler Dr. Irmgard Schwaetzer Marita Sehn Jürgen Türk Dr. Guido Westerwelle PDS Dr. Dietmar Bartsch Dr. Heinrich Fink Dr. Klaus Grehn Dr. Gregor Gysi Sabine Jünger Rolf Kutzmutz Pia Maier Angela Marquardt Christina Schenk Nein SPD Renate Rennebach René Röspel CDU/CSU Manfred Carstens ({19}) Martin Hohmann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Monika Knoche Enthalten SPD Anke Fuchs ({20}) Konrad Gilges Ingrid Holzhüter Christel Humme Ulrich Kasparick Adolf Ostertag Dagmar Schmidt ({21}) Hildegard Wester Hanna Wolf (München CDU/CSU Wolfgang Dehnel Margarete Späte BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Irmingard Schewe-Gerigk PDS Roland Claus Wolfgang Gehrcke Uwe Hiksch Dr. Barbara Höll Carsten Hübner Ulla Jelpke Gerhard Jüttemann Ursula Lötzer Heidemarie Lüth Kersten Naumann Petra Pau Dr. Ilja Seifert liegt. Insbesondere die Vorgängerregierungen haben dieses Ziel immer nach Kräften gefördert. Dieses Ziel wurde immer im Konsens aller Fraktionen und Parteien verfolgt. Es ist sehr positiv, dass wir bei diesen Kernfragen der nationalen und internationalen Politik Übereinstimmung haben, was auch eine Voraussetzung des Erfolges ist. ({22}) Die neue Qualität, die nun eingetreten ist, besteht in der Bereitschaft der Nationen zum Verzicht auf staatliche Souveränität. Die Staaten geben etwas von ihrer Souveränität auf und übertragen sie an eine unabhängige internationale Institution, an einen allgemein zuständigen Internationalen Strafgerichtshof. Dort, wo der Strafgerichtshof in Zukunft zuständig sein wird, wird der Schutz der Menschenrechte, also die Verfolgung von Verletzungen der Menschenrechte, außerhalb und oberhalb der internationalen Interessenpolitik der Staaten liegen. Jetzt ist es nicht mehr eine Frage der Opportunität, ob Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen verfolgt werden; dies hängt nicht mehr davon ab, ob es den betroffenen Staaten in ihren machtpolitischen Kram passt. Nein, es ist jetzt eine Frage des Rechts. Eine unabhängige Institution wird solche Verbrechen anklagen und verfolgen. ({23}) Darum ist die Entscheidung für die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofes die Mitteilung an alle Kriegsverbrecher und an alle Verbrecher gegen Menschlichkeit und Menschenwürde, in welcher Ecke der Welt sie sich auch befinden: Ihr werdet nach euren Taten keinen ruhigen Lebensabend haben, eure Taten werden verfolgt und angeklagt werden, ihr werdet zur Rechenschaft gezogen und verurteilt werden. Dies ist eine gute Mitteilung, über die wir uns ausdrücklich freuen sollten. ({24}) Bei aller Freude über diesen Erfolg müssen wir erkennen, dass hier ein Prozess gerade erst begonnen hat. Er ist noch nicht vollendet, wie eben schon erwähnt worden ist. 60 Ratifikationen sind dafür notwendig, dass das Statut überhaupt in Kraft tritt; gut 20 liegen vor. Das heißt, dieser Prozess wird noch eine lange Zeit in Anspruch nehmen. Die Bundesrepublik Deutschland wird dem Statut beitreten und seine Bestimmungen, beginnend mit den heutigen Beschlüssen, innerstaatlich in vollem Umfange umsetzen. Dies bedeutet für die Bundesrepublik Deutschland, dass wir auch eine Verfassungsänderung vornehmen. Bislang sieht unsere Verfassung in Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes ein uneingeschränktes Verbot der Auslieferung von deutschen Staatsangehörigen vor. Wenn wir die geschilderte Entwicklung nicht nur begrüßen, sondern an ihr teilnehmen wollen, dann können wir nicht sagen, das solle für alle gelten, nur unsere Staatsbürger müssten ausgenommen werden, wenn sie denn betroffen sein sollten. Das wäre ein widersprüchliches Verhalten und darum ist es richtig, dass wir diese Grundgesetzänderung vornehmen. Wir haben uns diese Änderung nicht leicht gemacht. Das ist auch richtig so. Manche haben kritisiert, dass darüber so lange geredet werde. Diese Änderung ist aber in ihren Auswirkungen gravierend und von grundsätzlicher Bedeutung; denn die Auslieferung bedeutet, dass wir unsere Staatsangehörigen außerhalb des Geltungsbereiches des Grundgesetzes verbringen und ihnen im Ergebnis auch den grundgesetzlichen und grundrechtlichen Schutz entziehen. Dieser Vorgang ist so gravierend, dass er nicht leicht genommen werden darf. Das Grundgesetz sieht in der nun vorgeschlagenen Fassung vor, dass aufgrund eines Gesetzes - nicht pauschal - die Auslieferung an ein internationales Gericht oder an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union erlaubt sein soll. Ich möchte darauf hinweisen, dass es auch um die Auslieferung an unsere Partnerländer in der Europäischen Union geht. Wir sollten erkennen, dass es sich hierbei um einen Meilenstein in der europäischen Rechtsentwicklung handelt. ({25}) Der Tampere-Prozess, der mit der Entwicklung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begonnen worden ist, stellt einen weiteren Schritt nach vorn in der europäischen Rechtsentwicklung dar. Das ist zu begrüßen und darf in dieser Debatte nicht vernachlässigt werden. ({26}) Die europäische Integration auf dem Gebiet des Rechts schreitet weiter voran. Der Gesetzgeber ist, wenn er die Auslieferung durch Gesetz ermöglicht, verpflichtet, in jedem Fall zu prüfen, ob der rechtsstaatliche Schutz in dem Land, an das er ausliefert, bzw. durch das Gericht, an das ausgeliefert wird, garantiert ist. Ein Gesetz, das die Auslieferung an ein Gericht in einem Mitgliedsland vorsieht, das die rechtsstaatlichen Grundsätze nicht erfüllt, wäre verfassungswidrig. Darüber haben wir debattiert und uns auseinander gesetzt. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und die F.D.P.Bundestagsfraktion haben es für notwendig gehalten, diese Hürde ausdrücklich in die Verfassung aufzunehmen, auch als Mahnung an den zukünftigen Gesetzgeber, der diese Hürde nicht leicht überspringen können soll. Es soll bei jedem Staatsangehörigen, den wir außer Landes bringen wollen, eine rechtsstaatliche Prüfung vorgenommen werden. Dass wir darüber länger diskutiert haben, ist positiv. Es zeugt von der Ernsthaftigkeit des Bundestages in Bezug auf den rechtsstaatlichen und grundrechtlichen Schutz seiner Bürger. Wir haben ein Einvernehmen erreicht. Das ist ein Erfolg langjähriger Bemühungen der deutschen Außen- und Justizpolitik. Ich glaube, es ist nicht zu viel gesagt, dass sich, wenn das Statut eines Tages in Kraft tritt und der Internationale Strafgerichtshof seine Arbeit aufnehmen kann, erweisen wird, dass die Tätigkeit dieses Gerichtshofes ein wesentlicher Ausdruck der internationalen Geltung des Rechts und des Rechtsdenkens sowie ein wesentlicher Beitrag zur friedlichen Ordnung in der Welt sein wird. Die CDU/CSU-Bundestagfraktion begrüßt diese Entwicklung und unterstützt sie nachdrücklich. Herzlichen Dank. ({27})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Zeit der Straflosigkeit für Kriegsverbrecher und Völkermörder geht zu Ende. Das ist eine gute Botschaft. ({0}) Mit Spanien hat diese Woche bereits der fünfte EUStaat - von insgesamt 22 Ländern - das Römische Statut zur Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs ratifiziert. Auch die deutsche Ratifizierungsurkunde ist mit dem heutigen Tage abgeschickt worden, Adressat: die Vereinten Nationen in New York. Darauf können wir stolz sein. ({1}) Wenn man berücksichtigt, dass das Vertragswerk von Rom mittlerweile von 115 Ländern gezeichnet wurde, ist mir auch im Hinblick auf die zum In-Kraft-Treten noch erforderlichen 37 Ratifizierungen nicht wirklich bange. Das kann sehr schnell gehen und das sollte es auch. Denn jeder Tag, der bis zum In-Kraft-Treten des Statutes noch vergeht, ist für die Opfer von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen ein verlorener Tag. Es ist erfreulich, dass die Bundesrepublik zu den Gründungsmitgliedern des Gerichts gehören wird. Ein Erfolg ist das auch deshalb, weil Deutschland bereits bei der Ausarbeitung des Vertragswerkes in Rom vor zwei Jahren eine ganz herausragende Rolle gespielt hat, übrigens mit Unterstützung von diversen Nichtregierungsorganisationen. Sie haben erhebliche Verdienste daran, dass man sich in den nächtelangen Verhandlungsrunden und hitzigen Debatten nicht von den Skeptikern anderer Staaten in die Knie zwingen hat lassen. Amnesty International möchte ich an dieser Stelle für ihr weltweites Engagement in Sachen Strafgerichtshof ausdrücklich danken. Ohne ihre Unterstützung wäre die Liste der Nichtunterzeichnerstaaten sicher noch länger ausgefallen. So müssen wir jetzt nur noch über sieben Staaten sprechen. Meine Damen und Herren, der Internationale Strafgerichtshof ist ein historischer Meilenstein in der Entwicklung des Völkerrechts, er ist ein Meilenstein für unsere Rechtskultur insgesamt, ({2}) weil eine effektive und angemessene Ahndung schwerster Verbrechen künftig nicht mehr an absurden Hindernissen scheitern wird. Kein Pinochet dieser Welt wird sich künftig mehr bei dieser Art von Verbrechen hinter irgendwelchen Immunitätsvorschriften verstecken können. ({3}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend noch ein paar Worte zu dem Schauspiel sagen, das sich im Umfeld der Sommerpause im Rechtsausschuss zugetragen hat. Es war angesichts der Bedeutung dieses Themas und der grundsätzlichen Übereinstimmung in der Sache - Frau Brandt-Elsweier hatte es vorhin schon in einer anderen Debatte angesprochen - schon etwas merkwürdig, dass es für die Zustimmung zu dieser Grundgesetzänderung, die die Glaubwürdigkeitsfrage bei der Ratifizierung des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs stellt, Gegengeschäfte geben musste, dass man Ihnen diese Zustimmung abringen musste. ({4}) Verehrte Kollegen von der Opposition, diese Koalition steht vorbehaltlos zum Internationalen Strafgerichtshof. Sie wollen ihn offensichtlich aber nur im Doppelpack mit anderen Grundgesetzänderungen. Ein wirklicher inhaltlicher Zusammenhang bestand da nicht. Das finde ich beschämend ({5}) und dies finden übrigens auch die Bürgerinnen und Bürger. Herr Scholz, Herr Röttgen, Herr Funke, haben Sie den Appell der 70 Universitätsprofessoren an den Deutschen Bundestag gelesen? ({6}) Da kommen Sie nicht gut weg. Kein Wunder, denn ein solches Thema eignet sich nicht zur parteipolitischen Profilierung, schon gar nicht dann, wenn in der Sache parteiübergreifend Einigkeit besteht. ({7}) Lassen Sie uns jetzt noch einmal gemeinsam die Debatte ({8}) aufgreifen und unsere Gesprächsfäden ({9}) in die Vereinigten Staaten nutzen, um unsere amerikani- schen Freunde davon zu überzeugen, dass sie a) das Sta- tut dieses Internationalen Strafgerichtshofs ratifizieren und b) auch amerikanische Staatsbürger - wie wir das heute mit der Grundgesetzänderung für deutsche Staatsbürger regeln - im Zweifelsfall nach dem Statut dieses Gerichtshofs an diesen Gerichtshof überstellen. Das brauchen wir als Glaubwürdigkeitstest der Demokratien, um auch deutlich zu machen, dass auf dieser Welt für alle Länder die gleichen Spielregeln des Völkerrechts und der Menschenrechte gelten. Vielen Dank. ({10})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die F.D.P.-Fraktion hat der Kollege Rainer Funke das Wort.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die F.D.P. begrüßt ausdrücklich die Grundgesetzänderung, durch die eine Auslieferung deutscher Staatsbürger an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einen internationalen Gerichtshof nunmehr grundsätzlich ermöglicht wird. ({0}) Ebenso begrüßt die F.D.P.-Fraktion ausdrücklich die Ratifizierung des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs, denn dieser Gerichtshof ist ein großer Fortschritt des humanitären Völkerrechts und reduziert erneut die immer noch bestehende Vorherrschaft militärischer Aspekte bei internationalen Konfliktlösungen. ({1}) Es waren insbesondere die liberalen Außenminister, Dr. Klaus Kinkel zum Beispiel, und der liberale Justizminister Professor Dr. Schmidt-Jortzig, die sich massiv für die Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs eingesetzt haben. ({2}) Das Statut des künftigen Internationalen Strafgerichtshofs ist maßgeblich durch diese beiden liberalen Minister geprägt worden. Dafür auch meinen herzlichen Dank. ({3}) Mit der Zustimmung der Bundesrepublik Deutschland zum Statut werden Hoheitsrechte auf den Internationalen Strafgerichtshof übertragen. Auch deswegen ist es notwendig, Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes, der bislang einschränkungslos die Auslieferung deutscher Staatsangehöriger verbietet, zu modifizieren. Diese Ergänzung liegt Ihnen heute zur Beschlussfassung vor. Sie bekräftigt, dass der Verfassungsgeber, also auch der Bundestag, die Auslieferung von deutschen Staatsbürgern nicht voraussetzungslos erlauben darf. Vielmehr ist dieser erhebliche Grundrechtseingriff nur dann zulässig, wenn durch Gesetz bei Auslieferung eines deutschen Staatsbürgers an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind. Diese Einschränkung der Auslieferungsmöglichkeiten der Bundesrepublik Deutschland war in dem ursprünglichen Formulierungsvorschlag der Bundesregierung nicht ausdrücklich enthalten. Sie ist erst nach längeren Diskussionen in mehreren Berichterstatter- und Obleutebesprechungen von der Bundesregierung akzeptiert worden. Diese Formulierung, die sich an die Formulierung des Art. 23 des Grundgesetz anlehnt, ist kein Ausdruck des Misstrauens gegenüber dem Internationalen Strafgerichtshof oder gar gegenüber mit uns befreundeten europäischen Ländern. Realistischerweise müssen wir aber bedenken, dass es auch in den Ländern der Europäischen Union Situationen geben kann, in denen zumindest zeitweise die Anwendung rechtsstaatlicher Grundsätze infrage steht. Das Verteidigungsbündnis der westlichen Welt, die NATO, die sich ebenfalls rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichtet fühlt, hat erleben müssen, dass einzelne Staaten von diktatorischen Regimen, zumindest von Regimen, die rechtsstaatlichen Grundsätzen etwas ferner standen, regiert wurden. In solchen Situationen kann eine Auslieferung deutscher Staatsangehöriger natürlich nicht erfolgen. ({4}) Die Diskussionen im Rechtsausschuss haben dazu geführt, dass der Gesetzentwurf aus dem Jahre 1999 erst heute, nach fast einem Dreivierteljahr, beschlossen werden kann. Die Oppositionsparteien hätten es begrüßt, wenn ihr Kompromissangebot von der Koalition frühzeitiger akzeptiert worden wäre. Dann nämlich wäre es ohne weiteres möglich gewesen, dass die Bundesrepublik Deutschland entsprechend den Bemühungen der Vorgängerregierung als einer der ersten Staaten das Römische Statut ratifiziert hätte. Nur durch das leider viel zu lange Beharren der Bundesjustizministerin auf ihrem ursprünglichen Gesetzentwurf, ohne auf die Bedenken der Opposition einzugehen, ist es zu dieser bedauerlichen zeitlichen Verzögerung gekommen. Dabei hatte mein Fraktionskollege Schmidt-Jortzig bereits in der ersten Lesung am 24. Februar dieses Jahres deutlich dargelegt, warum die F.D.P.-Bundestagsfraktion die vorgeschlagene Lösung für noch klärungs- und präzisierungsbedürftig hält. Er hat bereits damals, übrigens als erster und einziger Redner, im Wesentlichen gleiche rechtsstaatliche Standards der Rechts- und Prozessordnung, aber auch des Vollstreckungsrechts für notwendig erachtet und angemahnt. Für meine Fraktion ist daher die gemeinsame Beschlussfassung ein großer Erfolg und ein Zeichen dafür, dass es auch in grundsätzlichen rechtsstaatlichen Fragen in diesem Hause Einigkeit geben kann. Dafür bin ich dankbar. Wir werden dem Gesetzentwurf zustimmen. Vielen Dank. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Eberhard Brecht für die SPD-Fraktion.

Dr. Eberhard Brecht (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000254, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Volker Beck hat eben an die tätige Mitarbeit der NGOs erinnert. Ich möchte es an dieser Stelle nicht versäumen, in unserem Haus einen Gast zu Volker Beck ({0}) begrüßen. Auf der Zuschauertribüne sitzt Herr Professor Whitney Harris, der eigens für unsere Debatte aus den USA angereist ist. Professor Harris war nicht nur Ankläger bei den Nürnberger Prozessen, sondern er hat auch maßgeblich an den Verhandlungen zum Römischen Statut teilgenommen. Herzlich Willkommen! ({1}) Deutschland hat ein natürliches Interesse an einer multilateralen Weltordnung unter dem Dach der Vereinten Nationen. Im Fall des Internationalen Strafgerichtshofes steht der begrenzten Abtretung nationaler Kompetenzen ein Zugewinn an internationaler Sicherheit gegenüber. Lassen Sie mich das an drei Punkten verdeutlichen. Erstens. Der Internationale Strafgerichtshof wirkt präventiv, indem er potenziellen Diktatoren und deren Schergen die juristischen Konsequenzen ihres Handelns vor Augen führt. Ein Urteil der unabhängigen Richter wird wie ein Damoklesschwert über jenen Menschen hängen, die ähnlich wie Milosevic, Pol Pot, Hitler, Stalin, Saddam Hussein oder Pinochet gegen die Menschenrechte verstoßen. Potenziellen Tätern wird klar gemacht, dass sie nicht nur einer internationalen Gerichtsbarkeit unterliegen, sondern dass es für sie kaum noch Asyl geben wird. Einst konnten sich gesuchte Nazikriegsverbrecher gefahrlos nach Lateinamerika absetzen. Aber je mehr Staaten das Römische Statut annehmen, desto dichter wird das Netz, in dem sich die Verbrecher gegen die Menschlichkeit verfangen können. Der Weg dieser Täter wird zunehmend, wenn auch manchmal über Umwege, nach Den Haag führen. Dies bedeutet doch: Je mehr diese präventive Abschreckung ihre Wirkung entfaltet, desto weniger wird die internationale Gemeinschaft künftig mit exzessiven Gewaltausbrüchen konfrontiert werden. Zweitens. Mit der Ratifikation des Römischen Statuts wird aber auch ein jedes Land genötigt, sein nationales Strafrecht den international vereinbarten Prinzipien anzupassen. Damit wird die genannte Präventionswirkung auf Landesebene noch einmal verstärkt. Drittens. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wird durch das In-Kraft-Treten des Römischen Statuts sein Monopol zur Feststellung einer Aggression verlieren. Der Internationale Strafgerichtshof kann nämlich diese Feststellung unabhängig, sachlich und vor allem ohne Rücksicht auf das interessenpolitische Kalkül einzelner Staaten feststellen. Damit wird auch ein gewisser Druck auf andere UN-Institutionen entstehen, bei Menschenrechtsverletzungen wie zum Beispiel in Ruanda aktiv zu werden. Ruanda ist nämlich das deutlichste Beispiel dafür, dass gerade der Sicherheitsrat diesen Druck dringend nötig hat. Weder der amerikanische Präsident noch der russische Präsident sollen ein Entscheidungsmonopol darüber haben, was Gut und was Böse ist. Meine Damen und Herren, mit der Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs würde der Völkergemeinschaft ein Quantensprung des Völkerrechts auf dem Weg zur weltweiten Respektierung der Menschenrechte gelingen. Es muss Ziel deutscher Außenpolitik sein, dass das Römische Statut von vielen Staaten und so rasch wie möglich ratifiziert wird. Denn nach Vorliegen der erforderlichen 60 Ratifizierungsdokumente kann das Gericht dann auch unabhängig und uneingeschränkt arbeiten. Es ist aber nicht nachvollziehbar, dass einige Staaten, darunter auch einige Bündnispartner - ich nenne hier ausdrücklich die Vereinigten Staaten -, einerseits zum Beispiel Jugoslawien auffordern, seine nationalen Vorbehalte gegen eine Auslieferung von Slobodan Milosevic an das internationale Jugoslawien-Tribunal aufzugeben, andererseits aber ihre eigene Zustimmung zum Statut von Rom aufgrund nationaler Vorbehalte verweigern. Dieser Zustand ist nicht haltbar. ({2}) Vor dem Internationalen Strafgerichtshof müssen alle gleich sein, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit. Ansonsten wird dieses Gericht ad absurdum geführt. Meine Damen und Herren, ging es beim Reichstag zu Worms 1495 um den Ewigen Landfrieden, so geht es heute, 500 Jahre später, um Weltinnenpolitik, um den „ewigen Weltfrieden“. Die Existenz eines Strafgerichtshofs wird keine Wunder vollbringen können. Dafür sind seine Instrumente zu sehr ein Ergebnis von Kompromissen. Dennoch wird ein solches internationales Gericht einen spürbaren Beitrag zur globalen Zivilisierung liefern können. Meine Damen und Herren, ich werbe dafür, dass wir diesem Antrag heute möglichst geschlossen zustimmen. Vielen Dank. ({3})

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, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Das Wort für die PDS-Fraktion hat die Kollegin Dr. Evelyn Kenzler.

Dr. Evelyn Kenzler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003159, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion wird dem Ratifizierungsgesetz zum Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zustimmen, weil wir die Gründung dieses Gerichtshofs für einen bedeutsamen Fortschritt im Völkerrecht halten. ({0}) Zum ersten Mal in der Geschichte wird eine allgemeine, also nicht nur auf einen Sonderfall bezogene, individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit für schwerste internationale Verbrechen verbindlich festgelegt, und zwar ohne Rücksicht auf die amtliche Eigenschaft des Täters. Wir stimmen allerdings - im Unterschied zu anderen ohne Euphorie und übertriebene Erwartungen zu. Ich habe schon in der ersten Beratung auf erhebliche Mängel des Statuts hingewiesen. Nur an einen Punkt will ich noch einmal erinnern: Das Statut stellt den Einsatz von atomaren, chemischen und biologischen Waffen sowie von Landminen nicht unter Strafe und lässt den Tatbestand der Aggression vorerst ungeregelt. Wir verbinden unser Ja mit der Erwartung, dass sich die Bundesregierung konsequent dafür einsetzt, dass erstens die Universalität des Statuts erreicht wird - das erfordert auf jeden Fall die Teilnahme der USA, Indiens und Chinas -, zweitens möglichst nicht erst auf der vorgesehenen Überprüfungskonferenz sieben Jahre nach InKraft-Treten des Statuts die Mängel beseitigt werden und drittens Versuche vereitelt werden, das Statut zu unterwandern. ({1}) Letzteres betrifft vor allem die USA, die verhindern möchten - das haben sie mit ihrem demonstrativen Fernbleiben unterstrichen -, dass jemals ein amerikanischer Staatsbürger vor die Schranken dieses Gerichts kommt. Ganz entschieden spreche ich mich auch gegen die bekannt gewordenen Versuche aus, sexuelle Gewalttaten gegen Frauen aus dem Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit heraus zu nehmen, ({2}) wenn sie, wie es heißt, im Familienkontext begangen wurden oder religiös bzw. kulturell sanktioniert sind. Meine Fraktion wird auch der Änderung von Art. 16 des Grundgesetzes die Zustimmung nicht versagen. Der Vorbehalt der Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze bei der Auslieferung von Deutschen an einen internationalen Gerichtshof oder an einen EU-Staat ist in meinen Augen allerdings überflüssig und könnte als deutsche Anmaßung ausgelegt werden. Wir interpretieren ihn als einen Auftrag an den deutschen Gesetzgeber, ein rechtsstaatlich einwandfreies Ausführungsgesetz zu erlassen. Diese Fassung wurde nach erbitterten Auseinandersetzungen im Rechtsausschuss zwischen den Koalitionsfraktionen auf der einen und den Oppositionsfraktionen auf der anderen Seite ausgehandelt. Ganz zufällig - man möchte meinen, irrtümlich wurde meine Fraktion an den intensiven Berichterstattergesprächen nicht beteiligt. Ich war zwar ordnungsgemäß als Berichterstatterin benannt worden, meine Einladung zu Gesprächen wurde jedoch - natürlich wieder rein zufällig, ja völlig unabsichtlich - vergessen. Selbstverständlich wurden wir auch wiederum ganz zufällig nicht gefragt, ob wir den gemeinsamen Antrag aller Fraktionen als Miteinreicherin mittragen würden. Das ist zwar nicht mehr die brutalstmögliche „Mit euch nicht auf einen Antrag“-Variante, jedoch eine subtilere Form davon und das Ergebnis ist dasselbe. Wir sind aber nicht nachtragend, sondern geben sachlichen Argumenten den Vorrang. Wir stimmen deshalb im Interesse des zügigen In-Kraft-Tretens des Statuts zu. Entscheidend werden ohnehin die einzelnen Bestimmungen für die mögliche Auslieferung von Deutschen im Ausführungsgesetz zu Art. 16 Abs. 2 des Grundgesetzes sein. Wir erwarten, dass hierzu möglichst bald ein Entwurf vorgelegt wird. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Herr Staatsminister im Auswärtigen Amt Ludger Volmer.

Not found (Gast)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor etwa zwei Jahren, am 17. Juli 1998, konnte bei dem Streben nach weltweiter Gerechtigkeit und der weiteren Verrechtlichung der internationalen Beziehungen ein entscheidender Durchbruch erzielt werden. Nach jahrzehntelangen Bemühungen wurde endlich in Rom die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes beschlossen. 120 Staaten stimmten für das Römische Statut, welches dem Deutschen Bundestag heute bei der abschließenden Beratung des Internationalen-Strafgerichtshofs-Statutgesetzes und des damit verbundenen Gesetzes zur Änderung von Art. 16 des Grundgesetzes vorliegt. Mit dem Römischen Statut wurde die Errichtung eines Strafgerichtshofs beschlossen, der künftig immer dann strafverfolgend tätig wird, wenn nationale Strafrechtssysteme versagen oder wenn Staaten nicht willens oder in der Lage sind, Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder schwere Kriegsvergehen ernsthaft zu verfolgen. Der künftige Strafgerichtshof ergänzt insoweit die innerstaatliche Gerichtsbarkeit, deren Vorrang im Statut vielfach verankert ist. Mittlerweile ist das Strafgerichtshofvorhaben in Deutschland wie in der internationalen Öffentlichkeit so bekannt, dass man die große Bedeutung des Gründungsvertrags von Rom und den damit verbundenen rechtspolitischen Fortschritt kaum mehr betonen muss. 115 Staaten haben das Römische Statut gezeichnet und bereits 22 Staaten haben es ratifiziert. Die Bundesregierung möchte ihrerseits die Ratifikationsurkunde in New York sobald wie möglich hinterlegen. Die Idee, dass sowohl politisch Verantwortliche wie auch Soldaten nicht hinter dem Schutzschild von Immunität und staatlicher Souveränität straflos schwerste Verbrechen begehen können, ist erstmals in den Kriegsverbrecherprozessen von Nürnberg und Tokio verwirklicht worden. Damals wurde deutlich, dass die Menschenwürde auch mit Mitteln des Völkerstrafrechts geschützt werden muss. Ich freue mich deshalb, dass mit Professor Harris ein bedeutender Zeitzeuge bei den heutigen Beratungen des Bundestages anwesend ist. ({0}) Der Bundesregierung ist sehr bewusst, dass auch die letzte Bundesregierung mit ihrem konsequenten Eintreten für einen möglichst starken und unabhängigen Internationalen Strafgerichtshof gute politische Arbeit geleistet und das deutsche Ansehen bei den Vereinten Nationen gemehrt hat. Umgekehrt rechnet die jetzige Bundesregierung nun auf die Unterstützung der heutigen Opposition, wenn sie an dem von ihr konsequent fortgesetzten Kurs auch dann festhält, wenn es starken Gegenwind und Kritik besonders aus Washington gibt. ({1}) Die Bundesregierung ist entschlossen, an dieser bisher von allen Parteien unterstützten Linie festzuhalten. Wir hoffen daher, dass die heute vor uns liegenden Gesetzentwürfe möglichst einmütig verabschiedet werden können. Eine baldige Ratifikation des Römischen Statuts durch Deutschland würde für viele Staaten in der Welt, die wie wir das Strafgerichtshofvorhaben unterstützen, eine große Ermutigung bedeuten. ({2}) Es ist daher richtig, dass wir uns zusammen mit dem Gesetz über den Internationalen Strafgerichtshof vertragskonform in die Lage versetzen, dass erforderlichenfalls auch Deutsche überstellt werden können. Angesichts der fortschreitenden Integration Europas ist es nur folgerichtig, diese Möglichkeit auch in Bezug auf die EU-Partnerländer Deutschlands vorzusehen. Lassen Sie mich abschließend in aller Nüchternheit sagen: Der Internationale Strafgerichtshof ist noch nicht errichtet, er ist noch nicht gesichert und es bleibt noch viel Arbeit zu tun. Im Bundestag werden wir in absehbarer Zeit über Entwürfe für ein Ausführungsgesetz zum Römischen Statut und für ein Völkerstrafgesetzbuch zu beraten haben. Bei den Vereinten Nationen in New York wird es schwierige Verhandlungen insbesondere über die Finanzierung des Strafgerichtshofs und über weitere wichtige Nebeninstrumente geben. Darüber hinaus geht es darum, die Integrität des Vertragswerks von Rom gegenüber denjenigen zu schützen, die den Vertrag nachträglich doch noch abändern und dadurch schwächen wollen. Es ist auch sehr wichtig, dass wir rechtzeitig qualifiziertes deutsches Personal für den Strafgerichtshof vorsehen, für den wir uns seit fast einem Jahrzehnt einsetzen. Es ist also noch einiges zu tun. Die Bundesregierung wird engagiert daran weiterarbeiten, dass der Tag näher rückt, an dem der Gerichtshof seine Arbeit in Den Haag aufnehmen kann. Ich danke Ihnen. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes, Drucksachen 14/2668 und 14/4419. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich weise darauf hin, dass nach Art. 79 des Grundgesetzes ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages, das heißt mindestens 446 Stimmen, erfordert. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass wir gegen 14 Uhr eine weitere strittige Abstimmung durchführen werden. Deshalb bitte ich um eine entsprechende Präsenz auch nach dieser namentlichen Abstimmung. Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Bis zum Vorliegen des Ergebnisses der namentlichen Abstimmung unterbreche ich die Sitzung. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Die Sitzung ist wieder eröffnet. Ich gebe das von den Schriftführern und Schriftführerinnen ermittelte Ergebnis der namentlichen Schlussabstimmung über den Gesetzentwurf zur Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes, Drucksachen 14/2668 und 14/4419, bekannt. Abgegebene Stimmen 531. Mit Ja haben gestimmt 528, mit Nein hat ein Abgeordneter oder eine Abgeordnete gestimmt, Enthaltungen 2. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 531; davon ja: 528 nein: 1 enthalten: 2 Ja SPD Brigitte Adler Gerd Andres Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Hermann Bachmaier Ernst Bahr Doris Barnett Klaus Barthel ({0}) Ingrid Becker-Inglau Dr. Axel Berg Hans-Werner Bertl Petra Bierwirth Rudolf Bindig Lothar Binding ({1}) Kurt Bodewig Klaus Brandner Willi Brase Rainer Brinkmann ({2}) Bernhard Brinkmann ({3}) Hans-Günter Bruckmann Edelgard Bulmahn Dr. Michael Bürsch Hans Martin Bury Hans Büttner ({4}) Marion Caspers-Merk Wolf-Michael Catenhusen Dr. Peter Danckert Christel Deichmann Karl Diller Peter Dreßen Detlef Dzembritzki Dieter Dzewas Dr. Peter Eckardt Sebastian Edathy Ludwig Eich Peter Enders Gernot Erler Petra Ernstberger Annette Faße Vizepräsidentin Petra Bläss Lothar Fischer ({5}) Iris Follak Norbert Formanski Rainer Fornahl Hans Forster Lilo Friedrich ({6}) Harald Friese Anke Fuchs ({7}) Arne Fuhrmann Monika Ganseforth Konrad Gilges Günter Gloser Uwe Göllner Renate Gradistanac Günter Graf ({8}) Angelika Graf ({9}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Kerstin Griese Wolfgang Grotthaus Karl-Hermann Haack ({10}) Hans-Joachim Hacker Klaus Hagemann Manfred Hampel Christel Hanewinckel Alfred Hartenbach Anke Hartnagel Klaus Hasenfratz Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Frank Hempel Rolf Hempelmann Gustav Herzog Monika Heubaum Reinhold Hiller ({11}) Stephan Hilsberg Gerd Höfer Jelena Hoffmann ({12}) Walter Hoffmann ({13}) Iris Hoffmann ({14}) Frank Hofmann ({15}) Ingrid Holzhüter Eike Hovermann Christel Humme Lothar Ibrügger Barbara Imhof Brunhilde Irber Gabriele Iwersen Renate Jäger Jann-Peter Janssen Ilse Janz Dr. Uwe Jens Volker Jung ({16}) Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Sabine Kaspereit Susanne Kastner Ulrich Kelber Hans-Peter Kemper Klaus Kirschner Marianne Klappert Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Anette Kramme Nicolette Kressl Volker Kröning Angelika Krüger-Leißner Horst Kubatschka Ernst Küchler Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Konrad Kunick Dr. Uwe Küster Werner Labsch Christine Lambrecht Brigitte Lange Christian Lange ({17}) Detlev von Larcher Christine Lehder Waltraud Lehn Robert Leidinger Klaus Lennartz Dr. Elke Leonhard Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann ({18}) Christa Lörcher Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Dieter Maaß ({19}) Winfried Mante Dirk Manzewski Tobias Marhold Lothar Mark Ulrike Mascher Heide Mattischeck Markus Meckel Ulrike Mehl Ulrike Merten Angelika Mertens Dr. Jürgen Meyer ({20}) Ursula Mogg Christoph Moosbauer Michael Müller ({21}) Jutta Müller ({22}) Christian Müller ({23}) Franz Müntefering Andrea Nahles Volker Neumann ({24}) Gerhard Neumann ({25}) Dr. Rolf Niese Dietmar Nietan Günter Oesinghaus Eckhard Ohl Leyla Onur Manfred Opel Holger Ortel Kurt Palis Albrecht Papenroth Dr. Martin Pfaff Georg Pfannenstein Johannes Pflug Dr. Eckhart Pick Karin Rehbock-Zureich Dr. Carola Reimann Renate Rennebach Bernd Reuter Dr. Edelbert Richter Reinhold Robbe Gudrun Roos René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth ({26}) Birgit Roth ({27}) Marlene Rupprecht Thomas Sauer Dr. Hansjörg Schäfer Gudrun Schaich-Walch Rudolf Scharping Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Horst Schild Dieter Schloten Horst Schmidbauer ({28}) Ulla Schmidt ({29}) Dagmar Schmidt ({30}) Wilhelm Schmidt ({31}) Regina Schmidt-Zadel Heinz Schmitt ({32}) Carsten Schneider Dr. Emil Schnell Walter Schöler Olaf Scholz Karsten Schönfeld Fritz Schösser Ottmar Schreiner Gerhard Schröder Gisela Schröter Dr. Mathias Schubert Richard Schuhmann ({33}) Brigitte Schulte ({34}) Reinhard Schultz ({35}) Volkmar Schultz ({36}) Ewald Schurer Dr. R. Werner Schuster Dr. Angelica Schwall-Düren Bodo Seidenthal Erika Simm Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Antje-Marie Steen Ludwig Stiegler Rita Streb-Hesse Reinhold Strobl ({37}) Dr. Peter Struck Joachim Stünker Joachim Tappe Jörg Tauss Jella Teuchner Dr. Gerald Thalheim Franz Thönnes Uta Titze-Stecher Adelheid Tröscher Hans-Eberhard Urbaniak Rüdiger Veit Simone Violka Hans Georg Wagner Hedi Wegener Dr. Konstanze Wegner Wolfgang Weiermann Reinhard Weis ({38}) Matthias Weisheit Gunter Weißgerber Jochen Welt Dr. Rainer Wend Hildegard Wester Lydia Westrich Dr. Margrit Wetzel Jürgen Wieczorek ({39}) Helmut Wieczorek ({40}) Heidemarie Wieczorek-Zeul Heino Wiese ({41}) Brigitte Wimmer ({42}) Engelbert Wistuba Barbara Wittig Verena Wohlleben Hanna Wolf ({43}) Waltraud Wolff ({44}) Heidemarie Wright Uta Zapf Dr. Christoph Zöpel Peter Zumkley CDU/CSU Peter Altmaier Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Brigitte Baumeister Meinrad Belle Dr. Sabine Bergmann-Pohl Otto Bernhardt Hans-Dirk Bierling Dr. Joseph-Theodor Blank Peter Bleser Dr. Norbert Blüm Dr. Maria Böhmer Sylvia Bonitz Jochen Borchert Wolfgang Börnsen ({45}) Wolfgang Bosbach Dr. Wolfgang Bötsch Klaus Brähmig Dr. Ralf Brauksiepe Paul Breuer Monika Brudlewsky Klaus Bühler ({46}) Hartmut Büttner ({47}) Dankward Buwitt Cajus Caesar Peter H. Carstensen ({48}) Leo Dautzenberg Wolfgang Dehnel Hubert Deittert Renate Diemers Hansjürgen Doss Marie-Luise Dött Rainer Eppelmann Anke Eymer ({49}) Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Albrecht Feibel Ulf Fink Ingrid Fischbach Vizepräsidentin Petra Bläss Dr. Gerhard Friedrich ({50}) Dr. Hans-Peter Friedrich ({51}) Erich G. Fritz Jochen-Konrad Fromme Hans-Joachim Fuchtel Norbert Geis Dr. Reinhard Göhner Dr. Wolfgang Götzer Kurt-Dieter Grill Hermann Gröhe Manfred Grund Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein Gottfried Haschke ({52}) Norbert Hauser ({53}) Helmut Heiderich Ursula Heinen Manfred Heise Siegfried Helias Hans Jochen Henke Peter Hintze Klaus Hofbauer Martin Hohmann Klaus Holetschek Joachim Hörster Hubert Hüppe Georg Janovsky Dr.-Ing. Rainer Jork Dr. Harald Kahl Steffen Kampeter Dr.-Ing. Dietmar Kansy Volker Kauder Eckart von Klaeden Ulrich Klinkert Norbert Königshofen Eva-Maria Kors Thomas Kossendey Dr. Martina Krogmann Dr. Paul Krüger Dr. Hermann Kues Karl Lamers Dr. Karl A. Lamers ({54}) Dr. Norbert Lammert Helmut Lamp Werner Lensing Peter Letzgus Ursula Lietz Walter Link ({55}) Dr. Manfred Lischewski Dr. Michael Luther Erich Maaß ({56}) Erwin Marschewski ({57}) Dr. Martin Mayer ({58}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Friedrich Merz Hans Michelbach Elmar Müller ({59}) Claudia Nolte Franz Obermeier Friedhelm Ost Eduard Oswald Norbert Otto ({60}) Anton Pfeifer Beatrix Philipp Ronald Pofalla Ruprecht Polenz Marlies Pretzlaff Dr. Bernd Protzner Thomas Rachel Hans Raidel Dr. Peter Ramsauer Helmut Rauber Christa Reichard ({61}) Katherina Reiche Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Franz Romer Hannelore Rönsch ({62}) Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose Kurt J. Rossmanith Dr. Christian Ruck Dr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte Heinz Schemken Karl-Heinz Scherhag Gerhard Scheu Norbert Schindler Dietmar Schlee Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({63}) Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({64}) Birgit Schnieber-Jastram Reinhard Freiherr von Schorlemer Gerhard Schulz Diethard Schütze ({65}) Clemens Schwalbe Dr. Christian SchwarzSchilling Wilhelm-Josef Sebastian Horst Seehofer Heinz Seiffert Werner Siemann Bärbel Sothmann Wolfgang Steiger Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Andreas Storm Dorothea Störr-Ritter Max Straubinger Matthäus Strebl Thomas Strobl ({66}) Michael Stübgen Edeltraut Töpfer Dr. Hans-Peter Uhl Angelika Volquartz Andrea Voßhoff Peter Weiß ({67}) Heinz Wiese ({68}) Hans-Otto Wilhelm ({69}) Klaus-Peter Willsch Bernd Wilz Willy Wimmer ({70}) Elke Wülfing Peter Kurt Würzbach Wolfgang Zeitlmann Wolfgang Zöller BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gila Altmann ({71}) Marieluise Beck ({72}) Volker Beck ({73}) Angelika Beer Grietje Bettin Annelie Buntenbach Ekin Deligöz Dr. Thea Dückert Franziska Eichstädt-Bohlig Hans-Josef Fell Andrea Fischer ({74}) Joseph Fischer ({75}) Katrin Göring-Eckardt Rita Grießhaber Winfried Hermann Ulrike Höfken Michaele Hustedt Monika Knoche Dr. Angelika Köster-Loßack Steffi Lemke Dr. Helmut Lippelt Dr. Reinhard Loske Oswald Metzger Kerstin Müller ({76}) Winfried Nachtwei Christa Nickels Simone Probst Christine Scheel Irmingard Schewe-Gerigk Rezzo Schlauch Albert Schmidt ({77}) Werner Schulz ({78}) Christian Simmert Christian Sterzing Hans-Christian Ströbele Jürgen Trittin Sylvia Voß Helmut Wilhelm ({79}) Margareta Wolf ({80}) F.D.P. Hildebrecht Braun ({81}) Ernst Burgbacher Gisela Frick Paul K. Friedhoff Horst Friedrich ({82}) Hans-Michael Goldmann Joachim Günther ({83}) Dr. Karlheinz Guttmacher Klaus Haupt Birgit Homburger Ulrich Irmer Dr. Klaus Kinkel Dr. Heinrich L. Kolb Gudrun Kopp Jürgen Koppelin Ina Lenke Dirk Niebel Günther Friedrich Nolting Hans-Joachim Otto ({84}) Detlef Parr Cornelia Pieper Gerhard Schüßler Dr. Irmgard Schwaetzer Jürgen Türk Dr. Guido Westerwelle PDS Dr. Dietmar Bartsch Roland Claus Dr. Heinrich Fink Wolfgang Gehrcke Dr. Klaus Grehn Dr. Gregor Gysi Uwe Hiksch Dr. Barbara Höll Carsten Hübner Ulla Jelpke Sabine Jünger Gerhard Jüttemann Rolf Kutzmutz Ursula Lötzer Heidemarie Lüth Pia Maier Angela Marquardt Kersten Naumann Petra Pau Dr. Ilja Seifert Nein CDU/CSU Herbert Frankenhauser Enthalten CDU/CSU Manfred Carstens ({85}) F.D.P. Marita Sehn Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. ({86}) Nach Art. 79 des Grundgesetzes bedarf ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages, zumindest aber 446 Jastimmen. Gemäß § 48 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung stelle ich fest, dass die erforderliche Zweidrittelmehrheit erreicht ist. Der Gesetzentwurf ist damit angenommen. ({87}) Wir kommen nun zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zum Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, Drucksache 14/2682. Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4421, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen. Ich verweise noch einmal darauf, dass die strittige Abstimmung erst gegen 14 Uhr stattfinden wird. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter Baumann, Hans-Dirk Bierling, Klaus Brähmig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Für mehr Sicherheit an der deutsch-tschechischen Grenze - Drucksache 14/3672 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({88}) Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre kei- nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Die Kollegin Ulla Jelpke von der PDS-Fraktion hat ihre Rede zu Proto- koll gegeben.1) - Auch hierzu höre ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Günter Baumann.

Günter Baumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003035, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Staat und alle gesellschaftlichen Gruppierungen sind gefordert, gemeinsam dafür Sorge zu tragen, dass sich jeder Bürger in unserem Land, an jedem Ort und zu jeder Zeit, sicher fühlen kann. Neben der Bekämpfung der allgemeinen Kriminalität und jeder Form des Extremismus gehört dazu auch ein entschiedener Kampf gegen illegale Einwanderung und Kriminalität an den Grenzen und im Grenzbereich. Deutschland kommt durch die Schengen-Außengrenzen zu Polen und Tschechien hierbei eine besondere Verpflichtung zu. Der Freistaat Sachsen hat dabei durch seine Lage mit einer EU-Außengrenze von 566 Kilometern, davon 454 Kilometer allein zu Tschechien, einen ganz besonderen Stellenwert. Leider gibt es im deutsch-tschechischen Grenzbereich eine Vielzahl von Straftaten, die unsere Bürger in hohem Maße verunsichern; es machen sich berechtigte Gefühle von Angst breit. Ich kenne dies, da ich ebenfalls unmittelbar an der Grenze wohne und insofern einige Erfahrungen gemacht habe. Illegale Grenzübertritte, Schleusungen von Menschen aus vielen Ländern, Schmuggel sowie Einbrüche und Diebstähle sind in einigen Grenzorten leider fast schon an der Tagesordnung. Diese Illegalen - wir wissen das nutzen den Grenzübertritt, um in größeren Städten und Ballungsgebieten unterzutauchen. Schwarzarbeit und Straftaten sind die Folge. Frau Staatssekretärin SonntagWolgast erklärte am 18. Oktober, dass jährlich etwa eine halbe Million Menschen in die EU geschleust werden. Durch organisierte Kriminalität werden in Deutschland Umsätze von jährlich 17,6 Milliarden DM erzielt. Zeitungsschlagzeilen informieren leider beinahe täglich über die traurige Realität, zum Beispiel: „Schleuser bevorzugen Erzgebirge und Vogtland“, „18 Illegale in zwei PKWs geschnappt“, „Menschenhandel floriert an Sachsens Grenzen“ oder - diese Woche ganz aktuell „BGS-Fahrzeug bei Kontrolle gerammt“, „Schleuserfahrzeug verursacht Unfall“. Ich könnte noch Weiteres aufführen. Im Bundesgrenzschutz-Jahresbericht für das Jahr 1999 des BMI wird festgestellt: Die Schwerpunkte der unerlaubten Einreisen haben sich erkennbar verlagert und liegen nunmehr mit 12 846 Aufgriffen an der deutsch-tschechischen EUAußengrenze. Dies sind circa fünfmal so viel Aufgriffe wie an der polnischen Grenze. Von den aufgegriffenen Schleusern wurden 30 Prozent an der tschechischen Grenze festgenommen. Es gibt auch eine Zunahme an von Ausländern begangenen Straftaten im Grenzbereich. So hat die Zahl von Wohnungs- und Garageneinbrüchen sowie von PKWDiebstählen in den unmittelbaren Grenzorten stark zugenommen. Die Männer und Frauen vom Bundesgrenzschutz, vom Zoll und der Polizei leisten in diesen Regionen eine hervorragende Arbeit ({0}) und verzeichnen - nicht zuletzt durch eine gut funktionierende Zusammenarbeit - viele Erfolge. Es ist mir an dieser Stelle ein Bedürfnis, den Angehörigen des BGS, der Polizei und des Zolls für ihre verantwortungsvolle Arbeit, die sie täglich für unsere Sicherheit leisten, herzlich zu danken. ({1}) Ich freue mich ganz besonders, dass eine Gruppe von 50 BGS- und Polizeibeamten, die ihren Dienst unmittel- Vizepräsidentin Petra Bläss 1) Anlage 6 bar an der Grenze zu Tschechien tun, von der Besuchertribüne aus unsere heutige Diskussion verfolgt. Sie setzen natürlich große Hoffnungen auf unsere Entscheidungen. Meine Damen und Herren auf der Besuchertribüne, nehmen Sie bitte unseren Dank für Ihre wichtige Arbeit in Ihre Einheiten und in Ihre Dienststellen mit. ({2}) Da die Probleme im deutsch-tschechischen Grenzgebiet nicht nur zur Verunsicherung der Bevölkerung führen, sondern auch nicht sehr förderlich für den Tourismus sowie für die Ansiedlung von neuem Gewerbe und damit für die Schaffung von Arbeitsplätzen sind, ist der Staat gefordert zu handeln. Die Mitglieder der sächsischen Landesgruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben sich gemeinsam mit Herrn Staatssekretär Körper mit diesem Thema in Oberwiesenthal, also vor Ort, beschäftigt. Es waren auch Verantwortliche des BGS, des Zolls und der Polizei sowie Bürgermeister und Landräte aus der betroffenen Grenzregion eingeladen worden. Wir haben gemeinsam in der so genannten Oberwiesenthaler Erklärung die Probleme aufgelistet, die aus unserer Sicht gelöst werden müssen. Hieraus entstand der heutige Gesetzentwurf. Wir fordern: Erstens. Im unmittelbaren Grenzbereich zu Tschechien müssen BGS und Zoll personell verstärkt werden. ({3}) Nur dadurch kann die Aufgabe der Sicherung der Schengen-Außengrenze ordentlich erfüllt werden. Die Schritte der Neuorganisation des BGS sollten konsequent und zügig erfolgen. Auch einige Standorte sind neu zu überprüfen. Ich bin der Meinung, dass zehn Jahre nach der deutschen Einheit nur noch wenige Argumente für die Aufrechterhaltung von BGS-Standorten an der ehemaligen innerdeutschen Grenze sprechen. ({4}) Die Kräfte, die dort ihren Dienst tun, müssen in den Brennpunktbereichen, zum Beispiel an der tschechischen Grenze, eingesetzt werden. Ich denke hierbei - das sage ich ganz offen - an Standorte wie Fulda und Duderstadt. Bei besonderen Gefahrensituationen im Grenzbereich muss der BGS auch kurzfristig verstärkt werden können. Dafür müssen entsprechende Mittel bereitgestellt werden. Zweitens. Die technische Ausstattung des BGS hat sich zwar in der letzten Zeit verbessert. Aber sie ist keineswegs ausreichend und nicht immer zweckmäßig. Der Fahrzeugbestand muss beispielsweise schneller schrittweise erneuert werden. Dabei sollte daran gedacht werden, dass noch stärker geländegängige Fahrzeuge und Zivilfahrzeuge zum Einsatz kommen sollten. ({5}) Entscheidend ist eine dezentrale Beschaffung. Auch darüber haben wir in Oberwiesenthal gesprochen. Damals wurde uns eine solche dezentrale Beschaffung zugesagt. Leider wurde sie bis heute nicht realisiert. Vor Ort kann die Beschaffung sinnvoller erfolgen als zentral. Dafür ein Beispiel: Zurzeit werden Fahrzeuge des Typs Rover zum Stückpreis von etwa 90 000 DM beschafft. Die Beamten vor Ort und auch ich können das nicht nachvollziehen; denn mit den gleichen finanziellen Mitteln könnten mehr Geländefahrzeuge deutscher Herkunft, die auch ihren Zweck erfüllen würden, beschafft werden. ({6}) Eine schnelle Verbesserung der Kommunikationstechnik, zum Beispiel Bildübertragung zum BKA und zu Europol, ist besonders wichtig. Gesuchte Straftäter müssen an der Grenze identifiziert werden können. Herr Innenminister, im Einzelplan 06 des Planentwurfs 2001 darf es für den BGS keine Kürzungen geben. Ich bitte Sie, noch einmal mit uns über den jetzigen Entwurf zu diskutieren. Drittens. Um die Aufgaben im Grenzbereich besser erfüllen zu können, müssen bürokratische Wege vereinfacht werden. Es muss mehr selbstständig vor Ort entschieden werden können. Es kann nicht angehen, dass zum Beispiel beim Aufgriff einer größeren Gruppe von Ausländern faktisch keine Grenzsicherung mehr erfolgt, da fast alle BGS-Beamten mit Formalitäten und Verwaltungsaufgaben beschäftigt sind. Herr Innenminister, wir brauchen nach meiner Meinung auch kein neues Referat im Bundeskriminalamt für Schleuserkriminalität. Dies ist Aufgabe des Bundesgrenzschutzes. Eine bürokratische Zerteilung dieses Aufgabengebietes, die sich gegenwärtig andeutet, ist nicht sinnvoll. Viertens. Am 19. September 2000 wurde ein Vertrag zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik über die Zusammenarbeit der Polizeibehörden und der Grenzschutzbehörden in den Grenzregionen unterzeichnet. Hier muss es schnellstmöglich zur Ratifizierung kommen. Ich begrüße es, dass der sächsische Innenminister, Klaus Hardraht, heute in Prag mit dem neuen tschechischen Innenminister, Stanislav Gross, zusammengekommen ist und dort bereits über die Umsetzung dieses Vertrages verhandelt. Die Zusammenarbeit mit Tschechien - gemeinsame Streifendienste, Bildung gemeinsamer Dienststellen und gemeinsamer Ermittlungsgruppen - ist, glaube ich, der richtige Weg. Fünftens. Wir sehen es als notwendig an, dass Hilfen und Hinweise der Bevölkerung im Grenzbereich zur Aufklärung von Straftaten noch stärker als bisher in die Arbeit von BGS, Polizei und Zoll einbezogen werden. Das System des Einsatzes von Bürgerkontaktbeamten hat sich als richtig erwiesen, aber es reicht nicht aus. Wenn in mehreren Landkreisen nur ein Bürgerkontaktbeamter für die Präventionsarbeit in Schulen, bei Einwohnerversammlungen usw. tätig ist, so ist dies einfach zu wenig. Sechstens. Ich sehe es als besonders wichtig an, den aus der Grenzregion stammenden BGS-Kräften die Möglichkeit zu eröffnen, nach der Ausbildung auch in ihrer Heimat zum Einsatz zu kommen. Ihre Ortskenntnis sollten wir unbedingt nutzen. Die gegenwärtige Regelung, dass junge BGS-Beamte nach der Ausbildung erst drei Jahre bei einer Bundesgrenzschutzabteilung Dienst machen müssen, bevor sie in Einzeldienststellen kommen, müsste meiner Meinung nach überdacht werden. Zumindest müsste es möglich sein, Einzelfallregelungen zu treffen. Ich bitte die Mitglieder der Regierungskoalition, unsere Vorschläge aufzugreifen und mit uns gemeinsam - ohne Parteienpolemik - zu diskutieren, sodass wir gemeinsam dringend notwendige Veränderungen angehen können. Unsere Mitbürger in den deutsch-tschechischen Grenzgebieten und die dort tätigen Angehörigen von Bundesgrenzschutz, Zoll und Polizei erwarten, dass wir, die Politiker, unverzüglich handeln. Lassen Sie uns dies gemeinsam tun. Danke. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Günter Graf.

Günter Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000719, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema, das uns hier heute beschäftigt, ist nicht neu. Ich will in aller Deutlichkeit darauf hinweisen, dass auch die Vorgängerregierung Anstrengungen unternommen hat, um die Sicherheit im Grenzbereich in Gänze zu verbessern, und dass sie in diesen Fragen stets die Unterstützung der damaligen Opposition genossen hat. Ich will auch von Anfang an sehr deutlich sagen, dass die jetzige Bundesregierung mit dem Bundesinnenminister Otto Schily dieses Bemühen in den letzten zwei Jahren in erheblichem Maße verstärkt hat. All das, was jetzt zwischen dem sächsischen Freistaat und der tschechischen Regierung geschieht, geschieht in bestem Einvernehmen. ({0}) Es ist gut, dass man sich in Fragen der Sicherheit auf Gemeinsamkeiten verständigt und diese Gemeinsamkeiten weiter pflegt. Es geht nicht um uns als Abgeordnete, es geht nicht um die Parteien. Es geht um die Menschen, die im Grenzraum leben. Es geht aber auch um die Menschen, die in skrupelloser Weise von Schleppern und dergleichen in unser Land gebracht werden und die dann hier mit ihren Problemen zu kämpfen haben. ({1}) Wir alle wissen mittlerweile, dass das Geschäft der Schleusung von Menschen in die Bundesrepublik Deutschland über die Außengrenzen zu einem lukrativen Geschäft im Bereich der organisierten Kriminalität geworden ist. Man kann heute davon ausgehen, dass die Einnahmen, die durch diesen Menschenhandel - so kann man das wohl bezeichnen - zustande kommen, die Einnahmen aus dem Bereich der Drogenkriminalität übersteigen. Wir alle wissen, um welche Zahlen es sich dabei handelt. Insofern ist es notwendig, das Bemühen ständig zu verstärken, illegale Einreise zu verhindern. Aber eines will ich vorweg auch ganz deutlich sagen: Wir können mit noch so viel Material und technischer Ausrüstung und mit noch so vielen Beamten niemals absolut verhindern, dass illegale Einreisen erfolgen. Das ist genau wie mit der Kriminalität. Man kann sehr vordergründig sagen: Wir müssen mehr tun, dann gibt es keine Kriminalität mehr. - Kriminalität hat es stets gegeben; es gibt sie heute und es wird sie trotz allen Bemühens auch weiterhin geben. Aufgabe der Politik muss sein - da sind wir auf einem sehr guten Wege - den Abstand zwischen Rechtsbrechern und den staatlichen Verfolgungsorganen so gering wie möglich zu halten und alles zu tun, unseren Behörden die notwendige Unterstützung zu gewähren. ({2}) Ich denke, in dieser Frage gibt es einen Konsens. Ich möchte mich im Folgenden auf das beziehen, was der Kollege Baumann eben ausgeführt hat. Es ist gut, dass Sie die Gemeinsamkeiten betont haben. Wir werden in den Ausschussberatungen sehr differenziert über die einzelnen Punkte sprechen. Wir werden dann allerdings auch sehr schnell erfahren, dass wir in Bezug auf das, was Sie im Einzelnen in Ihrem Antrag fordern, gerade in den letzten zwei Jahren, vor allem in diesem Jahr, ein gutes Stück vorangekommen sind, vielleicht schneller, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Wenn wir über illegale Einreise reden, müssen wir aber eines bedenken: Wir haben zu Ihrer Regierungszeit erlebt, dass wir einen massiven Druck illegaler Einwanderung über die deutsch-polnische Grenze hatten. Die Reaktion des damaligen Innenministers war - wir haben sie mitgetragen, weil wir die Notwendigkeit anerkannt haben -, den Personalbestand und die technische Ausstattung im Bereich der deutsch-polnischen Grenze zu verbessern. Dieses Vorgehen war erfolgreich; denn wir haben in der Folge festgestellt, dass die illegale Einwanderung über die deutsch-polnische Grenze massiv zurückging. Wir konnten aber auch feststellen, dass in dem Maße, in dem dort ein Rückgang zu verzeichnen war, eine verstärkte illegale Einwanderung über die deutsch-tschechische Grenze stattfand. Der Innenminister, Otto Schily, hat angesichts dieser Situation gleichermaßen reagiert - Gott sei Dank haben wir ihn alle darin unterstützt -, sodass die technische und personelle Ausstattung verbessert werden konnte. Herr Kollege Baumann, Sie haben die Fahrzeuge angesprochen. Ich will in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass ich mit den Kollegen Wiefelspütz und Kemper und mit der Kollegin Barbara Wittig beim Grenzschutzamt in Pirna war. Wir haben nachts an einer Grenzkontrollstreife teilgenommen. Am nächsten Tag haben wir Gespräche mit den Verantwortlichen vor Ort und auch mit den Beamten geführt. Ich war überrascht, dass es einen Fahrzeugpark mit geländegängigen Mercedes-Fahrzeugen gibt. Wir können davon ausgehen, dass auf zwei BGS-Beamte ungefähr ein Kraftfahrzeug kommt. ({3}) Am Rande sei erwähnt: Die Verhältnisse in Bayern sind derart - ich will gar nicht in Abrede stellen, dass dort der Einwanderungsdruck geringer geworden ist -, dass dort auf sieben Beamtinnen und Beamte ein Fahrzeug kommt. Ich will mit diesem Vergleich deutlich machen, welche Bemühungen die Bundesregierung unternommen hat. Auch bei der personellen Aufstockung des BGS Ost sind wir ein gutes Stück vorangekommen. Wir haben eine bis dahin noch nicht gekannte Größenordnung erreicht. Aber bei all unseren Bemühungen sollten wir eines nicht übersehen: Wenn wir erreichen wollen, dass es überhaupt keine illegale Einreise mehr gibt, dann müssten wir in Europa ein Bollwerk errichten, das angesichts der EUOsterweiterung keiner will. Wir sollten die Anrainerstaaten vielmehr ermutigen, ein bisschen mehr auf diesem Gebiet zu tun. Wir können angesichts des Verhältnisses zu unseren polnischen Nachbarn feststellen, dass die Kooperation zwischen dem Bundesgrenzschutz und den Grenzschützern auf polnischer Seite hervorragend funktioniert. Es gibt gemeinsame Streifengänge mit den polnischen Grenzschützern, auch auf polnischem Staatsgebiet. Leider muss man sagen, dass wir in der Zusammenarbeit mit der tschechischen Seite noch nicht so weit sind. Die Ursachen hierfür liegen in Tschechien. Ich will nicht verschweigen, dass wir im Hinblick auf das Verhältnis Tschechiens zur Slowakei sensibel sein müssen. Wir dürfen nicht vergessen, dass diese beiden Staaten vor nicht allzu langer Zeit ein Land waren und es daher natürlich besondere Verbindungen zwischen diesen beiden Ländern gibt. Wir müssen daher Verständnis dafür aufbringen, dass sich die Zusammenarbeit mit Tschechien noch nicht so positiv gestaltet. Wir streben das Ziel einer Kooperation aber an. Die entsprechenden Abkommen sind von Ihnen, Herr Kollege Baumann, schon erwähnt worden. Wir sind auf einem guten Wege, dieses zu forcieren. Es gibt ein großes Stück an Gemeinsamkeit. Was die technische Ausstattung angeht, kann ich feststellen - ich bin in den letzten Jahren regelmäßig in dieser Region gewesen -, dass sich eine Menge getan hat. Man kann immer sagen: Wir brauchen noch mehr Gerätschaft. Ich nenne als Beispiel das Wärmesichtgerät. Dazu muss man aber wissen, dass dieses Gerät nur begrenzt einsetzbar ist. Wenn man entsprechende Geländeformationen hat, Berge und Täler mit dichtem Waldbewuchs, dann hilft dieses Gerät herzlich wenig. Auch das ist bekannt: Jedes eingesetzte Gerät bindet zusätzliche Kräfte. Dass dann, wenn eine Schleusung festgestellt wird und dadurch Kräfte gebunden werden, weil sämtliche formalen Abwicklungen, zum Beispiel Überprüfungen, Vernehmungen und dergleichen, durchzuführen sind, die Grenze in einem bestimmten Abschnitt ungesichert ist - auf dieses Problem haben Sie bereits hingewiesen -, ist nicht von der Hand zu weisen. Die gleiche Situation werden Sie aber haben, wenn Sie noch mehr Personal an der Grenze einsetzen. Wenn die erste Gruppe beschäftigt ist, dann ist die zweite für den nächsten Aufgriff zuständig und die dritte Gruppe steht alleine da. Das ist übrigens ein Problem, das auch die Polizei hat. Es kann sein, dass in einer Dienststelle der Anruf kommt, dass ein Verkehrsunfall geschehen ist, und dass zwei Minuten später ein Anruf wegen eines weiteren Verkehrsunfalles eingeht. Irgendwann ist die Kapazität des Personals erschöpft; denn Sie können nicht einen für alle Eventualitäten erforderlichen Personalpool vorhalten. Das haben Sie wahrscheinlich so nicht gemeint, als Sie das angesprochen haben; aber ich wollte einfach einmal diese Problematik aufzeigen. Auch in diesem Bereich hat sich eine Menge bewegt. Sie selbst haben entsprechende Zahlen genannt. Wir haben zwischenzeitlich im Bereich des Grenzschutzpräsidiums Ost 8 000 Beamte eingesetzt. Diese Entwicklung ist in Ordnung. Weil die Menschen in der Grenzregion in besonderer Weise persönlich von kriminellen Handlungen betroffen sind, hat es eine Vielzahl an Maßnahmen gegeben, die dazu geführt haben, dass sich die dortige Situation beruhigt hat. Ich kann mich noch gut an einen zusammen mit dem Kollegen Kemper vor vier, fünf Jahren gemachten Besuch bei den Einwohnern von Seifhennersdorf erinnern. Diese sind uns fast mit geballter Faust entgegengetreten. Denn just an dem Tage, an dem wir dort eine Familie besuchten, war innerhalb von wenigen Monaten der siebte Einbruch durchgeführt worden. Wie angesichts dessen die Stimmungslage bei den dort lebenden Menschen war, ist nachvollziehbar. Auch dies hat dazu geführt, dass man etwas getan hat, und zwar zum einen, was die Verstärkung im personellen und technischen Bereich generell angeht, und zum anderen dadurch, dass Kontaktstellen eingerichtet wurden, um den Bürgerinnen und Bürgern Ansprechstellen anzubieten. Diese Unternehmungen werden fortgesetzt. Wir haben ein Bürgertelefon und zwischenzeitlich eine Hotline eingerichtet, um den dort lebenden Menschen jederzeit einen Ansprechpartner zur Verfügung zu stellen. Vieles von dem, was ich hier ausgeführt habe, trifft natürlich auch für die Zollverwaltung und die sächsische Landespolizei zu, wobei ich bemerken muss, dass die Kooperation gerade im sächsischen Bereich sehr gut ist. An dieser Stelle möchte ich einmal mit einer Mär Schluss machen: In letzter Zeit hört man verstärkt, dass die Zollverwaltung abgebaut wird. Ich will in aller Deutlichkeit sagen: Das ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht der Fall. Die vom Zoll zu erarbeitende Konzeption dahin gehend, wie er sich entwickeln wird, wird in enger Abstimmung mit dem zuständigen Ministerium erfolgen, sodass keine Sicherheitsdefizite auftreten werden. In diesem Bereich passiert also im Moment gar nichts. Wer Ihnen etwas anderes erzählt, sagt Ihnen bewusst die Unwahrheit. Ich möchte mich beim Bundesinnenministerium ausdrücklich dafür bedanken, dass es trotz der Enge der Finanzen, die wir alle seit Jahren kennen, in diesem Jahr wieder gelungen ist, auch im Haushalt 2001 - das werden wir im Laufe der Haushaltsberatungen noch sehen - in massiver Weise Stellenhebungen durchzuführen. Wir werden das weiterführen. ({4}) Günter Graf ({5}) Fairerweise will ich auf Folgendes hinweisen - denn es soll kein falscher Eindruck entstehen -: Auch die alte Regierung hat damals mit diesen Stellenhebungen begonnen. Ich finde es gut, dass in diesen Fragen - zumindest weitgehend - Übereinstimmung besteht. Man sollte allerdings nicht aus parteipolitischem Kalkül heraus versuchen, Punkte zu sammeln, die im Grunde genommen den eigentlichen Interessen der Betroffenen zuwiderlaufen. ({6}) Mit Blick auf meine Redezeit möchte ich zum Schluss kommen. Aber eines möchte ich nicht versäumen festzustellen - Herr Kollege Baumann hat das deutlich betont Ich möchte mich im Namen meiner Fraktion ganz herzlich bei den Beschäftigten des Bundesgrenzschutzes, aber auch der Zollverwaltung und der Polizei bedanken. ({7}) Ich habe in der Vergangenheit - früher in Bonn und seit einem Jahr hier in Berlin - von dieser Stelle aus häufig gesagt: Viele, denen wir gedankt haben, könnten sich mit den Protokollseiten, auf denen diese Dankesworte stehen, ihre Räume tapezieren. Wenn man Dank sagt, dann muss auch etwas folgen. Deswegen habe ich in besonderer Weise auf das Stellenhebungsprogramm hingewiesen. Ich kann Ihnen versichern, dass wir in unserem Bemühen nicht nachlassen werden, die Situation der Bundesgrenzschutzbeamten und -beamtinnen zu verbessern. ({8}) Ich habe nach Ihrer heutigen Rede, Herr Baumann, das Gefühl, dass wir gemeinsam auf einem guten Wege sind. Ich habe die Hoffnung, dass wir das Ganze bei den Beratungen im Innenausschuss gemeinsam bewerkstelligen. Wenn sich diese Zusammenarbeit so fortsetzt, dann bin ich guter Hoffnung. Den Menschen in der Grenzregion können wir dadurch deutlich machen, dass wir ihre Interessen erkennen und auch in entsprechender Weise wahrnehmen. Vielen Dank. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Jörg van Essen, F.D.P.-Fraktion.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich finde es gut, dass in dieser Debatte - der Kollege Graf hat in seiner Rede darauf hingewiesen - Gemeinsamkeit deutlich wird. Gerade in Fragen der inneren Sicherheit tut es gut, wenn es einen Wettstreit um die besten Ideen gibt. Wenn die eine oder andere Vorlage eingebracht wird, dann enthält sie nicht immer nur Kritik, sondern auch die Aufforderung, darüber nachzudenken, ob die dort gemachten Vorschläge nicht möglicherweise zu einer Verbesserung der inneren Sicherheit und damit der Sicherheit unserer Bürger führen. Das gilt auch für die Situation an den Außengrenzen, insbesondere den Ostgrenzen unseres Landes. Ich habe nicht die Erfahrungen, die Sie an den Grenzen zur Tschechischen Republik gemacht haben. Meine persönlichen Erfahrungen beziehen sich auf die Grenze zwischen der Bundesrepublik und Polen. Dort haben wir viele ähnliche Probleme wie an der Grenze zur Tschechischen Republik, zum Beispiel eine hohe Schleuserkriminalität. Herr Kollege Graf, es ist richtig, wenn Sie sagen, dass diese Art von Kriminalität Menschen in besonderer Weise ausbeutet. Menschen, die arm sind, müssen in aller Regel hohe Beträge bezahlen, um geschleust zu werden. Diese Beträge werden von Verwandten besorgt. Ganze Familien legen Geld zusammen. Wenn man sieht, wie menschenunwürdig diese Personen behandelt werden, dann werden wir einsehen: Es muss das ein Schwerpunkt unserer Anstrengungen sein, zu einer Eindämmung der Schleuserkriminalität zu kommen. ({0}) Umso mehr ärgere ich mich darüber - ich weiß, dass das nicht die offizielle Meinung der Partei ist -, dass zum Beispiel eine grüne Kollegin aus Deutschland im Europaparlament sogar eine finanzielle Subventionierung dieser Banden fordert. ({1}) Das ist genau der falsche Weg. Es ist Gott sei Dank nicht die offizielle Auffassung der Partei. Ich bin auch sicher, dass das nie geschehen wird. Dafür wird der Kollege Cem Özdemir schon sorgen. ({2}) Es sind Dinge auch kritisch anzusprechen. Darauf möchte ich das Hauptaugenmerk meiner Überlegungen richten. Das bezieht sich insbesondere auf die Situation der Beamten des Bundesgrenzschutzes. Sie haben angedeutet, dass bei der Besoldung, der Dienstgestaltung und der Beförderungssituation über Verbesserungen nachgedacht wird. ({3}) - Richtig. Auch als wir noch an der Regierung waren, haben wir erste Schritte in diese Richtung eingeleitet. Trotzdem müssen wir weiterkommen. Ich beobachte mit Sorge, dass es beim Bundesgrenzschutz eine Tendenz hin zu den Weststandorten gibt. Wir alle kennen die Gründe, zum Beispiel die Besoldung. Deshalb möchte ich ansprechen, was immer wieder genannt wird, wenn man über die Bundeswehr redet: Die ungleiche Besoldung in Ost und West in diesem Bereich führt dazu, dass der schwere Dienst an dieser Grenze, der in aller Regel sehr viel schwieriger ist als an anderen Grenzen, manchmal noch schlechter bezahlt wird. Dies muss unsere Hauptanstrengung sein: Wir müssen zu einer gleichen Besoldung in West und in Ost kommen. Gleichzeitig muss der Tendenz in Richtung Weststandorte entgegengewirkt werden, die zum Teil - das überrascht einen besonders - an der früheren innerdeutschen Grenze liegen. Man fragt sich, was da der Grund ist. Ich weiß, dass Günter Graf ({4}) es auch dort Reformen gegeben hat, dass ein Abbau vorgenommen wurde. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege van Essen, da Sie gerade eine Pause machen: Lassen Sie eine Frage des Kollegen Graf zu?

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja.

Günter Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000719, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege van Essen, Sie wissen: Die Reformen haben wir damals gemeinsam gemacht. In Teilbereichen haben wir uns damals kritisch dazu geäußert, indem wir gesagt haben, man hätte flexibler, mit mobilen Komponenten - auch vor dem Hintergrund der beabsichtigten EU-Osterweiterung - arbeiten müssen. Was die Standorte an der ehemaligen innerdeutschen Grenze, insbesondere Duderstadt, angeht: Das war ein politisches Entgegenkommen zur damaligen Zeit. Dass wir uns im Stadium der Abwicklung befinden, dürfte auch Ihnen bekannt sein. Ist das so?

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Richtig. Ich weiß, dass wir dort in die richtige Richtung gehen. Ich weiß aber auch, dass es Druck von Kollegen aus Ihrer Fraktion, die hohe Funktionen haben, dahin gehend gegeben hat und noch gibt, dass der eine oder andere Standort, der sich in der Mitte Deutschlands befindet, erhalten bleibt. Das festzuhalten gehört auch zur Wahrheit. Die letzte Überlegung, die ich in diese Debatte noch einbringen wollte, ist: Angesichts der Erweiterung der Europäischen Union müssen wir natürlich dafür sorgen, dass die Standorte des Bundesgrenzschutzes zukunftsfest sind. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt der Kollege Cem Özdemir für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Cem Özdemir (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002746, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Antrag der Union suggeriert, dass der Bundesgrenzschutz an der Grenze zu unserem mitteleuropäischen Nachbarn Tschechien in einem völlig desolaten Zustand ist und dass die Beamten dort von raubenden Horden aus Zentralasien geradezu überrannt werden. ({0}) - Dieser Eindruck entsteht, wenn man Ihren Antrag liest. Notwendig ist eine nüchterne Betrachtung der Probleme. Dabei muss man die Sorgen der Menschen im grenznahen Gebiet - darauf wurde in der Debatte zu Recht hingewiesen - ernst nehmen. Dort gibt es tatsächlich Probleme, die absolut nicht hinnehmbar sind und die für die Menschen dramatische Belastungen darstellen. Ich vertraue den Regierungen sowohl in Prag als auch in Berlin, dass sie gemeinsam mit den Beamten vor Ort alles tun werden, um diese zum Teil unhaltbaren Zustände zu ändern. Der Kollege von der SPD hat bereits darauf hingewiesen, dass die personelle und technische Ausstattung des Bundesgrenzschutzes und des Zolls fortlaufend verbessert wird. Dies wird ja auch von allen Fraktionen im Bundestag unterstützt. Es geht nicht nur um eine nüchterne Betrachtung der Situation an der Grenze selbst und im Grenzumland, sondern wir müssen uns auch mit den Ursachen für illegale Grenzübertritte beschäftigen. Ferner muss man das Verhältnis zwischen Deutschland und Tschechien sowie zwischen Tschechien und der Europäischen Union betrachten; auch diese Dimension muss einbezogen werden. Wenn Menschen den gefährlichen und, wenn sie sich Schlepperbanden anvertrauen, auch teuren Weg der illegalen Einreise nach Deutschland wählen, dann hat dies viele Ursachen. Weil Herr Kollege van Essen die Abgeordnete aus dem Europäischen Parlament zitiert hat, die sich in für meine Begriffe sehr falscher und unverantwortlicher Weise geäußert hat, möchte ich bei dieser Gelegenheit auf Folgendes hinweisen: Dies ist nicht nur nicht die Position der Bundestagsfraktion und der Bundespartei der Grünen, sondern es ist auch nicht die Position der Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament. Die Fraktionsvorsitzende im Europäischen Parlament hat sich davon klar distanziert. Bei diesen Schleppern handelt es sich um Seelenverkäufer, die den Tod von Menschen billigend in Kauf nehmen. ({1}) Das hat nichts Romantisches an sich; das muss man in aller Klarheit sagen. ({2}) Wir werden diese Ursachen auch nicht ohne weiteres beseitigen können. Ein Problem - das füge ich für meine Fraktion ausdrücklich hinzu, auch wenn ich hier keine einfache Lösung anbieten kann - liegt natürlich darin, dass wir mit der Änderung von Art. 16 des Grundgesetzes, die hier 1993 beschlossen wurde, den Zugang auf dem Landwege faktisch ausgeschlossen haben. ({3}) Man könnte böse formulieren, dass das eine Art Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Schlepperbanden sei. ({4}) - Sie haben ja darauf hingewiesen. Dieser Hinweis legt uns dringend nahe, dass wir uns mit dem Gesamtkomplex der Zuwanderung beschäftigen. Deshalb freut es mich, dass in den letzten Tagen die Diskussion über die Fraktionsgrenzen hinweg in die Richtung gelaufen ist, wie wir die Zuwanderung steuern können. Wir müssen verhindern, dass Menschen ihr Leben aufs Spiel setzen und etwa beim Überqueren der Elbe lebensgefährliche Umstände in Kauf nehmen, um die Bundesrepublik Deutschland zu erreichen. Niemand - weder die Menschen im grenznahen Gebiet noch wir, die wir hier sitzen - kann ruhig schlafen, wenn er sieht, dass Menschen ihr Leben bei dem Versuch verlieren, die Grenze zu überschreiten. Man muss diese Debatte auch dazu nutzen, dass wir im Verhältnis zu unserem Nachbarn Tschechien zu einer ähnlichen Beziehung kommen, wie wir sie gegenwärtig zu Polen haben. Wir haben hier sehr großen Nachholbedarf. Natürlich - das wurde bereits gesagt - ist die Motivation zur Zusammenarbeit auch in Tschechien nicht immer so gewesen, wie man es sich wünscht. Das hat aber auch Ursachen, die ich in dieser Debatte nicht verschweigen möchte. Hier wurden in der Vergangenheit Fehler gemacht, wenn ich daran denke, wie Tschechien von uns behandelt wurde und wie die Vorgängerregierung falsche Akzente im Umgang mit Tschechien gesetzt hat. ({5}) - Ich erinnere daran, dass der Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union von Ihnen mit unzulässigen Fragen verknüpft wurde. ({6}) Die neue Bundesregierung hat in dieser Frage ein klares Signal gesetzt. Tschechien kann sich auf uns, auf die Bundesrepublik Deutschland, verlassen. Wir sehen uns als Anwalt Tschechiens in der Frage der Annäherung an die Europäische Union und in der Frage der Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Wenn Tschechien eines Tages - hoffentlich in sehr naher Zukunft - Mitglied der Europäischen Union ist und die Grenze eine innereuropäische ist, wird sich die Frage sicherlich auf eine andere Weise stellen. Ich denke, dass wir gegenüber unseren Freunden in Tschechien, gerade angesichts der Vergangenheit der Bundesrepublik Deutschland in diesem Zusammenhang - ich darf an 1938 erinnern, ich darf aber auch daran erinnern, dass die DDR beteiligt war, als 1968 schlimme Dinge dort geschehen sind -, eine besondere Verantwortung haben. Deshalb empfehle ich einen sehr sensiblen Umgang mit diesem Thema. Ich möchte die Gelegenheit dieser Debatte auch nutzen, um einer Kollegin, der Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Antje Vollmer, zu danken, die in der Vergangenheit - ich glaube, von allen Fraktionen anerkannt - sehr viel für das deutsch-tschechische Verhältnis getan und so dazu beigetragen hat, dass wir an dem Punkt angelangt sind, an dem wir heute stehen. Wenn wir etwas tun wollen, auch um das Verhältnis zueinander im grenznahen Gebiet zu verbessern, dann sollten wir uns für eine Politik der guten Nachbarschaft, des intensiven Jugendund Kulturaustausches und der Integration Tschechiens in die Europäische Union einsetzen. Dies wird den Menschen im grenznahen Gebiet zugute kommen. Ich bin mir sicher, dass die Regierungen auf Landesebene, die Kommunen vor Ort, die Bundesregierung und die Prager Regierung gemeinsam dafür sorgen werden, dass die Probleme so schnell wie möglich einer Lösung zugeführt werden. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Bundesminister des Innern, Otto Schily.

Otto Schily (Minister:in)

Politiker ID: 11001970

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Zunächst darf ich mich bei den Fraktionen dafür bedanken, dass sie mir außerhalb der vereinbarten Redezeit die Möglichkeit zu einigen Bemerkungen geben. Es freut mich, dass heute Beamtinnen und Beamte des BGS unter uns sind. Ich halte es auch von meiner Seite aus für geboten, ihnen für ihre hervorragende Arbeit ausdrücklichen Dank auszusprechen. ({0}) Herr Kollege Baumann, Sie haben selber erwähnt, dass Herr Staatssekretär Körper in Ihrer Arbeitsgruppe war. Sie können darin ein Zeichen erkennen, dass wir mit Ihnen gern in einen Dialog eintreten, was die Verbesserungsmöglichkeiten angeht. Was gut ist, ist immer noch verbesserungsfähig; das bestreitet niemand. Wenn es dazu von Ihrer Seite konstruktive Anregungen gibt, werden wir diese vorurteilsfrei prüfen. Dann werden wir sehen, ob sich an der einen oder anderen Stelle Möglichkeiten anbieten. Da bin ich völlig offen. Ich will allerdings keine Versprechungen machen, die ich nicht einhalten kann. Sie wissen, wir haben einen Haushalt, der unter Konsolidierungszwang steht. Ich bin sehr stolz darauf, Herr Kollege Baumann, dass ich trotz der Sparvorgabe, die ich mit meinem Haushalt zu erfüllen habe, der zu 60 Prozent der inneren Sicherheit dient und zu 56 Prozent aus Personalkosten besteht, die Mittel für den BGS im nächsten Jahr nicht absenken, sondern erhöhen werde. Das ist ein großer Erfolg. ({1}) Nur, damit wir uns richtig verstehen: Hier ist über die Stellenhebungen gesprochen worden. Ich habe den Umfang des Stellenhebungsprogramms im vergangenen Jahr verdoppelt. Ich erkenne an, dass auch die alte Regierung etwas getan hat; das muss man fairerweise anerkennen. Aber wir haben die Zahl der Stellenhebungen verdoppelt, und wir werden sie weiter erhöhen, weil die Stellenstruktur im Bundesgrenzschutz im Vergleich zu den Länderpolizeien nicht in Ordnung ist. Auch das muss man anerkennen. ({2}) Mir ist bewusst, dass es an der deutsch-tschechischen Grenze noch Verhältnisse gibt, die uns nicht frohlocken lassen. Da haben Sie Recht, Herr Baumann; das haben auch Herr Graf und andere gesagt. Wir haben die notwendigen Kooperationsformen dafür schon geschaffen. Wir haben mit Tschechien eine Vereinbarung. Ich habe mit dem Land Sachsen - da bedanke ich mich bei dem Kollegen Hardraht, mit dem ich hervorragend zusammenarbeite; ich glaube aber, dass ebenso von Sachsen das Verhältnis als sehr positiv beschrieben wird - eine Vereinbarung hinsichtlich der Zusammenarbeit zwischen dem BGS und der Polizei dieses Landes geschlossen. Aber man muss die Kirche im Dorf lassen. Ich kann nicht zu Herrn Eichel gehen, um noch ein paar Millionen abzuholen, denn die werde ich nicht bekommen. Ich bin schon froh über das, was ich bekomme. Wir müssen die Realitäten erkennen. Ich sage mit aller Vorsicht: Dort, wo Migrationsdruck ankommt, kann man ihn - da hat der Kollege Graf Recht - nur begrenzt abfedern. Letztlich ist es eine vernünftige Politik, bei dem Migrationsdruck dort anzusetzen, wo er entsteht. Ich will jetzt nicht Details schildern; da geht es auch um die Grenze zur Slowakei und es geht um vieles an der deutsch-tschechischen Grenze. Eine letzte Bemerkung gestatten Sie mir, lieber Kollege Cem Özdemir. Ich schätze Sie, wie Sie wissen. Aber über den Zusammenhang, den Sie zwischen Asylkompromiss und Migration hergestellt haben, sollten Sie noch einmal eine Nacht schlafen. ({3}) Ich glaube, Sie können nicht sagen, dass es infolge einer Zugangsregelung - wir werden immer Zuzugsbegrenzungen haben -, Schleuser gibt. Natürlich gibt es einen ursächlichen Zusammenhang. Das macht die Schleuserkriminalität nicht besser. Da ich jedoch von Ihnen auch weiß, dass Sie nicht eine unbegrenzte Zuwanderung wollen und auch nicht wollen, dass Leute das Asylrecht als Zuwanderungsmöglichkeit nutzen, müssen Sie diesen Zusammenhang noch einmal genauer prüfen. Ich biete Ihnen auch dazu ein Gespräch an, damit wir die Dinge richtig einordnen. Jedenfalls freue ich mich darüber, dass es auf allen Seiten des Hauses das Bestreben gibt, die Verhältnisse dort zu verbessern. Ich glaube, das ist eine gute Grundlage für weitere Zusammenarbeit. Vielen Dank. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3672 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 16 auf: - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Eigenheimzulagengesetzes und anderer Gesetze - Drucksache 14/4130 ({0}) - Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Dietmar Kansy, Dirk Fischer ({1}), Eduard Oswald, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Eigenheimzulagengesetzes - Drucksache 14/4131 ({2}) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({3}) - Drucksache 14/4422 - Berichterstattung: Abgeordnete Horst Schild Elke Wülfing Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kollegin- nen und Kollegen Horst Schild, Wolfgang Spanier, Dr. Michael Meister, Franziska Eichstädt-Bohlig, Hans- Michael Goldmann sowie Christine Ostrowski haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) ({4}) Ich sehe keinen Widerspruch im Saal. Deshalb kommen wir sofort zu den Abstimmungen, und zwar zunächst über den von den Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzent- wurf zur Änderung des Eigenheimzulagengesetzes und anderer Gesetze, Drucksachen 14/4130 und 14/4422 Buchstabe a). Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Ent- haltung der PDS-Fraktion angenommen. Wir kommen zur dritten Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Ent- haltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetz- entwurf der Fraktion der CDU/CSU zur Änderung des Ei- genheimzulagengesetzes auf Drucksache 14/4131. Der 1) Anlage 7 Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4422 unter Buchstabe b, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. ({5}) - Ich habe hier keine Zustimmung aus der SPD-Fraktion gesehen. - Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesdatenschutzgesetzes und anderer Gesetze - Drucksache 14/4329 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({6}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Kultur und Medien Es ist interfraktionell vereinbart worden, die Rede- beiträge zu Protokoll zu geben, und zwar von den Kolle- ginnen und Kollegen Gisela Schröter, Beatrix Philipp, Cem Özdemir, Jörg van Essen, Petra Pau sowie vom Parlamentarischen Staatssekretär Fritz Rudolf Körper. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- wurfs auf Drucksache 14/4329 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Auch das ist der Fall. Dann ist die Über- weisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 d sowie Zusatzpunkt 17 auf: 22.a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine Ostrowski, Heidemarie Ehlert, Gerhard Jüttemann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Herabsetzung der Grundsteuer bei strukturellem Mietwohnungsleerstand - Drucksache 14/4010 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({7}) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine Ostrowski, Gerhard Jüttemann, Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Sofortmaßnahmen zur Sicherung der Existenz von Wohnungsgenossenschaften aus Treuhandliegenschaftsbeständen in den neuen Bundesländern - Drucksache 14/4011 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({8}) Finanzausschuss Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Haushaltsausschuss c) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS UMTS-Milliarden für Entlastung von Altschulden auf dauerhaft leer stehenden Wohnraum - Drucksache 14/4350 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({9}) Haushaltsausschuss d) Erste Beratung des von der Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Eigenheimzulagengesetzes - Drucksache 14/4351 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({10}) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Haushaltsausschuss ZP 17 Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine Ostrowski, Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Vorlage einer Verordnung zur Umsetzung des § 6 a des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes - Drucksache 14/4399 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({11}) Finanzausschuss Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Christine Ostrowski für die PDS-Fraktion. - Ist es möglich, die Gespräche an der Regierungsbank zu beenden? Das wäre sehr nett.

Christine Ostrowski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001662, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Das wäre sehr nett. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Drittel der noch im Osten Beschäftigten sind in der Wohnungs- und Bauwirtschaft tätig. Auch das ist ein Grund dafür, warum wir den Wohnungsleerstand Ost heute zum wiederholten Male thematisieren - vielleicht zu Ihrer Unlust; denn es ist Freitag und bereits nach 13 Uhr. Ich freue mich selbstverständlich wie Sie über sanierte Gebäude, die unseren Städten wieder ein Gesicht geben. Ich freue mich wie Sie über sanierte Wohnungen in Plattenbauten, in denen zu vergleichsweise niedrigen, bezahlbaren Mieten große Teile der Bevölkerung wohnen. Ich sage es ganz deutlich: Die DDR hätte es nicht geschafft, diese Wohnsubstanz zu erhalten. Der Abstand des Ostens zum Westen misst sich aber nicht an der Zahl der sanierten Gebäude, an MultiplexVizepräsidentin Petra Bläss kinos, an Einkaufszentren, an der Infrastruktur. Er misst sich nicht in zehntel Prozenten; er beträgt ein Vielfaches davon. Wenn Sie die Lage genau beobachten, dann werden Sie merken, dass überall im Osten - ob der Ministerpräsident nun Biedenkopf oder Stolpe heißt - die Arbeitslosigkeit im Mittel doppelt so hoch ist wie im Westen, dass die Kaufkraft deutlich niedriger ist, dass die Einkommen niedriger sind und dass es nirgendwo einen selbsttragenden Wirtschaftsaufschwung gibt. Weil das so ist, sind in den letzten zehn Jahren über 2 Millionen Menschen abgewandert. Im Saldo hat der Osten einen Bevölkerungsverlust von über 1 Million Menschen hingenommen. Dazu kommen in den nächsten Jahren verstärkt eine Alterung und auch ein Wegsterben der Bevölkerung. Ich sage es Ihnen aus eigener Erfahrung: Ignorieren Sie diese Tatsachen nicht! Wir haben auch keine Generallösung. Aber wir legen Ihnen heute fünf sachliche Anträge vor in der ungetrübten Hoffnung, dass Sie diese sachlich prüfen werden. Sie sind zwar keine Generallösung, würden aber einer Generallösung auch nicht widersprechen. Man kann ihnen guten Gewissens folgen. Der erste Antrag beschäftigt sich mit der Streichung der Altschulden auf leer stehende und negativ restituierte Wohnungen. Dafür möchten wir 3 Milliarden DM aus den Erlösen der Versteigerung der UMTS-Lizenzen einsetzen. Nun werden Sie sagen: 3 Milliarden DM sind aber furchtbar viel Geld. - Für sich genommen, ist das richtig. Aber erstens sind 3 Milliarden DM nur 3 Prozent dieser unverhofften Erlöse. Zweitens ist gestern nahezu die gleiche Summe - zu Recht, damit sind wir einverstanden - für den Bau von Ortsumgehungsstraßen vorgesehen worden. Eigentlich ist es doch nur recht und billig, die Summe, die man Orten gibt, die vom Autoverkehr gebeutelt sind, auch für die Zukunft ostdeutscher Städte auszugeben. ({0}) Hinzu kommt, dass der Erblastentilgungsfonds 1,3 Milliarden DM an unverhofften Einnahmen durch die negativ restituierten Wohnungen erzielt hat; darüber wird mittlerweile geschwiegen. Es wäre doch das Mindeste, diese Einnahmen dort einzusetzen, wo sie gebraucht werden, nämlich für die ostdeutsche Wohnungswirtschaft. ({1}) Zweitens schlagen wir Ihnen vor, den Eintritt in bestehende Genossenschaften zukünftig über eine Genossenschaftszulage zu fördern. Dies bezieht sich vor allem auf Menschen, die weniger zahlungskräftig sind. Eine solche Förderung ist eine Zukunftsinvestition für Ost wie für West. Zudem ist sie ökologisch, da sie das Bleiben der Menschen in den Stadtinnenkernen fördert und dem Erhalt des Wohnungsbestandes zugute kommt. Drittens wollen wir den Wohnungsgenossenschaften, die sich im Osten aus den ehemaligen Werkswohnungsbeständen gegründet haben, aber inzwischen zu Sorgenkindern geworden sind und nahe am Konkurs sind, finanzielle Hilfe zuteil werden lassen, um ihre Existenz auch weiterhin zu sichern. Gerade für diese Genossenschaften sollte der Bund Verantwortung übernehmen, weil sie sich in absolut strukturschwachen Regionen befinden - und zwar nahezu zu 100 Prozent -, weil die Genossenschaftsmitglieder zumeist älter sind, weil die Genossenschaften einen großen Wohnungsleerstand haben, weil sie selbst der Konkurrenz von bestehenden Genossenschaften nicht mehr standhalten können, weil die Genossenschaftsmitglieder dort vergleichsweise hohe Beiträge geleistet haben. Viertens wollen wir eine Maßnahme, die leicht machbar und zudem hilfreich ist. Wir möchten, dass den Wohnungsunternehmen die Grundsteuer auf leer stehende Wohnungen erlassen wird. Fünftens schlagen wir eine Härtefallregelung vor, die im Gegensatz zu dem Entwurf der Regierung wirklich existenzbedrohten Wohnungsunternehmen entgegenkommt. Es ist schon schlimm genug, dass wir überhaupt konstatieren müssen, dass es existenzbedrohte Wohnungsunternehmen gibt. Unser Antrag setzt die Existenzgefährdung nicht bei 15 Prozent Leerstand, sondern bei 10 Prozent an. Er macht die Zahlung des Bundeszuschusses nicht von der Gnade der Banken abhängig. Er berücksichtigt Wendewohnungen und bereits abgerissene Wohnungen. Er geht vor allem an die Dinge nicht so heran, dass Geld nur nach Maßgabe des Haushalts gezahlt wird, sondern er geht vom Auftrag des Gesetzgebers aus, der besagt, dass den existenzbedrohten Wohnungsunternehmen zu helfen ist. Dabei kann man nicht davon ausgehen, wie viel man in der Kasse hat, und hinterher schaut, wie weit man kommt. Ich weiß natürlich, dass Sie froh sind, überhaupt eine Härtefallregelung erkämpft zu haben. Das ist mir durchaus bewusst. Aber Sie wissen: Die ostdeutsche Bevölkerung schrumpft schnell und altert schnell. Sie wissen, dass dadurch der Wohnungsleerstand weiter wächst. Sie wissen, dass die schrumpfende Bevölkerung sich auf die Nachfrage nach wirtschaftlichen Leistungen, Dienstleistungen, Infrastruktur auswirkt. Sie wissen, dass sich eine Vermögensentwertung bisher unbekannten Ausmaßes vollzieht.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Ostrowski, Sie müssen zum Schluss kommen.

Christine Ostrowski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001662, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Damit komme ich zum Schluss. - Ein Wittenberger Unternehmen schrieb uns gestern - ich zitiere -: Der Leerstand hat ... die 40-Prozent-Marke überschritten. Der Bevölkerungsrückgang um 2 bis 3 Prozent hält unvermindert an, sodass mit einem weiteren Leerstand ... im gesamten Stadtgebiet ... zu rechnen ist. Ich sage Ihnen: Meine Erfahrung, dass man einen Herzinfarkt nicht mit einer Schmerztablette heilen kann, sollten Sie beherzigen. Ich bitte Sie, in Ihrer Politik entsprechend vorzugehen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Da die Kolleginnen und Kollegen Dr. Peter Danckert, Dr. Christine Lucyga, Heinz Seiffert, Franziska Eichstädt-Bohlig, Dr. Karlheinz Guttmacher - ich denke, mit Ihrem Einverständnis - ihre Reden zu Protokoll gegeben haben, schließe ich die Aus- sprache.1) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/4010, 14/4011, 14/4350, 14/4351 und 14/4399 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe jetzt den letzten Tagesordnungspunkt, und zwar den Zusatzpunkt 18, auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS Haltung der Bundesregierung zu den arbeitsmarktpolitischen Auswirkungen der angekündigten Schließung von Bahnwerken durch die Deutsche Bahn AG Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die PDSFraktion hat der Kollege Dr. Uwe-Jens Rössel. ({0})

Dr. Uwe Jens Rössel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002764, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS-Bundestagsfraktion hat eine Aktuelle Stunde zu dem eben angekündigten Thema beantragt. Ausgangspunkt ist, dass der Vorstand der Deutschen Bahn AG Mitte Oktober in einer wahren Nacht-und-Nebel-Aktion die Schließung von sechs Spezialwerken, die zum Verbund der Deutschen Bahn AG gehören, sowie von vier Instandhaltungswerken beschlossen hat, sollte sich in den nächsten Tagen und Wochen nicht kurzfristig noch ein Investor finden. Darüber hinaus wurde für vier weitere Standorte ein deutlicher Arbeitsplatzabbau angekündigt. Diese Entscheidung des Bahnvorstandes macht uns große Sorge. Die Umstände, wie dieser Beschluss zustande gekommen ist, und die Frage, mit welchen Folgewirkungen zu rechnen ist, sollen Thema unserer Aktuellen Stunde sein. Nicht nur der Vorstand der Deutsche Bahn AG ist gefordert, auch die Bundesregierung darf nicht tatenlos zusehen. Bislang haben wir aber den Eindruck, dass sie das tut. Das aber ist unverantwortlich. ({0}) Es handelt sich bei den angekündigten Schließungen um die Werke Gleisbaumechanik Brandenburg, Stahlbau Dessau, Fahrzeugbau Halberstadt, Stahlbau Vacha, das Forschungs- und Entwicklungswerk Blankenburg ({1}) - alles Unternehmen in den neuen Bundesländern - sowie um das Fernmeldewerk in München-Aubing. Bei den zur Schließung angekündigten Instandhaltungswerken handelt es sich um die Werke Stendal in Sachsen-Anhalt, Neustrelitz in Mecklenburg-Vorpommern, Leipzig-Engelsdorf sowie um den Standort München-Neuaubing. Darüber hinaus soll Arbeitsplatzabbau in Erfurt, Chemnitz, Hannover sowie in Limburg vorgenommen werden. Insgesamt werden mit dieser Entscheidung des Bahnvorstandes mindestens 5 000 Arbeitsplätze von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in den betroffenen Unternehmen akut gefährdet. In den Zulieferbetrieben und den Servicebereichen sind darüber hinaus weitere 10 000 Beschäftigte betroffen. Die Situation ist also außerordentlich angespannt; es handelt sich hier um ein akutes soziales und arbeitsmarktpolitisches Problem. Es ist kein Zufall, dass sich die Deutsche Bahn AG mit dieser Entscheidung offensichtlich weiter für den bevorstehenden Börsengang fit machen möchte; denn vorangegangene Entscheidungen gehen ebenfalls in Richtung eines sozialen und auch wirtschaftlichen Kahlschlags. Zu Recht sind deshalb die Proteste der Belegschaften massiv angewachsen. Auch in anderen Unternehmensbereichen sieht die Bahn AG künftig Kahlschlag vor: Dazu gehören der Abbau von Interregio-Verbindungen oder der Verzicht auf den Einsatz von Mitropa-Wagen in Reisezügen. Allein durch Letzteres sind etwa 1 000 Arbeitsplätze bei der traditionsreichen Mitropa, einer Bahntochter, akut gefährdet. Kahlschlagpolitik ist also angesagt. Diese Absichten der Deutschen Bahn AG ordnen sich in die Politik von Pleiten, Pech und Pannen ein. Auf dem Rücken der Belegschaft der Deutschen Bahn AG - es sind weitere Tausende Arbeitsplätze gefährdet - soll der Börsengang vorbereitet werden, bei dem eben nur noch renditestarke Unternehmensbereiche an die Börse gebracht werden sollen. Das lehnen wir ganz entschieden ab. ({2}) Die Entscheidung ist im Bahnvorstand ohne jegliche Einbeziehung gesellschaftlicher Gremien und unter grober Missachtung des Betriebsverfassungsgesetzes getroffen worden. Der Vorstand der Transnet - Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands - hat davon erst aus den Medien erfahren. Wo sind wir denn im Herbst 2000 angekommen, wenn solche Praktiken um sich greifen? Ich begrüße vor diesem Hintergrund ganz herzlich anwesende Betriebsrätinnen und Betriebsräte, Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker aus den betroffenen Unternehmen und Regionen. ({3}) Bei den betroffenen Regionen handelt es sich überwiegend um strukturschwache Gebiete in Ostdeutschland. Ich frage mich: Welchen Wert hat noch das Wort des Kanzlers, den Aufschwung Ost persönlich in die Hand zu nehmen? Der Vorstand der Deutschen Bahn AG wird von uns aufgefordert, die angekündigte Schließung der zehn Werke sofort rückgängig zu machen und alles dafür zu tun, dass die entsprechenden Unternehmen wettbewerbsfähiger werden und eine echte Zukunftschance erhalten. ({4}) Ab sofort ist auch wieder das Betriebsverfassungsgesetz einzuhalten. Auch die Bundesregierung ist aufgefordert, Vizepräsidentin Petra Bläss 1) Anlage 9 denn der Bund ist 100-prozentiger Gesellschafter der Deutschen Bahn AG. Die Bundesregierung wird überdies aufgefordert, solche Rahmenbedingungen für die Unternehmen, die heute zur Diskussion stehen, und auch für weitere, die zum Unternehmensverbund Deutsche Bahn AG gehören, zu schaffen, dass eine zukunftsfähige Entwicklung und Innovationen möglich werden. Dafür gibt es gute Chancen. Unterbleibt das, werden auch die strukturschwachen Regionen und Kommunen weiterhin große Sorgen haben müssen. Der Arbeitsplatzabbau führt nämlich zu erheblichen Problemen in den Regionen und wird zu Belastungen führen, die wir alle hier nicht hinnehmen dürfen. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich endlich dazu zu äußern, wie viel Bahn und wie viele dazugehörige Bahnunternehmen sie haben will. Sie muss sich für die Beschäftigten in der Deutschen Bahn AG und für diejenigen, die in von ihr abhängigen Bereichen einschließlich der Bahnindustrie arbeiten, einsetzen; denn in der Bahnindustrie sind Arbeitsplätze ebenso massiv gefährdet. ({5}) Wir fordern Sie daher auf, die heutige Aktuelle Stunde zu nutzen, um gegenüber den anwesenden Betriebsrätinnen und Betriebsräten, den Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern der Region konkrete und kontrollfähige Aussagen zu treffen und dementsprechende Entscheidungen in der nächsten Zeit im Deutschen Bundestag herbeizuführen. Vielen Dank. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Karin Rehbock-Zureich.

Karin Rehbock-Zureich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002756, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sorge um die Arbeitsplätze beschäftigt uns sicher alle. Es zeugt aber schon von Populismus, wenn die PDS diese Aktuelle Stunde zu einem Zeitpunkt ansetzt, nachdem Bahnvorstand und Gewerkschaft Gott sei Dank ein erstes Gespräch geführt haben. ({0}) In einem Beschäftigungsbündnis der DB AG mit den Tarifpartnern wurde festgelegt, die notwendige Konsolidierung des Unternehmens sozialverträglich zu gestalten. Dies erfordert für die Bahn die Rücksichtnahme auf die im Betriebsverfassungsgesetz niedergelegten Rechte und Pflichten. Ich gebe Ihnen von der PDS Recht: Die Art und Weise, wie die Bahn ohne vorherige Rücksprache mit den Mitarbeitervertreterinnen und -vertretern diese Maßnahme verkündet hat, hat schlichtweg - dies hat uns alle auf die Palme gebracht - gegen das Betriebsverfassungsgesetz verstoßen. ({1}) Das können wir selbstverständlich so nicht hinnehmen. Ich verstehe die Verärgerung der Betroffenen. Wir haben großes Verständnis dafür gezeigt, dass die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner auf die Straße gegangen sind und vor der Zentrale der DB AG demonstriert haben. Für die Konsolidierung der Bahn - die sich wirklich in einer schwierigen Situation befindet - wird wichtig sein, dass wesentliche Veränderungen in Zukunft nur im Dialog mit den Vertretern der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschlossen werden. Betriebsräte und Vorstand der Bahn müssen zu einer gemeinsamen Linie kommen. Ich möchte darauf hinweisen, dass auch die Bundesregierung immer wieder klargestellt hat, dass betriebsbedingte Kündigungen auf keinen Fall stattfinden werden. Dies hat Bundesverkehrsminister Klimmt schon im Sommer festgestellt. Wir begrüßen, dass nach der berechtigten Verärgerung über die fehlgeschlagene Kommunikation zwischen Bahnvorstand und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern - dies hat natürlich zu einer völligen Verunsicherung bei ihnen und ihren Familien geführt, da sie um ihre Existenz fürchten mussten - ein Gespräch zwischen Bahnvorstand und Gewerkschaft stattgefunden hat. Bei diesem Gespräch wurde Folgendes festgelegt: Erstens. Eine Versachlichung der weiteren Diskussion soll stattfinden. Zweitens. Die Instandhaltung gehört weiterhin zum Kerngeschäft der Bahn. Drittens. Es werden Gespräche mit potenziellen Investoren geführt, um Standorte und damit Arbeitsplätze zu erhalten. Die Bundesregierung hat natürlich die Aufgabe, das System Bahn - die Verkehrsinfrastruktur auf der Schiene - zu unterstützen. ({2}) Schwerpunkt im Zukunftsinvestitionsprogramm sind 2 Milliarden DM, die pro Jahr in die Schiene investiert werden sollen, und zwar zusätzlich zu den vorhandenen Investitionsmitteln. Diese Mittel werden dazu beitragen, das System Bahn zu erhalten und Arbeitsplätze abzusichern. ({3}) In den Jahren der Regierung aus CDU/CSU und F.D.P. sind die vorgesehenen Investitionsmittel jährlich um 3 Milliarden DM gekürzt worden. ({4}) Vor dem Hintergrund der jahrelangen mangelhaften Ausstattung muss man natürlich konstatieren, dass die schwierige Situation der Bahn auch etwas mit Ihren massiven Kürzungen der Investitionsmittel zu tun hat. ({5}) Wir haben mit dem Zukunftsinvestitionsprogramm den wichtigen Einstieg geschafft, die Strecken der Bahn instand zu halten. Das heißt, das Netz erfährt eine Konsolidierung. Abschließend möchte ich sagen, dass nur zusätzliche Investitionen in die Bahn vonseiten der Bundesregierung dieses Verkehrssystem für die Zukunft sichern werden. Wir befinden uns auf dem richtigen Weg. Uns allen ist klar: Die Sicherung des Verkehrssystems Bahn wird über das Zukunftsinvestitionsprogramm hinaus, das einen wirklich guten Start hatte, eine langfristige Angelegenheit sein. Vielen Dank. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Norbert Otto.

Norbert Otto (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001668, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Deutsche Bahn AG bietet zurzeit - zumindest in der Öffentlichkeit - teilweise ein chaotisches Bild. Hieß es noch vor einigen Wochen, sie wolle zehn Reparaturwerke schließen und rund 5 000 Beschäftigte entlassen, so verlautete wenig später, von der Kündigung seien tatsächlich nur 3 000 Mitarbeiter betroffen. Zu Beginn dieser Woche gab es in der Presse eine Meldung, dass für etwa 1 000 Mitarbeiter eine Weiterbeschäftigung in anderen Betrieben gesichert sei. Gerade gestern war in einigen Zeitungen zu lesen, dass die Bahn die Schließung von vier Werken vorerst auf Eis gelegt habe. „Quo vadis, Bahnvorstand?“, kann man dazu nur sagen. Oder besser: Wohin willst du eigentlich? So spricht es zum Beispiel nicht gerade für Kontinuität und ein durchdachtes Konzept, dass die Bahntochter DB Regio unlängst gemeinsam mit dem Land Thüringen für 200 Millionen DM neue Triebwagen gekauft hat und das dafür vorgesehene Instandhaltungs- und Wartungswerk in Erfurt personell massiv reduzieren will. Es hat den Anschein, dass der Bahnvorstand - er ist sehr schnell eingeknickt - entweder seine Entscheidungen mit der heißen Nadel gestrickt oder sich dem massiven Druck der Gewerkschaften gebeugt hat. Beide Möglichkeiten würden allerdings kein gutes Licht auf den Bahnvorstand werfen. ({0}) In den lautstarken Protesten der vergangenen Tage, die gerade von den Gewerkschaften und der PDS geschürt wurden, sind dann aber alle vernünftigen Argumente untergegangen, sodass die unpopulären Schritte der Bahn nicht erklärt wurden. ({1}) Von allen Seiten - auch aus diesem Hause - wurde die Bahn AG aufgefordert, sich zu einem profitablen Unternehmen zu wandeln. Mit einer Reihe von Maßnahmen hat der Vorstand nun diesen notwendigen Weg eingeschlagen, um endlich aus den massiven betriebswirtschaftlichen Problemen herauszukommen. Dass hierbei zum Teil tiefe Einschnitte notwendig waren und sind, weiß jeder Kenner der Materie. Ich will nichts dazu sagen, wie diese Maßnahmen sozial begleitet werden. Das ist ein anderes Thema. Aber die Forderung, die Bahn in ein rentables Unternehmen umzuwandeln, steht im Raum. Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der PDS, jetzt utopische Forderungen nach Erhalt aller Werke, garniert mit einer Aufstockung von Bundesmitteln, aufstellen, dann ist das nichts weiter als blanker Opportunismus und Populismus. ({2}) In den Jahren von 1994 bis 2002 werden allein für den Abbau wirtschaftlicher Altlasten bei der Bahn vom Bund 33 Milliarden DM zur Verfügung gestellt. Es kann beim besten Willen nicht mehr so weitergehen, dass der Bund ständig zuschießt und die Bahn ein unrentables Unternehmen bleibt. So können wir die Bahn letztlich nicht erhalten. ({3}) Ich betone hier ausdrücklich: Die Bahn ist nicht mehr wie in der Vergangenheit ein staatsmonopolistischer Industriebetrieb, sondern ein Dienstleistungsunternehmen, das sich wie jedes andere wirtschaftlich, also rentabel, ohne Verluste, am Markt behaupten muss. Das, was die Bahn heute beschließt, ist aber in jedem Fall eine betriebsinterne Entscheidung. Wir können nicht sagen: Die Bahn ist zwar ein privatwirtschaftlich geführtes Unternehmen, aber alle Entscheidungen, die innerhalb dieses Unternehmens getroffen werden, werden kommentiert und dann zurückgezogen, wenn sie schmerzhafte Einschnitte bedeuten. Wir können hier nicht seit Jahren die Bahn AG auffordern, Kosten einzusparen, um dann, wenn es zur Sache geht, einzuknicken; das geht nicht. Hier braucht die Bahn von uns Flankenschutz. Allerdings verlangen wir von der Bahn eine gewisse Kontinuität. Die Bahn muss sich jetzt von defizitären Aktivitäten trennen. Dazu gehören eben auch die betroffenen Werke, die nach Aussage der Bahn in den vergangenen Jahren insgesamt dreistellige Millionenverluste gemacht haben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bahn kann nicht länger am Tropf des Bundes hängen. Aber wir fordern natürlich vom Bund und von der Bundesregierung, dass die jetzt notwendigen Einschnitte durch die Bundesregierung sozial begleitet werden. Der Bund als Anteilseigner der Bahn hat eine gewisse soziale Verantwortung für die Arbeitnehmer in diesem Unternehmen. Vielen Dank. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Es spricht jetzt Kollege Albert Schmidt von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Albert Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002779, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Otto, Sie haben an einigen Stellen Ihrer Rede davon gesprochen, die Gewerkschaften hätten Druck aufgebaut, Betriebsräte hätten Proteste geschürt und so weiter. ({0}) - Das Wort „geschürt“ haben Sie gebraucht; Sie können es im Protokoll nachlesen. ({1}) Ihren Vorhalt weise ich ausdrücklich zurück; ich will Ihnen auch sagen warum. Die Beschäftigten der Deutschen Bahn AG haben es nicht nötig, von Ihnen darüber belehrt zu werden, dass die DB künftig als privatisiertes Unternehmen auch wirtschaftlich zu führen ist. Denn in einer beispiellosen Anstrengung ist es in den letzten Jahren gelungen, die Produktivität dieses Unternehmens um über 100 Prozent zu steigern. Gerade die Beschäftigten haben dazu einen immensen Beitrag geleistet. ({2}) Sie wissen, dass die Produktivitätsverbesserungen noch weitergehen müssen. Gerade die aktuell verabredete Lohnrunde hat gezeigt, dass beide Tarifpartner ihre Verantwortung sehr genau kennen. Sie brauchen ihnen keine Belehrungen darüber zu geben, welchen Druck sie ausüben dürfen oder nicht. ({3}) Zum Zweiten weise ich, Herr Kollege Otto, Ihre Belehrungen darüber zurück, dass eine privatisierte Bahn keine politischen Eingriffe mehr zu erdulden habe. Niemand anders als die CDU-geführte Bundesregierung hat der Bahn politisch schöngerechnete Großprojekte aufs Auge gedrückt. Die Neubaustrecke Frankfurt-Köln war plötzlich 2 Milliarden DM teurer, als Sie uns damals vorausgesagt haben. Der Knotenausbau Berlin bringt plötzlich ein Loch von 2 Milliarden DM. Heute lesen wir in der Zeitung, die Strecke Ingolstadt-München wird auch 1 Milliarden DM teurer. - Das waren die von Ihnen schöngerechneten Projekte. Gleichzeitig haben Sie die Investitionen jedes Jahr gekürzt. Die Löcher, die jetzt entstanden sind, haben Sie zu verantworten. ({4}) Jetzt aber zur Sache, um die es heute geht. Die Parteipolitik sollte sich sicherlich in tarifliche Auseinandersetzungen - auch in Auseinandersetzungen um Arbeitsplätze - nicht in jedem Fall und immer gleich einmischen. Aber bei derart gravierenden Standortentscheidungen, um die es hier geht - es sind die Arbeitsplätze tausender Menschen und damit auch ihre Familien, ihr gesamtes Umfeld betroffen -, möchte ich deutlich sagen, dass alle Hilfsinstrumente der öffentlichen Hand mobilisiert werden müssen. ({5}) Ich bin sehr froh und dankbar, dass der Staatsminister im Bundeskanzleramt genau dies vor wenigen Tagen klargestellt hat. Wir stehen erst am Anfang und noch lange nicht am Ende der Problemlösung. Aber ich bin sehr froh, dass die erste Runde, die am vergangenen Dienstag stattgefunden hat, zwischen Vorstand und Belegschaft bzw. Betriebsräten einige Klarstellungen gebracht hat: Erstens. Das Drittkundengeschäft und der Fahrzeugumbau sollen auch weiterhin wirtschaftlich betrieben werden. Damit soll Beschäftigung ausdrücklich gesichert werden. Zweitens. Die Instandhaltung von Fahrzeugen gehört auch weiterhin zu den Kernaufgaben des Unternehmens. Drittens. Es wird und muss in der nächsten Verhandlungsrunde für alle Beteiligten - auch für die Beschäftigten und ihre Vertretungen - nachvollziehbares Zahlenmaterial geliefert werden. Damit hat eine gewisse Versachlichung stattgefunden, aber noch längst keine Problemlösung. Ich möchte hier von politischer Seite aus keine gute Ratschläge geben, aber ich möchte doch klarstellen, dass wir hier im Deutschen Bundestag etwas erwarten. Wir erwarten, dass die Zusage des Bundesverkehrsministers, wonach betriebsbedingte Kündigungen als Instrument der Sanierung ausscheiden, auch in diesem Fall und weiterhin gilt. ({6}) Wir erwarten ebenfalls, dass künftig Planungsbeschlüsse und Planungsvollzug Gegenstand eines Verfahrens sind, das mit dem Betriebsverfassungsgesetz in Übereinstimmung zu bringen ist und das die Beteiligungsverfahren gemäß dem so genannten Interessenausgleich vom 20. September dieses Jahres berücksichtigen muss. Wir erwarten zudem, dass die Durchführung des weiteren Verfahrens inklusive sämtlicher notwendigen Informationen sichergestellt bleibt; wenngleich ich einräumen muss, dass die Planungen bereits Anfang 1998 - jedenfalls nach meiner Kenntnis - von der Unternehmensleitung gegenüber den Standorten zumindest informativ in Gesprächen erörtert worden sind. Schließlich erwarten wir, dass die Umsetzung von Planungsbeschlüssen erst nach der Durchführung eines solchen Beteiligungsverfahrens vorgenommen wird. ({7}) Die nun laufenden Gespräche mit möglichen Investoren müssen fortgesetzt werden; das Ziel aller Aktivitäten muss sein, die Standorte und die Arbeitsplätze zu erhalten. Das ist der Kern unserer Zielsetzung. Von daher ist es in der Tat eine positive Klarstellung der letzten Tage, dass eine unternehmensinterne Erhebung eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit für mindestens 1 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Konzern sieht. Im Übrigen wird noch nach weiteren Beschäftigungsmöglichkeiten gesucht. Zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten wird es dann geben können, wenn an Standorten, die bekanntlich schwarze Zahlen schreiben - zum Beispiel Stendal -, eine echte Privatisierung ein lukratives Geschäft ermöglicht. Dann ist es für die Beschäftigten nicht mehr die wichtigste Frage, ob sie ihren Arbeitsplatz innerhalb oder außerhalb des Konzerns haben, sondern wichtig ist für sie, dass sie mit ihrem Arbeitsplatz in ihrer Firma eine Zukunft behalten. ({8}) Ich möchte abschließend sagen: Wir brauchen eine verantwortliche Zusammenarbeit der Tarifparteien. Ich habe insofern uneingeschränktes Vertrauen. Beide Seiten haben in den letzten Jahren bestätigt, dass sie dazu in der Lage sind. Weiterhin brauchen wir eine politische Unterstützung, und zwar auf allen Ebenen, von der Landes- bis zur Bundesebene. Eine solche Unterstützung erwarte ich ebenso wie die betroffenen Beschäftigten. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Jörg van Essen, F.D.P.-Fraktion.

Jörg Essen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000495, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin kein ausgewiesener Verkehrspolitiker und rede trotzdem gerne zu diesem Thema, weil mir die Produkte der betroffenen Werke als engagierter Eisenbahnfreund bekannt sind, weil ich sie besonders schätze und weil mich in diesem Zusammenhang auch das Schicksal dieser Werke außerordentlich Weise interessiert. Es trifft zu, was der Kollege Otto gesagt hat. ({0}) Wir wollen, dass die Bahn wirtschaftlich handelt. Deshalb haben wir die Entscheidung getroffen, die Deutsche Bahn AG als selbstständiges wirtschaftliches Unternehmen zu schaffen. Dazu gehört, dass dieses Unternehmen auch eine wirtschaftliche Handlungsfreiheit haben muss, und zwar auch dann, wenn unangenehme Entscheidungen notwendig sind. Das muss betont werden. Würde sich nämlich die Politik bei jeder einzelnen Maßnahme einmischen, würde - was wir uns eigentlich erhoffen - ein Unternehmen, das am Markt Bestand haben kann und damit einen Zustand erreicht, der die Arbeitsplätze für die Zukunft sichert, immer wieder in Frage gestellt. Das ist der erste Gesichtspunkt. Der zweite - für mich ebenso wichtige - Gesichtspunkt: Wir haben im Bereich der Bahnindustrie Überkapazitäten, und zwar nicht nur im Bereich der Bahn, sondern auch im Bereich der Privatwirtschaft. Auch im letzteren Bereich sind Werke in den neuen Bundesländern betroffen. Wer sich hier für den Erhalt des einen oder anderen von der DB betriebenen Werkes in die Bresche wirft, muss auch auf die Frage nach den anderen, den privatwirtschaftlichen Unternehmen Antworten parat haben. Wir hatten gerade wieder einen Zusammenschluss, weil eine Unternehmenssparte im Bereich der Bahnindustrie verkauft worden ist, und zwar die Firma Adtranz. Dieser Vorgang wird zu Zusammenschlüssen und damit zu Kapazitätseinschränkungen sowie möglicherweise zu einem Arbeitsplatzabbau führen. Auch das gehört mit zu den Realitäten. Deshalb geben wir als F.D.P. in diesem Zusammenhang eine zweifache Antwort: Wir wollen erstens, dass alle Möglichkeiten innerhalb des Konzerns geprüft werden. Ich glaube, es macht für die Bahn auch Sinn, sowohl eigene Instandhaltungskapazitäten als auch eigene Umbaukapazitäten weiter vorzuhalten. Wer sich zum Beispiel vor Augen führt, welches neue Produkt aus den „langen Halberstädtern“ geschaffen wird, muss zugeben, dass der neu geschaffene Wagen wirklich wettbewerbsfähig ist. Er erfüllt die Ansprüche der Bevölkerung an ein modernes Fahrzeug voll. Wir wollen aber auch sehen, welche Möglichkeiten es für ein Outsourcing und für Privatisierungen gibt. Wir wissen, dass zu diesem Thema bereits heute Möglichkeiten angedacht werden. Zweitens wollen wir, dass alle Maßnahmen für die Beschäftigten durchsichtig werden, dass sie einbezogen werden, dass alles versucht wird, um möglichst viele Arbeitsplätze zu erhalten, und zwar nicht nur im Bereich der Bahn, sondern auch in privatisierten Unternehmen. Wenn dieser Weg der Vernunft gegangen wird, dann dient das der Deutschen Bahn als Unternehmen und dann dient es auch allen Mitarbeitern. Wir sollten uns gemeinsam anstrengen, diesen Weg zu begleiten, aber auch nur zu begleiten; denn Aufgabe der Politik ist es nicht, sich in Entscheidungen einzumischen oder sich sogar selbst zum Entscheider zu machen. Darauf legen wir größten Wert. Herzlichen Dank. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin für die SPD-Fraktion ist die Kollegin Jelena Hoffmann.

Jelena Hoffmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002681, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorige Woche, am 19. Oktober, haben die Eisenbahner hier in Berlin vor der Zentrale der Deutschen Bahn AG demonstriert. Ich war auch dabei. Ich war zwar in den letzten zehn Jahren auf mehreren Demonstrationen und Kundgebungen, aber zum ersten Mal hatte ich wieder ein Gefühl, das mich an 1989 erinnert hat. Bitterernst war es den Frauen und Männern am SonyForum mit ihrer Forderung, die Personalpolitik à la Mehdorn zu beenden. Es war nicht nur Wut, die allein aus Chemnitz etwa 800 Eisenbahner nach Berlin gebracht hat. Es war auch Verzweiflung und die Sorge um die Zukunft ihrer Familien. Allen ist klar: Herr Mehdorn hat keine einfache Aufgabe. Viele Strecken sind marode. Man muss Albert Schmidt ({0}) viel investieren. Doch die Umsatz bringenden Fahrgäste fehlen. Aber auch die Eisenbahner muss man verstehen. Sie haben Angst, weil sie wissen: Sie werden schlicht und einfach rausgeschmissen. Als wir im Jahre 1993 die Bahnreform beschlossen haben, war das hoffnungsvolle Ziel dieser Reform, die Bahn durch Privatisierung zu einem selbstständigen, profitablen und auch kundenorientierten Unternehmen zu entwickeln. Dass wir dabei immer wieder auf unbequeme Tatsachen stoßen würden, war uns auch klar. Trotzdem kommt bei mir der Zweifel auf, ob die jetzige Bahnpolitik die richtige ist, vor allem im Osten des Landes. Es sollen vier Standorte geschlossen werden. Drei davon liegen in den neuen Bundesländern, Stendal, LeipzigEngelsdorf und Neustrelitz. Es stehen noch fünf weitere Standorte vor dem Aus. Davon liegen wiederum drei in Ostdeutschland. Auch von den vier Werken, in denen Personal reduziert werden soll, liegen zwei in Ostdeutschland, und zwar in Erfurt und in Chemnitz, meinem Wahlkreis. Nach Personalabbau soll der Chemnitzer Betrieb wohl ganz geschlossen werden. Aber wir brauchen keine Entlassungspolitik in Ostdeutschland, sondern eine vernünftige Investitions- und Aufbaupolitik. ({1}) Das Chemnitzer Werk schreibt schwarze Zahlen. Dort sind etwa 930 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt. Davon sind 36 Schwerbehinderte und 80 Azubis. In der Region ist das Werk der größte Arbeitgeber im produzierenden Gewerbe, an dem auch viele Arbeitsplätze bei den Zulieferern und Dienstleistern hängen. Nach Aussage der Belegschaft bedeutet der Abbau von 400 Arbeitsplätzen den Untergang des Werkes, da der Betrieb mit dem Rest der Mitarbeiter nicht mehr wirtschaftlich arbeiten kann. Dabei entsteht für die Region ein Verlust an Fachkräften. Natürlich werden die jüngeren Fachkräfte wegziehen. Dadurch entsteht ein Verlust an Kaufkraft, der besonders die meist nur regional agierenden kleinen und mittleren Unternehmen trifft. Es entsteht ein Verlust an Steuereinnahmen, der die Kommunen angesichts ihrer ohnehin knappen Kassen schwer trifft. Die Beschlüsse von Herrn Mehdorn sind für die Region katastrophal und volkswirtschaftlich überhaupt nicht zu vertreten. Auch die betriebswirtschaftliche Rechnung versteht niemand im C-Werk in Chemnitz. Chemnitz ist nur ein Beispiel aus der Streichliste von Herrn Mehdorn. Mit der „Gleisbau-Mechanik“ aus dem brandenburgischen Kirchmöser, bei der 130 Eisenbahner beschäftigt sind, könnte ich die Liste fortführen. Ich begrüße die Betriebsräte und Mitarbeiter dieses Betriebs, die oben auf der Besuchertribüne sitzen. ({2}) Hinzu kommt die Art und Weise, wie die Mitarbeiter von den Plänen des Vorstandes erfahren haben: Weder die Belegschaft samt Führungskräften noch die Vertreter der Region sind in den Entscheidungsprozess einbezogen gewesen. Es ist nach dem Motto „Die Entscheidung ist gefallen, jetzt können wir miteinander reden“ verfahren worden. Mag ja sein, dass die Bahn AG mit einigen wenigen Strecken, wie im Frankfurter oder im Düsseldorfer Raum, wirtschaftlich gut dastehen wird bzw. schon dasteht. Aber ob dann das privatisierte Unternehmen auch dem entsprechen wird, was im Jahre 1993 vom Bundestag gewollt war, wage ich zu bezweifeln. Deshalb fordere ich den Vorstand der Bahn AG nachdrücklich auf, gemeinsam mit allen Beteiligten neue Vorschläge zu erarbeiten. Darauf warten die Menschen vor Ort. Danke. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter Friedrich, CDU/CSU-Fraktion.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Die Nachricht über die Pläne der Deutschen Bahn AG, Werke stillzulegen und Instandhaltungskapazitäten zurückzufahren, kam überraschend. Kollege Otto und Kollege van Essen haben Recht: Die Bahn muss sich von unrentablen Unternehmen trennen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob hinreichend geprüft worden ist - da würde ich gern einmal den Herrn Aufsichtsrat der DB AG fragen, ob er an einer solchen Prüfung beteiligt war -, ({0}) dass diese Unternehmen tatsächlich defizitär sind und so unwirtschaftlich arbeiten, wie es immer heißt. Denn es handelt sich um hoch spezialisierte Unternehmen. Das sind Unternehmen, die auf die Bedürfnisse der Bahn zugeschnitten sind. Auch die Begründung der DB AG überrascht mich etwas. Sie sagt nämlich: Instandhaltung und Spezialwerke gehören nicht zu unserem Kerngeschäft. Tatsache ist doch, dass der Imageverlust der Deutschen Bahn in den vergangenen Monaten und Jahren nicht zuletzt deswegen zustande kam, weil man - angesichts von Verspätungen, Unglücken und Sonstigem - den Eindruck hat, dass schon zu viel an Instandhaltungskapazitäten abgebaut worden ist. Es wird deswegen meiner Ansicht nach zu Recht bezweifelt, dass das, was die Bahn braucht, tatsächlich so leicht auf dem feien Markt erhältlich ist. Es scheint mir außerordentlich kurzsichtig zu sein, wenn die Bahn hoch qualifizierte Mitarbeiter und damit ein großes Potenzial an qualifizierten Spezialisten verschenkt. ({1}) Sie sollte tatsächlich noch einmal nachrechnen, ob das selbst kurzfristig betriebswirtschaftlich vernünftig ist. Allerdings - lieber Herr Schmidt, da spreche ich Sie als Jelena Hoffmann ({2}) Aufsichtsrat der Bahn an - habe ich die Befürchtung, dass die Bahn zurzeit überhaupt nicht mehr in der Lage ist, langfristige betriebwirtschaftliche Überlegungen und Vergleiche anzustellen; sie befindet sich nämlich offensichtlich in einer finanziellen Engpasssituation, ({3}) die sie panikartig zu Streckenstilllegungen, zum Abbau von Service und zu solchen Reaktionen wie jenen, über die wir jetzt reden, bewegt. ({4}) Ziel der Bahnreform war - das sage ich Ihnen ganz klar -, dass die Aufgaben der Bahn effizienter, preisgünstiger und schneller erledigt werden. Ziel der Bahnreform war aber doch nicht, dass die Aufgaben abgebaut werden, die Bahn sich also sozusagen aus allen möglichen Aufgabenbereichen zurückzieht. Sie haben als Eigentümer der Bahn - der Bund ist Eigentümer der Bahn - natürlich auch nach der Privatisierung eine verkehrspolitische und auch eine sozialpolitische Verantwortung; das ist doch unbestritten. ({5}) Angesichts dessen wundert es mich schon, dass die Frau Kollegin Rehbock-Zureich sagt: Na ja, da gibt es den Dialog. - Was macht eigentlich die Bundesregierung? Warum haben Sie denn offensichtlich erst aus der Presse erfahren, dass es zu Stilllegungen kommt? Sie müssen sich doch als Eigentümer rechtzeitig darum kümmern und auch einschalten, anstatt hinterher Krokodilstränen zu weinen. ({6}) Herr Schmidt, es ist schon ein dreistes Stück, wenn man sagt, die alte Bundesregierung habe der Bahn Investitionen aufgenötigt. Sie stellen der Bahn zu wenig Mittel zur Verfügung, um ihre Aufgaben zu erfüllen! Das ist doch der Punkt. ({7}) Dass die Bahn, auch durch Verkehrsleistungen, attraktiver werden muss, ist doch unbestritten. Ihre Doppelstrategie ist einfach nicht mehr hinnehmbar. ({8}) Sie können die Leute nicht einfach bei der Ökosteuer abkassieren, damit sie alle mit der Bahn fahren, und den Leuten dann, wenn sie fragen: „Wo ist denn die Bahn?“, antworten: „Diese Strecke mussten wir betriebsbedingt leider stilllegen.“ Das geht nicht; das ist eine Doppelstrategie, die wir auf Dauer nicht mitmachen. ({9}) Was die Steuerzahler erwarten, deren Geld beim Bau des Lehrter Bahnhofs und von gewissen ICE-Strecken sozusagen vergraben wird, ist, dass das Verkehrsangebot auch in der Fläche ausreichend vorhanden ist. Die Steuerzahler in Regensburg, in Weiden, in Marktredwitz, in Hof und in Plauen wollen mit der Ertüchtigung ihrer Verkehrsanbindung nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag vertröstet werden, während sie am Lehrter Bahnhof und an der ICE-Strecke Frankfurt-Köln sehen, dass sich dort Großes bewegt. ({10}) Schließlich hat die Bahn - auch der Eigentümer der Bahn AG - Rücksicht auf die Bahnbediensteten zu nehmen, und zwar in allen Geschäftsbereichen. Was diese Menschen in den letzten fünf bis sechs Jahren mitgemacht haben, muss man erst einmal schultern. Mein Respekt gilt daher den Bahnbediensteten überall im Land, die diese Veränderungen großartig verkraftet und gut gearbeitet haben. Sie haben ein Anrecht darauf, dass die Bundesregierung als Eigentümerin neben ihrer verkehrspolitischen auch ihre sozialpolitische Verantwortung wahrnimmt. Dazu fordere ich sie auf. Vielen Dank. ({11})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der nächste Redner ist der Kollege Helmut Wilhelm, Bündnis 90/Die Grünen.

Helmut Wilhelm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002825, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die DB AG beabsichtigt die Betriebseinstellung in einer Reihe von Werken der schweren Instandhaltung von Loks und Wagen sowie die Personalreduzierung in weiteren Werken und die Einstellung der Arbeit in Spezialwerken. Außerdem soll es Personalreduzierungen in einigen Servicebereichen geben. Hauptsächlich betroffen sind hierbei Werke und Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern. Klarzustellen ist, dass es sich bei der DB AG um ein allein dem Aktienrecht unterliegendes Unternehmen handelt. Intention der Bahnreform war, unternehmerische Entscheidungen allein dem Unternehmen zu überlassen, um diesem eine betriebswirtschaftlich sinnvolle Tätigkeit zu ermöglichen. Es ist zwar richtig, dass der Bund eine grundsätzliche raumordnungspolitische Verantwortung trägt und dass zumindest einige der betroffenen Werke in strukturschwachen Regionen liegen. ({0}) Dies ermöglicht der Bundesregierung aber keine Einflussmöglichkeit auf die Geschäftspolitik der DB AG. Dies ist eine Folge der Bahnreform, deren Grundlagen in einer nicht immer glücklichen Weise von der früheren Regierung geschaffen worden sind. Nicht zu übersehen ist, dass seitens der DB AG in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Neufahrzeugen beschafft wurde, die einem deutlich geringeren Wartungsaufwand unterliegen als Altfahrzeuge. Dadurch konnten die Instandhaltungsfristen verlängert und die Lebenszykluskosten gesenkt werden. Dr. Hans-Peter Friedrich ({1}) Nicht übersehen werden darf allerdings, dass die DB AG den bisherigen Konsens mit den Gewerkschaften verlassen hat. Dieses Vorgehen war - es ist bereits gesagt worden - rechtswidrig. Auch die Geschäftspolitik der DB AG war nicht immer glücklich. Diese Tatsache kann ebenfalls nicht geleugnet werden. Die faktische Entwicklung hat aber gezeigt, dass die Tarifpartnerschaft zwischen Gewerkschaft und Unternehmen funktioniert. Nach den zwischen den Tarifpartnern am Dienstag dieser Woche geführten Verhandlungen hat der Bahnvorstand akzeptiert, an den Verhandlungstisch mit der Gewerkschaft zurückzukehren, und anerkannt, dass seine Abkehr vom bisherigen Konsens massive Unruhe unter den Arbeitnehmern ausgelöst hat. Die Tarifpartner sind sich jetzt einig, dass die Instandhaltung weiterhin zu den Kernaufgaben der DB AG gehört und dass darüber hinaus das Drittkundengeschäft und das Geschäft mit Fahrzeugumbauten nicht vernachlässigt werden sollen, um Beschäftigung zu sichern. Der vom Vorstand getroffene Planungsbeschluss wird Gegenstand eines nach dem Betriebsverfassungsgesetz durchzuführenden Beteiligungsverfahrens der zuständigen Betriebsratsgremien sein. Der Bahnvorstand hat sich bereit erklärt, hierfür nachvollziehbares Zahlenmaterial für die nächsten Verhandlungen zwischen den Tarifpartnern zu liefern, und wird auch die Gespräche mit potenziellen privaten Investoren fortsetzen, um die Standorte möglichst zu erhalten sowie alternative Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten der durch eventuelle Werksschließung betroffenen Mitarbeiter zu schaffen. Die Bundesregierung sieht es als ihre Aufgabe an, die Bahn zu fördern. Das zeigt gerade das soeben beschlossene Zukunftsinvestitionsprogramm mit hohen zusätzlichen Investitionen zugunsten der Bahn. Auch das sichert Arbeitsplätze. Die Bundesregierung steht zu ihrer Verantwortung - der Bahn und den Eisenbahnern gegenüber. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Kollegin Dr. Christa Luft, PDS-Fraktion.

Prof. Dr. Christa Luft (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002728, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin RehbockZureich, zunächst muss ich sagen: Die PDS-Fraktion hat diese Aktuelle Stunde nicht gestern Nachmittag oder heute Morgen, sondern am Montag beantragt. Vielleicht ist es ja möglich, dass die Öffentlichkeit, die damit zusätzlich im Parlament geschaffen wurde, dazu beigetragen hat, dass die Gespräche zwischen der Deutschen Bahn AG und den Gewerkschaften beschleunigt worden sind. Das kann ja vielleicht sein. ({0}) Dem Kollegen Otto möchte ich, da er behauptet, die PDS würde hier Unzufriedenheit schüren, sagen: Sie überschätzen unsere Möglichkeiten. Im Übrigen kann man niemandem Existenzängste einreden. Sie werden vielmehr von den Beschäftigen gefühlt. Darum haben sie sich ja so artikuliert, wie sie es getan haben. Herr Staatssekretär, ich habe es als höchst bedauerlich empfunden, dass weder der Minister noch Sie die Gelegenheit genutzt haben, sich mit den betroffenen Betriebsräten bei deren Besuch hier in diesem Hause - und sei es nur für wenige Minuten - zu treffen. Wenn es so ist, dass inzwischen „fast alles in Butter“ ist, wie die Kollegin Rehbock-Zureich sagt, dann hätten Sie doch eigentlich mit Freude vor die Betriebsräte treten können, um ihnen zu sagen, dass ihre Sorgen zumindest abklingen können. ({1}) Ich habe es sehr bedauert, dass Sie diese Möglichkeit nicht wahrgenommen haben - und das, nachdem heute Morgen in diesem Hause über die wirtschaftliche Lage in der Bundesrepublik Deutschland gesprochen worden ist und die Bundesregierung noch einmal alle Schwüre geschworen hat, wie sehr ihr der Erhalt von Arbeitsplätzen am Herzen liegt und was sie alles tun möchte, um zum Arbeitsplatzerhalt und zum Neuaufbau von Arbeitsplätzen beizutragen. Wenn ich dann aber sehe, was mit den Bahnwerken geschehen soll, muss ich sagen, dass all die Schwüre von heute Morgen ziemlich hohl waren. Das, was hier abläuft, ist erstens die Wiederholung dessen, was in Ostdeutschland vielfach in der Industrie passiert ist. Dort hat man gesagt, dass die Unternehmen - zunächst die volkseigenen Betriebe, dann die Treuhandunternehmen - viel zu groß seien; damit sie marktfähig werden und sich wirtschaftlich betätigen können, müssten sie sich klein und fein machen. Das war die Losung. Ich erinnere mich ganz genau. Inzwischen sind die Beschäftigtenzahlen der Bahnwerke in der Regel bis auf ein Zehntel der ursprünglichen Beschäftigtenzahlen geschrumpft. Sie haben zudem ihre Rentabilität erhöht. Jetzt heißt es: Ihr habt eine unterkritische Betriebsgröße, ihr seid am Markt nicht mehr überlebensfähig. Da sage ich mir doch: Das ist absurd und verhöhnt die Beschäftigten, die diese großen Umbrüche hinter sich gebracht und immer noch mit Optimismus in die Zukunft geschaut haben. ({2}) Das, was hier abläuft, ist zweitens Ausdruck dessen, dass es dem Bund zuvörderst um Haushaltssanierung geht. Darum will er sich von seinem Vermögen trennen. Das ist zum Beispiel im Falle der Bundesdruckerei so, die privatisiert werden soll. Die Umstände dort sind insofern ähnlich, als Beschäftigte überhaupt erst durch gewisse Indiskretionen erfahren, in welcher Weise über ihr Schicksal inzwischen verhandelt worden ist. Auch bei der Deutschen Bahn AG will man Aufwendungen für die Zukunft einsparen und daher möglichst schnell Strukturveränderungen herbeiführen. Dabei übt der Anteilseigner Bund Druck auf die Bahn aus. Sie soll sehr schnell ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöhen, um börsenfähig zu werden. ({3}) Helmut Wilhelm ({4}) Das alles ist ökonomisch zunächst einmal verständlich. Aber die Bundesregierung als Anteilseignerin hat ihre eigenen Schulaufgaben, um die Bahn wettbewerbsfähiger zu machen, bisher nicht erledigt, weil sie die Bahn nach wie vor steuerlich stärker belastet als andere Verkehrsträger, weil also die Wettbewerbsverzerrung, die es in Bezug auf andere Verkehrsträger gibt, nicht beseitigt ist. Nun aber vorrangig Druck in Richtung Personalabbau und Einsparungen im Sicherheitsbereich auszuüben, um wettbewerbsfähiger zu werden, das kann nicht gut gehen. Das ist weder wirtschaftlich noch sozial. ({5}) Längerfristig ist das auch kontraproduktiv. Für die Mobilität der Menschen, die auf die Bahn angewiesen sind, kann man Schlimmes befürchten. Das, was hier abläuft, ist drittens: Betrieben droht die Schließung nicht wegen fehlender Aufträge - die sind nämlich vorhanden -, sondern offenbar deshalb, weil man die Forcierung von Konzentrationsprozessen vorantreiben will. Als Beispiel nenne ich hier nur das Forschungsund Entwicklungswerk Blankenburg. Es hat vor wenigen Monaten eine Ausschreibung gewonnen - dies spricht ja wohl für Wettbewerbsfähigkeit -, wartet aber seit vielen Monaten auf die Zusage einer Finanzierung der Aufträge. Am 17. Oktober 2000 erging in dieser Angelegenheit ein Brief des Betriebsrates an den Bundesverkehrsminister. Bis heute wurde er nicht beantwortet. Das macht keinen guten Eindruck, wenn es um soziale Belange von Menschen geht. Schließlich: Dass gerade in Bundesunternehmen oder solchen Unternehmen, bei denen der Bund Anteilseigner ist, Strukturveränderungen - und davon berührte Personalfragen - stets ohne oder mit viel zu später Einbeziehung der Beschäftigten, der Betriebsräte und der Gewerkschaften erfolgen, ist nicht hinzunehmen. Das ist kein vorbildliches Verhalten. Wie wollen wir der privaten Wirtschaft etwas abverlangen, wenn der Bund selbst nicht in Vorleistung tritt? ({6}) Informationen geraten an die Betroffenen oft nur durch Indiskretion. Das ist kein gutes Zeichen. Ich hoffe, dass sich die kritischen Akzente, die ich bei einigen Koalitionsabgeordneten in der Debatte gehört habe, nicht nur auf Äußerungen in der Aktuellen Stunde beschränken, sondern dass Sie auf den Anteilseigner Bund in geeigneter Weise Einfluss nehmen, damit den Beschäftigten ihre berechtigte Sorge genommen werden kann. Danke. ({7})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Bundesregierung spricht der Parlamentarische Staatssekretär Siegfried Scheffler.

Siegfried Scheffler (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001952

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Betriebsräte der betroffenen Werke und Regionen, ich darf Sie alle recht herzlich begrüßen. Wie so oft hat auch hier die Medaille zwei Seiten. Sowohl von der ganz linken Seite als auch von der rechten Seite möchte im am Anfang einiges zurückweisen. Frau Kollegin Luft, Sie haben gesagt, der Bund - damit meinen Sie ja offensichtlich die DB AG - habe Druck gemacht, damit Sicherheitsstandards eingeschränkt und Infrastrukturvorhaben nicht realisiert werden. Das weise ich ausdrücklich zurück. Wenn Druck entstanden ist, dann deshalb, weil man sich Anfang der 90er-Jahre auf eine - parteiübergreifend verabschiedete - große Bahnreform festgelegt hat, mit der die Deutsche Reichsbahn und die Bundesbahn zu einem wirtschaftlich selbstständigen Unternehmen zusammengeführt wurden. Der entscheidende Punkt ist, dass im Jahre 2003 die wirtschaftliche Selbstständigkeit erreicht werden soll. Es geht also gar nicht darum - ich habe das heute noch nicht aus dem Deutschen Bundestag heraus gehört; auch können Sie es noch nicht von der Bundesregierung gehört haben -, dass zu diesem Zeitpunkt die Börsenfähigkeit hergestellt sein soll. Das gemeinsame, parteiübergreifende Ziel, das wir mit der Bahnreform verbunden haben, war die Wirtschaftlichkeit. Ob die alte oder die jetzige Bundesregierung, beide haben - das ist auch unser Auftrag - gewaltige Anstrengungen zur Beseitigung der Altlasten unternommen. Unser Auftrag im Rahmen der Bahnreform war: zum einen Ausbau der Infrastruktur - ob in den alten oder den neuen Bundesländern - und zum anderen Bereinigung der Altlasten, die mit der Zusammenführung der beiden deutschen Bahnen verbunden waren. Wie schwierig dieser Prozess ist, zeigt nicht nur die Diskussion um die Standorte, um die es heute geht. Es geht um wesentlich mehr. Auch der Kollege Rössel weiß, dass es bei der Deutschen Bahn AG um insgesamt 175 Unternehmen mit circa 23 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern geht, die alle von derartigen Untersuchungen betroffen sind. Dass die Gleisbauausbesserungswerke, die Instandhaltungswerke und die Reichsbahn-Ausbesserungswerke auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gegenüber den Betrieben in den alten Bundesländern natürlich in der Mehrzahl waren, ist auch bekannt. Aber der jetzigen Bundesregierung vorzuwerfen, sie komme ihrer politischen Verantwortung zu wenig nach, das muss ich ganz klar zurückweisen. ({0}) Dass das nicht stimmt, beweist - Herr Kollege Albert Schmidt hat das hier schon angesprochen - das Zukunftsinvestitionsprogramm Schiene. Aber wir haben für die nächsten drei Jahre nicht nur die 6 Milliarden DM aus diesem Programm zur Verfügung, sondern setzen darüber hinaus ab 2003 aus dem Anti-Stau-Programm und den Einnahmen der streckenbezogenen LKW-Gebühr weitere 2,8 Milliarden DM ein. Bevor ich zum eigentlichen Punkt komme, möchte ich Ihnen noch verraten, dass mich gestern Abend Betriebsräte von anderen Standorten, die überwiegend in den neuen Bundesländern sind, sowie der Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Bahnindustrie, also auch ein Vertreter der Schienenfahrzeugindustrie, angerufen und mir gesagt haben: Herr Staatssekretär, die Bundesregierung will doch wohl nicht Geld in die Hand nehmen, um angesichts der vorhandenen Überkapazitäten in Görlitz, in Bautzen, bei Adtranz in Henningsdorf und in Pankow Standorte zu subventionieren; ({1}) nachdem wir in den Lokomotivbau und in die Werke, die das rollende Material - ob nun Güterwaggons oder Personenwaggons, ob Nahverkehrsmittel wie S-Bahnen oder Regionalzüge - herstellen, immens investiert haben, können wir uns doch nicht eigene Wettbewerber schaffen. Insofern muss die Bundesregierung, die insgesamt verantwortlich ist, alle Probleme beachten. Ich kritisiere aber die offensichtlich mangelhafte Informations- und Kommunikationspolitik der DB AG. ({2}) Da Sie uns aber gemeinsam von links und rechts Vorwürfe gemacht haben, ({3}) muss ich noch einmal betonen: Der Abstimmungsprozess mit den betroffenen Betriebsräten, mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern läuft seit dem 1. Januar 1998, als entsprechende Konzepte seitens der DB AG vorgestellt worden sind. Offensichtlich haben weder die Bundesregierung noch das Parlament - das gilt übrigens auch für die PDS - bisher Veranlassung gehabt, hier einzugreifen; denn selbst das GdED-Info - ich habe heute noch einmal angerufen und auch mit Herrn Mehdorn persönlich gesprochen - geht ja von einer Rückkehr an den Verhandlungstisch aus. Die Arbeitnehmervertreter haben ja seit dem 1. Januar 1998 am Verhandlungstisch gesessen und über die Prozesse gesprochen. Ich stimme Ihnen zu, dass diese Verhandlungen formalisiert werden müssen. Die Absichten der DB AG müssen Gegenstand eines Beteiligungsverfahrens nach dem Betriebsverfassungsgesetz werden.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Scheffler, da Sie, wie mir soeben gesagt worden ist, nicht für die Bundesregierung sprechen, verfügen Sie auch nur über die in einer Aktuellen Stunde normale Redezeit. Ich muss Sie also an die Redezeit erinnern.

Siegfried Scheffler (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001952

Wir fordern also, dass Betriebsräte beteiligt werden. Aber der Bund als Eigentümer erwartet von der Unternehmensführung auch, dass alle im Unternehmen möglichen Effizienzsteigerungen genutzt werden. Die Bundesregierung erwartet ferner, dass die DB AG ein Minimum an unternehmerischer Verantwortung zeigt, wie es auch bei anderen Unternehmen selbstverständlich ist. Es gibt ja auch positive Beispiele, ({0}) die von der Öffentlichkeit offensichtlich nicht wahrgenommen werden.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Scheffler, ich muss Sie noch einmal ermahnen. Ich tue das sehr ungern. Aber Sie müssen wirklich zum Schluss kommen.

Siegfried Scheffler (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001952

Frau Präsidentin, ich komme jetzt zum Schluss. Als Beispiele nenne ich das Eisenbahnwerk in Arnstadt oder in Greifswald. Insofern sind wir hier sowohl mit den Betriebsräten und der Gewerkschaft als auch mit Herrn Mehdorn einer Meinung. Sie müssen gemeinsam an den Tisch zurückkommen. Auch die Bundesregierung fordert: keine betriebsbedingten Kündigungen! Vielen herzlichen Dank.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der nächste Redner in dieser Debatte ist der Kollege Wieland Sorge. Er spricht für die SPD-Fraktion. ({0})

Wieland Sorge (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002193, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Ich werde versuchen, mich kurz zu fassen; das meiste ist gesagt worden. Wir sind eigentlich hier zusammengekommen, um darüber zu beraten, wie wir bei der Lösung der Probleme helfen können, die dadurch entstehen, dass, wie jetzt von der Presse angekündigt, 14 Werke der Bahn entweder geschlossen oder angepasst werden sollen. Da muss ich sagen, Herr Dr. Rössel und Frau Dr. Luft: Was Sie an Empfindungen haben, macht Ihnen keiner streitig. Sie haben auch das Recht, diese Dinge hier darzustellen. Ich zolle Ihnen ebenfalls meinen Respekt, wenn Sie sich bei Schwierigkeiten einsetzen, um die Dinge zu bereinigen. Aber dabei habe ich etwas vermisst: Weder bei Ihnen, Herr Dr. Rössel, noch bei Ihnen, Frau Dr. Luft - das Gleiche gilt aber für die rechte Seite - habe ich Vorschläge hören können, wie die Situation gerettet und Arbeitsplätze bewahrt werden können. Das gehört jedoch dazu. ({0}) Gestatten Sie mir noch zwei Bemerkungen. Als Ostdeutscher kann ich natürlich nicht ruhig bleiben, wenn von den 14 Werken, die hier zur Diskussion stehen, zehn in Ostdeutschland sind. Die Bahn stellt sich die Frage: Worauf können wir in diesem oder jenem Bereich verzichten, um den Auftrag, den uns der Bund gegeben hat, erfüllen zu können? Diese Entscheidung müssen wir ganz allein der Bahn zubilligen. Aber - da gebe ich Herrn Schmidt Recht, der das hier deutlich gemacht hat - wir können nicht tatenlos zusehen, weil wir eine soziale Verantwortung haben. ({1}) Damit komme ich zu Ihnen, Herr Friedrich. ({2}) Sie haben hier groß geredet, Sie würden die soziale Verantwortung in der Koalition vermissen. ({3}) - Dazu will ich das aufgreifen, was der Herr Staatssekretär gesagt hat: Seit dem 1. Januar 1998 gibt es in den Werken diese Diskussion. Wer mit diesen Werken als Abgeordneter in Verbindung stand, wird wissen, was sich dort in dieser Zeit alles abgespielt hat. Ich selbst stehe seit vielen Jahren mit solchen Werken in Verbindung. Ich nenne als Beispiel nur das RAW Meiningen, das einen - das gebe ich zu - schmerzlichen Verlust von über 1 000 Leuten zu verzeichnen hat. Wir wollten dem Werk damals schon das Licht ausdrehen, weil wir gedacht haben, dass es keine Perspektive mehr hat. Dann haben wir überlegt, welche Möglichkeiten es gibt: an der Seite der Bahn weiterarbeiten oder privatisieren. Es gab nur Schwierigkeiten. Schließlich haben sich zwei Leute als Geschäftsführer an die Spitze des Werkes gesetzt. Danach haben wir in den letzten anderthalb Jahren endlich schwarze Zahlen geschrieben, mit dem Ergebnis, dass die Bahn sagt: Ihr habt das toll gemacht, ihr habt viele Aufträge hereingeholt; wir übernehmen euch, keine Diskussion mehr. - Wir haben natürlich Geschäftsfelder hereingeholt, die mit der Bahn überhaupt nichts zu tun hatten, um so gut wie möglich arbeiten zu können. Heute haben wir wieder die Chance, Leute einzustellen. Das ist der richtige Weg! ({4}) - Gut, Herr Friedrich. Aber wieso sind wir denn allein in der Bundesrepublik für die Bürger verantwortlich? Sie doch auch! Sie sagen immer: „Machen Sie!“ Aber auch Sie sind doch Abgeordneter und haben die gleiche Verpflichtung wie wir. Nun zu dem Werk in Vacha. Dazu will ich etwas sagen, weil es in meinem Wahlkreis liegt. In diesem Werk gibt es 19 Mitarbeiter. Es ist bedauerlich, wenn sie ihre Arbeit verlieren. Es genügt natürlich nicht, Herr Dr. Rössel, dass wir hier große Reden halten. Wir können jedoch nicht unseren Einfluss in der Form geltend machen, dass wir die Bahn auffordern, das Werk in Vacha wieder funktionstüchtig zu machen und alle Entscheidungen zurückzunehmen. Wir können zur Landesentwicklungsgesellschaft gehen, wir können zu anderen Firmen, die in der Nähe sind, gehen, wir können zur Landesregierung gehen und wir können zu Verbänden gehen. Das verspreche ich Ihnen: Vacha werde ich durch diese Maßnahmen wieder zum Leben erwecken. Danke. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung angekommen. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 8. November 2000, 13 Uhr, ein. Ich bedanke mich bei allen Kolleginnen und Kollegen, die bis zum Schluss ausgeharrt haben, und wünsche allen - auch den Zuschauerinnen und Zuschauern auf der Tribüne - ein schönes Wochenende! Die Sitzung ist geschlossen.