Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
50 Jahren ist die Europäische Menschenrechtskonvention
unterzeichnet worden. Jener Tag der Unterzeichnung war
ein wichtiger Tag nicht nur in der Geschichte der Menschenrechtspolitik, sondern auch für die Bundesrepublik
Deutschland.
Erinnern wir uns: Schon im Mai 1948 waren mehr als
1 000 Delegierte aus 20 Ländern Europas in Den Haag zusammengekommen. Sie verfolgten das Ziel, ein Europa
wieder aufzubauen, das damals, nach dem Untergang von
Nazi-Deutschland, nach Völkermord und Krieg, noch
durch schreckliches Elend und furchtbare Verwüstungen
gekennzeichnet war. Europa sollte - dazu waren sie entschlossen - zu einer Region des Friedens, der Gerechtigkeit und der Menschenrechte werden. Außerdem wollten sie eine wirtschaftliche und politische Union schaffen,
die auf gemeinsamen Grund- und Menschenrechten aufbauen sollte.
Unter dem Einfluss der am 10. Dezember 1948 durch
die Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossenen Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gingen jene verantwortungsbewussten und engagierten Europäer ans Werk, um gemeinsam eine besondere europäische Charta der Menschenrechte zu formulieren. Das gelang auch. Sie konnte am 4. November 1950
unterzeichnet werden. Neben den damals zehn Mitgliedstaaten des Europarates wurde auch die junge Bundesrepublik Deutschland zum Kreis der ersten Unterzeichner
zugelassen. Das war so kurze Zeit nach dem Ende des
Zweiten Weltkrieges sehr ungewöhnlich. Wenige Monate
zuvor war die Bundesrepublik als assoziiertes Mitglied in
den Europarat aufgenommen worden. Dieser Schritt
brachte, wie Helmut Schmidt es einmal ausdrückte, den
Deutschen „die doppelte Hoffnung auf europäische Partnerschaft und Demokratie“ und die Rückkehr in die Gemeinschaft rechtsstaatlicher Demokratien.
Mit seiner Einladung zur Mitwirkung beim Wiederaufbau Europas und zur Schaffung eines stabilen europäischen Fundaments gemeinsamer Grund- und Menschenrechte brachte Europa damals der Bundesrepublik
Deutschland großes Vertrauen entgegen. Das hat uns
Deutschen ganz ohne Zweifel sehr dabei geholfen, unsere
stabile rechtsstaatliche und soziale Demokratie aufzubauen und die Grund- und Menschenrechte in unserem
Land zu verankern. Dieser damalige Vorschuss an Vertrauen verpflichtet uns auch heute zu einer besonders
wirksamen Politik in Bezug auf Menschenrechte.
({0})
Nach 50 Jahren können wir die Rolle und die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention in diesem Prozess in vollem Umfang würdigen. Die Europäische Menschenrechtskonvention ist heute ganz ohne
Zweifel zum umfassendsten und zum effektivsten regionalen Menschenrechtssystem geworden, das gegenwärtig
auf der Welt existiert. Es ist gelungen, den Schutz der
Menschenrechte trotz aller Schwierigkeiten in bemerkenswerter Weise voranzubringen. Auch wegen der Europäischen Menschenrechtskonvention ist Europa - bei allen Schwierigkeiten und bei all dem, was noch verbessert
werden muss - zu dem Kontinent geworden, in dem Menschenrechte und Menschenrechtsschutz einen hervorragenden Platz einnehmen. Allerdings galt das während des
Kalten Krieges und der Teilung Europas freilich
zunächst nur für den westlichen Teil.
Nach der Überwindung von Mauern und Stacheldrahtzäunen bemühen sich heute alle 41 Mitgliedstaaten
des Europarates, Menschenrechte und Menschenrechtsschutz in ganz Europa zu verankern. Dabei ist die Europäische Menschenrechtskonvention zur Eintrittskarte in
ein Europa der Menschenrechte, des Friedens, der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts - man spricht auch
vom Dreiklang von Demokratie, Menschenrechten und
Rechtsstaat - geworden. Damit wiederholt sich nach der
Überwindung der Spaltung Europas das, was wir Deutsche in der jungen Bundesrepublik Deutschland nach dem
Krieg vor 50 Jahren erleben durften: der Aufbau Europas
durch Schaffung einer - jetzt größeren - Gemeinschaft
demokratischer Rechtsstaaten.
Präsident Wolfgang Thierse
Worin liegen nun die Besonderheit und die Bedeutung
der EMRK? Der Präsident des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs in Straßburg, Luzius Wildhaber,
hat die Entwicklung einmal so zusammengefasst: Nach
50 Jahren
wissen wir: Die Konvention war ihrer Anlage nach
von Anfang an ein Text, der geeignet war, auf die
Rechtsordnungen der Vertragsstaaten einschneidend
und entscheidend zu wirken. Mit ihrem Vertrauen in
die Europäische Menschenrechtskommission und in
den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
waren es die Bürger, die mit ihrem Gang nach Straßburg den Konventionsorganen die Möglichkeit gaben, die Rechte und Freiheiten der Konvention zur
Wirkung zu bringen.
In der Tat waren die Auswirkungen jener Konvention
tief greifend. Allerdings waren sie bei uns in der Bundesrepublik Deutschland national weit weniger spürbar als in
den anderen Mitgliedstaaten. Das ist leicht zu erklären,
weil die einklagbaren Grund- und Freiheitsrechte der
EMRK, also das Recht auf Leben, das Verbot von Folter,
Sklaverei und Zwangsarbeit, das Recht auf Freiheit, auf
Sicherheit, auf wirksame Beschwerde, auf ein faires Verfahren, auf Achtung des Privat- und Familienlebens und
auf Eheschließung, die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, die Freiheit der Meinungsäußerung, die
Versammlungs- und Vereinsfreiheit, das Diskriminierungsverbot und der wichtige Grundsatz, dass keine
Strafe ohne geltende Gesetze ausgesprochen und verhängt
werden darf, in unserer nationalen Grundrechteordnung
verankert sind. Zudem sind diese Rechte im Grundgesetz
präziser formuliert und in einigen Teilen gehen sie weit
über die Europäische Menschenrechtskonvention hinaus.
Lediglich - auch das soll erwähnt werden - der Grundsatz der Versammlungsfreiheit und der Vereinigungsfreiheit ist in der Europäischen Menschenrechtskonvention
als Jedermannsrecht verankert und damit weiter ausgestaltet als in der Bundesrepublik Deutschland.
Hinzu kommt, dass bei uns die Individualbeschwerde
zum Europäischen Gerichtshof im Bewusstsein unserer
Bevölkerung durch unsere außerordentlich bedeutungsvolle und auch weit reichende nationale Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe etwas verdrängt oder zumindest zurückgedrängt wurde.
Dennoch können und wollen wir festhalten, dass die
Einführung der Individualbeschwerde, die nun neben der
Staatenbeschwerde besteht, ein absolutes Novum im Völkerrecht darstellt und einen wichtigen Meilenstein markiert, und zwar sowohl auf europäischer Ebene als auch
- das sollten wir nicht vergessen - in jenen Mitgliedstaaten, die weniger wirksame Systeme des gerichtlichen
Grundrechtschutzes kannten oder kennen als wir in der
Bundesrepublik Deutschland. Dort hat sie große Wirkung
gezeigt und - genau wie die Verfassungsbeschwerde in
Deutschland - ganz entscheidend dazu beigetragen,
Grund- und Menschenrechte durchzusetzen und sie für
die Bürgerinnen und Bürger in der Praxis erfahrbar zu
machen. Damit hat die Individualbeschwerde die Grundund Menschenrechte nicht nur zum gesicherten Bestand
der europäischen Rechtskultur werden lassen, sondern
auch zu deren Verankerung im Bewusstsein der Menschen
beigetragen.
({1})
Insgesamt besitzt heute die Europäische Menschenrechtskonvention - auch das kann festgestellt werden ihre besondere Bedeutung deshalb, weil sie einen gesamteuropäischen Mindeststandard an Grund- und Menschenrechten enthält und damit - dies gilt auch für die
Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes - nicht allein die Tradition eines Landes repräsentiert und in die Rechtsprechung einbringt, sondern
die ganz unterschiedlichen Rechtstraditionen, Befindlichkeiten und Zustände der 41 verschiedenen Mitgliedstaaten des Europarates.
Sie gilt heute - das macht ebenfalls ihre Bedeutung aus für mehr als 800 Millionen Menschen und sichert für sie
alle einen Mindeststandard an Grund- und Menschenrechten. Das sucht auf der Welt seinesgleichen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einiges zur
Geschichte und zu den Auswirkungen der Europäischen
Menschenrechtskonvention in den letzten 50 Jahren in Erinnerung rufen: Bekanntlich wurde die EMRK durch elf
präzisierende Zusatzprotokolle ergänzt, die teilweise
selbst Bestandteil der EMRK geworden sind. Nächste
Woche wollen wir im Rahmen des Festaktes in Rom das
12. Zusatzprotokoll unterzeichnen. In ihm geht es darum,
auch auf gesamteuropäischer Ebene den Schutz vor Diskriminierungen auszubauen.
Eines dieser Protokolle, nämlich das 6. Zusatzprotokoll zur Abschaffung der Todesstrafe, möchte ich wegen seiner besonderen Bedeutung erwähnen. Wir haben
auf nationaler Ebene in unserem Grundgesetz die Abschaffung der Todesstrafe längst festgeschrieben. Das ist
gut so. Der Grund dafür liegt vor allem in unseren Erfahrungen mit der Nazidiktatur, in der aufgrund der damals
bestehenden Rechtlosigkeit ungehemmt auch Gerichte als
Mordinstrumente eingesetzt wurden und massenhaft tödlicher Machtmissbrauch getrieben wurde. Solche Erfahrungen, die Erfahrungen anderer Länder mit Machtmissbrauch und nicht mehr korrigierbaren gerichtlichen
Fehlurteilen, aber auch die gültigen Gründe der Moral,
der Menschlichkeit und der Rechtskultur sowie daneben
ganz praktische Erwägungen darüber, was eine wirksame
rechtsstaatliche Kriminalpolitik verlangt, all das ist in das
6. Zusatzprotokoll eingeflossen.
Dieses Zusatzprotokoll hatte große Wirkungen: Es hat
geholfen, die Todesstrafe in Europa Schritt für Schritt
zurückzudrängen. Nur ein einziges Europaratsmitglied,
nämlich die Türkei, hat dieses Zusatzprotokoll bisher
nicht unterzeichnet. Das und andere Probleme im Menschenrechtsbereich weisen darauf hin, wie viel noch zu
tun ist. Aufforderungen zu Wandel und effizienter Menschenrechtspolitik sind gerade deshalb nicht allein Teil
der Politik des Europarates gegenüber der Türkei, sondern
auch Teil unserer Politik im Rahmen unserer zwischenstaatlichen Beziehungen.
Polen und Russland haben das Zusatzprotokoll noch
nicht ratifiziert. Dennoch ist Europa - das lässt sich heute
mit großer Genugtuung feststellen - zu einer Region nahezu ohne Todesstrafe geworden.
Jetzt zu einem anderen Punkt: Ich möchte darauf
zurückkommen, dass der Präsident des Europäischen
Menschenrechtsgerichtshofes das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in den Menschenrechtsgerichtshof als
Teil der Erfolgsgeschichte der Europäischen Menschenrechtskonvention gewürdigt hat. Er hat dies zu Recht
getan. Denn in der Tat, wenden sich der immer mehr
Menschen mit einer Individualbeschwerde an den Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg, der seit zwei Jahren
als ständiges Gericht mit je einem hauptamtlichen Richter
pro Mitgliedstaat arbeitet. Wir wissen, dass seine Urteile
jene von nationalen Gerichten nicht aufheben können,
auch keine Verwaltungsakte und keine nationalen Gesetze. Auch können sie einen Staat nicht zu Gesetzen oder
Verwaltungsakten verpflichten.
Dennoch entfalten seine Entscheidungen große Wirkungen, und zwar aus folgenden Gründen: Zum Ersten
gibt es nationale Vorkehrungen wie bei uns in Deutschland. Wir haben zum Beispiel mit der Möglichkeit zur
strafverfahrensrechtlichen Wiederaufnahme eine dieser Wirkungen in Gang gesetzt. Zum Zweiten ist aber
auch die Zuerkennung von Entschädigungen für den in
seinen Menschenrechten verletzten Kläger eine wirksame
Maßnahme. Die Mitgliedstaaten müssen diese Entschädigungen bezahlen. Sie sind durchaus spürbar. Zum Dritten
wirkt sich auch die Erwartung der europäischen Rechtsgemeinschaft sehr deutlich dahin aus, dass nationale Gesetze, die der Europäischen Menschenrechtskonvention
nicht entsprechen, zügig geändert werden. Das wird durch
das Ministerkomitee des Europarates kontrolliert.
Lassen Sie mich noch hinzufügen: Weil mit den Verfahren in Straßburg häufig allgemeine Missstände der
Menschenrechtspraxis in einem Land deutlich und damit
publik gemacht werden, beschränken sich die Auswirkungen eines Urteils - ganz ungeachtet seiner begrenzten
juristischen Bindungswirkung - keineswegs auf Einzelfälle. All das zusammen ergibt den derzeitigen wirksamen
Menschenrechtsschutz.
In diesem Jahr sind bisher 15 000 Verfahren in Straßburg registriert und geprüft worden. Das bedeutet gegenüber dem letzten Jahr einen Anstieg um 22 Prozent. Bis
Ende des Jahres rechnet man mit 16 000 bis 17 000 Verfahren.
Aus welchen Staaten kommen denn nun die Beschwerdeführer? Die Antwort auf diese Frage gibt uns
Hinweise darauf, wo bestimmte Menschenrechtsfragen
nicht in Ordnung sind. Auch das muss öffentlich besprochen und diskutiert werden: im Europarat, aber auch zwischen den Staaten sowie zwischen dem Gerichtshof und
den Staaten selbst. Wiederum steht die Türkei mit etwa
2 500 Verfahren an der Spitze. Das ist einerseits ein Zeichen des zunehmenden Vertrauens der türkischen Bürgerinnen und Bürger in die EMRK und in den Menschenrechtsgerichtshof. Es zeigt aber andererseits, dass hier
noch viel zu tun ist.
Nehmen wir ein anderes Land. Aus Italien kommen
2 000 Verfahren. Dort steht in aller Regel - deswegen betone ich das - die Überlänge von gerichtlichen Verfahren
im Vordergrund, die ebenfalls den Grundsatz des fairen
Verfahrens verletzen und damit Menschenrechte beeinträchtigen können. Auch hier wird ständig auf Abänderung der Gesetze und der Verfahren gedrängt.
Aber auch die Bundesrepublik Deutschland hat keinen
Grund, in irgendeiner Weise überheblich zu sein. Aus unserem Land kommen noch immer 400 bis 500 Beschwerden nach Straßburg. Wir sind hier voll eingebunden. Ganz
offensichtlich gibt es einen Bedarf.
Insgesamt aber - das zeigt eine neue, sehr interessante
Entwicklung - kommt im Jahr 2000 zum ersten Mal die
Mehrzahl aller Beschwerden aus den 17 neuen Mitgliedstaaten Mittel- und Osteuropas, die dem Europarat und
der Europäischen Menschenrechtskonvention vor einigen
Jahren beigetreten sind. Das heißt, auch in diesem Teil Europas nehmen das Bewusstsein und die Kenntnis der
Menschenrechte und - lassen Sie mich das wiederholen das Vertrauen in das europäische Menschenrechtschutzsystem zu.
Aus Russland kommen über 1 000 Beschwerden. Ein
erheblicher Teil bezieht sich übrigens auf den Tschetschenien-Krieg.
Diese Zahlen zeigen nicht nur die Wirksamkeit und das
Vertrauen in diesen Schutz der Menschenrechte, sondern
sie weisen natürlich auch auf einen Problembereich hin,
der ebenfalls besprochen werden muss: auf die Gefahr,
dass der Menschenrechtsgerichtshof zum Opfer seines eigenen Erfolgs wird, weil er mit Beschwerdeverfahren
überschwemmt wird. Hier beginnt die Verpflichtung der
Bundesrepublik Deutschland - von der ich vorher gesprochen habe - Abhilfe zu schaffen. Ich erkläre an dieser
Stelle: Die Bundesregierung bejaht ihre Verantwortung.
Wir werden alles in unseren Kräften Stehende tun, um die
Arbeitsfähigkeit des Menschenrechtsgerichtshofes zu erhalten.
({2})
Das bedeutet nicht nur, dass man die Arbeitsweise unterstützt oder mit finanziellen und praktischen Mitteln
hilft, sondern das kann auch bedeuten, dass man dafür
sorgt, die Entscheidungen dieses Gerichtshofs durch
Übersetzungen in allen Sprachen der Mitgliedstaaten bekannt zu machen. Bisher gibt es zwei Amtssprachen.
Natürlich ist die weitergehende Übersetzung ein teueres
und lästiges Geschäft; das ist gar keine Frage. Aber die
Entscheidungen von europäischen Gerichten können nur
dann in den jeweiligen Nationalstaaten zur Kenntnis genommen, rezipiert und dann dort in ihrer Vorbildfunktion
beachtet werden, wenn sie in der jeweiligen Landessprache zur Verfügung stehen. Das sehen wir an der Wirksamkeit der Urteile des Europäischen Gerichtshofs in
Luxemburg, wo das ja so ist. Es ist aber doppelt so notwendig für den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof
und seine Aufgabe, für 41 ganz unterschiedliche Staaten
einen gemeinsamen Bestand an Grund- und Menschenrechten zu sichern. Ich glaube, auch hier kann die Bundesrepublik Deutschland helfen.
Neben den juristischen Instrumenten der Staaten und
der Individualbeschwerde gibt es eine Menge politischer
Instrumente, die ihre Wirksamkeit sehr deutlich bewiesen
haben. Lassen Sie mich zwei nennen, die präventiv wirken: den 1987 durch das Europäische Übereinkommen
zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe geschaffenen AntiFolter-Ausschuss, der die Aufgabe hat, in den Mitgliedstaaten die Rechte gerade jener Menschen zu sichern,
denen die Freiheit entzogen wurde, und die 1993 durch
den Wiener Gipfel der Staats- und Regierungschefs eingesetzten so genannten Country-by-country-Gruppen
der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz, ECRI. Auch die Bundesrepublik Deutschland ist
in diese politischen Instrumente eingebunden.
Der Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher Behandlung geht nicht nur in anderen Ländern, sondern auch bei uns in psychiatrische Anstalten,
Haftanstalten und Einrichtungen, in denen Asylsuchende
festgehalten werden. Findet er Mängel oder Beanstandungen, fasst er diese in einem Bericht zusammen und
legt sie der internationalen Gemeinschaft, aber auch der
Bundesrepublik Deutschland vor; er gibt konkrete Empfehlungen und drängt darauf, dass abgeholfen wird.
Die Country-by-country-Gruppen untersuchen, was
Mitgliedstaaten gegen Rassismus und Intoleranz in ihrem
jeweiligen Staat tun; gerade in dieser Woche ist eine Delegation in der Bundesrepublik Deutschland. Wir werden
ihr eine Menge zu erklären haben - ich denke, das können
wir auch tun -: nicht nur, dass die Bundesrepublik, und
zwar auf allen Ebenen, mit Polizei und Justiz gegen Gewalt, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit vorgeht, sondern dass wir alle auch deutlich auf die Zivilcourage der
Bürgerinnen und Bürger, auf ihren Anstand und auf ihr
Engagement zur Durchsetzung der Menschenrechte in
diesem Bereich setzen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute gilt die Europäische Menschenrechtskonvention für 800 Millionen
Menschen. Aber der Beitritt zu dieser Konvention - wie
auch der Beitritt zum Europarat - bedeutet noch mehr: Er
stellt politisch einen wichtigen Schritt zum EU-Beitritt
dar. Aktive Mitarbeit in der Menschenrechtspolitik ist ein
Vorbereitungsschritt für einen späteren Beitritt zur Europäischen Union. Über Art. 49 und Art. 6 des EU-Vertrages ist die Europäische Menschenrechtskonvention praktisch Teil des Gemeinschaftsacquis. Die Bundesrepublik
unterstützt bekanntlich Staaten in Mittel- und Osteuropa
auf ihrem Weg zum demokratischen Rechtsstaat. Mit dieser Hilfe beim Aufbau geben wir das Vertrauen weiter, das
wir selber nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten haben.
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf einen anderen
wichtigen Punkt hinweisen. Vor kurzer Zeit hat der Deutsche Bundestag den Text der neu erarbeiteten Europäischen Grundrechte-Charta der Europäischen Union
diskutiert und ausdrücklich begrüßt, dass es gelungen ist,
die Europäische Menschenrechtskonvention, den Bestand
an nationalen Grundrechten in den Mitgliedstaaten und
die Grundrechterechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg sowie auch die nationalen
Grundrechteordnungen zu dieser gemeinschaftlichen,
modernen Charta weiterzuentwickeln.
Das Verhältnis zwischen dieser Grundrechte-Charta
und der EMRK ist klar und durch die Charta selbst geregelt; Konflikte sind deshalb ausgeschlossen. Die Konvention ist wichtige Quelle, eine Art von Mindestgarantie.
Die Europäische Grundrechte-Charta trägt dazu bei, den
europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des
Rechtes im Bereich der EU auszubauen und zu festigen.
Sie ist präziser, umgreift ein höheres Schutzniveau und ist
insgesamt moderner. Ich stelle das fest, weil ich glaube,
dass die Charta uns weiterbringt, und weil die Grundrechte-Charta vielleicht auch als ein Vorbild für die Weiterentwicklung der Europäischen Menschenrechtskonvention dienen kann, die vor 50 Jahren sozusagen als
erstes europäisches Gesetz in schwieriger Zeit den Boden
dafür bereitet hat, auf dem wir heute weiterarbeiten können.
Die Bundesregierung und der Bundestag haben die
Menschenrechtspolitik zu einem ihrer wichtigen Schwerpunkte erklärt. Wir kommen voran. Die Arbeit des
Menschenrechtsausschusses und der erweiterte Menschenrechtsbericht, der auch eine Übersicht über das enthält, was wir in unserem eigenen Land erreicht haben und
was wir noch tun müssen, zeigen das ebenso wie das
beabsichtigte eigenständige und unabhängige Menschenrechtsinstitut. Wir betonen die Menschenrechtspolitik auch auf internationaler Ebene und führen Rechtsstaatsdialoge. Morgen werden wir voraussichtlich die
Voraussetzungen zur Ratifizierung des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs durch die Bundesrepublik
Deutschland schaffen können. Das alles ist gut für die
Menschenrechte und ihren Schutz.
Der große Europäer Carlo Schmid hat in der Debatte
des Deutschen Bundestages über den Beitritt zur EMRK
erklärt, es gehe darum,
die Verteidigung der Sache der Freiheit des Einzelmenschen aus der bloßen Sphäre der nationalstaatlichen Jurisdiktion herauszunehmen und zu einer internationalen Angelegenheit, zu einem Anliegen der
Völker, zu machen.
Das ist gelungen und diesen Weg werden wir fortsetzen.
Danke schön.
({4})
Ich erteile dem Kollegen Christian Schwarz-Schilling, CDU/CSU-Fraktion,
das Wort.
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Immanuel Kant hat von den universellen Menschenrechten gesprochen und sie als Ausprägungen der gleichen
Freiheit eines jeden Menschen nach seiner Natur interBundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
pretiert. Aber unsere historische Erfahrung zeigt, dass die
Umsetzung dieser Rechte und dieses Menschenbildes in
die Politik und in die Strukturen unserer gesellschaftlichen Situation ein ganz mühsamer Prozess ist, der ständiges Argumentieren, Diskutieren und Appellieren an die
Vernunft sowie das Wegräumen von Barrieren auch aus
früheren Zeiten erfordert.
Die Macht von Diktatoren in totalitären Staaten wird
nicht von einem Tag auf den anderen gebrochen; es dauert manchmal lange, zu lange. Das zeigen die Leiden der
Menschen, wie wir sie auch heute sehen können. Der
Weg, den Jugoslawien genommen hat, bietet ein gutes
Beispiel dafür, wie lange es dauert, welche Kernerarbeit
geleistet werden muss und wie sehr diejenigen, die eine
solche Charta vereinbart und verabschiedet haben, in der
aktiven politischen Handlung versagen, wenn es darauf
ankommt. Wir können nur bestehen, wenn wir das, was
wir in dieser Charta festgelegt haben, jeden Tag wieder
mit neuem Leben erfüllen.
Es ist kein Zufall, dass nach 1945, in der Zeit nach dem
Zweiten Weltkrieg, als wir auf dem Scherbenhaufen unserer Geschichte standen, eine ganze Reihe von solchen
Dokumenten entstanden ist: 1945 die sehr beachtliche
Gründungsentschließung der Vereinten Nationen, 1948
die Charta der Menschenrechte der Vereinten Nationen,
die allerdings keine völkerrechtlichen Bindungen ermöglichte, und dann 1950 die Europäische MenschenrechteCharta; die am 4. November feierlich unterzeichnet
wurde - ein Dokument von ganz besonderer Bedeutung
des 1949 gegründeten Europarates und wahrscheinlich
das gewichtigste Dokument, das dieser Europarat als eine
gewaltige Perspektive der Zukunft hervorgebracht hat.
Europa ist aus dem Schatten herausgetreten. Wir haben
weiß Gott viele, zu viele Ideologien um die Welt geschickt, die viele Katastrophen und Leiden angerichtet haben. Aber die Europäische Menschenrechte-Charta ist ein
Dokument, das um die Welt gegangen ist und auf das wir
stolz sein können. Auch das gehört zu Europa, ich möchte
fast sagen: Das ist in Wirklichkeit Europa.
({0})
Wir müssen nur an die großen geistigen Entwicklungen
und Ideen denken, angefangen von der Stoa von 300 vor
Christus, in der bereits das Schaffen von Recht und Gesetz als die wichtigste Aufgabe der menschlichen Natur
bezeichnet wurde, über die - im Mittelalter - Magna
Charta von 1215, in der Gruppen und Korporationen der
Gesellschaft die Möglichkeit eingeräumt wurde, sich eigene Rechte gegenüber dem Staat zu sichern, über die Habeas-Corpus-Akte von 1679, in der bereits das Individualrecht, der Schutz des Individuums vor staatlichen
Übergriffen, niedergelegt wurde, bis hin zu den Bill of
Rights von 1776 und der Französischen Revolution von
1789, in der gefordert wurde, dass es natürliche Rechte
des Menschen gibt und dass diese nur durch die Rechte
anderer Menschen eingeschränkt werden dürfen.
Die Europäische Menschenrechtskonvention ist - das
wurde eben schon von der Frau Justizministerin gesagt damals etwas Einzigartiges und etwas Wegweisendes gewesen. Sie hat sich dazu verstanden, ein bindender
völkerrechtlicher Vertrag mit der Verpflichtung für alle
Vertragspartner zu sein, allen Bürgern, die der Hoheitsgewalt der Vertragspartner unterworfen sind, grundlegende
Menschenrechte einzuräumen und eine Überwachung der
Einhaltung dieser Menschenrechte in ihrem Hoheitsbereich zuzulassen. Auch das ist vollkommen neu. Des Weiteren sind Urteile des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte rechtsverbindlich für alle Partnerstaaten.
Das hat es bisher nicht gegeben. Hier zeigt sich die Fantasie Europas, die sich aus der Tradition entwickelt hat,
die ich eben aufzuzeigen versucht habe.
Nach der Unterzeichnung des 11. Zusatzprotokolls im
Mai 1994, das am 1. November 1998 in Kraft trat, ist
keine gesonderte Unterwerfungserklärung der Staaten
mehr erforderlich, um den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Rechtsgültigkeit zu verleihen; denn die Mitglieder der Europäischen Union sind
nach dem In-Kraft-Setzen des 11. Zusatzprotokolls automatisch der Rechtsprechung dieses Gerichtshofs unterworfen. Darüber kann es keine Diskussion mehr geben.
Zu dieser Unterwerfung haben wir uns alle verpflichtet.
Außerdem wurden hauptamtlich tätige Richter eingesetzt. Auch das ist ein wesentlicher Punkt; denn bis in
die 80er-Jahre hinein wurden die Sitzungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nur von nebenamtlich tätigen Richtern geleitet, die zwar - sehr konzentriert - einige Male pro Jahr tagten, dann aber nicht mehr.
Auf diese Weise konnten gerade einmal sieben Urteile pro
Jahr gefällt werden. Das ist nun vorbei. Im Mai dieses Jahres waren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 13 771 Verfahren anhängig, von denen 10 000 noch
nicht einmal geprüft worden waren. Deswegen müssen
wir dafür sorgen, dass der Gerichtshof angemessen ausgestattet wird - daran sollten wir immer denken -, um die
Prozesse nicht zu bürokratisch und damit wirkungslos
werden zu lassen. Die Gefahr, dass das geschieht, ist momentan sehr groß. Schließlich ist ein völkerrechtlich verankertes Individualrecht auf Beschwerde ebenfalls etwas
Neues in unserer Welt.
Die Europäische Menschenrechtskonvention gilt - das
ist großartig; daran kann man sich berauschen - mittlerweile für 800 Millionen Menschen in Europa, von Island
bis zum Gelben Meer. Aber wir müssen hier im Kernbereich Europas gewissermaßen ein Nukleus sein, um die
Kompetenz, die erforderlich ist, um das, was damit geschaffen wurde, mit Leben zu erfüllen, auch sichtbar zu
machen. Der Bund hat in diesem Bereich große Aufgaben
übernommen. Ich sage deshalb an die Adresse des Außenministers: Uns fällt eine große Verantwortung bei der
Beurteilung menschenrechtlicher Tatbestände im Ausland
zu, weil diese Beurteilungen in unsere innerdeutsche
Rechtsprechung einfließen werden und sie für die Menschen, die sich in Deutschland in einem Asyl- oder Bürgerkriegsflüchtlingsverfahren befinden, Leben oder Tod
bedeuten können, in jedem Fall schicksalsentscheidend
sind. Das ist eine unglaubliche Verantwortung, der wir
uns offensichtlich - ich muss sagen: jedenfalls manchmal - nur sehr zögerlich bewusst werden.
Auch die deutschen Bundesländer stehen in der Verantwortung; denn hinsichtlich dessen, was nach dem
Grundgesetz in ihre Zuständigkeit fällt, ist noch viel anzupacken. Ein positiver Beitrag der Bundesländer zu diesem dynamischen Prozess im 21. Jahrhundert ist sehr erwünscht. Auch da muss man die Dinge neu prüfen und
genau sehen, was die Anforderungen sind, die über diese
europäische Konvention an unsere Zuständigkeiten gestellt werden. Dieses Bewusstsein ist noch sehr schwach
ausgebildet. Das muss ich einmal deutlich sagen.
({1})
Meine Damen und Herren, vergessen wir auch nicht
die großen Leistungen, die uns die Nichtregierungsorganisationen auf diesem Feld vormachen. Was würde alles
unter den Teppich gekehrt, wenn wir die nicht hätten! Was
würde alles gar nicht erscheinen!
({2})
Diesen Organisationen kann man nur danken. Ich rate all
denen, die es auch bei uns gibt, ihre Arroganz gegenüber
diesen Organisationen mehr und mehr abzustreifen, denn
sie sind die wahren Wahrer europäischer Tradition und
europäischer Kultur, ob man das jetzt „Leitkultur“ nennt
oder nicht. Das, meine Damen und Herren, sind die Fragen, die Europa ausmachen, und das ist auch die deutsche
Verfassungskultur, die in Deutschland das Grundgesetz
ausmacht. Wenn wir uns darauf verstehen, braucht man
auch nicht mehr darüber zu streiten.
({3})
Lassen Sie mich zum Schluss Folgendes sagen: Der
große Völkerrechtler Hugo Grotius, der im Übrigen fast
sein ganzes Leben im Exil leben musste, auch damals in
Europa, hat schon im 16. Jahrhundert gesagt: Wir müssen uns mit allen unseren Kräften -„omnibus viribus“ jetzt und jederzeit gegen das Herabfließen der Dinge
wehren. - Das heißt, er hat erkannt, dass die Natur des
Menschen es leider zulässt, dass ein erreichter Stand ganz
schnell wieder hinunterfließen kann.
Das kann uns hier ganz genauso passieren. Was haben
wir nicht schon alles auch vor den 30er-Jahren an Errungenschaften gehabt, und dennoch müssen wir feststellen,
dass der Barbarei, die dann gekommen ist, kein energischer Widerstand entgegengesetzt wurde, trotz schon damals bestehender Verpflichtungen.
Nein, auf diesem Feld müssen wir die Dinge, die vor
uns liegen, anpacken und jede Generation muss wenigstens ein sichtbares Stück auf diesem beschwerlichen Weg
weiter nach oben gehen. Das ist politische Arbeit und
gleichzeitig Arbeit an unserer Kultur. Daran wird sich
auch entscheiden, nach welchem Leitbild die junge Generation ihren Beitrag leisten wird.
Ich danke Ihnen.
({4})
Ich erteile dem Kollegen Rudolf Bindig, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat ist mit der Europäischen
Menschenrechtskonvention ein einzigartiges System zum
Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten geschaffen worden. Die Frau Ministerin und mein Vorredner
haben dies bereits gewürdigt, und ich kann mich dieser
Würdigung anschließen. Ich kann deshalb meine Ausführungen auf drei Bereiche konzentrieren, in denen es in
einem gewissen Sinne Probleme gibt, die beachtet werden
müssen, damit wir dieses wertvolle Schutzsystem erhalten können. Es geht um die Arbeitsfähigkeit des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, es geht um die
Probleme bei der Umsetzung der Urteile und um das Verhältnis der Europäischen Menschenrechtskonvention zur
Europäischen Grundrechte-Charta.
Herzstück des gesamten Systems ist der Gerichtshof.
Es muss ihm ermöglicht werden, dass er zeitgerecht qualitativ hochwertige Urteile fällt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht sich einer dramatisch
wachsenden Zahl von Fällen ausgesetzt. Einige Zahlen
sind genannt worden. Ich will das noch einmal in die
Reihe bringen.
Während sich die Zahl der jährlich registrierten Beschwerden von 404 im Jahre 1980 auf 2 037 im Jahre
1993 verfünffacht hat, hat sich diese Zahl nach der Erweiterung in Richtung Osteuropa bis 1997 nochmals auf
4 750 verdoppelt. Von 1997 bis 1999 gab es erneut eine
Zunahme um 77 Prozent. Diese Tendenz wird sich weiter
fortsetzen. Nach realistischen Schätzungen des Präsidenten des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, des Schweizers Luzius Wildhaber, muss bei derzeit 41 und künftig 43 Mitgliedstaaten und 800 Millionen
Beschwerdeberechtigten mit circa 20 000 Beschwerden
pro Jahr gerechnet werden. Dies kann mit der derzeitigen
Ausstattung nicht bewältigt werden. Der Gerichtshof wird
schon in diesem Jahr, aber auch, wenn sich daran nichts
ändert, im Laufe der nächsten Jahre einen erheblichen
Rückstand aufbauen und den Erwartungen, die die Menschen in Europa diesem Rechtsschutzsystem entgegenbringen, nicht mehr voll gerecht werden können. Eine restriktive Budgetpolitik auf der Grundlage eines so
genannten realen Nullwachstums bei den Mitteln für den
Europarat, wie es von den so genannten großen Beitragszahlern, darunter auch Deutschland, betrieben wird, passt
mit einem drastischen Wachstum der Fälle einfach nicht
zusammen.
({0})
Es wird sonst zu einem K.o. kommen. Der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte wird genau jenes Problem haben, welches er selber in Urteilen oft verurteilt,
nämlich dass es überlange Verfahrensdauern gibt.
Dem Gerichtshof geht es dabei ähnlich wie den anderen Institutionen des Europarates. Der Präsident der ParDr. Christian Schwarz-Schilling
lamentarischen Versammlung, Lord Russell-Johnston, hat
das neulich etwas verbittert wie folgt ausgedrückt: Regelmäßig kommen zum Europarat Staats- und Regierungschefs, halten in der Versammlung eine Rede, loben
und preisen den Europarat und seine Institutionen und
würdigen den Beitrag des Europarates zum Schutz der
Menschenrechte, zur Förderung von Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit und gehen, ohne zu beachten, dass
gute Arbeit auch ihren Preis hat. Man könne, so Lord
Russell-Johnston, auch nicht in ein gutes Restaurant gehen, hervorragend speisen und gut trinken und dann glauben, dafür müsse man keinen angemessenen Preis zahlen
oder man bekomme dies zu einem Preis für ein Kantinenessen.
({1})
Präsident Wildhaber - ich habe ihn danach gefragt schätzt, dass das Problem von allen Mitgliedsländern mit
etwa 3 Millionen Euro gelöst werden könne. Nach dem
üblichen Schlüssel wären das für Deutschland
450 000 Euro. Es müsste doch möglich sein, dies aufzubringen.
({2})
Ein weiterer Problemkreis ist die Umsetzung der Urteile. Die Staaten müssen einmal die Urteile in den Fällen
umsetzen, an denen sie selbst beteiligt sind. Die Staaten
müssen aber auch beachten, dass andere Fallentscheidungen Auswirkungen auf das eigene Rechtssystem und die
eigene Rechtspraxis haben. Es ist die Aufgabe des Ministerkomitees, die Ausführung der Urteile zu überwachen.
Die Konvention sieht jedoch keine Sanktionen vor, wenn
ein Staat die Urteile des Gerichtshofes nicht ausführt. Hier
gibt es Anlass zu wachsender Sorge. Es gibt bisher Gott sei Dank - nur einige wenige Fälle, in denen die betroffenen Staaten die Urteile nicht oder nur unzureichend
umgesetzt haben. Es kann aber auch sein, dass sie nicht
die notwendigen Reformen vornehmen, die sie eigentlich vornehmen müssten, um weitere Verletzungen zu
vermeiden. Die Gründe dafür mögen vielfältig sein:
Schwierigkeiten bei der Interpretation der Urteile, politische Gründe, finanzielle Gründe, Schwierigkeiten, dies
vor der öffentlichen Meinung im Lande umzusetzen.
Trotzdem ist es äußerst wichtig, dass darauf geachtet
wird, dass die Urteile wirklich ausgeführt werden. Damit
steht und fällt das ganze System. Es besteht sonst die Gefahr, dass all das unterminiert wird, was in 40 Jahren seit
Bestehen der Maschinerie aufgebaut und an Vertrauen geschaffen worden ist.
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates
hat sich mit dieser Problematik befasst und hat vorgeschlagen, dass einige Änderungen vorgenommen werden
sollten. Dem Ministerkomitee müssen erweiterte Kompetenzen zur Überwachung der Einhaltung der Urteile zugeteilt werden. Es muss sogar daran gedacht werden, ein
System, gegebenenfalls ein Strafgeldsystem, für diejenigen Staaten zu schaffen, die sich hartnäckig weigern, die
Urteile umzusetzen.
Obwohl es nur wenige solche Fälle gibt, muss dies bereits heute sehr ernsthaft diskutiert werden; denn es ist zu
befürchten, dass das Problem mit der anwachsenden Zahl
der Fälle, die aus den neuen Beitrittsländern kommen, an
Bedeutung zunehmen wird und dass die Bereitschaft zur
Umsetzung der Urteile eher abnehmen wird. Deshalb
muss im heutigen Stadium den Anfängen gewehrt und gegengearbeitet werden.
Als dritten Problemkreis möchte ich das Verhältnis der
Europäischen Menschenrechtskonvention zur Europäischen Grundrechte-Charta anschneiden. Der Grundgedanke der Europäischen Menschenrechtskonvention ist ja
folgender: Man hat einerseits ein in sich geschlossenes
Rechtssystem, in unserem Staat zum Beispiel das Grundgesetz als Maßstab für die nationale Gesetzgebung, dann
die einzelnen Gesetze und zur Überprüfung die obersten
Bundesgerichte oder das Bundesverfassungsgericht. Die
Idee der Europäischen Menschenrechtskonvention ist
nun, dass man eine Kontrollmöglichkeit von außen hat,
um dieses System gegebenenfalls zu überprüfen. Das
macht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.
Übertragen wir das auf die europäische Ebene, dann haben wir jetzt die europäische Grundrechte-Charta als
Grundlage des Gemeinschaftsrechts, dann das Gemeinschaftsrecht und den Europäischen Gerichtshof. Auch
dieses System könnte eine Überprüfung von außen gebrauchen. Eine solche Überprüfung könnte nur dadurch
erfolgen, dass die Europäische Union der Europäischen
Menschenrechtskonvention beitritt.
({3})
Dann bestünde die Möglichkeit, auch dieses System über
den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof zu überprüfen.
({4})
Diejenigen hier im Deutschen Bundestag, die im Europarat aktiv sind, haben sich dafür eingesetzt, dass die Versammlung diese Forderung erhebt. Es gibt hierzu eine
breite Unterstützung. Ich fordere hier die Regierung auf,
im Ministerkomitee und in der Europäischen Union die
Arbeit aufzunehmen. In beiden Institutionen müssen Änderungen vorgenommen werden, damit die Europäische
Union der Europäischen Menschenrechtskonvention beitreten kann.
Das waren drei Problemkreise, die, aufbauend auf dem
so hervorragenden System, in die Zukunft weisen. Ich
hoffe, dass es gelingen wird, einiges davon umzusetzen,
damit dieses System erhalten und gestärkt werden kann.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Ich erteile der Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Zu Recht befasst sich der Deutsche Bundestag heute zur
besten Sendezeit mit der Europäischen Menschenrechtskonvention. Sie wurde vor 50 Jahren als europäische Antwort auf die menschenverachtende Ideologie des Nationalsozialismus, auf Rassismus und Fremdenfeindlichkeit
und auf die mit dieser Überzeugung begangenen ungeheuerlichen Verbrechen formuliert und in nur 15 Monaten
Vorbereitungszeit als erste Konvention des Europarates
erarbeitet. Heute gibt es 173 Konventionen und Vertragswerke des Europarates. Rassenhass, Ausländerhass,
Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit wird mit der
Europäischen Menschenrechtskonvention die Unantastbarkeit der Würde eines jeden Menschen unabhängig
von seiner Herkunft, seiner Abstammung, seinem Glauben und seiner politischen Überzeugung entgegengestellt.
Das soll die europäische identitätsstiftende Wertordnung
sein, ja, das ist prägend für die Kultur des europäischen
Abendlandes. Die Vielfalt der Kulturen, der Religionen,
der Abstammungen und der politischen Überzeugungen
sollen rassistischer Diskriminierung keinen Raum lassen.
Das muss auch für uns Orientierungsmaßstab sein.
({0})
Mit der Europäischen Menschenrechtskonvention wurde die beginnende europäische Einigung von vornherein
auf ein aus damaliger Sicht solides Fundament des Menschenrechtsschutzes und der Grundfreiheiten gestellt.
Dies beruhte auf der Erkenntnis, dass es ohne Menschenrechte und ohne die Anerkennung der menschlichen
Würde keine Freiheit, keine Gerechtigkeit und keinen
Frieden gibt.
Lassen Sie mich an dieser Stelle etwas eigentlich
Selbstverständliches betonen: Die Kodifizierung von
Menschenrechten schafft nicht neue Rechte. Jeder
Mensch besitzt von Geburt an unantastbare, unveräußerliche Rechte und Freiheiten. Niemand kann sie ihm geben
oder gewähren; sie können nur durch staatliches oder
auch nicht staatliches Handeln eingeschränkt oder entzogen werden. Das ist nicht nur europäisch-abendländische Ansicht, sondern kann universelle Geltung beanspruchen. Spätestens seit der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 ist das
klar. Aber wie schwer die Durchsetzung der Menschenrechte ist, lesen wir jeden Tag in der Zeitung und können
wir jeden Abend den Nachrichten entnehmen.
Es ist schon betont worden, dass im Gegensatz zu anderen internationalen Menschenrechtspakten gerade die
Europäische Menschenrechtskonvention einen wirksamen Mechanismus zur Durchsetzung der gewährleisteten Rechte besitzt. Das gilt besonders für das 11. Zusatzprotokoll, das die heutige Handlungsfähigkeit des
Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes erst geschaffen hat. Er ist zu Recht von allen Vorrednern gerühmt und
hervorgehoben worden. Ich kann nur sagen: Wir müssen
alles tun, auch in dem eigentlich eher unbedeutenden Teil
der finanziellen Unterstützung, um die Arbeit des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes für die Zukunft zu
sichern. Denn wenn er nicht arbeiten kann und nicht dem
gerecht wird, was die 800 Millionen Bürger erwarten, die
in den Mitgliedstaaten des Europarates leben, dann wird
diesen das Fundament des europäischen Menschenrechtsschutzes genommen werden.
({1})
Deshalb fordern wir in unserem Antrag alle gemeinsam
unter anderem die entsprechende finanzielle Ausstattung.
Aber lassen Sie mich auch einen Blick auf die Auswirkungen der Europäischen Menschenrechtskonvention auf
die deutsche Rechtsprechung werfen. Die in ihr enthaltenen Verfahrensgarantien gehen zum Teil über die
Gewährleistungen des Grundgesetzes und der Strafprozessordnung hinaus und harren noch der Entdeckung
durch kreative Verteidigung. Lassen Sie mich nur zwei
Beispiele nennen.
Erstens. Die in Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention ausgesprochene Unschuldsvermutung und deren Auslegung durch den Europäischen
Menschenrechtsgerichtshof hat das Bundesverfassungsgericht 1987 dazu veranlasst, deutlich zu machen, dass
die Garantien unserer Verfassung - dazu gehört die Unschuldsvermutung - im Lichte der Europäischen Menschenrechtskonvention und deren Interpretation durch
den Straßburger Gerichtshof auszulegen sind. Damit haben wir in diesem Punkt eine unmittelbare Wirkung der
Rechtsprechung des Gerichtshofes auf unsere Auslegung
von Gesetzen.
Das gilt zweitens für den Grundsatz des fairen Verfahrens, der Waffengleichheit zwischen Ankläger und
Angeklagtem, der dem Gedanken des Art. 6 Abs. 1 der
Europäischen Menschenrechtskonvention entnommen
worden ist. Wie sich die Rechtsprechung in dieser Hinsicht noch entwickeln wird, zum Beispiel im Blick auf
den „agent provocateur“, kann man heute noch gar nicht
absehen.
Aber diese Beispiele zeigen, dass der häufig verbreitete, beruhigende Befund, dass die Europäische Menschenrechtskonvention nichts enthalte, was in Deutschland nicht ohnehin durch die Grundrechte in der
Verfassung oder zumindest durch die Strafprozessordnung garantiert sei, eine glatte Fehldiagnose ist.
In dem gemeinsamen Antrag, der der heutigen Beratung zugrunde liegt, fordern wir die Bundesregierung auf,
sich dafür einzusetzen, dass die Urteile des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte strikt befolgt werden.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf
Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention
- Schutz vor Folter und unmenschlicher, erniedrigender
Behandlung - hinweisen. Denn dieser Artikel hat eine entscheidende Auswirkung auf das Ausländerrecht und die
Abschiebepraxis.
({2})
Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof leitet daraus
einen Abschiebeschutz ab, wenn im Empfängerstaat Folter oder unmenschliche und erniedrigende Behandlung
droht, und zwar auch, wenn es um Verfolgung vonseiten
nicht staatlicher Organisationen geht.
Wir haben das gestern im Menschenrechtsausschuss
mit Ihnen, Frau Ministerin, erörtern können. Wir waren
uns einig, dass die jüngste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als positiv anzusehen ist, und haben
uns überlegt, wie dem in unserer Rechtsordnung noch
stärker zum Durchbruch verholfen werden kann. Sie wollen mit dem Innenminister über dieses schwierige Thema
sprechen. Aber nehmen wir doch einfach die Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs
auf! Ergänzen wir, Frau Ausländerbeauftragte, § 53 Abs. 4
des Ausländergesetzes und nehmen wir neben der Europäischen Menschenrechtskonvention auch auf die Rechtsprechung Bezug! Ich glaube, dann hätten wir mit einer
einfachen Änderung deutlich gemacht, wie ernst wir nach
50 Jahren Europäischer Menschenrechtskonvention und
Rechtsprechung des Gerichtshofes die Auswirkungen auf
unsere nationale Rechtsordnung nehmen.
({3})
Lassen Sie mich zum Schluss nur einige wenige Bemerkungen zu den entscheidenden Impulsen der Europäischen Menschenrechtskonvention auf die Erarbeitung
der Europäischen Grundrechte-Charta machen. Die
ersten 18 Artikel der EMRK finden sich in einer moderneren Formulierung in der Europäischen GrundrechteCharta wieder. Das brauchen wir dringend, weil die Europäische Union und die Europäischen Gemeinschaften
nicht Mitglied der Europäischen Menschenrechtskonvention sind. Deshalb setzt sich die F.D.P.-Bundestagsfraktion seit den Beratungen zur Europäischen GrundrechteCharta für eine kleine technische Änderung des
Vertragswerks durch den Vertrag von Nizza ein, die den
Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen
Menschenrechtskonvention ermöglicht. Das steht in allen
unseren Anträgen. Denn bis die Europäische Grundrechte-Charta in den Verträgen enthalten und verbindlich
sein wird, wird es, vorsichtig geschätzt, noch einmal mindestens vier Jahre brauchen.
Auf diese Weise könnten wir eine Spaltung des Rechtsschutzes in Europa verhindern. Gerade sie, Herr Bindig,
wollen wir mit der Europäischen Grundrechte-Charta
nicht erreichen. Vielmehr wollen wir ein möglichst gesichertes und hohes Schutzniveau, sodass es in Europa
keine Bürger zweiter Klasse gibt.
Vielen Dank.
({4})
Ich erteile das Wort
dem Bundesminister Joseph Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 50 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention - das bedeutet vor
allem einen großen Erfolg der Lehren, die Europa aus der
Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, aus den furchtbaren
Verbrechen des Deutschen Reiches gezogen hat. Ich
denke, es ist gerade aktuell sehr, sehr wichtig, dass man
daran erinnert, dass es nicht nur außen- und sicherheitspolitische Konsequenzen gegeben hat, dass Demokratisierung nicht nur eine Frage im Innern Deutschlands war,
sondern auch eine Verrechtlichung der Beziehungen zwischen den Staaten und vor allen Dingen einen grenzüberschreitenden Grundrechtsschutz für die Bürgerinnen und
Bürger als Antwort auf dieses Zeitalter der europäischen
Diktaturen bedeutet hat.
Dieser historische Ansatz setzt sich von der Missachtung der Menschenwürde, der Herabwürdigung von Mitmenschen und der perversen Rassenideologie, die damals
am Anfang des deutschen Abstiegs ins Verbrechen gestanden haben, klar ab. Deutschland hat daraus im ersten
Artikel des Grundgesetzes die Konsequenz gezogen, die
Menschenwürde für unantastbar zu erklären. Dieser historische Ansatz ist heute aktueller denn je.
Wir sehen, dass die Verrechtlichung des Grundrechtsschutzes, der über die Grenzen hinweg reicht
- dazu gehört, dass Diktatoren, Folterknechte und all jene,
die sich schwerster Menschenrechtsverbrechen schuldig
gemacht haben, zur Verantwortung gezogen werden -, im
internationalen Staatensystem mehr und mehr um sich
greift.
Der VN-Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien
und der Internationale Strafgerichtshof, der jetzt zur Ahndung solcher Verbrechen eingesetzt wird, sind die Konsequenzen aus jener historischen Erfahrung. Am heutigen
Tag, an dem wir den 50. Jahrestag der Europäischen
Menschenrechtskonvention begehen und an dem wir über
sie diskutieren, ist es wichtig, an diese Wurzeln zu erinnern. Es ist aber auch wichtig, dass wir die Konsequenzen
aus Erfahrungen der Gegenwart hinsichtlich schwerster
Menschenrechtsverletzungen ziehen.
({0})
Schon bei ihrer Unterzeichnung in Rom im November
1950 ging die Europäische Menschenrechtskonvention
einen entscheidenden Schritt weiter als die Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen
vom Dezember 1948: Sie war ein bindender völkerrechtlicher Vertrag; sie schuf einen Gerichtshof, dem sich
die Mitgliedstaaten des Europarates zu unterwerfen hatten; sie eröffnete allen Bürgern den damals bahnbrechenden Weg, ihre Rechte individuell einzuklagen. Das war
ein Meilenstein in der Konstitutionalisierung der Völkerrechtsordnung.
Die Europäische Menschenrechtskonvention ist seit
50 Jahren der ethische und rechtliche Kern der europäischen Wertegemeinschaft, die weit über die Europäische Union hinausreicht. Nahezu 800 Millionen Menschen in 41 Staaten können sich heute auf die verbrieften
Grundrechte berufen. Die Bedeutung, dass sich die
Bürger von 41 Staaten auf diesen verbrieften Grundrechtsschutz beziehen können, wird deutlich, wenn man
sich bei den Vereinten Nationen umschaut: Diese Rechte
wirken auch über Europa hinaus.
Seit der schnellen Aufnahme der jungen Demokratien
Mittel- und Osteuropas haben der Europarat und die
EMRK wichtige Beiträge zur Förderung von Demokratie
und Menschenrechten in unseren Nachbarstaaten geleistet. Nehmen wir nur das Beispiel der Demokratisierung
in Jugoslawien. Die Konsequenz daraus wird sein, dass
sich auch diese Region in Richtung eines Beitritts zum
Europarat entwickeln wird. Mit dem Beitritt zum Europarat würde dann auch dort der individuelle Grundrechtsschutz wirken. Neben der Arbeit des UN-Kriegsverbrechertribunals wird dies ein ganz wichtiger Schritt sein,
mit dem die Bürger eines demokratischen Jugoslawiens in
Kürze in den Schutz der Europäischen Menschenrechtskonvention einbezogen werden können.
({1})
Wir reden gerne über das Europa der variablen Geometrie; auch der Europarat gehört dazu. Gerade bei der Aufarbeitung des furchtbaren Krieges und der schwersten
Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien hat
der Europarat gezeigt, dass er ein wichtiges Instrument
ist, um Russland zur Einhaltung seiner menschenrechtlichen Verpflichtungen zu bewegen. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates hat ihre Rolle
als „demokratisches Gewissen“ Europas beispielhaft
wahrgenommen. Vor dem Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte sind Hunderte von Verfahren anhängig.
Die in Straßburg noch zu fällenden Urteile werden auch
die russische Regierung binden.
Der Menschenrechtsschutz in Europa setzt bis heute international hohe Maßstäbe. Aber er ist nichts Statisches.
Die klassischen Grundrechte - das Recht auf Leben, das
Verbot der Folter und der Sklaverei, die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit und andere mehr - sind bei
uns, Gott sei Dank, selbstverständlich. Aber denken wir
einmal 60 Jahre zurück. Damals waren diese Rechte bei
uns alles andere als selbstverständlich. In vielen Gegenden der Welt sind diese elementaren und individuellen
Grundrechte noch immer mitnichten eine Selbstverständlichkeit. Diese Rechte wurden über die Jahre durch
Zusatzprotokolle um wichtige Grundrechte ergänzt.
Ich will nur das Protokoll Nr. 6 nennen: die Abschaffung der Todesstrafe. Hier hat Europa meines Erachtens
eine überragende Bedeutung. Im weltweiten Kampf
gegen die Todesstrafe sind Europa, die Europäische
Menschenrechtskonvention, der Europarat und die EU ein
Leuchtturm. Alle Gegner der Todesstrafe, dieser inhumanen Strafe, orientieren sich an Europa. Es gehört für mich
zu den merkwürdigsten Erfahrungen - ich nehme an, Kollege Kinkel, Ihnen wird es genauso gegangen sein -:
Unter den Vertretern der USA, Kubas oder Chinas gibt es
immer dann ein hohes Maß an Übereinstimmung, wenn
man auf die Todesstrafe zu sprechen kommt.
Man muss sich einmal vor Augen führen, welche Bedeutung die Todesstrafe sogar in der jüngeren europäischen Geschichte, in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, hatte. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass
aufgrund von Taxifahrermorden und ähnlichen furchtbaren Verbrechen noch in den 70er-Jahren auch bei uns
immer wieder der Ruf nach der Wiedereinführung der Todesstrafe laut wurde. In wichtigen europäischen Partnerländern ist die Todesstrafe erst in den 70er- und 80erJahren abgeschafft worden. Wenn man sich angesichts
dessen heute die europäische Realität anschaut, nämlich
dass die Todesstrafe in keinem politischen Lager allen
Ernstes mehr zur Debatte steht, wird deutlich, dass es hinsichtlich des Grundrechtsschutzes und der Zivilisierung
in diesem Bereich einen echten Fortschritt gibt. Ich denke,
die Europäer haben Grund, darauf stolz zu sein.
Es wurde hier von der Leitkultur gesprochen. Mit der
europäischen Leitkultur sind wir heute ein Stück weitergekommen, Herr Kollege Schwarz-Schilling. Dazu
können wir uns klar bekennen und dafür möchte ich mich
bedanken.
({2})
- Ich finde es gut, Herr Merz, dass Sie jetzt über den Umweg „Leitkultur“ beim Verfassungspatriotismus von
Jürgen Habermas gelandet sind. Ich kann nur sagen: Herzlich willkommen! Das hätten Sie aber auch direkt haben
können.
({3})
Das hat auch nichts mit Parteipolitik zu tun. Ich bin vielmehr der Meinung, dass dies die solide Grundlage der
deutschen Demokratie ist. Dabei sollten wir es auch bewenden lassen.
Menschenrechtsschutz in Europa braucht auch in
Zukunft starke und durchsetzungsfähige Instrumente.
Dazu gehört eine angemessene Ausstattung des Gerichtshofs angesichts der dramatisch steigenden Zahl der Verfahren; denn sonst steht bereits Erreichtes auf dem Spiel.
Das sollten wir alle gemeinsam dem Finanzminister mitteilen.
({4})
Die praktische Wirkung der EMRK steht und fällt mit der
Durchsetzung der Urteile des Gerichtshofes. Da stimme ich allen Vorrednerinnen und Vorrednern, auch der
Kollegin Justizministerin und Frau LeutheusserSchnarrenberger, die dies gesagt haben, zu. Wir müssen
den Anfängen wehren, was die Umsetzung dieser Urteile
anbetrifft. Es darf nicht dazu kommen, dass Urteile ergehen, die nicht umgesetzt werden. Eine solche Rückentwicklung hinsichtlich des individuellen Grundrechtsschutzes darf es nicht geben.
Wir sollten uns aber auch immer wieder selbstkritisch
fragen, inwieweit wir in Deutschland den Maßstäben der
EMRK gerecht werden. Dazu gehört die Frage nach der
Achtung der Menschenrechte in Deutschland ebenso wie
die angemessene Beachtung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte durch
deutsche Gerichte.
Der Grundrechtsschutz hat nichts von seiner Aktualität
eingebüßt. Im Gegenteil: Die Europäische Union hat auf
der Grundlage der Menschenrechtskonvention eine
Grundrechte-Charta ausgearbeitet - unter aktiver Mitwirkung der Kollegen des Bundestages und des Bundesrates im Konvent -, die in diesem Haus breite UnterBundesminister Joseph Fischer
stützung gefunden hat und in Biarritz von den Staats- und
Regierungschefs angenommen wurde. Diese Charta wird
zum Kern einer europäischen Verfassung. Sie baut auf den
Erfahrungen der Konvention von 1950 auf, nimmt zugleich neue Entwicklungen auf und schließt Menschenrechte der so genannten dritten Generation, das heißt,
soziale und wirtschaftliche Grundrechte, ein. Jetzt geht es
darum, den gemeinsamen Rechtsraum zu entwickeln und
gleichzeitig die Verbindung zwischen diesen beiden Konventionen so zu gestalten, dass sich alle Mitgliedstaaten
der Europäischen Union darin wiederfinden können und
dass es ein Maximum an Grundrechtsschutz gibt.
Meine Damen und Herren, die Achtung der Menschenrechte sowie die Durchsetzung von Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit, der Dreiklang des Europarates also,
werden weit über Europa hinaus immer mehr zur Kernfrage gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Modernisierung. Ja, ich behaupte: Die Frage der Demokratie und
des Rechtsstaates wird zu der zentralen Frage des
internationalen politischen Systems des 21. Jahrhunderts
werden.
Überall auf dieser Welt, wohin wir auch schauen: An
der Frage der Herrschaft des Rechts macht sich nicht nur
die Gerechtigkeit fest, nicht nur der individuelle Grundrechtsschutz; daran machen sich natürlich auch die
Lebenschancen der Individuen einer Nation fest. Nur eine
offene, flexible und durch die Herrschaft des Rechts
geprägte Gesellschaft kann an den Chancen der Globalisierung erfolgreich partizipieren und zugleich ihre Verwerfungen bewältigen. Die Prinzipien der Europäischen
Menschenrechtskonvention werden in Zukunft deshalb
eher noch wichtiger, als sie es in den zurückliegenden
50 Jahren zweifellos schon waren - nicht nur ethischmoralisch, sondern auch politisch und im Sinne einer
wirksamen Krisenprävention. Wenn wir zurückblicken,
können wir sagen: Die Europäische Menschenrechtskonvention war ein großer Erfolg. Dieser Erfolg verpflichtet.
Ich möchte damit schließen, allen Mitgliedern des
Hauses, die sich in der Parlamentarischen Versammlung
des Europarats eingesetzt und eine sehr wichtige Arbeit
geleistet haben, genauso herzlich zu danken wie den
zahllosen Aktivistinnen und Aktivisten der Nichtregierungsorganisationen, die ebenfalls unerlässlich sind für
das Gelingen des Grundrechtsschutzes.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Carsten Hübner, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es sind bedauerlicherweise vor allem Jubiläen und Festtage, an denen der Debatte über das
Thema Menschenrechte hier eine so komfortable Tageszeit eingeräumt wird. Ansonsten - ähnlich wie bei der
Entwicklungspolitik - findet eine solche Debatte
eher in den Nachtstunden statt, fristet dieses Thema im
Hierarchiegefälle politischer Bedeutsamkeit trotz aller
Sonntagsreden eher ein Schattendasein. Auch das muss
anlässlich einer Debatte wie heute gesagt werden, weil
diese Realität, diese Praxis den Menschenrechten und ihrer konsequenten Durchsetzung einen Bärendienst erweist. Ich frage Sie, wie wir gerade vor dem Hintergrund
der virulenten rassistischen und fremdenfeindlichen Gewalt auf deutschen Straßen den Bürgerinnen und Bürgern
glaubhaft nahe bringen wollen, wie existenziell Menschen-, Freiheits- und Bürgerrechte sind, wenn wir es
selbst immer wieder zulassen, dass sie instrumentalisiert
werden, dass sie anderen Interessen untergeordnet werden
oder dass sie im parlamentarischen Tagesgeschäft vielfach als politische Kür und nicht als Pflicht betrachtet
werden.
Ich als Fachpolitiker kann nur dringlich an die Innenpolitik, die Außenpolitik, die Verteidigungs- und die
Wirtschaftspolitik appellieren, hier endlich umzudenken
und eine gewisse Abgehobenheit abzulegen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Unterzeichnung
der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der
Grundfreiheiten am 4. November 1950 in Rom war ein
bedeutender Schritt hin zu einem internationalen System
des Schutzes von Menschen-, Bürger- und Freiheitsrechten. Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben darauf bereits ausführlich verwiesen. Wahr ist, dass die
besondere Qualität dieses Vertragswerkes und seiner
Zusatzprotokolle darin liegt, dass mit ihm ein System
etabliert wurde, das diese Rechte einklagbar gemacht hat.
Das 11. Zusatzprotokoll von 1992 und die damit verbundene Schaffung eines hauptamtlich besetzten Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte hat diesen
Ansatz unterstrichen und im Sinne der Bürgerinnen und
Bürger weiter operationalisiert.
Dass nun ausgerechnet dieser Gerichtshof als eine tragende Säule zur Umsetzung der Konvention über Mittelund Personalknappheit klagen muss, dadurch hervorgerufen unter der Last der eingehenden Beschwerden
zusammenzubrechen droht, halte ich - gelinde gesagt für ein ernsthaftes Problem.
Ohne dabei noch einmal ausdrücklich an meine einleitenden Worte über den allgemeinen Stellenwert der Menschenrechte im tagespolitischen Diskurs erinnern zu
wollen, gilt es doch festzuhalten, dass, während wir hier
die Konvention und ihre Instrumente zu Recht würdigen,
die Arbeit im Gerichtshof für Menschenrechte unter Bedingungen abläuft, die mit unserer artikulierten Wertschätzung kaum in Einklang zu bringen sind.
Worten, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen Taten
und Finanzen folgen. Nur so wird in der Politik aus Papieren auch wirklich ein Schuh.
({1})
Gestatten Sie mir, im Folgenden noch einige Fragenkomplexe anzureißen, die mir im Kontext dieses Jubiläums und dieser Debatte bedeutsam erscheinen. Zum
einen geht es mir um die Umsetzung der Konvention in
der Bundesrepublik selbst. Denn auch wir müssen uns
fragen, fragen lassen, ob es mit Blick auf die Konvention
und ihren Geist Defizite gibt. Dabei sage ich deutlich,
dass Bezugspunkt unserer Debatte nicht etwa die extreme
Dehnfähigkeit bestimmter Artikel sein sollte, sondern der
Geist der Konvention, wie es sich für ein Land mit unserer
Vergangenheit und unserem aktuellen ökonomisch wie
gesellschaftlich vergleichsweise komfortablen und stabilen Status quo gehört.
Ich sage dies ausdrücklich vor dem Hintergrund einer
repressiven Migrations- und Flüchtlingspolitik in diesem
Land, vor dem Hintergrund der Residenzpflicht für
Flüchtlinge und Asylbewerber, vor dem Hintergrund des
auch international kritisierten so genannten Flughafenverfahrens, vor dem Hintergrund einer Rechtsprechung,
die nicht staatliche Verfolgung bis heute nicht als Asylgrund anerkennt, vor dem Hintergrund einer ausufernden
Praxis des Abschiebegewahrsams und der Abschiebung in
Länder, die selbst rudimentäre Menschenrechte unterlaufen.
Dazu gehört auch, dass selbst für langjährig in der Bundesrepublik lebende Migrantinnen und Migranten noch
immer eine gleichberechtigte politische Partizipation erst
nach einem entwürdigenden Hürdenlauf möglich ist,
wenn überhaupt.
Es muss aber auch die Frage gestellt werden, inwieweit
in diesem Land Bürgerrechte überhaupt, wenn auch
schleichend, zur Disposition gestellt werden. Die
Friedrich-Ebert-Stiftung hat dazu erst vor wenigen Tagen
eine interessante Veranstaltung durchgeführt. Ich nenne
nur Stichpunkte: Video-Überwachung öffentlicher Straßen und Plätze, ereignis- und verdachtsunabhängige Kontrollen, die wahllose Verhängung von Platzverweisen bei
Demonstrationen, Unterbindungsgewahrsam, Schnellprozesse usw. Mehr und mehr hält eine orwellsche Logik
in die innenpolitische Diskussion Einzug, nach der nicht
mehr der Staat begründen muss, warum er welche Eingriffe in die Bürgerrechte vornimmt, sondern der Bürger,
warum er das nicht will; das ist natürlich immer von dem
unterschwelligen Vorwurf begleitet, er habe wohl etwas
zu verbergen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, da meine Redezeit zu
Ende geht, nur noch eins: Im Antrag wird die Vorbildwirkung der Konvention für ähnliche Verträge in anderen
Regionen der Welt gelobt, aus meiner Sicht zu Recht.
Aber wenn wir das hier schon hervorheben, dann muss
damit auch die Frage verbunden werden, ob wir uns hinsichtlich anderer Teile der Welt auch an die Maximen halten, die wir uns für unsere Länder gegeben haben. Da habe
ich leider erhebliche Zweifel.
Weiterhin bleiben entschlossene Schritte der Mitgliedstaaten gegen die Türkei, die ebenfalls Mitgliedstaat ist
und sogar Erstunterzeichner war, aus, obwohl die Menschenrechtssituation dort zum Himmel schreit: sei es in
den Kurdenregionen, sei es in den Gefängnissen, sei es im
Sektor der Presse, der politischen und kulturellen Betätigung oder - besonders - in der Frage der Folter. Stattdessen liefern wir eine Munitionsfabrik, machen die
Türkei bei der so genannten humanitären Intervention im
Kosovo zum Alliierten und verleihen ihr ohne jede menschenrechtsrelevante Vorleistung den Status eines EUBeitrittskandidaten.
Ein anderes Beispiel sind die Kleinwaffenexporte:
Die Staaten des Europarats sind der dominierende Lieferant von Kleinwaffen in alle Krisenregionen der Welt.
Eng verbunden mit der Kleinwaffenfrage ist das Problem des Unwesens von Kindersoldaten; das wissen wir
alle. Europa liefert aber nicht nur Kleinwaffen, sondern
auch alles andere - ganz nach ökonomischer und strategischer Interessenlage, nicht etwa nach der Menschenrechtslage. Auch das muss an einem Tag wie heute
gesagt werden.
Das Gleiche gilt für die Tatsache, dass es die Koalitions- ebenso wie die anderen Oppositionsfraktionen
nicht fertig gebracht haben, sich im Parlament - der Fall
Mumia Abu Jamal hätte ein Anlass sein können - laut und
deutlich gegen die Todesstrafe in den USA zu stellen, weil
dort gerade Präsidentschaftswahlkampf ist.
({2})
Dass einer der Präsidentschaftskandidaten mit einer Hinrichtungskampagne geradezu Wahlkampf macht, wird
nicht etwa als Grund zu einer dringlichen Positionierung
begriffen, sondern man hält sich heraus, bis alles vorbei
ist. Mit solch einer Praxis, liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen wir nicht weit. Wir machen uns schlicht unglaubwürdig.
Die PDS-Fraktion wird dem interfraktionellen Antrag
zustimmen. Gleichzeitig bitten wir um Zustimmung zu
unserem Entschließungsantrag, in dem wir nötige Entwicklungstendenzen und Schritte zur Umsetzung der
Konvention aufgezeigt haben.
Vielen Dank.
({3})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dieter Schloten, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Hübner, es ist gut,
dass Sie einmal auf Probleme hingewiesen haben, die wir
auch in unserem Lande mit dem Thema Menschenrechte
haben. Allerdings sind Sie an dem Punkt, an dem Sie den
Abgeordneten und damit uns allen hier Abgehobenheit
unterstellen, ein wenig über das Ziel hinaus geschossen.
({0})
Ich sage das ganz vorsichtig. Sie wollten hier provozieren;
das ist gut so und regt uns zum Nachdenken an.
({1})
Wir sollten aber bei der Sache bleiben. Wenn Sie sich einmal die Zustände außerhalb der Mitgliedsländer des Europarates anschauen
({2})
und sie mit denen in den Mitgliedsländern des Europarates vergleichen, dann würden auch Sie zu anderen Bewertungen kommen.
Ich möchte jetzt nichts von dem wiederholen, was
meine Vorredner gesagt haben, sondern gleich an dem
Punkt ansetzen, dass die Menschrechtskonvention nicht
perfekt umgesetzt worden ist. Das war von Anfang an so.
Ich möchte einmal daran erinnern, dass die Schweiz 1963
dem Europarat beigetreten ist, ohne dass das Frauenwahlrecht bei allen Wahlen im ganzen Land garantiert
gewesen wäre. Frankreich ließ erst 1974 die Individualbeschwerde bei Menschenrechtsverletzungen zu.
Die Bundesrepublik Deutschland war in den 70er-Jahren
kritischen Fragen in der Parlamentarischen Versammlung
zum Radikalenerlass ausgesetzt, der so genannte Extremisten vom öffentlichen Dienst ausschließen wollte.
Mehrfach - das ist schon erwähnt worden - war die
Türkei aufgrund ihrer Menschenrechtssituation Gegenstand harscher Kritik. Großbritannien hat erst kürzlich die
Europäische Menschenrechtskonvention zum Bestandteil
seines innerstaatlichen Rechtes gemacht.
Der Garant der Bürger zum Schutz vor Verletzungen
der Menschenrechte sind der Europarat und mit ihm der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in
Straßburg. In jüngster Zeit wird er mit Beschwerden aus
den neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas geradezu
überhäuft. Jahrzehnte polizeistaatlicher Gewöhnung in
den neuen Mitgliedstaaten sind mit hohen Menschenrechtsstandards konfrontiert, welche die Straßburger
Rechtsprechung und die westeuropäische Praxis über
Jahrzehnte entwickelt haben.
Verbal wird allseits versichert, die in der Straßburger
Judikatur anerkannten Maßstäbe müssten generell gelten.
Abstriche seien unzulässig. Wenn das in allen Staaten für
die Zustände in Gefängnissen und in der Untersuchungshaft gelten soll, für die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte, für die Fairness von Gerichtsverfahren, für das Verhalten der Polizei und der Behörden
allgemein, dann ist noch unendlich viel zu tun.
Es ist anzunehmen, dass Tausende von Beschwerden,
insbesondere aus mittel- und osteuropäischen Staaten, bei
näherer Prüfung nicht nur zulässig, sondern auch begründet sind. Neben der mehrfach erwähnten besseren
Ausstattung des Gerichtshofes sollte die Zeit genutzt werden, den neuen Mitgliedstaaten bei der Reform ihrer innerstaatlichen Ordnung zu helfen, sodass die internationalen Verfahren in Straßburg weniger häufig anfallen.
Die erste Beschwerde aus Tschetschenien in Straßburg
vom April dieses Jahres gibt mir Anlass, darauf hinzuweisen, dass russische Amtsträger oftmals völliges
Unverständnis für die mit der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention eingegangenen Verpflichtungen erkennen lassen. Wir hören, dass die westeuropäische Kritik teils auf ungenügender Information,
teils auf unlauteren Motiven beruhe und dass es sich auch
um einen unzulässigen Eingriff in innere Angelegenheiten
handele. Die Kritik der Parlamentarischen Versammlung
des Europarats an den Menschenrechtsverletzungen, insbesondere in Tschetschenien, wird vehement zurückgewiesen. Wir Parlamentarier müssen der Gefahr entgegentreten, dass aus politischen Gründen ganz auf
Sanktionen verzichtet wird.
Lassen Sie mich noch einige Gedanken zum Verhältnis
von Menschenrechten und Demokratie äußern. Es überrascht, dass im Statut des Europarats von 1949 nur ein
einziges Mal das Wort „Demokratie“ auftaucht, und zwar
in der Präambel, in der Europäischen Menschenrechtskonvention gar nicht. Auf Drängen der Parlamentarischen
Versammlung hat der Europarat inzwischen Präzisierungen im Bereich Demokratie vorgenommen, von dem Erfordernis freier Wahlen bis hin zur lokalen Demokratie.
Ich erinnere an die Charta der kommunalen Selbstverwaltung von 1985. Der Europarat hat auch Programme zur
Stärkung der Demokratie und demokratischer rechtsstaatlicher Institutionen, besonders in den mittel- und osteuropäischen Ländern, aufgelegt.
In der Wiener Erklärung der Staats- und Regierungschefs des Europarats von 1993 heißt es, „dass das Antragstellerland seine Institutionen und sein Rechtssystem mit
den grundlegenden Prinzipien der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte in Einklang gebracht“ haben muss. Außerdem müssen die
Volksvertreter „in freien und fairen Wahlen auf der
Grundlage des allgemeinen Wahlrechts gewählt worden
sein“. Darüber hinaus müssen Kriterien für die Bewertung
jedes Antrags auf Mitgliedschaft „die Gewährleistung
der Meinungsfreiheit und insbesondere der Freiheit der
Medien, der Schutz nationaler Minderheiten sowie die
Einhaltung des Prinzips des Völkerrechts“ bleiben. Allerdings gibt es bis heute noch keine verbindliche zusammenfassende Konvention zur Demokratie in Europa, wie
sie - bislang einmalig in der Welt - die Interparlamentarische Union in ihrer universellen Demokratie-Erklärung in Kairo 1997 beschlossen hat.
Lassen Sie mich noch auf einen wichtigen Aspekt
der Europäischen Menschenrechtskonvention eingehen,
nämlich auf ihre weltweiten Auswirkungen. Zunächst
möchte ich darauf hinweisen, dass die UNO-Menschenrechtspakete von 1966 und insbesondere das Beschwerdeverfahren nach dem Fakultativprotokoll zum Pakt über
die bürgerlichen und politischen Rechte von der Europäischen Menschenrechtskonvention beeinflusst worden sind, ebenso wie die interamerikanische Menschenrechtskonvention von 1968 und - in geringerem Maße die afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte
der Völker von 1982.
Ein besonders aktives, weltweit wirkendes Organ zur
Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen ist der
Ausschuss für die Menschenrechte von Parlamentariern
in der IPU. Sein regelmäßiger Bericht auf den zweimal
jährlich stattfindenden Konferenzen des Interparlamentarischen Rates enthält alle bekannt gewordenen Fälle von
Menschenrechtsverletzungen an Parlamentariern. Am
21. Oktober dieses Jahres wurde in Jakarta erneut ein
solcher Bericht vorgelegt. Er listet 93 aktuelle Fälle auf,
33 davon allein in Myanmar. Uns allen ist der Fall der
Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi bekannt,
die seit Jahren in Hausarrest leben muss.
Erwähnen möchte ich auch den Fall des Abgeordneten
Alpha Condé aus Guinea. Er war 1998 Präsidentschaftskandidat seiner Partei. Am 15. Dezember 1998, kurz vor
der Bekanntgabe der Wahlergebnisse, wurde er verhaftet.
Im Januar 1999 wurde er des Hochverrats angeklagt und
am 11. September dieses Jahres zu fünf Jahren Haft
verurteilt. Die Umstände seines Prozesses genügen nicht
einmal den Mindestanforderungen eines rechtsstaatlichen
Verfahrens. So wurde zum Beispiel seine parlamentarische Immunität bis heute nicht aufgehoben. Ich
möchte der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass sich unsere Regierung dieses Falles in guter Zusammenarbeit mit
dem französischen Partner, der hier viel Einfluss hat, annimmt.
({3})
Aber nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb Europas treten gravierende Menschenrechtsverletzungen
auf. Ich erinnere an zurzeit vier bekannte Fälle in
Weißrussland und acht in der Türkei. Die türkischen
Fälle sind beim Menschenrechtsgerichtshof anhängig. In
der vergangenen Woche wurde auf der IPU-Versammlung
in Jakarta die Türkei eindringlich ermahnt, rechtsstaatliche Prinzipien zur Anwendung zu bringen und die
betroffenen ehemaligen Abgeordneten zu amnestieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das 50-jährige
Bestehen der Europäischen Menschenrechtskonvention
ist nicht nur ein Anlass zum Feiern - da gebe ich meinen
Vorrednern vollkommen Recht -, sondern auch ein Anlass
zu kritischer Selbstbetrachtung. Die Glaubwürdigkeit des
Europarates als Garant für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte hängt von der Einhaltung
und Umsetzung dieser Prinzipien in seinen Mitgliedstaaten ab. Aber der Europarat hat auch über seine Mitgliedstaaten hinaus eine Verpflichtung, Gesamtverantwortung sowie eine weltweite Mitverantwortung. Ich
möchte uns alle auffordern mitzuhelfen, dass er dieser
Verantwortung im Interesse der Achtung der Menschenrechte und der weltweiten Demokratisierung gerecht werden kann.
Ich danke Ihnen.
({4})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Karl-Heinz Hornhues, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Über die Bedeutung der Menschenrechtskonvention ist so viel Schönes, Gutes und auch Richtiges gesagt worden, dass ich nur einen Satz hinzufügen möchte:
Ich unterstreiche dies alles vollinhaltlich, nachdrücklich
und stelle fest: Ja, das ist wahr. Es ist richtig und wichtig,
dass wir die Europäische Menschenrechtskonvention haben. Wenn wir sie nicht hätten, hätte sie längst erfunden
werden müssen.
Dies gesagt habend, möchte ich mich allerdings in
diesem Zusammenhang einigen anderen Punkten zuwenden, die noch nicht angesprochen worden sind, die aber
auch in das Protokoll gehören sollten.
Punkt eins. Wenn das alles so bedeutend und so wichtig
ist, dann hätte ich die herzliche Bitte an die Bundesregierung, wenigstens im Kleinen dem gerecht zu
werden, was im Großen gesagt worden ist. Dazu gehört
die Tatsache, dass wir gleich den Entwurf eines Gesetzes
bezüglich des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte an bestimmte Ausschüsse überweisen und in den
nächsten Wochen auch ratifizieren sollen. Unterzeichnet
wurde die dafür zugrunde liegende Vereinbarung am
23. Oktober 1996. Heute, am 26. Oktober 2000, beginnen
wir mit der Ratifizierung. Meine dringende, herzliche
Bitte ist - dies betrifft vermutlich eher den Minister des
Auswärtigen -: Man sollte, wenn dieser Gerichtshof eine
solch wichtige Bedeutung hat, dafür sorgen, dass die
nächste in diesem Zusammenhang erforderliche Ratifizierung zeitlich gerechter erfolgen kann und wir uns
nicht fragen lassen müssen, wie wir einerseits große Reden halten können und andererseits im Kleinen mit unseren Beschlüssen nicht herüberkommen.
({0})
Punkt zwei. Frau Ministerin, ich bitte um Nachsicht,
Folgendes ist nicht böse gemeint; aber es ist schon ein
bisschen peinlich: Herr Kollege Bindig hat klargemacht,
es gehe im Zusammenhang mit der anstehenden Entscheidung zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte um eine halbe Million Euro. Zwei leibhaftige
Minister halten hier heute Morgen große Reden und
müssen gestehen, dass sie bei aller Bedeutung des
Gerichtshofes - das wird unterstrichen - nichts dagegen
machen können, dass der Gerichtshof in seiner Aufgabe
quasi ertrinkt. Er kann sie nicht mehr bewältigen. Deswegen wendet sich der Außenminister an uns, ihm bei der
Beschaffung von Geld zu helfen. Bitte ersparen Sie uns
solche Peinlichkeiten. Das ist weder für Sie noch für uns
gut. Mir wäre es lieber gewesen, Sie hätten heute Morgen
Konkretes gesagt. So viel zu diesem Punkt.
({1})
Der Europäische Gerichtshof braucht dringend Unterstützung. Das ist wichtig und notwendig. Das will ich
noch einmal unterstreichen.
Ich möchte mich jetzt einem Thema zuwenden, das
hier schon anklang. Der Außenminister hat es in seinem
Schlusssatz erwähnt, als er den Kollegen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates gedankt hat.
Ich glaube, hier ist Folgendes zu kurz gekommen. Ich selber bin erst seit zwei Jahren Mitglied der Delegation. Deswegen kann ich in diesem Zusammenhang mit Gelassenheit über andere reden.
Ich möchte nämlich den Kollegen aus unserer Mitte
herzlich danken, die viele Jahre lang in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates die konkrete Last
der Arbeit getragen und Erhebliches dazu beigetragen haben, dass solche Festreden wie heute überhaupt gehalten
werden können. Ich nenne hier aus früheren Tagen Karl
Ahrens, später wirkte Leni Fischer als Präsidentin der
Parlamentarischen Versammlung und auch die Kollegen
Antretter und Reddemann haben über Jahre hinweg ihre
Arbeit gemacht. Die gegenwärtigen Akteure will ich nicht
aufzählen. Das erspare ich mir, weil wir uns alle kennen.
Jeder weiß, was hier geleistet wird.
Wenn es zutrifft, dass die Europäische Menschenrechtskonvention für die neu hinzugekommenen Länder
in der Runde der 41 Mitgliedstaaten der Leuchtturm ist,
von dem der Außenminister gesprochen hat, dann verdienen es hier die Kollegen - die knochenhart daran arbeiten,
dass sich etwa die Situation in der Türkei verbessert -,
dass ihre Leistung anerkannt wird. Aus unserer Runde
kümmert sich der Kollege Benno Zierer darum. Andere
arbeiten daran, dass sich in Russland endlich etwas ändert.
Ich habe eben schon gesagt - das stimmt -: Der vielleicht bekannteste SPD-Politiker in Moskau ist - das wird
Sie vielleicht verblüffen - der Kollege Bindig. Er ist dort
wegen seines Nachfragens gefürchtet, wie etwa: Wie erfüllt ihr die Verträge? Ich möchte die Bundesregierung
bitten, ab und zu die Vorlagen des Kollegen Bindig in
ihren Besprechungen und Beratungen zu berücksichtigen.
Das könnte uns gemeinsam weiterbringen. Herzlichen
Dank an den Kollegen!
({2})
Die Rolle der Parlamentarischen Versammlung, dieses
Monitoring-Komitees ist für Länder von entscheidender
Bedeutung, die sich in dem Status befinden - das ist heute
beschrieben worden -, den wir hatten, als wir beitraten.
Die erste Delegation der Parlamentarischen Versammlung
des Europarates - wir müssen nachlesen, wer alles dabei
war - war eine unglaubliche Truppe. Alles, was in diesem
Parlament Rang und Namen hatte, ist nach Straßburg gefahren. So wie es bei uns am Anfang war, ist es heute bei
den Ländern, die dazugekommen sind. Deswegen ist es an
uns, die Bedeutung dieses Gremiums, dieser europäischen Versammlung in Straßburg zu vermitteln, eine Arbeit, die über das hinausgeht, was bisher von uns geleistet
wird.
Ich möchte Ihnen dezidiert widersprechen, Frau Ministerin. Sie haben gesagt, die Mitgliedschaft im Europarat sei der erste Schritt zur EU-Mitgliedschaft.
({3})
- Es war aber sinngemäß richtig. Nebenbei bemerkt denken so nicht nur Sie, sondern auch viele Kollegen aus meinen Reihen. Das weiß ich.
Für viele Länder mag es zutreffen, dass sie die Mitgliedschaft im Europarat und in der Parlamentarischen
Versammlung als eine Vorstufe zur EU-Mitgliedschaft
auffassen. Wer diese Auffassung vertritt, übersieht aber,
dass es von der Struktur her Länder geben wird, die vermutlich niemals der Europäischen Union angehören werden. Island mag uns noch kalt lassen. Die Norweger werden es ebenfalls nicht schaffen. Auch die Schweizer haben
ihre Probleme. Das berührt uns aber weniger. Wenn wir
jedoch über Georgien, Aserbaidschan und Armenien, spätestens aber dann, wenn wir über die Ukraine und Russland reden, stellt sich die Frage, wie bedeutsam der Europarat und die Parlamentarische Versammlung für uns
sind. Auf lange Sicht sind sie etwas anderes als nur der
Vorhof zur Europäischen Union.
Deswegen bitte ich darum, sich zu bemühen, dies anderen hinreichend deutlich zu machen, die vielleicht nie
die Chance haben wollen oder werden, in die Europäische
Union aufgenommen zu werden, die aber mit uns in einem
gemeinsamen Europa der Werte leben möchten, wie sie
die Menschenrechtskonvention in allen ihren Facetten
verkörpert. Wir müssen ihnen das Gefühl geben, dass
diese Einrichtung für uns keine zweit- oder drittklassige
Einrichtung ist, die nur anlässlich seines 50-jährigen Jubiläums oder eines 75-jährigen Jubiläums zu so überragender Bedeutung gelangt, dass wir sie in der Kernzeit des
Deutschen Bundestages erörtern.
Ich habe heute Morgen viele Sätze gehört, die mir sehr
gut gefallen haben. Ich hoffe, dass wir es gemeinsam
schaffen, konkrete Schritte im Detail weiterzuentwickeln.
Der wichtigste Schritt wird sein, dass wir als der Deutsche
Bundestag unsere Regierung bewegen, das, was Parlamentarier tun, ein wenig ernster zu nehmen.
Ich war nicht der Auffassung anderer Kollegen, als wir
in der Parlamentarischen Versammlung den russischen
Kollegen nicht das Stimmrecht gegeben haben. Nur, die
Art und Weise, die Schnodderigkeit - so will ich es nicht
sagen, aber es kommt dem ungefähr nahe -, mit der der
Ministerrat dieses Petitum der Parlamentarischen Versammlung als nicht passend zurückgewiesen hat, ähnelten
dem Verspielen einer Steilvorlage - so würde man im
Fußball sagen -, die zu einem guten Tor und zu einem besseren Ergebnis hätte führen können.
Gerade als Europarat haben wir die Chance - und als
Parlamentarische Versammlung versuchen wir, sie mit
größter Intensität zu nutzen -, auf die Kollegen und die
Parlamente in anderen Ländern, inklusive Russlands, einzuwirken. In Russland sind Dinge gelungen, die ohne dieses Bemühen nicht zustande gekommen wären. Dass
heute Beobachter des Europarates die einzigen internationalen Vertreter in Tschetschenien sind, mag nicht befriedigen und hat die Probleme nicht gelöst; es macht aber
deutlich, welche Chancen es gibt. Ich wäre dankbar, wenn
wir, Parlamente und Regierung - ich beziehe das nicht nur
auf uns, sondern auch auf andere Regierungen -, intensiver und besser zusammenarbeiten könnten.
Mein Petitum ist, dass wir in diesem Bereich besser
werden und uns gemeinsam versprechen, das Beste aus
der Sache zu machen. Denken wir nicht immer nur an uns,
sondern auch an die anderen. Vergessen wir bei der heutigen 50-Jahr-Feier nicht, wie glücklich unsere politischen
Väter und Mütter waren, als sie damals in die Mitte der
europäischen Länder aufgenommen wurden. Die anderen
sehen das heute auch so. Die Frage, wie ernst sie genommen werden und wie sehr sie sich bei uns aufgehoben
fühlen, hängt davon ab, wie ernst wir sie nehmen. Das
sollten wir im eigenen Interesse nicht vergessen. Alles
Gute!
Danke schön.
({4})
Ich erteile dem Kollegen Helmut Lippelt, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Lassen
Sie mich eingangs mit einigen laienhaften Bemerkungen - ich bin kein Jurist - zu dem vom Kollegen Bindig
und von Frau Leutheusser-Schnarrenberger Vorgetragenen zur Wirkung der Menschenrechtskonvention beginnen.
Bei Lektüre der Ratifizierungsdebatte im Bundestag
von 1952 stellt man fest, mit welcher Emphase damals
betont worden ist, dass man erstmalig ein europäisches
Gesetz beschließe und es damit in die nationale Gesetzessystematik einführe. Es ist keine Frage: Der Menschenrechtsgerichtshof und der EuGH - wenn die GrundrechteCharta rechtskräftig wird - werden ihre Arbeit schon gut
koordinieren und ihre Tätigkeitsbereiche abgrenzen.
Trotzdem denke ich: Solange die EU der Konvention
nicht als juristische Person beitreten kann, wird sie bei
Überschneidungsfällen, die es immer geben wird, im Prozess selber nicht als beteiligte Partei auftreten können und
es werden sich - so sehr man es auch verhindern will - unterschiedliche Traditionen von Rechtssprechung entwickeln. Gerade deshalb sollten wir massiv darauf drängen, dass die EU endlich juristische Person wird und
beitreten kann, sodass wir diese - nicht schlimme, aber
auf mittlere Sicht immerhin gegebene - Konfusion verhindern können.
Es ist genug zur Geschichte und zur Bedeutung der
Konvention gesagt worden. Die Konvention ist - wenn
man sich ihr Zustandekommen 1950 genau anschaut eng mit der Entstehungsgeschichte der Bundesrepublik
und ihrer europäischen Einbindung verbunden. Sie ist
ein Grunddokument von ähnlichem Rang wie das Grundgesetz selbst. Wenn man nachliest, wird man merken: Sie
ist zugleich inhaltlicher Bestimmungspunkt des damaligen welthistorischen Gegensatzes gewesen. Das wird beispielsweise aus der Begründung des damaligen Kollegen
Becker, F.D.P., deutlich: Er brauche nur über die Grenze
zu schauen, wo Dörfer geräumt würden, dann wisse er,
warum er das Gesetz mittrage. Dies wird auch aus dem
Zuruf des damaligen KPD-Abgeordneten Heinz Renner
deutlich, der dazu aufforderte, nach den Menschenrechten
in Korea zu fragen.
Dieser Zuruf stand stellvertretend für die Haltung der
Sowjetunion. Sie war dem Europarat nicht beigetreten
und hätte dies auch nicht tun können. Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion entwickelte die Konvention eine
große Anziehungskraft für Länder in ihrem ehemaligen
Einflussbereich, aber auch für die GUS-Staaten selbst.
Der Beitritt zur Konvention ist im Zusammenhang mit
ihrem Beitritt zum Europarat obligatorisch und ist für sie
das entscheidende Mittel, um sich zu europäischen Werten und Normen zu bekennen. Mit diesem Prozess der
Osterweiterung - der Kollege Hornhues hat es eben angesprochen - wird Europa früher und geographisch weit
umfassender wiederhergestellt als durch die EU-Osterweiterung selbst.
Aber auch dieser Prozess ist konfliktreich. Nicht zufällig gibt es wegen des Tschetschenienkrieges einen Konflikt zwischen Russland und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Ein ähnlicher Konflikt bahnt
sich mit dem von der Parlamentarischen Versammlung
zur Aufnahme vorgeschlagenen Aserbaidschan über die
- entgegen den gemachten Zusagen - nicht verbesserte
Situation der politischen Häftlinge dort an. Die Aufnahme
von Belarus wurde wegen der dortigen Menschenrechtsverletzungen suspendiert.
Das bedeutet: Die Funktion des Europarates und seines
wichtigsten Instruments, der Konvention, hat sich geändert. War früher die Zugehörigkeit die Bestätigung des
stattgefundenen Wandels zur Demokratie - trotz aller
Hinweise von Ihnen, dass in den Ländern selbst damals
viel verbesserungsbedürftig war -, ist heute die Aufnahmeprozedur mit ihren Stadien - Antrag, gründliche Überprüfung der verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Situation des Landes, Aufnahme mit Auflagen,
Monitoring der Erfüllung der Auflagen - zu einem Mittel
zur Bewertung des demokratischen Wandels im Land
selbst geworden. Sergej Kowaljow hat sich im Europarat
nachdrücklich für die Aufnahme Russlands in den Europarat eingesetzt, wobei er nicht verschwiegen hat, dass
Russland noch keine Demokratie nach europäischen Normen ist. Russland bedarf nach seiner Meinung des Dialogs. Er sagte damals: Ihr habt Russland aufgenommen
und damit Verantwortung übernommen. Nun werdet dem
gerecht, indem ihr den Konflikt führt, der geführt werden
muss.
Wir erwarten nach den Wahlen in Jugoslawien nun
auch dessen Aufnahmeantrag, damit wir auch dieses Land
auf dem Weg in eine Demokratie nach europäischen Normen unterstützen können. Zugleich freuen wir uns darüber, dass nach den letzten Wahlen in Kroatien die Parlamentarische Versammlung des Europarates die Prozedur des Monitoring für Kroatien beenden konnte. Dies
stelle ich mit großer Freude gerade heute fest, da der Präsident dieses Landes hier in Berlin unser Gast ist.
({0})
Ich erteile dem Kollegen Peter Altmaier, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Damen
und Herren! Wir haben alle gemeinsam die Bedeutung der
Menschenrechtskonvention nachdrücklich gewürdigt. Ich
finde aber, dass wir es uns zu einfach machen, wenn wir
nur in Nebensätzen auf die unglaublich schlechte Ausstattung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte mit Sach- und Personalmitteln eingehen.
({0})
- Bei Ihnen, Herr Kollege Bindig, war es ein Hauptpunkt.
Das erkenne ich ausdrücklich an.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
und die Europäische Menschenrechtskonvention erleben
derzeit eine Renaissance, die niemand vor dem Fall der
Mauer und dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs für
möglich gehalten hätte. Wir hatten im letzten Jahr insgesamt 20 000 Beschwerden, von denen immerhin 8 000 registriert wurden. Der Gerichtshof hat nicht einmal im Ansatz die personellen und sachlichen Mittel, um diese
Beschwerden in angemessener Zeit aufzuarbeiten. Das
hat Konsequenzen: Es führt nicht nur dazu, dass die
Frage, welche innerstaatlichen Gesetze und Akte mit den
entscheidenden Prinzipien der Menschenrechtskonvention unvereinbar sind, oftmals jahrelang unbeantwortet
bleibt. Es führt auch dazu, dass die Bürger, die vor dem
Gerichtshof ihre Beschwerden, gestützt auf die Europäische Menschenrechtskonvention, einreichen können,
nicht nur eine Engelsgeduld haben müssen, sondern auch
extrem langlebig sein müssen, wenn sie den Abschluss ihres Verfahrens noch erleben wollen. Das darf nicht sein.
Deshalb müssen wir uns dafür einsetzen, dass dieses Defizit behoben wird.
({1})
Frau Ministerin, auf eines möchte ich in aller Deutlichkeit hinweisen: Wir haben zwar Ihnen applaudiert, als
Sie gesagt haben: Wir müssen das ändern. - Aber es ist ein
offenes Geheimnis im Straßburger Gerichtshof, „dans les
couloirs de la cour“, dass die Bundesrepublik Deutschland im Ministerkomitee ausgerechnet dasjenige Land
war, das am wenigsten für die Aufstockung des Personals
getan hat, übrigens in trauter Einmütigkeit mit Frankreich. Das heißt, wenigstens in diesem Bereich funktioniert der deutsch-französische Motor, aber leider Gottes
nur im Rückwärtsgang. Das ist nicht ausreichend. Das
müssen wir in den nächsten Jahren ändern.
({2})
Es ist viel über die Bedeutung der Europäischen
Menschenrechtskonvention gesagt worden. Sie ist vor allem für den Einzelnen bedeutsam, für den der Gang nach
Straßburg oftmals die letzte Hoffnung ist, trotz innerstaatlicher Willkür von Behörden und Gerichten Recht zu
bekommen. Das gilt übrigens nicht nur für die osteuropäischen Staaten und für die Türkei, sondern auch für
die Staaten, die traditionelle Beitrittsstaaten der Menschenrechtskonvention sind. Niemand hätte es im Jahre
1950 für möglich gehalten, dass auch Staaten mit entwickelten Grundrechtskatalogen und mit langer rechtsstaatlicher Tradition wie Großbritannien, Frankreich und
Deutschland vom Straßburger Menschengerichtshof immer wieder verurteilt werden, weil sie entscheidende
Grundsätze der Europäischen Menschenrechtskonvention
nicht beachten.
({3})
Das eigentliche Geheimnis des Mechanismus der
Menschenrechtskonvention ist nicht nur ihre Rechtsverbindlichkeit, sondern auch die in ihr enthaltene Möglichkeit, dass die Einhaltung der Grundrechte von einem
unabhängigen internationalen Gerichtshof durchgesetzt
wird. Weil das so ist, ist es wichtig, dass wir die Europäische Grundrechte-Charta, die wir in Nizza feierlich proklamieren werden, nicht nur verbindlich machen; vielmehr müssen wir auch dafür sorgen, dass der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte auf absehbare Zeit die
Kompetenz bekommt, die Einhaltung der Grundrechte,
die in der Charta niedergelegt sind, in der Praxis zu überwachen. Wenn das nicht geschieht, ist diese Charta das
Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt ist.
({4})
Der entscheidende Punkt ist - dieser ist auch schon von
Christian Schwarz-Schilling angesprochen worden -: Mit
der Festlegung der Grundrechte in einer Charta und mit
der Installation eines unabhängigen Gerichtshofes ist zum
ersten Mal anerkannt worden, dass die Frage der Einhaltung und Umsetzung von Grund- und Menschenrechten
eben nicht nur eine innere Angelegenheit der einzelnen
Mitgliedstaaten und Nationalstaaten ist.
({5})
Dem Prinzip der universellen Geltung der Menschenrechte ist 1950 zum ersten Mal zum Durchbruch verholfen worden. Von da an lässt sich eine lange Entwicklung
verfolgen, die bis hin zu der Debatte über die Frage geht,
wann und unter welchen Umständen humanitäre Interventionen zulässig und möglich sind; denn es ist nicht
hinnehmbar, dass die Menschen von den Staaten zu Objekten gemacht werden. Nein, die Menschen sind die Subjekte.
Deshalb, Herr Kollege Hübner, finde ich es nicht in
Ordnung, wenn Sie so tun, als ob das Instrument der humanitären Intervention im Grunde nichts anderes sei als
eine Verlängerung imperialistischer Aspirationen der
westlichen Staatengemeinschaft. Die humanitäre Intervention ist tatsächlich eine große Errungenschaft des Völkerrechtes.
({6})
Das Problem besteht vor allen Dingen darin, dass wir die
Menschenrechte zu zögerlich umgesetzt haben, und nicht
darin, dass wir zu oft reagiert haben.
({7})
Es ist in den letzten Wochen oft befürchtet worden,
dass die Ausarbeitung der Europäischen GrundrechteCharta zu einer Schwächung des Mechanismus der Europäischen Menschenrechtskonvention führen könnte.
Das dürfen wir gemeinsam nicht zulassen. Wir müssen
gemeinsam dafür sorgen, dass die Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch das Zustandekommen dieses neuen und großartigen Instruments des
europäischen Menschenrechtsschutzes gestärkt wird. Ich
glaube, dass dies auch möglich ist, und zwar aus zwei
Gründen.
Erstens. Die Europäische Menschenrechtskonvention
hat bei der Ausarbeitung der Grundrechte-Charta Pate gestanden. Wir haben die Europäische GrundrechteCharta - ich war für dieses Hohe Haus im Konvent an der
Ausarbeitung beteiligt - überall dort, wo es vergleichbare
Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention
gab, fast wortwörtlich so formuliert, wie es in der Europäischen Menschenrechtskonvention steht. Wir haben sichergestellt, dass keine Bestimmung der GrundrechteCharta so ausgelegt werden kann, dass das Schutzgebot
der Europäischen Menschenrechtskonvention unterschritten wird.
Es gibt einen zweiten Grund: die unterschiedlichen Anwendungsbereiche beider Instrumente. Die Europäische
Menschenrechtskonvention gilt für das Handeln der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung nationalen Rechts und die
Europäische Grundrechte-Charta gilt für das Handeln der
europäischen Institutionen bei der Umsetzung und Anwendung europäischen Rechts. Damit füllen wir eine
Lücke, die die EMRK bisher eben nicht füllen konnte,
weil wir nur über die Hilfskonstruktion von Art. 6 der Europäischen Grundrechte-Charta imstande waren, ihrem
Inhalt in die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes einfließen zu lassen. Ich bin überzeugt, dass zwischen dem Europäischen Gerichtshof und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eben keine
Konkurrenzsituation entstehen wird, sondern dass beide
gemeinsam dazu beitragen werden, dass der Grundrechtsschutz in Europa weiterentwickelt wird.
Lassen Sie mich ein Wort sagen zur Frage des Beitritts
der Europäischen Union zur EMRK. Ich weiß, dass
diese Forderung von vielen Kolleginnen und Kollegen
aus der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
erhoben wird. Ich befürchte nur, dass die positive Beantwortung dieser Frage zum jetzigen Zeitpunkt Wasser auf
die Mühlen all derer wäre, die sagen: Dann können wir
uns ja die rechtlich verbindliche Aufnahme der Grundrechte-Charta in die EU-Verträge sparen. - Deshalb meine
herzliche Bitte: Wir sollten diese Frage dann entscheiden,
wenn sie ansteht, wenn es nämlich darum geht, in der
großen Regierungskonferenz 2004 mit der Kompetenzabgrenzung, mit der Reform der Institutionen und mit der
Aufnahme der Grundrechte-Charta einen ersten Schritt zu
einem europäischen Verfassungsvertrag zu tun.
Wir haben in den letzten Jahren viel erreicht, was die
effektive Durchsetzung von Menschenrechten nicht nur in
Europa, sondern auch darüber hinaus angeht. Wir müssen
jetzt dafür sorgen, dass der Druck aus dem Kessel nicht
entweicht, wir müssen über diese Fragen diskutieren und
wir müssen unsere nationalen Verantwortlichen, die Justizministerin, den Außenminister und vor allen Dingen
den Finanzminister, immer wieder damit quälen, dass wir
sie auch öffentlich fragen: Was tut ihr dafür, dass eure
Sonntagsreden endlich auch zu den notwendigen praktischen Konsequenzen führen?
Vielen Dank.
({8})
Ich erteile der Kollegin Hedi Wegener, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich versuche, mich in die Situation
der Männer und Frauen hineinzuversetzen, die vor 50 Jahren, nach dem Ende des Krieges, bereit waren, die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu erarbeiten. Das Gewissen Europas war nach
zwei Katastrophen wieder präsent und handlungsfähig.
Und nicht nur das! Der alte Kontinent erhob Anspruch auf
eine weltweite Führungsrolle in der Frage der Menschenrechte. Es gab auch ein Vorbild: die UN-Charta.
Die Europäische Menschenrechtskonvention geht aber
teilweise weiter als die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen. Ihre Bestimmungen
sind bei Missachtung und Verstößen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einklagbar.
Die Ministerin hat es schon gesagt: Für mehr als
800 Millionen Menschen in mittlerweile 41 Staaten Europas ist die Europäische Menschenrechtskonvention zu einem Schutzsystem von unschätzbarem Wert geworden.
Ein Katalog der Grundfreiheiten war also gerade
nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges in Europa
unverzichtbar geworden. Aber fast ganz Europa unter ein
Wertesystem zu subsummieren hat auch Grenzen und begegnet Schwierigkeiten. Mit der Konvention in Europa ist
ein wichtiger Schritt gemacht worden in einer Welt, die
annähernd gleiche Wertesysteme hat. In den meisten europäischen Verfassungen, soweit die Länder eine haben,
sind diese Grundrechte verankert. Die Diskussion um die
EU-Grundrechte-Charta, die jetzt vorliegt, zeigt aber
auch, dass die EMRK inhaltlich nicht ausreichend ist für
eine Europäische Union als Wertegemeinschaft.
Wir in Deutschland haben auch positive Beispiele für
den Umgang mit Rechten von Minderheiten. Dänen sind
im Landtag von Schleswig-Holstein vertreten; ebenso
werden die Minderheitsrechte der Deutschen in Dänemark gewahrt. Auf beiden Seiten haben sie jeweils das
Recht, ihre Kultur zu leben: in Schulen, in ihrer Sprache,
in Bibliotheken, Sportvereinen. Das ist Alltag hier wie
dort. Die Sorben sind ein weiteres Beispiel in Deutschland
für eine geglückte Verankerung von Minderheitsrechten.
Schauen Sie einmal über die Grenzen nach Europa. Ich
nenne den Konflikt der Korsen in Frankreich, der Basken
in Nordspanien, der Katalanen in Südspanien, der katholischen Iren in Irland, der Bretonen in Frankreich, der
Südtiroler in Italien bis zur heutigen Zeit noch -, der ungarischen Minderheiten in Slowenien und der Slowakei,
der Russen im Baltikum. Die Probleme sind eigentlich
überall gelöst - theoretisch. Aber wie ist es in der Praxis?
Es zeigt sich in Deutschland wie auch im übrigen Europa,
dass es Akzeptanz in den Herzen und in den Köpfen geben muss.
Herr Präsident, Sie haben vor einigen Tagen hier gesagt: Wir müssen das Anderssein akzeptieren lernen.
Deutschland beweist seine Größe, wenn es die Selbstbestimmung aller und eigene Identitäten zulässt. Es gibt
Menschengruppen, die dazu nur begrenzte Möglichkeiten
haben.
Trotz der Fortschritte sind die Menschenrechte für
Mädchen und Frauen immer noch nicht gesichert. Weltweit werden Frauen geschlagen, vergewaltigt, verschleppt oder verstümmelt. Hinzu kommen Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und
Kindern, die sich immer mehr durch die internationale
organisierte Kriminalität verfestigen. Mehr als 1 000 Opfer von Menschenhandel pro Jahr haben wir allein in
Deutschland. Das sind nur die ermittelten Fälle. Die
Dunkelziffer ist vermutlich viel größer. Statistische Erhebungen belegen, dass sich das Delikt in Deutschland
etabliert hat. Das ist organisierte Kriminalität. Hohe Gewinne bei relativ geringem Risiko sind ein starker Anreiz
für die Täter. Die Umsätze allein im deutschen Rotlichtmilieu werden auf eine zweistellige Milliardenhöhe geschätzt. Frauenrechte werden demnach sehr oft nicht als
Menschenrechte anerkannt. Ein grundlegendes Umdenken ist nur in Ansätzen spürbar.
Noch ein Beispiel: Nach wie vor werden weltweit pro
Jahr etwa 2 Millionen Mädchen an ihren Geschlechtsorganen verstümmelt. Insgesamt sind davon 130 Millionen
Frauen in der Welt betroffen. Wenn wir auch sagen, dass
das Länder sind, die weit weg sind, so betrifft uns das
Thema doch in einer Welt, die immer mehr zusammenrückt, in einem Deutschland, in einem Europa, das offen
sein will für alle Menschen.
({0})
Selbst der Tod dieser Frauen - die Todesrate liegt bei
30 Prozent - wird um der Tradition und der Menschenehre
willen einkalkuliert. Trotzdem wird Genitalverstümmelung in Deutschland nicht als Asylgrund anerkannt, weil
die deutsche Rechtsprechung gesellschaftlich bedingte
Gewalt nicht als staatliche Verfolgung und damit nicht als
asylrelevant einstuft. Wie ist das möglich angesichts der
hohen Qualität der Europäischen Menschenrechtskonvention, angesichts der vielen Bekenntnisse zur Notwendigkeit des Schutzes der Menschenrechte? Wie ist es
möglich, dass sich erst in den letzten Jahren das Bewusstsein und die Wahrnehmung für Frauenrechte verstärken?
Apropos Menschenbild: Die Behandlung des Themas Abschiebehaft und Flughafenasyl steht demnächst auf unserer Tagesordnung. In dieser Debatte steht aber schon fest:
So können wir mit Menschen nicht weiter umgehen.
({1})
Auch wenn sie ihre Situation zum Teil selbst mit verschulden, muss die Unterbringung menschenwürdig sein;
zumutbar reicht für mich nicht aus. Erst recht darf sie für
die allein reisenden Kinder nicht noch zusätzlich traumatisierend sein. Todesfälle bei ihnen - das sind in Deutschland immerhin über 20 im Jahr - dürfen einfach nicht hingenommen werden.
({2})
Auch dürfen keine Übergriffe von Menschen erfolgen, die
Staatsgewalt ausüben.
({3})
Neben den klassischen Rechten Verbot von Folter und
unmenschlicher Behandlung, Freiheit der Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit und Diskriminierungsverbot
sind die Rechte in den letzten Jahren durch Zusatzprotokolle verändert worden. Vor 50 Jahren gab es zum Art. 2
noch folgende Ausführungen:
Niemand darf absichtlich getötet werden außer durch
die Vollstreckung eines Todesurteils, das ein Gericht
wegen eines Verbrechens verhängt hat, für das die
Todesstrafe gesetzlich vorgeschrieben ist.
Die Zeiten sind Gott sei Dank vorbei.
({4})
Die Konvention hat in den letzten Jahrzehnten für ähnliche Abkommen in anderen Teilen der Welt Pate gestanden. Die Schaffung einer faktisch todesstrafenfreien Zone
in allen Mitgliedsländern des Europarates ist durch das
6. Zusatzprotokoll Wirklichkeit. Aber gerade dieses Protokoll wirft Fragen auf: Fragen nach der Interpretation der
Norm ebenso wie nach nationenübergreifenden Kompromissen, die auch wir eingehen müssen.
Die Abschaffung der Todesstrafe war vor 50 Jahren
noch nicht möglich. Es wird aber deutlich, dass es unterschiedliche Wertesysteme gibt, die eine generelle Abschaffung der Todesstrafe verhindern. Zumindest für
mich ist es eine besondere Härte, mit einem Land freundschaftliche Beziehungen zu pflegen, in dem die Todesstrafe eine akzeptierte Sanktion darstellt. Die Vereinigten
Staaten von Amerika, eines der Mutterländer der Demokratie, geben meines Erachtens Anlass zur Besorgnis.
({5})
Seit dort 1977 die Todesstrafe wieder zugelassen worden
ist, wurden 653 Menschen hingerichtet. Seit Beginn der
90er-Jahre ist ein enormer Anstieg der Zahl der Hinrichtungen festzustellen. So wurden seit 1993 nicht weniger
als 450 Todesurteile vollstreckt. Mehr als 3 000 Gefangenen droht in den USA die Hinrichtung. Amnesty International ist kein anderes Land bekannt, in dem so viele
Todesstrafenkandidaten in den Gefängnissen sitzen. Angesichts dieser Fakten ist der Anspruch der USA, den
Menschenrechten, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit weltweit zum Durchbruch zu verhelfen, kritisch
zu hinterfragen.
({6})
Ich schließe die Aus-
sprache. Wir kommen zur Abstimmung.
Zunächst lasse ich über den Entschließungsantrag der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/4403 abstimmen.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Zustimmung
der PDS und im Übrigen Ablehnung ist der Ent-
schließungsantrag abgelehnt.
Ich lasse über den Antrag der Fraktionen von SPD,
CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. mit dem
Titel „50 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention“
abstimmen. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksa-
che 14/4390? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der
Antrag ist einstimmig angenommen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4298 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 e so-
wie Zusatzpunkt 4 auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- regierung
Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats
Bodenschutz beim Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Wege zum vorsorgenden Bodenschutz
Fachliche Grundlagen und konzeptionelle
Schritte für eine erweiterte Bodenvorsorge
- Drucksache 14/2834 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum Jahresgutachten 1998 „Welt im Wandel - Strategien zur
Bewältigung globaler Umweltrisiken“ des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung
Globale Umweltänderungen
- Drucksache 14/3285 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
({1})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Umweltgutachten 2000 des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen
Schritte ins nächste Jahrtausend
- Drucksache 14/3363 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({2})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Ulrike Flach, Horst Friedrich ({3}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
F.D.P.
Novellierung der Verpackungsverordnung und
Flexibilisierung der Mehrwegquote
- Drucksache 14/3814 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({5})
- zu dem Antrag der Fraktionen von SPD und
BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Grenzüberschreitende Zusammenarbeit zur
Stärkung des Schutzes der Böden
- zu dem Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach,
Birgit Homburger, Hildebrecht Braun ({6}),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Erarbeitung einer internationalen Bodenschutzkonvention
- Drucksachen 14/2567, 14/983, 14/3711 Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Wieczorek ({7})
Christa Reichard ({8})
Winfried Hermann
Eva Bulling-Schröter
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Marita Sehn, Ulrike Flach, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Börsenhandel mit Emissionszertifikaten in
Deutschland konkret vorbereiten
- Drucksache 14/4395 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({9})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Marion Caspers-Merk, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Schritte ins nächste
Jahrtausend“ hat der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen sein Umweltgutachten genannt und damit die
Erwartungen an die Bundesregierung hinsichtlich der Gestaltung der Umweltpolitik in den nächsten Jahren formuliert.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Betrachtet man die einzelnen Punkte des Gutachtens,
stellt man fest, dass sich nach den letzten zwei Jahren
niemand verstecken muss. Sehen wir uns zunächst das
Thema Nachhaltigkeit an. Hier hat die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ eine einmalige Wirkungsgeschichte. Noch nie wurden Forderungen politisch so zeitnah aufgegriffen, noch nie ist es
gelungen, ein Thema in der Politik so dauerhaft zu verankern, und noch nie hat eine Bundesregierung Empfehlungen einer Enquete-Kommission dermaßen deutlich in
ihren Koalitionsvertrag übernommen.
Bislang mussten sich die Mitglieder von EnqueteKommissionen bewusst sein, dass ihre Arbeitsergebnisse
erst mit einer großen zeitlichen Verzögerung wahrgenommen und vor allem umgesetzt werden. So hatte beispielsweise die Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre“ eigentlich alle grundsätzlichen Linien der
Klimaschutzpolitik zu einem frühen Zeitpunkt, nämlich
in der 12. Legislaturperiode, erarbeitet. Aber es dauerte einige Jahre, bis sich die Bundesregierung die Klimaschutzziele zu Eigen gemacht hat. Wir sind noch immer
dabei, die Forderungen umzusetzen; denn ein umweltpolitisches Ziel ist schnell formuliert, aber die Umsetzung
wichtiger Schritte dauert. Ich bin sehr froh, dass die Bundesregierung bei diesem Thema nun mit ihrem Klimaschutzprogramm Ernst gemacht hat.
({0})
Im Umweltgutachten wird gefordert, eine nationale
Nachhaltigkeitsstrategie zu erarbeiten. Auch dazu gab es
in diesem Sommer einen Kabinettsbeschluss der Bundesregierung. Ebenso gibt es beim Zukunftsinvestitionsprogramm einige Punkte, in denen Forderungen der EnqueteKommission aufgegriffen worden sind. Ich erinnere in
diesem Zusammenhang an die Themen flächensparendes
Bauen, Altbausanierung und Biotopverbundsysteme, alles Forderungen der Enquete-Kommission, die sich jetzt
in konkretem Handeln wieder finden.
Ich finde, es ist ein enormer Fortschritt - gerade in
einer Zeit, in der die Baukonjunktur weggebrochen ist -,
dass wir 400 Millionen DM in die Altbausanierung investieren und damit einen deutlichen Impuls Richtung
Nachhaltigkeit geben. Es ist ökologisch vernünftig, dass
Altbauten vernünftig gedämmt und nicht nur pinselsaniert
werden; es ist ökonomisch vernünftig, hier ein Anreizprogramm zu schaffen, um Investitionen vor allem beim Mittelstand zu bewirken; und es ist sozial vernünftig, gerade
in einer Zeit, in der Bauarbeiter arbeitslos werden, ein
deutliches Zeichen zu setzen. Sie sehen also: Es wurden
nicht nur Forderungen gestellt, sondern mit dem Zukunftsinvestitionsprogramm ist es uns jetzt gelungen, in die
richtige Richtung zu gehen.
({1})
Zu einem weiteren wichtigen Punkt, der Abfallwirtschaft, finden sich in dem Umweltgutachten zwei Forderungen, die wir heute ganz aktuell aufgreifen können: eine
Änderung der TA Siedlungsabfall und eine Novelle der
Verpackungsverordnung. In beiden Bereichen sind wir
einen guten Schritt weitergekommen. Die TASi ist vonseiten der Bundesregierung bereits beschlossen worden; das
Thema liegt jetzt im Bundesrat. Nach jahrelangem Streit
um die beste Art der Abfallbeseitigung - Müllverbrennung
oder biologisch-mechanische Verfahren - haben wir hier
zu einer Entscheidungsfindung beigetragen, indem wir bei
der TASi hohe Standards eingeführt und gleichzeitig den
Kommunen gesagt haben: Wer diese Standards erfüllt, hat
die Chance, selbst zu entscheiden, mit welcher Technik er
dieses Thema angeht. So heben wir den jahrelangen Investitionsstau durch konsequentes Handeln auf und schaffen
es, den alten Streit zwischen Verbrennern und Kompostierern ein Stück weit zu befrieden.
({2})
Auch mit der Novelle der Verpackungsverordnung
sind wir seit gestern Abend einen guten Schritt weiter. Wir
haben es beim Thema Abfallpolitik immer mit 80 Millionen Expertinnen und Experten zu tun. Das macht das
Thema so spannend: Beim Thema Mülltrennung kann jeder mitreden. Die positiven Ansätze in der Abfallpolitik
- dass Abfälle vermieden werden - wollen wir in eine zukunftsfähige Verpackungspolitik übertragen, die ökologisch vorteilhafte Verpackungen stützt und ökologisch
eindeutig nachteilige Verpackungen diskriminiert. Das ist
ein Punkt, bei dem das UBA-II-Gutachten, das in diesem
Sommer vorgelegt wurde, Klarheit gebracht hat. Denn
schon zum zweiten Mal hat eine Ökobilanz klar gemacht,
welche Verpackungen ökologisch vorteilhaft und welche
Verpackungen ökologisch eindeutig nachteilig sind.
Wie haben Handel und Industrie auf diese beiden Gutachten reagiert? Wir mussten eine dramatische Dosenflut
zur Kenntnis nehmen. Hatten Dosen 1991 noch einen Anteil von 12 Prozent am Biermarkt, so liegen sie heute bei
über 20 Prozent. Die Zahlen, die bei einer Anhörung der
SPD-Bundestagsfraktion Anfang dieser Woche genannt
wurden, zeigen in eine noch dramatischere Richtung. Die
Mehrwegquote wird schon zum zweiten Mal deutlich verfehlt.
Heute liegt auch ein Antrag der F.D.P. zum Thema
Verpackungsverordnung vor. Frau Kollegin Homburger,
ich bin mir sicher, dass Sie diesen Antrag im mittelständisch geprägten Baden-Württemberg nicht vorzeigen
können. Denn Sie fordern eine Flexibilisierung der Mehrwegquote; Sie sagen aber nicht, wohin Sie wollen. Sie fordern, kein Pfand einzuführen; Sie bieten aber keine Alternative, wie die Mehrwegquote gestützt werden kann. Ich
kann mir vorstellen, wie diese Politik bei den vielen mittelständischen Brauereien und Mineralbrunnen ankommt.
Was haben Sie eigentlich bei der ganzen Debatte um die
Verpackungsverordnung gelernt?
({3})
Wenn jetzt schon zum zweiten Mal eine Ökobilanz deutlich macht, dass es ökologisch klar vorteilhafte und ökologisch klar nachteilige Verpackungen gibt, dann ist die
Politik zum Handeln aufgefordert.
Wir haben eine weitere Entwicklung zu berücksichtigen: das neue „working paper“ der EU-Kommission. Sie
stimmt mit uns darin überein, dass in Europa anspruchsvollere Verwertungsquoten und darüber hinaus eine
Mindestmehrwegquote vorgeschrieben werden müssen.
Da kann man nun argumentieren: In dem Papier ist erst
einmal von 20 Prozent die Rede; das ist doch sehr wenig; wir sind bei 70 Prozent. - Man muss aber sagen,
dass damit in fünf europäischen Staaten erstmals Mehrwegsysteme vorgeschrieben würden. Wir sehen doch,
dass wir mit unserer Politik, eine anspruchsvolle Verpackungsverordnung zu machen und den Schutz der
Mehrwegquoten durchzusetzen, in die richtige Richtung gegangen sind. Europa zeichnet unseren Weg nun
ein Stück weit nach.
Ich bin sehr froh, dass die Umweltminister der Länder
sich gestern auf eine deutliche Empfehlung geeinigt haben - lediglich ein Bundesland hat nicht zugestimmt -,
eine Pfandpflicht für ökologisch nachteilige Verpackungen einzuführen und den Grundsatz „Mehrweg ist besser
als Einweg“ da, wo wir es nachweisen können, in politisches Handeln umzusetzen. Ich glaube, dass damit ein
monatelanger Streit richtig beendet wurde.
Frau Homburger, eines kann ich nicht begreifen. Wenn
wir Umweltpolitik nach Ihrem Motto machen würden,
was würde das für andere Politikfelder bedeuten? Wenn
eine Quote nicht erreicht wird, dann ändern wir sie. Überlegen Sie einmal, was das zum Beispiel im Immissionsschutz bedeuten würde! Wenn ein Grenzwert überschritten wird, dann erhöhen wir ihn. Damit verabschiedet sich
die Umweltpolitik völlig. Ich muss sagen, ich war einigermaßen entsetzt, als ich Ihren Antrag gelesen habe.
Denn ich weiß, dass Sie eine solche Umweltpolitik nicht
im Ernst fordern können.
({4})
Die SPD-Bundestagsfraktion muss nach der Anhörung
und der Erklärung der Umweltminister drei Dinge deutlich herausstellen: Erstens. Wir werden die Verpackungsverordnung novellieren. Zweitens. Wir werden eine
Pfandpflicht für ökologisch nachteilige Verpackungen
einführen. Drittens. Das Pfand bleibt bestehen.
Frau Merkel ist bei der letzten Novelle 1998 bei der
Pfandpflicht geblieben. Ich bin einmal gespannt, wie
sich die Kollegen der Union zu unserem Vorschlag verhalten werden. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass auch die B-Länder, also auch Bayern und Baden-Württemberg, gestern der Pfandpflicht zugestimmt
haben. Es wäre aber nicht das erste Mal, dass sich Frau
Merkel von einmal gefundenen Instrumenten in der Umweltpolitik verabschiedet. Deswegen sind wir sehr gespannt, wie Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion, auf diesen Vorschlag
reagieren werden.
({5})
Für uns gilt es, den Pfad der Zukunftsfähigkeit weiter
zu gehen. Ich glaube, dass wir im Bereich der Abfallpolitik die Vorstellungen, die der Rat von Sachverständigen
für Umweltfragen geäußert hat, schon ein ganzes Stück
umgesetzt haben. Auch bei der Nachhaltigkeit sind wir
auf einem guten Weg; ein Kabinettsbeschluss dazu und
das Klimaschutzprogramm liegen bereits vor. Man muss
zwar zugeben, dass wir noch nicht alles erreicht haben.
Aber es gilt auch: Nachhaltigkeit erreichen wir nicht über
Nacht, sondern Schritt für Schritt durch konsequentes
Handeln.
Vielen Dank.
({6})
Ich erteile nun dem
Kollegen Dr. Klaus Lippold, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wir haben jetzt Halbzeit der rot-grünen Regierung. Die
rot-grüne Koalition ist vor zwei Jahren mit der Aussage
angetreten:
Die ökologische Modernisierung ist die große
Chance, um die natürlichen Lebensgrundlagen zu
schützen und mehr Arbeit zu schaffen. Die neue
Bundesregierung wird dafür sorgen, dass unser Land
hierbei eine Vorreiterrolle einnimmt.
Das war die Ankündigung in der Koalitionsvereinbarung.
({0})
Heute können wir festhalten, dass dieses Ziel nicht erreicht worden ist.
({1})
Der Sachverständigenrat bringt ganz deutlich zum
Ausdruck, dass mit Ihrer Koalition in diesem Bereich
hoch gesteckte Erwartungen verbunden waren, die sich
schlicht und einfach nicht erfüllt haben. Sie hatten den
Mund zu voll genommen und haben hinterher nicht sehr
viel Konkretes vorgelegt. Zu dem, was Sie konkret vorgelegt haben, nimmt der Sachverständigenrat deutlich
Stellung.
Ich komme jetzt auf ein Thema zu sprechen, das wir in
der letzten Zeit häufiger hier diskutiert haben: die so genannte Ökosteuer. Dies ist meines Erachtens zu Recht geschehen, weil die Ökosteuer der falscheste Weg ist, den
man gehen kann. Der Sachverständigenrat sagt hierzu - er
bestätigt damit unsere Auffassung, dass Sie mit diesem Instrument keine Lenkungswirkung erreichen -:
Welche Umweltinanspruchnahme durch das Gesetz
in erster Linie vermieden werden soll, geht aus der
Zielsetzung nicht hervor.
Damit wird hier in Abrede gestellt, dass Sie mit diesem Instrument eine Umweltschutzfunktion erreichen können.
Es wird auch gesagt, dass es andere Instrumente gibt,
die wesentlich besser geeignet wären, dieses Ziel zu erreichen, als es eine Ökosteuer - zumal diese vermeintliche Ökosteuer - vermag.
({2})
Warum verfolgt die Bundesregierung nicht, wie der Sachverständigenrat sagt, den konsequenten Weg, Zertifikate
in die Überlegung mit einzubeziehen und dazu zumindest
Lösungsansätze zu formulieren? Im Umweltgutachten
heißt es:
Das System handelbarer CO2-Lizenzen bzw. vergleichbare Lösungen für andere klimarelevante Gase
stellt die ökologisch und ökonomisch überlegene Lösung dar.
Ich sage ganz deutlich: Der Weg ist falsch und das Ziel
ist nicht bekannt. Trotzdem halten Sie stur an Ihrem Vorhaben fest, weil dies ein Kernstück so genannter rot-grüner Umweltschutzpolitik sein soll. Dies geschieht zulasten der Menschen, die Sie damit abstrafen, ohne dass für
den Umweltschutz etwas erreicht wird. Sie belasten die
sozial Schwachen und gefährden Arbeitsplätze. Trotzdem
negieren Sie diese negativen Auswirkungen und sagen:
Die Menschen werden das schon irgendwie regeln. Diese
sträfliche Arroganz lassen wir Ihnen nicht durchgehen.
({3})
- Herr Müller, bei Ihnen findet doch in letzter Zeit die
Umweltdiskussion kaum statt. Also muss ich schon einmal zu Herrn Trittin herüberschauen.
Ich komme zum nächsten Punkt, nämlich zur pauschalen Stromsteuer. Der Sachverständigenrat sagt:
Der Wirtschaft und den Haushalten wird mit der pauschalen Strombesteuerung eine unnötige Zusatzlast
auferlegt.
Wann äußern sich Wissenschaftler gegenüber einer Bundesregierung eigentlich so offen und kritisch? - Sehr selten. Wenn sich der Sachverständigenrat gezwungen sieht,
mit dieser Bundesregierung so Klartext zu sprechen, dann
müssten Sie doch endlich einmal ins Nachdenken kommen, von Ihrer ideologischen Verbiesterung abgehen und
die Dinge anders betrachten.
({4})
Dies sind schließlich keine Zitate aus einer Pressemitteilung der CDU/CSU, sondern Zitate aus dem Gutachten
des Sachverständigenrates.
Ich komme zu einem Kernpunkt der Ökologie, einem
Punkt, den auch Herr Loske verschiedentlich angemahnt
hat: Naturschutz. Sie haben versprochen, dieses Thema
mit größter Intensität anzugehen. Aber nach zwei Jahren
rot-grüner Regierung liegt noch immer kein Gesetzentwurf vor. Es erfolgt eine Ankündigung nach der anderen,
aber im Kabinett wird nicht gehandelt. Lassen Sie doch
die Politik der Ankündigungen und tun Sie einmal etwas!
Legen Sie eine Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz auf
den Tisch, damit wir darüber diskutieren und im Naturschutzbereich etwas verbessern können.
({5})
Bislang waren von Ihnen zu verschiedenen Bereichen
- ich nenne nur die Biotopnetze - lediglich vollmundige
Ankündigungen zu hören. Geschehen aber ist hier nichts.
Nichts als Ankündigungen! Sie lassen in dieser Frage
- das wird aus Gesprächen mit den Naturschutzverbänden
erkennbar - die Naturschützer im Stich.
Ich sage es ganz deutlich: Wir wollen Naturschutz und
wir wollen mehr Naturschutz, aber nicht gegen die Landwirtschaft, wie Sie es tun, sondern mit der Landwirtschaft.
An die Spitze stellen wollen wir dabei den Vertragsnaturschutz.
({6})
Da könnten Sie endlich einmal in Bewegung kommen, anstatt in Ihrer verbohrten Situation, in der Sie sich befinden, zu verbleiben.
({7})
Ich komme zu einem weiteren Punkt. Der Sachverständigenrat stellt völlig zu Recht fest, dass Deutschland
beim Klimaschutz im internationalen Vergleich zurückgefallen ist; wir haben die Vorreiterrolle eingebüßt. Wir
haben in diesem Hause schon mehrfach deutlich gemacht,
dass Sie hier nicht innovativ sind. Was Sie tun, ist, die
Maßnahmen, die wir auf den Weg gebracht haben, fortzuführen.
({8})
Sie haben das IMA-Programm verspätet vorgelegt; wir
werden dies hier hoffentlich einmal ausführlich diskutieren. Aber auch darin haben Sie lediglich Ziele formuliert;
alle Vorstellungen, Vorschriften, Erlasse, Verordnungen
und Vereinbarungen sind nur Ziele. Konkretisieren Sie
dies doch einmal! Sagen Sie, wie Sie diese Ziele umsetzen wollen!
Sie haben offensichtlich - das ist neu - die Praxis der
Selbstverpflichtungserklärungen mit der Wirtschaft
fortgeschrieben. Das ist etwas, was wir schon lange gefordert haben. Heute aber werden Selbstverpflichtungen
nicht mehr festgeschrieben. Es wird vorsichtigerweise nur
etwas paraphiert, wie zum Beispiel der Konsensvertrag
mit der Wirtschaft. Was ist das eigentlich für eine neue
Form? Gibt es jetzt noch nicht einmal mehr klare Vereinbarungen? Sie paraphieren, weil Sie sich schlussendlich
doch nicht vollends einig sind. Lassen Sie das und legen
Sie eine wirkliche Selbstverpflichtung vor, damit wir darüber sprechen können! Das alles aber tun Sie nicht. Damit erfolgt Entscheidendes zu spät.
Es gibt eine Reihe anderer Punkte in diesem Bereich,
die moniert werden müssen. Wie gehen Sie eigentlich in
die internationalen Verhandlungen? Wie gehen Sie in die
nächste Klimaschutzkonferenz? Vor einigen Wochen haben Sie, Herr Trittin, mit dem englischen Umweltminister
einen wunderschönen Zeitungsartikel zustande gebracht,
in dem steht, was man alles machen müsste, was man
alles machen sollte. Nur, Sie haben nichts gemacht. Es
gibt kein strategisches Papier, kein operatives Programm
von Ihnen, das einmal diskutiert worden wäre. Ganz im
Gegenteil: Sie stolpern in die Verhandlungen mit den
USA, die klare Vorstellungen haben. Obwohl wir Ihnen
das schon zu Kioto ins Stammbuch geschrieben haben,
dass wir sofort über eine Strategie nachdenken müssen
Dr. Klaus W. Lippold ({9})
- damals hat das Frau Merkel noch auf den Weg gebracht -, haben Sie das über zweieinhalb Jahre verschlampt.
({10})
Wenn man mit zuständigen Wissenschaftlern spricht,
sagen die: Auf diesem Ohr ist der Minister taub. Was ist
denn heute mit Treibhausgasemissionen? Wie soll das
konkret aussehen? Wie sollen die Zertifikate gehandelt
werden? Wie stehen Sie zur Senke? Die Frage ist nicht,
worüber Sie noch einmal nachdenken müssten. Nein, in
ein paar Wochen ist diese Klimakonferenz und von Ihnen
liegt nichts vor außer warme Luft. Das können wir Ihnen
so nicht durchgehen lassen.
({11})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich könnte
jetzt noch auf verschiedenes anderes aufmerksam machen: dass Sie keine ausgewogene Energiekonzeption haben, die langfristig abgestimmt und strategisch auf Umweltschutz hin orientiert ist - auch das schreibt Ihnen der
Sachverständigenrat ins Stammbuch -, dass Sie in verschiedenen anderen Bereichen, zum Beispiel dem Ökoaudit, total versagen.
Sie wollen, dass die Wirtschaft mehr in Sachen Ökoaudit unternimmt. Seit fünf Jahren wird darüber gesprochen - noch unter der alten Bundesregierung, die dies
wollte -, dass für die Betriebe, die Ökoaudit machen, ein
Anreiz geschaffen wird. Das haben Sie auf Eis gelegt. Davon haben Sie sich verabschiedet. Jetzt müssen Sie feststellen, dass Ihnen der Sachverständigenrat ins Stammbuch schreibt: Hier passiert nichts mehr, obwohl sich die
ISO 14 000 längst weiterentwickelt. Sie führen „Ökoaudit“ zwar immer noch im Munde, aber Sie tun nichts, um
das Interesse der kleinen und mittleren Unternehmen daran zu wecken und es entsprechend umzusetzen. Ganz im
Gegenteil!
Das sind Schwachpunkte, Herr Trittin. Das sind Kernpunkte, die wir Ihnen so einfach nicht durchgehen lassen
können. Es wäre viel besser, Sie hätten eine Vision, Sie
hätten einen strategischen Ansatz und entwickelten daraus operativ etwas. Genau das - sagt der Sachverständigenrat - ist bei Ihnen nicht der Fall. Wir bedauern das.
So kommen wir mit der Umweltpolitik in der Bundesrepublik Deutschland nicht weiter.
({12})
Dass die Jugendlichen langsam desinteressiert werden,
liegt nicht zuletzt daran, dass Sie eine solche Bilanz vorlegen.
Herzlichen Dank.
({13})
Jetzt hat der Bundesminister Jürgen Trittin das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Gelegentlich habe ich mich gefragt,
warum die Beifallsfreudigkeit bei der Union so groß ist.
Ich habe heute eine Erklärung dafür gefunden. Weil Sie
immer den gleichen Text vortragen, wissen die Kollegen
schon genau, wann sie klatschen müssen. Insofern brauchen sie nicht zuzuhören.
({0})
Im Ernst: Ich habe diese Rede von Herrn Lippold in
diesem Hause schon mindestens zehn Mal gehört. Sie besteht im Wesentlichen darin, uns mitzuteilen: Herr
Lippold ist gegen eine Ökologisierung des Steuersystems.
Herr Lippold ist gegen die Kernenergie.
({1})
- Entschuldigung! Jetzt habe ich ihn in Verdacht gebracht.
Er ist natürlich dafür. Ich bitte um Nachsicht, Herr Kollege.
Abschließend informiert er uns darüber, dass er von
den strategischen Vorstellungen der Bundesregierung
zum Klimaschutz keine Ahnung hat. Sehen Sie, ich bin ja
für vieles zuständig, lieber Kollege Lippold. Aber für Ihre
eigene Ahnungslosigkeit und die Unfähigkeit oder den
Unwillen zu lesen, dafür bin ich nicht verantwortlich.
({2})
Wenn Sie sich auf den Sachverständigenrat für Umweltfragen berufen, rate ich dringend dazu,
({3})
das Gutachten einmal in Gänze zu lesen,
({4})
einmal zu lesen, was er über die Notwendigkeit des Ausstiegs aus der Atomenergie schreibt: Die Frage der Endlagerung von Atommüll ist von denjenigen, die den Einstieg
in diese Technologie zu verantworten haben, nie gelöst
worden.
({5})
Ich rate Ihnen auch dringend, mit Ihren vollmundigen
Erklärungen zum Naturschutz sehr zurückhaltend zu sein.
Zu dem, was die Sachverständigen dort einklagen und von
uns erwarten,
({6})
haben wir einen Referentenentwurf vorgelegt. Hingegen
wird in allen CDU-Landesverbänden und deren befreundeten Organisationen massiv gegen eine Verbesserung
des Naturschutzes mobil gemacht.
({7})
Dr. Klaus W. Lippold ({8})
Ich fürchte, Sie werden an dieser Stelle enden wie an
anderen: dass Sie hier im Bundestag lautstark etwas fordern, was Sie zunächst in den Ländern und schließlich
gemeinsam bekämpfen. Das ist das umweltpolitische Profil der Union.
({9})
- Von wegen „Schmarren!“, Herr Kollege - das soll ja ein
freundliches bayerisches Wort sein, habe ich als Fischkopf mir sagen lassen -, ich kann es Ihnen durchdeklinieren.
({10})
Sie haben jahrelang gefordert - auch das steht im Gutachten des Sachverständigenrates -, wir sollten verhindern, dass es Scheinverwertung gibt und dass, wie es bisher der Fall ist, immer noch mehr als 50 Prozent des
Abfalls ohne Vorbehandlung auf einer Deponie landen.
Die Bundesregierung hat jetzt einen Verordnungsentwurf verabschiedet und vorgelegt, der ein Versäumnis von
Ihnen beseitigt und ein Verbot der Ablagerung nicht vorbehandelter Abfälle auf Deponien zum Ziel hat. Das geschieht nicht in Form einer technischen Anleitung, sondern in Form einer bußgeldbewehrten Verordnung, auf
deren Grundlage jeder Bürger und jeder Anlieger einer
Deponie klagen kann. Was höre ich aus dem Lande Baden-Württemberg als erstes Echo darauf? - Wir sind dagegen! Wir sind dagegen, sagen sie, obwohl wir sehr genau
wissen, dass unsere Gemeinden unter Scheinverwertung
und dem Entzug von Gewerbemüll leiden.
Sie selber haben einmal die Durchsetzung der TASiedlungsabfall und damit die Beendigung der Deponierung
auf niedrigen Standards zum Jahre 2005 gefordert. In dem
Moment, da wir das machen, sind Sie aber dagegen und
versuchen, dieses im Bundesrat zu blockieren.
({11})
Das ist Ihre Logik und entspricht der Art und Weise, wie
Sie Umweltpolitik machen. Entsprechend verhalten Sie
sich auch gegenüber den Gemeinden in der Frage von Planungssicherheit und Ökologie beispielsweise im Abfallsektor.
Ich möchte es an dieser Stelle bei diesem Hinweis belassen und nur noch eine Anmerkung zum Thema Klimaschutz machen. Sie können uns natürlich vorhalten, wir
hätten nur Ziele vorgelegt. Aber anders als Sie haben wir
nicht ein Globalziel genannt, sondern erstmalig den privaten Haushalten, dem Verkehr und der Industrie konkrete Reduktionsziele vorgegeben und außerdem den Unternehmen zur Erreichung dieser Reduktionsziele, zum
Beispiel bei der Gebäudesanierung oder bei der Verlagerung von Gütern auf die Bahn, konkret Geld zur Verfügung gestellt. Wir haben Instrumente wie zum Beispiel
die entfernungsabhängige Autobahngebühr für LKWs benannt. Wir haben diese Instrumente auch implementiert,
zum Beispiel in Form der Ökosteuer, die einen Anreiz
zum Energiesparen darstellt. Wenn Sie aber gegen diese
Instrumente sind, dann sagen Sie das und behaupten bitte
nicht, wir hätten lediglich Ziele vorgelegt. In der Tat haben wir diese Ziele sektoral sehr präzise bestimmt und mit
entsprechenden Instrumenten versehen.
({12})
Ich bin jetzt sehr gespannt, wie sich die beiden Fraktionen CDU/CSU und F.D.P. in der aktuellen politischen
Debatte etwa zu der Frage verhalten werden, wie wir
künftig damit umgehen, dass ökologisch unverträglichere
Verpackungen, zum Beispiel für Getränke, im Vormarsch sind. Sie müssen es sich einmal klar machen: In
diesem Lande wurden in diesem Jahr 183 Millionen Bierdosen mehr als im Jahre zuvor verkauft; und das bei stagnierendem Bierabsatz. Das hat auch Auswirkungen innerhalb der Wirtschaft, zum Beispiel auf das Verhältnis
zwischen kleinen und großen Brauereien.
({13})
Große Brauereien können beides anbieten, kleine Brauereien müssen sich entscheiden. Kleine Brauereien haben
sich auf die Verpackungsverordnung des Herrn Töpfer,
die Frau Merkel mit der F.D.P. erst 1998 verändert hat,
verlassen und haben in Mehrwegsysteme investiert.
({14})
Sie erwarten von dieser Bundesregierung, vom Bundestag
und vom Bundesrat, dass dieses Vertrauen in die Rechtsordnung nicht enttäuscht wird.
Sie haben gute Gründe dafür, denn auch die zweite
Ökobilanz für Getränkeverpackungen hat zu dem eindeutigen Ergebnis geführt, dass Dosen und Einwegglas ökologisch nachteilig sind. Wir sollten daraus gemeinsam die
Konsequenz ziehen und uns von einer Verordnung vom
Anfang der 90er-Jahre, deren Kompromisscharakter unübersehbar ist und die an einigen Stellen unlogisch ist
- wenn sie zum Beispiel jetzt so in Kraft treten würde,
würde Pfand auf die Dose Bier erhoben, aber auf die Dose
Cola nicht -, zugunsten einer einfachen und klaren Regelung verabschieden. Egal, wie man zur Frage „Dose oder
Einwegglas“ steht, Tatsache ist: Ökologisch auch nur in
die Nähe des Vertretbaren kommen diese Verpackungen
nur dann, wenn sie tatsächlich verwertet werden. Damit
sie verwertet werden, ist das Pfand unzweifelhaft ein vernünftiges Instrument.
Ich bin völlig gegen dieses Gerede vom „Zwangspfand“, das man von Herrn Henkel und anderen hört. Ist
denn jemand gezwungen, seine Dose in die Landschaft
oder auf die Straße zu werfen? Niemand zwingt ihn dazu!
Jeder kann seine Dose zurückbringen und bekommt sein
Pfandgeld.
({15})
Ich freue mich, dass die Umweltminister aller Länder
unabhängig von der Parteizugehörigkeit - bei der TA
Siedlungsabfall haben wir andere Erfahrungen gemacht;
ich habe das zu Beginn meiner Rede beschrieben - zu der
von mir vorgeschlagenen einfachen Regelung - weg von
dem ganzen Quotengerede hin zu einer künftigen Unterwerfung aller ökologisch nachteiligen Verpackungen unter eine Pfandpflicht, um ihre Verwertung sicherzustellen - Ja gesagt haben. Dies wird für die Getränkewirtschaft in diesem Lande Folgen haben.
Dieser Vorschlag wird vom Städte- und Gemeindebund, vom Deutschen Landkreistag, vom Städtetag, von
den mittelständischen Brauereien in diesem Lande und
vom Getränkefachhandel unterstützt. Wir haben es mit
einer sehr breiten Koalition, gerade was die Wirtschaft angeht, zu tun - sofern man die Aussagen der Wirtschaft
nicht mit dem ideologischen Gerede des BDI-Präsidenten
verwechselt.
An dieser Stelle muss ich Ihnen auch im Hinblick auf
den Antrag der F.D.P. eines sagen: Wettbewerb und Ökologie stellen uns die klare Aufgabe, dass wir aus ökologischen und ökonomischen Gründen nicht zulassen dürfen,
dass mithilfe von Einweg kleine ortsnahe Unternehmen
mit ihren ökologisch vorteilhaften Verpackungen von
großen Brauereien und Brunnen vom Markt gefegt werden. Wer dabei tatenlos zuschaut, der kann für sich nicht
in Anspruch nehmen, für den Mittelstand in diesem Lande
zu sprechen.
({16})
Ich füge eines hinzu: Von der CDU ist der unselige Begriff der „deutschen Leitkultur“ in den Raum gestellt worden.
({17})
- Das sage ich Ihnen gleich. - Wenn sich dieser Trend hin
zu immer mehr großen Brauereien und zur Verdrängung
von kleinen Brauereien fortsetzt, dann würde das in der
Tat einen Teil unserer Kultur - in Deutschland gibt es eine
vielfältige Bierkultur: von Weizen bis Pils, von Kölsch bis
Alt - zerstören. Deswegen freue ich mich, dass Schwarze,
Rote und Grüne anders als die Blau-Gelben dafür sind,
dass wir diesen Teil unserer vielfältigen Kultur gemeinsam erhalten.
({18})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Lippold das Wort.
Frau
Präsidentin! Herr Minister, ich möchte einige wenige Anmerkungen machen. Der vermeintliche Vorwurf, hier
werde immer wieder das Gleiche erzählt, trifft uns nicht.
Solange Sie mit Ihren Defiziten nicht aufräumen, werden
wir den Finger immer wieder in die Wunde legen und sagen, was Sie nicht tun. Sie haben sich gerade wieder zu
den wesentlichen Punkten, die wir vorher angesprochen
haben - strategisches internationales Vorgehen beim Klimaschutz -, völlig ausgeschwiegen.
({0})
Es muss angesprochen werden, dass Sie auf diesem Gebiet ein absoluter Versager sind.
({1})
Bei Ihnen langt es gerade dazu, einen Artikel zusammen
mit einem Umweltminister einer anderen Nation zu
schreiben. Sie sind aber nicht in der Lage, strategisch und
operativ zu arbeiten, wie es zum Beispiel die USA tun.
Herr Trittin, ich komme zur Kernkraft. Dass sich diejenigen, die Endlagerprojekte verhindern, hier hinstellen
und sagen: „Da passiert nichts“, ist - das sage ich so deutlich - wirklich eine große Unverschämtheit. Sie tun alles,
damit eine geordnete Endlagerung nicht möglich ist, und
dann berufen Sie sich darauf, dass es in Deutschland zurzeit keine gesicherte Endlagerung gebe. Setzen Sie doch
einmal den Weg fort, den Sie mittlerweile koalitionär vereinbart haben! Denken Sie auch daran, dass Sie noch
einen Konsensvertrag zu erfüllen haben!
Herr Trittin, bei bestimmten Dingen wird immer wieder deutlich, dass Sie in der langen Kette der Umweltminister derjenige sind, der am wenigsten Detailkenntnisse
besitzt. Sie haben gerade zu Baden-Württemberg gesagt,
das Land akzeptiere keine Vorbehandlungen. Das ist völlig falsch. Wir haben erst gestern Gespräche mit Vertretern dieses Landes geführt. Dabei ist sehr deutlich geworden, dass man von der Grenzlinie 2005 nicht abweichen
will. Sie sollten sich besser informieren. Sie sollten nicht
bei Ihren Kernthemen - sie sind falsch, siehe Ökosteuer bleiben und Sie sollten nicht so dummes Zeug reden, wie
Sie es gerade gemacht haben. Das können wir Ihnen nicht
durchgehen lassen.
({2})
Herr Trittin, zur Gebäudesanierung. Das, was an Ihrer Politik gut ist, kommt von uns. Die KfW-Programme
zur Gebäudesanierung haben die unionsgeführten Parteien gemeinschaftlich mit der F.D.P. auf den Weg gebracht. Sie führen das fort. Wir haben Ihr Vorhaben übrigens nicht kritisiert, weil wir im Gegensatz zu Ihnen das,
was vernünftig ist, akzeptieren und nicht aus ideologischer Verbohrtheit sagen: Weil es von Trittin kommt, ist
es schlecht.
({3})
Das haben wir nicht nötig. Wo Sie ausnahmsweise einmal
sachlich gut sind, akzeptieren wir das. Nur, bedauerlicherweise ist das der Ausnahmefall.
In diesem Bereich sind Sie nicht kreativ. Wir wollen
weitergehen, Herr Trittin: Wir wollen neben der Zinsbezuschussung auch noch eine steuerliche Förderung. Ich
hoffe, dass Sie diesen Weg mitgehen, damit wir wesentlich mehr Erfolg haben als in der Vergangenheit. Hier gibt
es weite Bereiche, die noch angegangen und aufgearbeitet werden müssen.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ein
letzter Punkt. Wenn Ihnen die Verlagerung des Verkehrs
von der Straße auf die Schiene so wichtig ist, was sagen
Sie dann zu Herrn Mehdorn, der jetzt permanent Vorstellungen in den Raum stellt, wie das Schienennetz ausgedünnt und zusammengestrichen werden soll, und der die
Initiative, das Netz und den Betrieb zu trennen, was ermöglichen würde, mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen, ablehnt, sodass die alte Blockadepolitik bestehen
bleibt? Herr Trittin, darauf müssen Sie Antworten finden.
Es wäre gut, Sie täten es.
({0})
Meine Damen und
Herren, dies war ein typischer Fall einer Nichtintervention. Der Kollege Lippold ist zwar angegriffen worden, er
hat aber im Grunde nicht auf das repliziert, was der
Bundesminister gesagt hat. Ich sage das allen, um daran
zu erinnern, dass wir uns an die Spielregeln halten sollten.
Ich finde, der Begriff „Quatsch“ ist nicht parlamentarisch. „Schmarren“ ist die freundliche Umschreibung dessen. „Dummes Zeug“ zu sagen ist auch nicht gerade eine
elegante Art. Die Bayern finden zwar den Begriff
„Schmarren“ gut; aber wir sollten schon ein bisschen aufpassen, dass wir einigermaßen parlamentarisch miteinander umgehen.
({0})
Jetzt kann der Herr Bundesminister erwidern. - Bitte
sehr.
Frau Präsidentin! Lieber
Herr Lippold, eigentlich verbäte es sich angesichts der
Tonalität, die Sie angeschlagen haben, Ihnen zu antworten. Ich will deswegen nur auf zwei Punkte hinweisen:
Erstens. Das Land Baden-Württemberg hat heute
Morgen durch seinen verantwortlichen Umweltminister
auf der Umweltministerkonferenz angekündigt - das hat
er auch gestern getan -, dem Entwurf der Ablagerungsverordnung zu widersprechen, ihm also nicht zuzustimmen. Mehr habe ich hier nicht benannt.
Ich habe darauf verwiesen, dass es eine Doppelzüngigkeit ist, auf der einen Seite im Zuge des Landtagswahlkampfes zu beklagen, dass aufgrund der Dumpingpreise
auf zugelassenen Deponien in anderen Bundesländern,
also solchen außerhalb Baden-Württembergs, anspruchsvolle Entsorgungseinrichtungen nicht ausgelastet sind,
und sich gleichzeitig dem Instrument, das 80 Prozent dieser Scheinverwertung unterbinden würde, zu verweigern.
Aus dieser Klemme kommen Sie auch nicht mit dem
Gerede über Verbesserungen und Ähnliches heraus. Ich
hoffe nicht, dass die B-Länder insgesamt diese Haltung
einnehmen. Ich bin relativ zuversichtlich, dass wir diesen
wahlkampfbedingten Ausreißer in Baden-Württemberg
angesichts des bestehenden großen Konsenses in den
Griff bekommen. Nur, Sie sollten sich schon gefallen lassen, dass Sie am tatsächlichen Verhalten Ihrer Parteifreunde dort, wo sie Verantwortung tragen, gemessen
werden.
({0})
Zweitens. Ich freue mich, dass Sie meinen zusammen
mit Michael Meacher verfassten Artikel gelesen haben.
Ich bin gerne bereit, Ihnen die hinter diesem Artikel stehenden umfangreichen Strategiepapiere zur Verfügung zu
stellen, auch wenn ich gelegentlich der Auffassung bin,
dies könnte bedeuten, Perlen vor die Säue zu werfen.
- Frau Präsidentin, entschuldigen Sie, ich meinte das im
übertragenen Sinne.
Das hoffe ich.
Ich will noch auf eines hinweisen: Dass Sie uns nun die Klimaschutzpolitik der USA
zum Vorbild machen wollen, verwundert mich sehr. Bisher habe ich mich in dieser Hinsicht eher als derjenige gesehen, der in der Tradition zum Beispiel von Klaus Töpfer
dafür Sorge zu tragen hat, dass die Industrieländer ihrer
Verantwortung, die CO2-Emissionen auch tatsächlich selber zu reduzieren und keine neuen Schlupflöcher zu
schaffen, gerecht werden. Das ist die Linie, auf der wir in
Den Haag verhandeln.
({0})
Nun hat die Kollegin
Birgit Homburger, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Wir haben heute drei wissenschaftliche Gutachten und vier Anträge vorliegen, die wir beraten
sollen. Das bietet den Anlass für eine Bilanz der Umweltpolitik innerhalb von 90 Minuten. Man könnte sich fragen: Geht das überhaupt? Selbstverständlich geht das. Wir
können uns kurz fassen, weil der Blick, Herr Minister, in
die umweltpolitische Landschaft der 14. Legislaturperiode ins Leere geht.
({0})
Oder um den Sachverständigenrat zu zitieren:
Die Erwartungen an die Umweltpolitik sind nach
dem Regierungswechsel im Jahre 1998 und der
Übernahme des Umweltministeriums durch Bündnis 90/Die Grünen besonders hoch. Die Vorstellung,
dass damit die Umweltpolitik wieder eine Aufwertung erfahren würde, war sicherlich von vornherein
überzogen.
Wir stehen zwei Jahre, nachdem die rot-grüne Regierung angetreten ist, auf dem Stand von vor zweieinhalb
Jahren plus der so genannten Ökosteuer und dem, was Sie
Dr. Klaus W. Lippold ({1})
einen Atomausstieg nennen. Es bleibt nur noch zu erwähnen, was Bundesverkehrsminister Klimmt - im Übrigen
ohne Widerspruch von Bundeskanzler Schröder - in Vorbereitung der nächsten Bundestagswahl zum Thema Ökosteuer erklärt hat: 2003 muss damit Schluss sein. Es bleibt
wirklich nichts mehr übrig, worüber man reden könnte.
Deshalb will ich mich auf das konzentrieren, was derzeit aktuell ist: Klimaschutz und Zwangspfand. Sie haben
es angesprochen. Es hat nicht viel gefehlt und Sie wären
beim Klimaschutz mit völlig leeren Händen dagestanden. Nun haben Sie uns noch schnell ein Klimaschutzpaket präsentiert. Aber welches ist das zentrale Element?
Das staunende Publikum stellt fest: eine Selbstverpflichtung.
({2})
Die Industrie verpflichtet sich, ihre CO2-Emissionen
bis 2005 gegenüber 1990 um 28 Prozent statt, wie bisher
zugesagt, um 20 Prozent und bis 2012 gegenüber 1990 um
35 Prozent zu senken. Wir haben gar nichts dagegen. Aber
ich kann über die wundersame Wandlung des grünen Umweltministers zum Freund der Selbstverpflichtung nur
staunen.
({3})
Die F.D.P. setzt in der Umweltpolitik seit jeher auf
Selbstverpflichtungen und freiwillige Vereinbarungen.
Beifall haben wir dazu von der grünen Seite im Übrigen
überhaupt noch nicht gehört.
({4})
Stattdessen wurden Skepsis geäußert und der mahnende
Zeigefinger erhoben. Es hat immer geheißen, Selbstverpflichtung ohne den Knüppel des Ordnungsrechts sei Teufelszeug.
Nun, Herr Trittin, wurden Sie im Kanzleramt offensichtlich wieder einmal eines Besseren belehrt. Ausgerechnet die Selbstverpflichtung ist das zentrale Element
im Klimaschutzpaket der Bundesregierung: kein bindender Vertrag, kein Ordnungsrecht, keine verpflichtenden
Zielvorgaben für einzelne Branchen oder Unternehmen
und keine Sanktionen. Alles das, was die Grünen in den
letzten zehn Jahren verteufelt haben, wird jetzt von einem
grünen Minister gemacht. Das zeigt: keine Linie, kein
Rückgrat, keine Durchsetzungsfähigkeit, Herr Trittin.
({5})
Im Verkehrsbereich gilt das „Prinzip Hoffnung“. Diese
Bezeichnung stammt nicht von mir, sondern vom Bund
für Umwelt und Naturschutz Deutschland. Im Gebäudebereich gibt es nur altbackene Subventionsprogramme.
In der Summe ist es eine Fragmentensammlung, ein
Stückwerk, eine Klimapolitik ohne Vision und ohne ganzheitliches Konzept.
Schauen wir uns einmal an, was Sie vor zweieinhalb
bzw. zwei Jahren im Wahlkampf und zu Beginn der Legislaturperiode gesagt haben. Wenn ich das mit dem vergleiche, wie Sie sich jetzt benehmen, dann kann ich nur
sagen: Sie laufen wie ein stolzer Hahn herum
({6})
- Gockel ist der baden-württembergische Ausdruck,
danke, Herr Repnik -, gehen als solcher ins Bundeskanzleramt hinein und kommen jedes Mal als gerupftes Federvieh wieder heraus.
({7})
Wenn man mit all den Federn, die Sie in den letzten zwei
Jahren lassen mussten, Betten füllen wollte, könnte man
ganze Legionen versorgen.
({8})
An dieser Selbstverpflichtung ist noch etwas bemerkenswert; nämlich die Gegenleistungen, die die Bundesregierung der Industrie zugesichert hat: Die Bundesregierung verzichtet auf ordnungsrechtliche Vorgaben zur
Durchführung der Klimaziele. Sie verzichtet auf die Einführung eines verbindlichen Energie-Audits. Eine zwingende Implementierung der Kioto-Mechanismen wird es
in Deutschland nicht geben. Das ist ein hoher Preis, Herr
Minister Trittin, um klimapolitisch nicht mit leeren Händen dazustehen.
({9})
Wäre eine solche Vereinbarung unter Beteiligung der
F.D.P. zustande gekommen, hätte es einen grünen Aufschrei und einen öffentlichen Aufstand gegeben. Die Liberalen haben trotzdem immer zu ihrer Linie gestanden.
Wir haben uns seit Jahren konsequent für Zertifikate und
einen möglichst effizienten Klimaschutz eingesetzt.
Dafür sind wir von Ihnen massiv diffamiert worden. Angesichts dessen, was Sie vorweisen können, wäre ich an
Ihrer Stelle zukünftig leiser. Sie werfen alle grünen
Grundsätze Stück für Stück über Bord. Das ist eine Politik der Beliebigkeit und es geht um reinen Machterhalt.
({10})
Das, was Sie betreiben, war im Übrigen der endgültige
grußlose Abschied von der internationalen Klimapolitik
und von einer aktiv gestaltenden Teilnahme. Dies ist ein
ungutes Vorzeichen für die Klimakonferenz in Den Haag.
Die frühere Regierung hat am Erfolg von Kioto einen
maßgeblichen Anteil gehabt. Jetzt finden wir international
nicht mehr statt; das wundert mich auch überhaupt nicht.
Sie werden nämlich international schlichtweg nicht ernst
genommen.
({11})
Das zeigt die Debatte der letzten Woche über die Rückführung des Atommülls aus La Hague nach Deutschland.
In Frankreich werden Sie als Gesprächspartner nicht mehr
akzeptiert. Das, was zwischen Unternehmen vertraglich
- abgesichert durch einen Notenwechsel von Staaten festgelegt ist, wird zur Chefsache erklärt, die der Bundeskanzler verhandeln muss, weil man mit Ihnen nicht mehr
reden will.
({12})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine kleine Unterbrechung? - Leider ist die AnBirgit Homburger
zeige für die Redezeit kaputt. Ich möchte Sie nicht unter
Druck setzen, aber jetzt ist ungefähr die Hälfte Ihrer Redezeit um.
({0})
Vielen Dank. - Das alles
zeigt symptomatisch, wo wir international stehen, und es
ist für die demnächst in Den Haag stattfindende internationale Klimakonferenz ein schlechtes Zeichen.
Die Herausforderung besteht darin, konzeptionelle Impulse für eine wirksame Klimapolitik auf nationaler und
internationaler Ebene zu geben. Dass Sie jetzt schriftlich
dokumentiert haben, dass Sie die Kioto-Mechanismen
nicht umsetzen und weiter untätig sein wollen, wird fatale
Konsequenzen haben: Statt in Deutschland werden die
Standorte für Klimabörsen im Ausland eingerichtet;
Spielregeln für internationale Klimatransaktionen werden
ohne Einflussnahme Deutschlands ausgehandelt.
Andere Länder in der Europäische Union haben den
Börsenhandel mit Emissionsrechten längst vorbereitet.
Diese Woche Dienstag hat der britische Premierminister
Blair in einer Grundsatzrede erklärt, dass Großbritannien
nächstes Frühjahr in den Zertifikathandel einsteigen wird.
Das ist Fakt. Bei uns: Fehlanzeige auf der ganzen Linie.
Die Industrie wird keine Schwierigkeiten haben. Sie weiß
im Zweifel auch ausländische Klimabörsen zu nutzen. Allein gelassen darf sich wieder einmal der Mittelstand
fühlen. Kleine und mittlere Unternehmen werden um die
Chance gebracht, den modernen Klimaschutz beizeiten
wirtschaftlich zu nutzen.
({0})
Es bleibt festzustellen: Rot-Grün reicht der klimapolitische „big deal“ mit der Großindustrie. Das ist alles andere als verantwortliche und vorausschauende Klimapolitik für die Bundesrepublik Deutschland.
({1})
Deswegen fordern wir Sie in dem Antrag, den wir eingereicht haben und der heute zur Debatte steht, auf, sich
für die Einführung eines Börsenhandels mit Emissionszertifikaten in Deutschland einzusetzen. Auch der deutsche Mittelstand muss rechtzeitig die Gelegenheit zur
Teilnahme am internationalen Handel mit Klimazertifikaten haben, sodass er die damit verbundenen Wettbewerbsvorteile nutzen kann.
Im Übrigen hat auch der Sachverständigenrat die Bedeutung von Zertifikaten betont. Der Sachverständigenrat
soll laut Erlass über seine Einrichtung mit seinen Gutachten die umweltpolitische Willensbildung des Parlaments
erleichtern und den Diskurs über die Umweltpolitik wissenschaftlich fundieren. Ich zitiere aus dem Gutachten:
Der Umweltrat ist der Ansicht, dass das Instrument
der handelbaren Emissionsrechte aufgrund seiner
Überlegenheit, insbesondere bezüglich der ökologischen Treffsicherheit, der ökonomischen Effizienz
und der globalen Einsatzfähigkeit, nicht leicht substituiert werden kann.
Aber auch solcher wissenschaftlicher Rat schert Sie offensichtlich wenig. Sie haben ja schon reagiert und den
Sachverständigenrat nahezu komplett abgelöst.
Nun zur Verpackungsverordnung und zum Thema
„Zwangspfand“: Frau Kollegin Caspers-Merk, Ihr Vorwurf läuft ins Leere. Auch das, was der Minister gesagt
hat, ist eine Unverschämtheit. Was er den Baden-Württembergern unterstellt, stimmt nicht. Sie haben im Zusammenhang mit der TASi gesagt, den Gemeinden würde
der Gewerbemüll entzogen und einer Scheinverwertung
zugeführt. Sie haben das lapidar in einem Nebensatz dahingesagt. Das ist eine unglaubliche Beschuldigung des
Handwerks und entbehrt jeglicher Grundlage.
({2})
Die Prognos AG hat zu Beginn der Woche in einer Anhörung Ihrer Fraktion, Frau Kollegin Caspers-Merk, bestätigt:
Der Marktanteil von ökologisch vorteilhaften
Verpackungen ist seit 1991 per saldo gestiegen, nicht
hingegen gesunken. Die Inkraftsetzung einer Sanktion ist vor diesem Hintergrund problematisch.
({3})
Sie scheinen bei der Veranstaltung Ihrer Fraktion nicht dabei gewesen zu sein.
({4})
- Wenn Sie sie sogar geleitet haben, ist es umso schlimmer, wenn Sie nicht mehr wissen, was dort gesprochen
wurde.
Ich will ganz klar sagen: Wenn Sie uns vorwerfen, die
Quote sei nicht erreichbar und deswegen wollten wir die
Quote beseitigen, ist das falsch. Es ist vielmehr so, dass
uns die UBA-II-Studie deutlich gezeigt hat, dass nicht allein Mehrweg ökologisch vorteilhaft ist, sondern dass es
vielmehr inzwischen Einwegverpackungen gibt, die aus
ökologischer Sicht den Mehrwegverpackungen gleichzusetzen sind.
({5})
Wenn das so ist, ist die Quote in ihrer bisherigen Ausprägung schlichtweg überholt. Wir müssen das zur Kenntnis
nehmen und reagieren. Wir müssen dabei bereit sein, eine
Diskussion zu führen und den Menschen zu sagen, es
habe sich im Verpackungsbereich aufgrund der Politik der
alten Bundesregierung Gott sei Dank einiges getan. Wir
müssen neue Wege gehen. Insofern ist der Antrag der
F.D.P. nicht nur vertretbar, sondern das Gebot der Stunde.
({6})
Ich kann nur sagen: Entwickeln Sie endlich ein klares,
verlässliches und umfassendes Handlungsprofil für die
Vizepräsidentin Anke Fuchs
deutsche Umweltpolitik, Herr Minister Trittin, sonst wird
es in zwei Jahren heißen: außer Spesen nichts gewesen.
({7})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Caspers-Merk das Wort.
({0})
- Ja, darauf kann sie dann antworten. - Frau Kollegin,
bitte sehr.
Frau Kollegin
Homburger, Sie haben mich direkt auf die von uns durchgeführte Anhörung zum Thema Verpackungsverordnung
angesprochen. Ich habe diese Anhörung gemeinsam mit
der Kollegin Mehl durchgeführt, weil wir alle Marktbeteiligten hören wollten. Meiner Zusammenfassung ist von
keiner Seite widersprochen worden. Wir konnten gemeinsam feststellen:
Erstens. Die Zeit zum Handeln ist reif, weil der Anteil
der Mehrwegverpackungen noch nie so dramatisch abgestürzt ist wie in den ersten Monaten dieses Jahres.
Zweitens. Alle Anwesenden waren sich darin einig,
dass der Verzicht auf eine Sanktion die Mehrwegsysteme
ökonomisch an die Wand fahren lässt.
Drittens. Alle Beteiligten waren sich auch darin einig,
dass eine Pfandregelung, mit der ein umweltbewusstes
Verhalten der Bürger belohnt wird, da bei einer Rückgabe
der Verpackung das Pfand vollständig zurückgegeben
wird, das Instrument mit der höchsten Akzeptanz ist und
gleichzeitig die angestrebten Ziele am besten erreicht.
Sie haben aus der Stellungnahme der Prognos AG aus
dem Zusammenhang gerissen zitiert. Auf Nachfrage hat
der Gutachter bestätigt, dass man die Pfandregelung entsprechend umsetzen kann und er hat auch deutlich gemacht, dass Interpretationen, wie sie beispielsweise der
BDI hinterher in die Welt gesetzt hat - er hat gesagt, man
könne in der Ökobilanz nicht erkennen, was vorteilhaft
und was nicht vorteilhaft sei -, nicht zutreffen.
({0})
Nehmen Sie auch das bitte zur Kenntnis. Es ist immer
schlecht, wenn man sich auf Dinge vom Hörensagen verlässt, ohne selbst dabei gewesen zu sein.
({1})
Nun möchte die Kollegin Homburger antworten. Bitte sehr.
Frau Kollegin CaspersMerk, ich habe es nicht nötig, mich auf das Hörensagen
zu verlassen. Mir liegt die Stellungnahme der Prognos
AG, die sie bei Ihnen schriftlich abgeliefert hat, vor. Ich
kann Ihnen nur sagen: Ich verlasse mich lieber auf das,
was in der schriftlichen Stellungnahme steht, als auf Ihre
Interpretation, die einfach nur dem angepasst wird, was
Sie gerade brauchen.
({0})
Ich möchte zwei Punkte aufgreifen, die so, wie Sie sie
dargestellt haben, nicht stimmen. Sie sagen: Die Zeit zum
Handeln ist reif. Genau dasselbe sage ich auch, und zwar
seit einer ganzen Weile. Aber es blieb bisher ungehört. Sie
sagen, der Anteil der Mehrwegverpackungen sei regelrecht abgestürzt. Sie sollten jetzt endlich einmal redlich
sein und nicht für eine solche Begriffsverwirrung sorgen,
wie Sie es im Augenblick tun. Sie reden auf der einen
Seite immer von Mehrwegverpackungen und neuerdings
auf der anderen Seite - weil auch Sie akzeptieren müssen,
dass sich da etwas verändert hat - von ökologisch vorteilhaften Verpackungen. Wenn Sie von ökologisch vorteilhaften Verpackungen reden, dann müssen Sie klar sagen,
dass auch bestimmte Einwegverpackungen ökologisch
sinnvoll sein können. Das wird in der Studie eindeutig
festgestellt. Wenn Sie sagen, der Anteil der Mehrwegverpackungen sei abgestürzt, dann müssen Sie auch akzeptieren, dass Einwegverpackungen unter Umständen ökologisch sinnvoll sein können, und dann müssen Sie auch
zur Kenntnis nehmen, dass die Gesamtquote des ökologisch Sinnvollen seit 1991 nicht gesunken ist, sondern
dass sie sich erhöht hat.
({1})
Ein letzter Punkt: Sie haben behauptet, das Zwangspfand stoße auf größte Akzeptanz. Ich finde es ungeheuerlich, dass Sie immer wieder auf die Pfandpflicht zurückkommen und nicht akzeptieren, dass auch darüber längst
entsprechende Erkenntnisse vorliegen. Sie nehmen mit
der Einführung des Zwangspfandes in Kauf, dass der
Handel reagieren muss, das heißt, dass er mit einem
Zwangspfand belegte Einwegverpackungen zurücknehmen muss. Um das bewerkstelligen zu können, muss der
Handel - das ist schon angekündigt worden - vermutlich
Rieseninvestitionen in Höhe von 3,5 bis 5 Milliarden DM
für Rücknahmeautomaten tätigen. Wenn der Handel erst
einmal solche Investitionen getätigt hat, dann wird er auf
die Abschaffung der Mehrwegverpackungen drängen.
Wenn Sie diesem Drängen nachgeben würden, würden
Sie das Mehrwegsystem auch dort kaputtmachen, wo es
ökologisch sinnvoll ist. Deswegen ist das, was wir fordern, ökologisch sinnvoll und nicht das, was Sie im Moment unter ideologischen Gesichtspunkten machen.
({2})
Jetzt hat das Wort die
Kollegin Eva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Trittin, der Ausdruck „Schmackes“ ist eindeutig kein bayerisches Wort,
nur zu Ihrer Information.
({0})
- „Schmarren“ ja!
({1})
Wir reden heute über mehrere Anträge und eine ganze
Reihe von Umweltgutachten. Schade, dass wir über sie
alle gemeinsam diskutieren müssen, aber es ist offensichtlich nicht anders machbar. Auch ich muss mich auf
ein paar Schwerpunkte der Umweltpolitik beschränken,
die aus der Sicht der PDS-Fraktion sehr wichtig sind, unter anderem deshalb, weil sich ein Bericht mit den globalen Umweltrisiken und ein Gutachten mit den Schritten
ins nächste Jahrtausend beschäftigt. Zudem steht die Klimakonferenz in Den Haag vor der Tür. Damit möchte ich
auch beginnen.
Für den Klimaschutz sind Energie- und Verkehrspolitik die zentralen Regler, mit denen die Senkung des
CO2-Ausstoßes angeregt werden kann. Sicherlich hat die
Bundesregierung mit ihrem Erneuerbare-Energien-Gesetz Impulse für die Entwicklung und den Ausbau regenerativer Energien gesetzt. Das ist eine schlüssige Fortentwicklung des Stromeinspeisungsgesetzes, allerdings
unter ansonsten beklagenswerten energiepolitischen Rahmenbedingungen.
Die überstürzte und kopflose Liberalisierung der Energiemärkte und der verhinderte Atomausstieg - ich betone:
der verhinderte; wenn man vom Atomausstieg spricht,
darf man nicht vergessen, dass man über sehr lange Zeiträume redet; daran gibt es nichts zu deuteln, selbst wenn
Sie das kritisieren; aber Sie sind sowieso gegen den Atomausstieg; wieso Sie ihn überhaupt kritisieren, wenn er
doch nicht stattfindet, verstehe ich auch nicht ({2})
haben einen Aufschwung des fossil-atomaren Billigstroms zur Folge. Dies wiederum kann - vom unverantwortlichen atomaren Risiko und von der ungelösten Endlagerfrage einmal ganz abgesehen - den Übergang zu
einer solaren Energiewirtschaft nur behindern. Tatsächlich wurden schon etliche Forschungsvorhaben auf dem
Gebiet der Energieeinsparung eingestellt, weil sie sich unter den Bedingungen sinkender Strompreise nicht mehr
rechneten.
In dieser Situation wurde Rot-Grün umweltpolitisch
von den Erdöl exportierenden Staaten und Erdölkonzernen beschenkt: Die Ölpreise wurden drastisch erhöht. Ein
Geschenk ist das deshalb, weil die Bundesregierung den
sinkenden Kraftstoffverbrauch in diesem Jahr als umweltpolitischen Erfolg ihrer so genannten Ökosteuer verkauft. Sie will damit verschleiern, dass die Konstruktion
dieser Steuer und die Verwendung des Aufkommens ökologisch weitgehend wirkungslos und zudem sozial zutiefst ungerecht sind.
({3})
Überdeutlich wurde bei der Debatte über die Ökosteuer
auch, dass die Bundesregierung im Bereich der Mobilität
nichts, aber auch gar nichts an umweltfreundlichen Alternativen zu bieten hat. Womit soll der Pendler oder die
Pendlerin zur Arbeit fahren, wie sollen sich Menschen in
der Freizeit ökologisch bewegen, wenn Buslinien immer
weiter ausgedünnt werden, die Interregios zur Disposition
stehen und die Fahrpreise immer weiter steigen? Ich rate
Ihnen, weiter mit dem Zug zu fahren; dann werden Sie
merken, es wird immer mehr ausgedünnt, Nachtzüge werden gestrichen. So kann es nicht sein.
Ich halte das für verhängnisvoll; denn nach der Energieerzeugung und -umwandlung ist der Verkehr Hauptemittent von Klimagasen. Laut einer Studie des Wuppertal-Instituts wird ohne Gegenmaßnahmen das Wachstum
des Verkehrs bis zum Jahre 2020 sämtliche Einsparungen von Klimagasen in den anderen Bereichen zunichte
machen. Allein die LKW-Emissionen werden drastisch
um 38 Prozent wachsen, und mit einem Anstieg von
120 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent wird der Flugverkehr im Jahre 2020 das Klima genauso stark belasten wie
der PKW-Verkehr. Schon jetzt betragen die CO2-äquivalenten Belastungen aus dem deutschen Flugverkehr jährlich 37,6 Millionen Tonnen. Das sind rund 25 Prozent der
Gesamtbelastungen aus dem Verkehrssektor.
Ihnen von der rechten Opposition kann ich nur sagen:
Ich verstehe Ihre Kritik an der Umweltpolitik nicht. Sie
haben diese Verkehrspolitik begonnen, und wenn wir jetzt
nicht aufpassen, führt die neue Regierung sie einfach so
fort.
({4})
Sie haben also überhaupt keinen Grund, sich dauernd aufzuregen.
Es kommt weder ein Ja zu Tempo 130 auf den Autobahnen noch kommen Impulse zur Reduzierung der
Frachtfliegerei. Es sollen auch noch Flughäfen ausgebaut
werden, siehe den Flughafen in Frankfurt. Ob die Schwerlastabgabe greifen wird, bleibt fraglich.
Wenn wir den Gehalt der Aussagen zum Verkehr im gerade verabschiedeten Klimaschutzprogramm der Bundesregierung prüfen, finden wir da zwar einige zu unterstützende Maßnahmen; allerdings sind sie nichts weiter als
Absichtserklärungen ohne konkrete Termine und ohne
Kennziffern, sie sind Prosa.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe es schon
angedeutet: Wir haben es in Deutschland mit einem gespaltenen Energiemarkt zu tun - einerseits erhöhte
Preise für Mineralöl und Erdgas, andererseits stark gesunkene Preise für Strom, insbesondere für Industriekunden, infolge der Strommarktliberalisierung. Damit sind
die ökonomischen Rahmenbedingungen auch für die ökologisch sehr sinnvolle Kraft-Wärme-Kopplung schlechter, als sie sein könnten. Durch die hohen Öl- und Gaspreise bei gleichzeitigem Strompreisverfall geraten sie
finanziell weiter unter Druck. Hier muss eine Quotenregelung, wie sie die PDS schon lange vorgeschlagen hat,
die gegenwärtige Bonusregelung schnellstens ersetzen.
Das erwarten wir.
Die hohen Öl- und Gaspreise haben auch etwas Gutes:
Sie machen die Nutzung der Solarthermie, also der Solarwärmenutzung, schlagartig wirtschaftlich. Auch Windenergie und andere Formen alternativer Energien profitieren in dieser Richtung, wenn auch nur eingeschränkt,
denn der gefährliche Atomstrom bleibt uns ja dank RotGrün noch lange erhalten.
Die PDS fordert von der Bundesregierung eine umfassende öffentliche Kampagne für Alternativen zum bestehenden fossil-atomaren Energiesystem. Die Mittel für den
Umbau müssen jetzt und nicht erst morgen bereit gestellt
werden. Das Aufkommen aus einer reformierten Ökosteuer - wir hoffen, dass sie reformiert wird ({5})
ist eine Finanzierungsquelle dafür. Wir wollen die Gelder
für den ökologischen Umbau.
({6})
Das ist eine andere Intention, denn Sie wollen sie abschaffen, Sie wollen sie überhaupt nicht.
({7})
- Jetzt geben Sie es endlich einmal zu.
({8})
Nur so können auch die Klimaschutzziele der Bundesregierung erreicht und außerdem viele neue Arbeitsplätze
geschaffen werden. Daran sollten Sie auch Interesse haben. Das bestätigen im Übrigen auch die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrem Herbstgutachten. Wenigstens das sollte Sie interessieren.
Zum Antrag der F.D.P. wäre zu sagen, dass die
Wunschliste der Liberalen bezüglich des Handels mit
Emissionszertifikaten, den so genannten Verschmutzungszertifikaten, einigermaßen an der Realität vorbeigeht. Ich möchte einmal wissen, welche Antworten Sie
auf die vielen offenen und ungelösten Fragen des Grünbuchs der Kommission zu diesem Thema haben. Es
drängt sich der Verdacht auf, dass hier nur ein Tor zur Umgehung des tatsächlichen Klimaschutzes aufgestoßen
werden soll. So kann es nicht sein.
Ich könnte jetzt noch einiges zur Versiegelung der
Landschaft sagen. Mit circa 120 Hektar pro Tag geht sie
ungehindert weiter. Dazu höre ich sehr wenig in diesem
Haus. Es gibt Konzepte und Alternativen. Diese müssen
aber konsequent durchgezogen werden.
Leider komme ich auch nicht mehr dazu, über das
Thema der Übertragung und Privatisierung ostdeutscher
Naturschutzflächen - ein Trauerspiel - zu reden.
({9})
Hier gibt es noch einen sehr großen Handlungsbedarf. Ich
wünsche mir, dass es nicht so kommt, dass von den
100 000 Hektar nicht einmal 50 000 Hektar an Naturschutzverbände bzw. an die Länder fallen, weil es nicht
möglich ist. Ich meine, dass hier das Tafelsilber der deutschen Einheit wirklich verschleudert worden ist. Das
finde ich sehr schade.
Ich bin am Ende meiner Rede. Deshalb nur noch ganz
kurz: Wir warten auf das Bundesnaturschutzgesetz. Ich
freue mich auf die Diskussion zu diesem Thema.
Weil Frau Homburger einen schönen Spruch gesagt
hat, möchte ich ebenfalls einen sagen. Er stammt von
Franz Beckenbauer: Schau‘n wir mal, dann seh‘n wir
schon. Wir aber sollten in Sachen Ökologie weiter gemeinsam diskutieren, und vor allem brauchen wir jetzt Taten.
({10})
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt Ulrich Kelber.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bilder von den Hochwasserkatastrophen in Vietnam und Norditalien sind noch frisch in
Erinnerung. Diese Ereignisse waren klare Folgen der
Klimaveränderung, also eines der beschriebenen globalen
Umweltrisiken.
Als ich mich auf diese Rede vorbereitet habe, habe ich
mich an eine andere Umweltkatastrophe erinnert. Als Student konnte ich 1991 die Region nördlich von Tschernobyl besuchen. Ich habe mich wieder an leer stehende Häuser, an gesperrte Gebiete und an den Besuch in einem
Krankenhaus mit leukämiekranken Kindern erinnert.
Dies sind für mich Beispiele globaler Umweltveränderungen und Umweltrisiken, die deutlich machen,
warum die SPD den Bericht der Bundesregierung und das
Jahresgutachten 1998 „Welt im Wandel - Strategien zur
Bewältigung globaler Umweltrisiken“ begrüßt. Es ist
richtig, wenn die Bundesregierung schreibt: Die Unterstützung, die dieses Gutachten für den rationalen und
nachvollziehbaren Umgang mit globalen Umweltrisiken
liefert, ist wichtig.
({0})
Meine persönliche Ergänzung: Dieses Gutachten fordert auch ein konsequentes Vorgehen ein. Das sage ich
auch nach den Erfahrungen, die ich in meinen ersten Wochen im Bundestag sammeln konnte, gerade auch nach
den Vorträgen von Herrn Lippold und Frau Homburger.
Hören Sie aufseiten von CDU und F.D.P. auf, sich den
Umweltdebatten zu verweigern! Helfen Sie mit, dass wir
diese Schritte gehen können.
({1})
Bericht und Jahresgutachten ermuntern zu verstärkter
internationaler Zusammenarbeit. Es ist gut und wichtig,
dass in der Europäischen Union die Idee von Risiko- und
Umweltvorsorge immer mehr Platz einnimmt. Der Erfolg,
dass „Umwelt“ ein Thema bei den GATT-Verhandlungen
wird, ist ein Beispiel dafür. Es zahlt sich aus, dass wir, von
allen Parteien getragen, unsere osteuropäischen Nachbarn
im Transformationsprozess begleitet haben. Hier gibt es
erste Ergebnisse. Auch in den Vereinten Nationen ist diese
Debatte wichtiger geworden. Gerade die Arbeit an der
Konvention für das Verbot oder eine starke Reduktion
dauerhafter organischer Schadstoffe ist dafür ein Zeichen.
Als letztes Beispiel könnte man die immer stärkere Integration der Umweltpolitik in die deutsche Entwicklungszusammenarbeit nennen.
({2})
Aber Bericht und Jahresgutachten ermahnen auch zu
nationaler Verantwortung und Handeln. Dies möchte ich
am Beispiel von Klima- und Energiepolitik noch einmal
deutlich machen. Die Jahre 1990 bis 1998, die zweite
Hälfte der Regierung Kohl - Frau Homburger, ich habe
gerade noch einmal nachgeschaut, Sie waren auch zu dieser Zeit schon Abgeordnete -, sind im Zusammenhang
von Klima- und Energiepolitik völlig verlorene Jahre gewesen.
({3})
Die Einsparung der klimawirksamen Gase stammt vollständig aus dem Zusammenbruch der Industrie der fünf
neuen Länder.
({4})
Im Westen - das können Sie in den Quellen, die Sie heute
selber genannt haben, nachlesen - hat der CO2-Ausstoß in
dieser Zeit noch zugenommen. Ich habe mich, ehrlich gesagt, gewundert, dass der Sachverständigenrat diese einfachen Zahlen in seiner Wertung übersehen hat.
({5})
Wenn ich gerade beim Sachverständigenrat und seinem
Umweltgutachten bin, das viele wichtige Anregungen und
auch Kritik enthält, über die man reden kann, dann muss
man aber auch sagen, dass es nicht nachvollziehbare Minderheitsmeinungen enthält. Ich denke hier etwa an die
reine Ideologie, dass man keine direkten Zuschüsse für
erneuerbare Energien zahlen solle. Leider findet man
diese Grundhaltung auch bei CDU und F.D.P.
({6})
Vertrauen auf den Markt reicht in dieser wichtigen Frage
nicht aus. Die großen Stromkonzerne bauen Kapazitäten
ab und wollen das Geld mit den Anlagen verdienen, in die
sie bereits vor vielen Jahren investiert haben. Engagement
für erneuerbare Energien ist nicht da. Daher brauchen wir
Markteinführungsprogramme - ein wichtiges Versäumnis
von CDU und F.D.P. bis zuletzt.
Ich möchte Ihnen das an einem Beispiel deutlich machen. Es gab das so genannte 1 000-Dächer-Programm.
Ich hatte immer eher das Gefühl, es sei ein 1 000-BeamteProgramm, weil es so kompliziert war und es so lange
dauerte, bis ein Zuschuss kam. Wir haben in einer kleinen
Kommune namens Bonn ein lokales Programm aufgelegt
und in einem einzigen Jahr mehr Photovoltaik auf die
Dächer bekommen als Sie mit Ihrem 1 000-Dächer-Programm bundesweit in zwei Jahren.
({7})
So kann man handeln, wenn man möchte.
({8})
Der Umgang mit globalen Umweltrisiken wird zunehmend auch eine wirtschaftliche Frage: nicht nur wegen
der Kosten für mögliche Umweltkatastrophen, sondern
weil eine Politik zur Vermeidung globaler Umweltrisiken
auch eine Politik der Nachhaltigkeit ist, also eine Politik
zur Erhaltung von Wohlstand und zur Ermöglichung von
Entwicklung.
Lassen Sie mich auch das am Beispiel der Energiepreise erläutern: Die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern, insbesondere von Öl, ist nicht nur ein globales
Umweltrisiko wegen der Klimaveränderungen und der
Möglichkeit des Zusammenbruchs ozeanischer Zirkulation, sondern die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern ist eine direkte Gefahr für den Wohlstand im Norden
und für die Entwicklung im Süden. Wer es wissen wollte,
weiß es seit Jahren: Die Zeit billigen Öls geht zu Ende,
weil das Öl zu Ende geht. Ein neues Gutachten der Bundesregierung, aber auch die Expertise der zweitgrößten
kanadischen Bank CIBC zeigen ganz klar: Wir stehen nur
noch wenige Jahre vor den ersten ernst zu nehmenden und
dann auch nicht mehr zu behebenden Versorgungsengpässen beim Öl. Die Folge wird ein Ölpreisschock sein,
der die von Mitte der 70er- und 80er-Jahre und auch die
Entwicklung der letzten Monate weit in den Schatten
stellt. Deswegen müssen wir weg von der Abhängigkeit
vom Öl, schnell und konsequent.
({9})
Wenn wir weg von der Abhängigkeit von Öl wollen,
dann müssen wir natürlich wegen der bekannten globalen
Umweltrisiken hinein in Energieeffizienz und erneuerbare Energien. Da kann man etwas tun, und die Koalition und die Bundesregierung handeln auch. Ein Beispiel
ist das Programm für die Wärmesanierung von Altbauten.
Die zinsvergünstigten Kredite im Rahmen dieses Programms werden in den nächsten drei Jahren ein Volumen
von 6 Milliarden DM haben. Frau Homburger, das können Sie nicht einfach als altbekannt abtun. Ich möchte einmal sehen, ob Sie, wenn dann Zehntausende neuer
Arbeitsplätze entstehen, den dort Beschäftigten sagen, sie
hätten ihren Arbeitsplatz nur durch ein altbekanntes Programm bekommen.
({10})
Ein 100 000-Dächer-Programm, das so erfolgreich ist,
dass man bereits die Fördermechanismen anpassen muss,
die Markteinführung von erneuerbaren Energien und auch
die Förderung von Kraft-Wärme-Kopplung nenne ich als
Beispiele für unsere Politik. Sie hat in meiner Heimatstadt
zu dem schönen Ergebnis geführt, dass die CDU-Stadtratsmehrheit jetzt die Gelder aus der Förderung der KraftWärme-Kopplung vereinnahmen kann.
Die Bürger erkennen zunehmend globale Umweltrisiken und sind auch bereit, eine vorsorgende Politik zu akzeptieren. Vor diesem Hintergrund sind die platten
Sprüche von CDU und F.D.P. zu den Energiepreisen absolut unverantwortlich.
({11})
Aus rein parteipolitischen Gründen wollen sie den Bürgern weismachen, die Probleme durch die Senkung von
Energiesteuern lösen zu können. Das ist falsch und widerspricht übrigens auch dem Rat der Wirtschaftsweisen.
Das Gegenteil würde eintreten: Würden wir die Energiesteuern senken, würde die Abhängigkeit vom Öl konserviert.
({12})
- Würden wir diesem gefährlichen Unsinn folgen, Frau
Homburger, müssten die Bürger schon in wenigen Jahren
die Zeche für eine solche Politik von CDU und F.D.P. zahlen. Würde dann nämlich das Öl knapp und unbezahlbar
und wir wären dann immer noch vom Öl abhängig, bedeutete dies einen Wohlstands- und Jobverlust für Millionen Menschen in unserem Land.
Wenn wir jetzt handeln, mag es unbequem sein. Wir
müssen manche Diskussion aushalten, weil es natürlich
schwierig ist, gegen platte Sprüche mit Argumenten anzugehen. Das ist immer schwierig.
({13})
Aber wenn wir jetzt handeln, erreichen wir drei Dinge:
Wir sichern erstens Wohlstand und Arbeitsplätze in unserem Land dauerhaft,
({14})
wir ermöglichen zweitens die Entwicklung in ärmeren
Ländern und wir verringern drittens die beängstigende
Gefahr globaler Umweltrisiken.
Vielen Dank.
({15})
Herr Kollege Kelber,
Sie sind seit dem 1. September dieses Jahres Mitglied dieses Hauses und haben heute Ihre erste Rede gehalten. Ich
beglückwünsche Sie dazu im Namen des ganzen Hauses.
({0})
Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Christa
Reichard, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Acht Jahre sind seit
der Konferenz in Rio vergangen, doch die Tropenwälder
werden ungebremst abgeholzt, zunehmende Wüstenbildung und ein rapider Schwund der Artenvielfalt gehen damit einher. Nach Aussagen von Wissenschaftlern ist die
Veränderungsrate der Böden sogar noch dramatischer als
die des Klimas. Alle fruchtbaren Böden dieser Erde werden bereits heute genutzt. Doch durch das Anwachsen der
Weltbevölkerung auf jetzt schon über 6 Milliarden wird
der Druck gerade auf die Ressource Boden immer größer
und das Thema Bodendegradation weltweit immer wichtiger. Deshalb möchte ich mich im Rahmen der Debatte
auf dieses Thema beschränken.
Die Bewirtschaftung durch den Menschen ist zumeist
Ursache für die Degradierung von Böden. Entwaldung,
Überweidung, landwirtschaftliches Missmanagement
und Übernutzung, aber auch Industrialisierung und
Urbanisierung führen zu Erosionsprozessen durch Wind,
Wasser, Nährstoffverluste, Versalzung und Versauerung
von Böden. Durch Versiegelung werden ständig weitere
Flächen der nutzbaren Böden entnommen. Nach Aussagen des Umweltsekretariats der Vereinten Nationen
musste allein in den vergangenen 40 Jahren eine Fläche
von der Größe Chinas zusätzlich als „mäßig degradiert“
eingeordnet werden. 15 Prozent der eisfreien Landfläche
der Erde gelten als durch den Menschen zerstört. Mit
60 Prozent Flächenanteil sind Afrika und Asien am stärksten betroffen. Es folgen Europa mit 11 Prozent und
Nordamerika mit 8 Prozent.
Bodendegradation ist kein regionales, kein Nord-Süd-,
sondern ein globales Problem. Die Landwirtschaft in vielen Regionen der Erde ist außerstande, regelmäßig aufkommende Hungerkatastrophen zu verhindern. Die Zahl
der Umweltflüchtlinge, die aufgrund sinkender landwirtschaftlicher Produktivität in die Städte ziehen, steigt.
Handlungsbedarf sehe ich sowohl in der Forschung als
auch in der Politik.
({0})
Eine der vordringlichsten Aufgaben der Forschung hinsichtlich einer nachhaltigen Bodenbewirtschaftung ist,
ein besseres Verständnis für das Belastungspotenzial und
die Pufferkapazitäten der verschiedenen Bodentypen zu
gewinnen. Insbesondere bei der Kohlenstoffspeicherung
im Boden sind noch viele Fragen offen. Beispielsweise ist
in Böden weltweit fünfmal mehr Kohlenstoff gebunden
als in der Vegetation. Die Auswirkungen auf das Klima
sind noch nicht hinreichend untersucht.
Die Erkenntnisse der Bodenforschung müssen in einen
größeren Rahmen gebracht und für die Verwendung in anderen Politikbereichen übersichtlicher gestaltet werden.
Warum bestand und besteht am Thema Bodenschutz
bisher nur so geringes politisches Interesse? Warum agieren Bodenschützer weltweit wie die sprichwörtlichen Rufer in der Wüste? In der Agenda 21 wurden Bodenerhaltung und Bodendegradation zwar thematisiert, aber sie
sind kein eigenständiger Komplex. Einer der Gründe
dafür mag sein, dass Boden- und Landfragen sehr großes
Konfliktpotenzial beinhalten. Sie betreffen Arme und
Reiche, Städter und Landbevölkerung und haben damit
eine enorme soziale, wirtschaftliche und politische Bedeutung - im Guten wie im Schlechten.
Was ist jetzt die Aufgabe der internationalen Politik
und damit auch unsere Aufgabe? Es mangelt nicht an Vorschlägen, in Ergänzung zu bereits existierenden Umweltkonventionen eine Bodenkonvention zu schaffen.
({1})
Doch auch eine Ausweitung der Konvention zur Bekämpfung der Wüstenbildung als globale Landnutzungs- und
Bodenkonvention wird in diesem Zusammenhang oft genannt.
Nach zahlreichen Gesprächen mit Experten, unter anderem mit Klaus Töpfer, bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass ohne die erfolgreiche Umsetzung der Konvention zur Bekämpfung der Wüstenbildung eine weiter
gehende Konvention zum Bodenschutz eher kontraproUlrich Kelber
duktiv ist. Es muss gelingen, den Bodenschutz im Rahmen der bestehenden Abkommen durchzusetzen.
({2})
Aus diesem Grunde hat meine Fraktion in einem Änderungsantrag die Nennung aller dieser Konventionen unter
dem Dach der Agenda 21 gefordert.
Weiterhin scheint mir der Austausch mit anderen Parlamenten wichtig, so auch die Teilnahme von Parlamentariern an der Konferenz zur Konvention zur Bekämpfung der Wüstenbildung im Dezember dieses Jahres.
Bei einer Expertenanhörung von CDU und F.D.P. zum
internationalen Bodenschutz war Konsens, dass auch die
Nichtregierungsorganisationen weltweit gezielt angesprochen werden müssen. Ich vermisse dort Initiativen.
Diese NGOs könnten durch Druck auf ihre Parlamente
und Regierungen die Prioritäten für die Rio-plus-10-Konferenz beeinflussen. So habe ich mich persönlich mit einem Aufruf an zahlreiche internationale Organisationen
gewandt. Ich bin erstaunt über die große Resonanz, aber
auch darüber, dass ein großer Informationsbedarf besteht.
An dieser Stelle sei allen gedankt, die sich seit Jahren
bemüht haben, die Öffentlichkeit für den Boden zu sensibilisieren. Beispielhaft nenne ich nur den Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltveränderungen, die Tutzinger Initiative, den Wissenschaftlichen Beirat Bodenschutz
und die Bundesvereinigung Boden und Altlasten.
({3})
Die Bundesregierung sollte den bereits von Klaus
Töpfer und Angela Merkel eingeschlagenen Weg beim
europäischen und internationalen Bodenschutz konsequent fortsetzen und hierzu in regelmäßigen Abständen
Bericht erstatten. Sie sollte dies nicht in die nächste Legislaturperiode verschieben, wie im Antrag von SPD und
Grünen geplant. Somit könnte noch vor der nächsten Konferenz über das weitere Vorgehen zum Thema beraten
werden.
Im Übrigen sollten wir darüber nachdenken, dieser
Konferenz einen eigenständigen Namen zu geben. Denn
mit dem Arbeitstitel „Rio plus 10“ kann kaum jemand was
anfangen.
Wenn die Änderungsanträge meiner Fraktion Zustimmung finden, werden wir den Koalitionsantrag unterstützen und den Antrag der F.D.P. ablehnen, da dieser den
zweiten Schritt vor dem ersten geht. Ich bedaure abschließend, dass uns in dieser wichtigen internationalen
Frage kein gemeinsamer Antrag gelungen ist.
Ich danke Ihnen.
({4})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Reinhard Loske, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will mich auf den Bericht des Sachverständigenrates für
Umweltfragen konzentrieren. An dieser Stelle möchte ich
mindestens im Namen meiner Fraktion, aber, wie ich
denke, auch im Namen des ganzen Hauses dem jetzt
scheidenden Sachverständigenrat für Umweltfragen für
seine Arbeit danken. Wenn man seine Meinung auch nicht
immer im Detail geteilt hat, waren seine Gutachten doch
immer lesenswert und ein Gewinn.
({0})
Ich werde mich in meinem Beitrag auf die Themen Klimaschutz, Naturschutz und Nachhaltigkeitsstrategie konzentrieren. Dabei will ich auf das rekurrieren, was der
Sachverständigenrat empfiehlt. Der Bericht des Sachverständigenrates ist im Januar 2000 verabschiedet worden.
In diesem Gutachten empfiehlt der Sachverständigenrat zum Thema Klimaschutz Folgendes: Er plädiert für
eine Vorreiterrolle in der internationalen Klimapolitik. Er
nennt die Priorität für nationale Anstrengungen insbesondere in den Bereichen Energieeffizienz, Energieeinsparung und erneuerbare Energien. Er begrüßt die freiwilligen Selbstverpflichtungen der Industrie, weist aber auf
die Gefahr hin, dass dort nur das versprochen wird, was
ohnehin geschieht. Er mahnt an, nicht nur zu spezifischen,
sondern zu absoluten Reduktionszielen zu kommen, das
heißt sie nicht nur auf die Wertschöpfungseinheit, sondern
auf den tatsächlichen Ausstoß zu beziehen. Um den ehemaligen Kanzler zu zitieren: Entscheidend ist, was hinten
rauskommt. Der Sachverständigenrat hält den Atomausstieg für mit dem Klimaschutz vereinbar.
({1})
Der Sachverständigenrat mahnt eine Weiterentwicklung
der ökologischen Steuerreform und eine Umwandlung der
Kilometerpauschale in eine verkehrsmittelunabhängige
Entfernungspauschale an. Er bezieht sich, wie Sie zu
Recht sagen, sehr positiv auf mengenbezogene Instrumente wie Emissionsobergrenzen und den Emissionshandel. Das ist es, was der Sachverständigenrat im Januar
empfohlen hat.
Jetzt komme ich zu dem, was die Regierung und die
Koalitionsfraktionen schon geleistet haben. Bezogen auf
das Klimaschutzprogramm sind wir der Meinung, dass
unsere Glaubwürdigkeit auf dem internationalen Parkett
bei den Klimaverhandlungen entscheidend davon abhängt, was wir zu Hause tun. Wir müssen bei uns unter
Beweis stellen, dass ökologischer Strukturwandel und
wirtschaftliche Prosperität zusammengehen können und
dass dies ein Erfolgsmodell sein kann. Deshalb haben wir
in der letzten Woche im Kabinett das Klimaschutzprogramm verabschiedet. Das ist ein sehr wichtiger Schritt in
die richtige Richtung, mit dem wir unsere Glaubwürdigkeit in Den Haag ganz entscheidend stärken.
Das Problem der alten Regierung war, dass sie sich zu
Hause zwar anspruchsvolle Ziele gesetzt hat, dass sie aber
wenig zu ihrer Umsetzung getan hat. Dadurch wurde die
Glaubwürdigkeit Deutschlands in den Klimaverhandlungen entscheidend geschwächt. Das ist nicht mehr der Fall.
({2})
Christa Reichard ({3})
Zu den Inhalten des Programms: Es ist ein sektorbezogenes Programm - das hat Minister Trittin zu Recht gesagt - und ein Programm, das konkrete Maßnahmen zur
Kraft-Wärme-Kopplung, zur Altbausanierung, zur Energieeinsparung, zur Verlagerung des Schwerlastverkehrs
von der Straße auf die Schiene und besonders zur Förderung der erneuerbaren Energien enthält.
Ich will einen Unterschied klar machen - ich glaube,
Herr Lippold, Sie haben diesen Punkt angesprochen -: Es
ist ziemlich krass, wenn Sie sagen, das KfW-Förderprogramm sei eine bloße Weiterentwicklung dessen, was Sie
gemacht haben. Wissen Sie, worin der entscheidende Unterschied liegt? Sie haben im Bundeshaushalt 16 bis
20 Millionen DM pro Jahr eingestellt; wir stellen 400 Millionen DM ein. Das ist eine Erhöhung der Mittel um den
Faktor 20 und genau darin liegt der Unterschied in der
Qualität zwischen der Umweltpolitik dieser Bundesregierung und der der alten Regierung.
({4})
Zu der Forderung des Sachverständigenrates, die freiwillige Selbstverpflichtung sollte sich nicht nur auf spezifische Ziele, sondern auch auf absolute Ziele beziehen,
kann ich sagen, dass die Weiterentwicklung, die wohl in
den nächsten Wochen der Öffentlichkeit präsentiert wird,
ein echter Fortschritt ist; denn sie schreibt absolute Emissionsminderungsziele fest: bis zum Jahr 2005 zusätzlich
10 Millionen Tonnen CO2 weniger - das war bislang nicht
vorgesehen - und bis zum Jahr 2010 zusätzlich 20 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent weniger; darunter fallen
die anderen Gase, deren Emissionen im Kioto-Protokoll
geregelt werden. Der entscheidende Unterschied zwischen Ihrer und unserer Politik ist also, dass Sie bei der
freiwilligen Selbstverpflichtung der Industrie nur das
verlangt haben, was sie ohnehin selber gemacht hätte,
während wir etwas fordern und im Gegenzug offensichtlich auch schon bekommen haben.
Zur Forderung des Sachverständigenrates bezüglich
der Umwandlung der Kilometerpauschale in eine verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale: Es ist
Ihnen ja bekannt, dass wir diese vor wenigen Wochen
beschlossen haben. Sie ist auf jeden Fall ein Schritt in die
richtige Richtung und wird zu einer Verlagerung im Verkehrsbereich hin zu öffentlichen und zu nicht motorisierten Verkehrsmitteln führen. Auch das ist Ihnen nicht
gelungen. Wir befinden uns hier in Übereinstimmung mit
den Empfehlungen des Sachverständigenrates.
Zum Emissionshandel, auf den positiv Bezug genommen wird: Wenn man über Emissionshandel redet, muss
man zunächst einmal eines klarstellen: Der Emissionshandel ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere und
viel entscheidendere Seite der Medaille ist die, dass wir
uns absolute Emissionsminderungsziele setzen. Der
Emissionshandel ist also nur ein Mittel und kein Ziel. Das
ist der entscheidende Unterschied.
Ich selber stehe diesem Instrument sehr aufgeschlossen
gegenüber. Wir sollten versuchen, dieses Instrument in
den verschiedenen Bereichen anzuwenden. Aber wenn
ich mir den Antrag der F.D.P. anschaue, Frau Homburger,
dann wird offenkundig, dass er eine maßlose Übertreibung enthält. Es ist nämlich die Rede von Emissionszertifikaten als Inbegriff der modernen Klimapolitik. Dieser
Satz aus Ihrem Antrag ist besonders schön:
Beim internationalen Klimaschutz geht es vordringlich nur noch um die Frage, welche der unterschiedlichen Varianten globaler Zertifikatsmodelle ... eingesetzt werden.
Dazu will ich Ihnen sagen: Beim Klimaschutz geht es
um etwas ganz anderes. Es geht nämlich darum, dass
Emissionen gemindert werden, und zwar dort, wo die Verantwortung liegt, also bei uns.
({5})
Sie schießen maßlos über das Ziel hinaus.
Sie sind auch nicht auf dem neuesten Stand, Frau
Homburger. Zum einen gibt es bei der Deutschen Börse in
Frankfurt schon eine Arbeitsgruppe zum Börsenhandel
mit Emissionszertifikaten. Es ist also nicht so, dass wir
pennen, während die anderen die Meriten einstreichen,
wie Sie dem Minister vorgeworfen haben. Die Wahrheit
ist, dass wir bei diesem Thema ganz vorne sind.
({6})
Zum anderen gibt es im Umweltministerium eine Arbeitsgruppe zum Thema Emissionshandel, an der auch die
Industrie beteiligt ist. Dass Sie das nicht wissen, ist Ihr
und nicht unser Problem.
({7})
Zum Thema Naturschutz: Der Sachverständigenrat
stellt zum Thema Naturschutz fest, dass die Lage von Natur und Umwelt nach wie vor besorgniserregend ist. Wir
haben ein hohes Maß an Landschaftszerstörung und ein
hohes Maß an Schadstoff- und Nährstoffeinträgen und
einen großen Rückgang an biologischer Vielfalt. Der
Sachverständigenrat formuliert folgende Ziele: erstens
Ökosystemschutz, zweitens Schutz der biologischen Vielfalt und drittens nachhaltige Nutzung der Natur, also Naturschutz durch eine angemessene Naturnutzung und
nicht Naturschutz gegen Naturnutzung.
Die beiden wichtigsten Eckpfeiler, die der Sachverständigenrat nennt, sind erstens die Einräumung von 10
bis 15 Prozent an Vorrangflächen für den Naturschutz und
zweitens Qualitätsstandards für die Nutzung auf der
Gesamtfläche. Genau das ist die Strategie, die die Koalitionsfraktionen und die Bundesregierung verfolgen. Wir
haben erst einmal - das ist Ihnen zu Ihrer Zeit nicht gelungen - 100 000 Hektar der BVVG-Flächen aus der privaten Nutzung herausgenommen und sie so dauerhaft gesichert. Das ist ein ganz wichtiger Schritt für den
Naturschutz.
({8})
Zudem wird es bei der Deutschen Bundesstiftung
Umwelt eine Mittelumwidmung zugunsten des Naturschutzes geben. Das ist zwar ein bescheidener Beitrag,
aber ein wichtiger.
Wir ermutigen auch die Länder, vor allen Dingen die
von der Union regierten, bei der Ausweisung von FFHFlächen endlich konsequent voranzuschreiten. Auf diesem Gebiet hinken wir hoffnungslos hinterher.
({9})
Wir wollen sehr bald eine Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes vorlegen; sie befindet sich in der Abstimmung. Mit dieser Novelle wird erstmals der Versuch unternommen, eine ordnungsgemäße Landwirtschaft zu
qualifizieren. Jeder, der Augen hat zu sehen, wird feststellen, dass die heutige Form der Landwirtschaft mit
großen Umweltproblemen behaftet ist. Der Versuch, eine
ordnungsgemäße Landwirtschaft, eine gute fachliche Praxis zu qualifizieren, ist eine unabdingbare Voraussetzung
dafür, den Naturschutz und die Nutzung der Natur gut zusammenzubringen. Auf diesem Wege sind wir.
Ich komme zum letzten Punkt, zur Nachhaltigkeitsstrategie. Hierzu sagt der Sachverständigenrat für Umweltfragen: Wir brauchen klare, wissenschaftlich begründete Umweltziele. Wir brauchen einen integrativen
Ansatz; das heißt: Nicht nur der Umweltminister ist verantwortlich, sondern das gesamte Kabinett, alle Ressorts.
Wir brauchen eine Konzentration auf bestimmte Bereiche
und wir brauchen einen Nachhaltigkeitsrat,
({10})
aber nicht als zusätzliches Beratungsorgan, sondern als
eine Einrichtung, die vorab klärend arbeitet und die Konsensbildung betreibt.
Was ist jetzt vom Kabinett beschlossen worden? Erstens. Wir werden einen Nachhaltigkeitsrat bekommen. Er
wird mit Personen des öffentlichen Lebens besetzt werden
und der Öffentlichkeit in den nächsten Wochen vorgestellt. Zweitens. Wir haben einen „grünen Staatssekretärsausschuss“, der dem Prinzip der Integration genügt, da
alle Staatssekretäre aus den beteiligten Häusern darin vertreten sind. Drittens werden wir im Wissenschaftszentrum
Berlin ein Sekretariat für diesen Nachhaltigkeitsrat bekommen. - Hinsichtlich der Nachhaltigkeitsstrategie sind
wir also auf einem guten Weg.
Ich möchte nur auf ein kleines Problem hinweisen, das
uns als Parlamentarier alle angeht. Es gibt seit langem die
Tendenz, dass Absprachen außerhalb des Parlaments
stattfinden: sei es im Bündnis für Arbeit, sei es bei den
Energiekonsensgesprächen, sei es durch die freiwilligen
Selbstverpflichtungen, sei es beim Nachhaltigkeitsrat.
Das sind gute Instrumente und wir brauchen sie als Komplementärinstrumente zum Parlament. Es kann aber
natürlich nicht angehen, dass dem Parlament nur noch ein
Beobachterstatus eingeräumt wird. Es muss sichergestellt
werden - das müssen wir als Parlament insgesamt verlangen -, dass es, bezogen auf die Ergebnisse des Nachhaltigkeitsrates und der „grünen Staatssekretärsrunde“, eine
Rückkopplung mit dem Parlament gibt. Es kann nicht
sein, dass Absprachen getroffen werden, die das Hoheitsrecht des Parlamentes einschränken.
({11})
Summa summarum: Das, was die Bundesregierung in
der ersten Halbzeit ihrer Regierungstätigkeit im Bereich
der Umweltpolitik gemacht hat, kann sich sehen lassen,
ist international vorzeigbar und stellt einen guten Schritt
in die richtige Richtung dar.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Werner Wittlich.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Deutschen
sind vom Volk der Jäger und Sammler zum Volk der
Sammler und Sortierer mutiert.
({0})
Liebevoll trennen sie, was vorher zusammengehörte. Ob
Bierflasche oder Geschenkpapier, Joghurtbecher oder
Küchenabfall - alles wird getrennt, gesammelt und sortiert.
Wie eine Allensbach-Studie herausfand, trennen
91 Prozent der Deutschen nach ihren eigenen Angaben
ihren Abfall; in den Vorjahren lag dieser Wert noch bei
86 Prozent. Diesen Bewusstseinswandel hat die 1991 von
der früheren Bundesregierung unter dem Aspekt des
damals dramatischen Müllnotstandes erlassene Verpackungsverordnung ganz maßgeblich gefördert. Gegen den Widerstand der damaligen Opposition in vielen
Bereichen zu diesem Problem hat die von der Union
geführte Bundesregierung das Abfallmengenproblem
gelöst und den Einstieg in das Reststoffmanagement organisiert.
({1})
Die deutsche Vorreiterrolle in der Abfallpolitik hat in ganz
Europa einen gewaltigen Innovationsschub ausgelöst.
({2})
Dennoch wurde in den Jahren 1997, 1998 und aller
Voraussicht nach auch 1999 die vorgeschriebene Mehrwegquote unterschritten. Dies hängt entscheidend mit den
veränderten Rahmenbedingungen zusammen. Denn seit
Erlass der Verpackungsverordnung im Jahr 1991 ist schon
bis 1997 erstens der Verpackungsverbrauch von 7,6 Millionen Tonnen auf 6,3 Millionen Tonnen gesunken, zweitens die Menge verwerteter Verpackungsabfälle von
920 000 Tonnen auf 5,4 Millionen Tonnen gestiegen und
drittens das Volumen in Mehrweg abgefüllter Getränke
um 2,9 Milliarden Liter auf jetzt 22,8 Milliarden Liter gestiegen. Ferner geraten traditionelle Mehrwegsysteme
durch demographische Veränderungen, zum Beispiel die
Zunahme von Singlehaushalten, und veränderte Gebrauchsgewohnheiten unter Druck.
Gesetze dürfen nicht statisch verstanden werden. Sie
sollen und müssen an veränderte Rahmenbedingungen
angepasst werden, um ihrem Zweck auch in Zukunft gerecht zu werden. Dies erfordert ein hohes Maß an Flexibilität und die Bereitschaft, neue Wege zu gehen, wenn es
nötig ist. Das damalige Problem des Müllnotstandes ist
heute gelöst. Die Geschäftsgrundlage für die 1991 erlassene Verpackungsverordnung, die damals richtig war, ist
heute weggefallen.
Inzwischen sieht die Umweltministerkonferenz dies
genauso. Sogar Herr Trittin hat mittlerweile eingelenkt.
Das ist schön. Er hat sich nämlich bisher immer nur stur
an die rechtlichen Vorgaben gehalten und zeigt erst jetzt
die Bereitschaft zu einer gewissen Flexibilität.
({3})
- Wenn gebellt wird, weiß man hier vorn, dass man Recht
hat.
({4})
Entscheidend für die künftige Politik darf nicht die
Beibehaltung einer 1991 unter ganz anderen Rahmenbedingungen festgesetzten Quote sein. Neue Erkenntnisse
aus Forschung und Technik im Bereich der Getränkeverpackung müssen zeitnah Eingang in die Gesetzgebung
finden.
Glas ist gut, Plastik, Aluminium und Weißblech sind
schlecht - mit solchen Lehren ist die Ökogemeinde herangewachsen. Aber es zeigt sich immer wieder, dass das
Leben komplizierter ist und mithin auch die Ökologie.
Die Grenze zwischen ökologisch vorteilhaften Getränkeverpackungen, deren Verwendung gefördert werden soll, und sonstigen Getränkeverpackungen muss neu
gezogen werden. Diesem Gedanken trägt auch die vom
Umweltbundesamt zu den Getränkeverpackungen vorgelegte Ökobilanz Rechnung. Sie bescheinigt dem Mehrweg klare Vorteile und bestätigt damit die Entscheidung
der früheren Bundesregierung für den Mehrweg.
Gleichzeitig erkennt die Bilanz aber auch an, dass
diese Trennlinie heute nicht mehr ganz lupenrein verläuft;
({5})
denn die Mehrwegglasflasche und der Einweggetränkekarton werden als ökologisch gleichwertig betrachtet.
({6})
Aufgrund der UBA-Studie plädiert die CDU/CSUFraktion im Deutschen Bundestag deshalb für eine
Neuausrichtung der Verpackungspolitik auf Basis der
aktuellen ökologischen und ökonomischen Fakten. Eine
solche Ausrichtung könnte zum Beispiel darin liegen,
künftig zwischen ökologisch vorteilhaften und ökologisch nachteiligen Verpackungsarten zu unterscheiden.
Maßstab für die zukünftige Getränkeverpackung muss
noch mehr als bisher ihre ökologische Verträglichkeit
sein. Beispielsweise könnten die PET-Flasche und der
dem Mehrweg gegenüber als gleichwertig eingestufte
Einweggetränkekarton auf die Mehrwegquote angerechnet werden. Möglicherweise könnte sich ein solches auch
für die noch nicht untersuchte PET-Einwegflasche mit
Rücklauf ergeben.
Wie der heutigen Presse und den Agenturmeldungen zu
entnehmen ist, haben sich die Umweltminister der Länder
gestern auf einer Konferenz in Berlin auf die Erhebung
von Pfand auf ökologisch nachteilige Verpackungsarten geeinigt. Gleichzeitig wurde von den Umweltministern festgehalten, dass bis zur Erhebung die unterschiedlichsten Parameter geprüft und einer eingehenden
Bewertung unterzogen werden müssen. Kein Pfand wird
den Angaben zufolge auf Kartonverpackungen für Getränke erhoben, weil ihre Umweltschädlichkeit aufgrund
verschiedener Gutachten nicht nachgewiesen ist.
Die bisherige Ungleichbehandlung nach der alten Verpackungsverordnung für Getränkedosen, nach der Bier
bepfandet werden sollte und zum Beispiel Cola nicht,
wird beseitigt. Gleichzeitig wird eine Technologieklausel
eingeführt, durch die mögliche Entwicklungen von ökologisch nachteiligen zu ökologisch vorteilhaften Verpackungen berücksichtigt werden können. Außerdem fällt
der erhebliche bürokratische Aufwand für die Erfassung
und für die Erhebung der so genannten Quote weg.
Meine Damen und Herren, ich will nochmals kurz darstellen, warum wir Bedenken gegen die Einführung eines
so genannten pauschalen Zwangspfandes hatten: Die
Einführung eines Zwangspfandes hätte den Handel Milliardenbeträge gekostet. Hiervon wäre insbesondere der
Mittelstand betroffen gewesen. Der aber hat sich aber
noch nicht richtig von der Keule des 630-DM-Gesetzes
({7})
und der „Nicht überall, wo Öko draufsteht, ist auch
tatsächlich Öko drin“-Steuer erholt.
({8})
Da die Flächen nicht unbegrenzt erweiterbar sind, hätte
der Handel außerdem seine Ladenflächen neu organisieren müssen. Letztlich wäre das bewährte Mehrwegsystem
aus Kosten- und Platzgründen gekippt - ein klassischer
Bumerangeffekt.
Für die betroffenen Unternehmen und für die Verbraucher sind Klarheit und rechtliche Planungssicherheit auf
diesem komplexen Gebiet dringend erforderlich. Herr
Trittin, Sie hätten schon viel früher einen klaren Vorschlag
auf den Tisch legen müssen.
({9})
Stattdessen sind Sie seit Monaten vor einer Entscheidung
zurückgeschreckt und haben sich lieber von Gutachten zu
Gutachten gehangelt.
({10})
Ihr Treffen mit Vertretern von Industrie, Handel und Umweltverbänden mit dem Ziel einer Einigung ist kläglich
gescheitert. Dies einzig und allein den Wirtschaftsverbänden anzulasten zeugt von einem hohen Maß an
Borniertheit und ideologischer Verblendung.
({11})
Nur die ständige Kommunikation mit allen Betroffenen
kann letztlich zu einer zeitnahen Entscheidung führen.
Die CDU/CSU-Fraktion fordert daher die Bundesregierung auf, bei den weiteren Schritten den Dialog sowohl
mit Handel und Industrie als auch mit den Umwelt- und
Verbraucherverbänden wieder aufzunehmen.
({12})
Ob eine Selbstverpflichtung durch die Wirtschaft oder andere Instrumente zielführend sind, sollten Sie offen und
ideologiefrei mit allen Beteiligten diskutieren.
({13})
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({14})
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Jürgen Wieczorek, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ökosteuer und
Atomausstieg sind wichtige und unverzichtbare Projekte
der rot-grünen Umweltpolitik. Sie absorbieren viel Aufmerksamkeit und an ihnen entzünden sich die Gemüter.
Man kann aber nun wirklich nicht behaupten, dass sich
unsere Umweltpolitik auf diese zwei Projekte reduziert.
Seit 1998 haben wir viele beachtliche Maßnahmen im
Bereich des Umweltschutzes getreu unserer Orientierung
am Leitbild der Nachhaltigkeit in Angriff genommen.
Wichtige Gesetze und Programme haben wir beschlossen. Hier möchte ich nur einige beispielhaft nennen: das
100 000-Dächer-Programm, das Erneuerbare-EnergienGesetz und das jetzt vom Bundeskabinett verabschiedete
nationale Klimaschutzprogramm.
Ein weiterer wichtiger Bereich, in dem wir aktiv sind,
ist der Bodenschutz. Auch hier war 1998 Nachholbedarf
festzustellen. Es ist bezeichnend, dass die Vorgängerregierung das Bundes-Bodenschutzgesetz so lange hinausgezögert hat, dass es erst im März 1999 in Kraft treten
konnte. Damit war aber immerhin ein Anfang geschaffen.
Die Wirkung des Gesetzes wird sich erst in drei bis fünf
Jahren objektiv bewerten lassen. Ausgebaut und konkretisiert hat die rot-grüne Bundesregierung das Bundes-Bodenschutzgesetz durch die Bundes-Bodenschutz- und Altlastenverordnung im Juli 1999. Auf der Grundlage dieser
Verordnung wird der Inanspruchnahme unverbrauchter
Böden entgegengesteuert. Das war und ist leider noch ein
gravierendes Problem. Bundesweit werden täglich circa
120 Hektar Boden neu versiegelt.
({0})
Hauptverantwortlich für den enormen Anstieg des Bodenverbrauchs ist übrigens die alte Bundesregierung.
({1})
Mit ihrem großzügigen Abschreibungsgesetz für alle
Neubauten im Zusammenhang mit der deutschen Einheit
- vom Grundanliegen her war es sicherlich sinnvoll, aber
es war zu pauschal anwendbar und damit ausnutzbar; in
Anbetracht der sichtbaren Fehlentwicklungen hätte es
viel früher gebremst werden müssen - hat sie zu Investitionen auf der grünen Wiese und damit zur allgemeinen
Zersiedelung und besonders zur Forcierung von Versiegelungen beigetragen.
({2})
Mit der Verordnung können nun gering belastete
Grundstücke rasch aus dem Altlastenverdacht entlassen
werden und somit ehemalige Industrieflächen quasi recycelt werden. Das ist ein wichtiger Beitrag, um den Trend
zu einer immer stärkeren Flächeninanspruchnahme aufzuhalten.
Es ist aber sicherlich auch richtig, dass das BundesBodenschutzgesetz in vielen anderen Bereichen noch
nachgebessert und weiterentwickelt werden muss. Hierzu
hat das BMU eine Reihe wichtiger Forschungsaufträge
vergeben. Außerdem hat der Umweltminister in diesem
Sommer einen Fachbeirat „Bodenschutz“ einberufen, der
Defizite im Bereich der Methodik des Bodenschutzes aufarbeiten soll.
Eines hat uns von Anfang an am Bodenschutzgesetz
nicht gefallen: Die alte Bundesregierung hat den Akzent
fast ausschließlich auf die Beseitigung von Bodenbelastungen und -schäden gesetzt. Die Verhinderung von Eingriffen und Beeinträchtigungen, die zu weiteren künftigen
Altlasten führen, kommt zu kurz. Kritiker sprechen deshalb nicht ganz zu Unrecht von einem Altlastensanierungsgesetz statt von einem Bodenschutzgesetz.
({3})
Wir hingegen setzen uns dafür ein, dass der Vorsorgegedanke im Bodenschutz ein wesentlich stärkeres Gewicht
erhält; denn konsequente Vorsorge lässt oft gar keine Altlasten entstehen bzw. dämmt deren Entstehung ein.
Bereits im Dezember 1998 hat der Bundesumweltminister den Wissenschaftlichen Beirat „Bodenschutz“ einberufen und mit einem Gutachten zur Ausgestaltung der
Vorsorgepolitik beauftragt. Dieses Gutachten zum vorsorgenden Bodenschutz liegt uns nun seit einigen Monaten
vor. Es enthält sinnvolle Anregungen, wie man Bodenbelastungen in Zukunft vermeiden kann. Zurzeit werden
diese Vorschläge im BMU ausgewertet. Viele dieser Vorschläge reichen auch in die Geschäftsbereiche des BML,
des BMBau und weiterer Ressorts hinein. Es ist unsere
erklärte Absicht, den Bodenschutz in andere Politikbereiche zu integrieren; denn nur so ist ein effektiver Bodenschutz überhaupt möglich.
({4})
Gleichzeitig ist es uns außerordentlich wichtig, durch
gezielte Öffentlichkeitsarbeit das Bewusstsein der Menschen für die große Bedeutung intakter Böden im Sinne
der Nachhaltigkeit zu schärfen. Ein verantwortungsvoller
Umgang mit der Ressource Boden muss für jeden zur
Selbstverständlichkeit werden.
Was für den Umweltschutz allgemein gilt - dass er
nicht nur als nationale Aufgabe begriffen wird, sondern
der internationalen Zusammenarbeit bedarf -, gilt ganz
besonders für den Bodenschutz. Zunächst müssen wir
natürlich auf die Kooperation mit unseren europäischen
Nachbarn setzen. Nachdem Fragen des Bodenschutzes
lange Zeit auf der europäischen Ebene weniger Beachtung gefunden haben, wurden die Anstrengungen in den
letzten Jahren intensiviert. Es gibt zahlreiche EU-Richtlinien, zum Beispiel zum Gewässer- und Luftschutz, die
auch dem Bodenschutz zugute kommen. Ein Defizit ist
sicherlich das Fehlen einer spezifischen EU-Richtlinie
zum Bodenschutz. Die Bundesregierung hat den Handlungsbedarf erkannt und unterstützt die europäischen
Bemühungen um den Bodenschutz.
Im Dezember 1998 hat das BMU unter der Schirmherrschaft von Bundesumweltminister Trittin einen
Workshop zum Thema Bodenschutz durchgeführt. Als
Ergebnis fand Ende 1999 auf Einladung der Bundesregierung in Berlin das erste Treffen des Europäischen Bodenforums - es wird in Zukunft regelmäßig zusammenkommen - statt. Ziel dieses Forums ist es, wichtige
Grundlagenarbeit zu leisten, bevor Indikatoren, Messmethoden und Parameter innerhalb der EU harmonisiert werden können. Ein weiteres wichtiges Anliegen des Europäischen Bodenforums ist es, dem Vorsorgegedanken
beim Bodenschutz mehr Beachtung zu verschaffen.
Mit unserem Antrag treten wir auch für eine Verstärkung der internationalen Zusammenarbeit über den europäischen Rahmen hinaus ein. Wir berufen uns dabei auf
zahlreiche internationale Vereinbarungen, zum Beispiel
auf das Bodenkapitel in der Agenda 21, auf die Ergebnisse
der UN-Konferenz Habitat II, auf das Biodiversitätsabkommen oder auf die so genannte Wüstenkonvention
von 1996. Es gilt, diese internationalen Abkommen tatkräftig zu unterstützen und mit Nachdruck auf deren konsequente Umsetzung zu drängen. Wo nötig, muss die Initiative ergriffen werden, die vorhandenen Bestimmungen
auszubauen.
({5})
Hierzu möchte ich Ihnen ein Beispiel nennen: Die
Wüstenkonvention wird weiterentwickelt. Wenn sich im
Dezember dieses Jahres die Vertragsstaaten der Wüstenkonvention in Bonn treffen, soll ein neuer Anhang für den
Erosionsschutz in Mittel- und Osteuropa beschlossen
werden. Diese Forderung wird im Übrigen besonders von
deutscher Seite erhoben.
Sie sehen also, es gibt genug internationale Vereinbarungen und Gremien, die sich mit dem Thema Bodenschutz beschäftigen. Diese Vereinbarungen müssen allerdings mit Leben erfüllt, die Diskussionsforen müssen zu
substanziellen Ergebnissen geführt und die vorhandenen
Instrumente müssen entschlossen angewandt werden. Die
Bundesregierung wird durch unseren Antrag darin unterstützt, sich für die Ausschöpfung der vorhandenen
organisatorischen Strukturen weiter einzusetzen.
Was wir für die nächste Zeit allerdings nicht brauchen
- damit komme ich zum Antrag der F.D.P. -, ist eine neue
internationale Vereinbarung, die Sie mit Ihrem Ruf nach
einer internationalen Bodenschutzkonvention fordern.
Die bestehenden Regelungen müssen erst einmal umgesetzt werden. Die Forderung nach einer internationalen
Bodenschutzkonvention würde nur bedeuten, dass sich
die UN-Staaten wieder um einen großen Tisch versammeln, um in langwierigen und mühseligen Prozessen ein
solches Papier zu erarbeiten. Wir brauchen aber kein
neues Stück Papier, sondern die tatkräftige Umsetzung
der vorhandenen Vereinbarungen.
({6})
Dafür setzen wir uns mit unserem Antrag ein. Frau
Reichard von der CDU/CSU hat ihre Meinung dazu hier
schon kundgetan. Wir haben die Änderungsvorschläge
der CDU/CSU-Fraktion aufgegriffen. Ich denke, dass wir
so zu einem guten Ergebnis kommen.
Auch am Beispiel des Bodenschutzes können Sie also
sehen, dass wir nicht nur im nationalen, sondern auch im
europäischen und im internationalen Rahmen eine gute
Umweltpolitik leisten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Herr Kollege
Wieczorek, das war Ihre erste Rede im Deutschen Bundestag. Ich beglückwünsche Sie im Namen des ganzen
Hauses.
({0})
Als Letztem in dieser Debatte erteile ich das Wort dem
Kollegen Dr. Christian Ruck, CDU/CSU-Fraktion.
({1})
- Also, Herr Kollege Hinsken, den ganzen Morgen nicht
anwesend sein und dann so etwas dazwischenrufen, das
ist nicht in Ordnung!
({2})
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst
möchte ich meine leise Bewunderung für die Redner der
Koalition dafür zum Ausdruck bringen, dass sie es verstehen, aus Taubendreck Vanillepudding zu machen, indem
sie Fortschritte herbeireden, die so ja wirklich nicht zu
sehen sind; das gilt auch für Sie, Herr Dzembritzki.
({0})
Wir haben bereits vor einem halben Jahr in einer Aktuellen Stunde über das Umweltgutachten 2000 gesprochen.
Schon damals haben selbst die Redner der Koalition zugegeben, dass dieses Gutachten kein Ruhmesblatt für die
Jürgen Wieczorek ({1})
bisherige rot-grüne Umweltpolitik ist und dass es zahlreiche Versäumnisse und Fehler gibt.
({2})
Heute, ein halbes Jahr später, muss man feststellen,
dass sich daran kaum etwas verbessert hat. Sie haben sich
endgültig von der Schaffung eines Umweltgesetzbuches
verabschiedet. Die vollmundigen Ankündigungen einer
Nachhaltigkeitsstrategie - dies wollte ich eigentlich dem
Kollegen Loske sagen; jetzt ist er leider nicht mehr anwesend - sind zumindest bis heute im luftleeren Raum verpufft.
Auch in der Abfallpolitik kann ich keinen Fortschritt
in dem Versuch erkennen, die Kriterien zur Behandlung
von Siedlungsabfällen aufzuweichen. Was die Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes anbelangt, ist die
Karre offensichtlich im Dreck. Sie sind hierbei wieder
nach dem Motto verfahren: Wie schaffe ich mir für eine
an sich gute Sache wie den Naturschutz möglichst viele
Feinde? Durch Ihr Vorgehen haben Sie sich Feinde bei
den Ländern geschaffen, die für den Naturschutz zuständig sind.
({3})
Wenn die Koalition reklamieren sollte, dass die Bundesstiftung Umwelt auch für Naturschutzzwecke Geld zur
Verfügung stellt, dann kann ich nur sagen, dass dies zumindest ein gemeinsames Anliegen ist. Jedenfalls ist dies
eine alte CSU-Idee. Ich begrüße es, dass sie endlich aufgegriffen wurde.
({4})
Aber das wird die Probleme im Naturschutz insgesamt
nicht lösen.
Die Energieeinsparverordnung wird uns alle halbe Jahre wieder für das nächste halbe Jahr angekündigt. Ich bin
gespannt, ob diese Ankündigung im Herbst nun tatsächlich umgesetzt wird.
({5})
Zum Zwangspfand: Ich finde es gut, dass der Bund
und die Länder bei dieser schwierigen Angelegenheit flexibel waren. Aber diese Flexibilität wird man vielleicht
insbesondere dann benötigen, wenn es sich herausstellen
sollte, dass das Zwangspfand ein Schuss nach hinten werden kann. Der Zweck, für den es eigentlich gedacht war,
bestand darin, ökologisch unverträgliche Materialien zu
vermeiden. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass das
Zwangspfand das Gegenteil bewirkt. Das trifft dann auch
die kleineren und mittelständischen Brauereien, die zum
Beispiel uns Wahlkreisabgeordneten aus Bayern heilig
sind.
Jetzt haben Sie voller Stolz darauf hingewiesen, dass
Sie am 18. Oktober dieses Jahres ein Klimaschutzprogramm verabschiedet haben. Wir werden - das nehme ich
an - in zwei Wochen eine Debatte über den Klimaschutz
führen. Dabei können wir uns dann eingehend über das
Für und Wider unterhalten.
Es gibt durchaus Punkte - das haben wir schon in einer
Presseerklärung verkündet -, die vor allem deshalb gut
sind, weil die ursprüngliche Idee von uns stammt. Aber es
gibt auch Instrumente und eine Mittelausstattung, die
meiner Ansicht nach vollkommen in die falsche Richtung
gehen, zum Beispiel eine Verdoppelung des KWK-Einsatzes. Dieser Ansatz klingt zwar gut, ist aber von der Sache her völliger Schwachsinn.
({6})
Mit dieser Festschreibung tun Sie dieser Technologie keinen Gefallen. Wir sind der Meinung, dass man die KWK
dann fördern sollte, wenn es wirklich sinnvoll ist, und
man nicht einfach pauschal vorgehen sollte. Das wird ansonsten genau so wie das EEG enden, nämlich mit einer
gigantischen Verheizung von Steuerzahlergeldern ohne
großen ökologischen Effekt. Insgesamt befürchten wir,
dass es mit dem Klimaschutzprogramm nicht gelingen
wird, die Klimaschutzverpflichtungen Deutschlands zu
erfüllen. Das schwächt unsere Position in der internationalen Politik.
Das Gutachten über die globalen Umweltrisiken - Frau
Reichard hat schon darauf hingewiesen - rückt die Maßstäbe wieder ein wenig zurecht. Wir haben in den letzten
Jahren und Jahrzehnten in Deutschland mit einer guten
Umweltpolitik die größten Probleme gerade im Bereich
von Luft und Wasser vom Tisch bekommen.
Herr Kollege Ruck, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Bulling-Schröter?
Jawohl.
Bitte
schön, Frau Bulling-Schröter.
Sie haben gerade ausgeführt, dass Sie die Förderung der KWK nicht für sinnvoll, sondern, im Gegenteil, für schädlich halten. Mich interessiert jetzt im Detail, wieso. Ich habe das nicht
verstanden. Die KWK ist eine Brückentechnologie. Sie
wird technologisch gefördert. Sie ist effizient. Die Umweltverbände sprechen sich für KWK aus.
({0})
- Ja, sie schafft auch Arbeitsplätze. Wir sind uns in vielen
Punkten einig.
Ich verstehe Ihre Argumente nicht, Herr Ruck; denn die
Alternative ist sicherlich billiger Atomstrom. Ich denke,
dass auch bei der KWK durch die Fernwärme ökologische
Aspekte wirklich sehr gefördert werden.
Ich gebe Ihnen
Recht, dass sich SPD und PDS in diesem Punkt nahtlos
ergänzen.
({0})
Ich habe nur sieben Minuten Zeit; deswegen bin ich dankbar, dass ich jetzt die Gelegenheit habe, das Ganze ein
bisschen näher auszuführen.
Kraft-Wärme-Kopplung ist nur dann sinnvoll, wenn
die Wärme auch abgenommen wird und der Strom keine
Überkapazitäten auf dem Markt bewirkt. Sie haben das
Stichwort Eon genannt. Wir haben auf dem Stromsektor
im Moment wirklich Überkapazitäten
({1})
und haben im Wärmebereich große KWK-Anlagen, die
völlig für die Katz arbeiten.
({2})
- Herr Müller, Moment! - Deswegen sind wir dafür
- auch das können wir in zwei Wochen noch vertiefen -,
KWK dort zu fördern, wo wir die Einführung von Innovationen bewirken,
({3})
die neue Technologie vorwärts bringen können
({4})
- Herr Müller, Sie haben keine Ahnung - und eine Situation haben, in der die Wärmeerzeugung sinnvoll abgenommen werden kann. Es ist doch völlig sinnlos, neue
Technologien zu fördern, wenn die Wärme in den Äther
verpufft.
({5})
- Herr Müller und Herr Kubatschka, in zwei Wochen
sprechen wir uns wieder.
({6})
Ich will nur verhindern, dass wir mit einer technologisch vollkommen überflüssigen Förderungsaktion dasselbe erleben wie zum Beispiel bei der Photovoltaik, wo
wir Milliarden Steuer- und Stromgelder der Bürger sinnlos verschleudern, - einfach für die Katz.
({7})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auf den internationalen Bereich zurückkommen. Die Vielfalt der
Schöpfung ist auf dramatische Weise bedroht; darauf hat
Frau Reichard schon hingewiesen. In dieser Situation, die
wesentlich dramatischer ist als unsere Umweltprobleme
in Deutschland, gibt es eigentlich nur eine Gegenstrategie, nämlich mit Entschlossenheit und überzeugenden
Konzepten etwas zu bewegen.
Ich möchte einem Eindruck widersprechen, der besagt,
die früheren Bundesregierungen hätten in dieser Hinsicht
nichts getan. Das Gegenteil ist der Fall. Früher - unter
Bundeskanzler Kohl und seinen Umwelt- und Entwicklungsministern - war genau dieser Bereich Chefsache. Er
wurde in die Machtzentren der internationalen Politik eingeführt,
({8})
sehr zur Verblüffung unserer damaligen Verbündeten
bzw. unserer damaligen G-7-Partner, die sich gewundert
haben, was Tropenwaldschutz und Treibhauseffekt bedeuten. Es waren der damalige Bundeskanzler und die
damaligen Kabinettsmitglieder, die diesen Themen erst
zum Durchbruch verholfen haben.
({9})
Jetzt hat sich ausgerechnet die rot-grüne Bundesregierung von der Ökologisierung der internationalen Politik
verabschiedet. Für Kanzler Schröder und den grünen
Außenminister Fischer ist die weltweite Erhaltung der
Schöpfung doch längst kein Thema mehr; nicht einmal
mehr für die eigenen Umwelt- und Entwicklungsprojekte,
die im Feuer stehen, gibt es Rückendeckung von oben.
({10})
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Jawohl.
Entgegen allen Lippenbekenntnissen wurde der Entwicklungshaushalt, der als Einziger etwas bewegen kann,
um inzwischen fast 1 Milliarde DM abgemeiert. Gerade
der Umwelt- und Ressourcenschutz wird weiter zusammengestrichen. Das ist die Realität rot-grüner Politik.
Im Zusammenhang mit Ökosteuer oder EEG betreiben
Sie eine Umweltpolitik, die mit dem geringsten ökologischen Effekt und den höchsten ökonomischen Kosten die
Menschen am meisten ärgert. Das ist das Ergebnis von
zwei Jahren rot-grüner Umweltpolitik: Wir spielen international keine Rolle; Umweltschutz wird national zum
Ärgernis. Das ist genau das Gegenteil einer guten Umweltpolitik.
({0})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/2834, 14/3285, 14/3363 und
14/3814 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? -
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 4 e, Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit auf Drucksache 14/3711. Der Aus-
schuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung,
den Antrag der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zur Stär-
kung des Schutzes der Böden auf Drucksache 14/2567 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Enthaltungen? - Gegenstim-
men? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
aller Fraktionen mit Ausnahme der F.D.P.-Fraktion ange-
nommen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschluss-
empfehlung, den Antrag der Fraktion der F.D.P. zur Erar-
beitung einer internationalen Bodenschutzkonvention auf
Drucksache 14/983 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der SPD, der CDU/CSU und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der F.D.P.-Fraktion
und Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Zusatztagesordnungspunkt 4:
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4395 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 e sowie den
Zusatzpunkt 5 auf:
Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des Euro im Sozial- und Arbeitsrecht
sowie zur Änderung anderer Vorschriften
({0})
- Drucksachen 14/4375, 14/4388 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Gesetzes zur Verbesserung der
betrieblichen Altersversorgung
- Drucksache 14/4363 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Übereinkommens zum Schutz
der Meeresumwelt des Nordostatlantiks
({3})
- Drucksache 14/3949 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit ({4})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
d) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Christina Schenk, Christine Ostrowski, Monika
Balt, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der PDS eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch ({5})
- Drucksache 14/3227 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({6})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Hildebrecht Braun ({7}), Rainer Brüderle,
Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der F.D.P.
Für eine vertiefte Partnerschaft zwischen
Russland und der EU
- Drucksache 14/811 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({8})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 5 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Weiterentwicklung der sozialen Pflegeversicherung
- Drucksache 14/4391 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({9})
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/4388 soll an
dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksache 14/4375 überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen
so beschlossen.
Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 26 a
bis 26 h. Dabei handelt es sich um die Beschlussfassung
zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 a auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. September 1999 zwischen der Bundesrepublik
Deutschland und der Republik Usbekistan zur
Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem
Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom
Vermögen
- Drucksache 14/3465 ({10})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({11})
- Drucksache 14/4207 Berichterstattung:
Abgeordneter Jochen-Konrad Fromme
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache
14/4207, den Gesetzentwurf anzunehmen. Wir kommen
zur
zweiten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit einstimmig angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 b auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ({12}) zu dem Antrag der Abgeordneten
Hildebrecht Braun ({13}), Rainer Brüderle,
Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Für eine sofortige Verhängung umfassender
Handelssanktionen gegen Jugoslawien
- Drucksachen 14/793, 14/4205 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Eberhard Brecht
Erich G. Fritz
Rita Grießhaber
Ulrich Irmer
Wolfgang Gehrcke
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/793 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmig angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 c auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 201 zu Petitionen
- Drucksache 14/4278 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 201 ist einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 d auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({15})
Sammelübersicht 202 zu Petitionen
- Drucksache 14/4279 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 202 ist mit den Stimmen
aller Fraktionen mit Ausnahme der PDS-Fraktion, die sich
enthalten hat, angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 e auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({16})
Sammelübersicht 203 zu Petitionen
- Drucksache 14/4280 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 203 ist mit dem gleichen
Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 f auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({17})
Sammelübersicht 204 zu Petitionen
- Drucksache 14/4281 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 204 ist mit den Stimmen der
Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der
F.D.P. und der PDS bei Gegenstimmen der CDU/CSUFraktion angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 g auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({18})
Sammelübersicht 205 zu Petitionen
- Drucksache 14/4282 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 205 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der PDS bei Gegenstimmen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 h auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({19})
Sammelübersicht 206 zu Petitionen
- Drucksache 14/4283 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Sammelübersicht 206 ist mit den Stimmen
aller Fraktionen bei Enthaltung der PDS angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.
Haltung der Bundesregierung zur Forderung
von Bundesverkehrsminister Klimmt, die Ökosteuer im Jahr 2003 zu beenden
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Jürgen Koppelin von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In wenigen Wochen, im Januar
2001, wird die Ökosteuer erneut angehoben. Dann wird
sich das Mineralöl erneut verteuern und die Energiekosten
werden wieder steigen und das alles staatlich verordnet.
Da die Bürgerinnen und Bürger bereits jetzt die Belastungen durch die Ökosteuer kaum noch tragen können und
das Abkassieren der rot-grünen Koalition kaum noch ertragen können - gestern sind die Mineralölpreise wegen
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
des niedrigen Euro noch einmal um 4 Pfennig gestiegen -, war es nach meiner Meinung gut, dass sich der
Bundesverkehrsminister zu Wort gemeldet hat, und zwar
sehr eindeutig. Ich bedaure ausdrücklich, dass der Bundesverkehrsminister an der heutigen Debatte anscheinend
nicht teilnimmt. Ich muss deshalb davon ausgehen, dass
ihm inzwischen ein Redeverbot erteilt worden ist; denn
ansonsten würde er sich eine solche Gelegenheit doch
nicht entgehen lassen.
({0})
Für diejenigen, die nicht mitbekommen haben, was der
Bundesverkehrsminister gesagt hat, möchte ich es gern
wiederholen. Der Bundesverkehrsminister Klimmt sagte,
wenn es nach ihm ginge, wäre es mit der Ökosteuer im
Jahre 2003 Sense. Dann legt er nach und sagt wörtlich:
Im Januar 2003 haben wir dann den Benzinpreis
fünfmal um 6 Pfennig verteuert. Damit ist der Punkt
erreicht, an dem Schluss sein muss.
Damit hat er noch niedrig gestapelt; denn er hat die Mehrwertsteuer, die jedesmal hinzukommt, noch gar nicht
berücksichtigt. Aber er hat Recht: Es muss endlich
Schluss mit den Verteuerungen sein.
({1})
- Hören Sie mir doch zu! Sie haben später noch Gelegenheit, etwas zu sagen. Ich kann Ihnen auch sagen, was wir
für die Bahn getan haben. Das ist doch Ihre alte Leier.
Er fügte ausdrücklich hinzu, dies sei nicht nur seine
persönliche, sondern auch die offizielle Meinung des
Bundesverkehrsministers. Ich würde gern wissen, was der
Bundeskanzler dazu sagt, wenn sich ein Minister seines
Kabinetts öffentlich so äußert!
({2})
Auf die Frage der Zeitung, ob er für seine Haltung auch
eine Mehrheit innerhalb der SPD habe, antwortete der
Bundesverkehrsminister wörtlich:
Ich habe den Eindruck, dass ich vielen in der SPDFraktion aus dem Herzen gesprochen habe.
Die Reaktion aus der Koalition kam prompt. SPDFraktionschef Struck sagte, über die Fortsetzung und über
das Ende der Ökosteuer werde die SPD bei der Erarbeitung ihres Wahlprogramms entscheiden. Fraktionsvize
Müller kritisierte den Bundesverkehrsminister mit den
Worten, es sei völlig überflüssig, jetzt eine Diskussion
über die Ökosteuer zu beginnen. Was lernt die deutsche
Bevölkerung daraus? Es darf in der Politik nicht sein, was
nicht vorher im SPD-Programm festgelegt worden ist. Die
Konsequenz daraus ist: Alle müssen so lange warten, bis
die SPD ihr Programm fertig hat. Dass die Grünen
entsprechend reagiert haben, weil sie sowieso für das Abkassieren sind, sei hier nur am Rande erwähnt.
({3})
Wir Freien Demokraten unterstützen den Bundesverkehrsminister in seiner Aussage
({4})
- da Sie so laut sind, wiederhole ich sie gern -: Mit der
Ökosteuer muss Sense sein!
Allerdings sagen wir dem Bundesverkehrsminister, der
- ich sage es noch einmal - leider an der Debatte heute
nicht teilnimmt - ich weiß nicht, warum er kneift -: Nicht
im Jahre 2003 muss Schluss sein, sondern jetzt und sofort.
({5})
Die Ökosteuer, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein
Drama der Unvernunft. Sie sieht so aus: Erstens. Wirkliche Energiegroßverbraucher bleiben verschont. Zweitens.
Die Ökosteuer sorgt für eine bescheidene Senkung der
Rentenversicherungsbeiträge, aber dafür zahlen Rentner,
Arbeitslose, Azubis, Studenten, Freiberufler, Landwirte
erheblich drauf, obwohl sie überhaupt nicht entlastet werden, nicht davon profitieren.
({6})
Und wie erklärt die Koalition eine Ökosteuer, bei der
umweltschädliche Energieträger wie Kohle Ökosteuerfreiheit genießen? Das haben Sie uns bisher noch nicht erklärt. Sie haben auch nicht erklärt, warum Sie die Berufspendler besonders bestrafen. Auch das alles haben Sie uns
nicht erklärt.
Die Logik der rot-grünen Koalition lautet: Je mehr
Energie verbraucht wird, vor allem Benzin, umso besser
für die Rente. Das ist Ihre Logik. Zu Recht haben in
diesen Tagen die sechs führenden deutschen Wirtschaftsinstitute erklärt, dass das Konzept der Koalition,
die Einnahmen aus der Ökosteuer zur Senkung der Rentenbeiträge zu nutzen, falsch sei. Sehr richtig, können wir
da nur sagen.
({7})
- Entschuldigung, aber Ihr Konzept ist total falsch. Sie
kleben irgendwo das Schild „Ökosteuer“ drauf und sagen,
das, was Sie machen, sei toll.
({8})
Über die Ökosteuer kann man sich ja unterhalten.
({9})
- Natürlich, das haben wir doch immer gesagt. Lesen Sie
doch die Programme nach! - Aber Ihr Konzept ist doch
total falsch.
({10})
Wir können die Aussagen des Bundesverkehrsministers gut verstehen; denn er will sich endlich aus dem Joch
der Grünen - der „ergrauten“ Grünen, muss man ja sagen - befreien.
„Ich habe den Eindruck, dass ich vielen aus der SPDBundestagsfraktion aus dem Herzen gesprochen habe“,
hat der Bundesverkehrsminister gesagt. Liebe Kolleginnen und Kollegen aus der SPD, lassen Sie nicht nur die
Herzen sprechen, lassen Sie endlich einmal den Verstand
sprechen und schaffen Sie die Ökosteuer in der Form, wie
Sie sie geschaffen haben, ab! Die Bürger würden es Ihnen
danken.
Sie haben eine Wagenburgmentalität, indem Sie zur
Ökosteuer stehen, sie mit Zähnen und Klauen verteidigen.
Aber Sie wissen ganz genau, dass Sie das nicht durchhalten.
Bundesverkehrsminister Klimmt hat gesagt, die Ökosteuer müsse im Jahre 2003 abgeschafft werden. Wir sagen: Nicht 2003, jetzt muss Schluss sein! Die Belastung
der Bürger ist zu groß, sie ist nicht mehr zu tragen.
Vielen Dank für Ihre Geduld.
({11})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Ludwig Eich von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Herr Kollege Koppelin, ich würde gern eine
Tickermeldung zitieren, die ganz frisch hereingekommen
ist. Dort heißt es:
Der frühere Bundesumweltminister Klaus Töpfer,
CDU, erneuerte seine Kritik an der CDU-Kampagne
gegen die Ökosteuer.
({0})
Es sei nicht sinnvoll, die Ökosteuer als K.-o.-Steuer
zu bezeichnen, sagte der Exekutivdirektor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen der Hamburger Wochenzeitschrift „Die Zeit“.
Ich denke, einen unverdächtigeren Zeugen kann man
nicht nennen. Das, was Sie tun, ist bloße Polemik und hat
mit Sachargumentation nichts zu tun.
Die Bürgerinnen und Bürger kennen die Gründe für die
hohen Benzinpreise. In erster Linie sind sie durch die
stark gestiegenen Rohölpreise begründet.
({1})
Das wissen Sie auch, aber dennoch bemühen Sie sich, einen anderen, einen völlig falschen Eindruck zu vermitteln. Sie wollten eine Volksfront gegen die Ökosteuer organisieren,
({2})
ohne Visionen und ohne jedes Konzept. Das ist wirklich
danebengegangen. Die Zustimmung für Rot-Grün wächst.
Das ist das Ergebnis.
({3})
Obwohl die Mineralölsteuer nie stärker angehoben
wurde als durch Union und F.D.P., polemisieren Sie gegen
sie. Gegenläufige Effekte, zum Beispiel Senkung der
Beiträge für die Rente, ignorieren Sie völlig. Allein die
Senkung der Lohnnebenkosten entlastet Arbeitnehmer
und Arbeitgeber enorm und die Entlastung ist in vielen
Fällen viel größer als das, was an Belastung auftritt. Sie
von Union und F.D.P. haben die Lohnnebenkosten in den
90er-Jahren sträflich nach oben wachsen lassen und Sie
haben damit der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen
Wirtschaft geschadet.
({4})
Das muss man Ihnen doch einmal sagen.
Sie haben über den Wirtschaftsstandort Deutschland
nur geredet, nein, Sie haben ihn schlecht geredet. Das sind
die Fakten.
({5})
Wir, Rot-Grün, machen Politik für den Standort Deutschland. Dazu gehört eben auch, die Lohnnebenkosten zu
senken.
({6})
Viel schlimmer ist es aber, dass Sie die Menschen glauben machen wollen, man könne vor der Verknappung der
Ölvorkommen einfach die Augen zumachen. Sie erwecken den Eindruck, man müsse den Treibhauseffekt
nur lange genug ignorieren, dann würde er von selber verschwinden. Sie suggerieren, es gebe ein Grundrecht auf
billige Energie oder subventionierte Mobilität. Ihre Botschaft ist: weniger Verantwortung und mehr Vollgas.
({7})
In welchem Kontrast steht das alles zur Forderung von
Frau Merkel, den Spritpreis jedes Jahr um 5 Pfennig zu erhöhen! Im Jahr 1998 sagte Frau Merkel im Bundestag: Ich
will ganz klar sagen, Deutschland bleibt bei seinem nationalen 25-prozentigen Minderungsziel für Kohlendioxid zwischen 1990 und 2005. Frau Merkel hat natürlich
Recht. Aber warum polemisiert sie gegen die Ökosteuer?
Wo bleibt die ökologische Verantwortung, die sie als Umweltministerin hatte? Die Ökosteuer ist ein wichtiges Ziel
zur Reduzierung von CO2. Wir müssen das einlösen, was
Frau Merkel unterschrieben hat. Das ist der Fakt. Mit Ihrer Verdummungsstrategie zeigen Sie jedenfalls wenig
Verantwortung für Natur und Umwelt. Sie sind die Benzinpreispopulisten dieses Landes. Sie spielen den Ölmultis in die Hände. Das ist die Politik, die Sie heute darstellen.
({8})
Statt mitzuhelfen, unabhängiger vom Öl zu werden,
werfen Sie dieser Regierung, die große Anstrengungen im
Bereich der Energiepolitik macht, Knüppel zwischen die
Beine. Was haben Sie denn als Politik „weg vom Öl“ geleistet? Wo ist Ihr 100 000-Dächer-Programm gewesen?
Fehlanzeige! Rot-Grün macht eine Politik „weg vom Öl“
erst möglich. Die Ökosteuer ist dabei ein Fortschritt.
Der Chef der Deutschen Bahn AG, Herr Mehdorn, sagt,
der Ansatz der Ökosteuer ist richtig. Der Chefvolkswirt
der Deutschen Bank, Herr Walter, ist für eine schrittweise
Anhebung der Benzinpreise. Die Wirtschaftsweisen saJürgen Koppelin
gen in ihrem Gutachten, dass die Ökosteuer beibehalten
werden soll.
({9})
Viele europäische Staaten gehen den gleichen Weg. Die
Zeitschrift „max“, Herr Kollege Koppelin, hat den Sinn
der Ökosteuer einfach vorgerechnet: Wer 1000 Kilometer
im Monat fährt und im Schnitt 8 Liter braucht, zahlt an der
Tankstelle 11,20 DM mehr. Das heißt, er braucht nur zwei
Kilometer weniger zu fahren und hat die Kosten der Ökosteuer wieder heraus. Das ist das einfache Konzept der
Ökosteuer.
({10})
Meine Damen und Herren, die Wahrheit ist, die Ökosteuer schafft Arbeitsplätze, sie senkt die Rentenbeiträge
und damit die Lohnnebenkosten, und sie hilft langfristig
der Umwelt. Das macht uns in Deutschland zukunftsfähig. Das macht uns alle - das ist wichtig - zu Gewinnern, vor allem macht sie unsere Kinder und Kindeskinder zu Gewinnern.
Herr Kollege Eich, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss, Herr
Präsident! Rot-Grün macht diese Politik, weil wir nicht
vergessen haben, dass auch nach uns noch Menschen leben wollen.
({0})
Als
nächster Redner hat der Kollege Hans Michelbach von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Es
wird immer wahrer: Das rot-grüne Ökosteuermärchen hat
wirklich kein Happy End. Das unlogische Abkassiermodell ist überall gescheitert. Die Verbraucher empfinden es
als preistreibend und unsozial, die Wirtschaft empfindet
es als wettbewerbsverzerrend, ungerecht und kostenbelastend. Das rot-grüne Ökosteuermärchen ist damit ein
Preistreibermodell, eine finanzpolitische Missgeburt und
letzten Endes auch ein Arbeitsplatzvernichtungsprogramm. Dies haben wohl auch die SPD-Minister Eichel
und Klimmt nach zugegebenermaßen längerer Lernphase
bemerkt.
({0})
Herr Eichel sieht jetzt die Verbindung von Ökosteuer
und Rentenversicherung als Fehler an. Herr Klimmt
möchte ab 2003 mit der Ökosteuer Schluss machen. Anschließend pfiff der Kanzler seinen Minister wieder
zurück. Er sagte: „Es bleibt bei dem, was wir vereinbart
haben.“ Die Antwort aus dem Finanzministerium: „Ein
gravierender strategischer Fehler des Kanzlers.“ Herr
Klimmt hat jetzt völliges Redeverbot.
Meine Damen und Herren, die rot-grüne Koalition will
also mit Durchhalteparolen am Ökosteuermärchen festhalten. Das zeigen das steuerpolitische Chaos und die leeren Versprechungen der rot-grünen Bundesregierung. Wie
bei dem Rentenversprechen des Jahres 1998 ist Bundeskanzler Schröder auch bei der so genannten Ökosteuer
wortbrüchig geworden.
Ich zitiere wörtlich aus dem „Spiegel“ vom 26. Oktober
1998:
Ich bedauere auch, dass der eine oder andere zehn
Mark im Monat mehr fürs Autofahren, fürs Heizen,
fürs Gas zu zahlen hat. Aber mehr sind es dann auch
nicht im ungünstigsten Fall. Bei sechs Pfennig ist
Ende der Fahnenstange.
Schröder weiter:
Wir wollen auch aus Gründen der Wettbewerbsfähigkeit die Energiebesteuerung nicht im nationalen
Alleingang machen.
Meine Damen und Herren, die Widersprüchlichkeit
zwischen Worten und Taten zeigt doch deutlich auf, dass
ein Bundeskanzler zum Ökosteuer-Märchenerzähler
wird.
({1})
Dies geht nach der Devise: Das arme, Ökosteuer zahlende
Volk wird zum Narren gehalten. Oder nach der neuen Devise: Gas geben für die Rente. Hier gibt es keine Volksfront, allenfalls eine gegen Narretei und politischen Unfug. Deswegen müssen wird deutlich machen, dass die
Ökosteuer gescheitert ist, dass sie unlogisch ist und letzten Endes einen falschen Weg weist.
({2})
Meine Damen und Herren, folgende Fakten sind festzuhalten: Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität bei der Ökosteuer wird immer größer. Die ökologische Erneuerung und Entlastung der Arbeit haben Sie sich
großsprecherisch auf die Fahne geschrieben. Steigende
Energiekosten sollten zu mehr Umweltschutz und zur
Verbilligung der Arbeit führen. Realität aber ist, dass keines der Ziele erreicht wird: weder Umweltschutz noch
wesentliche Lohnnebenkostensenkungen oder gar positive Arbeitsplatzeffekte. Stattdessen wirkt sich die Ökosteuer nachteilig für Wachstum und Beschäftigung aus.
({3})
Der Spielraum für Umweltinvestitionen der Wirtschaft
wird dadurch weiter eingeschränkt.
Faktum ist: Die so genannte Ökosteuer ist kein geeignetes Mittel, um die strukturellen Finanzierungsprobleme
der gesetzlichen Rentenversicherung dauerhaft zu lösen.
Trotz Einführung der so genannten Ökosteuer, die auch
diejenigen belastet, die nicht an der Beitragssenkung teilhaben können, und zugleich die Wettbewerbsfähigkeit
des Standortes Deutschland beschädigt, belaufen sich die
Sozialversicherungsbeiträge im Jahr 2000 auf über
41 Prozent. Vom Ziel 38 Prozent sind Sie meilenweit entfernt.
({4})
Dies wird umso dramatischer bei zunehmend stärker steigenden Ölpreisen und abgeschwächter Konjunktur.
Meine Damen und Herren, obwohl diese Rahmenbedingungen gegen Steuererhöhungen sprechen, damit die
Binnenkonjunktur nicht abgewürgt wird, stehen aufgrund
der Beschlüsse der rot-grünen Koalition den Bürgern und
der Wirtschaft weitere Steuererhöhungen bevor.
({5})
Die Wachstumspotenziale werden durch den Kaufkraftschwund weiter bedroht. In acht Wochen sollen weitere
7 Pfennig Benzinverteuerung pro Liter hinzukommen.
Anderenfalls, so sagen Sie, findet eine Mehrwertsteuererhöhung statt, über die in Ihren Kreisen im Moment ja besonders nachgedacht wird. Sagen Sie hier deutlich, ob Sie
die Ökosteuer weiter erhöhen oder ob Sie im Bereich der
Mehrwertsteuer eine neue Steuererhöhungsvariante ins
Auge fassen. Letzten Endes hat diese rot-grüne Koalition
immer an der Steuerschraube gedreht.
({6})
Unter dem Strich haben wir jetzt eine Steuerquote von
22,6 Prozent. Wir haben in diesem Land nicht weniger
Steuerbelastung, sondern mehr Steuerbelastung. Das ist
nicht zuletzt auf Ihre Ökosteuer zurückzuführen, die gegen Wachstum und Beschäftigung gerichtet ist.
Vielen Dank.
({7})
Als
nächster Redner hat der Kollege Albert Schmidt vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss ehrlich sagen: Mir fällt in dieser Debatte
nicht mehr viel ein. Sie ödet nur noch an.
({0})
Es ödet an, welchen Klamauk Sie veranstalten und mit
welcher Verantwortungslosigkeit Sie über ein Thema wie
die Zukunft unserer Energieversorgung und die adäquaten
steuerpolitischen Instrumente reden, die diese Zukunft sichern sollen.
({1})
Nun haben Sie endlich wieder einen Strohhalm gefunden, der Ihnen einen Vorwand zur x-ten Neuauflage dieser Debatte liefert.
({2})
- Doch, der Strohhalm heißt in diesem Fall Reinhard
Klimmt.
({3})
- Ich habe nicht gesagt, er ist ein Strohmann, sondern ich
habe gesagt, er ist ein Strohhalm.
Herr Klimmt soll gesagt haben - Herr Koppelin hat es
eben am Ende seiner Rede behauptet -, man solle, so sinngemäß, die Ökosteuer ab 2003 abschaffen. Lieber Herr
Koppelin, das hat er nicht gesagt.
({4})
Herr Kollege Klimmt hat gesagt, er sei der Meinung, dass
es ab 2003 keine weiteren Erhöhungsschritte geben solle.
Das ist eine andere inhaltliche Aussage und das möchte
ich richtig stellen.
({5})
- Ich vertrete die Bundesregierung nicht; die Bundesregierung wird das Wort nachher selbst ergreifen.
Jetzt stellt sich die Frage: Ist es richtig oder falsch,
Ende des Jahres 2000 eine solche Aussage zu treffen? Erstens ist es gefährlich, sich als Minister - er hat nämlich gesagt, dann sei Sense mit weiteren Erhöhungen - zum Sensenmann zu machen; darüber kann man böse stolpern.
({6})
- Sense, Sensenmann. Deswegen sage ich nicht „Strohmann“, sondern „Sensenmann“. - Zweitens halte ich es
für falsch, sich die Frage zu stellen, wie die Ausgestaltung
des Instrumentes Ökosteuer nach 2003 aussehen soll. Das
ist deshalb unsinnig, weil niemand von uns, weder Sie
noch ich, heute wissen kann,
({7})
wie dann die Preise am Markt aussehen, wie die wirtschaftliche Lage aussieht oder wie sich die Energiewirtschaft exakt entwickelt. Darüber sollte sinnvollerweise
dann gesprochen werden,
({8})
wenn es aktuell ist.
Eines aber wissen wir sehr gut: Der Grundsatz, die
Energiekosten planvoll und berechenbar zu erhöhen und
die Arbeitskosten ebenso planvoll und berechenbar zu
senken, ist heute richtig und selbstverständlich auch nach
2003 noch richtig.
({9})
Das Langzeitexperiment mit niedrigen Energiekosten und
hohen Sozialabgaben ist in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit gelaufen. Die niedrigen Energiekosten haben zu
Energieverschwendung geführt, die hohen, zuletzt erdrückend hohen, Sozialabgaben - sie wurden während der
Amtszeit von Kohl um 10 Prozentpunkte erhöht - haben
zu stagnierenden Nettolöhnen und mehr Arbeitslosigkeit
geführt. Dieses Experiment ist in diesem Land ausreichend lange exerziert worden;
({10})
das Ergebnis kennen wir alle.
Jetzt machen wir es einmal andersrum. Jetzt sollen die
Energiekosten planvoll und berechenbar steigen und die
Arbeitskosten auf niedrigem Niveau stabilisiert werden.
Dafür werden wir sorgen. Das bedeutet auch, dass sich die
Perspektive, die Chancen für die effizienten und erneuerbaren Energien zu verbessern und eine Markteinführung
dieser Techniken zu beschleunigen, die sich schon heute
abzeichnet, in den nächsten Jahren weiter verstärken wird
und dass zugleich die Arbeitslosigkeit sinken wird. Dieser
Grundsatz ist und bleibt richtig.
Wenn Sie hier eine instrumentenfixierte Debatte
führen, die allmählich an psychopathologische Zwangsfixierungen erinnert,
({11})
dann zeigt das nur, dass Sie bis zum heutigen Tag überhaupt nicht begriffen haben, um was es geht. Sie deklarieren das Ganze immer nur als ein Belastungsszenario.
Begreifen Sie um Himmels willen endlich: Die Schwankungen der Ölpreise, zuletzt die Entwicklung der letzten
Tage in der Folge des Nahost-Konfliktes, sind eine ungeheure Chance! Das ist die Jahrhundertchance, jetzt endlich mit einer Energiewirtschaft Ernst zu machen, die vom
Öl, von den fossilen Brennstoffen weg und hin zu der
ganzen Palette der erneuerbaren Energien führt.
Wir haben die ersten Schritte auf diesem Weg umgesetzt. Sie haben regelmäßig dagegen gestimmt, ob es das
Programm für die erneuerbaren Energien, das 100 000Dächer-Programm, das Erneuerbare-Energien-Gesetz,
die ökologische Steuerreform oder die verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale war. Begreifen Sie endlich: Das sind alles Instrumente! Das Ziel ist etwas anderes. Das Ziel ist, unsere Energiewirtschaft endlich
zukunftsfähig zu machen. Wenn Sie nur einen Bruchteil
dessen, was wir schon nach zwei Jahren auf den Weg gebracht haben, in 16 Jahren wenigstens angefangen hätten,
würden wir heute über die Preiserhöhung um 4 Pfennig
von gestern nur müde lächeln, weil wir sie gar nicht
spüren würden, weil wir nämlich mit weniger Treibstoff
viel weiter fahren könnten.
Dass wir unser Ziel erreichen - dafür werden wir sorgen. Sie können weiter in Ihren Schützengräben bleiben.
Ich wünsche Ihnen dabei viel Vergnügen. Aber verschonen Sie uns bitte künftig mit diesem öden Klamauk!
({12})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Barbara Höll von
der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss sagen: Der Politikstil,
Herr Koppelin, den die F.D.P. hier an den Tag legt, der
nervt einfach.
({0})
Seit drei Wochen in jeder Sitzungswoche eine Debatte zur
Ökosteuer ({1})
und wir haben sowohl von Ihnen als auch von den Christdemokraten nichts anderes gehört als: nein, nein, nein!
({2})
Ich denke, Politik sollte doch einen gewissen Output
produzieren, politische Diskussion als Wettstreit von verschiedenen Möglichkeiten zur Lösung anstehender gesellschaftlicher Probleme, zur Lösung der Probleme von
Bürgerinnen und Bürgern.
Wir haben ein Grundproblem in dieser unserer heutigen Zeit: dass die Ressourcen tatsächlich immer knapper
werden und die Bürgerinnen und Bürger dafür auch ein
Verständnis entwickelt haben. Die Frage ist aber: Wie
kann man dieses Problem lösen - sozial gerecht und
tatsächlich ökologisch wirksam?
Eine billige Stimmungsmache, die nur dazu dienen
soll, die Ökosteuer, den richtigen Gedanken des ökologischen Umsteuerns zu diskreditieren, das ist wirklich einfach billig und steht unserem Hohen Hause nicht an. Damit verweigern Sie sich auch der Lösung von Problemen.
Sie bringen hier keinen einzigen konzeptionellen Ansatz.
({3})
Letztlich ist das nur eine Frage der Fortsetzung von
16 Jahren Regierungspolitik: „weiter so“, „weiter so“,
„weiter so“. Was schert uns die internationale Verpflichtung, die die Bundesregierung eingegangen ist, den
CO2-Ausstoß zu verringern? Was schert es uns, dass die
Industrie alles andere als gewillt ist umzusteuern? Ich
muss fragen, Herr Schmidt: Was schert es uns eigentlich
auch, dass sich das Leben immer so weiterentwickelt? Ich
will in fünf Jahren nicht unbedingt für weniger Geld weiter fahren können. Ich will, dass Wohn- und Arbeitsort
wieder zusammengeführt werden,
({4})
Albert Schmidt ({5})
und ich will im öffentlichen Nahverkehr Angebote haben,
die ich benutzen kann, damit ich nicht auf mein Auto angewiesen bin, wenn ich zum Beispiel auf dem Dorf
wohne.
({6})
Das sind die Fragen, die anstehen.
Richtigerweise muss ich aber natürlich auch sagen: Die
Vorlage für Ihre Kampagne hat Ihnen leider die rot-grüne
Regierungskoalition geboten, indem sie eine schlechte
Ökosteuer vorgelegt hat, die wirklich weder ökologisch
wirksam ist noch sozial gerecht.
({7})
Wenn man ein ökologisches Umsteuern tatsächlich
will, kann man nicht einfach nur eine Verbrauchsteuererhöhung durchführen und dieser Erhöhung das Etikett aufkleben: „Das ist jetzt ökologisch“.
Wenn ich die Bevölkerung dafür gewinnen will, dass
sie mitgeht, dann ist zumindest Voraussetzung, dass das
Geld tatsächlich zum ökologischen Umbau eingesetzt
wird. Die Probleme stehen doch an: Wir diskutieren hier
über die Ökosteuer und gleichzeitig verkündet Herr
Mehdorn, dass er die Interregio-Strecken einfach
schließen will bzw. diese Strecken locker in die Verantwortung der Länder übergibt. Sollen sie doch sehen,
wie sie damit zurechtkommen.
({8})
Sie können keine Verteuerung des Umweltverbrauchs
angehen, ohne den Bürgerinnen und Bürgern gleichzeitig
machbare Alternativen anzubieten. So herum muss der
Weg gehen. Dann hat auch eine billige Kampagne von der
rechten Seite dieses Hauses keine Chance auf Verwirklichung.
({9})
Ich muss auch sagen: Es ist notwendig, so etwas von
Anfang an sozial gerecht zu machen.
({10})
Die CDU hat in der vorigen Woche ganz klar gesagt,
dass sie gar gegen die Verkehrsmittelunabhängigkeit der
Entfernungspauschale ist. Es ist ja ein erster kleiner
Schritt, dass wir das nun hier im Haus beschließen werden.
({11})
Aber es geht nicht an, dass man bei einer Ökosteuer
insbesondere die Konzerne netto noch um 2,2 Milliarden DM entlastet, die Großverbraucher von Energie.
Das kann ja wohl nicht angehen!
({12})
Denn dieses Geld wird ja letztlich von den Bürgerinnen
und Bürgern geholt - und auch von Arbeitslosen, von
Rentnerinnen und Rentnern, von Studentinnen und Studenten, die nicht einmal die kleinste Gegenfinanzierung
durch die Senkung der Rentenbeiträge haben. Das ist
nicht schlüssig, das kann nicht funktionieren und dies erzeugt zu Recht großen Unwillen in der Bevölkerung.
({13})
Wir haben als Demokratische Sozialistinnen und Sozialisten von Anfang an dafür gestritten, dass es notwendig ist, den Umweltverbrauch zu verteuern, dass hierfür
aber an der Ursache angeknüpft werden muss, das heißt
an der Energieerzeugung, und dass bei der weiteren Umsetzung das Geld, das durch eine weitere Verteuerung eingenommen wird, zielgerichtet für einen strukturellen Umbau in der gesamten Gesellschaft verwendet wird sowohl was die Wirtschaft betrifft als auch was die Möglichkeiten von Bürgerinnen und Bürgern betrifft, ihr persönliches Verhalten grundlegend zu ändern.
In diesem Sinne wünsche ich mir, dass Ihre Kampagne
keinen Erfolg hat, sondern dass die gesellschaftliche Diskussion, die tatsächlich losgegangen ist und bei der man
auch viele Beispiele dafür bringen kann
({14})
- diese wurden hier auch schon aufgeführt -, dass es
tatsächlich ein Verständnis in der Bevölkerung für ihre
Notwendigkeit gibt, diese Gedanken aufgreift.
Ich wünsche mir, dass der Verkehrsminister das Rückgrat besitzt und nicht bis zum Jahre 2003 wartet, sondern
schon vorher eine vernünftige Ökosteuer auf den Tisch
legt. Das heißt, wir sagen Nein zu dieser Ökosteuer und
fordern, sie sofort durch ein machbares, sozial gerechtes
und ökologisch wirksames Konzept zu ersetzen.
Ich danke Ihnen.
({15})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Monika Ganseforth von der SPDFraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die von Ihnen beantragte Debatte zeigt,
({0})
dass Sie davon ausgehen, dass im Jahr 2003 die Regierung wieder von uns gestellt wird. Ich finde es gut, dass
wir uns über diesen Punkt einig sind und dass wir darüber
diskutieren, was dann passiert.
({1})
Ich kann Ihnen nur raten, sich geeignetere Themen zur
Profilierung zu suchen; denn dieses Thema ist inzwischen
langweilig geworden.
({2})
Auch die Bürgerinnen und Bürger wissen inzwischen,
dass dieselben Debatten Woche für Woche nichts Neues
bringen. Wenn Sie davon überzeugt sind, dass dies Sinn
macht, können wir noch mehrere dieser Debatten führen.
Aber ich sage Ihnen: Das ist das falsche Thema.
Nicht nur die CDU, sondern auch die F.D.P. hat früher
die Ökosteuer gefordert. Ich erinnere mich noch sehr gut
an die Diskussionen in der Enquete-Kommission mit
Ihrem Herrn Grüner, der hinsichtlich der Ökosteuer ein
Vorreiter war. Jetzt soll das auf einmal alles nicht mehr
richtig sein.
({3})
Was ist das Prinzip der Ökosteuer? Die Energie soll
schrittweise in kalkulierbaren kleinen Schritten verteuert
werden und die Arbeit soll entsprechend billiger gemacht
werden, um das Energiesparen voranzubringen und die
Arbeitslosigkeit zu verringern. Es geht dabei nicht darum,
wie Sie sagen, dass der Finanzminister mehr einnimmt,
wenn viel Energie verbraucht wird.
({4})
- Hören Sie einmal zu! Sie haben es nämlich noch nicht
begriffen. - Es geht vielmehr darum, technische Entwicklungen zum Beispiel hin zum Dreiliterauto und zum Einliterauto auf den Weg zu bringen.
({5})
Mit der Verteuerung der Energie sollen Investitionsentscheidungen und Produktionsprozesse beeinflusst
werden. Es geht darum, Kaufgewohnheiten und Kaufentscheidungen entsprechend zu beeinflussen. Beim Kauf
der nächsten Waschmaschine und des nächsten Kühlschranks soll der Energieverbrauch beachtet werden.
Häuser sollen besser gebaut werden und bei Sanierungen
sollen Energiesparmaßnahmen mit berücksichtigt werden. Dieser Effekt wird sich erst mittel- und langfristig
einstellen. Das Ganze ist ein marktwirtschaftliches Instrument, um Energieeffizienz voranzubringen.
Wir haben über dieses Thema schon oft diskutiert. Im
Bundestag werden seit zehn Jahren die verschiedensten
Modelle zur Ökosteuer von allen Seiten vorgestellt.
({6})
Ich erinnere mich an diverse Anhörungen, die wir in
der Vergangenheit durchgeführt haben. Es gibt keine einheitliche Auffassung darüber - weder in der Wissenschaft
und bei den Sachverständigen noch in der Politik -, welches das ideale Instrument ist.
({7})
Wenn Sie zum Beispiel nur beim CO2-Ausstoß ansetzen, dann haben Sie den Methan-Ausstoß nicht berücksichtigt: Durch die Braunkohleverbrennung entsteht kein
Methan, aber viel CO2; durch die Gasverbrennung entsteht Methan, aber wenig CO2.
({8})
Wie wollen Sie die Atomenergie einbeziehen? Jedes Konzept hat Vor- und Nachteile.
Die EU hatte vor zehn Jahren im Vorfeld des Rio-Prozesses die CO2-/Energiesteuer diskutiert. Aber all diese
Diskussionen haben nicht dazu geführt, dass etwas getan
und vorangebracht worden ist.
({9})
Aber seit wir an der Regierung sind, wurde gehandelt.
({10})
Wir haben den Reformstau aufgelöst, ein praktikables
Modell entworfen und die Ökosteuer eingeführt. Ich weiß
gar nicht, was Sie auf der linken Seite und Sie auf der
rechten Seite dieses Hauses eigentlich wollen. Wollen Sie
überhaupt keine Ökosteuer? Welches Modell wollen Sie
denn haben?
({11})
Wenn es nach Ihnen ginge, würden wir noch immer über
das beste Modell diskutieren.
Nun komme ich zum Thema. Jede Reform, jedes Modell hat positive und negative Wirkungen.
({12})
Es ist richtig, dass man, wenn man ein neues Instrument
einführt, nach einer Weile prüfen muss, wie es weitergehen soll - zum Beispiel ob man das Modell zuspitzen
muss.
({13})
- Das ist doch ganz selbstverständlich. - Dieser Aufgabe
werden wir uns zu gegebener Zeit stellen. Es ist aber viel
zu früh, heute zu sagen, was, wenn überhaupt, geändert
werden muss.
({14})
Wie gesagt: In der nächsten Legislaturperiode, am Ende
des Prozesses, der ja Investitionsentscheidungen initiieren soll, werden wir überlegen, wie dieses Instrument
weiterhin aussehen soll.
({15})
Das Prinzip ist - das habe ich schon zu Beginn meiner
Rede gesagt -, die Arbeit billiger und den Energieverbrauch teurer zu machen. Es war auch bisher nicht umstritten, die Umweltbelastungen zu internalisieren, sie im
Preis widerspiegeln zu lassen. Die Preise sollen also, wie
man es so schön ausdrückt, die Wahrheit sagen. Dieser
Prozess wird weitergehen und er muss weitergehen - genau darum geht es -, nach einer Zeit des Ausprobierens,
nach einer Zeit der Bewährung, aber nicht nach einer Zeit
der Diskussion, wie wir es mit Ihnen zehn Jahre lang erlebt haben. Wir sind diejenigen, die gehandelt haben. Die
Wirkungen erweisen sich als positiv.
Wir können diese Debatte jede Sitzungswoche wiederholen.
({16})
Die Menschen wissen, dass die Maßnahmen, die wir ergriffen haben, richtig sind.
({17})
Danke schön.
({18})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dirk Fischer von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Jetzt
reden wir einmal wieder über Klimmt.
({0})
Klimmt ist ein Minister, der viel verspricht und alles
bricht: Mitte September hat er der Bahn zusätzliche
25 Milliarden DM versprochen. Ende Oktober hat er das
Wort gebrochen.
({1})
Er hat dem deutschen Transportgewerbe versprochen, in
Brüssel dafür Sorge zu tragen, dass es keine weiteren Genehmigungen für Subventionen anderer Länder seitens
der EU gibt. Auch dieses Versprechen hat er nicht eingelöst. Seine rot-grüne Koalition hat gerade gestern wieder
- wettbewerbsverzerrend wirkende - Subventionen für
Italien gebilligt und unseren Antrag, dies nicht zu tun, abgelehnt.
({2})
Also, liebe Bürger, lasst euch nicht täuschen: Auch das
Versprechen, die Ökosteuer im Jahr 2003 zurückzunehmen, wird Klimmt brechen. Darauf kann man sich ziemlich sicher verlassen.
({3})
Diese ökonomisch unsinnige K.-o.-Steuer ohne ökologische Lenkungswirkung - das ist ja unser Vorwurf ({4})
muss sofort abgeschafft werden; daran führt kein Weg
vorbei. Das einzig Positive, das ich der Klimmt-Äußerung
entnehmen kann, ist das Eingeständnis, dass auch er die
Ökosteuer für unsinnig hält. Das sollte man festhalten.
({5})
Eine Kompensation erhalten nur diejenigen, die in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis stehen. Rentner, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Beamte, Selbstständige, nicht berufstätige Frauen,
Studenten, Schüler, ehrenamtlich Tätige - sie alle gehen
leer aus. Sie zahlen, zahlen, zahlen und erhalten keine
Kompensation.
({6})
Doppelt schlimm ist die Einführung einer allgemeinen
Entfernungspauschale: Diese würde ganz überraschend
Fußgängern und Radfahrern, die keinen nennenswerten
Kostenaufwand haben, viel Geld einbringen, die eben
aufgezählten Bevölkerungsgruppen aber ein zweites Mal
diskriminieren, da sie wieder einmal keine Entlastung erführen. Dies ist meiner Meinung nach keine Ausgleichsmaßnahme, sondern Pfuscherei am Flickwerk. Dies können wir nicht akzeptieren.
({7})
Die Ökosteuer ist auch eine wirtschaftsfeindliche
Steuer; sie ist eine Vernichtungssteuer. Die Widersprüche
sind hier schon angeführt worden: Diejenigen Unternehmen, die für die Produktion die meiste Energie verbrauchen, bekommen eine Entlastung, andere aber, zum Beispiel im Transportgewerbe, werden vernichtet. EU-Staaten,
die mit uns im Wettbewerb stehen, beweisen, dass sie etwas für ihr nationales Transportgewerbe tun. Schauen Sie
nur einmal nach Frankreich, Italien, Belgien oder in die
Niederlande! In Deutschland aber gibt es keine Entlastung. Klimmt produziert nur heiße Luft und treibt das
deutsche Transportgewerbe in den Ruin. Betriebe werden
zerstört oder zur Ausflaggung ins Ausland getrieben.
Hunderttausend Arbeitsplätze in deutschen Führerhäusern, Bussen und Taxen werden vernichtet. Dies hat RotGrün zu verantworten, sonst niemand.
({8})
Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit: Meine Fraktion
wird die Zerstörung des deutschen Transportgewerbes
nicht widerspruchslos hinnehmen.
({9})
Wir diskutieren die Anliegen und Interessen unserer Bürger, die Themen, die für sie wichtig sind. Wir diskutieren
nicht, was Herr Schröder wünscht, das wir diskutieren,
oder was die SPD-Fraktion uns erlaubt zu diskutieren.
({10})
Wir sind autonom und werden keinerlei Tabuisierung,
egal in welche Richtung, akzeptieren.
Demgegenüber muss umweltfreundliches Verhalten so
anerkannt werden, dass es sich für die Menschen lohnt
und auszahlt. Verkehrsminister Wissmann hat es seinerzeit vorgemacht: höhere Kfz-Steuer für nicht abgasgereinigte Fahrzeuge, entsprechende Begünstigung, Entlastung für Autos mit Katalysatortechnik.
({11})
Das war ökologische Besteuerung, die vom Bürger eingesehen und mitvollzogen wurde.
({12})
Ganz anders heute. Beim Nahverkehr werden über
600 Millionen DM Ökosteuer draufgesattelt. Folge: steigende Tarife und damit kein Anreiz, auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen.
Der Benzinverbrauch beim Auto wird deutlich sinken.
Klar, Gott sei Dank; wir freuen uns. Wir haben das politisch in diese Richtung bewegt. Nur, in den Brieftaschen
der Bürger bleibt alles beim Alten. Denn das Geld für den
Liter, das eingespart wird, Frau Ganseforth, wird morgen
durch Ihre Steuerpolitik wieder einkassiert.
({13})
Deswegen haben die Leute nichts davon, deswegen gibt
es keine Akzeptanz.
Das heißt, eine Einsparung bei den Kraftfahrzeugkosten ist gar nicht vorgesehen; denn die Steuermehreinnahmen sind bei Ihnen schon längst fest verplant. Keine Mark
zusätzlich für die Verkehrsinfrastruktur, obwohl der Autofahrer immer häufiger im Stau steht! Keine Förderung
alternativer Energien! Der Wortbestandteil „Öko“ ist
Deckmantel für bewusstes Abkassieren. Die wirklich bedauerliche, fatale Konsequenz ist, dass notwendige, sinnvolle Umweltpolitik beim Bürger immer mehr in Misskredit gerät. Das ist das Traurige, das wir nicht haben
wollen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Bundesregierung ist mit dem Missbrauch des Begriffes
„Ökosteuer“ für ein reines Abkassiermodell gescheitert.
Sie ist bei der Bevölkerung durchgefallen. Hätte diese Regierung Charakter, würde sie dieses Gesetz umgehend
außer Kraft setzen.
({14})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Reinhard Loske vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Fischer, das, was Sie hier machen, ist nicht nur billigster
Klamauk. Ihnen sind wirklich alle Maßstäbe abhanden
gekommen. Das stelle ich fest, wenn ich Ihre Sprache
höre: Vernichtung, Zerstörung, die Menschen leiden. Was
ist das eigentlich für eine Sprache? Nehmen Sie die Realität überhaupt noch zur Kenntnis?
({0})
Manchmal glaubt man, man müsste immer wieder bei
Adam und Eva anfangen.
({1})
Man muss den Kolleginnen und Kollegen der Union und
der F.D.P. den Gedanken der ökologischen Steuerreform
noch einmal darlegen.
({2})
Es geht darum, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, nämlich dadurch, dass man Energie schrittweise und
maßvoll verteuert, Anreize zur Energieeinsparung gibt,
und das Aufkommen aus dieser Steuer verwendet, um
Lohnnebenkosten zu senken und damit Arbeitsplätze zu
schaffen. Begreifen Sie das doch endlich einmal!
({3})
Es war so, dass auch Ihre Leute das immer wussten, die
Ökologen wie die Ökonomen. Ich will aus der CDU nur
Töpfer, Repnik und den ehemaligen Fraktionsvorsitzenden Schäuble nennen. Zur F.D.P., die diese Aktuelle
Stunde beantragt hat: Es ist wirklich beschämend. Sie haben Leute wie Maihofer und Baum gehabt. Das sind
Leute, die in Deutschland Umweltpolitik gemacht haben.
Heute gibt es nur noch „Spaß mit Container-Guido“. Das
ist Ihr Niveau.
({4})
Das ist unter aller Sau. Das muss ich wirklich einmal sagen, auch wenn es kein parlamentarischer Begriff ist, Entschuldigung.
Zu den Fakten. Der Energieverbrauch in Deutschland
ist in der ersten Jahreshälfte 2000 um 4,2 Prozent zurückgegangen.
({5})
Das hat mit den Energiepreisen zu tun; das ist vollkommen klar. Im Gegenzug sind die Lohnnebenkosten im
Rentenversicherungsbereich von 20,3 Prozent, als wir an
die Regierung kamen, auf 19,3 Prozent gesunken.
({6})
Dirk Fischer ({7})
Das alles sind Realitäten, die Sie nicht einfach ignorieren
können. Nehmen Sie bitte zumindest die Wahrheit zur
Kenntnis.
({8})
Das ist das Mindeste, was ich erwarte.
({9})
Weitere Fakten, die man als aufmerksamer Zeitungsleser - das reicht ja schon aus - zur Kenntnis nehmen kann.
In der Kreisstadt Uelzen, woher bekanntermaßen der
Fraktionsvorsitzende der SPD kommt, hat die Kreishandwerkerschaft auf dem Höhepunkt der Energiekontroverse
ganzseitige Anzeigen geschaltet. Sie haben obendrüber
geschrieben: Sie müssen nicht demonstrieren, kommen
Sie zu uns, wir halbieren Ihre Energierechnung sofort. Ja, die Heizungsanlagenbauer und andere mehr haben es
verstanden.
({10})
Anderes Beispiel: In der Autoindustrie ist jetzt ein interessanter Streit darüber ausgebrochen, ob das Einliterauto, wie VW findet, oder das Wasserstoffauto, wie BMW
und Daimler finden, das bessere Modell ist. Da kann ich
doch nur sagen: ein wunderbarer Streit. Das ist genau der
Streit, den wir wollen. Da lehnen wir uns bequem zurück
und schauen zu.
({11})
Jetzt komme ich zunächst einmal auf den Kollegen
Töpfer zu sprechen. Das kann ich Ihnen einfach nicht ersparen. Distanzieren Sie sich von seinen Ideen oder stehen Sie dazu? Die Aussage von Herrn Töpfer ist ganz eindeutig:
Die Grundüberlegung einer Ökosteuer kann man
nicht ablehnen. Für meine Begriffe ist diese Steuer
keine K.-o.-Steuer.
Ihre primitive Polemik kann man ja wirklich kaum noch
ertragen.
({12})
Ein weiterer Punkt. Die Wirtschaftsforschungsinstitute
haben ihr Gutachten vorgelegt. Ich zitiere daraus wörtlich:
Die Regierung sollte an dem Ökosteuergesetz festhalten.
Eine Senkung der Mineralölsteuer
würde lediglich bedeuten, dass der Staat die Belastung von Ölverbrauchern auf die Allgemeinheit verschiebt.
Die Entlastung käme also nicht beim Verbraucher an, sondern nutzte nur den Ölstaaten bzw. den Mineralölkonzernen.
({13})
Das sind die Fakten, meine Damen und Herren.
({14})
Nächstes Beispiel: Der vor wenigen Tagen zu Ende gegangene Deutsche Juristentag hat folgenden Beschluss
gefasst:
Der Deutsche Juristentag begrüßt den Einbau
ökologischer Elemente in das Abgabensystem. Er
sieht in der Ökosteuer einen geeigneten Weg, um
Umweltziele zu verfolgen.
Die Versicherungswirtschaft hat vor wenigen Tagen
mitgeteilt, dass die Schäden infolge von Umweltkatastrophen, die im letzten Jahr ein Rekordhoch erreicht haben,
kaum noch versicherbar sind. Deswegen sind sie der Meinung - ich zitiere wörtlich -:
Wir brauchen die Ökosteuer. Doch man muss den
Leuten klarmachen, worum es eigentlich geht.
Nämlich darum,
Klimaschutz zu betreiben.
({15})
Da können wir noch besser werden. Das ist überhaupt
keine Frage. Das haben wir in der Vergangenheit offenbar
nicht gut genug erklärt.
Letztes Beispiel: Es gibt seit wenigen Wochen auch
eine Künstlerinitiative um Günter Grass und andere, die
diese absolut rabiate Verweigerung von Zukunftsverantwortung, die Sie hier exerzieren, nicht mehr ertragen
konnte. Das ist nicht mehr zu akzeptieren.
({16})
Sie können dieses Thema meinetwegen jede Woche
einbringen, Sie bekommen jede Woche die richtige Antwort.
({17})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Gisela Frick von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Zu dem, was ich von den Rednern der Koalition hören musste, kann ich nur sagen: Thema total verfehlt.
({0})
Es geht aus Ihrer Sicht nicht um die Rechtfertigung dieser
total missglückten Ökosteuer - der so genannten, wie ich
immer sage, denn es ist ja keine Ökosteuer -,
({1})
sondern es geht ausdrücklich - so lautet die Überschrift
des Tagesordnungspunktes - um die „Haltung der Bundesregierung zur Forderung von Bundesverkehrsminister
Klimmt, die Ökosteuer im Jahre 2003“ abzuschaffen.
({2})
Das ist das Thema.
({3})
- Doch, das hat er gesagt. Er hat zwar nicht „abschaffen“
gesagt, sondern er hat gesagt: Dann muss damit Sense
sein. - Da sich dieser Ausdruck sprachlich für die Formulierung eines Tagesordnungspunktes nicht so eignet, haben wir - ({4})
- „Sense sein“ heißt nichts anderes als abschaffen.
({5})
- Doch!
Auf Ihren Vorwurf, dass es langweilig ist, wenn wir
jede Woche mit diesem Thema kommen, kann ich Ihnen
nur antworten: So, wie Sie hier die Debatte führen, wird
sie natürlich langweilig.
({6})
Das ist aber nicht das Thema. Ich glaube auch nicht, dass
der Endverbraucher, der seine Heizkostenrechnung oder
seine Tankrechnung sieht, es langweilig findet, dass wir
dieses hier sehr regelmäßig und immer wieder zum
Thema machen.
({7})
Wenn Herr Klimmt - wir haben zwar heute von Herrn
Schmidt gehört, das sei ein Strohhalm, aber er ist immerhin Mitglied dieser Bundesregierung - sagt: „Wir wollen,
dass ab 2003 mit der Ökosteuer Sense ist, dann geht er von
der falschen Vorstellung aus, dass dann noch die rot-grüne
Regierung im Amt ist.
({8})
Ich muss Ihnen da widersprechen, Frau Ganseforth. Damit rechnen wir nicht. Aber immerhin ist das Eingeständnis richtig, dass dieses Konzept der Ökosteuer total verfehlt und danebengegangen ist und damit überhaupt kein
Blumentopf zu gewinnen ist, insbesondere nicht die so genannte doppelte Dividende, von der die Grünen immer
wieder sprechen.
Sie haben heute nur sehr vorsichtig - Herr Eich, Sie
waren der Einzige - auf das Gutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute hingewiesen. Hierin ist ein Totalverriss der Ökosteuer enthalten,
({9})
gerade auch unter dem Gesichtspunkt doppelte Dividende.
({10})
Dort steht, gerade die Verzahnung von Umweltschutz und
Rentenfinanzierung sei ungeheuer problematisch - in der
Sprache sind die Wirtschaftsweisen ja vorsichtig. Mit allen Argumenten - sie liegen schon lange auf dem Tisch wird also ganz deutlich gesagt, dass das alles nichts
bringt.
Ein weiteres Thema könnte sein - im Moment debattieren wir auch darüber -, dass gerade die Trostpflaster,
die jetzt in Form der Anhebung einer Entfernungspauschale und eines einmaligen Heizölkostenzuschusses verteilt werden, die sowieso schon geringen Lenkungswirkungen der Ökosteuer noch weiter verwässern.
({11})
Das heißt, Sie stehen überhaupt nicht mehr zu Ihrem Konzept. Ich glaube, dass wir von der Regierung, vertreten
durch die Staatssekretärin Hendricks, nachher nichts anderes als die Aussage hören werden, dass Sie bei dieser
Steuer bleiben, egal, wie viele in Ihren Reihen einsehen,
dass das falsch ist. Der Kollege Koppelin hat schon darauf
hingewiesen, dass der Bundesverkehrsminister - das hat
er selber gesagt - mit seiner Auffassung nur einer von vielen ist. Ihnen allen spricht er aus dem Herzen. Das gilt
auch für den Autokanzler Schröder. Das sollte man dabei
nicht vergessen.
({12})
- Das kennen viele, Herr Eich. Es gibt genug Äußerungen,
aus denen man auf den Herzenszustand schließen kann.
Das ist gar kein Problem.
Mit anderen Worten: Wenn die Regierung wider besseres Wissen an dieser Ökosteuer festhält, dann sind wir unserem Ziel, Sie im Jahre 2002 abzulösen, ein ganzes Stück
näher. Insofern kann ich gar nicht sagen, dass es in den
Ohren der Opposition wie Kakophonie klingt, was aus der
Regierung kommt - der eine so, der andere anders; Herr
Eichel ist heute schon zitiert worden -, während die Generallinie noch immer in einer Wagenburgmentalität besteht. Wenn Sie sich so uneinig sind und überhaupt nicht
wissen, was Sache ist, dann ist das für uns eigentlich Musik in den Ohren, und es zeigt nur, dass Ihre Konzepte, an
denen Sie wider besseres Wissen festhalten, total verfehlt
sind.
Wir fordern Sie noch einmal auf: Folgen Sie Ihrem
Herzen und erst recht Ihrem Verstand! Geben Sie zu, dass
die Ökosteuer ein Schuss in den Ofen war, und zwar in
den Kohleofen, dessen Betrieb nicht besteuert wird. Machen Sie Schluss mit dieser Politik!
({13})
Für die
Bundesregierung spricht jetzt die Parlamentarische
Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Koppelin, Frau Kollegin Frick, Sie
mussten so lange warten, bis mir das Wort erteilt wurde,
damit ich die Haltung der Bundesregierung zu den Äußerungen von Herrn Klimmt darstellen kann.
({0})
Ich möchte Sie auf Folgendes aufmerksam machen:
Um die Haltung der Bundesregierung zu erfahren, ist eine
Aktuelle Stunde ihrer Definition nach eigentlich ungeeignet. Natürlich könnten wir eine Aktuelle Stunde mit zwölf
Parlamentarischen Staatssekretären bestreiten; aber dann
könnten Sie alle nicht mehr reden. Wenn Sie also die Haltung der Bundesregierung erfahren möchten, dann müssen Sie warten, bis einem Vertreter der Bundesregierung
das Wort erteilt wird.
({1})
Andernfalls müssen Sie Ihre Frage in der Regierungsbefragung am Mittwoch stellen. Dann bekommen Sie eine
Antwort von der Bundesregierung.
({2})
Sie können nicht erwarten, dass jeder Redner der Koalition die Haltung der Bundesregierung vertritt. Das muss
dann schon die Bundesregierung machen.
(Zuruf des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.]
- Jetzt spreche ich also und ich hoffe, das trägt zu Ihrer
Beruhigung bei, Herr Koppelin.
({3})
Ich will ganz kurz auf Herrn Fischer eingehen. Herr
Kollege Fischer, ich will nicht ausführlich auf Ihre wirklich ausufernde Polemik antworten. Sie haben gesagt, der
Bundesverkehrsminister habe schon jetzt sein Wort gebrochen, welches er im September gegeben habe.
({4})
Der Bundesverkehrsminister hat zu den notwendigen Investitionen der Bahn gesagt, dass die Bahn in den nächsten 10 bis 15 Jahren ein zusätzliches Investitionsvolumen
von 25 Milliarden DM brauchen wird.
({5})
- Nun hören Sie doch einmal zu! ({6})
Herr Kollege Fischer, wir haben ein Zukunftsinvestitionsprogramm aufgelegt, das für die nächsten drei Jahre
pro Jahr zusätzlich 2 Milliarden DM für Investitionen in
die Schiene vorsieht.
({7})
- Herr Kollege Fischer, es besteht doch die Möglichkeit,
jedes Jahr die mittelfristige Finanzplanung zu erneuern.
({8})
- Herr Kollege Fischer, wir werden auch in Zukunft jedes
Jahr mit haushaltswirtschaftlicher Verantwortung die mittelfristige Finanzplanung im Lichte der Einnahmen des
Staates überprüfen können.
({9})
- Jedes Jahr, Herr Kollege Fischer, wird über die mittelfristige Finanzplanung neu entschieden.
({10})
- Herr Kollege Fischer, in den nächsten drei Jahren gibt
es zusätzlich jeweils 2 Milliarden DM für Schieneninvestitionen. Wir lösen den Stau auf, den Sie zu verantworten
haben.
({11})
Diese 25 Milliarden DM, die zusätzlich nötig sind, haben
doch Sie, der hervorragende Herr Ludewig und all die anderen Herren - wie auch immer sie heißen - zu verantworten, die keine Ahnung hatten, wie man ein Unternehmen führt.
({12})
Herr Kollege Fischer, die Frau Staatssekretärin hat das Wort und
nicht Sie. Es wäre gut, wenn Sie ihr zuhören würden.
Jetzt komme ich auf das eigentliche Thema zurück. In ihrem Herbstgutachten haben
die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute positiv hervorgehoben, dass die Bundesregierung trotz des großen
politischen Drucks, der ja auch von den unvernünftigen
Reihen dort rechts kommt, an der Ökosteuer festgehalten
hat.
Es wird zum Beispiel kritisch angemerkt, dass wir
Ausnahmetatbestände zurückführen sollen. Dies würde,
wenn man einmal ein bisschen logisch denkt, dazu
führen, dass die Einnahmen aus der Ökosteuer höher und
nicht niedriger sein würden. In dieser Hinsicht könnten
Sie uns ja einmal Vorschläge machen. Aber Ausnahmetatbestände zugunsten des produzierenden Gewerbes
führen dazu, dass wir einen Einnahmeverzicht üben, also
über weniger Einnahmen aus der Ökosteuer verfügen, als
es anderenfalls möglich wäre. Das bestätigen die Sachverständigen.
Jetzt fragt die F.D.P., wie es mit der Ökosteuer weitergehen soll.
({0})
Dazu kann ich ganz klar sagen: Der Zeitplan steht. Bis
zum Jahre 2003 ist gesetzlich verankert, dass der Energieverbrauch von Jahr zu Jahr maßvoll verteuert wird. Wir
werden die daraus entstehenden Einnahmen auch in Zukunft dazu verwenden, die Rentenversicherungsbeiträge
zu stabilisieren.
({1})
Die Ökosteuer wird auch nach 2003 nicht zurückgenommen. Der Staat wird den Energieverbrauch in
Deutschland nicht durch eine sinkende Mineralölsteuer
beschleunigen.
({2})
Unser Ziel bleibt klar: Wir müssen die Abhängigkeit der
deutschen Wirtschaft vom Erdöl reduzieren. Neuerdings
ist ja auch klar geworden, dass das Wirtschaftswachstum
nicht mit einem höheren Energieverbrauch einhergehen
muss. Diese Entkoppelung wollen wir verstärken.
({3})
Wir werden diesen erkennbaren Trend durch die Bereitstellung von mehr Mitteln zur Erforschung regenerativer Energien und mit Förderprogrammen zur Energieeinsparung unterstützen. So haben wir erst jüngst in
unserem Zukunftsinvestitionsprogramm beschlossen, ein
Altbausanierungsprogramm zu finanzieren und umfangreiche Mittel für die Energieforschung zur Verfügung zu
stellen, in allen Bereichen weniger Energie zu verbrauchen und dabei weg vom Öl zu kommen. Das ist die Zukunft; die haben Sie verschlafen.
({4})
Was nach Ablauf der jetzigen Planung geschieht, steht
noch nicht fest. Ob es zu weiteren Schritten im Rahmen
der Ökosteuerreform kommt und wie mögliche zusätzliche Einnahmen eingesetzt werden, lässt sich heute noch
nicht entscheiden. Das ist aber auch wirklich nicht nötig.
({5})
Erst muss die konkrete Situation abgewartet werden. Wir
müssen die Entwicklung im Umweltbereich abschätzen,
aber natürlich auch die Wirtschaftslage genau analysieren. Es gibt Aspekte, die gegen weitere Schritte im Rahmen der Ökosteuerreform sprechen; Bundesverkehrsminister Klimmt hat darauf hingewiesen.
({6})
Es gibt andere Aspekte, die dafür sprechen. Welche Argumente schwerer wiegen, lässt sich aus der heutigen zeitlichen Distanz nicht entscheiden. Wir werden das entscheiden, wenn die Lage klar und die Entscheidung notwendig
ist.
({7})
Es gibt keinen Grund, jetzt zu entscheiden. Ich weiß, das
macht der Opposition die Arbeit nicht leichter. Aber dies
ist ja auch nicht unsere Aufgabe.
({8})
Der Einstieg in die Ökosteuerreform war richtig. Ganz
bewusst haben wir ein schrittweises Vorgehen gewählt.
Der Vorteil für die Bürger liegt in den maßvollen Erhöhungsschritten.
({9})
Man hat den Vorteil, die Folgen der einzelnen Schritte
besser abschätzen zu können als bei einer schockartigen
Steuererhöhung, wie Sie sie in Ihrer Regierungszeit zu
verantworten hatten.
({10})
Es bleibt dabei: Die Ökosteuer ist ein wichtiger Beitrag
für eine Ökologisierung unserer Volkswirtschaft sowie für
beschäftigungsintensives Wachstum. Diese Einsicht ist
nicht neu. Ich werde sie Ihnen von der Opposition aber
immer wieder aktuell mitteilen, wenn Sie - möglicherweise jede Sitzungswoche - mit solchen Anträgen kommen.
Herzlichen Dank.
({11})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Otto Bernhardt
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Im Mittelpunkt dieser Sitzung steht
die Aussage des Bundesverkehrsministers.
({0})
Ich finde es traurig, dass der direkt Angesprochene nicht
anwesend ist.
({1})
Ich habe soeben gehört, dass Herr Klimmt zum jetzigen
Zeitpunkt, zu dem wir über seine Aussagen diskutieren,
eine Pressekonferenz gibt. Ich glaube, das ist ein falsches
Parlamentsverständnis.
({2})
Natürlich eignet sich eine Aktuelle Stunde nicht, um
grundsätzliche Aussagen zur Ökosteuer zu machen. Nur,
damit kein falscher Eindruck entsteht: Der Grundgedanke
der Ökosteuer, Verteuerung der Energie und Entlastung
des Produktionsfaktors Arbeit, ist ein Gedanke, über den
man mit uns diskutieren kann
({3})
und den wir für gar nicht schlecht halten. Aber wir und
auch alle, die Sie zitiert haben, haben immer gesagt: So etwas kann man aus Wettbewerbsgründen nur auf der europäischen Ebene lösen.
({4})
Auch wenn es verschiedene Redner schon gesagt haben, will ich es noch einmal betonen: Ihre Ökosteuer verdient den Namen nicht. Eine richtige Ökosteuer müsste
doch bei den Schadstoffemissionen ansetzen. Eine richtige Ökosteuer müsste doch dazu führen, dass die Einnahmen aus dieser Steuer immer weniger werden, weil
man damit eine marktwirtschaftlich vernünftige Lenkungsfunktion verbindet. Das ist bei Ihnen nicht vorgesehen.
({5})
Wie kann man eine Steuer Ökosteuer nennen, die das
saubere Erdgas belastet und die Umwelt verschmutzende
Kohle ausnimmt? Das ist keine Ökosteuer.
({6})
Natürlich wissen wir, dass die Energiepreiserhöhungen
nicht nur auf die Steuererhöhungen zurückzuführen sind.
Natürlich kennen wir die Entwicklung der Rohölpreise.
({7})
Aber auf die Rohölpreise haben wir keinen Einfluss.
Natürlich kennen wir auch die Folgen der EuroSchwäche.
({8})
Da hätte die Bundesregierung ein wenig mehr Einfluss,
aber die Chance nutzt sie nicht.
({9})
Wir diskutieren jetzt über den dritten Verteuerungsfaktor: die Steuern. Das ist der Faktor, den wir im deutschen
Parlament ganz alleine bestimmen können. Ich nenne einmal die Größenordnung, weil ich den Eindruck habe, hier
werden die Relationen verwechselt. Von 2 DM, die wir an
der Tankstelle bezahlen müssen - inzwischen sind es ein
paar Pfennige mehr -, bekommt der Staat zwei Drittel,
also 1,30 DM.
({10})
- Auch wir haben die Steuer erhöht. Das ist klar.
({11})
Nur das letzte Drittel bekommen die von Ihnen so hart gescholtenen Ölscheichs und -konzerne. Wenn es keine
Steuer gäbe, dann würde der Liter Benzin in Deutschland
70 Pfennige kosten.
({12})
Sie können nicht behaupten, dass die anderen die Preistreiber sind. Nein, die öffentliche Hand ist der Preistreiber: 1,30 DM von 2 DM sind Steuern.
({13})
Die Folgen steigender Energiepreise können wir jeden
Tag beobachten. Zehntausende mittelständische Existenzen sind in Gefahr. Ich glaube, die „Berliner Zeitung“ hat
Recht, wenn sie schreibt: Die Regierung wird jetzt nervös. - Warum Sie nervös werden, ist klar. Schauen Sie
einmal in die „FAZ“ vom 18. Oktober 2000. Darin stehen
die neuesten Meinungsumfragen. Wenn wir über die Ökosteuer eine Volksabstimmung durchführen würden, würden fast 90 Prozent dagegen und nur gut 10 Prozent dafür
stimmen. Interessant ist: Zwei Drittel der Bevölkerung
machen die Bundesregierung für die steigenden Energiepreise verantwortlich. Daher rührt Ihre Nervosität.
Deshalb kann ich abschließend nur sagen: Warten Sie
nicht bis zum Jahr 2003, auch wenn es richtig ist, wie die
Kollegin Professor Frick sagt, dass wir dann größere
Wahlchancen hätten. Es gibt zu dieser so genannten Ökosteuer nur eine Alternative. Das ist der Gesetzentwurf der
CDU/CSU, in dem gefordert wird, diese Steuer ab dem
1. Januar des kommenden Jahres abzuschaffen. Stimmen
Sie unserem Antrag zu!
Danke schön.
({14})
Als
nächster Redner hat der Kollege Lothar Binding von der
SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mehr
Arbeit, stabile Renten, besserer Umweltschutz: Die Ökosteuer löst gleich drei Aufgaben auf einmal. Das ist okay.
Ich glaube, dass Sie die Genialität dieses Konzepts so unheimlich ärgert, dass Sie keine Woche darauf verzichten
können, über dieses Thema zu reden.
({0})
Eben haben wir etwas über Größenordnungen gehört.
({1})
- Der naive Zugang ist nicht immer der richtige.
Zur Demonstration habe ich nämlich einige Holzklötze
mitgebracht. Ich will einmal auf die Größenordnungen
eingehen. Dieser kleine Holzklotz stellt den Benzinpreis
dar. Der Preis beträgt etwas über 2,05 DM. Hinzu kommt
der Rohölpreis. Er war vor kurzem - also noch zur Zeit
der Regierung Kohl - so hoch wie der andere Holzklotz.
Der Preis ist jetzt um zwei Drittel gestiegen.
Dann haben wir die Marge der Tankstellen: ungefähr 8
Pfennig von 2 DM; das ist auch nicht sehr viel, aber vielleicht bringt es die Menge, um die Erträge der Tankstellen
zu sichern.
({2})
Dann haben wir die Erdölbevorratungsverbandsabgabe;
sie ist relativ niedrig. Dann haben wir eine Mineralölsteuer, die sich in zwei Teile aufteilt. Der eine Teil belief
sich von Adenauer bis Schmidt auf ungefähr 48 Pfennig.
Dann gibt es eine Mineralölsteuer von Kohl bis Kohl, also
von 1984 bis 1994; ihre Erhöhung betrug auch ungefähr
50 Pfennig. Dann kommt die Mehrwertsteuer. Dann
kommt die Ökosteuer I; es kommt die Ökosteuer II und es
folgen noch zwei Ökosteuern.
({3})
Jetzt schauen wir uns einmal die Problemlösungsansätze der CDU an:
({4})
Sie sagen: Die bisherigen Erhöhungen der Mineralölsteuer und der Stromsteuer müssen rückgängig gemacht
werden, weil die für die Jahre 2001 bis 2003 vorgesehenen Steuererhöhungen eine Gefahr für das Wirtschaftswachstum in Deutschland darstellen und die Bürger belasten und die Betriebe in unverantwortlicher Weise in
den Ruin treiben würden.
Wir haben vorhin gehört, das Gewerbe würde vernichtet. Ich will das alles jetzt einmal anhand der Klötzchen
verdeutlichen. Dieser Teil hat der Wirtschaft nicht geschadet; er hat niemanden überproportional belastet. Er
diente dem Stopfen der Haushaltslöcher und der Finanzierung von Fördergebietsgesetzen. Er war dazu da, den
reichen Leuten Geld zu geben.
({5})
Der andere Teil der Klötzchen ruiniert die Wirtschaft
und bringt ganze Gewerbe in Gefahr; das ist ganz dramatisch.
({6})
Aber dieser Teil macht praktisch gar nichts. Zu der
Zeit, als man das betrieben hat, hatten Repnik, Merkel und
andere die Idee, diesen Teil noch hinzuzufügen, und zwar
mit dem Argument, Arbeitsplätze zu schaffen, die Umwelt
zu schonen und soziale Nebenkosten zu senken, damit die
Nettolöhne steigen. Das war eigentlich ein gutes Konzept.
({7})
Insofern habe ich heute nicht verstanden, wie jemand
sagen kann, die SPD habe Wortbruch begangen.
({8})
Ich will es einmal so formulieren: Jemand, der sich von
einem Kanzler wie dem Ihrigen damals nicht distanziert,
({9})
und Personen, die wie Merkel, Repnik oder Töpfer einen
Eierkurs in der beschriebenen Weise fahren, können uns
an dieser Stelle nicht belehren.
({10})
Lernen Sie die Grundkapitel von Moral und Ethik! Distanzieren Sie sich von Ihrem Kanzler und von anderen
Gaunern in Ihrer Partei!
({11})
Dann können wir darüber reden, ob die SPD ein Gesetz,
das für alle Zukunft gilt, macht.
Zum inhaltlichen Hintergrund vielleicht noch so viel:
Die Ursache für diese Aktuelle Stunde ist, dass jemand gesagt hat: Wenn sich in Zukunft etwas ändert, ändert sich
etwas in der Zukunft. Aber so etwas mit einer tief greifenden Logik kann die F.D.P. natürlich nicht jede Woche
wiederholen. Ich glaube, die Bürger merken, dass das
Spektakel der ausschließlichen Medienwirksamkeit ohne
Substanz ihnen nicht hilft.
({12})
Die Probleme, die wir eben beschrieben haben, sind:
mehr Arbeit, stabile Rente, besserer Umweltschutz. Die
CDU will sie übrigens so lösen, wie ich gelesen habe:
Ökosteuer abschaffen. - Konstruktives Konzept? - Fehlanzeige! Alternativen zum Gesetz der CDU? - Keine! Das
haben wir extra einmal behandelt; Jörg-Otto Spiller hat
uns darauf hingewiesen. Das heißt: Sie haben, abgesehen
von der Ablehnung des Gesetzes, überhaupt keine Alternative. Wo ist dann das konstruktive Moment, das man jedes Mal in dieser Debatte einklagen sollte?
Jetzt kommt etwas besonders Schönes: die sonstigen
Kosten. Sie schreiben: Durch die Senkung der Mineralölsteuer werden die Energiepreise steuerbedingt sinken.
Woher wissen Sie eigentlich, dass es in dieser Hinsicht
überhaupt eine Steuerelastizität gibt? Sie wissen sehr
wohl, dass die Preise nicht sinken, wenn man die Steuern
um diesen Betrag senkt; denn sonst müssten Sie beweisen
können, wieso der Heizölpreis um 100 Prozent gestiegen
ist, obwohl das Heizöl von der Ökosteuer in diesem Jahr
überhaupt nicht betroffen ist. Diese Logik müssten Sie
uns bzw. dem Bürger erläutern, anstatt ihn hinters Licht zu
führen.
({13})
Herr Kollege Binding, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich glaube, Ihnen fällt nichts Intelligentes ein, das sich über das Niveau
Ihrer Gesetzesvorlage hinaushebt. Deshalb lehnen wir
diese ab.
Schönen Dank.
({0})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Klaus-Peter Willsch von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir einmal auf die Zeit zurückblenden, in der dieses unsägliche
Ökosteuergesetz verabschiedet wurde, müssen wir uns
daran erinnern, dass damals viel von „doppelter Dividende“ oder Ähnlichem geschwärmt wurde. Heute höre
ich kein Schwärmen mehr, sondern sehe bei der Regierung nur noch ein Flattern. Ein Minister nach dem anderen behauptet, nun sei das Ende der Fahnenstange erreicht. Hier gibt es mittlerweile ein heilloses Flattern
wegen der berechtigten Proteste der Bevölkerung.
({0})
Es war nicht nur Herr Klimmt, der heute wohl lieber nicht
dabei sein wollte, wir haben Ähnliches von Herrn Riester
und Herrn Eichel gehört. Wir hören zwar immer wieder
Dementis, merken aber, dass Absetzbewegungen gemacht
werden. Ihnen fehlt der Mut, diesen Schritt zu gehen.
Wir müssen uns überlegen - wir hatten gerade von
Herrn Binding eine eindrucksvolle Demonstration mit
Holzspielzeug -,
({1})
weshalb der Spritpreis heute auf der Höhe ist, die wir beklagen, die zumindest ich beklage. Sie beklagen die Höhe
des Spritpreises nicht: Die Grünen wollen ja einen Spritpreis von 5 DM je Liter und auch Sie von der SPD wollen
einen höheren Preis als heute.
({2})
Sie reden sich in den Wahlkreisen immer damit heraus,
dass Sie nur für eine Erhöhung von 14 Pfennig verantwortlich seien. Sie haben aber noch weitere Erhöhungen
in drei Stufen beschlossen, die kommen werden.
({3})
Aber Sie sind natürlich auch für den Anteil mitverantwortlich, der auf der schlechten Performance des Euro basiert. Der schwache Außenwert des Euro hat etwas mit der
Wirtschaftspolitik zu tun, die in der Leitvolkswirtschaft
des Euro-Raums gemacht wird.
({4})
Wenn Sie sich diesen Umstand vor Augen führen und
überlegen, wie internationale Finanzmärkte zu einer Bewertung einer Währung kommen, werden Sie das leicht
nachvollziehen können. Beim Start des Euro haben all
diejenigen, die im internationalen Rahmen die Wirtschaft
beobachten, gesagt, der Euro-Raum sei ein guter Wirtschaftsraum mit guten Chancen auf Wachstum. Es gibt an
zwei Punkten Probleme:
({5})
Die Sozialversicherungssysteme müssen in Richtung auf
eine höhere Eigenverantwortung umgebaut werden und
der Arbeitsmarkt muss von rigiden Regelungen befreit
werden. Hier wurde Reformbedarf angemahnt.
Schauen Sie sich einmal an, was Sie in diesem Bereich
in den letzten zwei Jahren getan haben: Sie haben die Regelungsdichte auf dem Arbeitsmarkt verschärft. Ich nenne
als Beispiele das 630 DM-Gesetz und das sogenannte
Scheinselbstständigengesetz. Sie haben die erforderliche
Sanierung der Sozialversicherungssysteme ausgesetzt
und teilweise bisher getroffene Regelungen zurückgefahren. Bis heute liegt von Ihnen nichts auf dem Tisch.
Sie haben die Reformen in der Rentenversicherung zwar
ausgesetzt, aber bis heute keinen Gesetzentwurf, sondern
nur ein Arbeitspapier auf den Tisch gelegt. Sie haben also
genau in den Bereichen, in denen die internationale Finanzwelt erwartet hat, dass sich etwas tut, nichts vorangebracht.
({6})
Lothar Binding ({7})
Solange dieser Reformbedarf besteht, wird auch das Vertrauen in den Euro nicht steigen.
Ich will Ihnen einmal Folgendes vorrechnen: Wir sind
mit einem Euro-Kurs von 1,18 US-Dollar gestartet und
sind heute bei 82 US-Cent gelandet.
({8})
Das bedeutet für einen Barrel mit einem Preis von 35 USDollar eine Preissteigerung von 60 DM auf 84 DM. Prozentual ist das eine Steigerung um 40 Prozent - aufgrund
der schlechten Wirtschaftspolitik, die hier gemacht worden ist.
({9})
Dazu kommt, dass der Weltstaatsmann - ich glaube,
({10})
so lautete der Titel - nicht weiß, wie man sich in
Währungsfragen verhalten muss. Man kann eben nicht sagen: Es gibt welche, die die Euro-Schwäche gut finden;
andere finden sie schlecht. Ich dagegen finde sie gut, weil
sie gut für die Wirtschaft ist. - So schafft man kein Vertrauen in die Währung. Das hat gezeigt, dass er davon
nichts versteht.
({11})
Die Ökosteuer ist eine reine Abzocksteuer.
({12})
Sie schädigt den Standort Deutschland. Sie ist sozial ungerecht. Schaffen Sie die Ökosteuer ab! Stimmen Sie unserem Antrag auf Abschaffung der Ökosteuer zu.
Vielen Dank.
({13})
Als letzter Redner in der Aktuellen Stunde hat nun das Wort der
Kollege Peter Danckert von der SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Aktuelle
Stunde, die Sie beantragt haben, ist durch den Beitrag des
Kollegen Lothar Binding - ich sehe Sie sprachlos - flugs
zu einer Nachhilfestunde geworden, die Sie allerdings
auch dringend notwendig haben.
({0})
- Ich rede jetzt zu Klimmt und über den Anlass für diese
Aktuelle Stunde. Die Überschrift des Interviews mit dem
Bundesverkehrsminister Klimmt lautet: „Nach 2003
steigt die Ökosteuer nicht weiter“. Das ist auch der Inhalt
seiner Aussage. Aber was machen Sie daraus? Der Titel
der von Ihnen beantragten Aktuellen Stunde lautet: „Haltung der Bundesregierung zur Forderung von Bundesverkehrsminister Klimmt, die Ökosteuer im Jahr 2003 zu
beenden“. Das zeigt die Art und Weise, wie Sie mit diesem Thema hier umgehen. Ich bin deshalb froh, dass es
eine breite Öffentlichkeit gibt.
Klimmt spricht in dem Interview davon, dass die Ökosteuer nach 2003 nicht weiter angehoben werden muss.
Das ist seine Meinung zu dem Thema. Und Sie machen
daraus, er habe gesagt, die Ökosteuer solle beendet werden. Das zeigt die Art und Weise, wie Sie hier die Fakten
verdrehen.
({1})
- Das ist doch eine ganz andere Frage; darum geht es doch
gar nicht. Angesichts der Art und Weise, mit der Sie dieses Thema angehen, muss er auch nicht da sein. Es wäre
für ihn doch schade um die Zeit, wenn er hier wäre.
({2})
Sein Fernbleiben hat doch nichts mit Missachtung des
Parlaments zu tun. Sie wollen uns für dumm verkaufen,
und er soll seine Zeit opfern. Das ist Fakt.
({3})
Jetzt zu Ihnen, meine Damen und Herren von der
CDU/CSU: Eine Tickermeldung von heute - mir liegt
eine Kopie der Originalmeldung vor - trägt als Überschrift eine Aussage Ihres ehemaligen Umweltministers
Töpfer. Sie lautet - das haben wir schon gehört -: „Die
Ökosteuer ist keine K.-o.-Steuer“. Dies ist die klare fachliche Aussage eines Mannes, der nicht der Parteidisziplin
unterliegt. An dieser Stelle möchte ich noch eines bemerken - das ist offensichtlich auch der Grund, weshalb Frau
Merkel, die die Nachfolgerin von Herrn Töpfer im Amt
des Bundesministers war, Herrn Polenz als Generalsekretär entlassen hat -: Die Kampagne gegen die Ökosteuer - die einzige, die ihr Generalsekretär innerhalb von
sechs Monaten auf den Weg gebracht hat - war ganz offensichtlich ein Flop. Sie wollte ihm offensichtlich zuvorkommen, weil ihr Herr Töpfer die Wahrheit über die Ökosteuer gesagt hat. Das sind die Fakten.
({4})
- Ja, wir werden den 1. Januar abwarten.
Angesichts dessen, was Sie hier schon alles behauptet
haben, möchte ich mich schlicht an die Fakten halten. Wir
brauchen die Ökosteuer, um den Energieverbrauch zu reduzieren. Das ist die Lenkungswirkung. Wir hätten allerdings ein Problem, wenn die Verbraucher auf die Belastungen durch die Ökosteuer entsprechend reagieren
würden, weil uns dann die erwarteten Mehreinnahmen
fehlen würden. Aber offensichtlich wirkt die Ökosteuer
nicht so, wie Sie sich das vorstellen und das durch Ihre
Kampagne einer erstaunten Öffentlichkeit klarzumachen
versuchen.
Wir brauchen die Mehreinnahmen - das ist auch ganz
klar; da beißt die Maus keinen Faden ab -, damit der Staat
weiterhin einen wesentlichen Beitrag zur Rentenversicherung leisten kann, nämlich bisher 17,5 Milliarden DM.
Wenn uns die Mehreinnahmen aus der Ökosteuer nicht
zur Verfügung stehen würden, dann hätten wir nur drei
Möglichkeiten - das wissen Sie auch; das ist das Einmaleins -: Wir könnten die Beiträge zur Rentenversicherung anheben. Das wollen wir nicht. Wir könnten auch
den Zuschuss des Staates zur Rentenversicherung erhöhen, was wir zum Beispiel durch die Anhebung der
Mehrwertsteuer finanzieren könnten. Auch das wollen
wir nicht. Selbstverständlich wollen wir die Zuwachsraten bei den Renten auch nicht so niedrig halten, dass die
Rentner an den Steigerungen der Nettolöhne überhaupt
nicht mehr teilhaben. Aus diesen drei Gründen muss es
eine Ökosteuer geben.
Es ist ja im Übrigen nicht so, dass wir nicht auf der
Höhe der Zeit wären. Frau Merkel, die das Thema Ökosteuer auf gewisse Weise schon sehr früh angesprochen
hat - heute darf sie das nicht mehr laut sagen -, hat damals
gesagt - ich zitiere aus der „FAZ“ vom 23. März 1995 -:
Als Umweltministerin halte ich es für erforderlich,
die Energiepreise schrittweise anzuheben und so ein
deutliches Signal zum Energiesparen zu geben.
Genau das haben wir gemacht.
({5})
Wir haben das in unserer Koalitionsvereinbarung verfeinert und ausgearbeitet und in einen richtigen Zusammenhang gestellt.
Nun noch etwas anderes: Sie von der CDU haben doch
auch einmal so etwas wie ein Zukunftsprogramm aufgelegt.
({6})
- Nein, nur die CDU. Die CSU hat da offensichtlich ein
bisschen anders formuliert. Ich zitiere also aus dem Zukunftsprogramm der CDU 1998:
Unser Steuer- und Abgabensystem macht gerade das
besonders teuer, was wir am dringendsten brauchen:
Arbeitsplätze. Dagegen ist das, woran wir sparen
müssen, eher zu billig zu haben: Energie- und Rohstoffeinsatz.
({7})
Genau das, was Sie damals gesagt haben, ist im Rahmen dieser Koalitionsvereinbarung formuliert und mit der
Ökosteuer umgesetzt worden. Nur weil Sie nicht mehr an
der Regierung sind, wollen Sie es nicht mehr wahrhaben,
dass das die richtige Politik ist.
({8})
Sie können an dieser Stelle noch hundert Aktuelle Stunden beantragen, wir werden Ihnen jedes Mal dasselbe
sage: Die Ökosteuer ist richtig! Es ist ja auch schon darauf
hingewiesen worden, dass die namhaftesten Wirtschaftsforschungsinstitute dieser Republik die Richtigkeit der
Ökosteuer bestätigt haben.
({9})
Da können Sie reden, wie Sie wollen, das sind die Fakten
und deshalb halten wir uns daran. Jeder Sach- und Fachverstand sagt uns, dass wir an dieser Stelle richtig liegen.
Ich als Bundestagsabgeordneter aus einem der neuen
Bundesländer bin auch davon überzeugt, dass das, was
Sie, Herr Koppelin, in Ihrem Antrag „Ökosteuer zurücknehmen“ gesagt haben, dass nämlich die Ökosteuer für
den Aufbau Ost gefährlich sei, so populistisch und so polemisch ist, dass Sie das doch wohl nicht im Ernst glauben. Die Bürger in den neuen Ländern haben begriffen,
dass der Beitrag, der durch die Ökosteuer zum Rentensystem geleistet wird, richtig und notwendig ist. Dabei bleibt
es, denn das ist die Wahrheit.
Vielen Dank.
({10})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf.
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({0}) zu der Unterrichtung durch die Wehrbeauftragte Jahresbericht 1999 ({1})
- Drucksachen 14/2900, 14/4204 Berichterstattung:
Abgeordnete Uwe Göllner
Werner Siemann
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, unser früherer Kollege Dr. Willfried Penner.
Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages: Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Der Bundesminister der Verteidigung hat sich
eingehend, ernsthaft und verantwortungsbewusst mit den
Feststellungen des Jahresberichts 1999 befasst. Grundsätzlich teilt er die im Bericht dargestellten Sorgen und
Nöte der Soldaten.
Darüber hinaus bleibt Anlass und Notwendigkeit für
ergänzende Bemerkungen aus meiner Sicht. Ich nenne
folgende:
Die vorgesehene neue Bundeswehrstruktur kann
nicht ohne Mittun der Soldaten greifen. Bisher ist bei der
Truppe eher eine abwartende Haltung auszumachen; die
Mitte dieses Jahres verlautbarten Eckpunkte und auch die
jetzt veröffentlichte „Grobausplanung“, wie es heißt, sind
noch zu abstrakt, als dass sie schon konkrete AuswirkunDr. Peter Danckert
gen für den Einzelnen erkennen ließen. Das wird sich mit
fortschreitender Implementierung des Veränderungsprozesses wandeln; spätestens mit dem Wegfall von Standorten wird es für die Betroffenen ganz konkret.
In deren Interesse, aber auch zur Vermeidung von Reibungsverlusten sonst, ist es geboten, den vorgesehenen
Zeitplan für das Weitere einzuhalten und so die erforderliche Planungssicherheit für die Soldaten und ihre Familien zu ermöglichen. Natürlich ist dafür unverzichtbar,
dass das Konzept in sich stimmig ist und insbesondere die
Finanzierung klappt.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Auslandseinsätze in jüngster Zeit kennzeichnen das geänderte Aufgabenfeld der Bundeswehr mit direkten Konsequenzen für die Soldaten. Der Einsatz selbst unter
besonderen Umständen der Gefährdung ist nicht mehr
fern liegende, eher unwahrscheinliche Möglichkeit. Ganz
im Gegenteil wird dies für zunehmend mehr Soldaten
schon über Verwendungen bei KFOR und SFOR die Regel werden. Soldatendasein wird also ganz konkret gefährlicher werden können, mobiler überdies, und die Familien werden davon nachhaltig betroffen sein. Die
Fürsorgepflicht des Dienstherrn gebietet begleitende
Maßnahmen für Soldaten, vor und nach dem Einsatz, für
die Familien Unterstützung während der Einsatzzeit.
({2})
Dazu sage ich ergänzend: Eine noch stärkere Professionalisierung bei der psychischen Hilfe ist unverzichtbar,
weil die bisherigen rühmenswerten Möglichkeiten der Eigenhilfe einfach nicht reichen können.
Ganz wichtig ist das Vertrauen der Soldaten in die Festigkeit gemachter Zusagen. Ob die Zusage eingehalten
werden kann, im Anschluss an die auf sechs Monate erweiterte Einsatzdauer grundsätzlich eine einsatzfreie Zeit
von zwei Jahren zu garantieren, muss nach jüngsten Erkenntnissen anlässlich meiner Informationstagung in der
vergangenen Woche stark in Zweifel gezogen werden.
({3})
Dabei ist bekannt, dass mit der Zeit von Vor- und Nachbereitung eher acht bis neun Monate zusammenkommen.
Nicht hinnehmbar ist, dass die Soldaten auf dem Balkan immer noch nicht ausreichend mit Tropenkleidung
ausgestattet sind, wo doch die einschlägigen Erfahrungen
mit dem Bundeswehreinsatz in Somalia - auch einer
heißen Region - immerhin schon acht Jahre zurückliegen.
({4})
Noch eines: Die Möglichkeit für Soldaten im Einsatz,
Urlaub in zwei Zeitabschnitten zu nehmen, würde gewiss
Druck von den Soldaten nehmen. Dem Vernehmen nach
halten es andere Staaten auch so.
({5})
Im Übrigen würde es sicher sehr hilfreich sein, wenn
die üblichen Möglichkeiten der Heimflüge durch die Einbeziehung ziviler Fluglinien ergänzt und damit mancher
unnötige zusätzliche Zeitaufwand zulasten der Soldaten
vermieden werden könnte.
({6})
Mehr und verbesserte Möglichkeiten für Heimflüge wären schon erstrebenswert - dies umso mehr, als die deutschen Soldaten dort erstklassigen Dienst leisten unter den
besonderen Bedingungen abgrundtiefen Hasses der dort
lebenden Ethnien untereinander. Dies ist ein Grund mehr,
dass die politisch und militärisch Verantwortlichen für die
Bundeswehr sich alle erdenkliche Mühe geben müssen,
diesen schwierigen Dienst durch flankierende Maßnahmen zu erleichtern.
({7})
Herr Präsident, meine Damen und Herren, nach meinen bisherigen Eindrücken kann das Sanitätswesen ein
zentrales, wenn nicht d a s Thema für die Bundeswehr in
den kommenden Jahren werden. Bei den Gesprächen mit
den Vertrauensleuten wurde kaum ein Thema so intensiv
und von so vielen behandelt. Umso skeptischer muss man
sein, ob die Zusage des BMVg auf Prüfung seit Jahren bekannter Mängel ausreicht, wie sich das in schöner Offenheit bei der Stellungnahme zur einschlägigen Mängelliste
des Wehrberichts 1999 offenbart. Es geht in der Sache um
Handfestes: Die Soldaten wollen nicht stunden- oder tagelang auf ärztliche Behandlung warten müssen. Sie wollen es nicht hinnehmen, dass mehrfach zeitlich genau
fixierte Arzttermine aufgehoben werden, weil die Kapazitäten der Sanitätseinrichtungen in der Bundeswehr nicht
ausreichen. Und selbst bei Verwendungen im westlichen
Ausland kommen viele mit dem Sanitätswesen auch aus
Partnerländern nicht zurecht: mal ist es die unterschiedliche Behandlungsphilosophie, mal nur die Unfähigkeit,
sich sprachlich differenziert genug zur eigenen Erkrankung äußern zu können usw. Dies ist meiner Meinung
nach also ein großes Thema für die Bundeswehr und die
politisch Verantwortlichen.
Einige Bemerkungen noch zum Thema Frauen in die
und in der Bundeswehr. Dieses Thema wird die Armee
und in Sonderheit das Heer auch organisatorisch noch
lange Zeit beschäftigen, angefangen von der nötigen
Infrastruktur bis hin zur Bekleidung. Es ist nach meiner
Überzeugung richtig, dass der Einsatzvorbehalt für
Frauen in der entsprechenden Gesetzesvorlage nicht mehr
enthalten ist. Er wäre mit deutschem Verfassungsrecht
kaum zu vereinbaren gewesen.
({8})
Aus meiner Sicht ist die jetzt vorgesehene Verfassungsänderung zur erweiterten Verwendung von Frauen in der
Bundeswehr nur zu begrüßen.
({9})
Unabhängig davon möchte ich dafür werben, in der erweiterten Verwendungsmöglichkeit für Frauen eine
Chance für die Bundeswehr zu sehen. Keinesfalls sollte
Dr. Willfried Penner
die Veränderung, die ja ohnehin kommt, durch defensives
Bedenken- und Verweigerungsgerede zusätzlich belastet
werden.
Im Übrigen gilt: Das neue Recht kann nur die Voraussetzungen für die Frauen verändern; die gesellschaftliche
Durchsetzung, aber auch die Anpassung an die Besonderheiten des Soldatenberufs sind eine andere Sache und
werden Zeit brauchen.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist für die Beibehaltung der Wehrpflicht, die
große Mehrheit im Parlament auch. Die Vorteile sind: die
Verwurzelung der Armee in der deutschen Gesellschaft,
das Lebendighalten der Bundeswehr und die Sicherung
einer Nachwuchsgewinnung aus der Breite der Gesellschaft. Nicht zu leugnen ist auch, dass die Entscheidung
für die Wehrpflicht der Bundeswehr den Soldaten und den
jungen Jahrgängen Orientierung gibt.
Aber ein Wetterleuchten in dieser Frage ist nicht zu
übersehen: „Ist eine Freiwilligenarmee nicht die gemäßere
Antwort auf die erweiterte Aufgabenstellung der Bundeswehr?“, so wird man sich fragen müssen.
({10})
Müssen die Wehrpflicht und die damit verbundenen möglichen Folgen für die jungen Soldaten ausschließlich auf
den Zweck der Landesverteidigung beschränkt sein? Und
kann von der allgemeinen Wehrpflicht überhaupt noch gesprochen werden, wo doch der immer größere Teil eines
Jahrgangs gar nicht eingezogen wird
({11})
und die mit der Wehrpflicht erwarteten positiven gesellschaftlichen Auswirkungen eben dadurch auch geschmälert
werden?
({12})
Schließlich: Zerbröckelt nicht das politische Fundament
für Wehrpflicht, wenn Wehrgerechtigkeit Schaden nimmt,
weil zunehmend weniger der Wehrpflicht nachkommen
müssen?
Meiner Überzeugung nach entspricht es nicht dem
Nachlaufen des viel zitierten Zeitgeistes, dass auch im
Bundestag vertretene Parteien sich von der Wehrpflicht zu
lösen beginnen. Auf keinen Fall sollte dem entgegengehalten werden, dass im demokratisch verfassten Staat nur
die Wehrpflichtarmee ihren Platz haben könne.
({13})
Richtig ist: Die Wehrpflicht war für die Verankerung der
Bundeswehr im demokratisch verfassten Staat für die
junge Bundesrepublik Deutschland sehr wichtig, vielleicht sogar unverzichtbar. Aber es ist nicht die einzige
Möglichkeit, eine Armee für die Demokratie zu sichern,
wie benachbarte und befreundete Staaten mit langer Tradition und ihrer Entscheidung für die Freiwilligenarmee
- zuletzt Italien - beweisen.
({14})
Herr Präsident, meine Damen und Herren, bei der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus darf und
wird die Bundeswehr nicht abseits stehen. Der Untersuchungsausschuss der 13. Periode hat dazu wichtige Erkenntnisse gebracht. Auffällig war und ist eine politische
Neigung, im Falle eines Falles die Bundeswehr insgesamt
vor dem Verdacht, rechtsextremistisch anfällig zu sein, reflexartig in Schutz zu nehmen, wo die Anlässe hierzu doch
durchweg nur Einzelfälle sind.
Viel wichtiger als Einzelvorkommnisse und Statistiken, soweit diese überhaupt aussagekräftig sind, ist die
Erkenntnis, dass das Militärische generell mit seiner hierarchischen Struktur, der Uniformierung und der Vermittlung des Umgangs mit Gewalt und Waffen natürliche Begehrlichkeiten beim Rechtsextremismus auslöst. Hinzu
kommt Patriotismus als die ideologische Unterfütterung
für Landesverteidigung. Da ist ständige Aufmerksamkeit
geboten, dass die Brandmauer zum Chauvinismus, zur
Fremdenfeindlichkeit und zum Rassismus stabil bleibt
und nicht löchrig wird.
({15})
Die Voraussetzungen dafür sind gut: Die Struktur der
Bundeswehr ist in Ordnung. Im Übrigen: Verteidigungspolitik und Bundeswehr sind im Nachkriegsdeutschland
international angelegt; das verhindert nationale Eigenbröteleien oder gar Verbissenheit, ohne Patriotismus zu verdrängen. Aber eine Armee ist nicht per se demokratisch.
Die Strukturen für Demokratie müssen stimmen.
Der Staatsbürger in Uniform ist nach meiner Überzeugung der wirksamste Schutz für eine demokratische Beschaffenheit der Armee. Eine kritische Fußnote muss sein:
Ein guter, ein förderungsgeeigneter Soldat kann nicht
sein, wer sich rechtsextremistisch verhält, auch wenn
seine soldatischen Leistungen sonst tadelfrei sind.
({16})
Die unterschiedliche Besoldung der Soldaten - 86,5 Prozent bzw. demnächst etwas mehr für die ostdeutschen,
100 Prozent für die westdeutschen - muss ein Ende finden.
({17})
Gewiss hatte die im Einigungsvertrag auch für Soldaten
festgeschriebene Unterschiedlichkeit ihre nachvollziehbaren Gründe. Und auch das bestehende Besoldungs- und
Vergütungsgefälle zwischen Ost und West im gesamten
öffentlichen Dienst ist nicht willkürlich zustande gekommen und wird nicht willkürlich beibehalten, sondern ist
durch die auch heute noch maßgebliche Finanzlage der
öffentlichen Hände diktiert.
Letzteres darf aber für den Bund kein Argument sein,
die Besoldungsunterschiede zwischen Ost und West für
die Armee festzuschreiben.
({18})
Dr. Willfried Penner
Die Bundeswehr kann nicht auf Dauer mit solchen Differenzen leben; sie bedeuten im Ergebnis nicht aushaltbare
Spannungen und Konflikte für die unverzichtbare Einheit
und Geschlossenheit der Armee.
({19})
Schließlich sind der Auftrag und das Handeln der Bundeswehr nicht aufteilbar nach Ost und West; die Soldaten
im Einsatz auf dem Balkan machen dies besonders sinnfällig. Es lindert diesen Mangel nicht - ganz im Gegenteil,
er wird dadurch erweitert und vertieft -, dass Offiziere,
auch proportional, weit weniger von diesen Unterschieden betroffen sind als Mannschaften und Unteroffiziere.
Das Finanzierungsvolumen macht dem Vernehmen
nach um die 100 Millionen DM aus, also eine für den
Bund verkraftbare Größe. Wenn die Regierung, aus welchen Gründen und in welcher Zusammensetzung auch
immer, es nicht auf den Weg bringen kann, dann sei daran
erinnert, dass für Besoldungsfragen grundsätzlich das
Parlament zuständig ist.
({20})
Dabei hilft es wenig, dass sich diejenigen, die jetzt in der
Minderheit sind, mit diesbezüglichen Anträgen leichter
tun als diejenigen, die jetzt in der Mehrheit sind und so die
manchmal nötigende Wucht der Argumente der Finanzbürokratie auszuhalten haben.
({21})
Mein Appell gilt dem Parlament insgesamt, seiner
Pflicht gegenüber der ständig reklamierten Parlamentsarmee zu genügen und das Erforderliche zu tun.
Schönen Dank für die Geduld.
({22})
Ich danke
dem Wehrbeauftragten im Namen des Hauses für diesen
ausführlichen Bericht.
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile,
möchte ich im Namen des Hauses der ehemaligen Wehrbeauftragten, Frau Claire Marienfeld, sowie ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die Vorlage des Jahresberichts 1999 danken.
({0})
Das Wort hat jetzt der Kollege Uwe Göllner von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Herr Breuer, ich möchte, bevor ich zum Thema rede, meiner ehrlichen Freude darüber Ausdruck geben, dass Sie nach Ihrer schweren Operation gesund wieder hier sind.
({0})
Ich hoffe, dass Ihre Genesung so schnell voranschreitet,
dass Sie künftig auch in den langen Ausschusssitzungen
wieder sitzen können.
Der Wehrbeauftragte hat gerade vor allem in die Zukunft geschaut. Wir diskutieren heute aber den Bericht für
das Jahr 1999, den fünften und letzten Bericht der Wehrbeauftragten Claire Marienfeld. Ich will mich auf wenige
Punkte beschränken, die der ausgeschiedenen Frau Wehrbeauftragten im Verlauf ihrer fünfjährigen Amtszeit nach
meinen Beobachtungen immer wichtig waren.
Im Berichtszeitraum hatte Frau Marienfeld etwas mehr
als 5 800 Eingaben zu bearbeiten. Dabei gab es natürlich
eine gewisse Rangfolge. Was sich wie ein roter Faden
durch die Eingaben zieht, ist die Belastung der Soldaten
durch die Auslandseinsätze. Der Wehrbeauftragte hat gerade darauf hingewiesen, dass wir in allen Bereichen, auf
die wir Einfluss haben, dafür sorgen müssen, dass die Belastung so gering wie möglich ist.
Dass die Belastung einen gewissen Punkt erreicht, ist
unvermeidbar. Wir haben uns im Ausschuss bei der Frage
nicht leicht getan, ob die Soldaten vier oder sechs Monate
auf dem Balkan bleiben sollen. Die Ausführungen der
Frau Wehrbeauftragten und der militärische Sachverstand
haben am Ende dazu geführt, dass die Politiker sich dem
Vorschlag von sechs Monaten angeschlossen haben.
({1})
- Herr Niebel, ich gestehe Ihnen zu: Sie nicht.
Ich denke, dass dann, wenn die neue Struktur in der
Bundeswehr langsam aufwachsen wird, die Probleme,
die mit der Verlängerung der Einsatzdauer auf sechs Monate verbunden sind, auch gemildert werden. Der Wehrbeauftragte hat ja gerade darauf hingewiesen, dass in bestimmten Bereichen die versprochenen zwei Jahre nicht
gehalten werden können, nämlich da, wo es sich um Spezialisten handelt. Wir hoffen, dass das in der Zukunft besser wird.
Frau Marienfeld hat in allen ihren fünf Berichten immer wieder darauf hingewiesen, dass sie mit dem Grad
unzufrieden war, den die politische Bildung in der Bundeswehr eingenommen hat. Es ist sicherlich eine beklagenswerte Sache, dass dies in jedem Bericht wieder aufgeführt werden muss. Man muss allerdings hinzufügen:
Selbst dann, wenn der politischen Bildung der Stand zukommt, der vorgesehen ist, kann in zehn Monaten Bundeswehr nicht das ersetzt werden, was wir als Eltern oder
was die Schulen versäumen. Hier müssen wir realistisch
sein. Dennoch, dieser Hinweis der Wehrbeauftragten soll
und wird aufgenommen werden, damit wenigstens das,
was vorgegeben ist, in der Bundeswehr gewährleistet ist.
({2})
Der Rechtsradikalismus war in der Vergangenheit
ein stärkeres Thema, als es das heute zu sein scheint. Der
Wehrbeauftragte hat vorhin darauf hingewiesen, dass die
zurückgehende Zahl der Vorkommnisse nun aber kein
Grund sein kann, sich zurückzulehnen. An den Vorkommnissen, die im Berichtszeitraum zu vermelden waren, waren ein Offizier, elf Unteroffiziere und 111 Mannschaftsdienstgrade beteiligt. Das zeigt, dass dieses
Dr. Willfried Penner
gesellschaftliche Problem im Wesentlichen über die
Wehrpflichtigen in die Bundeswehr hineinkommt. Das ist
allerdings kein Argument gegen die Wehrpflicht.
Auch Frau Marienfeld hat in allen ihren Berichten an
der Wehrpflicht festgehalten und immer wieder darauf
hingewiesen, wie wichtig aus ihrer Sicht die Wehrpflicht
für den ständigen Gedankenaustausch mit jungen Männern in der Bundeswehr ist. Zudem hat es sich ja keiner
derer leicht gemacht, die in ihren Parteien für die Wehrpflicht gestimmt haben. Die einzige Partei, die einmal auf
einem Parteitag versucht hat, die Wehrpflicht abzuschaffen, ist gerade nicht anwesend,
({3})
aber diejenigen, die sich in den anderen Parteien für die
Wehpflicht ausgesprochen haben, haben ja nicht etwa
Angst davor, dass die Bundeswehr dann, wenn sie denn
keine Wehrpflichtarmee mehr wäre, zum Staat im Staate
werden würde. Unser Vertrauen in die Bundeswehr ist
zwischenzeitlich bei allen so groß geworden, dass wir
diese Befürchtung nicht haben. Aber es gibt eben ganz
gute Gründe dafür, weshalb wir uns bislang mehrheitlich
in den beiden großen Parteien für die Wehrpflicht aussprechen. Aus meiner Sicht sage ich jedenfalls: Ich hoffe,
dass dies auch noch eine ganze Weile so bleibt.
({4})
Ich will am Ende denjenigen danken, die sich um Milderung der Belastung, die durch die Auslandseinsätze im
Berichtszeitraum zu sehen war, bemüht haben. Das waren
diejenigen, die sich um die zu Hause gebliebenen Familien gekümmert haben; das waren diejenigen, die sich vor
Ort in der Militärseelsorge - sei es bei den Katholischen,
sei es bei den Evangelischen - in, wie ich finde, hervorragender Weise und weit über das hinaus, was sie dienstlich hätten tun müssen, um die Soldaten gekümmert haben. Wir haben im laufenden Jahr auf katholischer Seite
einen neuen Militärbischof bekommen; er wird auch einen neuen Militärdekan ernennen. Ich will mich bei dem
bisherigen Dekan ausdrücklich für seine Arbeit bedanken.
Ich habe ganz gern mit ihm zusammengearbeitet. Ich
hoffe, das Verhältnis zum neuen wird ähnlich gut werden.
Danke schön.
({5})
Ausweislich des Protokolls über die eben beendete Aktuelle
Stunde hat der Kollege Lothar Binding, an die Opposition
gewandt, die Worte gewählt: „Distanzieren Sie sich von
Ihrem Kanzler und von anderen Gaunern in Ihrer Partei!“
Dies ist als unparlamentarischer Sprachgebrauch zu rügen.
({0})
Als nächster Redner hat der Kollege Bernd Siebert von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal möchte ich
am Anfang meiner Rede darauf hinweisen, dass einige
Soldaten der Bundeswehr auf der Tribüne anwesend sind.
Das ist gut und wir freuen uns, dass sie dieser Debatte folgen.
({0})
Der ehemaligen Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Frau Claire Marienfeld, und all ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danke ich für diesen umfangreichen und detaillierten Bericht über den Zustand unserer
Streitkräfte sowie insgesamt für die engagierte und erfolgreiche Arbeit in den vergangenen Jahren gerade zum Wohl
unserer Streitkräfte.
({1})
Dieser Dank gilt nicht nur diesem Bericht - ihrem letzten Bericht -, sondern auch den Berichten der letzten
Jahre, ihrer Arbeit insgesamt, ihrem beeindruckenden
Engagement für die Soldatinnen und Soldaten, aber auch
ihrer Überparteilichkeit; diesem ganzen Hause verpflichtet. Sie war die erste Frau in diesem Amt und sie hat ihren
Mann gestanden. Frau Marienfeld hat in den vergangenen
Jahren auf viele Problemkreise hingewiesen und hat
durch kontinuierliches Darumkümmern viele Entscheidungen des Ministeriums zum Wohle der Soldatinnen und
Soldaten beeinflusst und herbeigeführt.
Dem neuen Wehrbeauftragten, Willfried Penner, der
nun schon einige Monate im Amt ist, wünsche ich die
gleiche glückliche Hand, das gleiche Engagement und die
gleiche Überparteilichkeit, die Frau Marienfeld ausgezeichnet haben.
({2})
Seine Rede vorhin lässt uns guten Mutes sein. An unserer
Unterstützung für Ihre Arbeit wird es nicht mangeln, Herr
Penner.
Viele Probleme sind noch nicht gelöst; neue werden
entstehen. Eigentlich hätten wir jetzt die Chance, vieles
zu verändern und mit den anstehenden Strukturreformen
einen deutlichen Schritt nach vorne zu gehen. Wir werden
sehen, ob diese Chancen genutzt werden.
Die Neuausrichtung der Bundeswehr hat weitreichende Auswirkungen auf das Schicksal vieler Bundeswehrangehörigerer und ihrer Familien. Daher wird die Institution des Wehrbeauftragten noch mehr als zuvor zum
Seismograph für die Stimmung in der Truppe werden.
({3})
Das Jahr 1999 war für die Bundeswehr durch den ersten größeren bewaffneten Kampfeinsatz - man muss sogar sagen: Kriegseinsatz - im ehemaligen Jugoslawien
geprägt. Es ist für uns im Deutschen Bundestag doch
beruhigend zu erfahren, dass aus Sicht der WehrbeaufUwe Göllner
tragten „unsere Soldaten gut ausgebildet und beispielhaft
vorbereitet in den Einsatz gegangen sind“. Die Bundeswehr leistet ausgezeichnete Arbeit. Unsere Soldaten genießen auch international ob ihrer Professionalität und
ihrer Einsatzbereitschaft hohes Ansehen. Auf sie ist in der
Heimat, aber auch im Einsatz, Verlass. Wir schulden ihnen daher hohen Respekt für ihre ausgezeichnete Pflichterfüllung.
({4})
Auch unter erschwerten Bedingungen, zu denen sicherlich viele Struktur-, Ausrüstungs- und Finanzdefizite zählen - der Wehrbeauftragte hat eben in seiner Rede auf einige hingewiesen -, haben sie ihren Dienst getan. Es war
richtig, dass wir uns seit Jahren um eine solide Ausbildung gekümmert haben. Deshalb muss an dieser Stelle
den Ausbildenden und denjenigen, die die politischen
Rahmenbedingungen hierzu gesetzt haben - das ist die
alte Bundesregierung mit dem Verteidigungsminister
Volker Rühe gewesen -, gedankt werden.
({5})
In diesem Zusammenhang möchte ich auf ein Problemfeld eingehen, welches auch in dem Bericht der
Wehrbeauftragten als Schwerpunkt deutlich geworden ist.
Es geht um die Erhöhung der Stehzeit bei Auslandseinsätzen von vier auf sechs Monate. Sowohl bei den Soldaten als auch bei deren Familien stößt diese Regelung
ganz überwiegend auf Ablehnung.
({6})
Dabei wird immer wieder auf die negativen Auswirkungen der langen Abwesenheitsdauer insbesondere bei Familien mit kleinen Kindern hingewiesen,
({7})
die sich natürlich durch die Ausbildungszeit - Herr
Penner hat schon darauf hingewiesen - noch über den
Zeitraum von sechs Monaten hinaus verlängert.
Wir alle wissen, dass Ursache für die Einführung dieser Verlängerung im Jahre 1999 war, dass die Finanzmittel, die notwendig waren, um mehr Soldaten ausbilden zu
können, nicht vorhanden waren. Deshalb ist die Ausweitung auf sechs Monate erfolgt. Weder Bundeskanzler
Schröder noch Finanzminister Eichel waren bereit, zusätzliches Geld für diese Aufgaben zur Verfügung zu stellen. Die Bundesregierung hat deshalb entschieden, die
Stehzeit von vier auf sechs Monate zu erhöhen.
Ich muss in aller Deutlichkeit sagen: Es kann und darf
nicht sein, dass Verteidigungsminister Scharping das Sparen auf dem Rücken unserer Soldaten und deren Familien
austrägt.
({8})
Deshalb müssen wir jetzt unsere Chance ergreifen, dies
wieder zu ändern. Wenn es kein reines Lippenbekenntnis
ist, dass die Menschen in unseren Streitkräften das höchste Gut der Bundeswehr darstellen, dann müssen wir im
Rahmen der Strukturreform zu der alten Regelung einer
viermonatigen Stehzeit zurückfinden.
({9})
An vielen Stellen des vorgelegten Berichtes finden wir
Aussagen, die uns nachdenklich stimmen und uns zugleich an unsere Verantwortung gegenüber den Soldatinnen und Soldaten, den zivilen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern und insbesondere deren Familien erinnern
sollten: Es ist von Verunsicherung und Frustration die
Rede, von der schlechten Stimmung in der Truppe. Es
werden Motivationsprobleme aufgeführt und von mangelnden Perspektiven wird berichtet. Das muss von uns
sehr ernst genommen und bei den Entscheidungen der Zukunft berücksichtigt werden.
In der Stellungnahme des Verteidigungsministeriums
zu dem Bericht heißt es, dass den Soldaten in einer Phase
der Überlegungen zur Wehrdienstdauer - das scheint jetzt
geregelt zu sein, aber wer weiß -, der Überlegungen zur
Wehrdienstform - auch dies scheint geregelt zu sein, aber
wer weiß -, der Überlegungen zu Auftrag und Aufgaben
und der Überlegungen zu Umfang und Ausrüstung keine
absolute Sicherheit zum Standorterhalt, keine absolute
Sicherheit zu zukünftiger regionaler und funktionaler Verwendung und keine Sicherheit für die persönliche Laufbahnentwicklung gegeben werden kann. Das ist die Basis
der Verunsicherungen innerhalb der Bundeswehr, nichts
anderes. Dies müssen wir bei unserem zukünftigen Handeln berücksichtigen.
Die Strukturreform der Bundeswehr führt zu einer
deutlichen Verringerung der Zahl der Soldatinnen und
Soldaten und zu einer noch deutlicheren Verringerung der
Zahl der zivilen Mitarbeiter. Trotzdem erklärt Bundesminister Scharping bei seinen Bundeswehrstandortbesuchen allerorten: Dieser Standort ist sicher und bleibt
erhalten. - In meiner nordhessischen Heimat konnte ich
Minister Scharping einige Male bei diesen Besuchen begleiten und ebenso wie die Öffentlichkeit mit Überraschung zur Kenntnis nehmen, dass wir zwar die Bundeswehr verkleinern, aber trotzdem jeder dieser Standorte
sicher ist und bestehen bleibt.
Diese Erklärungen werden sicherlich von der Realität
eingeholt werden. Das bestätigt uns auch der grüne Koalitionspartner, der inzwischen öffentlich vorträgt - so auch
in der letzten Bundestagssitzung zu diesem Thema vor
14 Tagen -, dass die Grundrechenarten auch an dieser
Bundesregierung nicht vorbeigehen können und es deswegen zu Standortschließungen kommen wird - auch
wenn Sie im Moment nicht bereit sind, dies so zu sagen.
({10})
Die als Beruhigungspille gedachten Äußerungen haben das genaue Gegenteil bewirkt, weil die Soldaten die
Grundrechenarten beherrschen.
({11})
Ich stimme der Wehrbeauftragten ausdrücklich zu, wenn
sie in ihrem Bericht auf diese Verunsicherung und Motivationsreduzierung hinweist. Der Minister ist nicht da; er
hat sicherlich einen anderen, wichtigeren Termin. Herr
Staatssekretär Kolbow, ich kann Sie nur auffordern
- diese Forderung hat auch Frau Beer für die Grünen formuliert; deswegen fühle ich mich hier in sehr guter
Gesellschaft -:
({12})
Stellen Sie schnell öffentlich klar, welche Standorte erhalten bleiben können und welche nicht! Dann werden
wir den Soldaten auch eine entsprechende Sicherheit für
die Zukunft geben.
({13})
- Sie sagen, das sei Ihre Forderung. Ich will Ihnen einmal
ein Beispiel nennen. Insofern passt Ihr Zwischenruf ganz
gut.
Am 14. Juni, zufälligerweise zwei Tage, bevor meine
Kollegin Hannelore Rönsch und ich die Wehrbereichsverwaltung IV in Wiesbaden besuchen wollten,
erklärte die dortige Wahlkreisabgeordnete Heidemarie
Wieczorek-Zeul im „Wiesbadener Kurier“ unter Berufung auf den Verteidigungsminister, die Erhaltung aller
800 Arbeitsplätze bei der Wehrbereichsverwaltung IV in
Wiesbaden sei gesichert. Am 28. Juni, also ganze 14 Tage
später, erklärte die Parlamentarische Staatssekretärin
Schulte in der Fragestunde des Deutschen Bundestages:
Dass die Abgeordnete von Wiesbaden, die zufällig
auch noch Ministerin ist, diese Behauptung aufgestellt hat, höre ich von Ihnen.
Damit meinte sie den Fragesteller.
Sie hat es uns weder in irgendeiner Weise mitgeteilt
noch gibt es irgendwelche ernst zu nehmenden Überlegungen. Wir sind zu diesem Zeitpunkt wirklich
noch nicht so weit.
In Wiesbaden aber erklärte die Abgeordnete, es bleibe alles wie bisher.
Meine Damen und Herren, Sie müssen dafür Sorge tragen, die Verunsicherung der Menschen, die in der Bundeswehr tätig sind, zu beseitigen und nicht zu verstärken.
({14})
Offenheit und klare Information, wie sie von der Wehrbeauftragten gefordert sind, verringern die Unsicherheit.
Wir wissen längst, was wir von Versprechungen seitens
dieser Bundesregierung zu halten haben. Ich persönlich
empfinde es als nahezu menschenverachtend, wie Sie die
Zivilbediensteten der Wehrbereichsverwaltung IV in
Wiesbaden in den letzten Wochen mit widersprüchlichen
Aussagen hinters Licht geführt haben. Sie sollten relativ
bald sagen, welche zivilen Bediensteten schon bald ihren
Dienst anderenorts versehen oder gehen müssen. Das gilt
übrigens gleichermaßen für die militärischen Standorte.
({15})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe schon mehrfach angesprochen, dass die Verunsicherung dadurch verringert wird, dass man mit offenen Karten spielt. Nur eine
solide Information des Parlaments, der betroffenen Bundeswehrangehörigen und der Öffentlichkeit ist die Basis
für eine offene Diskussion.
({16})
Eine offene Diskussion lässt klare Entscheidungen zu und
reduziert Unsicherheit. In einer Demokratie mit einer Parlamentsarmee gehört dies zur Voraussetzung. Dieser Information und Diskussion entzieht sich Bundesminister
Scharping seit Monaten.
({17})
Wir fühlen uns über viele Entscheidungen dieser Regierung, die Bundeswehr betreffend, nicht solide informiert.
({18})
Wir wissen, dass solche Vorwürfe auch in den Regierungsfraktionen vorgetragen werden.
({19})
Wir sind uns einig: Zu keiner Zeit in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland fühlten sich die Abgeordneten dieses Hauses über die Entwicklung der Bundeswehr in der Zukunft so schlecht informiert wie gegenwärtig.
({20})
Deswegen bitte ich an dieser Stelle den Wehrbeauftragten, darauf zu achten, dass die vorhandenen Tendenzen, sich weg von einer Parlamentsarmee hin zu einer
Regierungsarmee zu entwickeln, nicht Realität werden.
Ich bitte Sie, wenn Sie weitere deutliche Tendenzen erkennen, diese in Ihren nächsten Bericht aufzunehmen.
({21})
Herr Kollege,
das wäre ein schöner Schlusssatz. Den müssten Sie jetzt
auch finden.
Frau Präsidentin, dann
will ich auch gleich zum Ende kommen.
Eine Umstrukturierung unserer Streitkräfte ist unumgänglich. Da stimmen wir mit Ihnen überein. Aber dafür,
wie Sie sie in Gang gesetzt haben und wie sie im Bericht
der Wehrbeauftragten sichtbar gemacht wird, können Sie
von uns keine Unterstützung bekommen.
({0})
Ich hoffe, dass wir in einem Jahr über einen positiveren
Bericht debattieren können.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Winfried Nachtwei.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Penner, ich danke Ihnen ausdrücklich für Ihren - ja, das
war es schon - ersten Zwischenbericht als Wehrbeauftragter, der durch seine Offenheit und den frischen Wind
auffiel. Das ist für mich ein Beleg dafür, dass man, um frischen Wind zu machen, nicht unbedingt Wehrpflichtiger
sein muss.
({0})
In den letzten Monaten standen die künftigen Bundeswehrstrukturen und ihre Finanzierung im Mittelpunkt der
sicherheitspolitischen Debatte. Die abschließende Beratung des Berichts der Wehrbeauftragten 1999 ist für mich
eine gute Gelegenheit, nun einmal so genannte weichere,
aber nichtsdestoweniger genauso wichtige Themen anzusprechen, nämlich das Selbstverständnis der Soldaten und
ihre Stellung in der demokratischen Gesellschaft.
Gestern führten der Innenausschuss und der Jugendausschuss eine Anhörung zum Thema „Rechtsextremismus“ durch. In dieser Anhörung wurde unter anderem
festgestellt, dass rechtsextreme Alltagskulturen an vielen
Orten stark verwurzelt seien und dass Institutionen oft
nichts dagegen unternähmen. Gefordert wurde, anknüpfend an das Wort von Bundeskanzler Schröder vom
„Aufstand der Anständigen“, der „Anstand der Zuständigen“.
1997 wurde vermehrt über Vorfälle unter Bundeswehrsoldaten mit rechtsextremem Hintergrund berichtet.
Damals reagierte die Bundeswehrführung schnell und mit
einem umfassenden Maßnahmenkatalog. Mir sind keine
Großinstitution und kein gesellschaftlicher Bereich bekannt, in denen gegenüber rechtsextremistischen Vorkommnissen so sehr das Hinsehen geübt und der Blick geschärft worden wäre.
({1})
Nach allem, was wir wissen, zeigte dies auch Wirkung.
Allerdings wissen wir nicht, wie tief und nachhaltig diese
Maßnahmen wirken, ob sie „nur“ abschreckend wirken
oder auch zu einer Veränderung der Einstellung beitragen.
Vor einigen Jahren schon, also 1997/98, hatten die
Fraktionen von SPD sowie von Bündnis 90/Die Grünen
umfassendere sozialwissenschaftliche Untersuchungen
gefordert, um herauszufinden, wie es mit Einstellungen,
Veränderung von Einstellungen und den Möglichkeiten,
Einstellungen in und außerhalb der Bundeswehr zu beeinflussen, aussieht. Wir begrüßen jetzt außerordentlich,
dass das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr
mit einer solchen systematischen und empirischen Untersuchung beginnt. Die Erkenntnisse aus solchen empirischen Untersuchungen sind eben eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass wir auch in Zukunft in der Lage
sind, diese Brandmauer gegen Rechtsextremismus und
Minderheitenfeindschaft bei der Bundeswehr aufrecht zu
erhalten.
({2})
Die Bundeswehr hat längst eine eigene gewachsene
Tradition. Mit der Teilnahme an friedensbewahrenden
Einsätzen auf dem Balkan steht sie - das muss man immer wieder sagen -, in einem diametralen Gegensatz zu
dem, was die Wehrmacht vor mehr als 50 Jahren auf dem
Balkan getan hat. In der Vergangenheit hatten wir immer
mal wieder über Zeichen von vordemokratischem Traditionsverständnis bei einem Teil der aktiven und ehemaligen Soldaten zu sprechen. Das traf auch auf die Benennung von Kasernen zu.
Bekannt ist, dass eine verklärende Haltung zur Wehrmacht eine Schlüsselfunktion hinsichtlich der Ausbildung rechtskonservativer und vor allem rechtsextremer
Ideologen ist und sozusagen eine ideologische Brücke
darstellt, um auf Soldaten zu wirken. Daher ist das Zeichen umso wichtiger, das Bundesminister Scharping am
8. Mai dieses Jahres setzte, indem er in Flensburg eine Kaserne, die bis dahin nach einem Wehrmachtsgeneral benannt war, nach dem Feldwebel Anton Schmid umbenannte, einem einfachen Soldaten in der Wehrmacht, der
aber enorm mutig war bei seinem Einsatz für verfolgte
Menschen und dabei auch umgebracht wurde. Dies ist
wirklich ein vorzügliches Zeichen. Ich gehe davon aus,
dass diese auch international hoch anerkannte Kasernenumbenennung keine Eintagsfliege ist.
({3})
Wehrbeauftragte wie Ministerium bekräftigen ihre
positive Haltung gegenüber der Wehrpflicht. Zugleich
stellte die Wehrbeauftragte in ihrem Bericht aber auch
fest, es werde
immer schwieriger, den jungen Männern den Sinn
der Wehrpflicht und damit die Bereitschaft zur
Wehrdienstleistung nahe zu bringen.
Diese Schwierigkeiten werden künftig angesichts der
geplanten Reduzierung und Flexibilisierung der Wehrpflicht wohl nicht geringer. Denn wenn ein sinkender Anteil der mindestens 150 000 zur Verfügung stehenden
Wehrpflichtigen einberufen wird, liegt zumindest der
Eindruck nahe, es handele sich um eine selektive Wehrpflicht. Daher wäre es angebracht, im Rahmen einer vorläufig fortbestehenden Wehrpflicht vermehrt Rücksicht
auf beginnende Berufsausbildung und auf Unternehmensgründungen zu nehmen und zum Beispiel die Verfügbarkeitszeiten von Wehrpflichtigen abzusenken.
Auf jeden Fall müssen Dienstungerechtigkeiten zwischen Wehrdienst- und Zivildienstleistenden vermieden
werden.
({4})
Wenn nämlich nur ein Teil der zur Verfügung stehenden
Wehrpflichtigen einberufen würde, aber alle jungen Männer, die den Dienst an der Waffe verweigert haben, zur
Leistung des Zivildienstes verpflichtet würden, dann wäre
das ein Beispiel für eine solche Dienstungerechtigkeit. Zu
dieser darf es auf keinen Fall kommen.
1999 war das Jahr - das ist heute Morgen schon mehrfach angesprochen worden -, in dem das demokratische
Deutschland und die Bundeswehr zum ersten Mal überhaupt an einem Krieg beteiligt waren. Die Wehrbeauftragte stellte in ihrem Jahresbericht fest - dieser Satz ist,
wie ich glaube, in der Regel überlesen worden -:
Es wäre ein Gebot der Inneren Führung gewesen, einen militärischen Einsatz dieser Art frühzeitig und
rechtlich klar zu begründen.
Das Verteidigungsministerium fordert in seiner Stellungnahme zum Bericht der Wehrbeauftragten von den
militärischen Vorgesetzten neben professionellem Können auch Wertekompetenz. An dieser kritischen Feststellung, die sich auch an die Wehrbeauftragte richtet, wird
die gestiegene Anforderung an Politiker und militärische
Vorgesetzte formuliert, Bundeswehreinsätze rechtlich,
politisch und ethisch klar zu begründen und darzustellen.
Vor vier Wochen legten die deutschen katholischen
Bischöfe ihr neues Friedenswort „Gerechter Friede“ vor.
An die Stelle des Motivs vom gerechten Krieg, das uns
seit Jahrhunderten bekannt ist, setzen die Bischöfe nun
das Leitbild vom gerechten Frieden: Wer den Frieden
will, bereite den Frieden vor. Sie gehen ausdrücklich von
einer Ethik der Gewaltfreiheit aus und übersetzen sie in
dieser gewaltträchtigen Welt in die Gebote „Gewaltminderung“ und „Gewaltverhütung“.
Die Bischöfe verkennen nicht, dass sich gerade angesichts der Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit - erinnert sei allein an das letzte Jahrzehnt - immer wieder
Konflikte zwischen dem Gebot der Gewaltfreiheit und der
staatlichen Verpflichtung zum Schutz der eigenen Bürger
und zum Schutz vor schwersten Menschenrechtsverletzungen ergeben können. Die Tatsache, dass der Einsatz
militärischer Gewalt notwendig werden kann, lässt die
Bischöfe aber nicht die Tücken eines Gewalteinsatzes
verkennen, der nach Feststellung der Bischöfe trotz
Rechtfertigung immer ein Übel bleiben würde. Das Bischofswort benennt deshalb klare und enge Kriterien für
humanitäre Einsätze. Es widersetzt sich eindeutig dem
propagandistischem Missbrauch des Begriffs „humanitäre Einsätze“ für partikulare Interessen.
Das Friedenswort der katholischen Bischöfe, das, so
ist mein Eindruck, in der Öffentlichkeit bisher kaum
wahrgenommen wurde - wenn, dann wurde es ganz
schnell zu Tode gelobt -, ist für die Debatte, die wir im
Kontext der Bundeswehrreform und der europäischen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik viel intensiver führen sollten, eine große Hilfe. Es ist zur Steigerung
unseres Verantwortungsbewusstseins und zur Steigerung
unserer Verantwortungsfähigkeit im Hinblick auf einen
gerechten Frieden und die damit verbundene Rolle von
Bundeswehrsoldaten hilfreich.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Hildebrecht Braun.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Anhand
vieler Einzelfälle im vorliegenden Bericht der Wehrbeauftragten mit den Anmerkungen des Bundesverteidigungsministeriums wird deutlich, wo die Soldaten der
Schuh drückt und wie die Bundeswehrführung darauf zu
reagieren gedenkt. Der Bericht wird in der Truppe und
weit darüber hinaus verbreitet und er wird hier, im deutschen Parlament, diskutiert. Wir Abgeordnete nehmen ihn
sehr ernst; denn dieser Bericht macht auch deutlich, dass
wir eine Parlamentsarmee haben, auf die wir stolz sind.
Seit über 40 Jahren kann jeder deutsche Soldat eine Beschwerde an den Wehrbeauftragten und damit an das deutsche Parlament richten. Er muss nicht den Dienstweg einhalten. Das ist sehr wichtig. Denn der Dienstweg ist, wie
wir wissen, nicht nur der längste Weg; vielmehr würde
auch die Beschwerde durch die Kommentierung von all
den dazwischengeschalteten Vorgesetzten - jeder Vorgesetzte würde versuchen, seine eigene Sicht der Dinge
einzubringen und sein eigenes Verhalten und das seines
Truppenteils so positiv wie möglich darzustellen - angereichert. Durch unser System der Beschwerden bekommen wir ein ungeschminktes Bild von der Realität in der
Truppe. Zugleich ist dies ein Frühwarnsystem über eventuell negative Entwicklungen.
({0})
Weil jeder Vorgesetzte weiß, dass sich seine Untergebenen direkt an den Wehrbeauftragten wenden können, wird
er in seinem Bemühen gestärkt, nicht nur korrektes Verhalten, sondern auch das Prinzip der Kameradschaft und
das Konzept des Staatsbürgers in Uniform in allen Bereichen zu beachten und zu fördern. Gleiches gilt für das Ministerium, das nicht wegen Nichtbeachtung der Wehrbeauftragten vom bzw. im Parlament vorgeführt werden
will.
In diesem Zusammenhang möchte ich ein Kompliment
an den Vertreter des Bundesverteidigungsministeriums
richten: Ihre Anmerkungen zu dem Bericht der Wehrbeauftragten sind präzise und sensibel. Sie gehen auf alle
wichtigen Fragen ein. Sie sorgen in Ihrem Bericht für eine
Darstellung, die sehr leicht lesbar ist und deswegen sehr
viel mehr Wirkung entfaltet, als wenn diese Darstellung in
einem separaten Papier verbreitet werden würde.
({1})
Ich kann nur sagen: Wenn die Anmerkungen des Bundesrechnungshofs immer so ernst genommen würden wie der
Bericht der Wehrbeauftragten, dann wäre die Präsidentin
des Rechnungshofs sehr glücklich.
({2})
Nun zu einigen speziellen Themen, insbesondere zur
politischen Bildung der Soldaten. Wie wichtig dieser
Bereich ist, ist uns allen natürlich klar. In früheren Jahren
war es immer wieder schwierig, gerade jungen Soldaten
deutlich zu machen, was es bedeutet, die Freiheit zu verWinfried Nachtwei
teidigen. Sicherlich, Wehrpflichtige werden auch jetzt
nicht in Gebiete wie das Kosovo oder nach Bosnien bzw.
Mazedonien geschickt. Aber sie haben in der Regel Ausbilder, die dort bereits gedient haben und die ihnen aus
eigenem Erleben heraus schildern können, was es bedeuten würde, wenn unsere deutschen Soldaten dort nicht
dafür sorgen würden, dass die einen vor den anderen,
beispielsweise die Gruppe der Moslems vor den Serben,
geschützt würden. Es ist ein ganz wichtiger Punkt, dass
aus persönlichem Erfahren heraus geschildert werden
kann, was es bedeutet, frei zu sein und vor Unfreiheit zu
schützen. Denn mit der Freiheit ist es im Grunde genommen genauso wie mit der Gesundheit: Wenn man die Freiheit nicht hat, weiß man, wie wertvoll die Freiheit ist.
Wenn man krank ist, weiß man die Gesundheit ganz anders zu würdigen. Denn wenn man gesund ist, nimmt man
sie normalerweise als selbstverständlich hin.
Meine Damen und Herren, in der Bundeswehr besteht
die besondere Chance, unseren jungen Menschen nahe
zu bringen, wie dümmlich die Thesen der Rechtsextremisten sind, denen sie zu Hause oft ausgesetzt sind. In der
Bundeswehr leben unsere jungen Männer mit anderen zusammen, die in irgendeiner Weise fremd sind, die einen
anderen Dialekt sprechen oder einen anderen Glauben
haben, die vielleicht in Russland oder in der Türkei geboren sind und von denen zu Hause oft Feindbilder existieren.
Sie leben bei der Bundeswehr gemeinsam in einer
Stube und erleben, wie die anderen für einen selbst
Verantwortung übernehmen und sie gemeinsam einen
Auftrag erfüllen. Sie erleben, dass nicht die Vorbildung,
Abitur oder Hauptschulabschluss, oder die Tatsache, ob
jemand reich oder arm ist, wichtig dafür sind, dass jemand
ein Freund sein kann. Vielmehr erleben sie die Eigenschaften, die Freundschaft wirklich ausmachen, nämlich
Verlässlichkeit und Kameradschaft.
({3})
Ich glaube, dadurch trägt die Bundeswehr in besonderem
Maße dazu bei, dass junge Menschen gegen die Gefahren
des Rechtsextremismus gefeit werden.
Ich möchte einen Punkt aufgreifen, an dem mir die
Stellungnahme des Verteidigungsministeriums nicht gefällt. Claire Marienfeld hat Ihnen natürlich eine Steilvorlage geliefert, als sie sagte: Teilzeitarbeit kommt für Soldatinnen auch in Zukunft nicht in Frage. Ich bin nicht
darüber verwundert, dass das Ministerium diese Äußerung gerne aufgegriffen und gesagt hat: Na gut, dann sollten wir diese Möglichkeit auch gar nicht eröffnen.
Ich bin da ganz anderer Meinung. Wir werden in Zukunft viele junge Frauen in der Bundeswehr haben. Das
wollen mittlerweile auch alle in diesem Parlament. Darunter werden auch viele junge Mütter sein. Es muss völlig klar sein, dass sich die Bundeswehr auch in diesem Bereich nicht vom Rest der Gesellschaft absetzt, sondern
dass wir junge Soldatinnen sehr wohl unterstützen, wenn
sie Mutter werden wollen, und wir ihnen dort, wo es
machbar ist, Teilzeit zu arbeiten, im Interesse dieser jungen Familien, speziell der Kinder, eine solche Chance geben. Lassen Sie mich das als früherer Vorsitzender der
Kinderkommission im Bundestag sagen.
({4})
Hier muss auch das Verteidigungsministerium hinzulernen. Wir können nicht nur immer die Flexibilität der
Soldaten im Einsatz loben und dann, wenn neue Aufgabenstellungen, neue Probleme auf das Ministerium zukommen, sagen: Wir machen es so wie bisher, als wir eine
reine Männerarmee hatten. - Nein, wir müssen umdenken.
Ich finde die Äußerungen zum Thema „Tragen von
Schmuck“ bei Frauen in der Bundeswehr nachgerade
lächerlich. Es sind doch Peanuts, ob sich Frauen in der
Bundeswehr ein wenig mehr als die Männer schmücken
können oder nicht. Dass wir dazu eine eigene ZDV-Nummer haben, 37/10, ist doch wirklich überflüssig. Gehen
wir damit doch locker und vernünftig um, wie wir es von
den Vorgesetzten erwarten.
Insgesamt ist das heutige Thema eines, bei dem wir die
Dinge in großer Übereinstimmung erörtern können. Ich
halte das für gut. Die Bundeswehr ist eine gemeinsame
Aufgabe des gesamten Parlaments.
Vielen Dank.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dr. Winfried Wolf.
Sehr geehrte Präsidentin!
Werte Kolleginnen und Kollegen! Der hier diskutierte Bericht wird in einem Punkt immer von allen Parteien im
Bundestag gelobt. In dem Bericht finden sich einigermaßen objektiv die Zustände in der Bundeswehr beschrieben, zum Beispiel auch Zustände wie sie im Abschnitt „Verletzung der Menschenwürde bei Ausbildungsvorhaben“ zusammengefasst sind. Dort heißt es als
Teil einer Auflistung von mehreren Vorfällen:
Ein Maat richtete als Gruppenführer in der Grundausbildung ein ungeladenes Gewehr mit der Mündung nacheinander auf drei Rekruten, um diese mit
Nachdruck zu gesteigerter Konzentration anzuhalten.
Oder weiter:
In einem anderen Fall mussten
- in einer Übung „gefangene“ Soldaten ihre komplette Bekleidung bis
auf die Unterhose an „gegnerische Kräfte“ abgeben.
Zu solchen Fällen vermerkt die Wehrbeauftragte richtig:
Es handelt sich hier um Grundrechtsverletzungen.
Der Bericht enthält ein weiteres Mal einen Abschnitt
zum Thema „Entwicklung von Fremdenfeindlichkeit und
Hildebrecht Braun ({0})
Rechtsextremismus in der Bundeswehr“. Darin wird betont, der Rückgang entsprechender Vorgänge in der Bundeswehr sei kein Signal zur Entwarnung. Auch das findet
unsere Zustimmung, zumal jüngste Berichte wieder von
einem Anstieg von Rassismus und Rechtsextremismus
in der Bundeswehr sprechen.
An die Wurzel dieses zuletzt genannten Problems wird
man im Übrigen nur dann stoßen, wenn man sich intensiv
mit dem Thema Traditionspflege beschäftigt. Wir erinnern hier ein weiteres Mal daran: Vor knapp zwei Jahren
kündigte der hier im Saal anwesende Staatsminister
Naumann an, dass es in zwei Jahren keine Kasernennamen mehr geben werde, die an Nazi-Generale oder an
grausame Kolonialoffiziere erinnern. Doch es gibt sie bis
zum heutigen Tag.
Das Mindeste, was wir von der SPD und den Grünen
verlangen dürfen, ist: Tilgt endgültig diese Kasernennamen!
({1})
Wir wollen nie mehr Namen wie Lettow-Vorbeck - ein
grausamer Kolonialoffizier - oder Mölder - ein Kampfflieger der Nazis, der unter anderem in der „Legion Kondor“ gegen die spanische Republik im Einsatz war. Es ist
wahr: Scharping hat einige richtige Schritte gemacht.
Aber Scharping hat mit seiner Personalpolitik genau bei
diesem Thema auch Zeugnis für die Doppelbödigkeit seiner Politik abgelegt. Er persönlich brachte den General
Gudera in eine Spitzenverwendung im Verteidigungsministerium. Er wurde stellvertretender Inspekteur des Heeres. Derselbe General hat unter anderem die Wehrmachtsausstellung als „infam“ bezeichnet.
({2})
Er hat in der „Rheinischen Post“ vom 6. November 1999
ausgeführt: Die Soldaten der Wehrmacht sind während
des Krieges politisch missbraucht worden.
({3})
Sie haben das Höchste gegeben, was ein Soldat geben
kann, ihr Leben.
Der Bericht der Wehrbeauftragten ist in einem zentralen Punkt widersprüchlich. Die im Bericht vielfach bezeugte Sensibilität für die Grundrechte der Soldaten steht
in einem krassen Gegensatz zum NATO-Krieg gegen
Jugoslawien und zu der Art und Weise, wie dieser Krieg
in dem Bericht reflektiert wird. Dort heißt es zum Beispiel
auf Seite 7 - der Bericht ist immerhin Anfang des Jahres
2000 verfasst -, die Verhandlungen vom Rambouillet hätten das Ziel gehabt, dass „die territoriale Integrität der Republik Jugoslawien gewährleistet werden“ sollte; als ob in
der Zwischenzeit nicht Annex B des Rambouillet-Vertrags bekannt geworden wäre, in dem die faktische Aufhebung der Integrität Jugoslawiens verlangt wurde.
An anderer Stelle wird der Krieg, der am 24. März
1999 von der NATO begonnen wurde, als „humanitäre Intervention“ bezeichnet; als ob nicht spätestens seit dem
Frühjahr 2000 bekannt wäre, wie von NATO-Geheimdiensten manipuliert wurde, um den Krieg als eine solche
humanitäre Aktion darzustellen; als ob es nicht der ehemalige Bundeswehr-Brigadegeneral Loquai gewesen
wäre, der enthüllte, dass sogar der so genannte Hufeisenplan eine Fälschung war. Es gab keinen nachweisbaren
Plan serbischer Militärs dieser Art.
({4})
Aber, Herr Breuer, es gab eine generalstabsmäßige Vorbereitung der NATO, den Angriffskrieg in dieser Art und
Weise zu führen. Die Frage ist: Was hat Loquai bekommen - vielleicht das Bundesverdienstkreuz? Nein. Vielmehr wurde die Verlängerung seines Jobs bei der OSZE
auf Intervention von Herrn Scharping gestoppt.
({5})
Werte Kolleginnen und Kollegen, es ist traurig, aber
wahr, dass sich der tiefe Einschnitt, den dieser Krieg für
unser Land und für die Bundeswehr darstellt, auch im Bericht, den wir hier diskutieren, niederschlägt und dass in
diesem Bericht die entsprechenden Passagen in den
Dienst der Politik gestellt werden und nicht mehr in den
Dienst der Neutralität, die dieses Amt verdient.
Ich schließe meine Ausführungen und sage bei allem
Respekt vor der früheren Wehrbeauftragten und vor dem
neuen Wehrbeauftragten, dass wir diese Entwicklung zutiefst bedauern und hoffen, dass in Zukunft die gebotene
Neutralität des Amtes des Wehrbeauftragten wieder ernst
genommen wird.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat
jetzt der Herr Parlamentarische Staatssekretär Walter
Kolbow.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Wehrbeauftragter! Zu Beginn
meiner Ausführungen möchte auch ich wie schon Herr
Bundesminister Scharping anlässlich der Parlamentsdebatte am 6. April 2000 der inzwischen aus dem Amt geschiedenen Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages, Frau Marienfeld, für deren stets sehr engagierte,
hilfreiche und vertrauensvolle Zusammenarbeit danken.
({0})
Ich freue mich auch seitens des Bundesministeriums
der Verteidigung, dass Herr Kollege Breuer wieder unter
uns ist, und hoffe, dass das auf Dauer so bleibt.
({1})
Ich will sehr deutlich machen, dass der Jahresbericht
1999 der Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages
in der Tat profunde Kenntnisse der Streitkräfte und der in
ihnen dienenden Menschen unter Beweis stellt. Dass das
auch aus unseren Stellungnahmen einigermaßen hervorgeht, Herr Kollege Braun, haben Sie zum Ausdruck geDr. Winfried Wolf
bracht, und - das wollen wir nicht verhehlen - es freut uns
selbstverständlich. Wir werden uns Mühe geben, dies
auch weiterhin so zu tun, um dann möglicherweise auch
breiteres Lob einholen zu können. Von der PDS erwarte
ich das nicht und will es auch nicht.
({2})
Der Jahresbericht stimmt in seinen Inhalten mit der
Bundesregierung und deren Beurteilung ausdrücklich
darin überein, dass die Menschen, die in der Bundeswehr
ihren Dienst leisten, deren größtes Kapital sind. Sie sind
gut motiviert, hervorragend ausgebildet und leisten im
Auslandseinsatz wie im Inland Außergewöhnliches. Die
hier auf der Tribüne anwesenden Soldaten dürfen dies mit
Stolz für die Kameraden zu Hause entgegennehmen und
weitergeben.
Der Jahresbericht, den wir heute miteinander debattieren, stellt heraus, dass die Angehörigen der Bundeswehr
für ihren Dienst klare politische Vorgaben, den Rückhalt
sowie die Achtung der Bürgerinnen und Bürger brauchen.
Das ist heute angesichts der Veränderungen, die mit der
Erneuerung der Streitkräfte einhergehen, notwendiger
denn je. Denn die Bundesregierung hat die einschneidendste Reform seit Bestehen der Bundeswehr auf den
Weg gebracht. Mit dieser Reform wollen wir moderne,
gut ausgebildete bündnis- und zukunftsfähige Streitkräfte
schaffen. Wir wollen selbstverständlich, Herr Kollege
Siebert, und wir werden den Zeitplan dieser Reformüberlegungen einhalten und die Reform zeitgerecht umsetzen.
({3})
Die Beteiligung der Betroffenen ist sichergestellt, und Sie
dürfen auch von unverzüglichen Entscheidungen in den
Standortfragen ausgehen.
({4})
Zeitweise auftauchenden Unsicherheits- und Verunsicherungskampagnen von interessierter politischer Seite
werden wir mit größter Transparenz und zeitnahester Information entgegentreten, und werden sie in sich zusammenstürzen lassen.
({5})
Lassen Sie mich an dieser Stelle sagen, dass wir in diesem Hause mit Vokabeln wie „menschenverachtend“,
Herr Kollege Siebert, doch sorgfältiger umgehen sollten.
In dieser Bundesregierung ist niemand menschenverachtend und in der Bundeswehr ist es auch niemand.
({6})
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Braun?
Gerne.
Herr Staatssekretär Kolbow, wir haben vorhin gehört, dass Frau
Wieczorek-Zeul, Ihre Kollegin in der Bundesregierung,
der Wehrbereichsverwaltung bei einem Treffen in Mainz
Zusagen gemacht hat. Hat mittlerweile die Bundeswehr
die Vorschläge der Kollegin aus dem Ministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit nachvollzogen und kann
sie bestätigen, dass diese Aussage von Frau WieczorekZeul richtig war?
Die Entscheidungen über die
Bundeswehr und die damit verbundenen Strukturvorhaben trifft der Bundesminister der Verteidigung nach seinen Feststellungen im Verteidigungsausschuss und vor
diesem Parlament auf der Grundlage einer bereits abgeschlossenen Grobplanung und einer daraus jetzt zu entwickelnden Feinplanung. Deswegen sage ich Ihnen: Eine
solche Feinplanung ist noch nicht beendet, und damit
kann nicht verbindlich und abschließend über irgendeinen
Standort in der Bundeswehr irgendetwas gesagt werden.
({0})
Ich will auch darauf hinweisen, dass die Erneuerung
der Bundeswehr mit einem umfangreichen Paket von
Maßnahmen einhergehen wird, das wesentlich zur Erhöhung der Attraktivität des Dienstes in den Streitkräften beitragen soll und sich damit auch durchaus in
Übereinstimmung mit dem zu diskutierenden aktuellen
Bericht der Wehrbeauftragten sowie mit früheren Darlegungen durch ihre Vorgänger befindet. Das Vorhaben
deckt sich auch mit dem, was Herr Penner, der neue Wehrbeauftragte, heute vorgetragen hat. Auf die Zusammenarbeit mit ihm freuen wir uns, sie läuft sehr gut, und zwar
- was auch für unsere Entscheidungen sehr gut ist, denn
nichts ist so gut, als dass es nicht noch besser werden
könnte - in kritischem Dialog.
So sollen die Soldatinnen und Soldaten, die bereits mit
einer beruflichen Qualifikation in die Streitkräfte kommen, künftig die Möglichkeit erhalten, ihre Qualifikation
während der Dienstzeit zu erweitern; das heißt, Aktualisierung des Berufsförderungsdienstes, Neuordnung der
Unteroffizierslaufbahn, eine spürbare Anhebung der Eingangsbesoldung - dies wird immer wieder in den Berichten unserer Wehrbeauftragten angesprochen - und die
Öffnung der Bundeswehr in ihrer ganzen Vielfalt für den
freiwilligen Dienst von Frauen.
Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie einen Punkt angesprochen haben, über den nicht einfach zu entscheiden
sein wird, nämlich die Teilzeitarbeit. Wir sind in diesem
Bereich zu einem Dialog bereit, wenn es darum geht, Gesetze, die allgemein für Frauen geschaffen wurden, für
Frauen in den Streitkräften anwendbar zu machen. Wir
werden im Zusammenhang mit den Frauen, die zunehmend in die Streitkräfte kommen werden, durchaus ein
Spannungsfeld zu lösen haben. Ich denke aber, wir werden das in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Bundestag schaffen können.
Es ist von verschiedenen Rednern in dieser Debatte
sehr nachdrücklich darauf hingewiesen worden, dass die
Stehzeit von sechs Monaten für Auslandskontingente
die Bundeswehr beschwert. Wir betreiben die Umgliederung der Streitkräfte - das wissen Sie - von der Verteidigungsarmee zu einer Einsatzarmee unter der Personalvorgabe von ungefähr 150 000 Soldatinnen und Soldaten
auch deshalb, um vom Anspruch her einen Zeitraum von
zwei Jahren „auslandsfreier“ Zeit sicherstellen zu können.
Wir sind guter Hoffnung, dass wir auch in diesem Zusammenhang genug intelligente Lösungen anbieten können, die einen solchen Zeitrahmen auch für den unzweifelhaft nicht einfachen Bereich von Spezialisten in
unseren Streitkräften sicherstellen.
({1})
Ich darf Ihnen sagen, dass bis zur endgültigen Verabschiedung der Reform Gerüchte, falsche Meldungen und
Arbeitsergebnisse, die es wert sind, diskutiert zu werden,
aber auch solche, die man nicht zu diskutieren braucht,
immer wieder das Licht der interessierten Öffentlichkeit
erblicken werden. Der Bundesverteidigungsminister hat
sofort erklärt, dass Wehrdienstausnahmen für verheiratete Wehrpflichtige nicht geeignet sind, die Wehrgerechtigkeit herzustellen, und hat damit aufkommende
Gerüchte rasch beseitigt. Wir werden Ihnen ein Konzept
vorschlagen und Sie im Verteidigungsausschuss zur Diskussion darüber einladen, mit welchen Maßnahmen die
Wehrgerechtigkeit im Zusammenhang mit einer Dienstgerechtigkeit aufrechterhalten werden kann. Dies muss
auch im Hinblick auf eine Akzeptanz der Wehrpflicht gesehen werden.
Das Amt des Wehrbeauftragten trägt maßgeblich dazu
bei, den Geist der Demokratie und der demokratischen
Kontrolle in den Streitkräften erlebbar zu machen. Gerade
für die jungen Grundwehrdienst leistenden Soldaten ist es
unverzichtbar, zu erfahren, dass die Demokratie nicht am
Kasernentor endet, sondern Bestandteil unserer Wehrverfassung ist. Nur wer Demokratie im Alltag erlebt, wird die
Bereitschaft mitbringen, diese auch für andere zu schützen und im Rahmen des erweiterten Aufgabenspektrums
der Bundeswehr dem Wohle und dem Schutz bedrohter
Menschen zu dienen.
Ich unterstreiche deutlich das, was der Wehrbeauftragte gesagt hat: Das Leitbild des Staatsbürgers in Uniform und die Prinzipien der inneren Führung werden es
uns nach wie vor ermöglichen, die vorhandenen Mängel
in den Streitkräften, die immer wieder aufgezeigt werden
müssen, so klein wie nur irgendwie möglich zu halten und
insbesondere das Menschenbild unserer Streitkräfte so zu
erhalten, wie es seit Gründung der Bundeswehr bestanden
hat, nämlich ein demokratisch geprägtes Menschenbild
mit dem Respekt voreinander und mit Verantwortung füreinander, auch in einer Armee im Auslandseinsatz.
Danke schön.
({2})
Zu einer Kurzintervention erhält die Kollegin Angelika Beer das Wort.
Danke, Frau Präsidentin.
Es ist sehr positiv zu bewerten, dass das Parlament, das
sonst sehr strittig über Verteidigungsangelegenheiten
diskutiert, heute über den Bericht der Wehrbeauftragten
so sachlich debattiert, was selten genug geschieht. Weil
Sie, Herr Staatssekretär Kolbow, nach meiner Einschätzung eine Antwort schuldig geblieben sind, möchte ich
mich vergewissern: Ich hatte den neuen Wehrbeauftragten, Herrn Penner, so verstanden, dass es keineswegs darum geht - ich glaube, hier gibt es ein Missverständnis -,
die Stehzeit generell auf vier Monate zu reduzieren. Die
Erfahrungen - das kann ich aufgrund meiner Eindrücke,
die ich bei Gesprächen mit Soldaten, die in Bosnien und
im Kosovo eingesetzt waren, gesammelt habe, nur unterstützen - legen eher eine Flexibilisierung der jetzigen Regelungen nahe:
Erstens. Es kann für die Soldaten sinnvoll sein, ihren
Urlaub splitten zu können; denn gerade für junge Ehepaare bzw. Beziehungen ist es schwierig, sechs Monate
voneinander getrennt zu leben.
Zweitens. Auch der Rücktransport und kommerzielle
Urlaubsflüge aus den Einsatzgebieten müssen unkonventioneller gehandhabt werden, damit Flexibilität
gewährleistet wird.
Drittens. Mein Eindruck ist, dass man bei den sechs
Monaten aufpassen muss, welche Bereiche sich für
flexible Regelungen eignen. Es gibt durchaus Einsatzgebiete, in denen nach vier Monaten ein Wechsel vorgenommen werden kann. Aber es kann aufgrund der Erfahrungen vor Ort auch sinnvoll sein, wenn Führungskräfte
die Bereitschaft mitbringen, länger als sechs Monate
Dienst im Einsatzgebiet zu tun.
Trotz aller Flexibilisierung sollte die Zusage des Verteidigungsministers, dass zwei Jahre zwischen jedem
Auslandseinsatz liegen werden, eingehalten werden.
Wenn darüber Konsens besteht, bin ich froh. Ich hatte gerade den Eindruck, dass die Opposition das missverstanden hatte. Es kann, wie gesagt, nicht das Ziel sein, die Einsatzdauer wieder auf vier Monate zu reduzieren. Das
würde auch nicht dem Bedarf der Truppe entsprechen.
Aber wir sollten uns weiter für eine Flexibilisierung der
Regelungen, die für die sechs Monate dauernden Einsätze
gelten, einsetzen.
Vielen Dank.
({0})
Als Nächster erhält in der Debatte das Wort der Kollege Hans Raidel.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Dieser Bericht 1999
gibt auch mir die Gelegenheit, unserer Wehrbeauftragten
Frau Marienfeld noch einmal herzlich für ihre Arbeit zu
danken. Und ich darf die Gelegenheit nehmen, dem neuen
Wehrbeauftragten Herrn Penner viel Glück und Erfolg bei
seiner Arbeit für die Bundeswehr und damit für uns alle
zu wünschen.
({0})
Es ist hier von verschiedener Seite die Frage des
Rechtsextremismus in der Bundeswehr angesprochen
worden. Auch im Bericht ist dazu eine Stellungnahme abgegeben worden. Meine Damen und Herren, das ist ein
Thema, das die Gesellschaft gerade in diesen Tagen
berührt, aber ich möchte doch darauf hinweisen, dass zu
Zeiten unserer Koalition durch Minister Rühe die notwendigen Maßnahmen konsequent und angemessen angesetzt und durchgeführt worden sind
({1})
und dass der Verteidigungsausschuss gerade unter der
Führung des Vorsitzenden Kurt Rossmanith dieses Thema
in einer sehr guten Art und Weise aufgezeigt und bewältigt hat. Auf den Grundlagen, die damals geschaffen worden sind, kann die heutige Regierung, kann der heutige
Ausschuss aufbauen und dieses Thema auch entsprechend
gut bewältigen.
({2})
Ich glaube, das sollte für die heutige Arbeit auch einmal
klar anerkennend gesagt werden. Sie hatten damals diesen
Ausschuss aus ganz anderen Überlegungen eingesetzt,
({3})
sodass ich glaube, dass wir mit dem, was ich eben dargestellt habe, dieses Thema richtig angegangen sind.
In der Bewertung, dass wir alle gemeinsam, meine Damen und Herren, gegen Gewalt, gegen Rassismus, gegen
Fremdenfeindlichkeit in der Gesellschaft vorgehen müssen, sind wir uns einig.
({4})
Wie schwierig das im Einzelfall sein kann, zeigt die notwendige Debatte über ein NPD-Verbot in diesen Tagen.
Alle diejenigen, die es mit der Bundeswehr gut meinen,
müssen hier an einem Strang ziehen. Ich teile auch die
Auffassung des Herrn Staatssekretärs, dass man sich mit
manchen Äußerungen überhaupt nicht erst auseinander
setzen sollte, weil sie wirklich am Thema vorbeigehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Bericht 1999 befasst sich in gewohnt sorgfältiger Weise mit
dem gesamten Innenleben der Bundeswehr. Mängel werden aufgedeckt, Hinweise zur Beseitigung gegeben. Es
wird aber auch positiv bescheinigt, dass sich im Bereich
der Fürsorge vieles getan hat.
Wir müssen ja die Unterschiede zwischen der früheren
Bundeswehr und der Bundeswehr im Bereich der neuen
Einsätze feststellen. Hier war völlig neues Denken, völlig
neues Überlegen gefordert, seitens des Ministeriums, aber
insbesondere in der fürsorglichen Begleitung durch uns,
durch das Parlament. Dabei sind wir schrittweise zu einem Standard gekommen, der allseits gelobt wird.
Wenn der Ausschuss nächste Woche wieder im Kosovo
sein und das Gespräch mit den beteiligten Soldaten führen
wird, bin ich überzeugt, dass die Grundtendenz stimmt.
Selbstverständlich gibt es viele Einzelfragen, Einzelfälle,
die bedacht werden müssen, wo Familienschicksale anders bewertet werden müssen als 08/15.
Ich fordere auch hier ein, dass zum Beispiel im Bereich
der inneren Führung nicht diese Verbürokratisierung
fortschreitet, wie wir sie bei Einzelfällen beobachten müssen. Das ist ein Hauptargument, warum hier und da Unzufriedenheit vorhanden ist, sodass es überhaupt zu Beschwerden bei der Wehrbeauftragten - früher - und beim
Wehrbeauftragten - jetzt - kommen kann.
Wenn nämlich die Vorgesetzten oder diejenigen, die
sich mit den persönlichen Fällen auseinander zu setzen
haben, den Menschen etwas mehr im Mittelpunkt sehen
würden und nicht nur die Vorschrift, wenn sie sich vernünftig zusammensetzen würden,
({5})
um im Einzelfall das Problem lösen zu können, wäre das
besser, als wenn jedes Mal auf die Vorschrift X verwiesen
würde. Immer dann, wenn dem Vorgesetzten die Argumente ausgehen - das habe ich beim Nachprüfen oft erfahren -, wird auf den Dienstrang gezeigt, also quasi der
Ober sticht den Unter.
Ich habe nichts gegen das Prinzip Befehl und Gehorsam, das muss sein, das gehört dazu, aber es kommt auf
die Ausformung und darauf an, wie man innerhalb der
Truppe, innerhalb der Aufgabenerledigung miteinander
umgeht. Ich glaube, dass ich in diesem Zusammenhang
keine Einzelfälle anführen muss, obwohl ich das tun
könnte.
Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, dass die innere
Führung im Lichte der neuen Aufgaben, im Lichte der
neuen Organisation weiter entwickelt werden muss. Das
ist ein Hauptpunkt unserer Thematik insgesamt. Das ist
eine Hauptforderung, die wir als CDU/CSU immer schon
begleitend mit eingebracht haben. Ich bitte Sie, das neue
Konzept der inneren Führung möglichst schnell zur Diskussion vorzulegen.
({6})
Herr Wehrbeauftragter, Sie haben das Thema Wehrpflicht beleuchtet. Sie haben von verschiedenen Spektren
gesprochen. Es muss möglich sein, an das eine zu denken
und das andere zu bedenken. Aber wir sollten uns doch einig darüber sein, dass die Wehrpflicht ein entscheidender
Bestandteil unserer Bundeswehr, ein entscheidender Bestandteil unserer Landes- und Bündnisverteidigung ist
und dies auch bleibt.
({7})
Deswegen habe ich die große Bitte, dass wir in einen
Wettbewerb der Ideen eintreten, dass transparent gemacht
wird, was für das Land und für das Bündnis gut ist und
welche Wehrform die geeigneteste ist, um die Aufgabenerfüllung gewährleisten zu können. Schablonenhaftes
Denken in diesem Bereich muss passé sein. In einer modernen Struktur muss zuerst die Begründung erfolgen,
warum wir junge Menschen zu dieser Pflichtaufgabe
heranziehen. Man kann nicht einfach sagen, so ist es und
so bleibt es. Insoweit will ich Ihnen gerne folgen. Ich will
Ihnen aber nicht folgen, wenn die Konsequenz Ihrer Aussage gewesen sein sollte, dass die Wehrpflicht abgeschafft
werden soll. Ich begrüße ausdrücklich Flexibilität. Dass
das aber als Einstieg in den Ausstieg gewertet wird, das
kann nicht der Sinn und der Zweck sein. Ich möchte eine
Debatte über die Bewertung. Zum Schluss können wir die
notwendige Konsequenz daraus ziehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, insgesamt
glaube ich, dass wir viel zu wenig in der Öffentlichkeit
und mit der Öffentlichkeit über Sicherheitsfragen, über
die Bundeswehr diskutieren. Das ist das große Manko,
das große Defizit. Das möchte ich der Regierung mit auf
den Weg geben. Wenn ich Sie, Herr Staatssekretär, richtig
verstanden habe, so haben Sie in einem Nebensatz gesagt,
Sie laden uns zu Debatten ein. Warum haben Sie das dann
in verschiedenen Bereichen bisher nicht forciert und in
der Öffentlichkeit über die Bundeswehr gesprochen?
Manche Missverständnisse wären dann aufgelöst worden.
Manches könnte dann gemeinsam in die richtige Richtung
gebracht werden. Ich will umgekehrt davon ausgehen und
Sie zu einem Wettbewerb der guten Ideen für eine gute
Bundeswehr einladen.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulrike Merten.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Siebert, ich will
mich zunächst an Sie wenden. Es steht mir eigentlich
nicht zu, über Aufbau und Inhalt Ihrer Rede zu urteilen.
Ich muss aber deutlich sagen, dass Sie heute das Thema
verfehlt haben.
({0})
Eines möchte ich noch anfügen. Den Vorwurf, der
Bundesverteidigungsminister fördere die Entwicklung
der Bundeswehr hin zu einer Regierungsarmee und weg
von einer Parlamentsarmee, finde ich ungeheuerlich.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zu
Beginn meiner Ausführungen noch einmal der Frau Wehrbeauftragten und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
für ihren Bericht danken.
({2})
Dieser Bericht, der 1999 entstanden ist, ging noch davon aus, dass Frauen, die in der Bundeswehr Dienst tun
wollten, auf den Sanitäts- und Militärmusikdienst beschränkt waren. Dies ist inzwischen durch das Urteil des
Europäischen Gerichtshofes korrigiert worden. Jetzt sollen alle Laufbahnen in der Bundeswehr für Frauen geöffnet werden; die entsprechenden Änderungen des Soldatengesetzes stehen an.
Die ersten Bewerberinnen haben sich in den vergangenen Monaten den notwendigen Tests unterzogen. Auch
wenn ein Riesenansturm, wie nicht anders zu erwarten,
ausgeblieben ist, dürfen wir doch davon ausgehen, dass
das Bild und damit der Alltag der Bundeswehr stärker als
bisher von Frauen geprägt sein wird.
Der 99er-Bericht beschreibt sehr eindrucksvoll die Probleme von Soldatinnen im Truppenalltag. Auch wenn es
sich um einzelne und Gott sei Dank nicht um generelle Erscheinungsformen handelt, tun wir im Hinblick auf die in
Zukunft wachsende Zahl von Frauen bei der Bundeswehr gut daran, schon jetzt sehr genau hinzusehen.
Lassen Sie mich einige Beispiele nennen: Einzelne
Soldatinnen haben sich über ungerechte und schikanöse
Behandlung, verbale Erniedrigungen sowie verschiedene
Formen sexueller Belästigung beklagt. So drang ein
Hauptfeldwebel sowohl in den abgetrennten Wohnbereich von Unteroffizierinnen als auch in den Duschbereich des Sanitätstrakts ein. Sein Verhalten ahndete das
Truppengericht mit einer empfindlichen Disziplinarmaßnahme. Ich finde, derartiges Fehlverhalten muss durch die
im Soldatengesetz geregelte Pflicht zur Kameradschaft
mit dienstrechtlichen Sanktionen bestraft werden.
({3})
Da kann ich der Wehrbeauftragten nur voll und ganz zustimmen. Es darf unter keinen Umständen der Eindruck
entstehen, derartige Dinge würden unter den Teppich gekehrt.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es stimmt zuversichtlich, im Bericht zu lesen, dass die jungen Frauen inzwischen in der Regel so selbstbewusst sind, dass sie in
problematischen Situationen ihren männlichen Kollegen
angemessen und mit der nötigen Deutlichkeit begegnen.
Dass sie sich gegebenenfalls zusätzlich an ihre Vorgesetzten und Kameraden wenden, hat nichts mit Hilflosigkeit
zu tun. Es ist vielmehr konsequent und zeugt von Zivilcourage, Fehlverhalten, gleich um welches es geht, öffentlich zu machen.
In anderen Fällen geht es nicht um besonders rüdes
bzw. schikanöses Verhalten, über das die Frauen zu klagen hatten, sondern mehr um ihre Sorge, von ihren Vorgesetzten besonders fürsorglich und zuvorkommend behandelt zu werden. Machten diese Beispiele Schule,
würde das nicht dazu beitragen, die Akzeptanz bei ihren
männlichen Kollegen zu steigern. Die Kehrseite der Medaille zu den von der Frau Wehrbeauftragten geschilderten Entgleisungen scheint nämlich zu sein, dass manche
männliche Vorgesetzte den unverkrampften Umgang mit
weiblichen Soldaten scheuen. Ganz offensichtlich haben
sie Sorge, als frauenfeindlich zu gelten.
Der Bericht weist noch einmal darauf hin - das ist mir
in vielen Gesprächen immer wieder gesagt worden -, dass
Frauen in der Bundeswehr Teilzeitarbeit wünschen. Ich
stimme der Wehrbeauftragten zu, wenn sie sagt, der
Dienst in der Bundeswehr unterscheide sich von TätigHans Raidel
keiten in Zivilberufen; Teilzeitarbeit, die gleichberechtigt
auch männlichen Soldaten zugestanden werden müsste,
sei für die Truppe nicht ohne weiteres umsetzbar. Die
Wehrbeauftragte spricht sogar von Unannehmbarkeit.
({5})
Darauf sollten wir die jungen Frauen deutlich hinweisen. Ich wundere mich schon sehr, dass nun der Bundeswehrverband zur Speerspitze der Bewegung wird und
ausgerechnet in den Streitkräften das Prinzip der Vereinbarkeit von Beruf und Familie verwirklichen will.
({6})
- Ausgerechnet in den Streitkräften.
Aber zurück zum Problem. Die jungen Frauen müssen
sich auch unter dem Aspekt, Familie und Beruf vereinbaren zu wollen, gut überlegen, ob die Streitkräfte wirklich
der richtige Arbeitsplatz für sie sind. Das hat nichts damit
zu tun, dass wir den Frauen nicht hinreichend Mut machen
wollen. Das hat etwas mit Verantwortlichkeit zu tun. Wir
müssen ihnen die Möglichkeit geben, sich das vorher sehr
genau zu überlegen. Sie müssen wissen, dass die Erhaltung der Einsatzfähigkeit maßgeblich für die Gestaltung
des Dienstes bleiben muss.
({7})
Lassen Sie mich zum Abschluss noch eine Bemerkung
zur Änderung des Grundgesetzes machen. Ich glaube, es
entspricht dem Respekt gegenüber unserer Verfassung,
wenn wir jetzt zur Öffnung der Bundeswehr für Frauen
eine entsprechende Klarstellung im Grundgesetz vornehmen und damit eine eindeutige verfassungsrechtliche
Grundlage schaffen.
Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Als Letzter in
der Debatte hat der Abgeordnete Robert Leidinger das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Wehrbeauftragter, wir
haben mit großer Aufmerksamkeit gehört, was Sie gesagt
haben. Sie haben viele Punkte angesprochen, die seit langem im Argen liegen, Stichwort: Bekleidung, Betreuung,
Heimflüge und Sanitätsversorgung. Wir wissen das. Wir
werden das in der richtigen Weise mit Ihnen, mit Ihrem
Hause, aber natürlich auch parlamentarisch beraten. Die
Bekleidung ist ein Problem, das die deutsche Armee -
Herr Kollege,
darf ich Sie einen kleinen Moment unterbrechen. Ich jedenfalls kann Sie kaum verstehen. Ich bitte die Technik,
das Mikrofon etwas lauter zu stellen. Und Sie müssen
mehr zum Saal gewandt sprechen, auch wenn Sie mit dem
Wehrbeauftragten reden wollen; dann sind Sie besser zu
verstehen.
Ich habe mich zu dem
Wehrbeauftragten umgedreht. - Ich bedanke mich, Frau
Präsidentin.
Zu dem Kollegen Siebert möchte ich jetzt keine Bemerkung machen; da sind schon einige Worte gesagt worden und das muss ausreichen.
Aber lassen Sie mich bitte eine Frage stellen: Trotz
Friede, Freude, Eierkuchen möchte ich einmal wissen,
warum immer wir Sozialdemokraten diejenigen sein müssen, die die Schutthaufen von Reformstaus der Politik
der Konservativen wegräumen müssen.
({0})
- Da brauchen Sie gar nicht zu lachen! Das war schon
1969 so. Damals mussten Helmut Schmidt, Schorsch
Leber und Hans Apel nach einer langen Regierungszeit
der Konservativen die gleiche Arbeit machen, die heute
Rudolf Scharping machen muss.
({1})
Wir stellen uns dieser Aufgabe gern; allerdings möchte
ich nicht immer wieder Ihr Gejammere hören. Wir können
uns parlamentarisch über alles unterhalten; aber man kann
doch nicht so herumjammern, wenn man 16 Jahre Regierungszeit hinter sich hat
({2})
und einen Haufen Arbeit nicht erledigt hat. Da frage ich
Sie, Kollege Breuer, oder Ihre Kolleginnen und Kollegen:
Warum haben Sie die Dinge, die Sie heute beklagen, damals nicht gemacht?
({3})
Ich erinnere mich sehr gut an die Debatte heute vor
14 Tagen in diesem Hause. Da ging es um die Zukunft der
Bundeswehr. Auch unser Kollege Herr Polenz hat damals
zu diesem Thema gesprochen. Die Rede war ein Armutszeugnis; im Hinblick auf die Zukunftsfragen - Fehlanzeige. Die Opposition hat die Chance vertan, nach einer
Orientierungspause dazu ein Wort zu sagen.
Sie reden immer davon, dass Sie mit dieser Union den
Konsens in Bezug auf die Streitkräfte fortsetzen und unterstützen wollen. Sie sagen das dem Minister und Sie
sagen das bei allen möglichen Gelegenheiten. Aber Sie
tun nichts. Ich glaube, das Parlament muss jetzt seine
Hausaufgaben machen, auch die Hausaufgaben, die Sie
nicht erledigt haben. Wenn wir dabei zusammenarbeiten
können, freue ich mich sehr darüber; dann möchte auch
ich einen Beitrag dazu leisten. Aber das Gejammere sollte
man lassen.
Unsere Armee ist weder eine Scharping-Armee, noch
war sie eine Rühe-Armee. Deshalb ist der Vorwurf, es
gehe um eine Regierungsarmee, den wir hier immer wieder hören, falsch. Es ist eine Parlamentsarmee und wir,
Sozialdemokraten und alle anderen in diesem Hause, werden sorgfältig darauf achten, dass keine Worte in die
falsche Kehle kommen können.
({4})
Es ist ganz klar, dass hinsichtlich der Auslandseinsätze einige Dinge zu regeln sind. Wir wissen auch, dass
Unsicherheiten zu beseitigen sind. Ebenso wollen wir zusätzliche Belastungen vermindern. Wir tun das in einem
ständigen Prozess. Dazu brauchen wir die Unterstützung
des gesamten Parlaments. Auch der Wehrbeauftragte wird
seinen Beitrag leisten. Seine Berichte geben Beispiele
dafür, dass Soldaten in diesem schwierigen neuen Umfeld
ihre Sorgen haben. Wir nehmen diese Sorgen nicht nur
ernst, sondern wir greifen sie auch auf. Wir werden sie
parlamentarisch in der Sache angehen und damit Stück für
Stück Vertrauen und Sicherheit schaffen, auch hinsichtlich der schwierigen Aufgaben heute und in der Zukunft.
Ich möchte noch ein Wort zur Tradition und zu dem
Gefühl sagen, das viele Soldaten haben. Ich war selber
lange Zeit Soldat, ich habe viele Tausend Soldaten geführt
und ausgebildet und ich habe immer empfunden, dass sie
sich in ihrer Rolle als Staatsbürger in Uniform wohlfühlen, dass sie mit vollem Herzen dabei sind, dass sie
ihre Rolle nicht nur verinnerlicht haben, sondern auch in
ihrer praktischen Arbeit umsetzen. Deswegen bin ich auch
ein so großer Anhänger der Wehrpflichtarmee. Wir haben mit dieser Form unserer Armee als Wehrpflichtarmee
einen Beitrag geleistet, der beispielhaft ist. Es gibt keine
Berufsarmee, die irgendwo besser sein könnte oder besser
wäre als die Bundeswehr.
Deswegen lassen Sie uns diesen Begriff fortschreiben.
Lassen Sie uns die Bundeswehr zukunftsorientiert gestalten und lassen Sie uns das aufnehmen, was die jungen
Menschen in die Armee hineintragen: ihren Zukunftswillen, ihren Optimismus, ihre Leistungsbereitschaft, ihre
persönliche Initiative und auch ihre Hingabe, ihren Willen, einen Beitrag für diese Gesellschaft in unseren Streitkräften zu leisten. Der Bürger in Uniform und der Bürger
in der Gesellschaft sind ein und dasselbe.
Diese Armee ist gut,
({5})
diese Armee ist belastbar.
({6})
Ich füge auch hinzu: Sie will belastet werden und sie kann
belastet werden. Wir werden ihr den Respekt und die Anerkennung, die sie verdient, nicht verweigern. Wir werden
sie auch fordern. Wir werden sie aber vor allem so ausstatten, dass sie ihre schwierigen Aufgaben nach innen
und außen erfüllen kann.
Zum Schluss möchte ich den Dank an die frühere
Wehrbeauftragte, der schon ausgesprochen worden ist,
wiederholen, aber auch dem neuen Wehrbeauftragten
noch einmal sagen: Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit Ihnen, wir freuen uns auf Ihre Beiträge; wir wissen, dass die Soldaten bei Ihnen gut aufgehoben sind. Wir
freuen uns auf den konstruktiven Dialog. In diesem Sinne
eine gute Zusammenarbeit!
Danke sehr.
({7})
Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen jetzt zu der Beschlussempfehlung des Verteidigungsausschusses zu dem Jahresbericht 1999 der Wehrbeauftragten; das sind die
Drucksachen 14/2900 und 14/4204. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gibt es Gegenstimmen oder
Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall. Die Beschlussempfehlung ist damit mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.
Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Adam, Ilse Aigner, Peter Altmaier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Verfassungsklage der Bundesregierung gegen
das Land Nordrhein-Westfalen wegen der Verletzung seiner verfassungmäßigen Pflichten gegenüber dem Bund im Verfahren zur Aufhebung der Immunität des Abgeordneten Ronald
Pofalla
- Drucksache 14/4244 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Eckart von Klaeden.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren Kollegen! Wir sprechen heute
über einen in der jüngeren deutschen Parlamentsgeschichte einmaligen Skandal: die widerrechtliche und die
verfassungswidrige Aufhebung der Immunität unseres
Kollegen Ronald Pofalla. Dieser Vorgang ist seit der Festigung des Immunitätsrechts in den letzten Jahrzehnten einmalig; denn zum ersten Mal ist ein Abgeordneter des
Deutschen Bundestages mit einer falschen Tatsachendarstellung um seine Immunität gebracht worden. Dieser
Vorgang ist einzigartig in der Parlamentsgeschichte der
Bundesrepublik Deutschland. Nicht die in unserem Antrag festgestellten Schlussfolgerungen sind ungeheuerlich, sondern der Vorgang selber ist ungeheuerlich.
({0})
Es ist schon ein Justizskandal, wenn man einmal liest,
wie das strafprozessuale Verfahren sein Ende gefunden
hat durch die Anträge des Kollegen Pofalla gegen die
Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse, zu denen das Landgericht Kleve in seinem Beschluss vom
11. August 2000 mit 31-seitiger ausführlicher Begründung unter anderem feststellt:
Die von der Staatsanwaltschaft vorgelegten
Ermittlungsergebnisse rechtfertigten keine Durchsuchungs- oder Beschlagnahmeanordnungen. ... Ein ...
Tatverdacht lag nicht vor. ... Diese Berechnung der
Staatsanwaltschaft beruht auf Annahmen, die ...
nicht ... belegt sind, sodass es sich um vage Vermutungen handelt, die teilweise auf unzutreffende
Schlussfolgerungen beruhen. ... Die Beschlüsse waren daher … in diesem Punkte angesichts der fehlenden Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen rechtswidrig.
({1})
Dieser Beschluss alleine ist, was das Strafverfahren angeht, eine schallende Ohrfeige für die Justiz in NordrheinWestfalen.
({2})
Aber die Angelegenheit hat noch eine andere Dimension, über die wir heute sprechen müssen. Mit dem Verfahren ist nämlich das Immunitätsrecht des Deutschen
Bundestages - nicht nur das eines Abgeordneten - grob
verletzt worden.
({3})
Welche Funktion hat das Immunitätsrecht? Das Immunitätsrecht soll das Parlament vor der tendenziösen oder
willkürlichen Strafverfolgung seiner Mitglieder schützen.
Es soll also die Funktionsfähigkeit des Parlament schützen.
({4})
- Deswegen, Herr Kollege von Larcher, klagen wir und
wollen die Rechte des Bundestages geltend gemacht sehen. Wir treten nicht einem Organstreitverfahren bei oder
leiten es ein. Wir beantragen aus genau diesen Gründen
die Eröffnung des Bund-Länder-Verfahrens vor dem Verfassungsgericht. Das Immunitätsrecht soll die Funktionsfähigkeit des Parlaments schützen. Es wird aber in sein
Gegenteil verkehrt, wenn sich nicht das gesamte Parlament angesichts einer solch groben Verletzung gemeinsam wehrt.
Gab es einen Grund dafür, den Kollegen Pofalla einer
- vielleicht tendenziösen - Strafverfolgung auszusetzen?
Er hat sich im Auftrag der Unionsfraktion bei der Klärung
der so genannten Hausbauaffäre des ehemaligen Staatsministers Bodo Hombach engagiert. Er befasste sich mit
den Ungereimtheiten bei Hombachs Tätigkeit als SPDLandesgeschäftsführer in Nordrhein-Westfalen. Es kam
zu einer Kleinen Anfrage und zur Befragung des Bundeskanzlers durch den Kollegen Pofalla in einer für den Bundeskanzler außerordentlich unangenehmen Weise. Sie
können natürlich sagen, diese Untersuchung habe keine
Ergebnisse gebracht. Aber schließlich hat sie dazu geführt, dass der Bundeskanzler seinen - so seine
eigenen Worte - „besten Mann“ auf den Balkan befördert
hat.
Lassen Sie uns auf das Immunitätsverfahren zu sprechen kommen. Selbstverständlich ist der Bundestag in
Fällen von Immunitätsaufhebungen von einer angemessenen Kooperation mit denjenigen Einrichtungen abhängig,
die für die Rechtspflege zuständig sind. Das sind vor allem Einrichtungen der Länder wie die Staatsanwaltschaften und die Gerichte.
Damit der Bundestag interessengerecht die Genehmigung einer Immunitätsaufhebung nach Art. 46 des Grundgesetzes beschließen kann, muss sich sowohl der Bundestag als auch die betroffene Fraktion darauf verlassen
können, dass die zuständigen Behörden und Gerichte die
Wertungen des Grundgesetzes respektieren und durch
sachgemäße Vorarbeit und Anträge dazu beitragen, dass
der Bundestag sein Recht wahrnehmen und seine Pflicht
gegenüber den Abgeordneten und den parlamentarischen
Gliederungen erfüllen kann. Es besteht die verfassungsrechtlich niedergelegte Erwartung einer Kooperation zwischen den Ländern und dem Bund.
({5})
Dieses Kooperationsverhältnis wird zusätzlich verstärkt
durch die in unserer Verfassung angelegte Pflicht der Länder zu rechtmäßigem Handeln und zu vertrauensvoller
Zusammenarbeit mit den Organen des Bundes.
Aus beiden resultiert eine besondere Sorgfaltspflicht
der Länder bei der Antragstellung zur Aufhebung der Immunität eines Mitgliedes des Deutschen Bundestages.
Dies muss so sein, weil geschäftsordnungsmäßig allein
auf der Grundlage der Anträge der Strafverfolgungsbehörden entschieden wird. Das ist auch richtig so; denn
nach dem Prinzip der Gewaltenteilung und gemäß unserer Geschäftsordnung treten wir weder im Ausschuss
noch im Plenum in eine eigene Beweiswürdigung oder
gar in eine eigene Ermittlungstätigkeit ein. Das wäre auch
gar nicht zu leisten. Sollen wir etwa eine eigene Ermittlungsbehörde für eine eventuell notwendige Ermittlungsarbeit in Berlin vorhalten? Soll sich der Bundestag richterliche Gewalt anmaßen? Sollen wir das Prinzip der
Gewaltenteilung sowohl in horizontaler als auch in vertikaler Hinsicht durchbrechen? Nein, um all das zu vermeiden, sind wir auf die vertrauensvolle Zusammenarbeit und
die Einhaltung der rechtsstaatlichen Maßstäbe durch die
Länder angewiesen.
({6})
Was sich in Nordrhein-Westfalen ereignet hat, darf sich
nicht wiederholen, weder in Nordrhein-Westfalen noch in
einem anderen Bundesland. Es könnte jeden von uns treffen. Deshalb hat der Bundestag die Pflicht, alles zu unternehmen, um einem solchen Rechtsmissbrauch für die Zukunft einen Riegel vorzuschieben. Wir brauchen die
verfassungsgerichtliche Festlegung der Sorgfaltspflichten
der Länder im Immunitätsverfahren. Das kann nur in einem Bund-Länder-Streit überprüft werden.
Für ein solches Verfahren ist nach dem Wortlaut des
Bundesverfassungsgerichtsgesetzes allein die Bundesregierung antragsberechtigt. Dazu soll sie mit unserem Antrag aufgefordert werden. Diese Exklusivität der alleinigen Antragsberechtigung der Bundesregierung beruht
wohl auf dem irrtümlichen Eindruck der Grundgesetzautoren bzw. der Gesetzgebung im Rahmen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes, es handle sich beim BundLänder-Streit immer nur um einen Streit auf dem Gebiet
der Exekutive. Das Immunitätsrecht und unser Fall sind
aber der beste Beweis dafür, dass dem nicht so ist.
Wenn man es nun dabei belässt, dass nur die Bundesregierung für den Bund das Verfahren einleiten kann,
dann ist sie jedenfalls in ihrer Disposition nicht frei, das
Verfahren zu unterlassen, wenn sie als Rechte des Bundes
Rechte anderer Verfassungsorgane oder -organteile geltend machen muss. Sie hat eine treuhänderische Pflicht,
den Streit für den Bundestag verfassungsgerichtlich
klären zu lassen. Gegen diese Verfassungsorgantreue verstößt die Bundesregierung, wenn sie die Klage nicht einreicht. Die Bundesregierung kann über die Stellung des
verfahrenseinleitenden Antrages somit nicht mehr frei
disponieren. Diese Pflicht intensiviert sich noch dadurch,
dass die Bundesregierung am Zustandekommen der
Rechtsverletzung beteiligt war, da die beanstandeten Anträge der Staatsanwaltschaft über den Dienstweg auch
über das Bundesministerium der Justiz an den Deutschen Bundestag gelangt sind.
Ich möchte das gesamte Haus ausdrücklich auffordern,
unserer Argumentation zu folgen und unserem Antrag zuzustimmen. Es wäre das Ende des Immunitätsverfahrens,
wenn wir im Ausschuss und im Plenum nach parteipolitischen Gesichtspunkten entscheiden würden. Am Erhalt
des Immunitätsrechts und seiner Funktion muss das gesamte Parlament ein starkes parteiübergreifendes Interesse haben.
({7})
Es geht auch nicht darum, ob die Bundesregierung die
vom Deutschen Bundestag bzw. der CDU/CSU-Fraktion
vorgetragene Rechtsauffassung teilt oder nicht; denn sie
stellt den Antrag für den als solchen nicht prozessfähigen
Bund. Es geht um Rechte des Bundestages und nicht um
eine möglicherweise andere Rechtsauffassung der Bundesregierung. Ihre Ansicht müsste die Bundesregierung
vor Gericht loyal zurückstellen. Der Streit besteht zwischen dem Bund und dem Land, nicht zwischen der Bundesregierung und der Landesregierung. Dieser Streit bedarf der Klärung.
Aus der überparteilichen Gemeinsamkeit im Bundestag muss auch die überparteiliche Empörung über die
eklatanten Rechtsverletzungen erwachsen.
({8})
Es besteht schließlich ein überparteiliches Interesse, Kritik zu üben und die Sorgfaltspflichtverletzungen zu
klären.
Dies muss verfassungsgerichtlich geschehen; denn es
geht nicht um einen strafrechtlichen, zivilrechtlichen oder
verwaltungsrechtlichen Streit. Insofern geht die Argumentation der Bundesregierung fehl, Rechtsbeziehungen
zwischen dem Bund und dem antragstellenden Land in
einer Immunitätssache seien nicht dem Verfassungsrecht
zuzuordnen. Eine solche Argumentation ist schlicht abwegig. Wir brauchen eine verfassungsgerichtliche Klärung, weil auch Richter des Landes Nordrhein-Westfalen
an dem Verfahren beteiligt waren.
Ich möchte Sie daher nochmals auffordern: Stimmen
Sie unserem Antrag zu! Sorgen Sie für eine verfassungsgerichtliche Klärung dieses Vorganges! In vielen Sonntagsreden wird die Gemeinsamkeit der Demokraten beschworen. Halten wir uns daran, auch wenn heute
Donnerstag ist.
({9})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Erika Simm.
Sehr verehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr von Klaeden, wir
werden dem Antrag Ihrer Fraktion nicht zustimmen.
({0})
Wir werden aus rechtlichen, prozessualen Gründen nicht
zustimmen,
({1})
vor allem aber aus Erwägungen, die mit dem Selbstverständnis
({2})
des Parlaments auch in seiner Beziehung zum Bundesverfassungsgericht zu tun haben.
Der Antrag suggeriert, das Bundesverfassungsgericht
müsse eingeschaltet werden, um die Sorgfaltspflichten
eines Landes festlegen zu lassen, die dieses in Verbindung
mit der Aufhebung der Immunität eines Abgeordneten zu
beachten hat.
({3})
Bei dem Klageweg, den die CDU/CSU hierzu beschreiten will, sehe ich erhebliche Rechtsprobleme.
({4})
- Sie haben doch gar nicht zugehört. Woher wollen Sie
denn schon wissen, dass es unglaublich ist?
Ein so genannter Bund-Länder-Streit muss sich auf ein
verfassungsrechtliches Verhältnis beziehen. Es darf nicht
nur um die Anwendung des so genannten einfachen
Rechts gehen.
Hier beim Verfahren Pofalla aber geht es darum, ob die
Strafprozessordnung richtig angewandt wurde, ob gegen
ihn ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden durfte
und ob Wohn- und Büroräume sowie Banken durchsucht
werden durften. Die Staatsanwaltschaft vor Ort hat beides
bejaht. Sie ist hierin auch vom zuständigen Amtsgericht
bestätigt worden. Es hat die geplanten Durchsuchungen
und Beschlagnahmen für zulässig erklärt. Diese gerichtliche Entscheidung sollte man nicht übersehen. Sie war
auch für uns wichtig. Ich komme noch darauf zurück.
Durch einen Beschluss des Landgerichts Kleve hat der
Vorgang eine andere Wendung genommen. Dieses hat im
Nachhinein die Durchsuchungen für rechtswidrig erklärt
und festgestellt, die strafprozessualen Voraussetzungen
für den Erlass des Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlusses hätten nicht vorgelegen.
({5})
Wir bewegen uns folglich immer auf der Ebene der
Strafprozessordnung, also des einfachen Rechts, und
nicht des Verfassungsrechts, wie es für die Zulässigkeit
des beabsichtigten Klageverfahrens notwendig wäre.
Auch was die Beachtung des Immunitätsgrundsatzes
angeht, braucht man nicht nach Karlsruhe zu gehen.
({6})
Ich sehe dafür auch mit Blick auf die persönliche Betroffenheit des Kollegen Pofalla keinen Bedarf. Auf seine Beschwerde hat das Landgericht Kleve die Durchsuchungen
als rechtswidrig bezeichnet, die Staatsanwaltschaft hat
das Ermittlungsverfahren offiziell eingestellt und der Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen hat sich beim
Kollegen Pofalla ausdrücklich und öffentlich entschuldigt.
({7})
Herr Pofalla ist also in einem guten Sinne rehabilitiert
worden.
({8})
Wo da noch ein Rechtsschutzinteresse für eine Klage
vor dem Bundesverfassungsgericht ist, vermag ich nicht
zu erkennen.
({9})
Die CDU/CSU-Fraktion möchte die Sorgfaltspflichten eines Landes, konkret: einer Staatsanwaltschaft durch das
Bundesverfassungsgericht geklärt wissen.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lammert?
Nein. Bei dieser Stimmung gehe
ich davon aus, dass ich eine sachliche Frage nicht zu erwarten habe.
({0})
Die CDU/CSU-Fraktion möchte die Sorgfaltspflichten
eines Landes, konkret also einer Staatsanwaltschaft durch
das Bundesverfassungsgericht geklärt wissen,
({1})
auch um für die Zukunft - so sagt sie jedenfalls - insoweit
klare Verhältnisse zu schaffen.
Aber brauchen wir dafür das Bundesverfassungsgericht? Als Parlament sind wir sehr sensibel - jedenfalls
sollten wir es sein -, wenn sich ein anderes Verfassungsorgan
({2})
- Sie lachen immer zu früh -, eine Behörde oder ein Gericht mit Angelegenheiten des Deutschen Bundestages
befasst. Nach unserem Selbstverständnis sehen wir uns
durchaus in der Lage, unsere Angelegenheiten selbst zu
regeln. Das gilt auch für den hier streitigen Vorgang, und
zwar innerparlamentarisch für die Immunität und unsere
diesbezüglichen Verfahren, aber auch für das Vorfeld, also
die Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden.
({3})
Unser Immunitätsrecht und die von uns dafür festgelegten Regeln liefern keineswegs das einzelne Mitglied
des Bundestages quasi schutzlos den Attacken einer
Staatsanwaltschaft aus.
({4})
Das sage ich gerade auch für die Kollegen unter uns, die
nicht dem Immunitätsausschuss angehören und möglicherweise aufgrund von Äußerungen einzelner Kollegen
aus der Union in den letzten Monaten den Eindruck gewinnen mussten, sie würden gegenüber einer unberechtigten Durchsuchung und den daraus resultierenden negativen Folgen nicht ausreichend geschützt.
Die durch Art. 46 des Grundgesetzes gewährleistete
Immunität des Abgeordneten ist auch in Zeiten eines
gefestigten Rechtsstaates keineswegs ein Anachronismus,
sondern hat ihre Berechtigung. Gleich, worin man heute
ihre Schutzfunktion sieht, ob im Schutz vor tendenziöser
Verfolgung durch die Exekutive oder in der Sicherstellung der Funktionsfähigkeit des Parlamentes oder im
Schutz des Ansehens und der Würde des Bundestages jedes dieser Schutzziele richtet sich an eine andere Staatsgewalt und veranlasst sie zu einem sorgsamen Umgang
mit den Belangen des Parlaments und seiner Mitglieder.
Diese Schutzfunktion wird durch unsere einschlägigen
geschäftsordnungsrechtlichen Regelungen und die ständige Praxis des Immunitätsausschusses durchaus gewahrt.
Allerdings ist es auch seit vielen Jahren Konsens unter
den Abgeordneten des Deutschen Bundestages, dass Sinn
und Zweck der Immunität nicht sein kann, zu verhindern,
dass Abgeordnete strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können. Wir beanspruchen nach unserem demokratischen Selbstbewusstsein und Selbstverständnis
keine Privilegierung gegenüber dem so genannten normalen Bürger.
({5})
Wir, das heißt der Immunitätsausschuss, schauen uns
aber die Vorgänge schon genau an.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Bachmaier?
Ich bat gerade darum, keine Zwischenfrage zuzulassen. - Es gibt keinen Automatismus
und kein Abnicken der staatsanwaltschaftlichen Anträge
ohne eigene Prüfungsmöglichkeit.
Erlauben Sie mir, kurz unsere beiden wesentlichen
Verfahren zum Beleg dafür darzustellen, dass wir keineswegs das willenlose Werkzeug der Strafverfolgungsbehörden sind, als das wir im Antrag der
CDU/CSU dargestellt werden.
({0})
Zu Beginn einer neuen Wahlperiode genehmigt das
Plenum generell die Durchführung von Ermittlungsverfahren mit Ausnahme solcher, die den Tatbestand der politischen Beleidigung betreffen. 48 Stunden, nachdem die
Staatsanwaltschaft dem Bundestagspräsidenten mitgeteilt
hat, dass sie gegen einen Abgeordneten ein Ermittlungsverfahren einzuleiten beabsichtigt, wird diese generelle
Genehmigung wirksam. Dieses Verfahren, das bereits in
der 5. Wahlperiode festgelegt wurde, schützt den Bundestag und das betroffene Mitglied in einem Stadium des Ermittlungsverfahrens vor negativer Publizität,
({1})
wo noch nicht feststeht, ob es überhaupt zu einer Anklage
kommen wird.
({2})
Der Ausschuss befasst sich in diesen Fällen stets mit
der Mitteilung der Staatsanwaltschaft. Wir treten zwar
nicht in eine eigene Beweiswürdigung ein, lassen uns
keine Akten vorlegen und vernehmen auch nicht etwa selber Zeugen, aber wir prüfen, ob die Mitteilung der Staatsanwaltschaft in sich plausibel und rechtlich nachvollziehbar ist.
({3})
Ergeben sich dabei Zweifel, so gibt es Rückfragen, werden Berichte erbeten oder auch Vertreter der zuständigen
Strafverfolgungsbehörden zur Erörterung der Zweifelsfragen in den Ausschuss gebeten. Die anwesenden Kollegen aus dem Immunitätsausschuss - auch hier sitzen welche - werden sich erinnern, dass wir in mehreren Fällen
so verfahren sind. Wir nehmen dabei auch Fürsorgepflichten unseren Kollegen gegenüber wahr.
({4})
- Wenn Sie das in Zweifel ziehen, dann tun Sie das auch
gegenüber Ihren eigenen Kollegen!
Nach der Verfassung haben wir außerdem die ausdrückliche Befugnis, die Immunität eines Abgeordneten
wieder herzustellen, wenn wir Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Ermittlungsverfahrens haben. In der letzten Legislaturperiode haben wir von dieser Möglichkeit
einmal Gebrauch gemacht; Sie wissen, um welches Verfahren es sich handelt.
Neben dieser generellen Genehmigung zur Durchführung von Ermittlungsverfahren bedarf die Erhebung
der Anklage oder zum Beispiel eine Durchsuchung der
ausdrücklichen Genehmigung des Deutschen Bundestages. Auch in diesem Fall läuft ein Antrag der Staatsanwaltschaft natürlich nicht ungeprüft durch. So ist es seit
Jahren ständige Praxis des Immunitätsausschusses, dass
eine Durchsuchung erst und nur dann genehmigt wird,
wenn ein richterlicher Durchsuchungsbeschluss vorliegt;
das heißt, der Staatsanwalt muss sein Durchsuchungsbegehren vom Richter prüfen und genehmigen lassen.
So geschah es auch im Verfahren gegenüber dem Kollegen Pofalla. Der Immunitätsausschuss hat sich bei seiner Entscheidung auf einen zu diesem Zeitpunkt vorliegenden gültigen Gerichtsbeschluss gestützt. Eine
eventuell drohende Verjährung spielte für den Immunitätsausschuss dabei keine Rolle.
({5})
Insbesondere ist er nicht durch unzutreffende diesbezügliche Angaben zu einer übereilten Entscheidung veranlasst worden.
Dass die Durchsuchung drei Tage vor der Landtagswahl anstand
({6})
und dass der Kollege Pofalla für ein Ministeramt in Düsseldorf vorgesehen war, wussten die Kollegen im Ausschuss. Dieser Aspekt ist durchaus abgewogen worden;
dennoch wurde die Genehmigung der beantragten Durchsuchungen und Beschlagnahmen durch einstimmigen Beschluss des Ausschusses empfohlen.
({7})
Dieses Parlament hat den Schutz der Immunität stets
als eigene Angelegenheit und Aufgabe verstanden. Es hat
im breiten Konsens zwischen den Parteien Regeln für das
Immunitätsverfahren beschlossen. Es liegt durchaus in
der Macht und der Zuständigkeit des Parlaments, im
Lichte neuer Erfahrungen die bisherigen Grundsätze in
Immunitätsangelegenheiten zu überdenken und erforderlichenfalls auch zu ändern.
({8})
In diesem Fall könnten wir selbstverständlich auch die
staatsanwaltlichen Ermittlungen und die Anträge - ({9})
- Ich weiß nicht, was für eine Referendarausbildung Sie
hatten.
({10})
Das können nur Sie wissen.
Wir können in diesem Fall natürlich auch selbst die an
staatsanwaltschaftliche Mitteilungen und Anträge zu stellenden Anforderungen neu bestimmen und eingehendere
Prüfungen festlegen. Ob wir mit diesem Schritt gut beraten wären, das lasse ich dahingestellt.
Der Antrag der CDU/CSU gibt den Anspruch, eigene
Angelegenheiten selbst zu regeln, ohne Not auf. Es besteht der Verdacht, dass es sich dabei um eine vorderErika Simm
gründige, parteipolitischen Zwecken dienende Initiative
handelt. Der Zeitpunkt der Antragstellung spricht dafür.
Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass das Immunitätsrecht ein Recht des ganzen Parlaments ist.
({11})
Es muss - bisher war das Konsens - in Zusammenarbeit
aller Fraktionen behandelt und erforderlichenfalls weiterentwickelt werden.
({12})
Ich bitte Sie dringlich, zu diesen Grundsätzen zurückzufinden. Das läge im Interesse des ganzen Hauses.
({13})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Lammert das Wort.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das, was die Kollegin
Simm gerade offenkundig nicht nur als persönliche Meinung, sondern auch als Auffassung der SPD-Fraktion
vorgetragen hat, gehört für mich als langjährigem Mitglied im Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zu den deprimierendsten Erfahrungen, die ich in 20 Jahren
Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag gemacht habe.
({0})
- Im Unterschied zu manchen anderen Kollegen bin ich
über viele Jahre hinweg mit manchen Immunitätsverfahren befasst gewesen.
({1})
Ich bilde mir ein, zu wissen, wovon ich spreche.
Es wäre vielleicht stilsicherer gewesen, wenn die SPDFraktion nicht eine Rednerin benannt hätte, die in der gleichen Sache als Berichterstatterin tätig und deswegen
möglicherweise auch befangen war.
({2})
Ich bin im Übrigen zu dieser Debatte nicht mit der Absicht gekommen, mich zu Wort zu melden. Ganz im Gegenteil! Aber ich bin fassungslos
({3})
angesichts des Hinweises, es gehe beim Immunitätsrecht
im Allgemeinen oder gar bei dem konkreten Fall, über den
wir hier sprechen, nicht um eine Privilegierung von Abgeordneten. Größere Selbstverständlichkeiten brauchen
in dieser Debatte sowohl unter rechtlicher als auch unter
politischer Würdigung ganz gewiss nicht mehr vorgetragen zu werden. Worum es hier angesichts der ständigen
Erfahrung, die wir mit dem Immunitätsrecht haben, geht,
ist doch ganz gewiss nicht eine Privilegierung von Abgeordneten. Denn allein schon die Notwendigkeit der Aufhebung der Immunität führt regelmäßig zu öffentlicher
Aufmerksamkeit, die so gut wie nie - völlig gleichgültig,
wie das Verfahren am Ende ausgeht - eine freundliche,
positive Berichterstattung zugunsten des betroffenen Abgeordneten bewirkt.
({4})
Es geht für mich um etwas völlig anderes; Frau Justizministerin, ich will Sie in diesem Zusammenhang ausdrücklich ansprechen.
({5})
Wenn ein, wie nun von ordentlichen Gerichten festgestellt, „rechtswidriges“ Vorgehen gegen ein Mitglied des
Deutschen Bundestages in dieser Weise möglich ist, dann
hätte ich von Ihnen, Frau Justizministerin, gerne die Frage
beantwortet, wie Sie ausschließen wollen, dass irgendeinem unbescholtenen, nicht prominenten und nicht mit öffentlichen Mandaten ausgestatteten Bürger dieses Landes
morgen und übermorgen Ähnliches passiert.
({6})
Ich erwarte in dieser Debatte seitens der Bundesregierung - denn das ist vonseiten der SPD-Fraktion nach dem
soeben Vorgetragenen offenkundig nicht zu erwarten eine Antwort auf zwei konkrete Fragen: Erstens. Wollen
Sie vor dem Hintergrund des Verfahrens, über das wir hier
verhandeln, ernsthaft die Behauptung aufrechterhalten,
die geltenden Regeln unseres Immunitätsrechts schützten
wirkungsvoll vor negativer Publizität? Zweitens. Wenn
Sie, wenn ich richtig verstanden habe, dem Antrag der
CDU/CSU-Fraktion aus rechtlichen Gründen nicht zustimmen wollen, auf welche andere Weise, bitte schön,
wollen Sie dann in Zukunft ausschließen, dass in ähnlicher Weise rechtswidrig gegen Mitglieder des Bundestages und anderer Körperschaften oder gegen nicht mit öffentlichen Mandaten ausgestattete Bürgerinnen und
Bürger dieses Landes vorgegangen wird?
({7})
Da ich erst seit dieser Legislaturperiode Vorsitzende dieses Ausschusses bin, kann ich zu
Ihrer Behauptung, Sie seien seit zehn Jahren Mitglied des
Immunitätsausschusses, wenig sagen.
({0})
Ich habe Sie allerdings nicht regelmäßig im Immunitätsausschuss gesehen. Aber das ist ja nicht das Entscheidende.
Ich möchte noch einmal auf Folgendes hinweisen:
Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Immunitätsausschusses lag ein rechtsgültiger amtsgerichtlicher Beschluss vor, der die Durchsuchungen und Beschlagnahmungen für zulässig erklärt hat.
({1})
- Entschuldigung, Sie selbst wissen - auch Herr von
Klaeden hat darauf hingewiesen - wir sind kein oberes
Gericht. Dafür gibt es Instanzenwege der Gerichte.
({2})
Unsere Sache ist es nicht, richterliche Beschlüsse auf ihre
Richtigkeit zu überprüfen.
({3})
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass alle
Beschlüsse einstimmig gefasst wurden. Wenn Sie also das
Verfahren und die Anwendung des Verfahrens, das wir
über viele Jahre praktizieren, angreifen, greifen Sie auch
Ihre eigenen Kollegen im Immunitätsausschuss an.
({4})
Des Weiteren habe ich versucht, zu erklären, dass wir
rechtlich in der Lage und auch verpflichtet sind, unsere eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln. Wenn Sie ein Bedürfnis dafür sehen, an den bestehenden Regeln etwas zu
ändern, dann ist es Ihnen völlig unbenommen, entsprechende Anträge im Immunitätsausschuss einzubringen.
Einen solchen Antrag von der CDU/CSU haben wir bis
heute nicht gesehen.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Rainer Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die F.D.P. wird dem Antrag der
CDU/CSU-Fraktion zustimmen.
({0})
Dem Kollegen Pofalla ist in gravierender Weise Unrecht
geschehen.
({1})
Mir ist klar, dass das Immunitätsrecht nicht dem Schutz des
Abgeordneten - auch nicht dem des Kollegen Pofalla dient, sondern dem Schutz der Arbeitsfähigkeit dieses
Hohen Hauses. Trotzdem kann nicht hingenommen werden, dass aus offensichtlich politischen Gründen versucht
wurde, einem Kollegen dieses Hauses zu schaden, und
zwar nicht nur in seinem politischen Leben, sondern auch
in seiner gesamten bürgerlichen Existenz.
({2})
Natürlich weiß ich, dass in einem Wahlkampf mit harten Bandagen gekämpft wird. Das wird in den letzten Tagen eines Wahlkampfes immer so sein. Aber dass man
versucht, einen Kollegen niederzumachen, ihm in seiner
bürgerlichen Existenz zu schaden, ist wohl einmalig.
({3})
Ich empfinde es als einen Skandal, dass auf der Bundesratsbank kein Vertreter des Landes sitzt, das dafür verantwortlich ist.
({4})
Diesem Kollegen, der jetzt nicht anwesend ist, müsste
man sagen, dass wir keine politische Justiz wollen. Dies
war politische Justiz!
({5})
Der Kollege Pofalla ist mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft und den zugrunde liegenden Ermittlungsverfahren völlig überraschend konfrontiert worden, ohne
dass ihm die Chance eines rechtlichen Gehörs gegeben
worden wäre. Hinzu kommt, dass die rechtlichen Erwägungen hinsichtlich eines möglichen Verjährungseintritts
völlig abwegig gewesen sind. Das hätte man auch im Immunitätsausschuss erkennen können.
({6})
Eine Eilbedürftigkeit war unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt gegeben.
({7})
Der Deutsche Bundestag ist insofern selbst betroffen,
weil jeden von uns ein solch überraschendes Vorgehen
treffen könnte, ohne dass wir jemals mit Gesetzen in Konflikt geraten wären. Auch aus diesem Grund muss der
Bundestag ein Zeichen setzen, dass ohne Gewähr des
rechtlichen Gehörs keine Aufhebung der Immunität erfolgen darf. Rechte, die jeder Bürger hat, nämlich auf
rechtliches Gehör, müssen auch für Bundestagsabgeordnete gelten.
({8})
Mir ist bewusst, dass es vielerlei rechtliche Möglichkeiten gibt, um die Rechtswidrigkeit des Verfahrens festzustellen. Vor dem Landgericht Kleve ist dies bereits geschehen. Sicherlich gibt es auch noch andere Wege, um
zum Bundesverfassungsgericht zu kommen, aber wegen
dieser gravierenden Angriffe auf die Rechte und die Ehre
des Kollegen Pofalla sollten alle rechtlichen Wege beschritten werden, die möglich sind. Deswegen stimmen
wir dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion zu.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Steffi Lemke.
({0})
Werte
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir
befassen uns heute mit dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion auf Einleitung einer Verfassungsklage der Bundesregierung gegen das Land Nordrhein-Westfalen in der Sache.
Nach der erfolgten juristischen Prüfung dieses Antrages lehnt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Forderung der CDU/CSU-Fraktion ab. In dem Antrag der
CDU/CSU-Fraktion wird verlangt, die Bundesregierung
möge ein Bund-Länder-Streitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das Land Nordrhein-Westfalen
einleiten. Die Bundesregierung soll nach Ansicht der
CDU/CSU in diesem Verfahren geltend machen, das Land
Nordrhein-Westfalen habe gegen seine verfassungsgemäßen Pflichten gegenüber dem Bund verstoßen,
({0})
indem die Staatsanwaltschaft Kleve den Antrag auf Aufhebung der Immunität des Abgeordneten Ronald Pofalla
sowie den Antrag auf Genehmigung von Durchsuchungsund Beschlagnahmemaßnahmen beim Abgeordneten
Pofalla gestellt habe.
({1})
Was mit dem Antrag verlangt wird, kann nach Auffassung meiner Fraktion eindeutig nicht Gegenstand eines
Bund-Länder-Verfahrens sein. Im Bund-Länder-Streit
verfassungsrechtlicher Art kann nur die Verletzung der
dem Land gegenüber dem Bund aufgrund des Grundgesetzes obliegenden Rechte und Pflichten geltend gemacht
werden. Im vorliegenden Fall handelt es sich jedoch um
eine Verwaltungsmaßnahme der Staatsanwaltschaft eines
Landes. Das verfassungsrechtliche Verhältnis zum Bund
ist nicht berührt.
Verwaltungsmaßnahmen können nicht Gegenstand einer Bund-Länder-Streitigkeit sein, sondern nur Rechte
und Pflichten, die sich unmittelbar aus den Kompetenznormen des Grundgesetzes ergeben. Maßnahmen oder
Unterlassungen innerhalb eines Verwaltungsverfahrens
scheiden aus. - So weit die Erläuterung, warum wir den
vorliegenden Antrag der CDU/CSU-Fraktion nicht unterstützen.
Es macht nach unserer Ansicht keinen Sinn, auf die Zuständigkeit der Bundesregierung abzuheben oder einen
Bund-Länder-Streit aufzubauen. Damit wird aus meiner
Sicht von dem tatsächlichen Fehlverhalten sogar eher abgelenkt.
Wir haben im Immunitätsausschuss und auch darüber
hinaus mehrfach die Bereitschaft erklärt, die Vorgänge zu
durchleuchten. Im Immunitätsausschuss ist bereits mehrfach über das Verfahren diskutiert worden. Aber die Behandlung der Immunitätsangelegenheit des Abgeordneten
Pofalla durch den Deutschen Bundestag ist ordentlich und
entsprechend den von uns selbst aufgestellten Regelungen erfolgt.
Ich möchte daran erinnern, dass der Deutsche Bundestag dazu einen einstimmigen Beschluss gefasst hat. Sowohl im Immunitätsausschuss als auch hier im Plenum
des Deutschen Bundestages sind Sie, Herr Abgeordneter
von Klaeden und Herr Abgeordneter von Stetten, am Verfahren beteiligt gewesen und haben dem Verfahren, so wie
es durchgeführt worden ist, zugestimmt.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen von Klaeden?
Nein,
ich gestatte keine Zwischenfrage.
Das heißt, der Beschluss des Immunitätsausschusses
wurde auf der Grundlage gerichtlicher Anordnungen getroffen, die - wie das Landgericht Kleve inzwischen festgestellt hat - rechtswidrig waren. Aber zum damaligen
Zeitpunkt konnten wir keine andere Entscheidung treffen.
Der Deutsche Bundestag tritt in Immunitätsangelegenheiten in keine eigene Beweiswürdigung ein.
({0})
Von daher ist es ein Problem, dass der Abgeordnete
Lammert heute versucht hat, das Immunitätsverfahren im
Deutschen Bundestag, das von allen Fraktionen gemeinsam getragen worden ist, selber in Zweifel zu ziehen.
Herr Abgeordneter von Stetten und Herr Abgeordneter
von Klaeden, Sie wissen, dass die Eilbedürftigkeit bei unserer Entscheidung im Immunitätsausschuss keine Rolle
gespielt hat und dass wir die Tatsache, dass die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen kurz bevorsteht, in unserer
Diskussion sehr wohl gewürdigt haben. Wir haben genau
darüber diskutiert und trotzdem einen einstimmigen Beschluss mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion gefasst.
Wäre das Immunitätsverfahren im Sinne unserer eigenen Regelungen nicht ordentlich verlaufen, hätte mit Sicherheit nicht nur die CDU/CSU-Fraktion Widerspruch
eingelegt. Ich denke, dass die Vorgänge in NordrheinWestfalen weiterhin der eingehenden Überprüfung bedürfen, um den Abgeordneten Pofalla in den Punkten, in denen ihm Unrecht geschehen ist, zu rehabilitieren und um
das Immunitätsrecht der Abgeordneten des Deutschen
Bundestages gewährleisten zu können.
Die Konstruktion einer nicht gegebenen Bund-LänderStreitigkeit halte ich allerdings für den falschen Weg. Der
Abgeordnete von Klaeden wies selber darauf hin, dass
man mit dem von ihm vorgeschlagenen Verfahren juristisches Neuland betreten würde. Ich möchte, dass wir diesen Vorgang ernsthaft aufarbeiten, und würde deshalb
vorschlagen, dies in den zuständigen Gremien zu tun und
nicht auf dem Wege, den die CDU/CSU in ihrem Antrag
vorschlägt.
({1})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen von Stetten das Wort.
Ich verstehe nicht, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass die SPD diesen Antrag ablehnt. Es geht nicht darum, was die SPD oder die Vorsitzende des Immunitätsausschusses gemacht haben, sondern es geht darum, was
in Nordrhein-Westfalen schief gelaufen ist.
({0})
Die Vorsitzende des Immunitätsausschusses hat eben
gesagt, Herrn Pofalla sei Unrecht geschehen und das, was
uns von Nordrhein-Westfalen vorgetragen worden sei, sei
rechtswidrig gewesen.
({1})
- Ich dachte, Sie hätten es bewertet. Es wäre aber schon
gut gewesen, wenn Sie es für eigene Zwecke gebraucht
hätten.
Ich glaube, es ist nicht in Ordnung, dass die SPD so tut,
als stellten wir über die Behandlung durch die SPD einen
Antrag; wir stellen einen Antrag, das Verfassungsgericht
solle sich mit etwas befassen, was in Nordrhein-Westfalen
schief gelaufen ist. Dort ist vieles schief gelaufen und
nicht umsonst sind mehrere Leute ihrer Ämter enthoben
worden. Es wäre gut gewesen, wenn auch der Justizminister zurückgetreten wäre. Auf diese Weise hätte er politische Verantwortung übernommen.
({2})
Unabhängig davon ist vielleicht das eine oder andere
im Immunitätsausschuss des Deutschen Bundestages
schief gelaufen. Wir sind schlichtweg darüber getäuscht
worden, was in Nordrhein-Westfalen ermittelt und uns
vorgelegt wurde. Die besondere Eilbedürftigkeit wurde
wegen der angeblich drohenden Verjährung bejaht; das
war mit ein Grund, warum die Sache vor der Wahl und
nicht hinterher entschieden wurde. Auch das war eine
Täuschung und darüber sollte das Bundesverfassungsgericht urteilen. Nichts anderes verlangen wir.
Sie täten gut daran, diesem Antrag zuzustimmen.
({3})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Sabine Jünger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir debattieren heute über die Konsequenzen der unberechtigten Aufhebung der Immunität
des Kollegen Pofalla. Aber - das will ich deutlich sagen ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es in
Wahrheit auch um etwas anderes geht. Es scheint nicht
nur mir so, als ginge es in erster Linie um die Vorführung
der nordrhein-westfälischen Justiz.
({0})
Ich kann mich auch des Eindrucks nicht erwehren, dass
das Parlament für parteipolitische Interessen instrumentalisiert werden soll.
Wenn die CDU/CSU-Fraktion in dieser Angelegenheit
meint, das Bundesverfassungsgericht bemühen zu müssen, muss ich fragen: Warum haben Sie dann nicht selbst
die Initiative ergriffen?
({1})
Seitdem nunmehr klar ist, dass die Bundesregierung gegen das Land Nordrhein-Westfalen keine Klage einleiten
will und ein Fristablauf droht, geht die CDU/CSU-Fraktion selbst nach Karlsruhe.
({2})
Das hätten Sie auch gleich tun können. Seit gestern soll
die Bundesregierung durch ein Eilverfahren gezwungen
werden, ein Bund-Länder-Streitverfahren gegen das Land
Nordrhein-Westfalen zu führen.
Eckart von Klaeden meinte auch heute wieder, die Einzigartigkeit dieses Vorganges sei der Grund für den Antrag seiner Fraktion. Aber es kann doch nicht darum gehen, eine Einzigartigkeit mit einer Einmaligkeit zu
beantworten; denn einmalig wäre es schon, wenn die Bundesregierung gegen das Land Nordrhein-Westfalen klagen würde. Auch ich habe ernsthafte Zweifel, ob ein
Bund-Länder-Streit der richtige Weg ist.
Die Immunität - darüber sind wir uns wohl alle
einig - ist ein sehr hohes Gut. Die Verletzung dieser
Schutzvorschrift durch einen rechtswidrigen Akt ist alles
andere als ein Kavaliersdelikt. Bekanntlich wurden deswegen in Nordrhein-Westfalen personelle Konsequenzen
gezogen und der nordrhein-westfälische Justizminister
hat sich entschuldigt. Nein, die Sache ist damit nicht aus
der Welt. Weitere sachliche Konsequenzen sind notwendig, um in Zukunft solche Fehlentscheidungen wie im Fall
Pofalla auszuschließen.
({3})
Nicht zuletzt deshalb wird der Immunitätsausschuss des
Bundestages aktiv werden müssen.
So sehr der Kollege Pofalla in seiner verfassungsrechtlichen Stellung betroffen ist und der Streit um die Aufhebung der Immunität eine verfassungsrechtliche Dimension hat, so wenig sehe ich die Ursachen für diesen Vorfall
im Verfassungsrecht und in dem Bedarf an einer verfassungsgerichtlichen Klärung. Die Verbesserung des Immunitätsverfahrens scheint eher das Problem zu sein, nicht
die Vorführung eines SPD-Justizministers. Auch deshalb
lehnen wir den vorliegenden Antrag ab.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der CDU/CSU auf Erhebung einer Verfassungsklage der Bundesregierung gegen das Land NordrheinWestfalen, Drucksache 14/4244. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist
mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen
und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und
F.D.P. abgelehnt.
({0})
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Jörg van Essen,
Hildebrecht Braun ({1}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Grundgesetzes ({2})
- Drucksache 14/4127 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Hermann Otto Solms, Jörg van Essen,
Hildebrecht Braun ({4}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten
Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des
Abgeordnetengesetzes
- Drucksache 14/4128 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich die Kolleginnen und Kollegen, die den weiteren Beratungen im
Plenum nicht folgen möchten, bitten, den Saal - nach
Möglichkeit - zügig zu verlassen. - Es wäre sicherlich angemessen, der Diätendebatte nicht im Stehen, sondern im
Sitzen zu folgen. Ich bitte also die Kolleginnen und Kollegen, die der Debatte folgen möchten, Platz zu nehmen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort für die
F.D.P.-Fraktion dem Kollegen Dr. Hermann Otto Solms.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das, was wir jetzt zur
Debatte stellen, dient nicht der streitigen Auseinandersetzung in diesem Hause, sondern ist der Versuch, Einvernehmen über ein Thema zu erzielen, welches uns seit vielen Jahren belastet. Sie alle wissen, dass es schwierig ist,
jährlich über die Erhöhung der Diäten zu reden, weil in
der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, dass das Parlament über seine eigenen Einkünfte entscheidet und dass
es deswegen um Selbstbedienung geht.
Seit wir uns zum ersten Mal mit diesem Thema vor
23 Jahren befasst haben - das war 1977, als die Diätenreform in Kraft gesetzt wurde -, erleben wir jedes Jahr das
gleiche Phänomen: Es gibt erhebliche Vorbehalte gegen
eine offene Diskussion über eine angemessene Anhebung
der Entschädigung der Abgeordneten, weil eine solche
Diskussion insbesondere von den kritischen Betrachtungen der Boulevardpresse automatisch begleitet werde und
weil dabei niemand politische Erfolge erzielen könne.
Deswegen haben wir uns Gedanken gemacht, wie man
dieses für das Parlament insgesamt und für uns alle
schwierige Verfahren ändern könne in einer Form, die
dies ohne eine negative öffentliche Wirkung gestalten
lässt.
In diesen 23 Jahren ist es elfmal nicht zu Diätenerhöhungen gekommen, obwohl das angemessen gewesen
wäre. Warum? Weil es aufgrund der öffentlichen negativen Wirkung nicht den Mut dazu gegeben hat. Es hat vier
Kommissionen gegeben, die Vorschläge gemacht haben.
Diese Vorschläge sind nicht berücksichtigt worden.
Schließlich hat es im Jahre 1997 im Parlament einen Beschluss mit dem Ergebnis einer stufenweisen Anpassung
und einer Angleichung der Diäten etwa an das Niveau des
Richteramtes R 6 oder an das des Amtes eines kommunalen Wahlbeamten gegeben.
Wie von der F.D.P. vorausgesagt, ist auch dies nicht
umgesetzt worden. Die stufenweise Anpassung ist vielmehr aus den gleichen Gründen - die öffentliche Resonanz - wieder unterbrochen worden. Das wundert mich
auch nicht, weil das Problem auf diese Weise nicht aus der
Welt zu schaffen ist. Wir werden dieses Problem immer
wieder haben.
Auch der Vorschlag, der jetzt von der SPD vorgetragen
wird, nämlich in diesem Jahr eine Erhöhung um 0,6 Prozent vorzunehmen, reicht offenkundig überhaupt nicht
aus. Er wird aber trotzdem vorgetragen, obgleich sich hinter verdeckter Hand die gleichen Abgeordneten, die ihn
unterstützen, wiederum beschweren, dass dies nicht angemessen sei. Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU,
der öffentlich sagt, dies sei nicht angemessen, es müsste
mehr sein, wird gleich wieder entsprechend kritisiert. So
kommen wir aus dem Dilemma nicht heraus.
Ich habe mir seit langem Gedanken gemacht, wie wir
aus diesem Dilemma herauskommen. Dazu hat die F.D.P.
früher den Vorschlag gemacht, den ich heute aber nicht
mehr mache, dass das jeweilige Parlament über die Ausstattung des nachfolgenden Parlaments entscheiden solle.
Da sich aber die wirtschaftliche Entwicklung in vier, fünf
Jahren dramatisch ändern kann, ist das kein zufrieden stellender Vorschlag.
Deswegen machen wir jetzt den Vorschlag, dass eine
unabhängige Kommission, beim Bundespräsidenten eingerichtet, über die Diätenerhöhungen entscheidet, also
nicht nur Vorschläge macht, sondern entscheidet. Wir
müssen dazu die Verfassung ändern, nämlich Art. 48
Abs. 3 ergänzen. Dazu haben wir vorgeschlagen, dort folgenden Satz 2 einzufügen:
Die Höhe der Entschädigung wird von einer unabhängigen, vom Bundespräsidenten einzusetzenden
Sachverständigenkommission festgelegt.
({0})
Es gibt rechtlicherseits Bedenken dahin gehend, dass
dies in den engeren Bereich des demokratischen Prinzips
gehöre und einer verfassungsrechtlichen Änderung nicht
anheim fallen dürfe. Dagegen gibt es wiederum Argumente, die da lauten, dass das bei verfassungssystematischer Betrachtung sehr wohl möglich sei.
Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes dieses
Hauses kommt zu dem Ergebnis, dass eine Änderung
Vizepräsident Rudolf Seiters
möglich sei, wenn das Ganze durch Gesetz definiert
werde, wenn die Kriterien objektiv festgelegt würden und
wenn es nur um die Erhöhung, die Anpassung anhand objektiver Kriterien gehe. Entsprechendes schlagen wir vor.
Das würde uns in die Lage versetzen, in Zukunft Diskussionen zu entgehen und zu einer angemessenen Anpassung zu kommen, ohne dass wir über unser Einkommen
selbst beschließen müssten. Seien wir doch ehrlich: Wir
haben doch alle Vorbehalte und innere Widerstände dagegen, solche Beschlüsse selbst herbeizuführen.
({1})
Ich ganz persönlich sehe tatsächlich gar keine andere
Lösung, als einen solchen Weg zu gehen, weil alles andere
nicht nur zu unangenehmen Diskussionen führt, sondern
tatsächlich zu einer Beschädigung des Ansehens dieses
Hauses, was staatspolitisch genauso gefährlich ist wie die
vorgetragenen Bedenken verfassungsrechtlicher Art.
Deswegen bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den großen Fraktionen, diese Vorschläge nicht
gleich vom Tisch zu wischen. Der Antrag wird ja in die
Ausschüsse überwiesen. Dort können wir konstruktiv
über diese Fragen und insbesondere über ihre politischen
Auswirkungen diskutieren. Wenn es bessere Vorschläge
gibt, bin ich gern bereit, denen zu folgen. Da ich diese
Diskussion jedoch seit mittlerweile 25 Jahren verfolge
und kenne, muss ich sagen, dass ich bislang keinen besseren Vorschlag gesehen habe.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({2})
Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Dr. Uwe Küster.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Die Gesetzentwürfe der
F.D.P. haben das Ziel, das Anpassungsverfahren für die
Abgeordnetenentschädigung aus der unsachlichen
öffentlichen Kritik, die wir manchmal erleben, herauszuhalten. Dieser Absicht stimmen wir ausdrücklich zu. Um
dies zu erreichen - so schlägt die F.D.P. vor -, müsste das
Grundgesetz geändert werden. Die Verfassung gibt uns
gegenwärtig vor, die Höhe der Diäten durch ein Gesetz zu
bestimmen. Diesen Grundsatz hat das Bundesverfassungsgericht vor 25 Jahren eindeutig bestätigt.
Dieses Verfahren hat zur Folge, dass wir in öffentlicher
Sitzung über unser Einkommen selbstständig entscheiden
müssen. Die Verfassungsmütter und -väter wollten damit
Transparenz schaffen. Ich unterstütze ausdrücklich, dass
das Transparenzgebot damals in die Verfassung hineingeschrieben wurde. Doch was geschieht durch dieses Verfahren in der Öffentlichkeit? Was wird von diesem komplexen Verfahren überhaupt veröffentlicht? Was geschieht
in den Köpfen der Bürgerinnen und Bürger?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle wissen um
die Macht der Presse, die zum Teil sehr objektiv über unsere Arbeit, über unseren demokratischen Streit berichtet,
zum Teil aber auch Sensationshascherei betreibt. Ich
möchte gerade diesen schwierigen Akt der Selbstfindung
in der Diätenfrage aus der Sensationshascherei herausholen. Deswegen ist dieser Vorschlag aller Ehre wert.
Der F.D.P.-Entwurf versucht nun, uns als Abgeordneten in Zukunft den Vorwurf der Selbstbedienung zu ersparen. Wir sollen demnächst nicht mehr selbst über die
Abgeordnetenentschädigung entscheiden, sondern dies in
die Hand einer Kommission geben. Das wirft natürlich die
Frage auf: Ist dies rechtlich zulässig? Ist dieses Verfahren
machbar?
Wir sind der Ansicht, dass die von der F.D.P. vorgeschlagene Verfassungsänderung grundsätzlich rechtlich
möglich ist. Diese Ansicht teile ich ausdrücklich. Aus der
Fülle der Elemente des Abgeordnetenrechts könnte die
Höhe der Diäten - und nur diese - aus dem dem Gesetzgeber vorbehaltenen Bereich herausgelöst und in unabhängige Hände gelegt werden.
Ich höre Bedenken der Art, dies verstoße gegen das Demokratieprinzip; auch Sie haben es erwähnt. Andererseits
meine ich, dass der Status des Abgeordneten des Deutschen Bundestages auch nach dem Entwurf der F.D.P.
nach wie vor in seinen wesentlichen Elementen - das ist
nicht nur eine Frage der Diäten - von der Verfassung und
vom Gesetzgeber bestimmt wird und bestimmt bleibt. Die
Diäten sind letztlich nur eine Detailfrage. Auch wenn es
sich um eine wichtige Detailfrage handelt - im Auge des
öffentlichen Beobachters manchmal die einzige Frage -,
so ist sie doch in einen angemessenen Gesamtzusammenhang zu stellen.
Nach einer ersten Sichtung haben wir also gegen Ihren
Entwurf keine grundsätzlichen rechtlichen Bedenken. Allerdings - das möchte ich hier ausdrücklich feststellen heißt dies nicht, wir würden dem Entwurf in dieser Form
zustimmen. Wir halten den Vorschlag für diskussionswürdig. Wir werden ihn im Rahmen der Ausschusssitzungen
sorgfältig prüfen.
Lassen Sie uns in diesem Zusammenhang einen früheren Gedanken aufgreifen: Nach einem Gesetzentwurf
vom Sommer 1995 sollte die Diätenhöhe zumindest mittelbar an die Bundesrichterbesoldung gekoppelt werden.
Sie erinnern sich an diese Diskussion. Auch diesen Gedanken sollten wir im Hinterkopf behalten.
Gleichgültig, wie wir uns letztlich entscheiden: Unser
gemeinsames Ziel muss sein, auch durch die Bestimmung
der Höhe der Diäten das Mandat eines Bundestagsabgeordneten attraktiv zu gestalten. Unser Parlament soll für
Mitglieder aller Berufsgruppen, die mit dem hohen politischen Amt eines Bundestagsabgeordneten unser Leben
ausgestalten wollen, attraktiv sein. Das heißt ganz konkret: Wir wollen auch Abgeordnete, die aus der Selbstständigkeit kommen. Wir wollen auch Abgeordnete, die
ihre als Unternehmer gewonnene Kompetenz hier einbringen. Wir wollen auch Abgeordnete mit internationaler beruflicher Erfahrung hier im Parlament haben. Die
Diätenhöhe darf dabei kein Hemmschuh sein.
Lassen Sie mich jetzt konkret auf die Entwürfe eingehen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können wir aus drei
Gründen nicht zustimmen.
Erstens bedarf eine weitreichende Grundgesetzänderung einer ausführlichen interfraktionellen Diskussion.
Eine Grundgesetzänderung im Hauruck-Verfahren geht
nicht. Wir brauchen dazu einen Meinungsbildungsprozess, der schwierig werden wird.
Zweitens stelle ich mich gegen die Schaffung immer
neuer Kommissionen. Sie selbst schreiben in Ihrem Entwurf, es habe bereits mehrere Kommissionen zum Abgeordnetenrecht gegeben. Ich kann mich alleine an drei erinnern. Zu welchem Ergebnis führten diese hoch
besetzten Gremien? Lassen Sie mich aus Ihrem Gesetzentwurf zitieren:
Auswirkungen auf Form und Ausmaß der öffentlichen Kritik hat die Einschaltung dieser Gremien aber
kaum gehabt.
Hier sind Sie in der Pflicht, uns nachzuweisen, dass die
von Ihnen vorgeschlagene Kommission anders ist. Wir
sind nicht bereit, der weit verbreiteten Kommissionitis
das Wort zu reden.
Drittens und letztens haben wir bereits einen anderen
Weg gewählt. Wir haben mit unserem Gesetzentwurf
zunächst versucht, die Preissteigerungen der nächsten
Jahre auszugleichen. Das System der Abgeordnetenentschädigung wird hierdurch nicht verändert. Das gibt uns
die Freiheit, langfristig Alternativen mit der nötigen
Gründlichkeit zu prüfen.
Die in unserem Gesetzentwurf vorgesehenen geringfügigen Anpassungen bis zum 1. Januar 2003 sind das Ergebnis eines Kompromisses. Sie sind für uns auch nicht
verhandelbar. Wie jedem Kompromiss liegt auch diesem
ein schwieriger Meinungsfindungsprozess zugrunde. Wir
wollen die Entschädigung für die letzten sechs Monate
dieses Jahres um 0,6 Prozent und für die Jahre 2001 bis
2003 um jeweils 1,9 Prozent anheben. Diese Erhöhung
entspricht ungefähr der zu erwartenden Preissteigerungsrate. Sie führt nicht zu einer materiellen Erhöhung der
Entschädigung.
Unser Entwurf ist - lassen Sie mich das in aller Deutlichkeit sagen - ausgewogen. Er passt in die politisch-soziale Landschaft. Die Erhöhung beweist Augenmaß. Wir
zeigen soziale Sensibilität. Ich werbe für unseren Entwurf
um Ihre Zustimmung. Geben auch Sie uns die Zustimmung, die wir in der Öffentlichkeit für ihn erfahren haben!
Abschließend appelliere ich an Sie: Missbrauchen Sie
dieses Thema nicht, um einen Schlagabtausch zu veranstalten! Das ist ein sensibles Thema; Sie haben das deutlich angesprochen. Wir werden Ihren Vorschlag mit der
gebührenden Sachlichkeit prüfen. Ich werbe darum, dass
wir die interfraktionelle Gesprächsfähigkeit aufrechterhalten.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich gebe das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Dr. Peter
Ramsauer.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich finde, dass wir hier außerordentlich sorgfältig und
objektiv über dieses Thema diskutieren, das uns alle Jahre
wieder beschäftigt. Ich kann dem nur beipflichten, was
der Kollege Küster soeben vorgetragen hat, nicht in dem
Teil, in dem er den Diätenvorschlag der Koalition begründet hat,
({0})
sondern in dem Teil, in dem er für Verständnis geworben
und Respekt für die Entwürfe, die von der F.D.P. vorgelegt worden sind, geäußert hat. Ich schließe mich diesem
Respekt an.
Die Entwürfe der F.D.P. sind in der Tat ein sehr gut gemeinter Versuch, uns vom Vorwurf der Selbstbedienung
freizusprechen. Der Ansatz ist gut, er ist akzeptabel. Aber
meine Befürchtung ist, dass auch dieser Vorschlag uns
nicht vom Vorwurf der Selbstbedienung befreien kann.
({1})
Ich möchte klipp und klar sagen: Ich halte den Deutschen
Bundestag nicht für einen Selbstbedienungsladen.
({2})
Von keinem oder nur den allerwenigsten in diesem
Hause werden dieses Gremium und der Mechanismus, der
uns durch das Bundesverfassungsgerichtsurteil auferlegt
ist, ausgenutzt. Ich möchte keine Richterschelte betreiben, aber das Bundesverfassungsgericht hat uns in der Tat
einen Bärendienst erwiesen. Wir müssen mit diesem Urteil irgendwie leben.
Ich glaube, dass wir uns von dem Vorwurf der Selbstbedienung auch mithilfe des F.D.P.-Vorschlages nicht
befreien können. Denn selbst wenn eine unabhängige
Sachverständigenkommission Vorschläge unterbreitet,
werden große Teile der Öffentlichkeit und auch der Medien vom Parlament erwarten - es gibt nie einen geeigneten Zeitpunkt für eine Diätenerhöhung -, dass durch einen
aktiven Schritt Verzicht geübt wird. Ich will überhaupt
nicht bezweifeln, dass durch eine Sachverständigenkommission ein vernünftiger, begründeter Vorschlag zustande kommen kann; das steht außer Frage. Aber es gibt
aus der jüngsten Zeit unüberbietbare Beispiele dafür, dass
letztlich doch Verzicht geübt wird.
Herr Kollege Solms, Sie haben in Ihrem Beitrag die Situation in der letzten Legislaturperiode dargestellt. Wir
haben in der letzten Legislaturperiode ein klares vierstufiges Erhöhungsmuster beschlossen. Von diesem vierstufigen Erhöhungsmuster kam die erste Stufe zustande.
Bereits die zweite Stufe wurde ausgesetzt, weil der Deutsche Bundestag durch eine Änderung des Abgeordnetengesetzes geltendes Recht aktiv verändert hat.
Ein zweites Beispiel haben wir in dieser Legislaturperiode. Wir hatten aufgrund der Gesetzgebung der letzten
Legislaturperiode die Regelung, dass der Deutsche Bundestag in dieser Legislaturperiode innerhalb des ersten
halben Jahres nach seinem Zusammentreten, also bis zum
26. April des letzten Jahres - gestern vor genau zwei Jahren hat sich der Deutsche Bundestag zur 14. Legislaturperiode konstituiert -, eine Diätenregelung für diese
Legislaturperiode beschließt - nach wie vor geltendes
Recht. Ganz streng genommen haben wir uns selbst ins
Unrecht gesetzt. Der Deutsche Bundestag, der Gesetzgeber, befolgt nicht geltendes Recht, das er selber gesetzt hat. Der Präsident des Deutschen Bundestages hat
- fast rechtzeitig - Erhöhungsvorschläge vorgelegt. Der
Deutsche Bundestag ist ihnen nicht gefolgt, hat also wieder, in diesem Fall durch passives Handeln, gesetztes
Recht mehr oder weniger nicht beachtet.
Das dritte Beispiel ist zwar nicht aus dem Parlament,
aber es geht in die gleiche Richtung. Die beiden Ministerpräsidenten Wolfgang Clement und Edmund Stoiber
haben eine bekannte Wirtschaftsprüfungskanzlei damit
beauftragt, ein Gutachten über die Bemessung von
Minister- und Ministerpräsidentengehältern vorzulegen,
um exzellente Kräfte als Quereinsteiger für Führungspositionen in der Politik gewinnen zu können. Als das Ergebnis vorlag - ich habe es mir einmal angesehen; das
Gutachten ist von guten Wirtschaftlern sehr plausibel erstellt worden -, haben beide sofort erklärt: Um Gottes willen, wenn wir dieses Ergebnis geahnt hätten, hätten wir
ein solches Gutachten gar nicht in Auftrag gegeben. - So
kann das, was dabei herausgekommen ist, niemals Wirksamkeit entfalten oder frühestens für die übernächste und
die folgenden Generationen.
Wenn ich das alles zusammennehme, bleibt mir die bittere Erkenntnis, dass sich an dem geltenden Verfahren
letztlich wohl nichts so ändern lassen wird, dass wir uns
des Selbstbedienungsvorwurfs entledigen könnten.
Es wird - ich sage es noch einmal - nie einen günstigen Zeitpunkt geben, zu dem man eine Diätenerhöhung
beschließen kann. Ich habe gestern mit dem Hauptstadtkorrespondenten einer großen deutschen Zeitung gesprochen. Ich habe ihn gefragt: Was würden Sie tun, damit wir
aus dieser Problematik vernünftig herauskommen? Daraufhin hat er mir gesagt: Herr Ramsauer, ich sage Ihnen
ganz ehrlich, Sie können machen, was Sie wollen, wir
werden das immer verreißen. - Wenn das schon so ist, was
soll man da noch tun?
({3})
- Das ist ein sehr aufbauender Ausspruch.
Natürlich ist es immer schwierig, in eigener Sache zu
befinden, aber ich fürchte, wir kommen davon nicht weg.
Ich glaube aber, dass wir den Vorwurf der Selbstbedienung, wenn wir es richtig und offensiv angehen, trotzdem
entkräften können, indem wir darstellen, was in diesem
Parlament geleistet wird. Wir brauchen uns vor nichts zu
verstecken.
({4})
Es gibt eine Umfrage von Forsa, die besagt, dass
55 Prozent der Menschen in unserem Land die Dotierung
von Abgeordneten und Politikern für zu hoch halten. In
vielen Gesprächen, in Versammlungen im Wahlkreis usw.
frage ich die Leute immer: „Was glaubt ihr denn, was Abgeordnete verdienen?“ Meine Erfahrungen aus diesen vielen Gesprächen sind, dass die Menschen völlig falsche
Vorstellungen über die tatsächlichen Dotierungen haben völlig falsche Vorstellungen.
Wenn man dann sagt: „Ein Sparkassendirektor in meinem Wahlkreis lacht einen Abgeordneten aus, wenn man
die Bezüge offen legt“, herrscht helles Staunen. Deswegen müssen wir uns, liebe Kolleginnen und Kollegen,
auch in solchen Debatten - nächste Woche haben wir wieder Gelegenheit dazu - ganz offensiv trauen, das darzustellen, was hier geleistet wird. Es geht nicht nur um die
Frage „eigene Sache“, es geht auch darum darzustellen,
dass Dotierungen - egal, wo in unserer Gesellschaft und
in der Wirtschaft - auch dem Kriterium der Leistungsgerechtigkeit entsprechen müssen.
({5})
Wir brauchen uns mit dem, was wir hier leisten - ich
glaube, dass kann man für alle Fraktionen hier im Hause
sagen -, wirklich nicht zu verstecken.
Über den Inhalt kann man immer geteilter Meinung
sein - das ist im Streit der Politik völlig normal -, aber
nicht über die Leistungsgerechtigkeit als solche.
Ich kenne Briefe von Rentnern und von sozial
schwächer Gestellten. Ich respektiere es, wenn wir von
solchen Menschen Bedenken mitgeteilt bekommen; ich
verstehe diese Bedenken. Ich komme noch zu einem anderen ganz wichtigen Punkt, wenn es um die Bemessung
von Dotierungen geht. Es muss uns im Parlament auch darum gehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir für
die Zukunft hervorragendes politisches Personal rekrutieren können. Wir brauchen ein Parlament mit exzellenten, guten Köpfen. Das ist auch etwas, was die Öffentlichkeit erwartet. Die deutsche Öffentlichkeit will kein
Parlament des Mittelmaßes, sondern ein hervorragend
ausgestattetes Parlament. Es ist nun einmal so, dass für
junge Menschen von 30, 35 oder 40 Jahren, wenn wir sie
für solche Ämter begeistern und gewinnen wollen, natürlich nicht mehr allein der politische Idealismus ausschlaggebend ist, sondern es werden auch - das ist nun
einmal so - materielle Aspekte herangezogen.
Hier kommt der Vergleich mit der Wirtschaft. Wenn ich
mir - ganz objektiv - ansehe, was in Führungspositionen
der Wirtschaft, beginnend ab dem mittleren Management,
jungen Menschen gezahlt wird, dann können wir bei der
Entwicklung der Diäten, wie sie sich jetzt wieder abzeichnet, auch bei den Vorschlag, der in der nächsten Sitzungswoche auf dem Tisch liegt, guten jungen Leuten
keine materiellen Perspektiven bieten.
Ich halte das für die Entwicklung des Parlamentarismus für außerordentlich gefährlich; denn es wäre
schlimm, wenn sich ein immer größerer Teil hier im Bundestag aus Abgeordneten zusammensetzte, die ihr Haupteinkommen mit anderen Tätigkeiten verdienen würden
- ich möchte jetzt bewusst keine Beispiele nennen -, und
die darüber hinaus sozusagen einen Nebenverdienst mit
einem Sitz im Deutschen Bundestag erzielen. Das wäre
ein großer Schaden für unsere parlamentarische Demokratie. Dazu darf es nicht kommen.
({6})
Deswegen meine ich, dass wir hier schon einen richtigen Schritt getan haben, indem wir sagen: Die Dotierung
eines Bundestagsabgeordneten muss sich an der Besoldung R 6 oder B 6 orientieren, das heißt an der Besoldung
für Bundesrichter oder von Landräten - beispielsweise
kleinerer Landkreise -, denn die Abgeordneten in diesem
Parlament leisten insgesamt weiß Gott nicht weniger
- Stichwort „Leistungsgerechtigkeit“ - als Oberbürgermeister von Städten oder als Landräte oder Personen in
ähnlich dotierten Positionen im öffentlichen Dienst.
({7})
Meine Damen und Herren, ich muss es noch einmal sagen: Der Vorschlag der F.D.P. ist wohlgemeint, ist ein
guter Ansatz, ist auch nicht der erste, der unternommen
wird, um die Probleme zu lösen.
({8})
- Nein, ich möchte keine Absage erteilen. - Wir sollten
uns in der Ausschussberatung noch einmal ganz intensiv
mit dieser Frage befassen. Wenn es nach mir und nach
dem Willen der Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion ginge, würden wir bestimmt einen gangbaren Weg
wählen, wie wir uns von dem Vorwurf der Selbstbedienung elegant befreien könnten. Aber es bleibt bei meinem
vorgetragenen Einwand, dass nämlich die Lust auf Verzicht
({9})
in diesem Hause am Ende wieder groß sein wird, weil der
jeweilige Zeitpunkt falsch gewählt ist und der Druck von
Öffentlichkeit und Medien so stark ist, und dass daher von
Vorschlägen der Sachverständigenkommission doch nicht
Gebrauch gemacht wird. Deswegen bleibt uns auf Dauer
nichts anderes übrig, als das, was wir - im wahrsten Sinne
des Wortes - verdienen, immer wieder über die Fraktionsgrenzen hinweg glaubwürdig nach außen zu vertreten.
({10})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Cem
Özdemir.
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Die F.D.P.-Fraktion
hat in ihrem Gesetzentwurf zu Recht darauf hingewiesen auch alle vorherigen Redner haben dies getan -, dass das
Thema Diäten immer wieder im Mittelpunkt der öffentlichen Kritik steht und damit das Ansehen der Abgeordneten berührt.
Wenn man über die Höhe der Diäten diskutiert - nichts
anderes hat Ihr Gesetzentwurf zum Gegenstand -, dann
muss man auch ein Wort der Selbstkritik finden. Es gab
sicherlich berechtigte Kritik der Bevölkerung, weil wir in
der Vergangenheit manchmal in einer Weise gehandelt haben, die nicht unbedingt das Ansehen der Parlamentarier
und des Parlamentes gemehrt haben.
Man muss aber eines hinzufügen: Wenn man mit den
Menschen spricht, dann kann man erkennen, dass viele
Dinge verwechselt werden. Das ist ja auch nicht so einfach: Übergangsgelder, Doppelalimentierung und Abgeordnetendiäten. All diese Themen werden in einen Topf
geworfen und es wird fleißig umgerührt, sodass sozusagen
ein sehr unübersichtlicher Brei dabei herauskommt.
Scherzhaft hat einmal ein Mitglied meiner Fraktion gesagt - ich will den Namen nicht nennen; ich glaube, er
spricht wahrscheinlich im Namen des ganzen Hauses -,
man könne nur wegrennen, wenn es um das Thema Diäten
gehe. Egal, was man in dieser Debatte sage, es sei
immer falsch. Selbst wenn man fordern würde, dass die
Abgeordnetendiäten auf Sozialhilfeniveau abgesenkt würden, dann würden immer noch einige sagen, es sei noch zu
viel, weil die Politik so schlecht sei. Mit dieser Kritik werden wir leben müssen - Deutschland ist kein Einzelfall; in
anderen Ländern gibt es die gleichen Diskussionen -, solange es Parlamente und die parlamentarische Demokratie
gibt.
Unsere Entscheidung, im vergangenen Jahr eine Nullrunde zu machen und in diesem Jahr maßvoll um den Inflationsausgleich zu erhöhen, war eine angemessene Antwort. Sie zeigt, dass wir uns unserer Verantwortung
bewusst sind, selber über die Höhe unseres Gehaltes entscheiden zu müssen, was im Erwerbsleben nicht gerade
üblich ist. Unsere Entscheidung war daher sehr sinnvoll.
Herr Ramsauer hat darauf hingewiesen, dass sich ein
Manager oder ein Unternehmer weigern würde, für dieses
Gehalt in die Politik zu gehen. Das ist sicherlich ein berechtigtes Argument. Aber ich glaube, Herr Ramsauer, Sie
werden mir zustimmen, dass wir Gehälter in dieser Dimension im Rahmen einer Diätenerhöhung nie erreichen
können. Ein Bürger wird auch in Zukunft nicht primär aus
dem Grund in die Politik gehen, um viel Geld zu verdienen - auch Sie haben das vorhin gesagt -, sondern weil es
ihm um die Sache geht. Wir wollen die Menschen so angemessen bezahlen, dass sie für ihre Tätigkeit nicht bestraft werden. Unsere Gehälter werden aber niemals
- eine solche Diätenerhöhung fordert auch keine Fraktion
in diesem Hause - mit den Gehältern von Managern und
Unternehmern konkurrieren können.
Zu dem F.D.P.-Vorschlag möchte ich nicht viel sagen.
Zu den rechtlichen Aspekten - ich selber bin kein Jurist hat sich Herr Küster schon geäußert. Die Expertise des
Bundestages habe ich gelesen; es gibt unterschiedliche
Einschätzungen. Der Vorschlag ist nicht ganz neu. Er ist
schon mehrfach diskutiert, geprüft und mehrfach übrigens
auch verworfen worden.
Ich möchte Ihren Vorschlag unter folgendem Aspekt
behandeln. Ich unterstelle einmal, dass der einzige Grund
für Ihren Vorschlag ist, dass wir uns des Problems entledigen können, dass wir uns ständig dem Vorwurf ausgesetzt sehen, dass wir über unsere Diäten selbst entscheiden, uns selbst alimentieren und uns damit selbst bedienen
würden.
Hilft uns dieser Vorschlag, der Gefahr des Ansehensverlusts entgegenzuwirken? Ich meine, nein. Ich stimme
dem Argument des Herrn Kollegen Ramsauer zu, dass es
der Versuch einer Flucht ist. Dadurch wird nicht eines unserer Probleme gelöst. Wenn wir die Entscheidung darüber, wie viel wir an Diäten bekommen sollen, an irgendeinen Rat der Weisen delegieren, wird das nicht unser
Problem lösen, dass wir anlässlich der Entscheidung über
eine Diätenerhöhung Rechenschaft über unsere Arbeit ablegen und Bilanz ziehen müssen.
Darum glaube ich, dass der Vorschlag der F.D.P., auch
wenn er interessant ist und sich charmant anhört, unser
Problem vom Grundsatz her nicht lösen wird.
Wir sind als Abgeordnete in der Lage, unser Gehalt
selbst festzulegen. Das ist Ausfluss des Demokratieprinzips des Grundgesetzes. Wir sollten es uns nicht so leicht
machen, diese Entscheidung an Dritte zu delegieren.
- Wie gesagt, auf die rechtlichen Bedenken gehe ich gar
nicht ein.
Ich möchte zum Schluss noch eines sagen: Ich glaube,
dass die Debatte um die Höhe der Diäten verantwortungsvoll zu führen ist. Mann sollte hier weder überziehen
noch sollte man seinen eigenen Beruf schlecht machen,
indem man sagt: Wir Abgeordnete müssen uns für das
schämen, was wir tun. Die Kollegen haben schon darauf
hingewiesen: Wir müssen uns nicht für das schämen, was
wir tun. Jeder hier nimmt seinen Beruf ernst. Jeder tut,
was er kann; jeder setzt sich ein - das war der Grund, dass
wir in die Politik gegangen sind. Darum können wir uns
mit Fug und Recht hinter den Beschluss stellen, den wir
hier präsentieren, dass wir die Diäten um die Inflationsrate erhöhen. Das ist eine Maßnahme mit Augenmaß, die
nicht überzogen ist.
Danke sehr.
({0})
Das Wort für die
Fraktion der PDS hat nunmehr die Kollegin Dr. Barbara
Höll.
Herr Präsident! Meine lieben
Kollegen und Kolleginnen! In der bisherigen Debatte waren eigentlich die Beiträge aller Fraktionen von denselben
Zweifeln und Hoffnungen geprägt.
Der Vorschlag der F.D.P., eine unabhängige Expertenkommission einzusetzen, die die Last von uns nimmt,
durch Entscheidung in eigener Sache für uns selbst bestimmen zu dürfen und zu müssen - über die richtige
Höhe der Entschädigung für unsere Tätigkeit, über die Altersversorgung und damit zusammenhängende Fragestellungen -, ist zunächst einmal begrüßenswert. Die Kommission soll uns von der „Plage“ befreien, dass wir uns
selbst Gutes tun. Sie soll uns vom Geruch des Selbstbedienungsladens befreien und die Gefahr des Missbrauchs
unserer Entscheidungskompetenz in eigener Sache beseitigen.
Die Hoffnungen, die mit der Übertragung dieser
Entscheidungskompetenz auf die mit diesem Gesetzentwurf beantragte Expertenkommission verbunden sind,
mögen nicht trügen. Dennoch habe ich Zweifel, ob sich
die öffentliche Meinung dadurch wesentlich ändern
würde. Denn wer schützt uns vor dem Vorwurf, ob unabhängige Experten auch tatsächlich unabhängig entscheiden?
Ich denke, dass wir die Frage grundsätzlicher angehen
müssen. Wir müssen durch mehr Transparenz und durch
unsere Tätigkeit hier das Ansehen des Parlaments erhöhen
und bewirken, dass das Erscheinungsbild des Politikers
und der Politikerin wieder positiv wird.
Unser ehemaliger Kollege Gerhard Zwerenz hat in seinem Buch über den Deutschen Bundestag geschrieben:
Für Menschen, die wenig Geld in diesem Lande verdienen, ist die Abgeordnetenentschädigung sehr hoch. Für
Menschen, die sehr viel verdienen, ist es sie eher niedrig.
Für Menschen mit einem mittleren Einkommen ist sie annehmbar.
Wir sind Vertreterinnen und Vertreter der gesamten Bevölkerung. Ich denke, wir dürfen in dieser Diskussion
nicht immer den Vergleich mit einem Unternehmensberater oder Unternehmer heranziehen. Es stellt sich nämlich
die Frage der Bewertung von Arbeit, egal welcher Art. Ich
nehme jetzt bewusst ein extremes Beispiel, nämlich die
Hausfrau, die sechs Kinder erzieht: Sie bekommt kein
Geld dafür, leistet aber unwahrscheinlich viel. - Für die
Festlegung einer Bemessungsgrundlage müssen also vielfältige Überlegungen angestellt werden. Ich denke, für die
Bewertung dieser beiden Gesetzentwürfe brauchen wir
eine ausführliche Debatte.
Ich möchte noch einen Punkt herausheben. Logischerweise wird von der F.D.P. eine Grundgesetzänderung beantragt. Ich habe allerdings Zweifel, ob wir unsere Gesetzgebungskompetenz an eine Kommission übertragen
dürfen. Darüber müssen wir noch einmal diskutieren. Das
Parteiengesetz gesteht der unabhängigen Parteienfinanzierungskommission in § 18 Abs. 6 und 7 zu, dass sie dem
Bundestag zwar Empfehlungen unterbreiten kann, aber
nicht selbst entscheidet.
Ich denke, dieser Punkt ist sicherlich einer der strittigsten. Ich hoffe, dass wir in gemeinsamer Diskussion hier zu
einem vernünftigen, praktikablen Ergebnis kommen.
Ich bedanke mich.
({0})
Als letzter Rednerin
in dieser Debatte gebe ich der Kollegin Anni BrandtElsweier für die SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Als letzte Rednerin
zu diesem Thema kann man sich im Wesentlichen nur
wiederholen. Aber da müssen wir jetzt gemeinsam durch.
Die Höhe und Ausgestaltung der Abgeordnetenentschädigung wird mit schöner Regelmäßigkeit im Bundestag diskutiert. Es ist auch ein Thema, das die Öffentlichkeit jederzeit mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Denn
es lohnt sich immer wieder für die Heraufbeschwörung
des Bildes des „raffgierigen“ Abgeordneten, der sich
selbst mal wieder ein großes Stück vom Kuchen genehmigt, während die Abgeordneten das einfache Volk zum
Sparen auffordern.
Da erscheint natürlich die Einrichtung einer unabhängigen Kommission, die vom Bundespräsidenten zur Ermittlung und Festsetzung der angemessenen Abgeordnetenentschädigung eingesetzt werden soll, als die Lösung
aller Probleme.
Diese Lösung - das ist hier schon gesagt worden - ist
ja nicht neu und, wie wir alle wissen, verfassungsrechtlich
problematisch. Führende Verfassungsrechtler vertreten
die Auffassung, dass eine solche Entscheidungsverlagerung gegen das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip verstoße. Sie argumentieren, die Verantwortung könne nicht einer Kommission überlassen werden, die einer
demokratischen Legitimation entbehre.
Art. 48 Abs. 3 Satz 3 des Grundgesetzes legt die Regelung der Entschädigung durch Gesetz ja ausdrücklich fest.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner grundlegenden Entscheidung von 1975 dazu gesagt - ich zitiere -:
In einer parlamentarischen Demokratie lässt es sich
nicht vermeiden, dass das Parlament in eigener Sache
entscheidet, wenn es um die Festsetzung der Höhe
und um die nähere Ausgestaltung der mit dem
Abgeordnetenstatus verbundenen finanziellen Regelungen geht.
Aber ich gebe gern zu, dass uns die Einsetzung einer
derartigen Kommission vieles erleichtern würde. Der
ewige Vorwurf der Selbstbedienung - er ist hier bereits
häufig zitiert worden - wäre vom Tisch und die anhaltende Diskussion über die Berechtigung der Abgeordneten, über ihre eigene Entschädigung zu befinden, wäre
endlich beendet.
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen - auch das ist bereits gesagt worden -, wir sollten darüber nachdenken, ob
wir es uns damit nicht allzu einfach machen. Denn bei der
Prüfung über die Höhe der Abgeordnetenentschädigungen
handelt es sich ja in erster Linie um eine politische und
nicht um eine rechtliche Frage. Eine Verlagerung dieser
Entscheidung auf eine Kommission könnte den Anschein
erwecken, die Politikerinnen und Politiker würden sich aus
der Verantwortung stehlen. Es würde noch zusätzlich den
ohnedies schon existierenden Eindruck unterstützen, das
Ganze sei eine irgendwie unseriöse Angelegenheit, bei der
wir Abgeordneten etwas zu verbergen hätten.
Nicht ohne Grund hat das Bundesverfassungsgericht in
seinem bereits erwähnten Urteil darauf gedrungen, dass
die Transparenz des Verfahrens klar und deutlich sein
muss. Ich zitiere nochmals:
In einem solchen Fall verlangt aber das demokratische und rechtsstaatliche Prinzip, dass der gesamte
Willensbildungsprozess für den Bürger durchschaubar ist und das Ergebnis vor den Augen der Öffentlichkeit beschlossen wird.
In diesem Sinne hat sich auch die Kommission unabhängiger Sachverständiger zur Parteienfinanzierung bereits in der 12. Legislaturperiode geäußert. Sie ist der Auffassung, dass das Parlament seine eigenen Entscheidungen
selbst zu verantworten hat und gegebenenfalls auch der öffentlichen Kritik hieran Rechnung tragen muss.
Ich bin der Ansicht - auch das ist bereits gesagt worden -, dass wir grundsätzlich dazu stehen sollten, wenn
wir über eine Erhöhung der Abgeordnetenentschädigung
selbst entscheiden. Wenn wir unseren Wählerinnen und
Wählern deutlich machen, was wir dafür zu leisten haben
und wie viel Zeit und Stress unter anderem das Mandat
beansprucht, dann können wir dies auch offensiv vertreten.
Die Entscheidung über die eingebrachten Gesetzentwürfe ist also keinesfalls einfach. Sie müssen einer sorgfältigen politischen und rechtlichen Prüfung unterzogen
werden.
Die von Ihnen, meine Damen und Herren von der
F.D.P., vorgeschlagene Änderung des Entschädigungssystems bedarf sicherlich gründlicher Diskussion und Aussprache, insbesondere die von Ihnen beabsichtige Änderung des Grundgesetzes, die wir nicht im Vorübergehen
vornehmen können. Wenn wir das Fundament unserer bewährten Rechtsordnung ändern, sind eingehende Beratungen vonnöten. Ich denke, eine entsprechende Verfassungsänderung sollte von allen Fraktionen des Hauses getragen
werden, insbesondere wenn bei der Ausgestaltung der
Abgeordnetenentschädigung vom bisherigen Prinzip abgewichen wird. Wir werden deshalb im weiteren Gesetzgebungsverfahren prüfen, inwieweit hier ein gemeinsames
Vorgehen möglich ist.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe
auf den Drucksachen 14/4127 und 14/4128 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 sowie die Zusatzpunkte 8 und 9 auf:
6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Blank, Wilhelm Josef Sebastian, Dirk Fischer
({0}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Wettbewerbsfähigkeit des deutschen
Güterkraftverkehrsgewerbes erhalten und sichern
- Drucksache 14/4150 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({2}), Hans-Michael Goldmann,
Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der F.D.P.
Wettbewerbsnachteile für deutsches Güterkraftverkehrsgewerbe beseitigen
- Drucksache 14/4396 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({3})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Fischer ({4}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy,
Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Weißbuch über Harmonisierungsdefizite bei
Verkehrsdienstleistungen
- Drucksache 14/4378 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5})
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Wie ich
sehe, ist das Haus damit einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner
dem Kollegen Wilhelm Josef Sebastian für die Fraktion
der CDU/CSU das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir haben unseren Antrag eingebracht, weil wir wissen, dass das Güterkraftverkehrsgewerbe dringend unserer Hilfe bedarf.
Es häufen sich die berechtigten Rufe der Unternehmer
und Beschäftigten nach Hilfe des Staates in einer äußerst
prekären Lage. Die Hilferufe sind vielerorts mittlerweile
ohnmächtiger Wut gewichen. Dies haben uns die demonstrierenden LKW-Fahrer hier vor wenigen Wochen vor
dem Brandenburger Tor gezeigt.
Wie hieß so schön der Wahlspruch der SPD vor der
Bundestagswahl? - Wir machen nicht alles anders, aber
vieles besser. Meine Damen und Herren, Sie machen
nichts besser; Sie machen gar nichts.
({0})
Seit zwei Jahren sehen Sie tatenlos zu, wie sich die
schwierige Lage des Güterkraftverkehrsgewerbes immer
weiter verschlechtert.
({1})
Jetzt, nachdem die Lage fast aussichtslos ist, es bei manchen Betrieben schon fünf nach zwölf und nicht mehr fünf
vor zwölf ist, sind immer noch keine konkreten Hilfsmaßnahmen erkennbar.
Wir sehen nur Betroffenheitserklärungen des Herrn
Bundeskanzlers und des Herrn Verkehrsministers, aber
Taten sind kaum erkennbar. Wie dieser Antrag und die
Notwendigkeit von Hilfen eingeschätzt werden, sieht man
ja darin, dass sich der Verkehrsminister heute nicht selbst
der Sache hier annehmen wird. Der Bundeskanzler gibt
Binsenweisheiten von sich, wenn er gegenüber der „Deutschen Verkehrs-Zeitung“ Anfang Oktober erklärt:
Im europäischen Binnenmarkt liege unser Ansatzpunkt für den Abbau von Wettbewerbsbenachteiligungen.
Wenn es des Beweises für Tatenlosigkeit noch bedurft
hätte, so wäre er in der ergänzenden Anmerkung von
Kanzler Schröder zu finden,
…die Beteiligten sollen die Gespräche wieder aufnehmen.
Wer ist denn eigentlich Beteiligter, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Regierungsparteien, wenn nicht die Regierung eines Landes, in dem im europäischen Vergleich
weitaus der meiste Güterkraftverkehr stattfindet und das
das Transitland Nummer eins in Europa ist, in dem aber
die weitaus schlechtesten Rahmenbedingungen für Spediteure herrschen?
Der Herr Minister strotzt ja geradezu vor Tatendrang,
wenn er auf unsere Anfrage nach europäischen Initiativen
erklärt:
Einigungen setzen einen Konsens unter den Mitgliedstaaten der EU voraus. Deswegen führt die Bundesregierung weiterhin auch direkte Gespräche mit den
europäischen Nachbarn.
Keine Konzepte, keine Inhalte - diese Antwort spricht erneut für sich!
({2})
Wenn man Wettbewerbsnachteile für deutsche Unternehmer ausmacht - in diesem Sinne haben Sie uns ja geantwortet -, muss man auch handeln. Die von den jeweiligen
Nationalregierungen in ihren Ländern gemachte Politik
unterscheidet sich nämlich eklatant. Unser Herr Verkehrsminister und unser Herr Bundeskanzler sind aber
Mitglied einer dieser Regierungen.
({3})
Ich will Ihre Einsicht in die Realität nicht in Abrede
stellen. Umso schlimmer ist es aber, dass Sie von Ihrem
grünen Koalitionspartner in die falsche Richtung getrieben werden.
({4})
Die Fakten sind uns allen bestens bekannt: Die KfzSteuer auf LKWs in Deutschland ist die höchste in Europa. Ein deutscher 40-Tonner kostet im Vergleich zu einem niederländischen pro Jahr etwa 3 500 DM mehr, im
Vergleich zu einem belgischen 4 100 DM mehr und im
Vergleich zu einem französischen 4 500 DM mehr. Im Bereich der Mineralölsteuer kostet ein deutscher 40-Tonner
bei durchschnittlicher Fahrleistung und durchschnittlichem Verbrauch pro 100 Kilometer ab nächstem Jahr
43 400 DM, ein französischer 30 700 DM und ein niederländischer 29 000 DM. Es handelt sich also um eine Wettbewerbsverzerrung in gewaltigem Ausmaß.
({5})
Vizepräsident Rudolf Seiters
Am 27. September erklärte der Verkehrsminister im
Verkehrsausschuss, dass er die EU-Kommission gebeten
habe, die von den Mitgliedern der Union unlängst zur Abfederung der hohen Energiepreise vorgenommenen Maßnahmen in Bezug auf das EU-Beihilferecht zu prüfen.
Was heißt eigentlich „gebeten“? An dieser Stelle muss
massiv widersprochen werden: Es muss gehandelt werden. Der Minister erklärt wiederholt, dass die verschiedensten Maßnahmen eingeleitet wurden. Sagen Sie uns
einmal klar und deutlich, welche einzelnen Maßnahmen
konkret und mit welchem Erfolg eingeleitet wurden!
Übrigens, das beste Bild für Ihre Politik bot unsere gestrige Ausschusssitzung. Es stand der Punkt „Vorschlag der
EU-Kommission für eine Entscheidung des Rates zur Ermächtigung Italiens, die Verbrauchsteuern auf bestimmte
Mineralöle mit besonderen Verwendungszwecken zu staffeln“ auf der Tagesordnung. Wenn diesem Vorschlag gefolgt wird, bedeutet dies ein Absenken der Mineralölsteuer für italienische LKWs um 12 Pfennig pro Liter.
Unsere Fraktion stellte den Antrag, dass der Minister in
Brüssel bei der EU dafür eintreten solle, dass dieser Antrag abgelehnt wird.
Sie können raten, wie die Abstimmung im Ausschuss
ausging. Die Kollegin Mattischeck begründete die Ablehnung der SPD-Fraktion mit den höheren Mineralölpreisen
in den anderen Ländern der EU. Frau Mertens von der
SPD meinte - jetzt wird es noch viel abenteuerlicher -:
Wenn unser Umgangston freundlicher gewesen wäre,
dann hätte man über unseren Antrag reden können.
({6})
Wer unseren Kollegen Michael Meister kennt, weiß,
dass er immer freundlich und korrekt ist.
({7})
Das heißt, im Ausschuss muss unser Antrag freundlich
vorgetragen werden und mit einem Bitte, bitte verbunden
sein, damit wir vielleicht einmal die Aussicht haben, dass
unsere Anträge genehmigt werden. Wenn ich an meinen
zwölfjährigen Sohn den Wunsch herantrage, dass er mir
bei der Programmierung des Videorecorders helfe, dann
entgegnet er mir: Papa, sag zuerst einmal: Bitte, bitte,
großer König. - Wir werden zukünftig also immer bitte,
bitte sagen müssen.
({8})
Ich weiß aber auch, warum die Regierung in dieser Sache bis heute nichts unternommen hat: Die Brummifahrer,
die vor dem Brandenburger Tor standen, haben nicht bitte,
bitte gesagt und keine Blümchen mitgebracht, sondern sie
haben ihren Unmut zum Ausdruck gebracht. Nur wenn
man in Zukunft bitte, bitte sagt, dann kann man vielleicht
hoffen, irgendetwas zu bekommen. Vielleicht soll hier
vielleicht irgendwann wieder der Hofknicks eingeführt
werden.
({9})
Dazu kommt ein Bundeskanzler, der uns fast verbietet,
bei den Bürgern gewisse Themen anzusprechen, die nicht
erwünscht sind. Wir sind in dieses Haus gewählt, um uns
der Probleme der Menschen anzunehmen, um Lösungen
zu suchen und Hilfe zu leisten. Beim Transportgewerbe
geht es um über 40 000 Unternehmer und um über
380 000 Beschäftigte. Nach Auskunft der Verbände sind
10 000 mittelständische Unternehmen mit 100 000 Beschäftigten in höchster Gefahr.
({10})
Es geht um Arbeitsplätze. Bei der Aktion Holzmann waren es vielleicht freundliche Bauarbeiter, denen damals
geholfen worden ist. Es besteht dringender Handlungsbedarf. Wir haben einen Antrag formuliert, um diesem Gewerbe zu helfen.
Ich darf Sie, die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen, auffordern: Handeln Sie endlich konkret
und stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu! Hilfe
wird dringend benötigt; das Gewerbe wird sonst in den
Ruin geführt. Es ist noch nicht zu spät.
Vielen Dank.
({11})
Für die SPD-Fraktion spricht die Kollegin Angelika Graf.
Sehr verehrter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen, insbesondere von der CDU/CSU! Ich habe Ihren Antrag mit Datum vom 26. September, den Sie heute hier vorlegen, sehr
aufmerksam gelesen, insbesondere den Teil, den Sie der
Analyse des Problems widmen. Im Interesse der
Sache bedauere ich allerdings, dass Sie nicht die viel
umfassendere und meiner Ansicht nach auch viel sachkundigere Analyse des BGL vom selben Tag, vom
26. September, die Ihnen sicherlich auch vorliegt, übernommen haben. Dann hätten Sie aber vielleicht auf das
Datum der LKW-Demonstration auf dem Deckblatt und
damit auf ein Stück Populismus verzichten müssen. Es sei
Ihnen gegönnt.
Der BGL beschreibt genau, warum es im Gewerbe
gärt. Seine Aussagen sind dabei viel gehaltvoller als das,
was Sie, Herr Sebastian, heute dargeboten haben. Es heißt
da nämlich wörtlich - man beachte die Reihenfolge -:
Auslöser dieser Entwicklung sind Überkapazitäten,
illegale Konkurrenz, Sozialdumping durch osteuropäisches Fahrpersonal auf EU-Fahrzeugen und die
in jüngster Zeit dramatische Entwicklung im Mineralölsektor.
({0})
- Da hat er Recht, richtig. - Der Verband fährt fort:
Preisdumping und eine nach unten führende
Wettbewerbsspirale haben in nahezu allen europäischen Ländern zu gefährlichen Turbulenzen geführt. Ordentliche und gut geführte mittelständische
Transportunternehmen mit Standort Deutschland haben in diesen Umfeld kaum eine gute Zukunftsperspektive, weil sie nicht mehr auf ihre Kosten kommen.
Damit wir uns recht verstehen: Ich will die Belastungen der Branche durch die starke Steigerung der Spritpreise, die vorwiegend von der Preispolitik der Ölkonzerne und dem Dollarkurs abhängen - das haben wir hier
schon mehrfach rauf und runter diskutiert -, nicht klein
reden. Die Dieselpreise in Deutschland sind übrigens
- Sie haben das auch erwähnt, Herr Sebastian - im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wie Dänemark,
Italien, Schweden, Frankreich, den Niederlanden und vor
allen Dingen Großbritannien deutlich günstiger. Die Gespräche mit Vertretern des Gewerbes zeigen genauso wie
die übrigens - da muss ich Ihrem Antrag ganz deutlich widersprechen - ganz hervorragende Antwort der Bundesregierung auf Ihre Kleine Anfrage vom 26. November,
dass die Ökosteuer bei der Kostenentwicklung nur eine
relativ geringe Rolle spielt. Ich sage „relativ“, weil es
selbstverständlich Fuhrunternehmer gibt, für die jeder
Pfennig Erhöhung des Spritpreises eine existenzielle Bedrohung darstellt, weil sie wegen der Praktiken, die der
BGL auch angesprochen hat, der Konkurrenz nichts mehr
entgegensetzen können.
Ich will Ihnen nun vorrechnen, dass die Abschaffung
der Ökosteuer, die eine zentrale Forderung Ihres Antrages
ausmacht, nicht wesentlich zur Verbesserung der Situation des Fuhrgewerbes beitragen würde. Wenn nämlich,
woran ich nicht zweifle, die Kraftstoffkosten Ende 1999
laut Antwort der Bundesregierung auf Ihre Anfrage
15 Prozent der Transportkosten ausmachten, so kann
man in einem einfachen Dreisatz errechnen, dass die Ökosteuer 1999/2000, die übrigens über die Senkung der
Lohnnebenkosten direkt zur Verbesserung der Wirtschaftslage in unserem Land
({1})
und damit auch zur Verbesserung der Auftragslage für die
Fuhrunternehmen beiträgt, nur etwa 1 Prozent der Transportkosten ausmacht - nur 1 Prozent!
({2})
- Ich erkläre Ihnen den Dreisatz im trauten Gespräch gern.
Sie können sich darauf verlassen, dass er stimmt.
({3})
Die Scheinheiligkeit, die Sie auf der Demonstration
gezeigt haben, spricht Bände.
({4})
Die Personalkosten nämlich, die im Gewerbe zu Buche
schlagen, wenn man zu deutschen Normallöhnen beschäftigt, betragen in etwa ein Drittel der Transportkosten. Betrachten wir diese Relationen und die Ihnen
allen sicherlich geläufigen Aussagen des BGL zum Ausmaß des Sozial- und Lohndumpings, das die Preise
drückt, so liegt auf der Hand, warum die Unternehmer die
Kostensteigerungen durch den Anstieg der Spritpreise
nicht verkraften bzw. nicht mehr weitergeben können.
Dazu kommen Überkapazitäten, nicht nur durch den Fall
des Kabotageverbotes zum 1. Juli 1998, sondern auch
durch das Entstehen von Kleinstbetrieben durch das Outsourcing der Fuhrparks vieler Unternehmen.
Diese Überkapazitäten hätten wohl auch ohne den Preisanstieg der Mineralölprodukte über kurz oder lang zu einer Reihe von Firmenaufgaben geführt. Auch der BGL
sagt dies. Die Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit
war deshalb eine ganz wichtige Maßnahme zur Existenzsicherung der mittelständischen Fuhrunternehmen.
({5})
Eine der Hauptursachen für den ruinösen Wettbewerb
im Fuhrgewerbe liegt aber ohne Zweifel in der von Ihnen
angesprochenen, aber auch vom BGL deutlich thematisierten Subvention für das Gewerbe im EU-Ausland, der
Bekämpfung Sie im Gegensatz zu dem, was Sie vorhin
verkündet haben, in der Vergangenheit eben nicht entsprechend angegangen sind.
({6})
Ich habe Ihnen schon in der Aktuellen Stunde vor wenigen Wochen vorgehalten, dass die Verhandlungen zur
Abschaffung der Kabotage in der EU, die in Ihrer Regierungszeit stattgefunden haben, dafür unbedingt hätten genutzt werden müssen. Fehlanzeige! Die Kollegin Wetzel
wird diesen Vorgang und insbesondere auch Ihre Rolle dabei sicherlich noch genauer unter die Lupe nehmen. Fest
steht, dass unser Verkehrsminister auf europäischer Ebene
im Nachhinein nun alles tut, um diese Chancenungleichheit zu bekämpfen.
Mindestens ebenso wettbewerbsverzerrend sind aber
die verschiedenen Formen von Lohn- und Sozialdumping. Das Thema illegale Kabotage hat ja - Gott sei
Dank - inzwischen auch in Ihre Diskussionen Einzug gehalten. Wir werden mit der Einführung der europäischen Fahrerlizenz für Fahrer aus Drittländern hoffentlich schon bald zu einem Ergebnis kommen. Auch das haben wir übrigens schon lange vor dem 26. September
2000, also vor dem Tag der Demonstration, getan.
({7})
- Da habt ihr wirklich geschlafen, meine Lieben.
Meine eigenen Recherchen, auch über die Netze, die
hinter diesen Praktiken der illegalen Kabotage stehen,
haben mich zu der festen Überzeugung gebracht, dass wir
es mit einer Form von organisierter Kriminalität zu tun
haben, die nicht nur den anständigen deutschen mittelständischen Fuhrunternehmen zu schaffen macht, sondern auch der Volkswirtschaft schweren Schaden zufügt.
Der BGL spricht von bis zu 5 Milliarden DM, die an Steuern und Sozialabgaben ausfallen.
Wie läuft so etwas ab? Litauische, slowakische oder
tschechische Fahrer sitzen auf dem Bock eines italienischen, belgischen oder niederländischen LKW zu einem
Preis von höchstens 5 bis 7 DM - manchmal sind es sogar nur 2 DM - pro Stunde respektive 10 Pfennige pro gefahrenem Kilometer. Sie schaffen damit eine KonkurAngelika Graf ({8})
renzsituation, in der kein anständiges deutsches Unternehmen mithalten kann. Übrigens: Eine Fahrleistung eines solchen LKW von 27 000 Kilometern im Monat, wie
aus einer mir vorliegenden Ermittlungsakte hervorgeht,
macht klar, welches hohe Sicherheitsrisiko mit dem
Ganzen verbunden ist; denn der Fahrer kann diese Fahrleistung nur erbringen, wenn er sämtliche Lenk- und Ruhezeiten nicht einhält.
Ein aktuelles Beispiel für die volkswirtschaftliche Dimension der illegalen Praktiken möchte ich Ihnen nennen.
Ich habe Haftbefehle gesehen, erlassen auf Veranlassung
des bei der Bekämpfung illegaler Beschäftigung sehr regen Hauptzollamtes Rosenheim. Dabei geht es um eine
Firma, der vorgeworfen wird, durch Geschäftsverbindungen nach Italien und in die Slowakei - offensichtlich sind
hier zum Teil Scheinfirmen am Werk - seit 1995 jeweils
100 bis 160 slowakische Fahrer in den innereuropäischen
Verkehr eingeschleust und illegal beschäftigt zu haben.
Allein in einem Zeitraum von sieben Monaten in den Jahren 1997 und 1998 wurden der Sozialversicherung
Beiträge in Höhe von über 323 000 DM vorenthalten.
Rechnet man den Schaden auf die Zeit seit 1995 hoch, so
ergibt sich allein in diesem Fall für die Sozialversicherung
ein Ausfall von insgesamt etwa 5 Millionen DM. Damit
ist allerdings die Frage, was in die Sozialversicherung eingegangen wäre, wenn die Fahrer vernünftig bezahlt worden wären, und wie hoch der Gewinn dieses Unternehmens dank der illegalen Beschäftigung war, überhaupt
noch nicht beantwortet.
Unser Antrag, den wir heute nicht behandeln, der sich
aber mit der Vorbereitung der Einführung der europäischen Fahrerlizenz beschäftigt und die Kompetenzen des
Bundesamtes für Güterverkehr erweitern soll, wird wohl
in nächster Zeit in diesem Hohen Hause beschlossen werden. Ich finde, das ist ein erster Schritt. Des Weiteren haben wir am vergangenen Mittwoch gemeinsam - einstimmig - die Aufstockung der Mittel für das Bundesamt für
Güterverkehr beschließen können.
({9})
Gegen die Praktiken der illegalen Kabotage, die auch
nicht vom Himmel gefallen sind, sondern seit Jahren gang
und gäbe sind, wird diese Bundesregierung hart vorgehen - insbesondere bei den schwarzen Schafen der Branche.
({10})
Uns liegt der Schutz unserer mittelständischen Fuhrunternehmer - das haben Sie offensichtlich leider nicht
verstanden - sehr am Herzen: Wir tun mehr, als Sie in der
Vergangenheit jemals getan haben.
({11})
Wir handeln nämlich wirklich, wohingegen Sie sich in
Europa nicht für die Fuhrunternehmer eingesetzt haben.
Sie haben stattdessen zugeschaut, wie sich denn die Dinge
so entwickeln. Dafür spricht unter anderem auch, dass wir
es geschafft haben, bei den Ökopunkten die für die Durchfahrt durch Österreich nötig sind, einen Kompromiss auszuhandeln. Diese Ökopunkteregelung ist noch zu Ihrer
Regierungszeit mit Österreich abgeschlossen worden.
Wir müssen nun schauen, dass wir für unser Gewerbe die
Kastanien aus dem Feuer holen.
Fazit: Sie haben nicht mit Ihrem Verhalten bei der
Demo am 26. September 2000, wohl aber mit einigen Forderungen, die Sie in Ihrem Antrag nun erheben - offensichtlich von uns abgeschrieben -, gezeigt, dass Sie die
Brisanz des Themas anscheinend inzwischen doch erkannt haben. Viele Ihrer Forderungen sind allerdings
angesichts der Aktivitäten der Bundesregierung und der
Koalitionsfraktionen ziemlich kalter Kaffee. Was Sie fordern, ist alles schon passiert.
({12})
Man muss dazu noch etwas sagen: Insbesondere mit
der Forderung nach Abschaffung der Ökosteuer
({13})
liegen Sie - wie gesagt, ich erkläre Ihnen die Sache mit
dem Dreisatz gerne, Herr Kollege - völlig daneben.
({14})
Ich erteile dem Kollegen Horst Friedrich, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kolleginnen
und Kollegen! Das deutsche Güterkraftverkehrsgewerbe
befindet sich tatsächlich in einer entscheidenden Situation, was die Existenzfähigkeit der großen Mehrheit der
Unternehmer - in aller Regel kleine und mittelständische
Firmen -, angeht. Jetzt kommt die Regierungskoalition
und sagt: Wir kämpfen gemeinsam für die EU-Fahrerlizenz.
Liebe Frau Kollegin Graf, das ist ja alles schön und
richtig; das machen wir auch. In Kenntnis der Zeitkorridore können Sie davon ausgehen, dass wir schätzungsweise in vier bis fünf Jahren eine gemeinsame Regelung
haben. Dann allerdings ist es für die meisten der jetzt akut
bedrohten Unternehmen zu spät. Sie brauchen dann diese
Lizenz nicht mehr, weil sie mittlerweile den Gang zum
Konkursrichter antreten mussten. Deswegen kommt es
darauf an, kurzfristig nationale Maßnahmen zu beschließen, um dann mittel- und langfristig internationale
europäische Regeln zu beschließen.
({0})
Es wäre besser, wenn Sie, liebe Frau Kollegin Graf, unseren Vorschlägen folgen würden, die sich in das einreihen, was wir schon gemacht haben. Wir haben 1992 die
Kfz-Steuer für deutsche LKW von 10 500 DM auf
Angelika Graf ({1})
3 000 DM drastisch reduziert - im Übrigen gegen Ihre
Stimmen.
({2})
Wenn Sie uns jetzt vorwerfen, wir hätten die Lage des
deutschen Gewerbes verschlechtert, dann sind die letzten
Jahre offensichtlich an Ihnen vorbeigegangen. Wo brennt
es denn jetzt? Alle Länder um uns herum - ich zitiere aus
einer offiziellen Antwort der Bundesregierung vom Oktober 2000 auf eine Kleine Anfrage von uns - beschließen
Regelungen nationaler Art. Die Niederlande haben für das
erste Quartal 2000 - es ist mittlerweile von der EU-Kommission genehmigt - 17 Pfennig, für das zweite Quartal
14 Pfennig, für das dritte 11 und für das vierte 7 Pfennig
Steuererstattung pro Liter Diesel beantragt. In Frankreich
ist seit dem 12. Januar die teilweise Rückerstattung der
Mineralölsteuer für Dieselkraftstoff rückwirkend ab Januar 1999 möglich. Italien hat das Gleiche beantragt. Die
finnische Regierung hat beschlossen, die Kraftfahrzeugsteuer für die höchste Stufe abzuschaffen, und die belgische Regierung hat eine Senkung der Steuer bei der Haftpflicht- und Schadensversicherung für alle Fahrzeuge
beschlossen. Frankreich, die Niederlande und Italien haben die Kommission von den Grundprinzipien ihres Vergütungsverfahrens in Kenntnis gesetzt. Der Rat hat diesen
Mitgliedstaaten die Anwendung bis zum 31. Dezember
2000 gestattet; offensichtlich mit Zustimmung der deutschen Bundesregierung - ich habe zumindest nichts anderes gehört - und nicht gegen sie. Also werfen Sie uns
nicht Tatenlosigkeit vor, wenn Sie selber nichts machen.
({3})
Ich habe am letzten Sonntag vor Ort mit den bayerischen Verbänden gesprochen. Sie fordern ein ganzes
Bündel an Maßnahmen. Alle fordern - auch der BGL, der
nur von Fahrerlizenz spricht; deswegen kann man nicht
allein mit dem BGL reden -, dass zunächst die deutsche
Kraftfahrzeugsteuer auf das im europarechtlichen Rahmen zulässige Mindestmaß reduziert wird. Das können
wir ganz alleine machen, dazu brauchen wir niemanden
zu fragen. Als weitere Forderung wird - auch vom BGL die Aussetzung zumindest der weiteren Stufen der Ökosteuer erhoben, damit der Kraftstoff nicht noch weiter verteuert wird. Es ist ein Märchen, wenn man behauptet, die
mit der Ökosteuer verbundene Senkung der Rentenbeiträge würde die Unternehmen entlasten. Die Senkung
der Rentenversicherungsbeiträge bewirkt bei den Verbänden im Verkehrsgewerbe eine maximale Kosteneinsparung von 10 Prozent der Zusatzkosten aus der Ökosteuer,
während die restlichen 90 Prozent bei den Unternehmen
verbleiben. Das ist die Realität und das sollten Sie akzeptieren.
({4})
Sorgen Sie dafür, dass die Umstellung der LKW-Maut
von der Zeitbezogenheit auf die Streckenbezogenheit für
das deutsche Gewerbe belastungsneutral erfolgt. Lassen
Sie die Finger von der Verlängerung der Abschreibungsfristen. Es ist ein Wahnsinn, ein Anachronismus, in
der jetzigen Zeit wirtschaftlicher Bedrängnis das Gewerbe mit einer Verlängerung der Abschreibungsfristen
zu „belohnen“. Sie verzögern damit den Austausch alter
Investitionsgüter durch moderne, ganz zu schweigen davon, dass Sie die sowieso nur gering ausgeprägte Eigenkapitalbasis weiter schwächen.
Wenn all das erledigt ist - wir können all das kurzfristig national machen, wenn der politische Wille dazu vorhanden ist -, müssen wir die nächsten Schritte angehen:
hinsichtlich der Bekämpfung der illegalen Beschäftigung,
der EU-Fahrerlizenz und der Schaffung einheitlicher europäischer Regelungen. Was Sie vorschlagen, ist für uns
der vierte Schritt und nicht der erste. Wenn wir noch länger darüber diskutieren, ob wir den vierten Schritt vor
dem ersten machen sollen, und Sie nicht national handeln,
haben Sie eine erste Grundlage dafür geschaffen, dass das
mittelständische deutsche Transportgewerbe vom Markt
verschwindet. Das sind leider die Realitäten und deswegen fordere ich Sie auf:
({5})
Werden Sie lernfähig und schauen Sie sich unseren Antrag
an, in dem alles Notwendige steht. Wenn Sie es in dieser
Reihenfolge machen, klappt es auch wieder mit dem deutschen Gewerbe.
Danke schön.
({6})
Ich erteile nun dem
Kollegen Albert Schmidt vom Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die heutige Diskussion über die von der Union
und der F.D.P. eingebrachten Anträge ist schon wesentlich
sachlicher als damals, auf dem Höhepunkt der Proteste,
die Aktuelle Stunde, wo die Emotionen im Parlament naturgemäß etwas stärker aufwallten.
Ich freue mich, dass Ihre Anträge mir Gelegenheit geben, eine ernsthafte Beratung über die Verbesserung der
Chancen des deutschen Speditionsgewerbes im europäischen Markt anzustoßen. Ich stelle fest, dass einige
Punkte - zumindest in dem Antrag der Union - nicht nur
diskussionswürdig, sondern sogar konsensfähig sind. Ich
habe vor allem festgestellt, dass im Unterschied zum
F.D.P.-Antrag im Antrag der Union die Ökosteuer nur
noch unter Punkt 6 rangiert. Alle anderen Punkte sind wesentlich stärker in Richtung auf den Kern des Problems
konzentriert.
Das Problem besteht nicht darin - das wissen Sie genau so gut wie ich -, dass zu wenige Firmen ihre Güter auf
der Straße transportieren wollen; das Problem besteht
vielmehr darin, dass niemand ordentlich dafür bezahlen
will. Das heißt, das Speditionsgewerbe ist eine Branche,
die boomt wie keine andere. Es liegt also nicht an der
schlechten Auftragslage.
Horst Friedrich ({0})
Die Prognosen für die künftigen Jahre sind geradezu bedrohlich gut; denn wenn das, was vorhergesagt worden
ist, wirklich auf uns zurollen sollte, Herr Kollege
Friedrich - das sage ich ohne jede parteipolitische Färbung -, dann stehen wir alle gemeinsam vor einem Riesenproblem. Dann wird überall nicht nur die rechte Spur,
sondern auch die linke Überholspur der Autobahn dicht
sein, wie das bereits jetzt auf vielen Autobahnen der Fall.
({1})
Deshalb haben wir ein gemeinsames Interesse, den Verkehr von der Straße auf die Schiene zu verlagern. Dafür
tun wir auch etwas. Aber das ist nicht das Thema der heutigen Diskussion. Wir müssen uns jetzt ernsthaft überlegen, was die Liberalisierung des europäischen Güterverkehrsmarktes für das mittelständische deutsche
Speditionsgewerbe bedeutet.
Lassen Sie mich noch eine Randbemerkung machen,
die ich mir nicht verkneifen kann und die ich gar nicht polemisch meine. Wo waren, als in den 90er-Jahren bei der
Deutschen Bahn nicht 10 000, sondern über 100 000
Arbeitsplätze abgebaut wurden, die Blockaden, Ihre Proteste und Ihre Parlamentsanträge? Ich habe damals davon
nichts gesehen und gehört. Das ist ein Beispiel dafür, dass
in Deutschland mit zweierlei Maß diskutiert wird, wenn
es um Arbeitsplätze im Güterverkehr geht.
Ich möchte jetzt auf die konkreten Vorschläge eingehen, insbesondere auf Nr. 2 des Antrages der CDU/CSUFraktion. Dort wird gefordert, die Bundesregierung möge
den Güterverkehrsmarkt nur schrittweise für die beitrittswilligen Staaten aus Mittel- und Osteuropa öffnen
und die grenzüberschreitende wie innerstaatliche Kabotage nicht radikal freigeben. Diese Forderung ist richtig.
Sie entspricht exakt der Strategie, die die Bundesregierung verfolgt. Wir sollten im Wesentlichen drei Punkte bei
der Marktöffnung nach Osten beachten, wenn wir dem
übergeordneten Ziel eines fairen Wettbewerbs letztlich
dienen wollen und Übergangsfristen für das deutsche Güterkraftverkehrsgewerbe aushandeln wollen.
Erstens. Wir müssen den Staaten aus Mittel- und Osteuropa schon vor ihrem Beitritt zur EU einen ersten Zugang zum internationalen Verkehrsmarkt ermöglichen,
um einerseits das deutsche Güterkraftverkehrsgewerbe
auf die bevorstehende vollständige Marktöffnung vorzubereiten und um dadurch andererseits - das ist sehr wichtig - auf ein größeres Entgegenkommen bei den Staaten,
die jetzt beitrittswillig sind und die sich später mit uns im
Wettbewerb befinden, hoffen zu können, wenn wir Übergangsfristen für unser Gewerbe fordern.
Zweitens. Erst nach dem Beitritt der Staaten aus Mittel- und Osteuropa kann ihnen ein gewisser Marktzugang
im Bereich des grenzüberschreitenden Verkehrs ermöglicht werden und können erste Schritte zur Freigabe der
Kabotage eingeleitet werden.
Drittens. Erst einige Jahre nach dem Beitritt dieser
Länder ist eine umfassende Freigabe der Kabotage sinnvoll und möglich.
Lassen Sie mich das ein bisschen konkretisieren. Wenn
wir im ersten Schritt signalisieren - hier stimme ich exakt
mit den Forderungen des CDU/CSU-Antrags überein -,
dass wir etwas wollen, nämlich Übergangsfristen, dass
wir aber auch bereit sind, etwas zu geben, nämlich ein begrenztes Kontingent an Genehmigungen für den grenzüberschreitenden Verkehr, dann leiten wir einen Prozess
des Gebens und des Nehmens ein, der uns die spätere Verständigung erleichtern wird.
Beim zweiten Schritt, bei der begrenzten Liberalisierung, muss mit Kontingenten für Kabotagegenehmigungen gearbeitet werden. Im letzten Schritt kann die Kabotage, wie gesagt, völlig freigegeben werden, allerdings
erst in dem Moment, wenn sich in den beigetretenen Staaten ein Lohnniveau herausgebildet hat, das mindestens
dem Durchschnitt des europäischen Lohnniveaus entspricht. Erst dann kann die Freigabe der Kabotage zu fairen Wettbewerbsbedingungen führen. - Ich sehe an dem
Kopfnicken verschiedener Kolleginnen und Kollegen,
dass wir uns darüber auf einer sachlichen Ebene verständigen können.
Lassen Sie mich noch auf die Einführung einer EUweit gültigen und rechtsverbindlichen Fahrerlizenz - das
lässt sich immer vortrefflich fordern - eingehen. Wir alle
wissen - Sie genauso gut wie wir; Sie haben das auch
schon versucht, als Sie noch in der Regierungsverantwortung waren -, dass alle 15 Partnerstaaten überzeugt sein
müssen, bevor eine solche Fahrerlizenz eingeführt werden kann. Das wird später, wenn die Beitrittskandidaten
hinzugekommen sind, noch schwieriger werden. Ich halte
die Einführung einer solchen Fahrerlizenz trotzdem für
unverzichtbar, und zwar als Nachweis eines legalen Beschäftigungsverhältnisses im Mitgliedstaat des Unternehmenssitzes. Das ist gerade das Problem, unter dem die
Speditionen heute wirklich zu leiden haben. Wenn Sie mit
den Spediteuren fünf Sätze wechseln, dann geben diese
zu: Unser Hauptproblem ist nicht die Ökosteuer, sondern
neben der gesamten Energiepreisentwicklung natürlich
ganz besonders die Frage des Lohndumpings. Wenn heute
ein bulgarischer Fahrer für 2 DM pro Stunde zu haben ist,
dann tut sich der deutsche Kollege, der mindestens 16
oder 18 DM zahlen muss, einfach schwer, in einem solchen ruinösen Wettbewerb zu konkurrieren. Das hat aber
mit der Ökosteuer nicht das Geringste zu tun.
Deshalb müssen wir im Güterkraftverkehrsgesetz Änderungen vornehmen. Das bedeutet, wir müssen eine Verpflichtung für den Nachweis der Fahrerlizenz bzw. deren
amtlich beglaubigte Übersetzung einführen. Wir müssen
diese Verpflichtung aber auch auf die Verlader ausweiten,
dürfen sie also nicht nur auf die Transportunternehmen
selbst beschränken, und wir müssen darauf hinwirken,
dass bei Nichtbeachtung eine beträchtliche Erhöhung angedrohter Bußgelder umgesetzt wird.
Lassen Sie mich abschließend - ich sehe, die Redezeit
geht zu Ende man muss sie auch nicht immer bis zur letzten Sekunde ausreizen - noch sagen: Die Mineralölsteuer
ist ganz sicher nicht das Hauptproblem des Gewerbes.
Das wissen Sie auch. Wären wir damals Ihrem Rat gefolgt und hätten wir zum Beispiel die Aussetzung der
nächsten Stufe der Ökosteuer beschlossen, so wäre diese
jetzt schon wieder kompensiert durch die Erhöhung um
vier Pfennig von vorgestern. Und ich garantiere Ihnen,
sie wäre sogar überkompensiert worden; denn jede Preissenkung, die wir steuerlich durch indirekte Subvention
Albert Schmidt ({2})
veranlassen, führt sofort dazu, dass die Erzeugerländer
und die multinationalen Konzerne ihrerseits einen
Preisaufschlag vornehmen. Das führt uns also in die Irre.
Lassen Sie uns über die wirklichen Probleme in den
Ausschussberatungen sachlich diskutieren. Ich bin überzeugt, dort kommen wir sehr nahe zusammen.
({3})
Das ist immer so:
Wenn man zum Schluss kommen will, braucht man meis-
tens noch eine ganze Minute. Aber das war ja in Ordnung.
Jetzt gebe ich bekannt, dass der Kollege Dr. Winfried
Wolf von der PDS seine Rede zu Protokoll gegeben
hat1). - Damit sind Sie einverstanden.
Damit erteile ich der Kollegin Renate Blank,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die Demonstration des Güterkraftverkehrgewerbes vom vergangenen September, die Gott
sei Dank friedlich geblieben ist, hat deutlich gemacht,
dass das Gewerbe mit dem Rücken zur Wand steht. Leider war der Minister nicht anwesend und auch keiner seiner fünf Staatssekretäre. Sie, Frau Präsidentin, mussten
für die SPD so ein bisschen die Kohlen aus dem Feuer holen.
({0})
Nein, ich habe für das
Parlament reagiert, weil die Demonstranten vor dem
Reichstag standen.
Gut. - Die Verkehrsminister anderer europäischer Länder handeln für ihr Gewerbe; der deutsche Verkehrsminister plant dagegen
höhere Straßenbenutzungsgebühren für den LKW und
lässt das Verhalten der EU-Mitgliedstaaten nur „prüfen“.
Immer nur prüfen und nicht handeln zeichnet die Politik
der rot-grünen Bundesregierung aus, wo doch gerade jetzt
angesichts der vielfältigen Wettbewerbsverzerrungen, der
Sozialdumpingpraktiken, der explodierenden Kraftstoffpreise und der Wirkungen der so genannten Ökosteuer
Handeln mit einem Sofortprogramm angezeigt wäre.
({0})
Dem Bundesverkehrsminister ist es offenbar gleichgültig - heute ist er ja auch nicht hier -, dass sich die Wettbewerbssituation in Europa immer krasser zulasten des
deutschen Transportgewerbes verschiebt. Andere Länder,
wie Frankreich, Belgien, die Niederlande und Italien, subventionieren ihr Gewerbe. Dies ist nachweisbar.
Ein Beispiel hat Kollege Sebastian schon angeführt.
Der deutsche Verkehrsminister hat zugestimmt, dass Italien die Möglichkeit einer Staffelung der Verbrauchsteuer
auf bestimmte Mineralölprodukte eingeräumt wird.
({1})
Das verschlechtert die Wettbewerbssituation des deutschen Gewerbes noch weiter. Die Bundesregierung wird
so ihrer Verantwortung für das deutsche Güterkraftverkehrswesen nicht gerecht.
Ja, die Bundesregierung ignoriert sogar die Bedeutung
des deutschen LKW-Gewerbes für den Gütertransport sowie für Wirtschaft und Arbeitsmarkt insgesamt. Dies ist
angesichts der über 380 000 Beschäftigten in diesem
wichtigen Wirtschaftssektor unverantwortlich.
({2})
Die Belastungen für einen LKW liegen in Deutschland
im Durchschnitt bei 43 000 DM, in Frankreich bei
30 000 DM und in den Niederlanden bei 28 000 DM. Die
Situation im deutschen Gewerbe verschärft sich täglich.
Viele Firmen stehen kurz vor dem Konkurs oder denken
ans Ausflaggen. Dabei entgehen dem Fiskus jährlich Einnahmen pro LKW von rund 120 000 DM. Wenn die Firmen ausflaggen, wird es keinen einzigen LKW weniger
auf unseren Straßen geben; es ändern sich nur die Kennzeichen.
({3})
Zudem versucht die Bundesregierung ständig, die Auswirkungen der Ökosteuer auf das deutsche Gewerbe zu
verharmlosen. Bundeskanzler Schröder hat noch im
Wahlkampf 1998 getönt: Bei 6 Pfennig Ökosteuer ist
Ende der Fahnenstange.
({4})
Anstatt sich der Probleme ernsthaft anzunehmen, ist
die Bundesregierung weiter wild entschlossen, mit den
Erhöhungen bei der Ökosteuer und der Einführung der
LKW-Vignette zum 1. Januar 2001 noch eins draufzusetzen.
Kollege Schmidt von den Grünen hatte heute Abend
wohl Kreide gefressen - ich wundere mich ein wenig -,
denn normalerweise freut er sich doch immer, wenn es
dem LKW schlecht geht. Ich wollte Ihnen schon empfehlen, die Güter künftig mit dem Pferdefuhrwerk oder dem
Planwagen zu transportieren; aber am besten zögen Sie
dann einen Ochsenkarren selbst.
Aber Sie begreifen anscheinend endlich, dass Wirtschaftswachstum auch etwas mit Verkehrsleistungen zu
tun hat und die Bahn derzeit nur in der Lage ist, einen
kleinen Zuwachs beim Gütertransport zu bewerkstelligen. Wahrscheinlich wird sich das auch in Zukunft nicht
ändern. Dies sollte Ihnen, Kollege Schmidt, spätestens im
Zuge der Anhörung zur Bahnreform
({5})
Albert Schmidt ({6})
1) Anlage 2
aufgegangen sein. Zudem finden 80 Prozent aller LKWFahrten im Nahverkehr - bei Entfernungen unter 100 Kilometern - statt; diese Transporte können nicht auf die
Schiene verlagert werden. Selbst Bahnchef Mehdorn gibt
zu, dass Güterverkehr auf der Schiene bei einer Entfernung von weniger als 150 Kilometern nicht sinnvoll ist.
Experten behaupten sogar, derartiger Güterverkehr
rechne sich nicht bei einer Entfernung unter 400 Kilometern.
Im Güternahverkehr gibt es zum Nutzfahrzeug keine
Alternative. Die Flächenerschließung und damit auch die
Erschließung wirtschaftsschwacher Regionen kann nur
der Straßengüterverkehr leisten. Über 10 000 Gemeinden
in Deutschland haben keinen Gleisanschluss, das heißt,
sie sind bei der Ver- und Entsorgung auf den LKW angewiesen.
({7})
Bei Nr. 3 unseres Antrages, der grauen und illegalen
Kabotage sowie der illegalen Beschäftigung, sind wir
hoffentlich auf einem guten Weg. Kollegin Graf, auch Sie
haben das schon angedeutet. Ich gehe davon aus, dass eine
Ergänzung des Güterkraftverkehrgesetzes durch eine
Fahrerlizenz und die Kontrolle der Einhaltung von
arbeitsgenehmigungs-, aufenthalts- und sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen mit entsprechenden
Bußgeldern - ich glaube, das ist wichtig - etwas bringt.
Unsere Unterstützung für solche Maßnahmen haben Sie.
({8})
Die Einführung der streckenbezogenen nutzungsabhängigen LKW-Gebühr muss für das deutsche Güterkraftverkehrsgewerbe wettbewerbsverträglich gestaltet
werden. Ich bin ja noch nicht überzeugt davon, dass die
Umstellung der zeitbezogenen auf die streckenbezogene
Gebühr ab 2003 erfolgen kann. Es darf aber auf keinen
Fall geschehen, dass auf der Basis des so genannten
Pällmann-Gutachtens eine bis zu zehnfache Belastung
des Gewerbes in Angriff genommen wird; diese Abzockerei des Gewerbes wird mit uns nicht zu machen sein.
Wahrscheinlich wollen Sie dann das Gutachten, das aus
meiner Sicht eine sehr gute Diskussionsgrundlage für
künftiges verkehrspolitisches Handeln darstellt, still und
heimlich im Papierkorb verschwinden lassen. Dies wäre
allerdings eine Brüskierung der Kommission.
Nun eine Anmerkung zu den Ökopunkten im Straßentransit Österreich: In einer Ausschussdrucksache legen
Sie dar, dass der Rat im September einen Kompromiss erzielt hat, nämlich die Kürzung der Ökopunkte um rund
1 Million Punkte; das sind circa 150 000 Fahrten. Allein
auf deutsche Unternehmen entfallen 35 Prozent der Kürzung. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen,
dass dies die Begeisterung des Gewerbes, insbesondere
der süddeutschen Unternehmen, hervorruft, zumal die
Kapazitäten auf der Schiene äußerst unzureichend sind.
({9})
Meine Damen und Herren, der Vorschlag des Ministers, dem Gewerbe über die KfW zinsverbilligte langfristige Darlehen zur Verfügung zu stellen, zeigt, dass hier
absolut keine Sachkenntnis vorhanden ist; ja, ich finde
den Vorschlag sogar ungeheuerlich. KfW-Darlehen werden über die Hausbank ausgereicht. Wie soll denn, wenn
das Kreditvolumen einer Firma bereits bei der Hausbank
über das Limit hinaus in Anspruch genommen worden ist
- was ja bei den Firmen, die in Bedrängnis geraten sind,
derzeit der Fall ist -, zusätzlicher Kredit gewährt werden?
({10})
Es kann höchstens eine Umschuldung ins Auge gefasst
werden; aber auch dann muss der Kredit zurückgezahlt
werden. Wenn nicht durch andere Maßnahmen sofort gehandelt wird, was ich von der rot-grünen Bundesregierung keinesfalls erwarte, dann verzögert dieser Vorschlag,
den ich wirklich ungeheuerlich finde - und ich komme
aus dem Kreditgewerbe -, lediglich das Sterben und treibt
viele Firmen halt später in den Ruin. Das Gewerbe muss
sich bei diesem Vorschlag eigentlich auf den Arm genommen fühlen.
({11})
Herr Staatssekretär, geben Sie doch an Ihren Minister
weiter, dass der Transport von Waren unseren Wohlstand
sichert! Setzen wir diesen Wohlstand nicht leichtsinnig
aufs Spiel! Sie müssen handeln und dürfen nicht tatenlos
zusehen, wie unser deutsches Gewerbe Bankrott geht.
Betätigen Sie sich doch als Nothelfer für das deutsche Güterkraftverkehrsgewerbe! Es würde sich im Interesse der
Unternehmen und der Arbeitsplätze lohnen.
({12})
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, stimmen Sie unserem Antrag zu! Als Sie noch in der
Opposition waren, waren alle Punkte immer auch Ihr Anliegen. Jetzt können Sie zeigen, wie ernst es Ihnen damit
war.
({13})
Jetzt erteile ich der
Kollegin Dr. Margrit Wetzel, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die extremen Störungen auf
dem Transportmarkt hat der BGL richtig beschrieben.
Auch im Antrag der CDU/CSU-Fraktion ist eine ganze
Menge richtig beschrieben, und zwar exakt die Teile, die
Sie aus den von uns vorher vorgelegten Anträgen schlicht
abgeschrieben haben,
({0})
um die Übereinstimmung mit unseren Positionen deutlich
zu machen.
Aber in Ihrem Antrag ist noch etwas ausgesprochen
richtig formuliert, und zwar schreiben Sie:
Die Beseitigung der Harmonisierungsdefizite im Bereich der Steuer- und Sozialvorschriften im europäischen Güterkraftverkehrsmarkt ist erklärtes Ziel einer zukunftsorientierten Verkehrspolitik.
Das ist völlig richtig. Sie haben aber vergessen dazuzusagen, dass diese Defizite das Ergebnis von 16 Jahren liberaler Wirtschaftspolitik ohne Harmonisierung sind.
({1})
Ich möchte Sie daran erinnern: Als Herr Wissmann
Verkehrsminister wurde, hat er die Kabotagefreigabe eingeleitet, ohne die Chance, dabei eine Harmonisierung herauszuhandeln, zu nutzen. Es hat nichts in Richtung
Straßenbenutzungsgebühr, nichts in Richtung Steuern,
nichts in Richtung Arbeits- und Sozialkosten, nichts in
Richtung Sicherheitsstandards gegeben. Das war seine
erste Amtshandlung und damals hat das Gewerbe genauso
geklagt wie jetzt. Das ist acht Jahre her und die Klagen
sind in der ganzen Zeit die gleichen geblieben. Sie haben
in dieser Zeit nichts gemacht.
({2})
Deshalb möchte ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen:
Wir haben es satt, dass Sie jede Gelegenheit nutzen, hier
den Standort schlecht zu reden und zu versuchen, uns die
Schuld für Dinge, die Sie verbockt haben, in die Schuhe
zu schieben.
({3})
Werfen wir doch einmal einen Blick auf den Transportmarkt! Auch Herr Schmidt hat das schon angesprochen: Dies ist einer der interessantesten Märkte, der
wirklich nur wächst. Deutschland ist das Transitland
Nummer eins. Es gibt einen deutlichen Umschlagzuwachs bei den europäischen Seehäfen. Daraus folgen
Transportaufträge. Der grenzüberschreitende Güterkraftverkehr nimmt durch die Öffnung Osteuropas und durch
die Arbeitsteilung in den EU-Mitgliedsländern dramatisch zu. Der Straßengüterverkehr hat von diesem Kuchen
einen enormen Anteil abbekommen. Das muss man einfach sehen.
Wenn ich bedenke, dass Sie uns 1,5 Billionen DM an
Staatsschulden hinterlassen haben, muss ich Sie fragen:
Wie können Sie ernsthaft eine Subventionierung eines
Verkehrsträgers erwarten, der im Vergleich zu Bahn und
Schiff den größten Anteil am Transportmarkt hat? Das
wäre auch ökologisch überhaupt nicht zu verantworten.
Recht haben Sie natürlich damit, dass wir die Rahmenbedingungen für einen fairen Wettbewerb in der EU
schaffen müssen. Das haben Sie in der Vergangenheit versäumt. Daran arbeiten wir.
({4})
Wenn wir einen weiteren Blick auf den Markt werfen,
dann erkennen wir, dass es der harte Konkurrenzkampf
und das Preis- und Sozialdumping sind, die zu Konzentration und Kooperation geführt haben. Die erfolgte Konzentration wird daran deutlich, dass die Zahl der Insolvenzen im Bereich der Güterkraftverkehrsunternehmen
rückläufig ist, zugleich aber bei den Neuzulassungen von
LKWs Rekordzahlen erreicht werden. So viel zum Thema
„Überkapazitäten“, mit denen die Großen die Kleinen
schlucken! Sie beklagen dann, dass die Kleinen dem
Wettbewerb nicht standhalten können.
Es ist bedenklich, dass der Anteil ausländischer Unternehmen am grenzüberschreitenden Verkehr 75 Prozent
beträgt. Aber sehen wir uns doch einmal an, wie viele
innerdeutsche Transporte tatsächlich in Kabotage von
ausländischen Unternehmen durchgeführt werden! Das
ist de facto nur ungefähr 1 Prozent. Das heißt, genau in
diesem Markt haben die kleinen und mittelständischen
Unternehmer nach wie vor ihre Zukunft, wenn es uns gelingt, sie wettbewerbsfähig zu machen.
Noch ein Wort zu dem Preisdumping zwischen den
Großen und den Kleinen, bei dem die Kleinen unterliegen
müssen. In der Bundesrepublik machen die Transportkosten nur 2 Prozent der Produktionskosten der deutschen
Wirtschaft aus; die Kraftstoffkosten liegen übrigens bei
unter 1 Prozent.
({5})
Wenn es dann heißt, dass steigende Transportkosten nicht
weitergegeben werden können, dann ist das doch ein deutlicher Beleg dafür, dass hier die Dumpingpraktiken und
der Verdrängungswettbewerb der agierenden Unternehmen wirken.
Lassen Sie mich ein Wort zu der Sorge hinsichtlich der
Osterweiterung sagen. Diese Sorge ist aus Ihrer Sicht
natürlich insofern begründet, als damals bei der Kabotagefreigabe unendlich viele Fehler gemacht wurden. Aber
Sie können uns glauben, dass wir in der Lage sind, aus den
Fehlern, die Sie in der Vergangenheit gemacht haben, zu
lernen. Deshalb wird die Osterweiterung sehr sorgfältig
vorbereitet.
Sie haben in Ihrem Antrag sehr vernünftige Vorschläge
dazu gemacht,
({6})
die durchaus in etwa das beschreiben, was die Regierung
bei den Verhandlungen permanent tut; Sie beschreiben an
der Stelle nichts anderes als tatsächliches Regierungshandeln. Die Regierung ist dabei, die Rahmenbedingungen
für den fairen Markt und den fairen Wettbewerb zu sichern, und geht dabei auch die Harmonisierung der Steuern und Abgaben an. Wir werden endlich die fahrleistungsbezogene Schwerverkehrsabgabe bekommen, die
wichtig ist, damit alle LKW, die unsere Infrastruktur benutzen, zur Deckung der Kosten beitragen. Die Regierung
verhandelt, ganz wie Sie es vorschlagen - insofern ist das
schlicht und einfach Verhandlungsgegenstand und nicht
nur Beschlusslage -, mit den Beitrittsländern über einen
Stufenplan, um ganz langsam eine Liberalisierung zu
erreichen; denn man hat aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Deshalb wage ich auch zu bezweifeln, dass
die konkreten Übergangsfristen, die Sie nennen, tatsächlich realistisch sind. Man sollte sich da nicht zu früh festlegen.
Wir müssen auch sehen, dass mit Osteuropa ein neuer,
ganz gewaltig wachsender und hochinteressanter Markt
vor uns liegt, in dem im Moment die osteuropäischen und
internationalen Unternehmen die Nase vorn haben. Es
liegt also an uns, hier neue Kunden zu gewinnen und einen neuen Markt zu erschließen. Durch die ausgeprägte
Investitionstätigkeit der deutschen Wirtschaft, die nach
dem Beitritt dort erfolgen wird, ergeben sich ganz andere
Chancen, auch im Hinblick auf unsere Unternehmen.
Wenn Sie Übergangsfristen verlangen, müssen Sie bedenken, dass wir unsere Umweltstandards, Verkehrssicherheitsstandards und die Qualität der Leistung durchsetzen wollen. Vertrauen wir doch darauf, dass die
Osteuropäer ihre Länder auf westlichen Lebensstandard
bringen wollen, dass sie eine Angleichung der Lebensverhältnisse wollen, die eine Angleichung der Löhne mit
sich bringen wird. Weil es zu dieser Angleichung kommen
wird, müssen wir unsere kleinen Transportunternehmen
für den Wettbewerb fit machen. Das geht nur durch Kooperation, Kundenbindung, Qualitätssicherung, Leistung,
moderne Technik, moderne Logistik und indem sie den
elektronischen Markt als Chance begreifen. Wenn sie
heute mit uns gemeinsam daran arbeiten, dann werden sie
morgen im Wettbewerb bestehen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/4150, 14/4396 und 14/4378 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 10 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({0})
zu der Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvF 1/00
- Drucksache 14/4354 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rupert Scholz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Auch das ist
so beschlossen.
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile dem Kollegen Alfred Hartenbach für die SPD-Fraktion das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag wurde vom Bundesverfassungsgericht zu einer Stellungnahme in einem Normenkontrollverfahren aufgefordert, welches von der hessischen Landesregierung
gegen Normen ihrer eigenen Landesverfassung beantragt
wurde. Die hessische Landesregierung beantragt die
Feststellung der Nichtigkeit von Art. 78 Abs. 2 und 3 der
hessischen Landesverfassung. Sie möchte den in der
Landesverfassung verankerten Prüfungsmaßstab für die
Gültigkeit von Wahlen beseitigt wissen, einen Prüfungsmaßstab, wonach eine Wahl ungültig ist, wenn das Wahlergebnis durch gegen die guten Sitten verstoßende Handlungen maßgeblich beeinflusst wurde.
Sie wendet sich auch gegen die in der hessischen Landesverfassung geregelte Zusammensetzung des Wahlprüfungsgerichts aus den beiden höchsten Richtern - ich betone, unabhängigen Richtern - des Landes Hessen und
drei gewählten Abgeordneten.
({0})
- Das war ein schlimmes Wort, mein lieber Herr von
Stetten.
Meine Damen und Herren, wir debattieren heute nicht
über die Frage, warum eine Landesregierung ihre Daseinsberechtigung auf ein Wahlergebnis stützt, dessen
Überprüfung am Maßstab der guten Sitten um jeden Preis
verhindert werden soll. - Jetzt könnt ihr klatschen.
({1})
Der Deutsche Bundestag wird auch keine Stellungnahme dazu abgeben, warum eine angeblich wertkonservative Partei nun plötzlich den Maßstab der guten Sitten
aus der Verfassung gestrichen haben will.
({2})
Heute geht es ausschließlich um eine Entscheidung
über folgende Frage: Soll sich der Deutsche Bundestag
durch eine Stellungnahme an dem Normenkontrollverfahren in Karlsruhe beteiligen? Besteht ein bundespolitisches Interesse an einer derartigen Beteiligung? - Beide
Male lautet die Antwort eindeutig Ja.
({3})
Wie Sie alle wissen, wurde über diese Frage im Rechtsausschuss kontrovers abgestimmt.
({4})
CDU/CSU und F.D.P. machen geltend, das Bundesverfassungsgericht überprüfe nur das Landesrecht. Die Angelegenheit betreffe daher nur das Land Hessen.
({5})
Selbstverständlich überprüft das Bundesverfassungsgericht hessisches Landesrecht. Aber Maßstab dieser Überprüfung ist das Grundgesetz, also Bundesrecht.
({6})
Es ist die Auslegung dieses Bundesrechts, das letztlich
den Ausgang dieses Verfahrens bedingt.
Die hessische Landesregierung ist natürlich in großer
Not und in dieser großen Not kam sie auf die Idee, der
in der hessischen Landesverfassung verankerte Maßstab
der guten Sitten - ich muss das bei Ihnen immer wiederholen: der guten Sitten - verstoße gegen das Demokratieprinzip und damit gegen Art. 28 des Grundgesetzes.
Sie behauptet des Weiteren, die Zusammensetzung des
Wahl-prüfungsgerichtes verstoße gegen das Rechtsstaatsprinzip und damit ebenfalls gegen Art. 28 des
Grundgesetzes.
Das Bundesverfassungsgericht wird daher zu den
Grenzen der Verfassungsautonomie der Länder und
zwangsläufig auch zu den grundgesetzlichen Anforderungen an die gesetzliche Ausgestaltung von Wahlprüfungen
Ausführungen machen. Die Gerichtsentscheidung wird
eine Präzisierung des Art. 28 Grundgesetz - Bundesrecht,
Herr von Stetten;
({7})
ich muss es immer wiederholen - erbringen, und zwar
eine Überprüfung, inwieweit dieser im Hinblick auf das
Demokratie- und Rechtsstaatsgebot den Ländern in der
Ausgestaltung ihrer Verfassung Grenzen setzt. Die Entscheidung wird daher über Hessen hinaus für sämtliche
Bundesländer Bedeutung erlangen. Außerdem ist zu erwarten, dass das Bundesverfassungsgericht Leitlinien
vorgibt, denen auch eine mögliche künftige bundesgesetzliche Regelung der Wahlprüfung Rechnung zu tragen
hat.
Hieraus ergibt sich eindeutig das bundespolitische Interesse. Es ist offensichtlich ein Scheinargument, wenn
seitens der F.D.P. und der CDU/CSU behauptet wird, hier
stünde nur Landesrecht in Frage. Es ist die Tragweite des
Grundgesetzes, über die in Karlsruhe entschieden wird.
Warum fürchten nun Sie von der Opposition eine
rechtswissenschaftliche Untersuchung eines Verfassungsstreitfalles
({8})
durch einen vom Bundestag beauftragten Wissenschaftler? Ich verstehe ja gut, dass die hessische Landesregierung mit ihrer Klage verhindern möchte, dass die berüchtigte Kampagne der CDU gegen die doppelte
Staatsbürgerschaft vom Wahlprüfungsgericht am Maßstab der guten Sitten - ich wiederhole das immer, damit
das in Ihren Kopf hineingeht: am Maßstab der guten Sitten - überprüft wird. Es soll offensichtlich ungeklärt bleiben, ob die Wähler durch die Finanzierung dieser Kampagne aus schwarzen Kassen in einer gegen die guten
Sitten - merken Sie sich diesen Begriff: gegen die guten
Sitten - verstoßenden Weise beeinflusst worden sind. Das
Wahlprüfungsgericht hat weiterhin zu überprüfen, ob
diese möglicherweise unlautere Beeinflussung der
Wähler wahlentscheidend war.
Die Regierung Koch fürchtet das klare Licht einer gerichtlichen Untersuchung. Deshalb greift die hessische
Landesregierung die in Art. 78 Abs. 2 und 3 der hessischen Landesverfassung geregelte Wahlprüfung an und
scheut auch nicht davor zurück - Herr von Stetten hat das
eben wieder gesagt -, die beiden höchsten Richter des
Landes Hessen zu diffamieren und ihnen Befangenheit
vorzuwerfen.
({9})
Die Landesregierung tut alles - sie ist heute nicht vertreten, obwohl sie sich etwas hinter die Ohren schreiben
könnte -,
({10})
um dieses Wahlprüfungsgericht, welches seit 50 Jahren
einwandfrei arbeitet, zu behindern.
({11})
Bereits im Februar hat das Wahlprüfungsgericht gebeten,
dass man ihm die Akten vorlegt. Die Landesregierung hat
genauso zögerlich gehandelt, wie sie dies im Hinblick auf
den Untersuchungsausschuss des Bundestages und den
des Landes Hessen gemacht hat.
Der Vorsitzende des Wahlprüfungsgerichtes hat vor
einem Monat noch einmal eine Frist gesetzt, die Akten
binnen eines Monats herauszugeben. Nichts ist bisher geschehen. Der hessische Justizminister fühlt sich offensichtlich nicht als Wahrer des Rechts in seinem Land, sondern als Sachwalter von CDU-Interessen.
({12})
Das ist mittlerweile bei CDU-Justizministern nichts
Neues. Wir kennen noch andere Beispiele aus anderen
Bundesländern. Über diesen Punkt sollten Sie einmal
nachdenken.
Ich verstehe nicht, warum sich die Abgeordneten der
Opposition vor den Karren einer Taktik spannen lassen,
durch die zugunsten vordergründiger Ziele leichtfertig
eine Landesverfassung diskreditiert wird.
({13})
Ich betone es noch einmal: Heute geht es nicht um die
Vorgänge in Hessen. Es geht um die Auslegung unseres
Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht und
unsere Beteiligung hieran.
In diesem Zusammenhang bedauere ich es außerordentlich, dass auch die Bundestagsfraktion der F.D.P. wider besseres Wissen durch Frau Wagner, die stellvertretende hessische Ministerpräsidentin, in ein Boot mit der
CDU gezwungen wurde, ein Boot, dessen Löcher ganz offensichtlich mit Schwarzgeld gestopft sind.
({14})
Der Kollege van Essen hat in der Sitzung des Rechtsausschusses darauf hingewiesen, dass die Beteiligung des
Bundes an dem Verfassungsstreitverfahren Geld kostet.
({15})
Darauf muss ich erwidern, Herr van Essen: Hätten Sie
dafür gesorgt, dass Ihr Landesvorsitzender Gerhardt
({16})
vor einem Jahr etwas mehr Rückhalt bekommen hätte,
({17})
dann müssten wir heute über diese Frage gar nicht diskutieren. Sie als Liberale hätten erreichen können, dass die
hessische Landesregierung eben nicht dieses unsägliche
Normenkontrollverfahren angestrengt hätte. Die CDU/
CSU, vertreten durch ihren rechtspolitischen Sprecher,
Norbert Geis - er war erst ein Brandstifter und erscheint
dann hier nicht;
({18})
auch das wird in der Rechtspolitik der CDU/CSU langsam
üblich, siehe Bosbach -, hat vor einiger Zeit erklärt: Wir
wollen mit der Mehrheit unserer Stimmen den Bundestag
zu einer Beteiligung zwingen.
Es ist doch demokratisch - oder wollen Sie das mittlerweile leugnen? -, dass Entscheidungen mit Mehrheit
getroffen werden. Ich habe dargelegt, dass die Tatsache,
dass Landesrecht überprüft wird, kein Argument gegen
die bundespolitische Bedeutung dieser Überprüfung am
Maßstab des Bundesrechtes darstellt. Mich wundert Ihr
emotionaler Aufwand. Ich muss fragen: Ist für Sie das
demokratische Recht und die aus freien Wahlen hervorgegangene Legitimität der Mehrheit, in ihrem Sinne zu
entscheiden, ein undemokratischer Vorgang? Da zeigt
sich, was 16 Jahre Kohl in Ihren Köpfen angerichtet haben.
({19})
Es geht Ihnen da wohl wie Ihrem Parteifreund Koch,
der demokratische Institutionen in dem Augenblick infrage stellt, in dem dieser brutalstmögliche Aufklärer mit
ernsthafter Aufklärung bedroht wird. Sie haben sogar
Angst davor, dass der Maßstab dieser Aufklärung, nämlich die guten Sitten, erhalten bleibt. Schaffen Sie heute
Klarheit! Stimmen Sie zu, die Prüfung dieser Fragen vonseiten des Bundestages durch einen Wissenschaftler begleiten zu lassen!
Ich appelliere an den hessischen Ministerpräsidenten,
Roland „Pattex“ Koch, der an seinem Sessel klebt, endlich dem Ratschlag des Herrn Laurenz Meyer, den Sie ja
ganz gut kennen, vom 16. Februar nachzukommen; dies
ist in einer Presseerklärung der nordrhein-westfälischen
CDU nachzulesen. Auch Meyer hält einen Rückzug des
hessischen CDU-Ministerpräsidenten Roland Koch offenbar für unvermeidlich. Ehrlichkeit gilt für alle, sagt er.
Kochs Glaubwürdigkeit sei beschädigt. - Lassen Sie uns
dazu beitragen, dass in Hessen wieder vernünftige Verhältnisse einkehren!
Danke schön.
({20})
- Die Wahrheit ist für Sie immer peinlich; das weiß ich.
Herr Kollege, den
Ausdruck „geistiger Brandstifter“ halte ich für nicht sehr
parlamentarisch.
({0})
Ich erteile Herrn Dr. Freiherr von Stetten, CDU/CSUFraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Entgleisungen des Kollegen Hartenbach verdeutlichen die Hektik und die Unsicherheit der SPD.
({0})
Die CDU/CSU und mit ihr die F.D.P. haben aus guten
Gründen und wohl überlegt beantragt, dass der Deutsche
Bundestag zu der hessischen Streitsache vor dem Bundesverfassungsgericht keine Stellungnahme abgibt, und
zwar, um sich aus diesem Rechtsstreit herauszuhalten,
weil sonst der vom Bundestag zu beauftragende Vertreter
zu einem vernichtenden Urteil über Art. 78 Abs. 2 und 3
der hessischen Verfassung in Verbindung mit Einzelbestimmungen des hessischen Wahlprüfungsgesetzes kommen müsste.
So fürchterlich verwunderlich wäre eine solch negative
Stellungnahme dieses Vertreters schon deshalb nicht, weil
die hessische Verfassung vom 1. Dezember 1946 stammt
und Bestimmungen enthält, die nach dem Grundgesetz
aus dem Jahre 1949 verfassungswidrig sind. So sind dort
unter anderem das Verbot des Streiks und - man höre und
staune - die Todesstrafe festgeschrieben. Es ist also an der
Zeit, auch andere Artikel zu überprüfen.
Auch das Wahlprüfungsgesetz vom 5. August 1948
({1})
- nein, die Todesstrafe steht noch in der hessischen Verfassung; wenn Sie es nachlesen wollen: Art. 21 - entstammt einer Zeit, in der es noch keine gefestigte Rechtsordnung in den Ländern gab, weil die Bundesrepublik
Deutschland noch gar nicht existierte und somit das
Grundgesetz noch nicht in Kraft war.
Nun ist es eine ureigen hessische Angelegenheit, ihre
Verfassung und ihre Gesetze auf die Vereinbarkeit mit
dem Grundgesetz und den Gesetzen der Bundesrepublik
Deutschland zu überprüfen und sie gegebenenfalls zu ändern. Die CDU/CSU hält es daher mit Rücksicht auf das
föderale System und die Grundsätze guter Bund-LänderBeziehungen für unnötig und überflüssig, zumindest aber
für entbehrlich, eine Stellungnahme zum verfassungsgerichtlichen Streit abzugeben.
Die Regierungskoalition aus SPD und Grünen will etwas anderes - welcher Teufel Sie geritten hat, weiß ich
nicht, Herr Hartenbach -,
({2})
sodass wir auf die Einzelheiten des Wahlprüfungssystems und -verfahrens eingehen müssen. Etwas grob ausgedrückt, deutet dieses System auf eine abenteuerliche
Rechtsprechung hin. Da soll ein Gericht, das laut Hessischem Staatsgerichtshof eigentlich kein Gericht ist, einen
Beschluss fassen oder ein Urteil fällen, das sofort rechtskräftig ist und somit mindestens der Rechtsstaatsgarantie
des Grundgesetzes widerspricht und mit dem alle rechtsstaatlichen Besetzungs- und Befangenheitsregeln außer
Kraft gesetzt werden.
({3})
Dies ist wie im finsteren Mittelalter, als die Richter von
Gottes Gnaden über sich selbst und eigene Angelegenheiten urteilten.
({4})
Als politisches Schmierentheater wäre das alles ja noch
zu ertragen, wenn nicht - das ist das Besondere daran die höchsten Richter Hessens, der Präsident des Verwaltungsgerichtshofes, Bernhard Heitsch, und die Präsidentin des Oberlandesgerichtes Frankfurt, Brigitte Tilmann beide aktive Wahlkämpfer, direkt oder indirekt, für die
SPD -, über die Nichtigkeit der von der CDU gewonnenen Wahl mit entscheiden würden. Damit fügen sie der
Justiz und dem Ansehen der Richter schweren Schaden
zu.
Schon normaler Anstand und Sitte, erst recht die
Selbstbeurteilung als Richter gebieten diesen beiden Präsidenten, sich als befangen abzulehnen, wenn sie darüber
entscheiden, ob die Wahl wegen gegen die guten Sitten
verstoßender Handlungen gewonnen wurde. Gemeint ist
der Aufruf der CDU „Ja zur Integration - Nein zur doppelten Staatsbürgerschaft“, der zu Millionen Unterschriften führte, die angeblich nur deswegen gesammelt werden
konnten, weil die Aktion mit unzulässigen Geldmitteln finanziert wurde.
Beide Richter haben - im Übrigen unter Umständen
schon entgegen dem Gebot der richterlichen Zurückhaltung in öffentlichen und politischen Angelegenheiten - in
den Landtagswahlkampf bzw. den gleichzeitig stattfindenden Bürgermeisterwahlkampf in Darmstadt durch öffentliche Anzeigen mit Namen, zum Teil sogar mit Titel,
eingegriffen.
({5})
Schon im Vorfeld haben sie praktisch ihre Entscheidung
getroffen und wollen diese nunmehr, allen rechtlichen Gepflogenheiten zum Trotz, durch eine pseudogerichtliche Entscheidung untermauern. Dies, lieber Herr
Hartenbach, ist viel eher sittenwidrig als der Wahlkampf
der CDU.
({6})
Die Richter nutzen nicht einmal die Chance, durch
Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dieser Parteienverstrickung
herauszukommen. Im Gegenteil: Unter abenteuerlicher
Interpretation einer Entscheidung des Hessischen Staatsgerichtshofes vom 20. Juli 1988 - fast ein Jahr vor der bewussten Hessenwahl - wird der Berichterstatter angespornt, das Verfahren „zügig fortzusetzen“. So besteht die
Gefahr, dass ein angeblich nicht existierendes Gericht mit
befangenen „Entscheidungsträgern“ im Schweinsgalopp
eine angeblich nicht aufschiebbare Entscheidung trifft,
einzig und allein um die Partei zu treffen, die durch ihren
Wahlsieg den Ministerpräsident der SPD, Eichel, aus dem
Sattel gehoben hat.
Dabei will man natürlich auch die ungeliebte Regierung Koch und den Koalitionspartner F.D.P. treffen, wohlwissend, dass auch eine rechtswidrige und unwirksame
Entscheidung Stimmung macht. Sie wird nicht halten.
Aber zunächst einmal ist das Parlament ausgehebelt und
die SPD wird ihr politisches Süppchen daraus kochen.
Im Übrigen sind auch die drei Abgeordneten des Hessischen Landtages Stefan Grüttner, Jörg-Uwe Hahn und
Manfred Schaub unter Umständen wegen Befangenheit
zur Entscheidung nicht befugt - wenn es denn ein Gericht
und kein Ausschuss ist -, weil sie positiv oder negativ von
der Auflösung des Landtages betroffen sind.
Nicht nachzuvollziehen ist insoweit auch die Entscheidung des Hessischen Staatsgerichtshofs, dass die anderen
107 Abgeordneten des Hessischen Landtages, über die in
diesem Wahlprüfungsverfahren mitentschieden wird,
kein Beteiligungsrecht haben. Auch dies widerspricht
dem allgemeinen verwaltungsgerichtlichen Beteiligungsund Beitrittsgedanken und dem allgemeinen Gedanken
auf rechtliches Gehör. Aus all diesen rein formalen juristischen Gründen ist eine eventuell ergehende Entscheidung des Wahlprüfungsgerichts nichtig.
Aber auch aus materiell-rechtlichen Gründen kann
die bereits angekündigte Entscheidung keinen Bestand
haben. Nur mit bedingungslosen, blinden Parteischeuklappen von SPD-Parteigenossen kann der Wahlkampf
der CDU als „sittenwidrig“ bezeichnet werden. Es ist geradezu lachhaft, wenn die milliardenschwere SPD der
CDU unlautere Machenschaften vorwirft, weil diese unter Umständen im Wahlkampf eigene Gelder aus der
Schweiz genutzt und damit für die SPD einen Wettbewerbsnachteil im Wahlkampf geschaffen habe.
({7})
- Herr Hartenbach, hören Sie doch einmal zu.
Schlagworte wie „mit Millionen aus der Schweiz die
Wahl verfälscht“ brechen doch schlichtweg in sich zusammen, wenn die Zahlen auf den Tisch gelegt werden.
Die CDU hat im Wahlkampf 4 Millionen DM ausgegeben
und die ach so wettbewerbsbenachteiligte SPD 6 Millionen DM, also 50 Prozent mehr.
(Alfred Hartenbach [SPD]: Der Rest ist ja
nicht aufgeführt! Das war ja Schwarzgeld!
Wer hat hier versucht, den Wahlkampf mit Millionengeldern zu gewinnen?
({8})
Das war doch die SPD und nicht die CDU.
({9})
Weil all das, was ich gesagt habe, der juristische Kollege Hans Meyer - es ist nicht unser Kollege Professor
Jürgen Meyer -, sofern er denn vom Bundestag beauftragt
wird, eine Stellungnahme abzugeben, auch niederschreiben muss - ({10})
- Nicht Jürgen Meyer, Hans Meyer. Das habe ich deutlich
gesagt.
({11})
- Lieber Kollege Hartenbach, ich habe gesagt: Der juristische Kollege Professor Hans Meyer, nicht unser Kollege
Jürgen Meyer. Sie sollten ein bisschen zuhören, lieber
Herr Kollege. Das wäre ganz gut. ({12})
Er muss das auch niederschreiben. Er wird das sicherlich
in wohlgesetzten Worten wesentlich ausführlicher tun als
ich.
Ich appelliere an Sie, meine Damen und Herren Kollegen von der SPD und den Grünen, die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses abzulehnen.
Wir von der CDU/CSU waren und sind der Meinung,
dass sich der Deutsche Bundestag aus dieser rein hessischen SPD-Justizaffäre heraushalten sollte und dass das
Bundesverfassungsgericht von sich aus ohne Stellungnahme des Bundestages entscheiden sollte. Das Bundesverfassungsgericht ist dazu berufen, nicht wir.
({13})
Es entspricht auch den langjährigen Gepflogenheiten dieses Hauses, sich nicht in Angelegenheiten der Länder einzumischen. Sie, meine Damen und Herren von der SPD
und den Grünen, hätten die heutige peinliche kontroverse
Auseinandersetzung, die dem Ansehen der Justiz nicht
dient, vermeiden können, wenn Sie weise nach dieser Devise gehandelt hätten.
({14})
Wir lehnen die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses daher nachdrücklich ab und werden ganz auf das
Bundesverfassungsgericht vertrauen.
Danke schön.
({15})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die
Grünen.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst ist es ja schon einmal erfreulich, dass nun
auch vonseiten der CDU klargestellt wurde, dass der
Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages bisher noch
nicht entschieden hat, dass die Wahl in Hessen illegal gewesen sei und deswegen wiederholt werden müsse. Vielmehr geht es lediglich darum, dass der Rechtsausschuss
eine Stellungnahme des Deutschen Bundestages zu der
Normenkontrollklage des Landes Hessen gegen die hessische Verfassung für richtig hält. Wir wollen nichts anderes, als dass eine Stellungnahme dazu abgegeben wird.
Es geht noch gar nicht darum, was in der Stellungnahme
drinstehen wird. Dass Sie sich so dagegen wehren, muss
ganz andere Gründe haben.
({0})
Auf diese Gründe komme ich jetzt zu sprechen:
Erstens ist es keineswegs so, dass über dem hessischen
Wahlprüfungsgericht nur der liebe Gott steht, sondern dazwischen sitzen noch die Richter des Bundesverfassungsgerichts. Darauf können Sie sich verlassen. Jede andere
Behauptung wäre unrichtig.
({1})
Zweitens wollen wir gerne an den Maßstäben des
Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, nicht an
der hessischen Verfassung, messen lassen, ob es - darauf
wurde ja bereits hingewiesen - gegen die guten Sitten verstößt, wenn eine im Bundestag vertretene Partei Millionen
in die Schweiz verschiebt und dann, um diese Verschiebungsaktion und vor allen Dingen die Rückführung dieser Gelder zu verdecken, jüdische Vermächtnisse erfindet.
({2})
Ob hier ein Verstoß gegen die guten Sitten vorliegt, soll
am Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gemessen werden.
Weiterhin soll festgestellt werden, ob der Rücktransfer
dieser in die Schweiz verschobenen Millionen Einfluss
auf die letzte Wahl zum Hessischen Landtag gehabt hat.
Es sind Gelder in die Schweiz geflossen, es sind Gelder
zurückgeflossen, davon sind Gelder in den hessischen
Wahlkampf gegeben worden, und mit den Geldern aus der
Schweiz wurde unter anderem die Zentrale der hessischen
CDU in Wiesbaden, die dann auch Wahlkampfzentrale
war, gekauft.
({3})
Wir wollen nun feststellen, ob das gegen die guten Sitten
verstößt. Wenn das gegen die guten Sitten in diesem
Lande verstößt und dieser Verstoß gegen die guten Sitten
ursächlich das Wahlergebnis beeinflusst hat, stellt sich die
Frage, ob es mit dem Grundgesetz der Bundesrepublik
Deutschland vereinbar ist, wenn man das Ergebnis einer
solchen Wahl für ungültig erklärt und die Wahl wiederholen lässt. Darum geht es.
({4})
Drittens geht es um das, was der Kollege Geis im
Rechtsausschuss von sich gegeben hat.
({5})
- Doch, ich war da. - Er äußerte dort nämlich Bedenken,
ob die Mitglieder des Wahlprüfungsgerichts in Hessen in
dieser Sache urteilen können, da sie einer Partei angehören.
({6})
In diesem Punkt äußerte er Bedenken. Ich kann dazu nur
sagen: Wenn Sie diese Kriterien anwenden, müssen Sie
sehr, sehr vorsichtig sein, weil Sie dann sogar Probleme
mit den Urteilen der Richter des Bundesverfassungsgerichts haben müssten.
({7})
Wenn ich mich recht erinnere, waren auch maßgebliche
Richter und Präsidenten dieses Gerichts vor ihrer Tätigkeit im Bundesverfassungsgericht in politischen Parteien
aktiv, die sie dann für diese Ämter nominiert haben. Das
heißt, auch der Teil der Normenkontrollklage, der sich dagegen wendet, dass diese Richter urteilen dürften, obwohl
sie nach dem hessischen Gesetz in dieses Wahlprüfungsgericht bestellt wurden, ist bedenkenswert. Wir wollen
doch nur, dass der Deutsche Bundestag, beispielsweise
nach Diskussionen im Rechtsausschuss, dazu eine Stellungnahme abgibt.
Viertens. Warum haben es die Hessische Landesregierung, die hessische CDU und die Bundes-CDU über all
die Jahrzehnte eigentlich nicht vermocht, die ganze Kritik, die man jetzt, auch in dem Schriftsatz, wortreich übt,
vorzutragen? Warum ist man bei bisherigen Entscheidungen dieses Wahlprüfungsgerichts immer davon ausgegangen, dass sie zutreffend, richtig und zu befolgen sind? Nur
weil die Entscheidungen Ihnen gefallen haben? Sie können doch die Quasirechtsprechung dieses Wahlprüfungsgerichts ({8})
- Rechtsprechung im eigentlichen Sinne ist es ja nicht nicht vom Ergebnis abhängig machen, nur weil in diesem
Fall die Gültigkeit der hessischen Landtagswahl auf dem
Spiel steht und weil Sie wissen, dass in dem Verfahren des
Wahlprüfungsgerichts all das gegen die guten Sitten Verstoßende, das die hessische CDU angerichtet hat, ans Tageslicht kommt und auch überregional immer wieder von
Neuem diskutiert wird.
({9})
Wir wollen, dass diese eminenten Verstöße gegen die
guten Sitten in diesem Land auf die Tagesordnung kommen. Damit soll sich auch der Deutsche Bundestag beschäftigen und er soll eine Stellungnahme dazu abgeben.
({10})
Damit würden dem Bundesverfassungsgericht zusätzliche Anhaltspunkte gegeben, über diese Verfassungsklage
gerecht zu entscheiden.
({11})
Wir sind dafür, der Empfehlung des Rechtsausschusses zu
folgen und eine Stellungnahme des Bundestages herbeizuführen. Wir hoffen, dass Sie sich an der Ausarbeitung
dieser Stellungnahme beteiligen.
({12})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Geis das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Bei der Verfassungsklage der hessischen Regierung geht es allein um ein landesrechtliches Problem. Es geht nicht um die Frage, ob
die Wahl sittenwidrig ist oder nicht. Vielmehr geht es allein darum, ob ein solches Wahlprüfungsgericht, das sich
aus drei Landtagsabgeordneten und zwei unabhängigen
Richtern zusammensetzt, in der Lage ist, einen Entscheid
zu treffen, ob das Ergebnis einer Wahl weit mehr als ein
Jahr nach dem Wahltag Gültigkeit besitzt. Wir meinen,
dass wir diese Frage nicht zum Gegenstand einer
Stellungnahme des Bundestages machen sollten, da es
sich um eine landesrechtliche Regelung handelt, über die
allein das Bundesverfassungsgericht urteilen sollte.
Wir sehen hinter dieser Beschlussempfehlung einen
politischen Zweck: Sie wollen natürlich alles auf die
Spitze treiben, was man auf die Spitze treiben kann. Sie
sind aber meiner Meinung nach auf dem Holzweg. Um Ihr
Ziel zu erreichen, ist diese Stellungnahme kein geeignetes
Instrument.
({0})
Wollen Sie antworten,
Herr Kollege Ströbele? - Nein. Dann erteile ich dem Kollegen Jörg van Essen, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Der Kollege Hartenbach hat sich in
seinen umfassenden Ausführungen nahezu mit der gesamten hessischen Landespolitik befasst, nur nicht mit der
Frage, über die wir heute zu entscheiden haben.
({0})
Wir haben heute darüber zu entscheiden, ob der Bundestag in diesem Verfassungsstreitverfahren eine Stellungnahme abgeben soll. Nur wenn die Argumente so schwach
wie in der Rede des Kollegen Hartenbach sind, weicht
man so deutlich aus.
({1})
Der Sachverhalt lässt sich ganz kurz und ganz klar darstellen: Hessen ist das einzige Bundesland, in dem es ein
Wahlprüfungsgericht gibt. Das ist angerufen worden.
({2})
Das zu tun ist das gute Recht derjenigen, die diesen Schritt
getan haben.
({3})
Das wird vom Bundestag nicht zu kritisieren sein; denn
darüber hat man woanders zu entscheiden.
({4})
Die Institution des Wahlprüfungsgerichtes ist aber zu
hinterfragen. Auch in der Debatte hier ist deutlich geworden: Es ist doch seltsam, dass Politiker, die offensichtlich
nicht unabhängig sein können, plötzlich einen Richterstatus innehaben und auch noch in einer Frage entscheiden
müssen, die sie selbst betrifft.
({5})
Es geht nämlich darum, ob der Landtag gegebenenfalls
aufgelöst wird und neu gewählt werden muss.
Das ist eine Frage, die doch der Prüfung unterzogen
werden kann und muss.
({6})
Sie kann vor allen Dingen deshalb einer Prüfung unterzogen werden, weil die unabhängigen Richter da sogar die
Minderheit bilden: Sie sind nur zwei, während die anderen, die Politiker, die Mehrheit bilden.
Das ist ein Vorgang, den man nur in Hessen kennt. Deshalb kann ich überhaupt nicht erkennen, wieso uns das
hier im Bundestag beschäftigen sollte und warum wir uns
in irgendeiner Weise an dem Verfahren beteiligen sollten.
Es ist doch seltsam: Bei einem anderen Verfahren vor dem
Bundesverfassungsgericht, in dem es um einige Regelungen der Länder hinsichtlich der Besoldung von Funktionsträgern in den Fraktionen ging, haben wir gesagt: Wir
beteiligen uns nicht, weil das spezielle Länderregelungen
sind.
({7})
Jetzt geht es wieder um Länderregelungen und plötzlich
soll ein Professor mit einem Gutachten beauftragt werden.
Wir als F.D.P. sagen dazu ein klares Nein, weil wir
nicht erkennen können, dass das Bundesverfassungsgericht dadurch eine breitere Erkenntnismöglichkeit hat. Ich
denke, wir haben auch immer eine Verpflichtung gegenüber dem Steuerzahler. Wenn es keine neuen Erkenntnisse
gibt und wir auch gar keine eigenen Rechte haben, die
verletzt sein können, dann haben wir die Verpflichtung,
Steuergelder nicht auszugeben.
({8})
Das ist für uns ein entscheidender Gesichtspunkt. Deshalb
sagen wir Nein dazu, dass hier ein Professor mit einem
Gutachten beauftragt werden soll.
Herzlichen Dank.
({9})
Jetzt erteile ich das
Wort der Kollegin Dr. Evelyn Kenzler, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das bekannte Sprichwort
„Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte“ stimmt
zwar oft, aber nicht immer. Nachdem diese Frage bereits
ausführlich im Rechtsausschuss selbst besprochen wurde
und die gegensätzlichen Standpunkte des Für und Wider
ausgetauscht wurden - einschließlich der dazugehörigen
Fingerhakeleien unter den Obleuten -, hält sich meine
Freude über den heutigen Debattenpunkt sehr in Grenzen.
Ich halte die Aufblähung zu einem halbstündigen Debattenpunkt schlicht für überflüssig. Die gegensätzlichen
Meinungen hierzu sind ausgetauscht. Eine Abstimmung
über die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses
ohne Aussprache hätte es auch getan.
Ich stelle damit nicht die Bedeutung dieser Streitsache
für das Land Hessen, einschließlich seines Wahlprüfungsgerichts, in Abrede. Auch wenn die CDU-geführte hessische Landesregierung ihr Normenkontrollbedürfnis im
Hinblick auf Art. 78 der Landesverfassung reichlich spät
entdeckt, und zwar justament in dem Augenblick, in dem
sich die Bestimmung gegen sie selbst richten könnte, hat
sie dennoch selbstverständlich das Recht, einen entsprechenden Antrag beim Bundesverfassungsgericht einzureichen. Allerdings ist diese späte Besinnung politisch nicht
gerade glaubwürdig. Aber darum geht es wohl in Hessen
schon seit längerer Zeit nicht mehr.
({0})
Davon unabhängig kann dieser Schritt allerdings sogar
zu einer größeren Rechtsklarheit und damit auch zu einer
politischen Entlastung für das Wahlprüfungsgericht
führen, da die gesamte Debatte aufgrund der Spendenaffäre extrem parteipolitisch überlagert und emotionsgeladen ist. Auch wenn die hessische Finanzaffäre nach wie
vor sehr schlagzeilenträchtig ist und ihre Akteure offensichtlich nichts unversucht lassen, damit dieser Zustand
noch lange anhält, geht es heute allein um die Frage, ob
der Bundestag zu dieser Streitsache eine Stellungnahme
abgeben soll oder nicht. Dies hätte allerdings auch gut und
gerne ohne Debatte entschieden werden können.
Nachdem sich meine Fraktion im Rechtsausschuss
zunächst der Stimme enthalten hat, werden wir jetzt der
Beschlussempfehlung nach nochmaliger Prüfung zustimmen. Da der Bundestag durch dieses Normenkontrollverfahren in mehrfacher Hinsicht tangiert ist und auch ein
bundespolitisches Interesse zu bejahen ist und da die Arbeitsergebnisse des Untersuchungsausschusses Einfluss
auf das Wahlprüfungsverfahren in Hessen haben können,
halte ich eine Stellungnahme für sachgerecht, zumal der
entscheidende Senat offensichtlich auch Wert darauf legt.
Sowohl der Streitanlass - der Einsatz verschleierten
Auslandsvermögens im hessischen Wahlkampf durch die
CDU - als auch die kleinliche und peinliche Weiterführung der parteipolitischen Auseinandersetzung um
eine Stellungnahme des Deutschen Bundestages vor dem
Bundesverfassungsgericht zeugen jedoch nicht von hoher
Streitkultur. Die CDU würde an dieser Stelle wohl von
„Leitkultur“ sprechen. Aber keine Angst: Wenn nach der
Entscheidung des Wahlprüfungsgerichts in Hessen das
politische Chaos ausbrechen sollte, dann wird das Bundesverfassungsgericht es wieder einmal richten müssen.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu der Streitsache vor dem
Bundesverfassungsgericht, Drucksache 14/4354. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe!
- Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von CDU/CSU
und F.D.P. ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der sozialversicherungsrechtlichen Behandlung von einmalig gezahltem Arbeitsentgelt
({0})
- Drucksachen 14/4371, 14/4409 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1})
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich sehe
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Die Kolleginnen und Kollegen mögen sich bitte entscheiden, ob sie herausgehen oder sich hinsetzen wollen;
stehen bleiben geht nicht. - Das ist an sich ein interessantes Thema. Sie können ruhig hier bleiben.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister Walter Riester.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Völlig zutreffend sagte die Präsidentin, dass es um
ein sehr wichtiges Thema geht, wichtig vor allem für mehrere Millionen arbeitslose Menschen. Es geht um die Behandlung der Einmalzahlungen. Es geht darüber hinaus
um die Verlängerung von arbeitsmarktpolitischen Instrumenten und die Fortsetzung der Konsolidierung des Bundeshaushaltes.
Ich komme zuerst zum Komplex der Einmalzahlungen.
Das Bundesverfassungsgericht hat am 22. Juni dieses Jahres verlangt, die Fehler der alten Regierung in dieser
Frage zu korrigieren. Schon 1995 - ich erinnere daran hat das Bundesverfassungsgericht in einem Richterspruch
dargelegt, dass Einmalzahlungen dort einbezogen werden müssen, wo Lohnersatzleistungen erfolgen. Dieser
Richterspruch ist ignoriert worden.
({0})
Das Bundesverfassungsgericht erklärt zu dieser „Glanztat“ - ich zitiere -:
Für die vom Gesetzgeber vorgenommene Einschätzung der künftigen Entwicklung der Lohnersatzleistungen waren schon zum Zeitpunkt der Gesetzgebungsberatung keine hinreichenden Anhaltspunkte
gegeben.
({1})
Doch nicht die Verursacher, sondern die Betroffenen
hatten diese unsoziale Politik auszubaden. Unsere Aufgabe ist es jetzt, diese Altlasten abzutragen. Ich sage Ihnen: Das ist finanziell kein Pappenstiel. Die Mehrkosten,
die der Bundesanstalt für Arbeit entstehen, betragen in
diesem Jahr rund 2,4 Milliarden DM, im nächsten Jahr
3,7 Milliarden DM und in den Folgejahren rund 3 Milliarden DM.
({2})
Angesichts dieser Ausgabenlasten ist klar: Eine rückwirkende volle Erstattung aller Leistungsansprüche ist
leider nicht möglich. Das wären 18 Milliarden DM allein
bei den Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit gewesen,
für die natürlich keine Rücklagen gebildet wurden.
({3})
Wenn nun - mir ist das gerade heute in der Arbeits- und
Sozialministerkonferenz passiert - gerade von der Union
die Forderung kommt, den Arbeitslosenversicherungsbeitrag abzusenken, dann muss ich Ihnen sagen: Wären
dafür Rücklagen gebildet worden - Sie müssen es nur einmal hochrechnen -, dann könnten wir heute über eine Absenkung von 0,25 Prozentpunkten sprechen. Ich würde
das gerne machen, aber wir können es nicht. Wir müssen
Altlasten abtragen.
({4})
Wie erfüllen wir nun das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes? Uns geht es vor allem darum, dass die
Betroffenen - oder jetzt auch Begünstigten - möglichst
schnell unbürokratisch zu ihren Leistungen kommen.
Deswegen werden wir in diesem Jahr eine Pauschalierung
von 10 Prozent vornehmen, genau wie es das Bundesverfassungsgericht empfohlen hat. Diese 10 Prozent - das
sagte ich Ihnen - sind 2,4 Milliarden DM in diesem Jahr;
ab dem nächsten Jahr werden wir die für neue Ansprüche
Einmalzahlungen in die genaue Berechnung von Arbeitslosengeld und Krankengeld einbeziehen.
Darüber hinaus ist es dringend erforderlich, mindestens drei arbeitsmarktpolitische Instrumente zu verlängern. In der Situation, in der wir uns befinden, ist es
notwendig, die strukturbedingte Förderung von Arbeitnehmern im Rahmen von Kurzarbeit über das Jahr 2002
hinaus bis zum Ende des Jahres 2006 zu verlängern. Wir
sind zweitens der Meinung, dass die Strukturanpassungsmaßnahmen über den gleichen Zeitraum hin verlängert
werden müssen. Wir sind zum Dritten der Auffassung,
dass die Sonderregelungen zu den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den neuen Bundesländern, nach denen ein
Lohnkostenzuschuss bis zu 100 Prozent gezahlt werden
kann, vor dem Hintergrund der Situation über das Jahr
2002 hinaus verlängert werden müssen.
Ein weiterer Punkt, meine Damen und Herren, ist die
Konsolidierung des Bundeshaushaltes. Wir sind in der
günstigen Lage, dass aufgrund der Maßnahmen, die wir
ergriffen haben, aufgrund der ökonomischen Verbesserungen, aufgrund des Wachsens der Beschäftigungszahl
um rund 1 Million innerhalb von zwei Jahren und aufgrund der Entlastungen der Bundesanstalt für Arbeit eine
Situation auftritt, in der wir zwei arbeitsmarktpolitische
Maßnahmen aus dem Haushalt des Bundes in den der
Bundesanstalt für Arbeit überführen können. Es geht um
die künftige Finanzierung des Sonderprogramms zur Wiedereingliederung Langzeitarbeitsloser und um die teilweise vom Bund getragenen Strukturanpassungsmaßnahmen für Arbeitslosenhilfebezieher. Beide Maßnahmen
werden wir integrieren. Wir können das vor dem Hintergrund der positiven Entwicklung, die nicht zuletzt am Ergebnis unserer Arbeit zu sehen ist. Darüber können wir
uns freuen.
Zusammenfassend geht es bei dem Gesetz einerseits
um ein Wegräumen von Altlasten - das wird teuer, aber es
muss gemacht werden - und andererseits um die Entwicklung von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, die
uns die Möglichkeit bieten, Arbeitslosigkeit weiterhin zu
bekämpfen.
({5})
Als nächsten Redner
erteile ich dem Kollegen Heinz Schemken, CDU/CSUFraktion, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister,
wenn es so ist, dass die Frage der Verfassungswidrigkeit
für Sie einen so hohen Stellenwert hat, frage ich Sie ausdrücklich, warum Sie das Ganze nicht unmittelbar im Dezember 1998 geregelt haben.
({0})
Sie können ja nicht nur das Gute übernehmen; Sie übernehmen die laufenden Geschäfte einer Politik, die ja nicht
erst 1998 begonnen hat. Es gibt gute und schlechte Dinge.
Ich muss zugeben, dass das Bundesverfassungsgericht
am 24. Mai 2000 entschieden hat. Es geht um die Berechnung der kurzfristigen beitragsbezogenen Lohnersatzleistungen; der Minister hat das schon dargestellt. Ich
meine, dass wir diesem Bundesverfassungsgerichtsurteil
- so, aber dann auch wirklich wie der Minister die Verfassungssicherheit beschworen hat - in der Tat gerecht
werden müssen.
Das vorgesehene Gesetz wird diesem Anspruch nicht
gerecht.
({1})
Die Regelung wird ihm deshalb nicht gerecht, weil in Zukunft nicht nur die Belastungen zu bewältigen sind, sondern weil das bürokratische Verfahren dazu führt, dass das
Ganze nicht nur für die Sozialversicherungsträger und für
die Betriebe, sondern auch für die Beitragszahler verkompliziert wird.
Deshalb sind wir der Meinung, dass es dem Verfassungsanspruch nicht gerecht werden kann, wenn man diejenigen, die den Einspruch eingelegt haben, nach dem
21. Juni 2000 anders bemisst als die Übrigen, die erst zum
späteren Zeitpunkt berücksichtigt werden.
Wir sind der Meinung, wenn wir vor dem Hintergrund
der 10 Prozent dies regeln wollen, muss das auch einer
verfassungsrechtlichen Prüfung standhalten. Die Änderung sollte daher eingeführt werden, auch wenn es keine
Beanstandungen gab. Darauf werden wir achten. Nach
dem jetzt vorgelegten Regelungsentwurf sind gerichtliche
Klagen bereits vorprogrammiert, und ich will dazu als
Zeugen den Ihnen nicht ganz fremden Deutschen Gewerkschaftsbund aufrufen. Er hat Ihnen ja dazu verholfen,
dass Sie seit 1998 Mehrheiten haben und dieses Problem
nunmehr regeln können. Der Gewerkschaftsbund hat Betroffenen, die Musterprozesse anstrengen wollen, bereits
seine Hilfe zugesagt. Sie werden sicherlich nicht dagegen
sein, dass der DGB sein soziales Empfinden äußert und
die Regierung dadurch in Schwierigkeiten bringt.
({2})
Wir sind übrigens der Meinung - das gilt sowohl für
die Krankenkassen als auch für die Arbeitslosenversicherung -, dass Sie die Geldbeträge, die Sie im Zuge der Neuregelung aufwenden müssen, den Arbeitslosenhilfeempfängern im Rahmen der Reform der Rentenversicherung
bereits genommen haben. Hier kürzen Sie bei der Bemessung der Rente und treffen damit mit den Empfängern von
Arbeitslosenhilfe die ganz Schwachen, die erst später
merken werden, dass in ihre späteren Rentenansprüche
eingegriffen wurde.
({3})
Ich halte es deswegen für richtig, dass wir bei solchen
Schuldzuweisungen sehr moderat verfahren. Auch wir haben schon - wir haben 1983 eine SPD-Regierung abgelöst, und dazu könnte ich Ihnen manches sagen - verfassungswidrige Gesetze geändert, die Sie beschlossen
hatten.
({4})
Das kommt ja alles wieder; dann sind wir auch in der Verlegenheit, etwas neu regeln zu müssen. Ich fordere Sie
also auf, die notwendigen Änderungen ordentlich durchzuführen. Darum geht es letztlich.
Sie wissen, ich bin sehr moderat und nehme niemanden persönlich in die Pflicht. Aber diejenigen, die keinen
Widerspruch eingelegt haben, weil ihnen verschiedene
Spitzenverbände und Sozialpartner erklärten, Widersprüche seien nicht notwendig, weil eine mögliche Änderung bei einem entsprechenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts für alle Betroffenen gelten würde, würden
durch Ihr jetziges Vorhaben in ihrem Vertrauen enttäuscht.
({5})
Hierbei sind diejenigen im Wort, die das damals erklärt
haben. Die Zusicherung, die Leistung nachträglich zu gewähren, basiert übrigens auch auf der SGB-Vorschrift des
§ 44 und muss deshalb eingelöst werden.
Die rückwirkende Geltung für die Betroffenen wird
uns in den weiteren Beratungen beschäftigen. Wir sind
auch bereit, daran mitzuwirken, weil wir die Auffassung
des Bundesverfassungsgerichts voll und ganz teilen. Wir
fordern eine wasserdichte Lösung ein, weil wir das Thema
zur Zufriedenheit aller lösen wollen. Sonst handeln wir
uns nur noch einmal Ärger ein.
({6})
Insofern ist eine Regelung auch für diejenigen zu treffen,
die damals keine Rechtsmittel ergriffen haben. Nur das ist
korrekt und glaubwürdig.
Hinsichtlich der Einmalzahlung, der Beitragserhebung
und der Beitragsbemessungsgrenze stellen wir fest, dass
das Problem nicht nur für diejenigen besteht, deren
Jahresentgelt teilweise über der Bemessungsgrenze liegt,
sondern auch diejenigen trifft, deren Jahresentgelt unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze liegt.
Ich sage noch einmal: Wir sind bereit, an einer Änderung mitzuwirken. Wir sind dazu aber nur dann bereit,
wenn den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts voll
und ganz gefolgt wird.
Wir werden in den weiteren Beratungen im Ausschuss
und im Plenum ausreichend Gelegenheit haben, unsere
Vorstellungen einzubringen. Wir hoffen, dass wir damit
dem hohen Anspruch, der soeben von Herrn Minister
Riester postuliert wurde, gerecht werden und auf diese
Weise das Versprechen einlösen können, das die Träger
der Krankenversicherungen und die Regierungsvertreter
den betroffenen Versicherten gegeben haben. In diesem
Sinne wünschen wir uns eine gemeinsame Regelung.
Schönen Dank.
({7})
Nun hat das Wort die
Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Herr Schemken, es ist interessant anzuschauen,
welche Pirouetten Sie hier vorführen.
({0})
Sie haben gerade an die Adresse des Ministers gesagt,
dass wir, wenn uns die Verfassungswidrigkeit der bisherigen Regelung der Einmalzahlungen von Anfang an bewusst gewesen wäre, direkt nach der Regierungsübernahme im Jahre 1998 hätten handeln müssen. Herr
Schemken, ich möchte Ihnen mit Konfuzius sagen: Gehen
Sie nie durch eine Glastüre, wenn sie geschlossen ist. Sie
müssen sich fragen lassen, warum Sie nicht schon 1995
gehandelt haben, als Sie an der Regierung waren und
Ihnen das Bundesverfassungsgericht verfassungswidriges Handeln bescheinigt hat. Wie viel ist Ihnen, Herr
Schemken, verfassungsmäßiges Handeln eigentlich wert?
({1})
Wir müssen jetzt eine sozial fragwürdige und ungerechte Hinterlassenschaft der alten Bundesregierung - das
ist uns vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil
verbrieft aufgegeben worden - beseitigen. Es ist selbstverständlich, dass den Beiträgen der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer entsprechende Leistungen gegenübergestellt werden müssen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist nichts anderes als eine zweite, späte Ohrfeige für die alte Bundesregierung.
({2})
Einmalzahlungen müssen bei den Arbeitslosengeld-,
Krankengeld- und Übergangsgeldberechnungen berücksichtigt werden. Die jetzige Bundesregierung wird
schneller tätig, als es das Bundesverfassungsgericht vorgeschrieben hat. Bereits ab Juni dieses Jahres gibt es
Übergangsregelungen, die eine pauschalierte Anhebung
des Arbeitslosengeldes, des Krankengeldes und des Übergangsgeldes vorsehen. Wir haben also direkt nach dem
Urteil des Bundesverfassungsgerichts dafür gesorgt, dass
die Gelder in die Taschen der betroffenen Versicherten
fließen. Schneller kann man nicht reagieren!
Ab dem 1. Januar 2001 werden dem Weihnachtsgeld
und anderen Einmalzahlungen entsprechende Versicherungsleistungen gegenübergestellt. Dies ist sozialer, als
bei den Beiträgen anzusetzen, wie das beispielsweise die
F.D.P.-Fraktion vorschlägt; denn der Ansatz bei den
Beiträgen würde einmal mehr zu einer Aushöhlung unserer sozialen Sicherungssysteme führen. Nur mit der Sicherung der Beitragseinnahmen für die sozialen Sicherungssysteme kann gewährleistet werden, dass das
Arbeitslosengeld und das Krankengeld in angemessener
Höhe gezahlt werden können und dass die Beiträge stabil
bleiben.
({3})
- Ich glaube Ihnen, Herr Niebel, dass Ihre Fraktion das für
Quatsch hält. Gerade an dieser Stelle wird deutlich, dass
der Weg der Bundesregierung richtig ist, die Beitragssatzstabilität nicht durch Einschränkung der Leistungen
zu sichern, sondern - so wie wir das machen - durch einen vernünftigen Konsolidierungskurs und einen vernünftigen wirtschaftspolitischen Kurs die Arbeitsmarktpolitik voranzubringen, die Arbeitslosigkeit zu verringern
und dadurch Spielräume für Beitragsentlastungen zu
schaffen. Das geschieht übrigens auch durch die Ökosteuer.
({4})
- Herr Niebel, Sie werden später reden. Dann werden Sie
uns Ihre Vorstellungen erklären.
({5})
- Ich habe längst verstanden, dass Sie hier einmal mehr
einen unsozialen Vorschlag gemacht haben. Das haben
Sie schon öfter getan.
Es ist nie versprochen worden - auch nicht von den
Krankenkassen; das ist falsch dargestellt worden -, Leistungen rückwirkend zu gewähren. Die Krankenkassen haben lediglich vorgeschlagen, rückwirkend allen Beziehern von Krankengeld eine Nachzahlung zukommen zu
lassen. Das würde - das entspricht auch dem, was Sie gefordert haben - alleine für die Krankenkassen eine zusätzliche Belastung von mehr als 15 Milliarden DM bedeuten. Wenn wir das zuließen, würde das bedeuten, dass
wir die Kosten, die entstehen würden, wenn wir Ihre Hinterlassenschaft und die Folgen Ihres unsozialen Handelns
aus den letzten Jahren beseitigen wollten, über Beitragserhöhungen auf die heutigen Beitragszahler überwälzen
würden. Das wäre überhaupt nicht im Sinne der Solidargemeinschaft. Deswegen wollen wir das auch nicht.
({6})
Meine Damen und Herren, ein weiterer Punkt, in dem
vorliegenden Gesetzentwurf - er enthält ja vieles - ist die
Senkung der Bemessungsgrundlage für die Krankenversicherungsbeiträge von Arbeitslosenhilfeempfängern auf
58 Prozent. Ich gebe hier freimütig zu - wir treten ja noch
in die Gesetzesverhandlungen ein -, dass uns die im letzten Jahr erfolgte Absenkung der Bemessungsgrundlage
für Arbeitslosenhilfeempfänger in Bezug auf die Rentenversicherung und die in diesem Jahr erfolgte Absenkung
in Bezug auf die Krankenversicherung aus sozialpolitischer Sicht wirklich erhebliche Bauchschmerzen machen
und weh tun.
({7})
Ich muss aber, was die Krankenkassen anbelangt, hinzufügen, dass keine Leistungseinschränkungen für die
Versicherten eintreten werden.
({8})
- Mit Verschwendung hat das überhaupt nichts zu tun, wie
Herr Niebel von der F.D.P. immer wieder dazwischenruft,
({9})
sondern es hat etwas damit zu tun, dass wir die Gewährleistung von sozialen Leistungen sicherstellen müssen.
Ein weiterer Punkt in unserem Gesetzespaket ist die
Verlängerung der Geltungsdauer der Strukturanpassungsmaßnahmen, des Kurzarbeitergeldes und der Sonderregelungen für die Teilzeitarbeit, beispielsweise bei ABM. Wir
wissen alle, dass die Arbeitsmarktsituation gerade in den
neuen Bundesländern immer noch nicht unseren Wünschen entspricht, dass sie schwierig ist.
({10})
Das ist ein Grund mehr, warum wir diese Maßnahmen
fortführen müssen, genauso wie wir übrigens für die
nächsten Jahre die Fortführung des JUMP-Programms
festgeschrieben haben.
({11})
Die vorgeschlagenen Maßnahmen bedeuten für die Zukunft eine Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik und eine
Entlastung des Arbeitsmarktes. Da geht es, Herr Niebel
- an die denken Sie natürlich nie -, um die von Langzeitarbeitslosigkeit Betroffenen,
({12})
denen wir weiterhin Brücken in den ersten Arbeitsmarkt
bauen müssen. Dass Sie das nicht interessiert, haben wir
schon hinlänglich erfahren.
({13})
Eine aktive Arbeitsmarktpolitik und eine Sicherung der
sozialen Leistungen bei gleichzeitiger Stabilisierung der
Beitragssätze, das ist der Ansatz unseres Konzeptes,
({14})
dem das Konzept der F.D.P. weit entfernt gegenübersteht.
Das wird uns auch gleich vorgeführt werden.
Wir jedenfalls werden mit diesem Gesetzentwurf die
Altlasten der alten Bundesregierung beseitigen und weitere positive Schritte für die Arbeitsmarktpolitik vorbereiten.
Danke schön.
({15})
Das Wort hat der Kollege Dirk Niebel, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ach, Frau Dückert, Sie haben wieder einmal bewiesen - wie übrigens auch Ihre Vorredner -, dass einzig und allein die F.D.P., hier einen anderen Ansatz hat und nur sie den Menschen in diesem
Land zutraut, in der Lage zu sein, mit ihrem Geld zu wirtschaften.
({0})
Das Bundesverfassungsgericht hat nicht ohne Grund
der Bundesregierung die Wahl gelassen, ob sie bei den
Beiträgen oder ob sie bei den Leistungen ansetzen will.
Die Bundesregierung weitet die Leistungen aus, statt den
Menschen das Geld in ihren Taschen zu lassen.
({1})
Das ist das Prinzip „linke Tasche, rechte Tasche“. Man
nimmt den Bürgerinnen und Bürgern ihr schwer verdientes Geld aus der linken Tasche, katalysiert es durch einen
teuren Verwaltungsapparat und gibt es ihnen dann vorzugsweise zweckgebunden und um die Verwaltungskosten vermindert in die rechte Tasche wieder zurück. Das ist
typisch deutsch. Der deutsche Michel mit seiner Schlafmütze wird von Vater Staat an der Hand durchs Leben geführt.
Unser Ansatz ist ein anderer.
({2})
Die Menschen in diesem Land sind erwachsen und wissen am besten, was mit ihrem Geld anzufangen ist.
({3})
Sie hatten die Wahl zwischen geringeren Einnahmen
auf der einen Seite und Mehrausgaben auf der anderen
Seite.
({4})
({5})
Kein einziger Leistungsempfänger hätte auch nur einen
einzigen Pfennig weniger bekommen, wenn Sie die Einmalzahlungen beitragsneutral geregelt hätten. Auf der anderen Seite hätten Sie allerdings bei den Lohnzusatzkosten gespart. Sie hätten mehr Spielraum für die Schaffung
von Arbeitsplätzen bekommen. Sie hätten die Möglichkeit geschaffen, durch mehr Beitragszahler - denn man
schafft mehr Beschäftigung, wenn die Lohnnebenkosten
geringer sind - noch mehr Beiträge einzunehmen und die
gesamte Beitragszahlergemeinschaft zu entlasten.
({6})
Die Bundesanstalt für Arbeit hätte keine einzige Leistung
einschränken müssen.
Ihre Gegenargumente sind geradezu hanebüchen. Da
wird jetzt tatsächlich erzählt, dass, wenn man die Berücksichtigung von Einmalzahlungen auf der Beitragsseite regeln würde, derzeitige Arbeitsentgelte möglicherweise in
Einmalzahlungen umgewandelt werden müssten.
({7})
- So etwas Groteskes, liebe Kollegin, habe ich in diesem
Hause noch nie gehört.
Stattdessen weiten Sie die Leistungen immer weiter
aus. Das kostet die gesetzlichen Krankenversicherungen
allein durch die Nachzahlungen nur an diejenigen, die
Klage oder Widerspruch eingelegt haben, 1,5 Milliarden DM, wobei die zukünftigen Mehrausgaben noch gar
nicht berücksichtigt sind. Der Minister hat die Mehrkosten der Bundesanstalt für Arbeit berechnen lassen: Sie betragen in diesem Jahr 2,4 Milliarden DM und im nächsten
Jahr 3,7 Milliarden DM. Herr Riester, angesichts dessen
sagen Sie, diese Belastungen seien der Grund dafür, dass
Sie die Beiträge nicht senken können! Wenn Sie auf der
Beitragsseite einsparen würden, wären das allein bei der
Bundesanstalt für Arbeit 0,25 Beitragspunkte weniger
und wir hätten schon jetzt mehr Spielraum, neue Beschäftigung in diesem Land zu schaffen.
({8})
Sie wälzen, weil Sie, wie schon gesagt wurde, in diesen Gesetzentwurf unheimlich viel hineingestopft haben
- zum Beispiel die Strukturanpassungsmaßnahmen oder
das Jugendarbeitslosenprogramm JUMP -, Kosten vom
Steuerzahler auf die Beitragszahler ab. Sie bereinigen
Ihren eigenen Haushalt und nennen das auch noch hochtrabend „sparen“. Ich persönlich nenne das einen Griff in
die Tasche der Menschen, die in diesem Land das Wirtschaftswachstum erarbeiten müssen. Darüber hinaus,
Herr Riester - das sei Ihnen nachgesehen, weil Sie kein
Bundestagsmandat haben -, entziehen Sie diese Leistungen dem Zugriff des Parlaments und dessen Kontrolle, indem Sie sie in die Selbstverwaltung der Bundesanstalt
überführen.
({9})
Die Absenkung der Bemessungsgrundlage für die gesetzliche Krankenversicherung bei Arbeitslosenhilfeempfängern verursacht bei den Krankenversicherungen pro
Jahr 1,2 Milliarden DM Mindereinnahmen - und das angesichts der finanziellen Lage, in der sie sich derzeitig befinden. Sie aber vergießen Krokodilstränen, wenn Sie fordern, den Krankenkassen mehr Geld zukommen zu
lassen. Das ist unredlich und unehrlich. Dies betrifft
ebenso die Fristverlängerung für Strukturanpassungsmaßnahmen und die Regelungen zum Kurzarbeitergeld
bis 2006 und die Sonderregelung von Teilzeit-ABM in
den neuen Bundesländern bis 2002. Sie stellen wie immer,
seit Sie regieren, die Weichen exakt in die falsche Richtung. Sie haben sich ein Ei gebastelt, an dem Sie jetzt eine
ganze Zeit lang flickschustern, anstatt zu beginnen, dauerhaft an der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu arbeiten. Arbeitslosigkeit könnten Sie bekämpfen, indem Sie
durch mehr Beschäftigung mehr Beitragszahler gewinnen. Mehr Beschäftigung erreichen Sie, indem Sie den
Arbeitgebern Geld in der Tasche lassen, um in diesem
Land Arbeitsplätze zu schaffen, und indem Sie den Arbeitnehmern Geld in der Tasche lassen, damit sie Beiträge
zahlen und Sie die Beiträge dann senken können. Das
wäre der richtige Weg, anstatt Leistungen zu gewähren,
die dieses Ziel konterkarieren.
({10})
Herr Riester, das Verfassungsgericht hat Ihnen die
Möglichkeit gegeben, auszuwählen, was der richtige Weg
ist. Trauen Sie den Menschen in diesem Land zu, dass sie
in der Lage sind, die wesentlichen Weichen in ihrem Leben selbst besser zu stellen, als es der Staat für sie tun
kann! Der Staat war schon immer der schlechtere Unternehmer in diesem Land. Er ist, seit Sie regieren, mit Sicherheit auch der schlechtere Ratgeber. Ich bitte Sie ganz
herzlich: Ergreifen Sie die Chance, die Ihnen das Verfassungsgericht geboten hat. Lassen Sie den Menschen das
Geld, das sie verdienen, in der Tasche. Das hilft im Endeffekt uns allen.
Vielen Dank.
({11})
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Pia Maier.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Es ist schon faszinierend, was für Wendungen
und Drehungen Sie hier angesichts des Sachverhalts vollziehen, dass zwei Bundesregierungen unterschiedlicher
Farbgebung einfach nicht in der Lage waren, ein
Bundesverfassungsgerichtsurteil umzusetzen.
Lassen Sie mich noch einmal sagen, worum es geht:
Einmalzahlungen, zum Beispiel Urlaubs- und Weihnachtsgeld, auf die Sozialversicherungsbeiträge erhoben
werden, müssen bei Lohnersatzleistungen wie Arbeitslosen- oder Krankengeld berücksichtigt werden. Beide
Bundesregierungen der letzten Jahre haben es nicht geschafft, diesen logischen Sachverhalt zu regeln.
Die neue Bundesregierung unternimmt nun wirklich
notwendige Schritte, löst das Problem aber nur zum Teil,
indem sie neu entstehende Ansprüche zwar verfassungsgemäß behandelt, bei den Altfällen aber ab dem Tag der
Urteilsveröffentlichung pauschal erhöht; auf die kritischen Details dieser Regelung komme ich noch zu sprechen. Sie tut es beim Krankengeld, beim Übergangsgeld,
beim Unterhaltsgeld und beim Arbeitslosengeld. In Bezug
auf diese beitragsfinanzierten Leistungen wurden nun seitens der Bundesregierung Urteile gefällt.
Weiterhin ausdrücklich ausgenommen wird von Ihnen
die Arbeitslosenhilfe. Sie ist natürlich nicht beitragsfinanziert; das Argument der Beitragsgerechtigkeit zählt hier
also nicht. Sie können doch niemandem logisch erklären,
warum eine Leistung, die an der Lohnhöhe bemessen
wird, einen Teil des erhaltenen Lohnes nicht mit einschließt. Als nichts anderes denn als Lohn werden diese
Einmalzahlungen nun einmal empfunden, zumal Sie ja
auch weiterhin auf diese - so wie auf den Lohn - Sozialversicherungsbeiträge erheben. Auch das hätten Sie
schließlich ändern können; entsprechende Zahlen sind
genannt worden.
Sie reißen eine neue Gerechtigkeitslücke auf. In der
Begründung Ihres Gesetzentwurfes sagen Sie deutlich,
worum es Ihnen geht. Die Arbeitslosenhilfe soll so gering
wie möglich gehalten werden, damit die Betroffenen
niedrig entlohnte Tätigkeiten annehmen müssen. Sie nennen das Anreiz. Das klingt in den Ohren der Betroffenen
ziemlich zynisch.
Ein Punkt der Neuregelung ärgert mich ganz besonders: Obwohl das schon lange bekannt ist, haben sie keine
Nachzahlungen für den Zeitraum seit dem ersten Bundesverfassungsgerichtsurteil vorgesehen. Ich weiß, dass Sie
diese nicht leisten wollen. Aber Sie müssen sich nun vorwerfen lassen, dass Sie die Menschen um ihre Ansprüche
bringen, die im guten Glauben an die Rechtstaatlichkeit
davon ausgegangen sind, dass der Gesetzgeber umsetzt,
was laut Verfassung geboten ist. Das hätte ich von einer
sozialdemokratischen Regierung erwartet.
({0})
Stattdessen belohnen Sie nun aus Kostengründen die,
die dem Sozialstaat nicht mehr vertrauen und immer und
grundsätzlich Widerspruch einlegen. Die Krankenkassen
hatten im Vertrauen auf eine zügige Regelung ihren Mitgliedern angeraten, keinen Widerspruch einzulegen. Die
Mitglieder, die sich brav verhalten haben, müssen sich
jetzt doppelt veräppelt vorkommen.
Lassen Sie mich zum Schluss darauf hinweisen, dass
Sie mit diesem Gesetzentwurf die Finanzierung der Strukturanpassungsmaßnahmen und des Programms zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit auf die Bundesanstalt für Arbeit verlagern. Damit machen Sie aus steuerfinanzierten Aufgaben, also Aufgaben der Allgemeinheit,
beitragsfinanzierte, als wären Langzeitarbeitslose und die
Strukturdefizite im Osten nur ein Problem von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Arbeitsnehmerinnen. Hiermit,
mit der weiteren Entkopplung von Lohn und Arbeitslosenhilfe und mit der Schlechterstellung der Arbeitslosenhilfe gegenüber dem Arbeitslosengeld ziehen Sie sich aus
der direkten staatlichen Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit zurück und drängen die Menschen, die unter diesen Missständen zu leiden haben, weiter in die Armut.
({1})
Ihnen ist die Konsolidierung des Bundeshaushalts wichtiger als die Unterstützung dieser Betroffenen, die weiterhin Arbeitsplätze haben möchten.
Wir wollen existenzsichernde Arbeitsplätze für alle,
die arbeiten wollen und können, und wir wollen, dass alle
Betroffenen eine angemessene Erhöhung ihrer Leistungen erhalten,
({2})
und zwar unabhängig davon, ob es sich um Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe oder Krankengeld handelt, ob sie
Widerspruch eingelegt haben oder nicht.
Ich danke Ihnen.
({3})
Nächster Redner ist
der Kollege Franz Thönnes, SPD-Fraktion.
Meine sehr geehrten Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das ist das
übliche Spiel, das wir immer wieder in diesem Hause erleben: Diejenigen, die den Staatshaushalt mit 1,5 Billionen DM an die Wand gefahren haben,
({0})
die die Arbeitslosigkeit auf über 4 Millionen Betroffene
hochgefahren haben, die den Arbeitnehmern das Geld aus
der Tasche gezogen und von unten nach oben umverteilt
haben, wollen heute mit Reden über die linke und die
rechte Tasche den Eindruck erwecken, sie wüssten es besser. Das geht so nicht.
({1})
- Herr Niebel, das war nicht einmal Mittelklasse.
({2})
Bei dem Gesetzentwurf, den wir heute beraten, geht es
im Kern um Verfassungsgerechtigkeit und um Verlässlichkeit.
({3})
Ich kann eigentlich nur an das erinnern, was unser Kollege Hans Büttner bei den damaligen Gesetzesberatungen
vorausgesagt hat, indem er dem damaligen Arbeitsminister ins Stammbuch geschrieben hat: Dieses Gesetz wird irgendwann im Rhein versinken, weil es nicht verfassungskonform ist. - Genau das ist eingetroffen.
({4})
Deswegen ist es notwendig, dass wir das bestehende Gesetz jetzt ändern. Denn die alte Regierung hat mit ihren
gesetzlichen Regelungen gegen die Verfassung verstoßen.
Das Schlimme ist: Sie hat gleich zweimal dagegen verstoßen. Wissen Sie, wie man das nennt? Das nennt man
Wiederholungstäter und Sie lernen noch nicht einmal daraus.
({5})
Kollege Schemken, das Verfassungsgericht hat dem
Gesetzgeber auferlegt:
Der Gesetzgeber hat durch geeignete Regelungen sicherzustellen, dass einmalig gezahlte Arbeitsentgelte
bei den Lohnersatzleistungen berücksichtigt werden,
soweit über deren Gewährung für die Zeit nach dem
1. Januar 1997 noch nicht bestandskräftig entschieden worden ist. Dem Gesetzgeber bleibt es unbenommen, statt einer individuellen Neuberechnung
der Altfälle aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität die Bemessungsentgelte pauschal um 10 vom
Hundert anzuheben. Denn um diesen Prozentsatz
erhöhen sich im Durchschnitt die Lohnersatzleistungen bei Berücksichtigung einmalig gezahlter Arbeitsentgelte, wenn aufgrund der vorliegenden Informationen über die Lohnstruktur bei ganzjährigen Beschäftigungsverhältnissen ... davon ausgegangen
wird, dass die Mehrzahl der Versicherten ein Weihnachts- und Urlaubsgeld erhält.
Dem kommen wir jetzt nach; daran halten wir uns; das
wird nun umgesetzt.
({6})
Der Gesetzentwurf stellt ebenfalls klar: Einmalzahlungen werden in der Zukunft bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes, des Krankengeldes und anderer Ersatzleistungen berücksichtigt. Bei Altfällen, also Fällen, in
denen Klage oder Widerspruch erhoben wurde, und bei
Übergangsfällen, das heißt in dem Bereich, in dem es bis
zum In-Kraft-Treten der jeweiligen Neuregelung Ansprüche gibt, wird das Bemessungsentgelt der jeweiligen
Leistung in Anlehnung an die eben zitierte, vom Bundesverfassungsgericht klar formulierte Vorgabe pauschal um
10 Prozent erhöht. Das schafft Sicherheit, das schafft Verlässlichkeit und das ist verfassungsgerecht.
Der Anspruch auf Kurzarbeitergeld besteht derzeit bis
zum 31. Dezember 2002. Damit wird in diesem Bereich
bei Leistungsbezügen, die nach dem 1. Januar 2001 beginnen, keine Möglichkeit mehr bestehen, die längstmögliche Bezugsfrist von 24 Monaten voll auszuschöpfen.
Wir wissen alle, wie sinnvoll es ist, Zeiten der Kurzarbeit für die Weiterbildung zu nutzen. Deshalb sollten in
diesen Zeiten Qualifizierungsmaßnahmen durchgeführt
werden. Dauert die Kurzarbeit länger als sechs Monate, so
sind Maßnahmen zur beruflichen Eingliederung sogar
zwingend vorgeschrieben. Wir stellen anhand der Praxis
in der Vergangenheit fest, dass es dadurch zu einer Steigerung der Qualifizierungsquote gekommen ist.
Wir sprechen gerne und oft vom lebensbegleitenden
Lernen, Herr Kollege Niebel. Eigentlich wäre es jetzt notwendig, hier zu handeln, der Globalisierung und ihren
Folgen gerecht zu werden und den Anpassungsprozess zu
begleiten. Deswegen muss man auch hier fordern: Weiterbilden statt Entlassen, Qualifizieren statt Reduzieren.
Wir schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe, wenn wir die
Arbeitslosigkeit mit dem Weiterbildungsbedarf verbinden
und die Befristung des Kurzarbeitergeldes von 2002 auf
Ende 2006 verlängern. Das bringt Planungssicherheit, das
ist Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik und das ist Verlässlichkeit.
({7})
Sie wissen ebenso, dass Arbeitslose und von Arbeitslosigkeit bedrohte Arbeitnehmer durch Strukturanpassungsmaßnahmen gefördert werden können. 90 200 Menschen
waren das Ende September dieses Jahres in den neuen
Ländern. Wir stellen fest, dass es nicht möglich ist, die
Höchstförderungsdauer von 36 bis 48 Monaten auszuschöpfen, wenn wir jetzt keine Verlängerung anstreben.
Deswegen sagen wir auch hier: Im Interesse der Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik und auch hinsichtlich der
Träger, der Länder und der Kommunen, die erhebliche
Kofinanzierungsmittel bereitstellen, wollen wir die Befristung bis zum 31. Dezember 2006 verlängern. Dabei ist
weiterhin sichergestellt, dass Arbeitslosenhilfebezieher
bei Strukturanpassungsmaßnahmen angemessen zu berücksichtigen sind. Das bringt Planungssicherheit, das ist
Verstetigung der Arbeitsmarktpolitik und das ist Verlässlichkeit.
({8})
- Ich wiederhole das, weil das bei Ihnen manchmal zum
einen Ohr rein- und zum anderen wieder rausgeht und
nichts dazwischen ist, was es aufhalten könnte.
({9})
Der dritte Punkt der Verlässlichkeit besteht schlichtweg darin, dass wir noch immer eine hohe Zahl von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen haben. Auch diese Regelung ist befristet. Wir wollen sie bis zum 31. Dezember
2002 verlängern, was zusätzliche Verlässlichkeit bedeutet.
Um Verlässlichkeit geht es auch bei der dringend notwendigen Haushaltskonsolidierung. Hier muss die Arbeitsmarktpolitik ebenfalls ihren Beitrag leisten. Wir haben durch den eingeleiteten Kurs dieser Regierung eine
hervorragende Entwicklung:
({10})
Im Juni 2000 hatten wir 38,5 Millionen Beschäftigte; das
ist 1 Million mehr als zum 1. Januar 1999.
({11})
Das war die höchste Zahl der Erwerbstätigen seit 1991.
Wir hatten im September die niedrigste Arbeitslosenrate in einem September seit 1993.
({12})
Das zeigt schlichtweg: Die gute Haushaltspolitik, die
Steuerpolitik, die Finanzpolitik, die Qualifizierungspolitik, die Investitionen in Forschung und Bildung zahlen
sich aus; die Politik dieser Regierung wirkt!
({13})
Deswegen können wir jetzt, wenn wir feststellen, dass
die Ausgaben für das Arbeitslosengeld aufgrund des
Rückgangs der Arbeitslosigkeit sinken, die Kosten der
Konsolidierung des Haushaltes, da wir die Neuverschuldung begrenzen und die Staatsverschuldung langsam
abbauen wollen, verlagern, indem wir sie auf die Bundesanstalt für Arbeit übertragen. Auch in diesem Zusammenhang sei noch einmal daran erinnert, dass es zum
ersten Mal seit 1997 keinen direkten Bundeszuschuss
mehr für die Bundesanstalt für Arbeit geben soll.
({14})
Das haben Sie in Ihrer Zeit nie fertig gebracht.
Das heißt im Klartext: Der Kurs, der hier eingeschlagen wird, schafft auch hinsichtlich der Finanzpolitik Verlässlichkeit und ist zukunftsgerecht.
Das Fazit dieser gesetzlichen Neuregelung ist: Erstens.
Einmalzahlungen wie Weihnachts- und Urlaubsgeld werden in die Berechnung des Arbeitslosen- und Krankengeldes einbezogen und führen so zu höheren Leistungen.
Das ist gut und gerecht gegenüber den Beitragszahlern sowie gegenüber der Verfassung.
Zweitens -
Herr Kollege
Thönnes, bevor Sie zum zweiten Punkt kommen: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckelburg?
Ich bin jetzt in Anbetracht der
Redezeit schon beim Abspann.
Ihre restliche Redezeit
geht Ihnen nicht verloren.
Deswegen würde ich jetzt
gern weitermachen.
({0})
Zweitens. Befristete arbeitsmarktpolitische Instrumente werden verlängert und berücksichtigen damit insbesondere die Situation bestimmter Gruppen, die von Arbeitslosigkeit betroffenen sind, und die Lage in den neuen
Ländern. Das ist gut und gerecht gegenüber den Arbeitslosen, das ist gut und gerecht gegenüber den Trägern, gegenüber den Kommunen und insbesondere den neuen
Ländern.
Drittens. Die gute wirtschaftliche Entwicklung lässt es
zu,
({1})
dass der Bundeshaushalt von der Finanzierung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen entlastet werden kann. An
der Verstetigung der aktiven Arbeitsmarktpolitik wird
festgehalten. Das ist gut und gerecht für die weitere Konsolidierung der Staatsfinanzen.
({2})
Das ist auch gut und gerecht gegenüber den Notwendigkeiten einer beschäftigungswirksamen Wirtschaftspolitik.
Das sichert die Chancen für Innovationen in unserem
Land und für Investitionen in Bildung und Forschung.
Kurzum, um Ihnen das so auch ganz einfach und verständlich zu sagen: Verlässlichkeit und Verfassungsgerechtigkeit
({3})
werden auch hier Stück für Stück wieder Praxis in diesem
Land, was bei Ihnen nicht drin war.
({4})
Der letzte Redner in
dieser Debatte ist der Kollege Wolfgang Zöller für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Werte Kolleginnen und Kollegen! Das Bundesverfassungsgericht hat im Mai 2000 entschieden, dass es der
Gleichheitssatz gebietet, einmal gezahltes Arbeitsentgelt
zum Beispiel bei der Berechnung des Krankengeldes zu
berücksichtigen.
({0})
Es ist eine Neuregelung bis zum 30. Juni 2001 erforderlich.
Welche Lösung schlägt Rot-Grün vor?
({1})
Einmalig gezahltes Arbeitsentgelt wird in die Berechnung
des Krankengeldes einbezogen. Über diesen Sachverhalt
gibt es parteiübergreifend Konsens.
Jetzt begehen Sie aber zwei, wie ich meine, entscheidende Fehler.
({2})
Erstens. Die Bemessungsgrundlage für den Beitrag zur
Krankenversicherung wird für Bezieher von Arbeitslosenhilfe von 80 auf 58 Prozent vermindert. Dies führt zu
Mindereinnahmen in der gesetzlichen Krankenversicherung von über 1,2 Milliarden DM im nächsten Jahr.
Das heißt, die Einnahmeseite der gesetzlichen Krankenversicherung wird von Ihnen einmal mehr wesentlich verschlechtert.
({3})
Welche Auswirkungen das im Übrigen gerade auf die gesetzliche Krankenversicherung in den neuen Ländern
hat -, denn dort ist die Arbeitslosenquote sehr hoch, wird
von Ihnen völlig ignoriert.
({4})
Zweitens - jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Thönnes: Ihre
Regelung soll nur für Personen gelten, die geklagt haben.
Damit zeigen Sie keine Verlässlichkeit. Vielmehr begehen
Sie Vertrauensbruch, wie er schlimmer noch nicht da war.
Ich werde Ihnen das beweisen.
({5})
Sie mögen formaljuristisch Recht haben. Aber wie
wollen Sie den Bürgern gegenüber diesen Gesetzentwurf
erklären und rechtfertigen?
Da verkünden die Spitzenverbände der Krankenversicherungen, dass ein Widerspruch gegen Krankengeldbescheide zur Wahrung etwaiger Ansprüche nicht notwendig ist. Da verkündet der Parlamentarische Staatssekretär
im Bundesministerium für Arbeit - ich zitiere eine dpaMeldung -:
Das Bundesarbeitsministerium hat von Rückforderungen der Sozialbeiträge auf Einmalzahlungen wie
dem Weihnachtsgeld abgeraten und die Kampagne
der Bild-Zeitung zur Rückzahlung als Unsinn kritisiert.
({6})
Für den Einzelnen gibt es überhaupt keine Notwendigkeit, die Antragsformulare auf Rückerstattung
auszufüllen und wegzuschicken.
({7})
Es gebe keine Notwendigkeit zu klagen, sagte der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres, SPD, der Deutschen Presse-Agentur in Berlin.
({8})
Er wies darauf hin, dass sich die Spitzenverbände der Sozialversicherungen zur Rückzahlung bereit erklärt haben,
falls dies vom Bundesverfassungsgericht aufgrund der
vorliegenden Klagen so entschieden werde.
({9})
Da bezeichnet Arbeitsminister Riester Anträge auf Rückforderung der von Urlaubs- und Weihnachtsgeld einbehaltenen Sozialversicherungsbeiträge als unnötig. Entsprechende Empfehlungen würden die Bürger nur
verunsichern.
({10})
Heute legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der die rückwirkende Umsetzung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichtes nur auf die Personen beschränkt, die geklagt haben.
({11})
Herr Minister, Sie haben den Bürgerinnen und Bürger bewusst die Unwahrheit gesagt.
({12})
Sie in der Regierung tragen mit dazu bei, dass der Eindruck entsteht: Die Bürger, die sich auf die Aussagen der
Regierung verließen, sind verlassen, und die, die geklagt
haben, gelten wieder als die Cleveren in unserem Land.
Die Gutgläubigen sind wieder die Dummen.
Der Gesetzentwurf, den Sie heute vorlegen, verdient
die Bezeichnung „Einmalzahlungs-Neuregelungsgesetz“
nicht.
({13})
Er müsste „Vertrauensbruchgesetz“ heißen. Diese Bezeichnung würde dem Inhalt des Gesetzes eher gerecht.
({14})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksachen 14/4371 und 14/4409 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 sowie den Zusatzpunkt 11 auf:
9. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge und
zur Änderung und Aufhebung arbeitsrechtlicher Bestimmungen
- Drucksache 14/4374 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
ZP 11 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Irmgard Schwaetzer,
Rainer Funke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Intensivierung der Beschäftigungsförderung
- Drucksache 14/4103 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Zur Einführung hat der
Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Walter
Riester, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge greifen wir zwei Missstände auf: erstens den
Mangel an Teilzeitarbeitsplätzen und zweitens den Missbrauch von befristeten Arbeitsverträgen. Das Beschäftigungsförderungsgesetz wird abgelöst und eine moderne
Rechtsgrundlage für Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge wird geschaffen. Die Regelungen setzen auf Flexibilität und Rechtsklarheit. Genau das brauchen wir.
Ich komme zur Teilzeitarbeit. Etwa 3 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wünschen sich Teilzeitarbeit und wünschen sich, ihre Arbeitszeit zu verringern. Hier liegt ein ungenutztes Beschäftigungspotenzial.
Das IAB, das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit, schätzt ein, dass es
über Teilzeit langfristig rund 1 Million zusätzliche
Beschäftigungsverhältnisse gibt. Wir haben in unserem
Land im Vergleich mit anderen europäischen Ländern leider nur eine sehr geringe Anzahl von Teilzeitarbeitsplätzen. Die Teilzeitquote bei uns beträgt gerade einmal 18,5 Prozent. Zum Vergleich: Die Niederlande haben
eine Teilzeitquote von 38,7 Prozent. Wir haben in diesem
Bereich also einen erheblichen Nachholbedarf.
Wir wollen Teilzeitarbeit natürlich nicht gesetzlich
verordnen. Das wäre der falsche Weg. Nach dem Gesetz
kann der Arbeitnehmer Teilzeit nicht einseitig beanspruchen. Wir wollen aber, dass alle Arbeitnehmer, Männer
wie Frauen, Hochqualifizierte wie Unqualifizierte, Teilzeitarbeit einfordern und umsteigen können, wenn sie es
wollen. Wir fordern von dem Arbeitgeber, der sich mit
dem Teilzeitwunsch seiner Arbeitnehmer beschäftigen
muss, dies ernsthaft zu tun und die Frage zunehmender
Teilzeitarbeit in den Betrieben offensiv anzugehen.
({0})
- Ich habe dieses Thema mit dem Wirtschaftsminister diskutiert. Er hat gesagt, dies sei eine blanke Selbstverständlichkeit. Das Traurige ist, dass diese blanke Selbstverständlichkeit in den Betrieben häufig nicht beachtet wird.
Wir brauchen deswegen eine Unterstützung der Teilzeitarbeit.
({1})
Diese Unterstützung für Teilzeitarbeit sollen alle Arbeitnehmer erfahren, die mindestens sechs Monate in einem Betrieb gearbeitet haben. Für Teilzeitbeschäftigte
wollen wir die Möglichkeit schaffen, später auf einen
Vollzeitarbeitsplatz zurückzukehren, wenn es im Betrieb
ein Angebot für einen Vollzeitarbeitsplatz gibt. Wir wollen nicht „einmal Teilzeit, immer Teilzeit“, sondern wir
wollen Flexibilität ermöglichen. Gleichzeitig wollen wir
sicherstellen, dass es keine Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten gibt. Deswegen muss garantiert sein, dass
Teilzeitbeschäftigte beispielsweise an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen im Betrieb in gleichem Maße teilnehmen können wie Vollzeitbeschäftigte.
Nun gibt es bereits erste Reaktionen. Beispielsweise
habe ich vor kurzem gelesen, dass der Präsident des Hauptverbandes des Deutschen Einzelhandels, Herr Franzen, erklärt hat, es stelle einen Systembruch unserer Rechtsordnung dar, wenn der Arbeitnehmer einen geschlossenen
Vertrag einseitig ändern dürfte. Dem Herrn Präsidenten
möchte ich zunächst einmal raten, in das Gesetz zu
schauen, bevor er zu solchen Aussagen kommt. Der
Arbeitnehmer kann seinen Arbeitsvertrag nicht einseitig
ändern. Er muss seinen Wunsch auf Teilzeitarbeit beim
Arbeitgeber anmelden und mit ihm hierüber eine Vereinbarung treffen. Eine einseitige Änderung ist also nicht
möglich.
Zudem sehen wir im Gesetz vor, dass der Wunsch auf
Teilzeitarbeit nur in Betrieben mit mehr als 15 Arbeitnehmern geltend gemacht werden kann. Es sind immerhin über 87 Prozent der Betriebe, die weniger als 15 Beschäftigte haben. Damit sind schon 25 Prozent der
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von dieser
Regelung ausgenommen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kolb?
Ja.
Herr Minister, Sie haben eben gesagt: „in Betrieben mit mehr als 15 Arbeitnehmern“. Im Gesetzentwurf steht: bei „Arbeitgebern“
mit mehr als 15 Arbeitnehmern. Würden Sie mir darin zustimmen, dass dies ein Unterschied ist? Wie wollen Sie es
im Gesetzgebungsverfahren denn jetzt handhaben?
So, wie es im Gesetzentwurf steht: In Betrieben mit mehr als 15 Beschäftigten wollen wir diesen
Teilzeitanspruch verwirklicht sehen.
({0})
- Ich habe Ihnen gerade darauf geantwortet.
Mit diesem Gesetz werden wir in den Betrieben auch
ein Mehr an Transparenz über die Möglichkeiten der Teilzeit schaffen. Wir wollen, dass freie Arbeitsplätze im Betrieb, wenn die Möglichkeit besteht, auch als Teilzeitarbeitsplätze ausgeschrieben werden. Wir wollen, dass
Arbeitgeber interessierte Arbeitnehmer über Teilzeit- und
Vollzeitarbeitsplätze informieren, und wir wollen, dass
eine Beratung mit dem Betriebsrat über Teilzeitarbeitsplätze erfolgt und der Betriebsrat auch unterrichtet wird.
- Dies ist ein Impuls. Ich kann nur dazu einladen, ihn massiv zu unterstützen.
Nun weiß ich, dass Fakten allein häufig nicht überzeugen. Denjenigen in der Union, die noch immer nicht überzeugt sind, rate ich, sich an den bayerischen Ministerpräsidenten zu halten, der vor vier Wochen im „Spiegel“
erklärt hat, die Möglichkeit des Erziehungsurlaubs, die
wir jetzt eröffnen, reiche nicht aus. Er möchte zudem einen „Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit auch in der freien
Wirtschaft durchsetzen“.
({1})
Das halte ich für eine mutige Aussage.
Nicht ganz so mutig war es, dass er dies drei Wochen
später in der „FAZ“ doch sehr relativierte und seine Aussage plötzlich nur noch auf Eltern mit Kleinkindern bezog.
({2})
- Nein, nein. Weil Sie es so gerne hören, Herr
Singhammer, möchte ich seine Aussage vollständig zitieren.
({3})
- Ja, ganz langsam, um es genießen zu können. - Herr
Stoiber hat die Bundesregierung, vor allem die Familienministerin, angegriffen:
Es muss nicht nur der Erziehungsurlaub von drei auf
acht Jahre verteilt werden können, wir wollen zudem
einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit auch in der
freien Wirtschaft durchsetzen.
({4})
So will es der bayerische Ministerpräsident. Nach all dem,
was ich so höre, befürchte ich, dass ihm die Wirtschaft
ganz schön einheizen wird.
Nun komme ich zum zweiten Teil, der Flexibilisierung von Arbeitsverträgen. Hierzu gab es ja zwei Extrempositionen: Einerseits wurde vonseiten der Gewerkschaften und von einem Teil der Betriebsräte massiv
gefordert, das Beschäftigungsförderungsgesetz ersatzlos
auslaufen zu lassen. Andererseits wurde von einem Teil
der Wirtschaft die Position vertreten, das Beschäftigungsförderungsgesetz solle, ohne es zu verändern, unbefristet
in Kraft gesetzt werden. Ich halte beide Positionen für
nicht sachgerecht.
Wir brauchen eine Flexibilisierung. Dafür haben wir in
der Wirtschaft im Moment im Wesentlichen vier Instrumente: Überstunden, Leiharbeit über das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, das zunehmende Outsourcing über
Organisationsveränderungen und die befristeten Arbeitsverhältnisse. Ich denke, es wäre falsch, von einer dieser
Möglichkeiten abzusehen, weil wir davon ausgehen müssen, dass dann - bei einem unveränderten Bedarf an Flexibilisierung - nur an den anderen Stellschrauben umso
schneller gedreht wird.
Meine Damen und Herren, deswegen sind wir dafür.
Wir brauchen befristete Arbeitsverhältnisse. Wir brauchen sie beispielsweise im positivsten Sinne auch als
Brücke zu Dauerarbeitsverhältnissen.
({5})
Wir brauchen befristete Arbeitsverhältnisse zur Erleichterung der Übernahme von Auszubildenden. Wir brauchen
natürlich auch dann befristete Arbeitsverhältnisse, wenn
Auftragsschwankungen da sind und wir nicht klar absehen können, ob wir zu Dauerbeschäftigung kommen.
All das ist sicherlich unbestritten. Für all das gab es
aber im Kern eigentlich schon immer - wenn sachliche
Gründe vorlagen - die Möglichkeit der Befristung.
Zum Katalog der Sachgründe. Wir haben ihn ausgeweitet, beispielsweise in dem Punkt, der mir in der Vordiskussion immer wieder begegnet. Es ist festgelegt, dass
befristete Beschäftigung von Werkstudenten oder
Auszubildenden natürlich weiterhin möglich ist, weil die
Erleichterung des Übergangs in Beschäftigung ein sachlicher Grund ist - als solchen haben wir ihn auch aufgenommen -, sodass es darüber überhaupt keine Diskussionen geben muss.
Es gibt jetzt darüber hinaus die Möglichkeit, ein Arbeitsverhältnis mit Befristung auch ohne sachlichen
Grund aufzunehmen. Wir behalten damit die Möglichkeit
bei, innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren auch ohne
sachlichen Grund eine erleichterte Befristung im Umfang
von zwei Jahren einzugehen. Was wir aber unbedingt ausschalten möchten, ist die eingerissene Praxis, eine Befristung ohne sachlichen Grund mit einer Befristung mit
sachlichem Grund zu kombinieren und dann wieder eine
Befristung ohne sachlichen Grund anzuhängen, also so
genannte Kettenarbeitsverträge, die sich entwickelt haben. Diesen Missbrauch wollen wir ausschalten.
({6})
- Nein, nein. Das ist ein eindeutiger Missbrauch. So war
es nicht gedacht.
Wir haben uns immer dafür eingesetzt, dass eine Befristung mit sachlichem Grund möglich ist.
({7})
Wir haben darüber hinaus auch Ja dazu gesagt, für eine
Dauer von zwei Jahren eine Befristung ohne sachlichen
Grund zu machen. Wir haben nie Ja zu der Praxis der Kettenverträge gesagt, die eingerissen ist. Diese Praxis muss
verhindert werden, weil auch Arbeitnehmer nach einem
bestimmten Zeitpunkt klar wissen müssen, woran sie
sind. Darauf haben Arbeitnehmer einen Anspruch. Dieser
Missbrauch muss korrigiert werden. Den werden wir korrigieren.
({8})
Ich will gern das aufgreifen, was Sie gesagt haben. Es
gibt Arbeitnehmer, für die eine Befristung auch dauerhaft
unbestritten besser ist als dauerhafte Arbeitslosigkeit.
({9})
Das sind diejenigen, Herr Kolb, die bisher ab 60 Jahren
dauerhaft befristet beschäftigt werden konnten. Wir senken diese Grenze, weil wir bedauerlicherweise feststellen,
dass die Integration von Arbeitslosen in den ersten
Arbeitsmarkt auch mit 58 Jahren kaum noch möglich ist.
({10})
Dem werden wir gerecht. Wir wollen eine sachgerechte
Entscheidung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe Ihnen gesagt, wir wollen die Möglichkeit der Teilzeit ausweiten, wir wollen gegen den Missbrauch der Kettenarbeitsverträge vorgehen, wir wollen aber auch Teilzeit
fördern und weiterhin die Möglichkeit von befristeten Beschäftigungsverhältnissen eröffnen.
Herzlichen Dank.
({11})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt die Kollegin Brigitte Baumeister.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! 6 Millionen Arbeitnehmer sind in der Bundesrepublik Deutschland Teilzeit beschäftigt und mehr als 2 Millionen Arbeitnehmer
haben ein befristetes Arbeitsverhältnis. Sie stimmen mir
sicherlich alle zu, dass dies zur Entlastung des Arbeitsmarkts beiträgt.
({0})
Sie stimmen mir sicherlich auch zu, dass es noch einen
Mangel an Teilzeitarbeit gibt.
({1})
Herr Minister, hier stimmen wir Ihnen zu. Dass wir mehr
Teilzeitarbeit brauchen, auch im Sinne der Flexibilisierung der Arbeitswelt, die uns in Zukunft ins Haus steht,
ist, glaube ich, auch unbestritten.
Sie haben gesagt, Herr Minister Riester, dies müsste
eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Das, was Sie
in Ihr Gesetz geschrieben haben, ist ein Rechtsanspruch.
Das heißt für mich, das heißt für die CDU/CSU: mehr
Druck, mehr Bürokratie und damit mehr Beschäftigung
für die Arbeitgeber.
({2})
Die EU-Richtlinien zu Teilzeitarbeit und befristeten
Arbeitsverträgen machen eine Umsetzung in nationales
Recht nötig. Das gestehen wir Ihnen zu. Zudem läuft das
bisherige Beschäftigungsförderungsgesetz am 31. Dezember aus. Auch vor diesem Hintergrund besteht natürlich
Handlungsbedarf. Aber lesen Sie einmal die EU-Richtlinie und halten Sie sich einmal ihr Ziel vor Augen! Dort
steht, dass die Entwicklung der Teilzeitarbeit auf freiwilliger Basis zu fördern und zu einer flexiblen Organisation
der Arbeitszeit beizutragen sei, die den Bedürfnissen der
Arbeitgeber und Arbeitnehmer Rechnung trage.
({3})
Darin ist nicht die Rede von Ansprüchen und daraus kann
ich keinen Rechtsanspruch ableiten. Hier steht die Freiwilligkeit im Vordergrund.
({4})
Der jetzt von der Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf verfehlt das Ziel, Herr Gilges, in diesem Punkt
ganz deutlich.
({5})
Er wird deshalb von uns abgelehnt; denn er behindert die
Sicherung und die Schaffung neuer Arbeitsplätze und
bringt zusätzliche Reglementierungen für die Unternehmen.
({6})
Ich möchte hier auf ein paar Regelungen in Ihrem Gesetzentwurf eingehen und Ihnen verdeutlichen, welche
Punkte wir beklagen und so nicht akzeptieren können.
Es gibt hier einen Rechtsanspruch für Arbeitnehmer,
jederzeit von Vollzeit auf Teilzeit zu gehen, wenn nicht
- diese Einschränkung gibt es, das ist richtig - betriebliche Gründe dem entgegenstehen.
Es werden die Möglichkeiten eingeschränkt, befristete
Arbeitsverhältnisse abzuschließen. Der Arbeitgeber wird
dadurch gezwungen, seine Planung und seine Organisation auf den Arbeitnehmer abzustellen. Das ist nach meinem Empfinden angesichts der unternehmerischen Wirklichkeit nicht praktikabel.
Es gibt sehr wohl gute Beispiele, wo Teilzeitarbeit
heute schon funktioniert. Es gibt aber auch viele Betriebe,
wo dies eben aufgrund der Organisation und der Produktion überhaupt nicht möglich ist und sich somit von selbst
ausschließt. Die CDU/CSU fordert daher die Bundesregierung auf, von einem nahezu unbeschränkten Rechtsanspruch des Arbeitnehmers auf Teilzeitarbeit im Gesetz
abzusehen.
Ich bin auch der Meinung, dass noch nicht abschließend geklärt ist, ob dieser Anspruch auf Teilzeitarbeit
verfassungsrechtlich unbedenklich ist. Es kann nach meinem Empfinden nicht sein, dass ein geschlossener Vertrag, so wie im Gesetzentwurf vorgesehen, von einer
Vertragsseite geändert werden kann. Sie haben das zwar
gerade ausgeschlossen, ich würde das aber ganz gerne
prüfen lassen. Wenn dies in der Tat so wäre, würde damit
unternehmerisches Handeln eingeschränkt. Ich halte es
deshalb für nicht völlig ausgeschlossen, dass es in diesem
Zusammenhang zu Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht kommen wird.
Sie, Herr Riester, haben Äußerungen des Ministerpräsidenten von Bayern angeführt. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass wir in den Ausschussberatungen auf die aus
Bayern kommende Vorlage eingehen, entsprechend der
sachliche Gründe, die für eine Teilzeitarbeit vorliegen,
auch geltend gemacht werden können.
Ich möchte dies ganz besonders an drei Personengruppen festmachen. Bei Personen, die Kinder erziehen - über
deren Alter möchte ich mich jetzt gar nicht auslassen; darüber können wir uns noch trefflich im Ausschuss unterhalten -, könnten wir einen Schritt nach vorne tun, indem
wir deutlich machen, dass uns die Familien wertvoll sind.
Damit würde der lang gehegte Wunsch, den ich schon seit
Beginn meiner politischen Tätigkeit in mir trage, nämlich
Vereinbarkeit von Beruf und Familie, endlich Wirklichkeit.
({7})
Ich möchte aber zu dem oben genannten Personenkreis
auch gerne diejenigen zählen, die Schwerstpflegebedürftige vor Ort pflegen.
({8})
Ich möchte auch diejenigen einschließen, die aufgrund
ihrer gesundheitlichen Situation vermindert erwerbstätig
sind. Auch an diese sollten wir denken.
Wenn wir uns diese Personenkreise ganz besonders
vornehmen und unser Augenmerk hierauf richten, dann
würde das im Übrigen auch den Beschlüssen von CDU
und CSU, die sie auf ihren Parteitagen zur Vereinbarkeit
von Familie und Beruf getroffen haben, Rechnung tragen.
Ich möchte auch noch auf einige kritische Punkte Ihres
Gesetzentwurfes in diesem Hohen Hause zu sprechen
kommen.
Wir lehnen es insbesondere ab, dass ein Rechtsanspruch auf Teilzeit für Arbeitnehmer in leitenden Positionen verankert wird. Wenn es eine Möglichkeit für Personen in leitender Funktion gibt, Teilzeit zu arbeiten, dann
ist die Wahrnehmung dieser Möglichkeit eine Selbstverständlichkeit. Ich habe meine Zweifel. Während meiner
beruflichen und meiner politischen Tätigkeit habe ich
Derartiges in keinem einzigen Unternehmen gesehen.
({9})
Ein Anspruch auf Verringerung der Arbeitszeit soll
auch möglich sein, wenn keine Einigung mit dem Ar-
beitgeber erzielt wurde. Ich kann mir gar nicht vorstellen,
wie das nach Ihrer Vorstellung funktionieren soll. Entwe-
der gibt es eine Einigung mit dem Arbeitgeber - dann hat
das Einvernehmen des Arbeitgebers vorgelegen - oder,
wenn keine Einigung erzielt worden ist, es kommt zu ei-
ner Klage vor irgendeinem Arbeitsgericht. In diesem Fall
kann ich mir allerdings nicht vorstellen, dass a) der For-
derung nach Teilzeit entsprochen wird und b) das Arbeiten in diesem Betrieb noch Spaß macht.
Für überzogen halte auch ich den in Ihrem Gesetzentwurf verankerten Anspruch, Teilzeitbeschäftigten die
Rückkehr zur Vollzeitbeschäftigung zuzugestehen.
Wenn dies in Gänze realisiert wird, dann steht der Arbeitgeber vor unlösbaren Problemen. Zwar könnte ich mir
vorstellen, dass jemand, der vollzeitbeschäftigt und danach für einen begrenzten Zeitraum teilzeitbeschäftigt
war, mit seinem Arbeitgeber selbstverständlich darüber
nachdenken kann und soll, ob es möglich ist, wieder vollzeitbeschäftigt zu werden; als generellen Anspruch lehne
ich dies aber ab.
Ebenso lehne ich die Verpflichtung der Arbeitgeber auf
Information über freie Voll- und Teilzeitstellen ab. Ich
habe mir einmal Gedanken gemacht, wie das in einem
größeren Betrieb funktionieren soll. Damit verbunden ist
ein Übermaß an Bürokratie. So, wie es der Gesetzentwurf
vorschreibt, lässt es sich überhaupt nicht realisieren.
Selbstverständlich gibt es in vielen Betrieben einen Aushang über offene Stellen. Auf diese Stellen kann man sich
natürlich bewerben. Dass die Unternehmen in dieser Hinsicht verpflichtet werden sollen, das will mir nicht so ganz
einleuchten.
Ähnliche Probleme habe ich mit der Verpflichtung des
Arbeitgebers, Teilzeitarbeitnehmern Aus- und Weiterbildung zu ermöglichen. Aus- und Weiterbildung findet
schon heute häufig statt, wenn dies im Interesse beider
Seiten, also dem der Arbeitgeber und dem der Arbeitnehmer, liegt. Das geht im Übrigen auch aus einer vorliegenden EU-Richtlinie hervor. Ich persönlich halte aber den
gesetzlichen Anspruch für reichlich überzogen.
({10})
Ich möchte noch einige wenige Worte - meine Redezeit ist wirklich fortgeschritten - zu den befristeten Arbeitsverhältnissen sagen, die Sie hier kritisiert haben. Ich
will Sie auf einen Missstand aufmerksam machen.
Frau Kollegin, Sie
müssen sich wirklich ganz kurz fassen.
Ich möchte nur
wenige Sätze sagen. - Herr Minister Riester, ich war
Werkstudentin in einem Unternehmen.
({0})
- Das ist richtig. Trotzdem kann ich mich an die Zeit noch
erinnern. Sie war ganz nett. - Wenn jemand nach Beendigung des Studiums entsprechend Ihrem Gesetzentwurf einen befristeten Arbeitsvertrag eingehen möchte, dann
wäre dies nicht über eine einfache Neueinstellung möglich, sondern es müsste ein sachlicher Grund dafür angegeben werden. Ich halte das für eine eklatante Benachteiligung. Deshalb sind wir auch mit diesem Teil Ihres
Gesetzentwurfs nicht einverstanden.
({1})
Es spricht jetzt die
Kollegin Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch im
Bündnis für Arbeit ist festgestellt worden, dass die Arbeitszeitbedürfnisse der Beschäftigten in der Bundesrepublik im internationalen Vergleich wirklich nicht hinlänglich berücksichtigt werden. Es gibt eine ganze Reihe von
Umfragen, die belegen, dass es sowohl Vollzeitbeschäftigte gibt, die den Wunsch nach Reduzierung ihrer Arbeitszeit besitzen, als auch Teilzeitbeschäftigte, die in einem flexiblen Rahmen mehr arbeiten möchten.
Dieser Gesetzentwurf versucht, die Möglichkeiten der
Aufstockung bzw. der Reduzierung von Arbeitszeit zu erweitern; es geht um mehr Beweglichkeit bei der Arbeitszeitgestaltung. Die EU-Richtlinien schreiben vor, dass
wir in diesem Punkt eine Anpassung vornehmen müssen;
das gesteht sogar die Opposition zu. Wir machen damit einen weiteren wichtigen Schritt, das eben angesprochene
brachliegende Teilzeitpotenzial - auch das Potenzial, für
die Beschäftigten mehr Zeitsouveränität zu schaffen -,
das in der Bundesrepublik Deutschland vorhanden ist,
stärker zu nutzen.
({0})
Es geht also um mehr Flexibilität für die Arbeitnehmerinnen und die Arbeitnehmer, aber auch für die Arbeitgeber, die durch eine einvernehmliche und flexible Arbeitszeitgestaltung Effektivitätsgewinne durchaus erzielen
können. Es geht auch darum - das hat uns zum Beispiel
das europäische Nachbarland Niederlande gezeigt -, arbeitsmarktpolitisch positive Effekte zu erzielen.
Die europäischen Richtlinien sind ja mit den Sozialpartnern verhandelt worden, das heißt auch unter Einbeziehung der Arbeitgeber. Vor diesem Hintergrund verstehe ich noch sehr viel weniger, wieso die Wellen jetzt so
hoch schlagen können, wenn wir den Anspruch auf Teilzeitarbeit auch gesetzlich festschreiben wollen. Es gilt
hierbei, dass Freiwilligkeit weiterhin erwünscht und gewollt ist und überhaupt nicht behindert wird. Es geht aber
auch darum, dass wir einen Anreiz schaffen, zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu einem vernünftigen Interessenausgleich zu kommen. Der Arbeitszeitwunsch der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer muss ernst genommen werden. Tarifvertragliche, betriebliche oder individuelle Vereinbarungen können vor diesem Hintergrund
natürlich weiterhin getroffen werden, wie zum Beispiel in
der Chemieindustrie. Hier wird nichts verhindert, hier
wird aber Druck gemacht, die Bedürfnisse nach Zeitsouveränität ernsthaft zu überprüfen.
({1})
Es geht überhaupt nicht um willkürliche Setzungen,
beispielsweise von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die jetzt plötzlich über ihre Arbeitszeiten bestimmen könnten. Es ist doch albern, hier eine solche Diskussion zu führen. Natürlich ist es so, Frau Baumeister, dass
Verträge immer zweiseitig geschlossen und nicht einseitig verändert werden können. Ich finde, dass in dieser
ganzen Debatte die Kampfrhetorik überwiegt und dass sie
mit der Realität wenig zu tun hat;
({2})
denn die Möglichkeiten der Arbeitgeber sind doch vorhanden. Wenn zum Beispiel betriebliche Gründe geltend
gemacht werden, ist eine Ausdehnung der Teilzeitarbeit
einseitig durch den Arbeitnehmer und die Arbeitnehmerin
überhaupt nicht möglich. Außerdem gilt diese Regelung
nur für Betriebe mit mehr als 15 Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern, wir haben das gerade gehört. 80 bis
90 Prozent der Betriebe liegen unter dieser Grenze; ein
großer Teil der Betriebe wird davon also gar nicht betroffen.
({3})
Da gehen Frau Stamm und Herr Stoiber sogar weiter: Sie
haben nämlich ohne Größenbeschränkung Teilzeitarbeit
für alle Betriebe gefordert.
({4})
Wir haben in diesem Gesetzentwurf aber auch die befristeten Arbeitsverhältnisse in dem Sinne neu geregelt,
dass wir die EU-Richtlinien einholen müssen. Viele Juristen haben deutlich gemacht, dass das Europarecht verlangt, dass die flexiblen Beschäftigungsverhältnisse in der
Bundesrepublik Deutschland auf eine eindeutige Rechtsbasis gestellt werden.
({5})
Es gibt kaum einen Rechtsbereich, der Richter so beflügelt hat wie der Tatbestand der befristeten Beschäftigungsverhältnisse. Deswegen ist das Gesetz so ausgestaltet, dass die Grundsätze der Rechtsprechung übernommen
werden. Dadurch werden wir mehr Klarheit herstellen
können.
Das Kernstück ist und bleibt weiterhin die gesetzliche
Regelung über die Zulässigkeit der Befristung. An dieser Stelle - Frau Baumeister, da verstehe ich Ihren Einwand gar nicht - ist auch besonders aufgeführt, dass die
Tatsache, dass jemand Werkstudentin bzw. Werkstudent
oder ehemalige Auszubildende bzw. ehemaliger Auszubildender ist, ein sachlicher Grund ist, sie oder ihn weiterhin in diesem Betrieb zu beschäftigen. Das ist doch
eher ein Fortschritt. Ich verstehe also Ihre Auslassungen
hier gar nicht.
In diesem Zusammenhang ist uns von grüner Seite
auch besonders wichtig, dass die Befristung ohne sachlichen Grund weiterhin erhalten bleibt. Das ist ein Sachverhalt, der in der Vergangenheit immer wieder zu
Auseinandersetzungen geführt hat. Aber die Prognosen
und die Ängste, dass in der Bundesrepublik Deutschland
sozusagen uferlos mit befristeten Arbeitsverhältnissen gearbeitet wird, hat sich nicht bewahrheitet. Wir befinden
uns im guten europäischen Mittelfeld. Die flexiblen Reaktionsmöglichkeiten der Unternehmen wollen wir weiterhin erhalten. Die Zunahme bei den befristeten
Beschäftigungsverhältnissen in der Vergangenheit liegt
eindeutig in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und vor allen Dingen auch Strukturanpassungsmaßnahmen begründet.
Einschränkungen erfahren die heutigen Regelungen
jedoch, indem Kettenbefristungen zwischen Arbeitsverträgen mit sachlicher Begründung und Arbeitsverträgen
ohne sachliche Begründung verhindert werden. Ich
denke, es handelt sich um eine Minderheit von Fällen, bei
denen Arbeitnehmer mit solchen Kettenverträgen konfrontiert werden. Meine Fraktion hätte in diesem Bereich
deswegen keinen großen Handlungsbedarf gesehen. Auf
der anderen Seite wird nun sichergestellt, dass ein Missbrauch, also diese Form von Kettenverträgen, ausgeschlossen wird, indem nur noch bei Neuanstellungen eine
Befristung ohne sachlichen Grund ermöglicht wird.
Im Ganzen wird die Befristung ohne sachlichen Grund
weiterhin ermöglicht; das ist uns wichtig. Das ergibt eine
Erleichterung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die das 58. Lebensjahr vollendet haben. Dies ist eine
Verbesserung für ältere Arbeitnehmer, die bei der Arbeitssuche gerade auf dem engen Arbeitsmarkt in Ostdeutschland helfen soll.
Im weiteren Verfahren müssen wir über einige bürokratische Hürden, die im Gesetz stehen, beispielsweise
bezüglich der Schriftform, noch diskutieren. Das brauche
ich hier nicht weiter auszuführen. Das sind Details, über
die wir uns im weiteren Verfahren noch unterhalten müssen.
Ich danke Ihnen.
({6})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der renommierte Konstanzer
Arbeitsrechtler Professor Rüthers hat unlängst lakonisch
festgestellt: Arbeitsverhältnisse sind in Deutschland besser als die Ehe geschützt. Diesem zutreffenden Urteil
kann ich nur hinzufügen: Die einzige Chance, unserer Arbeitsgesetzgebung zu entkommen, ist, um im Bild zu bleiben, ein Enthaltsamkeitsgelübde. Im Klartext heißt das:
Es wird nicht mehr eingestellt. Ich frage Sie: Ist es wirklich das, was Sie wollen?
Was Sie von Rot-Grün uns vorgelegt haben, missachtet die marktwirtschaftliche Grundregel, nach der immer
noch die Unternehmen die Arbeitsplätze schaffen. Herr
Riester, Sie waren gestern beim Gemeinschaftsausschuss
der Deutschen Gewerblichen Wirtschaft. Die einhellige
Ablehnung, die Ihrem Gesetzentwurf entgegenschlug,
muss Sie doch nachdenklich gemacht haben.
({0})
- Henkel, Hundt, um nur diese beiden zu nennen.
({1})
- Das waren die Hauptredner, Herr Gilges.
({2})
Die Beurteilung war deutlich: Der ohnehin festgefahrene
deutsche Arbeitsmarkt wird von Ihnen noch weiter zementiert, sodass er sich nicht einmal mehr einen Millimeter bewegen kann.
Ich will einmal das, was Sie hier vorschlagen, untersuchen. Dabei will ich vorausschicken: Ich stimme Ihnen
zu, dass wir ein Mehr an Teilzeitarbeit brauchen. Auch
wir sind dafür, die Quote bei der Teilzeitarbeit zu erhöhen,
aber nicht mit den Mitteln, die Sie vorschlagen.
Herr Minister Riester, nach Ihrer Vorstellung kann ein
Arbeitnehmer nach sechs Monaten Betriebszugehörigkeit
zu seinem Chef gehen und ihm mitteilen, dass er gedenkt,
zukünftig Teilzeit, also beispielsweise zehn Stunden weniger pro Monat, zu arbeiten. Bei dieser Gelegenheit kann
er ihm seinen selbst ausgearbeiteten Arbeitszeitplan überreichen.
Darauf werden Sie sagen: Der Arbeitgeber kann gegen
dieses Ansinnen mit betrieblichen Gründen argumentieren. Diese haben Sie zwar umrissen, aber sie sind
schwammig genug, um für zahlreiche Auseinandersetzungen zu sorgen. Ich sage Ihnen: Die Einseitigkeit ist
nicht das Ende der Fahnenstange. Wenn es Streit gibt,
dann landet das Ganze beim Arbeitsgericht. Wie die Praxis bei deutschen Arbeitsgerichten aussieht, wissen wir.
Ich sage Ihnen voraus: Sie werden damit in diesem Bereich nicht mehr Beschäftigung schaffen.
({3})
Herr Riester, Sie haben mich mit Ihrem Versprecher
von vorhin neugierig gemacht. Ich gehe nicht davon aus,
dass Sie den Gesetzentwurf nicht gelesen haben. In dem
Gesetzentwurf steht, dass Arbeitgeber mit weniger als
15 Arbeitnehmern vom Anspruch auf Verringerung der
Wochenarbeitszeit ausgenommen sind. Sie haben von
„Betrieb“ gesprochen. Ich hoffe doch sehr, dass es bei
Ihrem Versprecher bleibt. Ansonsten hätten wir eine
klammheimliche Abkehr vom bisherigen Betriebsbegriff, den wir zum Beispiel im Betriebsverfassungsgesetz
haben.
Dies hätte die seltsame Wirkung, dass bei einem Arbeitgeber - nehmen wir als Beispiel eine Parfümeriekette -, der fünf Betriebe und in jeder Filiale fünf Beschäftigte hat, damit insgesamt über dem Schwellenwert liegt,
in einer der Filialen eine Mitarbeiterin sagen könnte: Ich
arbeite jetzt nur noch Teilzeit. - Dabei ist jedoch klar, dass
es bei fünf Beschäftigten zu unverhältnismäßig großen
Anpassungsschwierigkeiten kommen muss. Das kann
doch nicht in Ihrem Interesse sein. Ich fordere spätestens
bei den Beratungen im Ausschuss ein, dass Sie hier klar
Farbe bekennen.
({4})
Ich will ein zweites Beispiel nennen, das aus meiner
Sicht, Herr Riester, nicht schlüssig ist.
({5})
- Das habe ich mir selbst aufgeschrieben; ich mache mir
nämlich, Frau Lotz, zu den Gesetzen, die Sie vorlegen,
Gedanken.
({6})
Ich habe dabei den Vorteil, dass ich aus eigener unternehmerischer Erfahrung sprechen kann, und Sachkenntnis ist
ja bei der Beurteilung von Vorlagen manchmal nicht ganz
fehl am Platz.
Als zweiten Punkt will ich ansprechen: Geringfügig
Beschäftigte sind nach Ihrem Gesetzentwurf auch Teilzeitbeschäftigte. Das heißt im Klartext: Wenn ich einen
Mitarbeiter für 500 DM im Monat einstelle,
({7})
ist dieser teilzeitbeschäftigt und hat nach § 9 Ihrer Vorlage
Anspruch auf die nächste frei werdende Vollzeitstelle vorausgesetzt, dass er seinen Wunsch angemeldet hat und
seine Qualifikation auf diese Stelle passt. Das kann ja
wohl nicht ernst gemeint sein. Oder wollen Sie damit die
630-Mark-Verträge für die Zukunft endgültig abschaffen?
({8})
Also, hier widersprechen Sie sich.
Ich möchte noch etwas zu den befristeten Beschäftigungsverhältnissen sagen. Sie haben, Herr Riester - das
erkenne ich ja an -, immerhin dem gewerkschaftlichen
Druck widerstanden, die befristeten Beschäftigungsverhältnisse gänzlich abzuschaffen. Aber Ihre Rezeptur
durch das vorgelegte Gesetz ist falsch; Sie haben immer
noch zu viel Engelen-Kefer und zu wenig Neue Mitte. Darüber müssen Sie noch einmal nachdenken.
Besonders problematisch finde ich die Vorschrift in
§ 14 Abs. 2 Satz 2 Ihres Gesetzes, wonach ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer nur einmal in dessen Berufsleben
befristet einstellen kann und der Arbeitnehmer ansonsten
als unbefristet eingestellt gilt.
({9})
Ich stelle mir vor, wie dieses zukünftig zu dokumentieren
ist. Wenn ein Arbeitnehmer, der irgendwann einmal eingestellt war, nach 20 Jahren wieder beschäftigt wird, ist er
dann urplötzlich befristet eingestellt? Sie schlugen vor,
den Mann für ein Jahr befristet zu beschäftigen. Nach Ihrer Vorschrift dürften Sie ihm dann erstmals nach einem
Jahr ordentlich kündigen.
Diese drei Beispiele - ich hätte gerne mehr gebracht,
aber meine Redezeit ist so kurz - zeigen, dass der Gesetzentwurf so, wie er hier auf dem Tisch liegt, absolut unausgegoren ist. Deswegen kann man dem Hohen Haus die
Zustimmung zu dieser Vorlage wirklich nicht empfehlen.
Danke schön.
({10})
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt Kollege Dr. Klaus Grehn.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Riester und die Regierungskoalition, in der Philosophie, dass die Verteilung
von Arbeit - als eine von mehreren Möglichkeiten Arbeitsplätze schaffen kann und soll, können wir Ihnen
folgen. Das ist eine Position, die wir seit langer Zeit vertreten. Die Verteilung von Arbeit kann Arbeitsplätze
schaffen und zur Senkung der Arbeitslosigkeit beitragen.
Ob das aber gelingt, hängt vom Detail, vom Wie einer
Regelung ab.
Das Ergebnis des Beschäftigungsförderungsgesetzes,
ein Gesetzgebungsverfahren, das unsere Oppositionskollegen eingeleitet haben, hat die IG Metall als vernichtend
eingeschätzt. Die Erwartungshaltung, dass durch das Gesetz Arbeitsplätze geschaffen werden, war groß. Und was
ist daraus geworden?
Der Beweis
- ich zitiere aus der Vorstandsvorlage der IG Metall tatsächlicher zusätzlicher Einstellungen kann nicht
erbracht werden. Es ist kein gesamtgesellschaftlicher Beschäftigungseffekt nachzuweisen. Das Beschäftigungsförderungsgesetz hat kontraproduktive
Beschäftigungseffekte hervorgebracht.
Das hängt damit zusammen, dass das Ziel unter anderem
Umverteilung war, dies aber nicht erreicht worden ist.
Der Optimismus, der hier teilweise herrscht, dass das
neue Gesetz ins Schwarze trifft, scheint mir nicht gerechtfertigt. Das Gesetz trägt der Wechselwirkung von Arbeitszeit und Lohn nicht Rechnung - es sei denn, Sie haben im Auge, dass Lohnausgleich gezahlt wird; aber das
ist wohl nicht der Fall. Denn Teilzeitarbeit muss man sich
leisten können. Es gibt Menschen, die sich aufgrund ihrer
Lohngruppe Teilzeitarbeit nicht leisten können, auch
wenn sie gerne Teilzeit arbeiten würden. Eine Verkäuferin mit Kindern, die 1 200 DM monatlich verdient, kann
nicht Teilzeit arbeiten.
({0})
Das wissen Sie genauso gut wie ich.
Hier sind wir bei den Irrtümern der Statistik: Sie haben
von den drei Millionen Arbeitnehmern, die das IAB genannt hat, gesprochen; auch ich habe darüber gelesen. Ich
halte Ihnen entgegen: Nach der Statistik besteht in
Deutschland pro Familie der Wunsch nach durchschnittlich drei Kindern, geboren werden aber durchschnittlich
nur 1,2 Kinder.
({1})
Die Frage ist, welche Bedingungen vorhanden sein müssen, damit die Einzelnen ihren Kinderwunsch realisieren.
Diejenigen, die sich Kinder wünschen, aber zu wenig
Geld haben, um davon zu leben, werden ihren Kinderwunsch nicht realisieren. Deshalb kann man diese Statistik nicht als Beispiel anführen. Während man sich in den
gehobenen Positionen unserer Gesellschaft Teilzeitarbeit
leisten kann, ist dies in anderen Bereichen tatsächlich
nicht möglich. Deshalb konzentriert sich das Problem der
Teilzeitarbeit auf die schlecht bezahlten Arbeitsplätze und
das betrifft in Deutschland überwiegend die Frauen. Deshalb habe ich Zweifel daran, ob der Gesetzentwurf wirklich in die richtige Richtung geht.
({2})
Diese Tatsachen hebeln die Zielrichtung des Gesetzentwurfs aus.
Sie führen an, dass nur sachliche Gründe zu einer Ablehnung des Wunsches nach Teilzeitarbeit führen können.
Aber was sind sachliche Gründe? Sie haben versucht,
diese sachlichen Gründe näher zu benennen. Wenn aber
keine weitere Präzisierung erfolgt, kann man letztlich alles unter diesen Begriff fassen, und das hebelt Ihre Zielstellung aus.
({3})
Es gibt Gründe, den Wunsch nach Teilzeitarbeit abzulehnen, aber der Ermessensspielraum ist in diesem Fall
sehr weit. Das Gesetz legt fest, dass in branchenspezifischen Tarifverträgen andere Bedingungen
festgelegt werden können. Dabei frage ich mich: Wenn
branchenspezifische Tarifverträge die genannten sachlichen Gründe aushebeln können, was Sie gesetzlich festschreiben wollen, warum machen Sie dann eigentlich das
Gesetz? Wird auf diese Weise nicht den Gewerkschaften
die Verantwortung zugeschoben, die die Tarifverträge mit
aushandeln müssen?
Es gibt eine Reihe von Sachargumenten. Doch bei aller
Anerkennung des Bemühens, eine Lösung herbeizuführen und der genannten Philosophie Rechnung zu tragen, werden die Anhörung und die weitere Diskussion
zeigen, dass Nachbesserungen durchaus notwendig sind,
um die Zielstellung zu erreichen.
({4})
Nächster Redner ist
der Kollege Olaf Scholz für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren hier
über ein wichtiges Gesetzesvorhaben, das sich mit einem
zentralen Thema beschäftigt: Wie können wir mit der Arbeitsmarktpolitik Flexibilität und soziale Sicherheit miteinander in Einklang bringen?
({0})
Ich glaube, es besteht kein großer Erklärungsbedarf
hinsichtlich der Notwendigkeit, dass wir für die Weiterentwicklung des Arbeitsmarktes mehr Flexibilität benötigen. Aber es bestehen - das ist sehr deutlich geworden unterschiedliche Auffassungen darüber, wie Flexibilität
aussehen soll. Wenn ich mir das Maß der Flexibilität bei
F.D.P. und CDU/CSU, so wie es hier zum Ausdruck gekommen ist, ansehe, muss ich feststellen, dass dies mehr
dem Bild des 19. Jahrhunderts entspricht als den Erfordernissen der Gegenwart.
({1})
Man trifft eine politische Aussage, wenn man sagt, bestimmte Dinge sollten nur auf freiwilliger Basis gewährt
werden. Warum dehnen Sie diese Diskussion nicht auf das
Bundesurlaubsgesetz und ähnliche Regelungen aus, bei
denen Sie auch sagen könnten, es sei doch selbstverDr. Klaus Grehn
ständlich, dass ein Arbeitnehmer Urlaub hat; wenn er danach fragt, erhält er ihn meistens auch. Wir haben aus
guten Gründen dafür gesorgt - auch mit Ihnen zusammen
-, dass es dafür gesetzliche Regelungen gibt. Wir haben
den Eindruck gewonnen, Sie halten die Teilzeitentwicklung für ganz sinnvoll, wollen aber keine Rechtsansprüche in diesem Zusammenhang gewähren. Wir haben
eine andere Vorstellung:
({2})
Wir haben das Bild einer modernen Bürgergesellschaft
vor Augen und diese ist nicht autoritären Beziehungen organisiert. Sie ist so organisiert, dass es Rechtsansprüche
wechselseitiger Art gibt, und diese müssen geregelt werden. Das ist der große gesetzgeberische Fortschritt, der
hier zum Ausdruck kommt.
({3})
Wir werden damit auch den Anforderungen gerecht,
die die Europäische Union an uns gestellt hat. Die Europäische Union hat viele Beschlüsse zur Entwicklung der
sozialen Sicherheit gefasst. Aber in all den Beschlüssen
- egal, ob sie in Dublin, in Essen oder auf dem großen
Gipfel in Lissabon gefasst worden sind - ist immer auf
den Doppelaspekt hingewiesen worden, nämlich dass
Flexibilität mit Sicherheit verbunden werden muss, dass
die Interessen der Unternehmer und der Arbeitnehmer in
Einklang gebracht werden müssen und dass man sich
gewissermaßen sicher bewegen können muss. Dies alles
wird durch das jetzige Gesetz möglich gemacht.
Herr Kollege Scholz,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Meckelburg?
Ich gestatte die Zwischenfrage.
Ich muss diese
Zwischenfrage einfach stellen, um bei dem jetzigen
Schaulaufen ein gewisses Maß an Fairness herzustellen.
Es ist interessant, wer Zwischenfragen zulässt und wer
nicht.
({0})
- Das ist ein internes Problem der Fraktion.
Herr Scholz, finden Sie nicht, dass Sie einen zu großen
Popanz um den von Ihnen so großartig und glorreich verkündeten Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit machen - Sie
haben gesagt, dass Sie Bürgerrechte durchsetzen wollen;
ich habe ja Verständnis dafür, dass eine entsprechende
Regelung für Kleinbetriebe beschlossen werden soll -,
wenn Sie bedenken, dass nur 13 Prozent der Beschäftigten - der Minister hat vorhin darauf hingewiesen, dass
87 Prozent der Beschäftigten nicht in den Genuss der
neuen Regelung kommen werden - einen solchen Rechtsanspruch haben werden?
({1})
- Ob das nun 13 Prozent der Betriebe oder der Beschäftigten sind, können wir noch im Ausschuss klären.
Was wollen Sie den 87 Prozent sagen, die die neue
Regelung gar nicht nutzen können, nachdem Sie so großartig von einem Bürgeranspruch geredet haben?
Zunächst einmal: Es geht, wie wir
wissen, nach den Statistiken, die zugrunde gelegt worden
sind, um 87 Prozent der Betriebe und nicht um 87 Prozent
der Beschäftigten; denn die Betriebe können eine unterschiedliche Struktur aufweisen.
Wir sind keine Menschen, die mit Gesetzen über die
Welt herfallen. Wir glauben vielmehr, dass es notwendig
ist, vernünftig abzuwägen. Wir sind der Meinung: Erstens. Größere Unternehmen haben größere Spielräume,
um die entsprechenden Anpassungsentscheidungen zu
treffen, die sich im Zusammenhang mit der Durchsetzung
von Teilzeitinteressen ergeben.
Zweitens. Die größeren Unternehmen sind nach unserer Meinung der geeignete Ort, um herauszufinden, ob
sich die neue Teilzeitregelung auch auf kleinere Betriebe
ausdehnen lässt. Im Übrigen glaube ich, dass es so etwas
wie eine meinungsbildende Wirkung gibt: Wenn die neue
Teilzeitregelung, die rechtlich verankert ist, in den größeren Unternehmen gut funktioniert, dann werden auch die
kleineren Unternehmen den Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit als selbstverständlich empfinden und ihn durchsetzen.
({0})
Wir stehen unter Handlungsdruck, weil zwei Richtlinien der Europäischen Union umgesetzt werden müssen.
Die Umsetzung der einen Richtlinie, nämlich die zur Teilzeitarbeit, ist schon seit Anfang dieses Jahres überfällig.
Die Richtlinie über die Befristung von Beschäftigungsverhältnissen muss im nächsten Jahr umgesetzt werden.
Insofern ist es gut und sinnvoll, dass wir uns im Rahmen
der von mir skizzierten Beschlüsse bewegen wollen.
Die Regelung des Rechtsanspruches auf Teilzeitarbeit, die hier mehrfach diskutiert und nun beschlossen
worden ist, ist auch deshalb wichtig, weil sich die Europäische Union ein großes Ziel gesetzt hat, nämlich die Beschäftigungsquote zu erhöhen. Wir haben eine zu niedrige
Beschäftigungsquote in Europa. Bedauerlicherweise ist
die Bundesrepublik Deutschland - das muss ich Ihnen angesichts Ihrer langen Regierungszeit sagen - im Hinblick
auf die Beschäftigungsquote das Schlusslicht. Es ist eine
unserer wichtigsten Aufgaben, dafür zu sorgen, dass mehr
Menschen Beschäftigung finden und dass mehr Menschen arbeiten. Aber das funktioniert nur, wenn wir für einen geeigneten Rahmen sorgen und Regelungen schaffen,
durch die Familienleben und Arbeitsleben vereinbar werden und die den Anforderungen, die an die Menschen gerichtet werden, gerecht werden. Damit würden wir einen
wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Beschäftigungsquote leisten. Das sollten wir unbedingt zustande bringen.
Wir stellen einen Handlungsrahmen zur Verfügung, der
es den einzelnen Betrieben ermöglicht, Teilzeitarbeit
- wenn man sie denn haben möchte - zum Normalfall zu
machen. Wenn man sich große alte Gesetze wie das Bürgerliche Gesetzbuch anschaut, dann wird man feststellen,
dass auch dort viele Dinge für den Fall geregelt werden,
dass sich etwas ändert. Wir haben nun den Anspruch auf
Teilzeitarbeit neu geregelt. Wir verstehen diese Regelung
als Service des Gesetzgebers. Wenn wir meinen - das bekunden zumindest alle gemeinsam immer wieder -, dass
Teilzeitarbeit eine größere und wichtige Rolle in der Zukunft spielen soll, dann müssen wir versuchen, zu bedenken, welche Interessen der Einzelne verfolgt, wenn er seinen Anspruch auf Teilzeitarbeit geltend macht, wenn er
das wieder rückgängig machen möchte, wenn er qualifiziert werden möchte und wie er entlohnt werden möchte.
Herr Kollege Scholz,
es gibt eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Grehn. Lassen Sie diese auch zu?
Ja, bitte.
Ich mache es auch ganz kurz.
Sie haben von der Besetzung der Teilzeitarbeitsplätze
gesprochen. Wie kommt man, da der Arbeitgeber nach
dem Gesetzentwurf freie Arbeitsplätze grundsätzlich als
Teilzeitarbeitsplätze ausschreiben soll, eigentlich wieder
in Vollzeitarbeitsplätze?
({0})
- Ja, der Arbeitgeber hat freie Arbeitsplätze grundsätzlich
als Teilzeitarbeitsplätze auszuschreiben.
({1})
Im Gesetzentwurf steht, dass er
das auch so zu tun hat, weil er nämlich angeregt werden
soll, darüber nachzudenken, ob dieser Arbeitsplatz nicht
nur von Vollzeitarbeitskräften, sondern auch von Teilzeitarbeitskräften wahrgenommen werden kann, und weil
ihm Folgendes passieren soll: Er möchte die Stelle eigentlich als Vollzeitstelle besetzen, schreibt sie aber so
aus, wie das im Gesetz beschrieben ist, und stellt fest: Es
haben sich zwei tolle teilzeitinteressierte Arbeitnehmerinnen beworben. Da nimmt er doch diese beiden, statt die
Stelle mit einer Arbeitnehmerin zu besetzen. Das will der
Gesetzgeber hier anregen.
({0})
- Nein, das wird jetzt verbessert. Das ist etwas, was wir
gewissermaßen als Unterstützung für die Menschen zur
Verfügung stellen.
Der zweite Teil, mit dem wir etwas zur Flexibilität tun
und gleichzeitig Sicherheit gewährleisten, ist die Neuregelung der Befristung. Zum Ersten geben wir die lange
bekannte Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur
Sachgrundbefristung im Gesetz wieder. Das ist wichtig,
weil es nicht sein kann, dass man lange Urteile lesen
muss, um sich mit einem wichtigen Lebenssachverhalt
auszukennen. Es ist wichtig, dass jetzt endlich eine Kodifizierung stattfindet, in der man das, was in langer Rechtsprechung erarbeitet worden ist, wiederfinden kann.
Zum Zweiten werden die Erfahrungen mit dem bisherigen Gesetz über die sachgrundlose Befristung, also dem
Beschäftigungsförderungsgesetz, ausgewertet. In diesem
Zusammenhang gibt es eine Erfahrung, die wir von unserer Seite aus freimütig zugestehen wollen: Die vielen
Hoffnungen, die sich manche von Ihnen gemacht haben,
dass das zu einer großen Aufweichung des Arbeitsrechtssystems in unserem Land führen würde, sind nicht eingetreten. Auch die vielen Befürchtungen, die bei Gewerkschaften und bei vielen von uns existiert haben, sind nicht
eingetreten. Es hat gar keine massive Ausweitung befristeter Beschäftigung in unserem Lande gegeben. Deshalb
ist es wichtig, dass man dieses Instrument gewissermaßen
aufrechterhält, es aber von den Missbrauchsmöglichkeiten befreit, die bisher bestanden haben.
({1})
Die wichtigste Missbrauchsmöglichkeit, die es gegeben
hat, ist die, dass Menschen über lange Zeit immer wieder in
neuen befristeten Beschäftigungsverhältnissen angestellt
worden sind: ein paar Monate mit einer Sachgrundbefristung, dann zwei Jahre mit Beschäftigungsförderungsgesetz, wieder ein paar Monate mit einer Sachgrundbefristung, dann wieder nach Beschäftigungsförderungsgesetz.
Diese Regelung ist jetzt endgültig unterbunden worden,
({2})
aber, Herr Kollege, in einer völlig einwandfreien Weise
und nicht so, wie Sie es sich vorgestellt haben. Es steht
nicht im Gesetz, dass man, wenn man einmal aufgrund einer sachgrundlosen Befristung beschäftigt war, nie wieder
in diesem Unternehmen angestellt werden kann
({3})
oder nie wieder befristet beschäftigt werden kann. Das
Einzige, was unterbunden wird, ist, erneut auf die sachgrundlose Befristung zurückzugreifen. Es ist aber sehr
wohl möglich, dass man als Schwangerschaftsvertretung
eingestellt wird oder was ansonsten seit Jahrzehnten in
der Rechtsprechung als Befristungsgrund akzeptiert wird.
Ich glaube, dass dieses Gesetz auch im Bereich der Befristung das Doppelziel erreicht, das ich beschrieben
habe, nämlich dass man einerseits die notwendigen Flexibilisierungsmöglichkeiten schafft, das Ganze aber andererseits in einen solchen Rahmen stellt, dass die Menschen, die darauf angewiesen sind, dass Gesetze ihnen
Sicherheit verschaffen, diese auch bekommen. Ich
glaube, das ist besser geworden, als es bisher der Fall war.
({4})
Ich will ein weiteres Argument nennen, auch gegenüber denjenigen, die von gewerkschaftlicher Seite den
jetzt gewählten Schritt vielleicht als etwas zu weit gehend
empfinden, weshalb ich glaube, dass es notwendig ist,
dass wir die sachgrundlose Befristung auch weiterhin aufrechterhalten. Es hat sich gezeigt, dass viele der sachgrundlosen Befristungen, die in der Vergangenheit gewählt worden sind, nur deshalb zustande gekommen sind,
weil sie das einfachere Verfahren sind. Lediglich 13 Prozent der Befristungen sind ausschließlich auf der rechtlichen Grundlage des Beschäftigungsförderungsgesetzes
erfolgt, die anderen wären auch immer schon mit Sachbefristung möglich gewesen. Insofern ist wahrscheinlich vor
allem eine Entbürokratisierung für die Arbeitgeberentscheidung eingetreten - etwas, was wir für sehr sinnvoll
halten und was wir durch das Gesetzesvorhaben, das wir
vorgelegt haben, natürlich gern unterstützen.
Vor allem aber tritt eines ein - und das ist uns ein ganz
wichtiges Anliegen -: In der Tat gibt es Beschäftigte, bei
denen es wichtig ist, dass die Arbeitgeber über eine gewisse Zeit hinweg die Sicherheit gewinnen, dass sie sich
auch längerfristig mit ihnen zusammentun wollen. Das ist
ein Problem des Arbeitsmarktes, das wir auch an anderer
Stelle immer wieder besprechen. Das wird unter „Employability“ diskutiert. Ich glaube, es ist sinnvoll, einen
gesetzlichen Rahmen zu haben, mit dem diese Menschen
in Beschäftigung integriert werden; denn das sollte für
uns alle die wichtigste Aufgabe sein.
Schönen Dank.
({5})
Der letzte Redner dieser Debatte ist der Kollege Johannes Singhammer für die
Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieses
von Rot-Grün vorgelegte Teilzeitgesetz schafft Vollbeschäftigung für Rechtsanwälte und Gerichte.
({0})
Herr Riester, dieses Teilzeitgesetz ist eine volle Packung
Dynamit für den Betriebsfrieden. Nicht nur zum Teil,
sondern voll und ganz werden die Planungssicherheit und
die Dispositionsmöglichkeit von Unternehmen beeinträchtigt. Der Mittelstand wird belastet
({1})
und viele fühlen sich ans Gängelband genommen.
({2})
Das, was Sie hier als schöne Verpackung anbieten, hat
einen schlechten Inhalt, und die angeblich uneingeschränkte Wohltat für Arbeitnehmer wird sich als voller
Nachteil für den Standort Deutschland und damit auch für
die Arbeitsplätze in Deutschland erweisen.
({3})
Das ist ein schlampiges Gesetz mit schädlichen Wirkungen.
({4})
Ich nenne Ihnen die Schwachstellen im Einzelnen.
Erstens. Entgegen allen hier vorgebrachten Beteuerungen gibt es keinerlei europarechtliche Verpflichtung, dieses konkrete Gesetz mit einem solchen Anspruch vorzulegen, wie Sie es formuliert haben.
({5})
Es existiert keinerleit derartige europäische Vorschrift.
({6})
- Ich stelle jetzt nur einmal Behauptungen von Ihnen richtig.
Zweitens. Sie wollen mit Ihrem Gesetzentwurf bewirken, dass jeder Arbeitnehmer künftig selbst entscheiden
kann, wie viele Stunden er pro Woche arbeitet und ob er
Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag oder Freitag
zur Arbeit kommen will. Das bedeutet - das sage ich Ihnen hier - Zündstoff im partnerschaftlichen Umgang der
Kollegen im Betrieb.
Fragen Sie doch einmal eine Verkäuferin, was sie davon hielte, wenn ihre Kollegin ihre Arbeitszeit um mehrere Stunden reduzieren würde und sie deshalb künftig am
Freitagnachmittag allein im Geschäft bedienen müsste.
Fragen Sie doch einen Automechaniker, der im Team
arbeitet, auf den Punkt genau Aufträge zu erfüllen hat und
dabei unter Zeitdruck steht, was passierte, wenn in einem
solchen Team jemand seine Arbeitszeit reduzieren wollte,
um beispielsweise einer Nebentätigkeit nachgehen zu
können. - So steht es in Ihrem Gesetz.
Fragen Sie auch einmal die Mitarbeiter eines Teams im
Hochtechnologiebereich, in dem viele Kollegen zusammenarbeiten, was sie davon hielten, wenn dort jemand
seine Arbeitszeit reduzierte und sagte: Ich arbeite nur
noch vormittags, weil ich da fit bin, nachmittags will ich
nicht mehr so viel arbeiten.
({7})
Sie legen hiermit in den Betrieben viele Lunten.
({8})
Unfaires und unpartnerschaftliches Verhalten wird programmiert. Die Arbeitsplätze in Deutschland werden
nicht sicherer und im Standortwettbewerb wird Deutschland mit Ihrem Vorschlag keine Pluspunkte sammeln.
({9})
Der betriebliche Aufwand wird erhöht, wenn beispielsweise Personaldaten von Mitarbeitern künftig lebenslang aufbewahrt werden müssen, wenn eine Ausschreibungspflicht besteht, wenn neue Prüfungspflichten
festgeschrieben werden. Das alles muss ja dokumentiert
werden und beweisfähig sein. Das ist ein neuer, unerhört
hoher Aufwand. Das wird den Standort Deutschland nicht
aufwerten und die Produktionskosten in Deutschland
nicht senken, sondern sie wachsen lassen. Die Prozessanfälligkeit des deutschen Arbeitsmarkts wird weiter zunehmen.
({10})
Ich sage Ihnen schon heute voraus: Umgehungstatbestände, halbillegales Verhalten oder sogar Gesetzesbruch
werden zu- und nicht abnehmen, weil man natürlich Ausweichtatbestände suchen wird.
({11})
- Ich komme schon noch dazu. Haben Sie bitte noch einen kleinen Moment Geduld. Deshalb sage Ihnen auch,
dass dieser Entwurf so, wie Sie ihn vorgelegt haben, unsere Zustimmung nicht finden kann.
({12})
Wir wollen den Erhalt der befristeten Arbeitsverhältnisse. Wir wollen die Fortsetzung einer sozial verantwortungsvollen Partnerschaft. Wir wollen statt eines Durcheinanders in den Betrieben Berechenbarkeit und wir
wollen den Betriebsfrieden bewahren. Wir wollen Teilzeitarbeit fördern,
({13})
aber mit den richtigen rechtlichen Rahmenbedingungen.
Wir wollen keinen allgemeinen, uferlosen Teilzeitanspruch, sondern vor allem die Förderung von zwei Gruppen - und damit komme ich zu den Äußerungen des
bayerischen Ministerpräsidenten-, die eine besondere
Unterstützung benötigen.
Wir brauchen Teilzeit vor allem für junge Ehepaare, für
junge Mütter und junge Frauen und vielleicht auch für den
ein oder anderen jungen Vater, die Kindererziehung und
Beruf besser miteinander vereinbaren wollen.
({14})
Herr Grehn, hier haben sie Recht: Wenn wir die demographische Katastrophe für die sozialen Sicherungssysteme abwenden wollen, brauchen wir in Deutschland
wieder mehr Kinder. Der Kinderwunsch ist vorhanden.
Allerdings ist die Vereinbarkeit von Kindererziehung und
Beruf vielfach nicht gegeben. Wir wollen es vermeiden,
dass junge Eltern, junge Frauen vor allem, vor die ausweglose Entscheidung zwischen Kindern und Karriere
gestellt werden.
({15})
Deshalb macht eine familienfreundliche Teilzeit für Eltern, die ein betreuungspflichtiges Kind haben, Sinn. Darauf sollten wir uns konzentrieren.
({16})
Sinn macht auch ein Anspruch auf Teilzeit für Arbeitnehmer, die pflegebedürftige Familienangehörige haben. Da
haben Sie uns an Ihrer Seite.
({17})
Allerdings gilt in beiden Fällen:
({18})
Betriebliche Erfordernisse müssen natürlich beachtet
werden; das sage ich hier ganz deutlich. Auch sollten wir
bei der weiteren Beratung die Erfahrungen gerade aus
dem öffentlichen Dienst berücksichtigen, wo ein Anspruch auf Teilzeit in weiten Bereichen besteht.
Wir brauchen vor allem ein Gesetz, Herr Minister, das
nicht weit hinter der betrieblichen Realität zurückbleibt.
In der betrieblichen Praxis werden doch dann, wenn ein
tüchtiger Mitarbeiter oder eine tüchtige Mitarbeiterin
Teilzeit in Anspruch nehmen will, bereits jetzt häufig
Möglichkeiten gefunden, eine Vereinbarung zu treffen,
weil ein Chef einen tüchtigen Mitarbeiter nicht verlieren
will.
Jetzt wollen Sie hier eine Vielzahl von Regularien und
Vorschriften einführen, die der betrieblichen Praxis letztlich hinterherhinken. Machen Sie lieber ein Gesetz, das
Zukunftswirkung hat und die Realität berücksichtigt, aber
kein Gesetz, das weit hinter der Wirklichkeit herhinkt;
denn dann wäre es richtiger, Sie würden es sofort in der
Mottenkiste verstauben lassen.
({19})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/4374 und 14/4103 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Hartmut
Büttner ({0}), Dr.-Ing. Paul Krüger,
Günter Nooke, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Einsatz von Bildauswertungssystemen bei der
Rekonstruktion vorvernichteter Stasi-Unterlagen
- Drucksache 14/3770 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen
Länder
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die
CDU/CSU-Fraktion der Kollege Hartmut Büttner.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den letzten TaJohannes Singhammer
gen der DDR, als sich abzeichnete, dass die zweite deutsche Diktatur zu Ende gehen würde, ergriff die damaligen Machthaber und auch ihre Vasallen die Panik. Alles
an belastendem Material sollte vernichtet werden, sofern
es vernichtet werden konnte. Dies war gar nicht so einfach. Die SED-Diktatur und ihr „Schwert und Schild“, die
Stasi, sind nicht zuletzt an den Massen von Papier erstickt.
Zwischen Wichtigem, sehr Wichtigem und Banalem
blickte bei den Unmengen von Akten kaum noch jemand
durch.
Die Hoffnung, möglichst alles an belastendem Material verbrannt oder zerrissen zu haben, war Gott sei Dank
ein wenig trügerisch. Bis heute müssen viele kleine und
große Täter zittern, ob denn nicht tatsächlich noch irgendwo Akten herumschwirren; denn das MfS war neben
aller Unmenschlichkeit eine bürokratische, eine - könnte
man sagen - typisch deutsche Behörde. Neben dem Original gab es immer wenigstens einen Durchschlag, meistens sogar mehrere. Die Kopierwut der DDR-Bürokraten
reichte von der Kreisbehörde über den Bezirk bis Ostberlin und eigentlich sogar bis Moskau.
Der Durchschlag ist bei vielen, die Menschenrechte
verletzt und die Diktatur durch ihr Tun am Leben gehalten haben, in den letzten Jahren oft zum einzigen Beleg
für ihr schändliches Tun geworden. Neben diesem intakten Durchschlag waren es aber auch immer wieder zusammengesetzte Schnipsel von vorvernichtetem Material, die den Tätern von gestern zum Verhängnis wurden.
So wurde durch dieses Material beispielsweise ein
Herr Professor Bress aus Kassel enttarnt. Bress hatte mehr
als 30 Jahre für das Agentenhonorar von 350 000 DM im
Westen für die Stasi spioniert. Ebenso fanden sich
entscheidende Beweise gegen den Thüringer Landesbischof Ingo Bräcklein oder den Literaten Sascha Anderson unter diesen zusammengesetzten Schnipseln.
Aber auch Materialien von ausgespähten Stasi-Opfern
wurden entdeckt, etwa wichtige Akten über Bärbel
Bohley oder Werner Fischer.
Immerhin gelang es in den letzten Jahren im bayerischen Zirndorf einer Projektgruppe mit 40 Mitarbeitern,
circa 350 000 dieser Einzelblätter in Puzzlemanier zusammenzusetzen. Diese Puzzlearbeit ist wie das Ausschöpfen des Ozeans mit einem Teelöffel. Wenn die Geschwindigkeit von heute beibehalten wird, dann haben
wir die Chance, in 375 Jahren mit dieser Arbeit fertig zu
werden.
({0})
Es gibt allerdings - das wird die Betroffenen vielleicht
nicht ganz so freuen - neue technische Möglichkeiten.
Mittels einer modernen Bildverarbeitung ist es möglich,
die Rekonstruktionszeit erheblich abzukürzen. Wegen des
Neuigkeitsgrades der angestrebten Lösungen sollte das
Projekt nach unserer Meinung in einem mehrstufigen
Ausschreibungsverfahren schrittweise präzisiert und
letztlich an den günstigsten Anbieter vergeben werden.
Maßgebliche Kriterien sollten vor allem die Dauer der
Rekonstruktion, Qualität, Zuverlässigkeit und nicht zuletzt der Preis sein.
Wir wollen gemeinsam mit der Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, dass der Deutsche Bundestag dieses Verfahren vorantreibt. Diese Behörde war
bisher immer als Gauck-Behörde bekannt. Ob sie bald genauso kurz „Birthler-Behörde“ genannt werden kann,
wird sich in den nächsten Monaten und Jahren erweisen.
Ein wichtiges Kriterium hierfür wäre die Weiterführung
des Aufarbeitungsprozesses.
Wir müssen auch bald entscheiden, ob die Arbeit in
Zirndorf ganz eingestellt oder ob neue Verfahren angewandt werden sollen. Die andere mögliche Alternative,
noch mehr als 300 Jahre zu warten, wird wohl niemand in
diesem Haus als solche ansehen wollen.
({1})
Wir sollten bei dieser Frage, wie bei allen Einzelfragen,
die den Stasi-Bereich betreffen, die Zusammenarbeit von
Union und F.D.P. mit den heutigen Regierungsparteien
weiterführen. Deshalb möchte ich die SPD - ich hoffe,
dass auch ein Redner aus der SPD-Fraktion spricht und
nicht nur, wie angekündigt, ein Mitglied der Bundesregierung -, die Grünen und die F.D.P. herzlich einladen, die
Umsetzung unserer Initiative zu diskutieren und möglichst gemeinsam zu gestalten.
({2})
Die PDS hat - aus sehr guten Gründen - bei allen Fragen der Stasi-Problematik bisher niemals mitgewirkt. Die
großartige Akzeptanz des Stasi-Unterlagen-Gesetzes bei
den Menschen in den neuen Bundesländern ist gerade
durch die Zusammenarbeit der großen Mehrheit dieses
Deutschen Bundestages immer wieder gestärkt worden.
Ich denke, wir sollten uns auch bei dieser aktuellen Frage
so verhalten und zusammenarbeiten. Ich darf Sie herzlich
einladen, mit uns gemeinsam zu diskutieren.
({3})
Für die Bundesregierung spricht jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Fritz Rudolf Körper.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Die zuständige Behörde - an den weiblichen
Artikel muss man sich erst gewöhnen -, die der zuständigen Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, ist - das kann
ich mit Fug und Recht sagen - seit längerem intensiv
bemüht, das derzeitige und von meinem Vorredner beschriebene aufwendige manuelle Verfahren zur Rekonstruktion und Ordnung der vom Ministerium für Staatssicherheit in Wendezeiten zerrissenen und in rund
15 600 Säcken verbrachten Stasi-Unterlagen durch ein geeignetes - ich betone: geeignetes - IT-Verfahren abzulösen.
Ziel ist es und Ziel muss es sein, durch den Einsatz moderner Technologien der Informationstechnik die Rekonstruktion der zerrissenen Seiten und deren inhaltliche
Hartmut Büttner ({0})
Ordnung zu beschleunigen, um sie recherchierbar zu machen und damit im Sinne des Stasi-Unterlagen-Gesetzes
verwenden zu können.
Ich will aber auch hinzufügen: Zurzeit gibt es auf dem
Markt kein System, das die Anforderungen der Behörde
der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes erfüllen könnte. Für die Behörde, die
die alleinige fachliche Verantwortung trägt, ist eine Beschleunigung der Bearbeitung der vorvernichteten Unterlagen nur dann vertretbar, wenn am Ende des Prozesses
recherchierbare Unterlagen zur Verfügung gestellt werden können.
Für die Erstellung geordneter und somit recherchierbarer Unterlagen gibt es derzeit keinen überzeugenden technischen Lösungsansatz. Ich glaube, das ist auch unumstritten.
Technisch machbar, wenn auch mit einem enormen finanziellen, personellen und zeitlichen Aufwand verbunden, erscheinen die bisher angebotenen Lösungen zum
elektronischen Eingeben - „scannen“ genannt - der zerrissenen Seiten und zu deren Rekonstruktion zu nur mithilfe der Informationstechnik lesbarem, ungeordnetem
Material. Damit wäre allerdings nur ein nicht ausreichendes Teilergebnis erzielt. Denn wenn im Ergebnis der Rekonstruktion nur weiteres ungeordnetes Material entsteht,
wird lediglich der bereits vorhandene, noch zu erschließende Bestand von circa 64 000 laufenden Metern
Stasi-Unterlagen um circa 30 Millionen ungeordnete Seiten bzw. rund 4 000 laufende Meter vergrößert.
Ein Zugriff und damit eine Nutzung der Unterlagen
im Sinne unseres Gesetzes wird aber nicht erreicht, weil
es zum Beispiel weder ein Inhaltsverzeichnis noch die
Möglichkeit der Suche nach Stichwörtern gibt. Folge:
20 bis 25 zusätzlich einzustellende Archivare müssten die
notwendigen Erschließungsarbeiten erledigen.
Bei dieser Sachlage ist festzustellen, dass die Behörde
der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen durch
ihre Aktivitäten - das möchte ich deutlich sagen; das gilt
natürlich auch für den Vorgänger - bereits jetzt das auch
mit der Antragstellung seitens der CDU/CSU-Fraktion
angestrebte Ziel eindeutig verfolgt. Demzufolge, lieber
Kollege Hartmut Büttner - so darf ich hinzufügen -, bedarf es eigentlich eines entsprechenden Beschlusses des
Deutschen Bundestages nicht.
Hinsichtlich der sachlichen Rechtfertigung des bisher
manuell mit großem Aufwand betriebenen Puzzles und
der Überlegungen zu einer sinnvollen und damit auch vertretbaren Beschleunigung des Verfahrens dürfte es keine
- so hoffe ich - Meinungsverschiedenheiten geben.
Von den im gesamten Archivbereich der Bundesbeauftragten vorhandenen circa 15 600 Säcken mit zerrissenen
Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes sind gegenwärtig 183 bearbeitet und die zerrissenen Seiten und Vorgänge wieder rekonstruiert. Beispiele sind eben auch
schon genannt worden.
Dabei ist deutlich geworden, dass die betreffenden Unterlagen vorwiegend aus den letzten Jahren des Staatssicherheitsdienstes stammen und damit einen unmittelbaren
Einblick in die und einen Eindruck von der Tätigkeit des
Ministeriums für Staatssicherheit in dieser politisch und
gesellschaftlich wichtigen und bewegten Zeit ermöglichen. Das betrifft sowohl Vorgänge in der DDR als auch
in der Bundesrepublik Deutschland.
Erkennbar wird auch, nach welchen Prioritäten die
Vernichtungsaktionen in der Wendezeit erfolgten. Der
Staatssicherheitsdienst war vor allem daran interessiert,
die zu diesem Zeitpunkt noch tätigen inoffiziellen Mitarbeiter durch Vernichtung der sie betreffenden Unterlagen
zu schützen. Deshalb bleibt das, was sich die Behörde der
Bundesbeauftragten vorgenommen hat, von Interesse,
auch wenn über konkrete Erwartungen hinsichtlich des
Inhalts und des Wertes der noch zu bearbeitenden Materialien auf der Basis der bisherigen Erfahrungen im Moment nur spekuliert werden kann.
Festzuhalten ist ferner, dass über den Einsatz von
Bildauswertungssystemen bei der Rekonstruktion der
vom Ministerium für Staatssicherheit vorvernichteten
Unterlagen erst dann entschieden werden kann, wenn alle
technischen Fragen, also Fragen im Sinne der Anforderungen der Behörde, geklärt sind. Außerdem darf nicht
vergessen werden, dass auch die Finanzierbarkeit gesichert sein muss.
Ich denke, dass wir das alles in Ruhe und Sachlichkeit
diskutieren sollten. Vielleicht ist hierfür eine andere Stelle
viel geeigneter als eine solche öffentliche Plenardebatte.
Vielen Dank.
({1})
Der nächste Redner ist
der Kollege Rainer Funke für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch zehn Jahre nach der Wiedervereinigung ist die Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes der DDR noch nicht abgeschlossen.
Das Interesse der Stasi-Opfer an den über sie angelegten
Akten ist ungebrochen, wie die Anfragen gegenüber der
Gauck-Behörde - ich nenne noch ihre alte Bezeichnung belegen. Deshalb liegt es nahe, das Aktenmaterial, das
die Stasi in den letzten Tagen der DDR zu vernichten versucht hat, zu rekonstruieren und seiner Bestimmung nach
dem Stasi-Unterlagen-Gesetz zuzuführen.
Es handelt sich um schätzungsweise 15 000 Säcke
- Herr Körper hat sogar 15 600 Säcke gezählt - mit etwa
33 Millionen Blatt. In mühevoller manueller Kleinarbeit
sind bislang etwa 350 000 Einzelblätter wieder zusammengesetzt und nutzbar gemacht worden. Wenn die Berechnungen zutreffen - da sind wir ziemlich einer Meinung -, dann bräuchten wir für die Rekonstruktion der
Akten 375 Jahre. Das ist etwas lang. Auch wenn wir
100 Jahre weniger bräuchten - was vielleicht möglich
wäre -: Es ist für jedermann offensichtlich, dass mittels
manueller Rekonstruktion eine vollständige Auswertung der Aktenschnipsel in absehbarer Zeit nicht möglich
wäre.
Daher erscheint der Antrag der CDU/CSU-Fraktion,
das Verfahren mithilfe moderner technischer Möglichkeiten, wie etwa der modernen Bildverarbeitung, zu beschleunigen, auf den ersten Blick als folgerichtig. Der
Erschließungszeitraum soll dem Antrag zufolge dadurch
auf fünf bis zehn Jahre verkürzt werden können.
Was im Antrag allerdings verschwiegen wird, sind die
Kosten, die dadurch entstehen würden - nämlich Kosten
in Höhe von 18 Millionen DM.
({0})
Spätestens hier muss man sich die Frage nach dem Kosten-Nutzen-Verhältnis stellen. Als kaufmännisch Tätiger bin ich an dieser Frage natürlich interessiert. 18 Millionen DM sind kein Pappenstil, Herr Büttner. Deshalb
muss die Frage erlaubt sein, ob der zu erwartende Informationsgewinn derart hoch ist, dass er den Einsatz dieser
Summe rechtfertigt.
Ich muss gestehen, dass die F.D.P.-Fraktion diesbezüglich Bedenken hat. Für Einstellungen in den öffentlichen
Dienst spielen Auskünfte der Gauck-Behörde immer weniger eine Rolle. Im Übrigen endet die Möglichkeit, für
diesen Zweck Auskünfte einzuholen, ohnehin im Jahre
2006, sodass bei einem Erschließungszeitraum von fünf
bis zehn Jahren nur ein Teil der rekonstruierten Unterlagen hierfür zur Verfügung stünde.
Das macht den hohen finanziellen Aufwand zusätzlich
fragwürdig. Zu berücksichtigen ist auch, dass der Haushalt der Gauck-Behörde für das Jahr 2001 im Haushaltsansatz ohnehin bereits um 4 Millionen DM aufgestockt
worden ist, wenn auch nur durch höhere Personalausgaben bedingt.
Wir werden das Kosten-Nutzen-Verhältnis bei der Beratung des Antrages sorgfältig untersuchen müssen. Wir
nehmen Ihre Einladung zur gemeinsamen Beratung gerne
an. Sie müssen aber wissen, worin unsere Bedenken bestehen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Das Wort hat der Kollege Christian Ströbele für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nachdem ich diesen Antrag gelesen hatte, habe ich
nach dem Grund für diesen Antrag gesucht. Ich habe versucht, mich sachkundig zu machen. Ich dachte, dass bei
der Gauck-Behörde vielleicht schon lange das Bedürfnis
besteht, neue Maschinen einsetzen bzw. dieses Verfahren
einführen zu können, dass sich aber die böse Bundesregierung aufgrund des unendlichen Sparzwanges weigert,
dafür Geld herauszurücken.
Wir haben uns also nach dem Grund erkundigt. Die
Nachricht, die wir - wahrscheinlich auch Sie - daraufhin
von dieser Behörde bekommen haben, war, dass sie das
gar nicht beantragt hat und es dort auch große Zweifel
gibt, ob das überhaupt sinnvoll ist.
({0})
Ich frage mich: Warum diskutieren wir dann im Deutschen Bundestag darüber?
({1})
Es ist jetzt zwar schon spät am Abend, aber trotzdem wird
man diese Frage stellen dürfen.
Ich bin nun kein Spezialist für Akten der GauckBehörde.
({2})
Aber ich habe gelernt, dass es mindestens drei verschiedene Kategorien von Akten gibt: Zu der ersten Kategorie
gehören die aufgearbeiteten Akten; diese sind zugänglich und werden auf Anfragen von Personen oder Behörden zur Verfügung gestellt. Zur zweiten Kategorie
gehören die Akten, mit denen bis heute nicht recherchiert
werden kann. Diese Akten können bei Auskünften über
oder bei Anfragen von Personen aus der ehemaligen DDR
nicht hinzugezogen werden, weil sie noch gar nicht zugänglich sind. Die dritte Kategorie stellen die Papierschnipsel dar.
Bei der zweiten Kategorie geht es um 64 000 Meter
- ich habe immer gedacht, da sei vielleicht eine Null zu
viel -, also um 64 Kilometer, Akten. 64 Kilometer sind
ganz schön lang. Ich müsste mit meinem Fahrrad eine
ganze Woche radeln, allein um daran vorbeizufahren
({3})
- ich fahre nicht so schnell -, abgesehen von der Zeit, die
ich bräuchte, um diese Akten zu lesen, damit zu arbeiten.
Diese Akten sind bis heute nicht so aufbereitet, dass man
etwas mit ihnen anfangen kann. Herr Kollege Büttner,
dafür, was man machen kann, um diese Akten schnell der
Gauck/Birthler-Behörde zur Erledigung ihrer Aufgaben
zur Verfügung stellen zu können - diese Akten machen einen sehr viel größeren Teil aus als die Akten, um die es Ihnen mit Ihrem Antrag geht -, haben Sie kein Konzept.
Nein, Sie sagen: „Hier haben wir noch 15 600 Säcke“ minus 183 Säcke, da der Inhalt dieser Säcke schon zusammengesetzt wurde. Sie möchten also durch das Zusammensetzen der Seiten für 4 000 Meter Akten zusätzlich sorgen. Das macht noch einmal einen halben oder
einen ganzen Tag Radfahren aus. Ich kann wenig Sinn
darin sehen; dies bezieht sich auch auf die Methode.
Dies wurde mir auch von der Gauck-Behörde mitgeteilt: Man hat sich bei Computerunternehmen erkundigt,
welche modernen Anlagen es gibt, um diese Papierschnipsel so aufbereiten zu können, dass man wieder vollständige Seiten hat und etwas damit anfangen kann. Aber
seitens der Behörde wird gesagt: Das nützt uns überhaupt
nichts. Selbst wenn alle diese Seiten wieder zusammengesetzt worden sind - also nicht diese 183 Säcke, sondern auch der Rest -, dann werden diese erst einmal zu
den 64 000 Metern Akten gelegt; anders geht es nicht. Somit kommen noch einmal circa 4 000 Meter hinzu. Ich
frage mich: Ist es wirklich sinnvoll, dafür 150 Millionen DM auszugeben? Wäre es nicht viel sinnvoller und
richtiger, erst einmal den anderen riesigen Berg an Akten
zugänglich zu machen?
Wir müssen also erst einmal bei der zweiten Kategorie
der Akten weiterkommen. Ich glaube, dass wir uns auf das
Urteil der Fachleute der Gauck/Birthler-Behörde verlassen können. Bisher sagen sie: Wir brauchen eine solche
Anlage nicht. Die Maschinen erleichtern uns allenfalls
das Zusammensetzen der Akten, aber nicht die Verwertbarkeit, dass man recherchieren kann.
Solange das nicht geschieht, sollte man - so denke
ich - die Arbeit erst einmal darauf konzentrieren - immer
mit dem guten Rat der Gauck-Behörde -, was man
zunächst macht, wofür man zunächst Geld ausgibt und
was man in den nächsten Jahren leisten kann.
Sie haben da eine Rechnung mit 365 oder 375 Jahren
aufgemacht. Sie haben keine Rechnung aufgemacht, wie
lange es eigentlich noch dauert, bis diese 64 000 Meter
Akten der Recherchierbarkeit, der Nutzbarkeit zugeführt
werden können. Das wird wahrscheinlich noch ein viel
längerer Zeitraum sein.
Wir sollten diesen Antrag angesichts der hohen Kosten
und der möglichen Sinnlosigkeit sehr kritisch prüfen, sollten den guten Rat der Gauck-Behörde einholen und sollten fragen: Haltet ihr das wirklich für erforderlich oder ist
es nicht besser, den einen oder anderen Mitarbeiter zusätzlich bei der Gauck-Behörde einzustellen, der erst einmal dafür sorgt, dass man mit dem Material auch etwas
anfangen kann, dass man es zu den Zwecken nutzen kann,
für die es die Gauck-Behörde gibt? Deshalb haben wir
große Skepsis. Aber wir haben noch Gelegenheit, darüber
zu reden.
({4})
Die letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Ulla Jelpke für die PDSFraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Herr Büttner, um es mit den Worten Ihres
Kollegen zu sagen: Als ich diesen Antrag gelesen habe,
habe ich nicht nur gedacht, dass der Inhalt schlecht ist,
sondern auch, dass die Verpackung schlecht ist.
({0})
Ich will in aller Kürze versuchen zu begründen, warum
wir diesen Antrag ablehnen werden.
({1})
Erstens. Sie stellen einen zeitlich wie finanziell völlig
unbestimmten Antrag. Sie wollen ein mehrstufiges Ausschreibungsverfahren, Prototypen entwickeln lassen usw.
Was das kosten soll, wie lange das dauern soll, das alles
lassen Sie offen. Sie selbst sprechen von einem zu erwartenden Neuheitsgrad der angegebenen Lösung. Ich habe
mich, ehrlich gesagt, gefragt, was das soll. Entweder kennen Sie eine Technologie oder Sie kennen keine. Die
Frage, wie viele Millionen hier verpulvert werden, bleibt
in Ihrem Antrag ebenfalls völlig ungeprüft.
Zweitens. Über alles das, denke ich, könnte man ja
noch diskutieren, wenn Sie Ihren Antrag wenigstens mit
einem dringlichen gesellschaftlichen Bedürfnis begründen würden. Das fehlt völlig. Natürlich gibt es die Interessen der Opfer der Stasi. Sie haben nämlich ein legitimes Interesse daran, für ihr Leid, für Verfolgung bzw. für
an ihnen begangene Straftaten, entschädigt zu werden.
Um es ganz deutlich zu sagen: Dafür sind auch wir immer eingetreten. Ich weiß nicht, ob Sie in dieser Zeit im
Innenausschuss gefehlt haben. Wir sind zu jeder Zeit
dafür eingetreten, dass die Stasi-Unterlagen für die Öffentlichkeit und für die Opfer zugänglich sein müssen.
({2})
- Dazu komme ich gleich. Darüber können wir noch diskutieren.
Auf jeden Fall möchte ich Sie an diesem Punkt erst einmal korrigieren, Herr Büttner. Wie gesagt, ich habe den
Eindruck. Da haben Sie gefehlt.
In diesem Fall geht es tatsächlich auch um die Frage
der Verhältnismäßigkeit, nämlich darum, wie ein Antrag
hier eingebracht wird. Ich habe mir auch die Frage gestellt, warum Sie das im Parlament machen. Ich habe den
Eindruck: Das ist ein rein populistischer Antrag. Ich weiß
nicht, wen Sie damit bedienen wollen. Ich glaube jedenfalls, dass Sie den Opfern damit keinen großen Gefallen
tun.
({3})
Unabhängig davon: Wir haben immer kritisiert - das
sage ich als jemand, die aus Westdeutschland kommt -,
dass gerade Ihre Fraktion diese Aufarbeitung sehr einseitig betrieben hat.
Ich möchte nämlich daran erinnern, dass Geheimdienste in diesem Land überall Daten gesammelt haben.
Ich will das nicht auf eine Ebene mit der Stasi stellen.
Aber es hat immer das Sammeln von Daten gegeben. Es
wurden intime Daten gesammelt. Diese Daten haben beispielsweise in Westdeutschland dazu geführt, dass es in
den 50er-Jahren eine Kommunistenhatz, eine Verfolgung,
Berufsverbote zu Tausenden gab. Diese Akten haben gerade die davon betroffenen Opfer bis heute nicht ein einziges Mal einsehen können. Ich habe noch nie von Ihrer
Seite gehört, dass Sie dafür eintreten, dass auch diese
Seite der Geschichte aufgearbeitet wird.
({4})
- Herr Büttner, seitdem Sie in der Opposition sind, werden Ihre Beiträge von Monat zu Monat schlechter und inhaltsleerer.
({5})
Vielleicht sollten Sie einmal überprüfen, was für eine Oppositionspolitik Sie hier machen.
Eines ist jedenfalls klar: Geheimdienste stehen immer
in der Gefahr, durch von ihnen angelegte Datensammlungen Menschen- und Bürgerrechte zu verletzen.
Frau Kollegin Jelpke,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss. Solange
die Geschichte hier einseitig aufgearbeitet wird - wobei
wir an sich immer für eine Aufarbeitung der Geschichte
gewesen sind -, ist es nicht korrekt, wenn Sie immer wieder versuchen, die PDS in dieses Licht zu rücken. Das entspricht nicht der Realität. Machen Sie erst einmal Ihre
Hausaufgaben, dann können wir weiterreden.
({0})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3770 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf.
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften
({0})
- Drucksache 14/4304 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht des Bundesministeriums für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen über Maßnahmen
auf dem Gebiet der Unfallverhütung im
Straßenverkehr und Übersicht über das Rettungswesen 1998 und 1999
- Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr
1998/99 - Drucksache 14/3863 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kollegin-
nen und Kollegen Rita Streb-Hesse, Eduard Lintner,
Albert Schmidt, Horst Friedrich, Dr. Winfried Wolf sowie
der Parlamentarische Staatssekretär Siegfried Scheffler
haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) - Ich sehe dazu
keinen Widerspruch im Saal.
Interfraktionell wird deshalb jetzt die Überweisung der
Vorlagen auf den Drucksachen 14/4304 und 14/3863 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Auch das
ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen ({3}), Dirk Fischer ({4}),
Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Für ein fahrradfreundliches Deutschland
- Drucksache 14/3773 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({5})
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Die Kolleginnen und Kollegen Heide Mattischeck,
Wolfgang Börnsen, Winfried Hermann sowie Hans-
Michael Goldmann haben ihre Reden zu Protokoll
gegeben.2) - Auch dagegen sehe ich keinen Widerspruch.
Ich erteile jetzt das Wort dem Kollegen Gustav-Adolf
Schur für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Radsportstatistiker wollen herausgefunden haben,
dass ich in meinem Leben circa zehnmal um die Erde geradelt bin.
({0})
Also wird mich wohl kaum jemand für nicht kompetent
halten, wenn ich hier bei einer Diskussion über den Fahr-
radverkehr rede. Vor dem Hintergrund dieser Kompetenz
sage ich: Wir sind für alle Anträge, die den Benutzern von
Fahrrädern irgendwelche Vorteile sichern. Dabei muss
das Fahrrad keineswegs neu erfunden werden. Aber es
muss einiges für diejenigen getan werden, die es benutzen
1) Anlage 3
2) Anlage 4
und somit auch, ob bewusst oder unbewusst, etwas für
ihre Gesundheit und die Umwelt tun.
({1})
Das sollte eigentlich im Interesse jeder Bundesregierung
liegen, ganz gleich, von welcher Partei sie gestellt wird.
({2})
- Ich möchte sehr um Aufmerksamkeit bitten. - Noch eines will ich ihnen dazu sagen: Beim Radfahren glätten
sich die Gesichtszüge.
Drei Minuten Redezeit reichen nun nicht aus, um auf
alle zehn Punkte des Antrages einzugehen. Aber ich plädiere mit Nachdruck für den geforderten Maßnahmenkatalog, durch den insbesondere das Unfallrisiko der Rad
fahrenden Kinder reduziert werden kann.
Wir unterstützen auch jeden Schritt, der dazu führt,
dass die Fahrradfreundlichkeit der Deutschen Bahn
zunimmt. Vielleicht hält man uns entgegen, dass in ICE
mit Neigetechnik keine Fahrradständer montiert werden
können.
({3})
Wenn die Ölpreise aber weiter so drastisch steigen, wird
man sich manches einfallen lassen müssen, was man im
Moment noch für abwegig hält.
({4})
Genauso galt noch vor fünf Jahren der von meiner Kollegin Enkelmann eingebrachte Antrag als abwegig, der
dafür sorgen sollte, dass eine Planungsgruppe „Fahrradfreundliches Regierungsviertel“ installiert wird, um die
Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass zwischen den
Ministerien und dem Bundestag in Berlin auch Fahrradwege angelegt werden. Heute hätte das den Abgeordneten
die Chance geboten, mit gutem Beispiel voranzufahren.
Ich wäre garantiert mit von der Partie gewesen, selbst auf
die Gefahr hin, eine weitere Erdumrundung per Drahtesel
in Angriff nehmen zu müssen.
({5})
Abwegig war der Antrag nicht deshalb,
({6})
weil er schlecht war oder von der PDS kam, sondern weil
er an selbst geschaffenen Tabuzonen rührte und damit jegliche Veränderung utopisch werden ließ.
Ein Beispiel: 1975 - ich wiederhole: 1975! - sagte
Kanzler Helmut Schmidt zum 25-jährigen Jubiläum des
Deutschen Sportbundes, dass der Schulsport in der BRD
miserabel sei.
({7})
Heute, 25 Jahre später, ist er katastrophal,
({8})
und zwar deshalb, weil sich alle so lange hinter Bundund Länderkompetenzen versteckt haben, bis das Anliegen auf der Strecke geblieben ist. Wenn dann zusätzlich, wie es beim Thema Fahrrad der Fall ist, den Kommunen der schwarze Peter zugeschoben werden kann,
dann ist ein genereller Baustopp vorprogrammiert. So
praktizierter Föderalismus führt zu Kleinstaaterei.
Noch einmal: Wir sind für alle Anträge, die fahrradfreundlich sind. Wir wollen das Fahrrad nicht neu erfinden, sondern nur ordentlich mit ihm fahren. Das geht
schneller. Glauben Sie mir, ich habe da meine Erfahrungen. Ich lade Sie herzlich ein!
Danke.
({9})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3773 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef
Parr, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Dr. Irmgard
Schwaetzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Präimplantationsdiagnostik rechtlich absichern
- Drucksache 14/4098 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
F.D.P.-Fraktion fünf Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Zunächst erteile ich dem
Kollegen Detlef Parr für die F.D.P.-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Wir sind erfreut, bei der Beratung dieses Antrags fünf Minuten reden zu dürfen, weil wir eine
grundsätzliche öffentliche Debatte über Chancen und Risiken der modernen Fortpflanzungsmedizin in Deutschland für dringend erforderlich halten.
({0})
Frau Nickels, zu diesem Thema gab es bereits im Mai
ein wichtiges Symposium, das das BMG in ZusammenGustav-Adolf Schur
arbeit mit dem Robert Koch-Institut dankenswerterweise
veranstaltet hat. Das reicht aber nicht. Wir brauchen eine
Diskussion über dieses Thema in diesem Parlament.
({1})
Im Vorfeld des genannten Symposiums hat Frau Ministerin Fischer zu Recht erklärt - ich zitiere hier gerne -:
Die Möglichkeiten der modernen Fortpflanzungsmedizin wecken beim einzelnen Menschen verständliche
Wünsche und finden eine zunehmende Akzeptanz. Allerdings darf die Faszination des Wünschbaren nicht
den Blick für daraus resultierende Gefahren verstellen.
Ich hoffe, dass aus diesem Diskussionsprozess tragfähige Lösungen erwachsen, die der Gesetzgeber aufgreifen kann.
Die F.D.P. eröffnet heute mit ihrem Antrag „Präimplantationsdiagnostik rechtlich absichern“ die Debatte
hier im Bundestag. Wir Volksvertreter müssen uns rechtzeitig mit den aufgeworfenen Fragen auseinander setzen.
Wir müssen rechtzeitig versuchen, die notwendige Transparenz in den wissenschaftlichen Elfenbeinturm zu bringen, um zu den von der Ministerin angesprochenen tragfähigen gesetzgeberischen Lösungen zu kommen.
Durch die Präimplantationsdiagnostik ist es möglich,
Embryonen, die mithilfe künstlicher Befruchtung erzeugt
wurden, vor ihrer Einpflanzung in den Mutterleib auf
schwerste genetische Schädigungen zu untersuchen. Damit eröffnet sich für genetisch vorbelastete Paare die
Möglichkeit, sich ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Zum
gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es leider sehr unterschiedliche Auffassungen, ob das Embryonenschutzgesetz die
Präimplantationsdiagnostik gestattet oder nicht.
Herr Kollege Parr, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hüppe?
Natürlich.
({0})
Herr Kollege Parr, da
sich die F.D.P. offensichtlich schon sehr intensiv mit der
Präimplantationsdiagnostik beschäftigt hat, darf ich Sie
fragen, ob Sie einen ethischen Unterschied zwischen der
Polkörperdiagnostik und der PID sehen? Können Sie mir
ganz konkret wenigstens eine genetische Krankheit nennen, die mit der Polkörperdiagnostik nicht festgestellt
werden könnte, sondern nur mit der PID?
Kollege Hüppe, wir werden diese
Frage im Ausschuss intensiv diskutieren. Ich bin der Meinung, dass die Präimplantationsdiagnostik im Bereich der
Mukoviszidose - Freunde von mir haben ein Kind mit
dieser Schädigung; ich habe mit dem Leiden dieses Kindes und dem damit verbundenen Leid der Eltern sehr persönliche Erfahrungen gemacht - ein Beispiel für das ist,
wonach Sie gefragt haben.
({0})
- Wir werden darüber ja intensiv im Ausschuss diskutieren.
Ich beklage besonders, dass den betroffenen Paaren im
Moment nur die Möglichkeit eröffnet ist, sich ihren
Kinderwunsch mit dieser Methode im Ausland zu erfüllen.
Fast alle europäischen Länder wenden die Präimplantationsdiagnostik an, Herr Hüppe. Man muss sich fragen,
warum wir in Deutschland so einen Schutzzaun errichten.
Weltweit sind nach Anwendung dieser Diagnostik bisher
424 gesunde Kinder geboren worden. Ganz selbstverständlich wenden wir in Deutschland zurzeit nur die pränatale Diagnostik an. Hier und weltweit steigt die Zahl derer stark an,
die während einer bereits bestehenden Schwangerschaft
mithilfe der pränatalen Diagnostik bestimmte Risiken abklären lassen. Gerade für vorbelastete Paare bedeutet sie allerdings eine sehr große seelische und eine sehr große körperliche Belastung, wenn es - möglicherweise wiederholt wegen Gesundheitsgefährdung der Mutter zum Abbruch der
Schwangerschaft kommt. Viele Betroffene ringen sich deshalb zum Verzicht auf das Kind durch.
Wir erwarten, Herr Hüppe, dass die Präimplantationsdiagnostik nur in sehr begrenztem Umfang zur Anwendung kommt. Wir wollen aber den Paaren, die betroffen
sind, helfen und wirklich dafür Sorge tragen, dass sie
nicht ins Ausland gehen müssen. Es ist eben eine unübersehbare Tatsache: Wenn sich deutsche Paare heute helfen
lassen wollen, dann gehen sie zum Beispiel an die Universität nach Lübeck und lassen sich dort beraten, um
Hinweise zu erhalten, wie sie sich ihren Kinderwunsch
über Umwege in europäische Nachbarländer erfüllen
können. Das wollen wir zugunsten dieser Paare ändern.
Wir dürfen sie nicht länger mit ihren Problemen alleine
lassen. Wir müssen auch in unserem Land die Möglichkeit der PID eröffnen. Deswegen möchte ich Sie ganz
herzlich bitten, in den Ausschussberatungen sachlich und
mit der nötigen Ernsthaftigkeit und Seriosität über diese
Frage zu diskutieren.
Herr Kollege Parr,
auch der Kollege Seifert möchte eine Zusatzfrage stellen.
Auch die werde ich gerne zulassen.
Herr Kollege Parr, Sie sprachen
gerade davon, dass dieses Verfahren nur für ganz wenige
Ausnahmefälle in Anwendung gebracht werden soll. Aber
steht denn nicht in Ihrem eigenen Antrag, dass Sie davon
ausgehen, dass es dann von immer mehr Menschen genutzt wird, sodass es am Ende eine Art Bevölkerungsscreening geben wird, also eine Vorauswahl - nicht mehr
Wunschkinder, sondern Kinder nach Wunsch?
Das steht ausdrücklich nicht im
Antrag. Wir haben ihn sehr offen formuliert. Wir
schließen aber aus, dass es zu „Kindern auf Bestellung“
kommt. Eine solche Diskussion wollen wir nicht führen.
Dazu darf es sicherlich nicht kommen.
({0})
Wir haben die Kriterien beschrieben. Wir haben und
darauf festgelegt, dass die medizinischen Zulassungskriterien sehr eng gezogen werden sollen und dass das Strafrecht ein hohes Schutzniveau und Rechtssicherheit für
alle Beteiligten garantieren soll. All diese Hürden sind
wichtig. Der Indikationsbereich muss sehr eng gezogen
werden, sodass wir mit unserem Antrag hoffentlich keine
Dammbrüche auslösen, die wir gar nicht wollen. Wir wollen auf diesem engen Feld zu einer klaren rechtlichen
Regelung kommen. Ich denke, darauf könnten wir uns
auch am ehesten verständigen. Wir beziehen uns dabei unter anderem auf Professor Hepp aus München, der unter
diesen Voraussetzungen die Einführung der PID in
Deutschland für möglich hält.
Ich möchte abschließend noch drei Punkte erwähnen:
Die Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz
hat sich im vergangenen Jahr unter Berücksichtigung des
engen Rahmens für die Erarbeitung einer rechtlichen
Grundlage für die PID eingesetzt. Die Bundesärztekammer hat im Februar dieses Jahres einen Richtlinienentwurf
vorgelegt, der eine eng umgrenzte berufsrechtliche Zulassung der PID anstrebt. Und auch auf dem bereits erwähnten Symposium sind eine Vielzahl von Experten zu Wort
gekommen, die bei Abwägung der rechtlichen, moralischen und ethischen Fragen zu dem Schluss kommen, dass
man die Sonderstellung Deutschlands in Europa aufgeben
und die Präimplantationsdiagnostik auch bei uns zulassen
könne.
Ich hoffe, dass wir im Ausschuss eine sachliche, nach
vorne gerichtete Diskussion eröffnen können, damit wir
den Paaren, die wirklich in Nöten sind, in der Weise helfen können, wie es im europäischen Ausland bereits heute
möglich ist.
({1})
Die nächste Rednerin
für die SPD-Fraktion ist die Kollegin Dr. Carola Reimann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Abends halb zehn in Deutschland: Im Deutschen Bundestag hat die Stunde der Fachleute begonnen. So könnte man
in Anlehnung an eine Werbung sagen. Tatsächlich will ich
Ihnen gleich zu Beginn die ganz große Spannung nehmen:
Die SPD-Fraktion wird dem vorliegenden Antrag nicht
zustimmen.
Wir sind dagegen, kurzfristig einen Bereich aus der genetischen Diagnostik und der Fortpflanzungsmedizin herauszugreifen und dazu ein neues Gesetz zu schaffen. Die
Präimplantationsdiagnostik ist nur ein Teilbereich der genetischen Diagnostik, die sich zurzeit insgesamt mit
großer Dynamik entwickelt. Die Entschlüsselung des genetischen Erbguts, des Genoms, durch das HumanGenom-Projekt wird in den kommenden Monaten zu Ergebnissen führen, die sehr schnell in genetische Testsysteme münden werden.
Diese Untersuchungen erkennen monogenetische Erkrankungen, also Erkrankungen, die auf Veränderungen
eines einzigen Gens zurückzuführen sind, oder Veränderungen des Chromosoms ganz allgemein. Die Zahl der
monogenetischen Erkrankungen wird zurzeit auf 4 000
geschätzt. Nicht nur das Angebot an Tests wird schnell
steigen. Auch die Automatisierung der Gentests durch die
Verwendung so genannter Biochips eröffnet in Zukunft
die Möglichkeit einer breiten Anwendung.
Dieser Bereich befindet sich in einem ungeheuren Umbruch, ohne dass die juristischen Definitionen, die Sie
jetzt vornehmen wollen, in jedem Augenblick wissenschaftlich bestätigt werden können.
({0})
Allgemein bekannt ist die pränatale Diagnostik.
Hierbei wird der Fötus im Mutterleib untersucht. Die
Präimplantationsdiagnostik untersucht im Gegensatz
dazu nicht nur vorgeburtlich, sondern in vitro, also noch
im Reagenzglas und damit vor der Einpflanzung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter, den Embryo. Allein
das wirft eine Vielzahl von Fragen auf und lässt die Präimplantationsdiagnostik in der Fachwelt zu einem sehr umstrittenen Feld der genetischen Diagnostik werden.
({1})
Ich will an dieser Stelle ausdrücklich die Initiative loben, für diesen wichtigen Themenkomplex mehr Öffentlichkeit zu schaffen, um uns die Gelegenheit zur Debatte
zu bieten. Aber die PID kann nur im Kontext mit der Fortpflanzungsmedizin und den ethischen Fragestellungen
der Biomedizin betrachtet werden.
({2})
Grundlage und Voraussetzung für die Präimplantationsdiagnostik ist die Durchführung einer künstlichen Befruchtung. Künstliche Befruchtungen werden in Deutschland in
etwa 100 so genannten reproduktionsmedizinischen Zentren vorgenommen. Sie können mittels verschiedener Verfahren durchgeführt werden. Allen Verfahren ist gemeinsam, dass eine Eizelle und eine Samenzelle außerhalb des
Körpers der Frau verschmolzen werden.
Ich will an dieser Stelle noch einmal betonen, dass es
nicht das Ziel der In-vitro-Fertilisation ist, Embryonen
künstlich zu erzeugen, um diese zu testen.
({3})
Ziel dieser künstlichen Befruchtungen ist es vielmehr,
Paaren zu Kindern zu verhelfen, denen auf natürlichem
Wege die Erfüllung ihres Kinderwunsches versagt bleibt.
({4})
Aber diese In-vitro-Fertilisations-Techniken haben der
Medizin in den vergangenen Jahren Möglichkeiten eröffnet, an die zunächst niemand gedacht hat. Bei der Präimplantationsdiagnostik werden Embryonen vor der Einpflanzung in die Gebärmutter molekulargenetisch getestet
und auf genetische Veränderungen untersucht. Das Ziel
ist, nur diejenigen Embryonen in die Gebärmutter zu implantieren, die keine genetischen Schäden aufweisen.
In den vergangenen Wochen heizten Berichte aus den
USA über die gezielte Zeugung passender Geschwister
- passend im Sinne medizinischer Kompatibilität - die
Diskussion an und ließen erneut Ängste vor der Zeugung
von Menschen nach Maß entstehen.
({5})
Viele von uns beschleichen dabei genau dieselben Befürchtungen, die uns das Klonen von Menschen strikt verbieten lassen, wenn sie von den Möglichkeiten der vorgeburtlichen Diagnostik und der möglichen Selektion hören.
Sicherlich haben einige von Ihnen noch den Fall der
schwer kranken Sechsjährigen vor Augen, die seit ihrem
zweiten Lebensjahr an einer seltenen Blutkrankheit, der
Fanconi-Anämie, leidet. Im September hat sie einen
Bruder bekommen, der im Reagenzglas gezeugt wurde.
Er wurde aus insgesamt 15 Embryonen durch Präimplantationsdiagnostik ausgewählt. Vor der Implantation
in die Gebärmutter ließen seine Eltern testen, ob er
Stammzellen für die Heilung seiner Schwester spenden
kann. Unmittelbar nach der Entbindung wurden aus dem
Nabelschnurblut des neugeborenen Kindes Stammzellen
zur Therapie der schwer erkrankten Schwester gewonnen.
Der Fall hat heftige Kontroversen darüber ausgelöst,
ob es ethisch vertretbar ist, außerhalb des Mutterleibs gezeugte Kinder gezielt als Stammzellspender zu verwenden.
Die Präimplantationsdiagnostik - kurz PID genannt wird in Deutschland nicht durchgeführt, wohl aber in den
USA und in einigen europäischen Nachbarländern, zum
Beispiel in den Niederlanden. Weltweit - Kollege Parr hat
es schon gesagt - sind bislang ungefähr 400 Kinder nach
PID zur Welt gekommen.
In Deutschland wurde im Frühjahr dieses Jahres von
der Bundesärztekammer die kontroverse Diskussion zur
PID in der Fachwelt angestoßen, mit dem Vorschlag einer
Richtlinie zum begrenzten Einsatz der PID auch in
Deutschland.
Für Paare mit schweren Erberkrankungen im familiären Umfeld eröffnet die In-Vitro-Fertilisation in Kombination mit der Präimplantationsdiagnostik die Chance
auf eine Schwangerschaft ohne den Konflikt einer möglichen Abtreibung nach Tests in den ersten Schwangerschaftswochen. Aber was ist eine schwere Erbkrankheit,
die es rechtfertigt, die Implantation zu unterlassen? Für
die einen zählt dazu das Down-Syndrom, für die anderen
ist die Stoffwechselerkrankung Mukoviszidose eine
schwere Erbkrankheit.
Bleibt die Präimplantationsdiagnostik gänzlich verboten, haben Paare mit Kinderwunsch trotz genetischer Vorbelastung nach wie vor nur zwei Alternativen: Sie können
das Risiko eingehen, ein krankes Kind zu bekommen,
oder sie nehmen den Konflikt eines Schwangerschaftsabbruchs in Kauf. Denn nach der Implantation des Embryos
gestattet das geltende Recht den Test und die Abtreibung.
Die Probleme der Paare werden so nicht gelöst.
({6})
Darüber hinaus ist umstritten - das klang schon an -,
ob die PID mit dem Embryonenschutzgesetz vereinbar
ist. Während die Bioethik-Kommission des Landes
Rheinland-Pfalz zu dem Schluss kommt, die Präimplantationsdiagnostik werde durch das Embryonenschutzgesetz nicht in jedem Fall verboten, wird diese Einschätzung
von anderen Juristen nicht geteilt. Das Embryonenschutzgesetz verbietet die fremdnützige Verwendung von Embryonen und die Untersuchung an Embryonen im Stadium
der zellulären Totipotenz. Totipotent ist eine Zelle dann,
wenn aus ihr ein ganzes Individuum entstehen kann. An
diesen Zellen ist daher auch die Untersuchung im Rahmen
der Präimplantationsdiagnostik verboten.
Nach Abschluss des Acht-Zell-Stadiums gelten die
Zellen des Embryos als pluripotent. Untersuchungen im
Stadium der Pluripotenz können demzufolge durchgeführt werden. Aber auch die Grenzen zwischen Totipotenz
und Pluripotenz werden wissenschaftlich noch diskutiert.
Der Widerspruch in der Bioethik-Kommission in Rheinland-Pfalz trat auf, weil die Kommission davon ausgeht,
dass im Acht-Zell-Stadium keine Totipotenz mehr vorliegt. Doch diese Annahme wird auch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sehr wohl infrage gestellt.
Bei der Diskussion über Totipotenz und Pluripotenz
sprechen wir im Übrigen über ein Stadium, das im Falle
einer natürlichen Schwangerschaft im Körper der Frau
keiner Untersuchung zugänglich ist. Und noch ein lebenspraktischer Gesichtspunkt: Bei der Empfängnisverhütung mit Hilfe der Spirale wird der Embryo in genau diesem Stadium an der Einnistung in die Gebärmutter
gehindert. Denn der Schutz des Embryos bei einer natürlichen Schwangerschaft beginnt erst mit der Nidation, der
Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter.
Im Zusammenhang mit der PID wirft das die Frage auf:
Wie ist der Status des Embryos in vitro zu bewerten?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies sind meiner Ansicht nach die zentralen Konfliktfelder im Bereich der
Präimplantationsdiagnostik. Es sind Fragen, die nicht in
Kürze abschließend beantwortet werden können. Hinter
diesen Konflikten stehen letztendlich zwei Fragen: Gibt
es ein Recht auf ein eigenes Kind? Und wenn ja: Gibt es
einen Anspruch auf ein gesundes Kind? Die Notwendigkeit einer breiten Diskussion des Themas ist ganz offenkundig vorhanden. Denn diese Fragen lassen sich nicht
einfach und zügig beantworten - im Übrigen offenbar
auch von Ihnen nicht. Als das Gesundheitsministerium im
Frühjahr dieses Jahres zur Diskussion einlud, gab es nur
wenig Resonanz; dazu wird Frau Kollegin Nickels sicher
noch Genaueres sagen.
Das Gesundheitsministerium hat im Mai dieses Jahres
eine dreitägige Dialogveranstaltung durchgeführt. Sie
stellte den Start zur Vorbereitung eines umfassenden Gesetzentwurfs zur Fortpflanzungsmedizin dar - es bedurfte
also nicht Ihres Antrages und Ihrer Aufforderung. Bei dem
Symposium wurden unter anderem Fragen zum Status des
Embryos in vitro, der Präimplantationsdiagnostik und der
neuen Möglichkeiten der medizinisch unterstützten Fortpflanzung sehr kontrovers diskutiert. Spätestens diese
Veranstaltung machte deutlich: Die Präimplantationsdiagnostik kann nicht losgelöst von den Möglichkeiten und
Risiken der medizinisch unterstützten Fortpflanzung diskutiert werden.
Der Bundestag hat darüber hinaus im März dieses Jahres eine Enquete-Kommission „Recht und Ethik der
modernen Medizin“ eingerichtet, die sich zurzeit intensiv mit der Präimplantationsdiagnostik befasst. Am
13. November wird die Kommission zu diesem Thema
eine Anhörung durchführen. Ich halte es für mehr als geboten, die Empfehlung der Enquete-Kommission zu diesem Thema zu hören und zu berücksichtigen.
({7})
Außerdem halte ich es für falsch, nur die Regierung zum
Handeln aufzufordern. Wir versagen uns damit als Parlamentarierinnen und Parlamentarier die Möglichkeit, die
Frage im notwendigen Umfang selbst zu beraten.
Wer die Präimplantationsdiagnostik jetzt zu schnell erlaubt, lässt eventuell eine Selektion zu, die von unserer
Gesellschaft nicht getragen wird. Wer jedoch Eltern mit
einem hohen Risiko zu Erbkrankheiten die Untersuchung
der Embryonen verbietet, nimmt möglicherweise Abtreibungen billigend in Kauf. Auch das kann daher keine befriedigende Lösung sein. Außerdem ist für uns alle sicherlich klar: Die Entscheidung können und wollen wir
nicht nur Ärzten und Wissenschaftlern überlassen, sondern wir wollen eine verbindliche gesetzliche Regelung
hierfür in Deutschland schaffen.
({8})
Vor diesem Hintergrund plädiere ich für eine breit angelegte und intensive Diskussion des komplexen und
zugegebenermaßen nicht ganz einfachen Themas. Wir
wollen ohne jeden Aktionismus zu einer überlegten Entscheidung gelangen, die von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen wird. Zurzeit ist die PID bei uns
verboten, ein hastiges Erlauben der PID - wenn auch auf
bestimmte Gruppen begrenzt - wird dem Problem nicht
gerecht,
({9})
ebenso wenig wie ein schneller Beschluss zur Regelung
eines einzelnen Teilbereiches.
Vielen Dank.
({10})
Frau Kollegin
Dr. Reimann, dies war - zu später Stunde - Ihre erste
Rede, noch dazu zu einem, wie Sie selbst gesagt haben,
nicht ganz einfachen Thema. Im Namen aller Kolleginnen
und Kollegen möchte ich Sie ganz herzlich dazu beglückwünschen.
({0})
Nächster Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Hubert Hüppe für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ich möchte vorweg sagen, Herr Kollege Parr: Wenn man schon früher so hätte verfahren können, wie Sie es heute vorschlagen - Sie haben das Beispiel
der Mukoviszidose genannt -, hätten das ein Karl Jaspers
oder ein Chopin nicht überlebt; denn beide wiesen das genetische Merkmal für Mukoviszidose auf. Ich denke, es
wäre schlimm, wenn wir uns an der genetischen Ausstattung des Menschen orientieren würden.
({0})
Meine Damen und Herren, die F.D.P. will mit ihrem
Antrag die so genannte Präimplantationsdiagnostik rechtlich absichern. Das ist aus zwei Gründen für mich relativ
unverständlich: Erstens hat der Bundestag die EnqueteKommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“
gerade deswegen eingesetzt, um mit Sachverständigen
solche Themen eingehend zu beraten. Herr Parr, Sie als
Erstunterzeichner des Antrags müssten das eigentlich
wissen, denn Sie sind ja selbst Mitglied der EnqueteKommission. Deshalb müssten Sie eigentlich auch wissen, dass wir am 13. November eine öffentliche Expertenanhörung zu eben diesem Thema durchführen werden.
Der zweite Grund, warum ich diesen Antrag nicht verstehen kann, ist: Die PID ist geregelt, nämlich im Embryonenschutzgesetz, und nach diesem Gesetz ist sie
verboten.
({1})
Nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 des Embryonenschutzgesetzes dürfen Eizellen nur befruchtet werden, um eine Schwangerschaft herbeizuführen. Darüber hinaus verbietet § 2 Abs. 1,
dass ein außerhalb des Mutterleibs gezeugter Embryo zu
einem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck verwendet wird.
Wir sollten es also klar und deutlich benennen: Die PID
dient nicht dem Lebenserhalt des Embryos, sondern der
Selektion erbkranken Nachwuchses. Die F.D.P. spricht in
ihrem Antrag mit dankenswerter Klarheit - ich bitte darum, sich diese Wörter besonders vor Augen zu führen von „Aussonderung genetisch geschädigter Embryonen“
und deren „Verwerfung“. Dies ist - ich kann es nicht anders nennen - Eugenik.
Es geht auch nicht darum, eine Schwangerschaft herbeizuführen, was § 1 Abs. 1 Nr. 2 des Embryonenschutzgesetzes als Voraussetzung nennt. Die betroffenen Paare
sind vielmehr sehr wohl in der Lage, Kinder zu bekommen; sie wissen nur nicht, ob diese möglicherweise genetische Merkmale aufweisen, die ihren Ansprüchen nicht
entsprechen. Es geht also nicht um die Überwindung der
Sterilität, sondern es geht darum, Selektion zu betreiben.
Das ist der einzige Sinn der PID.
Geradezu naiv ist es, wenn die F.D.P. glaubt, die PID
würde nur mit Blick auf schwere genetische Schäden
angewandt. Die Pränataldiagnostik - einige Beispiele
wurden schon genannt - hat gezeigt, dass das nicht funktioniert. Die neueste Technikfolgenabschätzungsstudie
belegt die ungeheuerliche Erhöhung etwa der Zahl der
Fruchtwasseranalysen bei einem gleichzeitig relativen
Rückgang der Zahl der Beratungen.
Frau Dr. Reimann, es gibt - das steht im Gegensatz zu
dem, was Sie gerade behauptet haben - keine eugenische
Indikation. Es wurde immer gesagt, die Behinderung eines ungeborenen Kindes reicht als Grund für dessen Tötung nicht aus.
({2})
Wenn es sich anders verhalten sollte, dann müssen wir uns
darüber Gedanken machen, ob es richtig ist, dass im Rahmen der Pränataldiagnostik alles gemacht werden darf.
Ich möchte auf die Technikfolgenabschätzungsstudie
von 1992/93 zurückkommen. Im Rahmen dieser Studie
wurden 1 157 Schwangere an der Uniklinik Münster gefragt, was sie tun würden, wenn ihr ungeborenes Kind
genetisch zur Fettleibigkeit - es geht also nur um Fettleibigkeit - neigt. 18,9 Prozent der Befragten haben gesagt:
In diesem Fall würde ich mein Kind abtreiben. Ich denke,
das zeigt, dass wir die PID nicht in den Griff bekommen
können.
Im Ausland wird die PID schon zur Geschlechtswahl
eingesetzt. Wer das falsche Geschlecht hat, der wird schon
im Reagenzglas abgetötet. Deshalb ist auch die Argumentation der F.D.P. nicht richtig, die lautet: Wir müssen die
PID anwenden, weil sie auch im Ausland angewendet
wird. Wenn wir dieser Argumentation folgen, dann müssen wir wirklich alles zulassen und dann können wir uns
nur noch auf das niedrigste moralische Niveau einigen,
das von dem Staat bestimmt wird, der das meiste zulässt.
Wir sollten gerade aufgrund unserer Geschichte davor gewarnt sein, nicht alles zu machen, was technisch möglich
ist.
Wie weit die PID gehen könnte, wird in einem Interview der „Welt“ mit Professor Diedrich vom 8. März 2000
deutlich - ich zitiere -:
Die Welt: Der Embryo kann aber auch wie seine Eltern nur Überträger eines Erbleidens sein. Soll er
dann leben oder sterben?
Diedrich: Ich würde dazu raten, den Embryo in die
Gebärmutter zu transferieren. Aber die Entscheidung
müssen die Eltern treffen.
Professor Diedrich - das muss man wissen - gehört zu den
Autoren des Richtlinienentwurfs der Bundesärztekammer. Er will natürlich selber die Methode der PID in Lübeck anwenden. Er vermittelt schon jetzt Patienten ins
Ausland. Aber was bedeutet seine Aussage? Sie bedeutet,
dass ein Embryo getötet werden kann, nicht weil er selbst
eine Krankheit bekommt, sondern weil - mit einer ganz
geringen Wahrscheinlichkeit - die nächste Generation,
also das Kind des Embryos, erkranken könnte. Damit
würde man die Eugenik auf die zweite Generation ausdehnen. Das zeigt meiner Meinung nach die Gefahr auf,
wie weit die PID gehen kann.
Ich habe schon eben gefragt: Warum reden wir nicht
über die Alternativen, etwa über die Polkörperdiagnose?
Das war auch ein Thema in unserer Arbeitsgruppe der Enquete „Fremdsamenspende“. Wenn man über dieses
Thema spricht, dann muss man bedenken, dass es auch die
Alternative der Adoption und auch den Verzicht auf Kinder gibt. Wir müssen auch den Mut haben zu sagen: Es
gibt keinen Rechtsanspruch auf ein Kind ohne Erbkrankheiten. Das Kind hat einen Anspruch, weil es ein Mensch
ist. Zu einer solchen Aussage sollten wir uns durchringen.
Meine Redezeit ist leider zu Ende. Deshalb möchte ich
die F.D.P. zum Schluss auffordern: Ziehen Sie Ihren Antrag zurück; warten Sie die Ergebnisse der Enquete ab;
öffnen Sie nicht unüberlegt Tore, die wir hinterher nicht
mehr schließen können!
Vielen Dank.
({3})
Als
nächster Redner hat der Kollege Dr. Ilja Seifert von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Wer die Präimplantationsdiagnostik rechtlich
absichern will, der will sie zulassen. Das kann der einzige
Zweck Ihres Antrages sein. Von offener Debatte, Herr
Parr, kann nicht die Rede sein. Sie wollen ein ganz bestimmtes Ziel erreichen und ich kann im Namen der PDS
sagen: Wir wollen dieses Ziel nicht,
({0})
und zwar - viele Gründe sind hier schon genannt worden - aus ganz klaren ethischen Gründen. Der Standortgrund, den Sie genannt haben, dass angeblich alle rings
um Deutschland herum das machen würden und nur wir
armen, verhungerten Deutschen würden das nicht können, kann wirklich nicht das ausschlaggebende Argument
sein. Es tut mir Leid.
Die ethischen Gründe, weshalb wir das nicht wollen,
sind klar benennbar: Die Präimplantationsdiagnostik ist
das Einfallstor für das Kind nach Wunsch. Das Kind wird
dann in Zukunft nicht mehr nur danach ausgesucht werden, ob es ein Junge oder ein Mädchen, ob es blauäugig
oder braunäugig wird. Vielmehr können wir dann auch
Generale oder Models und eines Tages vielleicht auch
Dreibeinige oder Siebenbeinige - ich weiß nicht, was gerade praktischer ist - auf Wunsch bestellen. Es tut mir
Leid, Designermenschen will die PDS nicht.
({1})
- Nein, das ist nicht unglaublich,
({2})
- ich habe sehr gut zugehört -, das ist die Logik, die in der
Entwicklung dieser Technologie steckt.
({3})
Auch wenn Sie noch so enge Kriterien anlegen wollen:
Wenn Sie es erlauben, muss die gesamte Technik hervorgebracht werden; es müssen die Menschen ausgebildet
werden, die das können; es müssen die Apparate hergestellt werden, die man dazu braucht; es muss die Logistik
hergestellt werden, die man dazu braucht; und mit dieser
Logistik, mit diesen Menschen, mit diesen Apparaten
kann ich dann auch all das machen, wovon ich gerade als
Horrorvision gesprochen habe. Ich möchte, dass diese
Horrorvision nie Wirklichkeit wird, und ich möchte auch,
dass die Voraussetzungen dafür überhaupt nicht geschaffen werden.
Meine Damen und Herren, wenn Sie von Standortlogik
reden, dann reden Sie bitte von einer Standortlogik, die
menschlich ist und die nicht nur dem Gewinn einiger
Pharmakonzerne, einiger Gerätehersteller und einigen
wenigen Wissenschaftlern dient, die Lorbeeren ernten
und vielleicht den Nobelpreis bekommen, dafür aber die
Menschheit umweltresistent machen. Es tut mir Leid, machen Sie die Umwelt resistent, aber nicht die Menschen
umweltresistent.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({4})
Zu einer
Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Professor
Edzard Schmidt-Jortzig von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Vielen Dank.
Ich hatte mich an sich schon beim Kollegen Hüppe gemeldet, aber im Grund geht das, was ich sagen will, auch
an Ihre Adresse, lieber Kollege Seifert.
Ich glaube, Sie missverstehen unseren Antrag. Es geht
nämlich darum, für dieses hochproblematische Feld klare
Regelungen einzufordern. Es ist natürlich sehr ehrenvoll,
aus der geltenden Rechtslage heraus zu sehen: Es ist alles
verboten, also findet es nicht statt. Das Gegenteil ist aber
der Fall. Sie wissen wie ich, dass man über die Regelungen im Embryonenschutzgesetz anderer Meinung sein
kann und dass zumindest der Verdacht besteht, dass auch
in Deutschland schon PID betrieben wird. Sie kennen die
Presseerklärung, in der die Vermutung geäußert wird, dass
auch bei uns in Deutschland eine hohe Zahl von künstlich
erzeugten Embryonen existiert. Wie anders könnten sie
entstanden und implantiert sein, wenn man nicht doch an
dem Embryonenschutzgesetz herumhantieren könnte?
Also, ich bitte doch darum, unseren Antrag ernst zu
nehmen und zu erkennen, dass wir auf einer verlässlichen
Rechtsgrundlage bestehen wollen, dass die Ergebnisoffenheit das Entscheidende bei diesem Antrag ist und noch
nicht festgestellt wird, wie es laufen sollte.
Ich finde es eigentlich auch nicht gut, obwohl ich dafür
Verständnis habe, dass Sie beklagen, man werde hier der
Enquete-Kommission irgendetwas vorwegnehmen, weil
jetzt gerade - das ist ja richtig - die Expertenanhörung
dazu stattfinde. Aber bei Ihnen habe ich den Eindruck,
dass Sie schon vor der Expertenanhörung und vor dieser
Diskussion ganz genau wissen, wohin es gehen soll. Das
mag ja sein, aber dann werfen Sie bitte anderen nicht vor,
dass das bei denen möglicherweise anders ist. Ich sage Ihnen ausdrücklich: Es besteht Ergebnisoffenheit; nur, wir
wollen eine definierte Regelung dafür. Die brauchen wir,
gerade wenn diese Entwicklungen tatsächlich so gefährlich sind, wie sie sich darstellen.
({0})
Herr Kollege Hüppe, bitte.
Herr Kollege Professor
Schmidt-Jortzig, man braucht schon sehr viel Fantasie,
um den Antrag so auszulegen, dass die F.D.P. möglicherweise auch zu dem Ergebnis kommen könne, die PID
nicht zuzulassen.
Wenn man die Rede von Herrn Parr - darauf habe ich
mich ja bezogen - gehört hat, weiß man, dass er gesagt
hat: Wir wollen das, was Paare im Ausland tun, auch deutschen Paaren hier in Deutschland ermöglichen. Man sollte
doch schon ehrlich sagen, worum es geht.
Herr Schmidt-Jortzig, Sie waren bei der Beratung am
Montag anwesend, auf der wir dies besprochen haben.
Die beiden Sachverständigen sagten dort, dass die PID
nach der jetzigen Regelung des Embryonenschutzgesetzes verboten sei. Nehmen Sie das doch zur Kenntnis!
In der Tat - das ist ja das Schlimme - gibt es die Vermutung, dass es schon heute überzählige Embryonen in
Deutschland gibt. Das weiß aber niemand offiziell. Niemand sagt es. Es gab dazu eine Anfrage des Kollegen
Kauder von der CDU/CSU, aber auch die Bundesregierung konnte nicht sagen, wie viele Embryonen es hier
gibt.
Lassen Sie uns doch darüber sprechen, wie wir den
Missbrauch - darüber, dass es Missbrauch ist, sind wir
uns doch einig - in den Griff bekommen. Wie können wir
diejenigen, die Gesetze brechen - denn es verstößt gegen
das Embryonenschutzgesetz -, strafrechtlich besser verfolgen? Lassen wir uns doch nicht dazu hinreißen zu sagen: Weil es einige missbrauchen, müssen wir es jetzt für
alle zulassen. - Das kann nicht richtig sein; denn es gibt
keine Gleichheit im Unrecht, sondern wir müssen das Unrecht bekämpfen, damit die, die sich vernünftig verhalten
und das Embryonenschutzgesetz richtig anwenden, nicht
denen gegenüber benachteiligt werden, die nur Geschäfte
machen und die sogar mit menschlichem Leben Geschäfte machen.
Kollege
Seifert, bitte.
Herr Kollege Schmidt-Jortzig,
ich bin Ihnen ja dankbar für Ihre Intervention und es tut
mir wirklich Leid, aber ich habe keinen Anlass, die Ergebnisoffenheit Ihres Antrages zu erkennen. Darin steht ich kann es gern zitieren -:
Insbesondere ist die Möglichkeit zu würdigen, mithilfe der Präimplantationsdiagnostik zum frühestmöglichen Zeitpunkt schwerste genetische Schädigungen ... zu verhüten.
Das heißt, Sie gehen erst einmal davon aus, dass es zugelassen wird, und sagen dann, was damit gemacht wird.
Sagen Sie bitte einmal: Was ist denn eine „schwerste
genetische Schädigung“? Wir haben bei der letzten Anhörung der Enquete-Kommission gehört, dass sich die
statistische Lebenserwartung von Menschen, die Mukoviszidose haben, immer weiter erhöht. Wir haben von
Menschen gehört, die schon ihr Leben lang mit so genannten schwersten genetischen Schädigungen leben, und
dass es unter Umständen andere Krankheiten gibt, die sie
eben wegen dieser Schädigungen nicht bekommen.
Das, was Sie schwerste genetische Schädigungen nennen, ist Teil des Menschseins, wenn man die Menschheit
nicht auf eine Norm reduzieren will. Allein diese Wortwahl zeigt, dass es bei Ihnen überhaupt nicht um eine
ergebnisoffene Diskussion geht. Ich habe kein Hehl daraus gemacht, dass mein Ergebnis feststeht; das ist wahr,
dafür schäme ich mich auch nicht. Ich bin dafür, bestimmte Dinge nicht zu tun, weil sie nicht mehr zurückzuholen sind, wenn sie einmal in der Welt sind, und weil
die Gefahren, die davon ausgehen, mindestens so groß
sind wie die, die von der Atombombe ausgehen. Das will
ich nicht und das will die PDS nicht.
({0})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Annette WidmannMauz von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Klage darüber, dass wir ungefragt ins Leben geworfen werden, ist
gewiss nicht neu. Sie bekommt aber einen neuen Adressaten. Mit der Präimplantationsdiagnostik stehen wir im
Begriff, Hand an uns zu legen. Der Mensch als Züchter
seiner selbst? Homo faber - Fluch oder Segen?
Statt es dem Zufall der Natur zu überlassen, bestimmt
immer häufiger wissenschaftliche Präzision den berechtigten Kinderwunsch vieler Eltern. Im Reagenzglas gezeugte Embryonen sind dabei nicht nur eine Hoffnung für
unfruchtbare Paare, sondern jetzt auch für Paare mit hohem genetischen Risikofaktor. Ich bin mir der leidvollen
Erfahrung von Eltern bewusst, die nach vielen Jahren der
seelischen Belastung durch PID endlich Hoffnung auf ein
gesundes Kind haben.
Aber es gibt auch Eltern, die das „qualitativ hochwertige“ Kind wollen. Erste Erfahrungen im Ausland, insbesondere in den USA, zeigen, dass PID nicht nur bei erbkranken Menschen, sondern mittlerweile auch zum
Menschendesign eingesetzt wird. Wunschbabys aus dem
Internet. Kalifornische In-Vitro-Labors machen das heute
schon möglich. Die Eltern kreuzen ihre Optionen an: euroamerikanisch, asiatisch oder afrikanisch, intelligent und
natürlich wohlgeformt - alles nur eine Sache des Preises.
Mir geht es hier aber nicht um Designerbabys. Ich glaube,
wir sind uns in diesem Hohen Hause einig, dass wir alle
keine Menschenzüchtung wollen; das dürfen und das werden wir nicht zulassen. Genau darum geht es ja auch der
F.D.P. in ihrem Antrag.
Aber wir haben eine klare rechtliche Einordnung der
PID. Sie ist nach unserem Embryonenschutzgesetz nicht
zulässig. Die Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P.
müssen sich schon sagen lassen, dass sie mit diesem Antrag den zweiten Schritt vor dem ersten machen. Bevor ein
Fortpflanzungsmedizingesetz beraten wird, müssen wir
zunächst einmal klären, ob wir eine Zulassung der PID
überhaupt wollen, und wenn ja, inwieweit und unter welchen Bedingungen. Die Frage, die sich mir dabei ganz
grundsätzlich stellt und die wir zunächst beantworten
müssen, lautet: Kann es ein Recht auf gesunde Kinder geben?
({0})
In Deutschland gibt es bisher keine breite gesellschaftliche Diskussion über PID. Die heutige Debatte ist ein Anfang, aber mehr auch nicht. Noch zu viele Fragen und Widersprüche stehen im Raum. Genau deshalb haben wir ja
auch die Enquete-Kommission zu diesem Thema eingerichtet.
Ist es nicht widersprüchlich, einen künstlich gezeugten
Embryo bis zu seiner Implantation strikt zu schützen, ihn
dann aber im weiteren Verlauf der Schwangerschaft aufgrund des § 218 Abs. 2 Strafgesetzbuch praktisch schutzlos zu machen?
({1})
Bis zu einem sehr späten Zeitpunkt kann ein Fötus abgetrieben werden, wenn nach einer pränatalen Diagnostik
Risiken zu erwarten sind. Die Tatsache, dass derselbe Embryo auf diese Weise im Reagenzglas höheren Schutz als
später im Mutterleib genießt, lässt sich kaum bestreiten.
Andererseits besteht zugleich ein Unterschied. Die PND
hat eine lebenserhaltende Funktion. Sie hat das Ziel,
Schädigungen von Mutter und Kind zu vermeiden. Die
PID indes will Kinder mit Schädigungen vermeiden. Sie
bewirkt Selektion. Eine ethische Gleichsetzung fällt da
schwer.
Frau Kollegin Widmann-Mauz, lassen Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Knoche zu?
Ja.
Bitte
schön, Frau Kollegin Knoche.
Frau Kollegin Widmann-Mauz, Sie haben in Ihren Darlegungen etwas angesprochen, was in der öffentlichen
Diskussion - erstaunlicherweise insbesondere durch die
Ärzteschaft - transportiert wird, dass nämlich ein direkter
Zusammenhang zwischen dem Dienstleistungsangebot
der Ärzteschaft, eine Präimplantationsdiagnostik durchzuführen, und dem § 218 StGB hergestellt wird. Sind Sie
mit mir der Meinung, dass es nach dem gültigen § 218
StGB im Grunde keinen geschützteren Ort für einen Embryo als den Mutterleib gibt und dass es darüber hinaus
eine völlig andere Sache ist, ob eine Frau mit dem Wissen
um die genetische Beschaffenheit ihres noch nicht geborenen Kindes einen existenziellen Schwangerschaftskonflikt erlebt und sich dann entscheidet, ob sie ein Kind austragen kann oder nicht? Es gibt also ein völlig anderes
Konflikt- und strafrechtliches Behandlungsfeld in Zusammenhang mit § 218 StGB als bei der Tatsache, dass
ein in der Petrischale existierender Embryo auf einen fiktiven Wunsch hin getestet und vielleicht verworfen wird.
Frau Knoche,
ich kann Ihnen zustimmen, dass es in der Frage der Auslegung des § 218 StGB einen direkten Zusammenhang
und eine vergleichbare Beurteilung des Lebens im Reagenzglas und des Lebens im Mutterleib so nicht gibt. Für
viele betroffene Eltern stellt sich die rechtliche Einordnung, die für uns auch die ethische Grundlage ist, nicht in
dem Maße. Sie haben den berechtigten Wunsch, ein gesundes Kind zu bekommen. Ich denke, ich habe in meinen
Ausführungen deutlich gemacht, dass der berechtigte
Wunsch noch nicht das Recht auf ein gesundes Kind und
damit die Selektion anderer Kinder, die dann nur zum
Zwecke der Aussonderung auf die Welt gekommen
wären, bedeuten kann.
Deshalb glaube ich, dass es wichtig ist, dass wir die
Ängste und Sorgen der betroffenen Eltern sehr ernst nehmen, aber auch deutlich machen, dass es ein Unterschied
ist, ob ein Kind schon entstanden ist und man nun die
Sorge hat, ob es gesund zur Welt kommt, oder ob man von
vornherein den Wunsch hat, lediglich ein gesundes Kind
zur Welt zu bringen. Ich denke, dass das klar ist und dass
wir an dieser Stelle übereinstimmen.
({0})
Die guten Absichten der Bundesärztekammer, den Einsatz der PID auf Paare mit hohem genetischen Risikofaktor beschränken zu können, sind Wunschdenken. Das sehen im Übrigen viele Mitglieder der Bundesärztekammer
ähnlich. Die Spirale des technisch Machbaren wird sich
weiter drehen. Stärker noch als bei der PND wird der
Druck auf betroffene Paare immer größer. Die Büchse der
Pandora droht dabei weiter geöffnet zu werden.
Die Hemmschwelle, sich gegen ein behindertes Kind
zu entscheiden, ist sicherlich geringer - dies zeigen auch
Interviews der letzten Tage -, wenn der Embryo sozusagen „nur“ im Reagenzglas und noch nicht im Körper der
Frau existiert. Müssen wir aber nicht die Sorge haben,
dass mit den Behinderungen auch Behinderte abgeschafft
werden sollen? Kann es der Gesellschaft gelingen, pränatale Selektion zu betreiben und gleichzeitig Behinderten
postnatale Solidarität zu garantieren?
Allein anhand dieser zwei Fragen wird deutlich, wie
vielschichtig und sensibel die Diskussion ist. Die Gesellschaft - das heißt wir alle - muss sich ganz grundsätzlich
darüber verständigen, ob das Verbot der PID im Embryonenschutzgesetz weiterhin Bestand haben soll. Bevor wir
diesen Schritt nicht getan haben, macht auch der Antrag
der F.D.P. keinen Sinn.
({1})
Als letzte
Rednerin hat für die Bundesregierung die Parlamentarische Staatssekretärin Christa Nickels das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon sehr verwunderlich,
dass die F.D.P. mit ihrem Antrag heute das Thema
„Präimplantationsdiagnostik“ auf die Tagesordnung des
Parlamentes setzt. Ich teile ausdrücklich die Meinung, die
Sie, Frau Widmann-Mauz, gerade dargelegt haben. Die
Gründe sind absolut einleuchtend; darum wundert mich
das Verhalten der F.D.P. sehr.
Es ist das gute Recht der Opposition, die Regierung
zum Handeln aufzufordern. Aber ich kann nicht nachvollziehen, warum sie sich dazu Themen aussucht, die
existenzielle Fragen berühren und an denen - das möchte
ich betonen - die Regierung schon längst und mit großer
Sorgfalt arbeitet.
Wie jeder weiß, befand sich das Bundesministerium
für Gesundheit zusammen mit anderen Ressorts in einem
sechsmonatigen intensiven Vorbereitungsprozess, um im
Mai einen dreitägigen großen Kongress zur Fortpflanzungsmedizin durchführen zu können. Wir hatten über
600 Teilnehmer aller Disziplinen und Fachrichtungen sowie - was uns sehr wichtig war - der gesellschaftlichen
Verbände und der Betroffenen. Man redet ja immer davon,
man wolle Leid vermeiden. Wir haben den Behinderten
dort ausdrücklich die Möglichkeit gegeben, sich mit
ihrem Sachverstand und ihrer Erfahrung einzubringen.
Dieser Kongress hat in der Fachwelt und bei all denen,
die an diesem Thema politisch interessiert sind - das sind
natürlich in besonderer Weise die behinderten Menschen -, in hohem Maße Aufmerksamkeit erzeugt. Ich
glaube - das ist hier parteiübergreifend gesagt worden -,
dass wir mit diesem Kongress eine neue Qualität der Debatte um die Fortpflanzungsmedizin in Deutschland erreicht haben, und zwar auf dem aktuellen Stand.
Am Ende der Veranstaltung war klar - das ging auch
schon seit 1994 aus der Tatsache hervor, dass Kompetenzen, die der Bund im Bereich der Fortpflanzungsmedizin
bis dahin nicht hatte, dem Bund grundgesetzlich zugeschrieben worden sind, wir also auch bestimmte, bisher
nicht geregelte Bereiche regeln mussten -, dass es einen
Bedarf an neuen gesetzlichen Regelungen im Bereich der
Fortpflanzungsmedizin gibt und wir daran arbeiten müssen.
Seither werden im Ministerium die Vorbereitungen für
den Gesetzgebungsprozess getroffen, und auch in der
vom Bundestag eingesetzten Enquete-Kommission - darum, Herr Parr, ist das, was Sie sagen, nicht richtig, dass
dieses Thema mit Ihrem doch sehr bescheidenen kleinen
Antrag hier im Parlament zum ersten Mal auf die Tagesordnung gesetzt wird - wird in einer äußerst soliden Debatte, intensiv und mit einem Arbeitsprogramm, das auch
wirklich detailliert abgesprochen, hoch kompetent ausgelegt ist und nicht an Effekthaschereien anknüpft, die dieses Thema nicht verträgt, über diese Probleme diskutiert.
Frau Kollegin Nickels, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schmidt-Jortzig?
Ja, bitte schön.
Bitte
schön, Herr Schmidt-Jortzig.
Ich habe nur
eine ganz kleine und schlichte Frage. Wenn das alles so
des Teufels ist, warum arbeitet das Ministerium an einem
Gesetzentwurf zur Fortpflanzungsmedizin?
Lieber Herr Kollege
Schmidt-Jortzig, ich weiß nicht, ob Sie mir richtig zugehört haben. Ich habe überhaupt nicht erklärt, dass das
alles des Teufels sei. Das wäre auch völliger Unsinn.
({0})
Das können Sie weder aus meiner Rede, noch aus meiner
Arbeit, die ich bisher im Ministerium geleistet habe, noch
aus der Arbeit des Ministeriums ableiten. Ich habe dargelegt, wie intensiv, gründlich und mit der Enquete-Kommission abgestimmt, wir arbeiten. Ich habe weiter dargelegt, dass aufgrund dieses rasanten Fortschrittes, der auch
viele Bereiche ungeregelt lässt, und durch die neuen
Kompetenzen, die der Bund seit 1994 hat, bestimmte Bereiche neu geregelt werden müssen. Das, was Sie mit Ihrer Frage ausgedrückt haben, können Sie aus dem, was ich
gerade gesagt habe, überhaupt nicht ableiten. Ich würde
Sie auch bitten, meine Rede einmal nachzulesen.
({1})
Richtig ist: Wir wollen weiterhin in aller Sorgfalt an
der Lösung der Probleme arbeiten. Wir bereiten im Ministerium diese notwendigen Regelungen vor und - ich
sagte es schon - wir versuchen das auch mit der EnqueteKommission abzustimmen, weil es eben ein sehr wichtiges Thema ist.
Mit diesen Regelungserfordernissen sind schwierigste
rechtliche, ethische und gesellschaftspolitische Fragestellungen verbunden. Darum ist das übliche Verfahren - die
Regierung macht einen Gesetzentwurf, den dann die
Mehrheit nach Debatte und Beratung in den Ausschüssen
und mit eventuellen Ergänzungen im Bundestag beschließt - hier für uns ausgeschlossen. Wir im Gesundheitsministerium halten das Thema für so außerordentlich
wichtig, dass wir eine breite Debatte über die Fraktionsgrenzen hinweg für notwendig erachten - ähnlich wie das
auch im Bereich der Organtransplantation geschehen ist.
({2})
Bundesministerin Andrea Fischer hat genau aus diesem Grund bereits am 30. Juni dieses Jahres - liebe Kollegen von der F.D.P., ich würde Sie bitten, sich das einmal
zu merken und in Ihrer Fraktion nachzufragen - allen
Fraktionen des Deutschen Bundestages angeboten, einen
Gedankenaustausch über die weitere Vorgehensweise bei
diesem Gesetz zu führen. Eine Reaktion vonseiten der
Opposition steht aber bis heute noch aus. Lediglich die
PDS hat sich positiv zu diesem Anliegen geäußert. Dagegen hat die Ministerin vonseiten der Union oder von der
F.D.P. keine Antwort zu diesem wichtigen Thema erhalten. Es wundert mich sehr, dass Sie auf dieses Angebot
überhaupt nicht eingehen, aber dann hier mit einem wirklich bescheidenen Antrag vorpreschen und auch noch behaupten - völlig zu Unrecht -, sie seien diejenigen, die
diese Debatte initiierten. Ich finde, bestimmte Bereiche
sollten von parteipolitischem Kalkül einfach verschont
bleiben.
({3})
Es ist schon sehr viel zum Inhalt des Antrages gesagt
worden. Ich will das nicht wiederholen. Sie, Herr Parr, haben auf eine entsprechende Frage von Herrn Kollegen
Hüppe als Beispiel für eine Präimplantationsdiagnose die
Mukoviszidose genannt. Ich verstehe nicht, dass Sie das
als Beispiel nehmen. Ich finde, dass der Herr Kollege
Seifert Recht hat. Sonst ist gerade die F.D.P. immer diejenige Fraktion, die sehr stark auf die Möglichkeiten des
medizinischen und technischen Fortschritts verweist.
Herr Kollege Seifert hat Recht: Gerade im Bereich der
Mukoviszidose hat die Medizin erfreulicherweise erstaunliche Fortschritte erzielt, um die Folgen dieser Erkrankung zu lindern und das Leben für die Betroffenen lebenswert zu machen.
(Beifall der Abg. Monika Knoche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]
Ich möchte nun noch eine sehr beeindruckende Erfahrung aus dem dreitägigen Symposium vortragen. Auf diesem Kongress hat ein Professor Bilder des Gesichtes eines kleinen Babys an die Wand geworfen und dann
gefragt: „Sehen Sie das Leid in den Augen dieses Kindes?
- Hätte es eine PID gegeben, dann wäre dieses Leid vermieden worden.“
Dann ist etwas passiert, was wirklich nur passieren
konnte, weil Menschen, die selber Träger von Behinderungen sind, da waren. Es ist ein Rollstuhlfahrer vorgefahren - sehr empört, aber sehr ernst - und hat gesagt:
Herr Professor, wissen Sie eigentlich, was Sie da gesagt
haben? Was Sie da gesagt haben, bedeutet für mich, der
ich seit über 40 Jahren mit einer existenziellen Behinderung lebe, dass ich eigentlich gar nicht leben dürfte. Ich
bestreite Ihnen das Recht, zu werten, dass mein Leben
leidvoll ist und dass ich es nicht ertragen kann. Ich leide
an der Ignoranz der Gesellschaft und der Menschen,
({4})
die nicht bereit sind, zum Beispiel durch barrierefreies
Bauen dafür Sorge zu tragen, dass wir trotz bestimmter
Einschränkungen am Leben teilhaben können. Meine Erkrankung nimmt mir nicht die Möglichkeiten zur Lebensfreude und zur Teilhabe, sondern die Ignoranz, die
in der Gesellschaft noch immer vorherrscht. - Diese
Worte waren sehr eindrucksvoll. Mit diesem Beispiel
wollte ich die Problematik, um die es hier geht, verdeutlichen.
Herr Kollege Parr, Sie haben gesagt, dass Sie nicht verstehen, warum sich die Bundesrepublik Deutschland auf
diesem Gebiet so schwer tut, und haben gefragt, warum
wir diese Sonderregelung brauchen. Dazu möchte ich Folgendes sagen: Es gab in Deutschland zwölf schreckliche
Jahre. Es ist ein positives Ergebnis, dass wir folgende
Lehre aus der Geschichte gezogen haben: Wenn es um
grundsätzliche Fragen der Menschenwürde und um
grundlegende ethische Fragen geht, dann sind wir glücklicherweise sehr vorsichtig und besonnen. Dieses Erbe
sollten wir nicht verspielen, sondern nutzen. Parlament
und Ministerium stehen in diesem Punkt in gutem Gleichklang.
Danke schön.
({5})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4098 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung soll
abweichend von der Tagesordnung beim Ausschuss für
Gesundheit liegen. Sind Sie damit einverstanden? - Das
ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 sowie den Zusatzpunkt 12 auf:
14. Beratung des Antrags Dr. Norbert Lammert, Dirk
Fischer ({0}), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU
Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses
- Drucksache 14/3673 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({1})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra Pau,
Heinrich Fink, Roland Claus und der Fraktion der
PDS
Arbeitsweise der Expertenkommission Historische Mitte
- Drucksache 14/4402 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({2})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Vertreter
der Fraktionen SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen
und F.D.P. wollen ihre Reden zu Protokoll geben.1) Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Ich eröffne die Aussprache und rufe den Redner der
PDS-Fraktion, Herrn Professor Dr. Heinrich Fink, auf.
Ihm stehen allerdings aufgrund der Vereinbarung nur drei
Minuten Redezeit zur Verfügung.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir
heute zum wiederholten Male über das Areal des heutigen
Schlossplatzes sprechen, so deshalb, weil es einen beklagenswerten Grund dafür gibt: Der Schlossplatz ist heute
die architektonische Wunde im Herzen Berlins. Gleich
dreifach war die Bebauung dieses Platzes im abgelaufenen Jahrhundert in das Räderwerk von Geschichte, Politik und Ideologie geraten wie wohl keine andere in dieser
Stadt: zum ersten Mal, als vom Stadtschloss gegen Ende
des von Hitlerdeutschland entfesselten Weltkrieges symbolhaft nur eine Ruine blieb - die Ruine hätte man allerdings aufbauen können -; zum zweiten Mal, als man in
der DDR gegen den Wiederaufbau der Schlossruine entschied und später den Palast der Republik errichtete;
zum dritten Mal, als die heute Regierenden diesen Platz
mit dem Palast wohl nicht ganz ohne Absicht durch
Untätigkeit zum Schandfleck verkommen ließen.
So beklagenswert jede der erwähnten Zäsuren in der
Geschichte des Schlossplatzes im Nachhinein sein mag,
so wenig Verständnis kann ich für die nunmehr zehnjährige Verweigerung seiner Neugestaltung aufbringen.
Die PDS erwartet daher als vordringlichste Aufgabe, dass
die schon so lange angekündigte Expertenkommission
nun endlich zusammentritt und mit ihrer Arbeit beginnt.
({0})
Damit dies in konstruktiver Weise geschieht, sollte sie
nicht mit Vorgaben belastet werden, die ihr die Erkennt-
nisfreiheit zur Lösung der Frage von Palast und/oder
Schloss schon von vornherein beschneiden.
Ich erwähne den Palast, weil im Antrag der CDU da-
von sicherlich ganz bewusst keine Rede mehr ist. Wenn
ich mich für die Entscheidungsfreiheit der Kommission
ausgesprochen habe, so beziehe ich mich auf die schluss-
endliche bauliche Substanz auf dem Schlossplatz und auf
ihre Kubatur. Unabhängig von der letztendlichen archi-
tektonischen Lösung sollte aus Sicht der PDS die funk-
tionelle Bestimmung des Schlossplatzareals ein Ziel ha-
ben: Es sollte als Teil des Dreiecks Regierungsvier-
tel - Potsdamer Platz - Historische Mitte der öffentlichen
1) Anlage 5
Nutzung vorbehalten bleiben, und zwar nicht teilweise,
nicht maßgeblich, sondern in seiner Gesamtheit.
({1})
Das war schon einmal so: Berlins Mitte wurde von seinen Bürgern und ihren Gästen angenommen und verlangt
nach der Wiedervereinigung geradezu danach, es wieder
zu werden. In diesem Sinne ist auch das Anliegen engagierter Bürger wie der Initiative „Pro Palast“ zu verstehen,
zu der sich Menschen aus Ost und West vereinigt haben
und die für eine Zugangsmöglichkeit für alle Bürger, wie
sie auch beim Palast der Republik gegeben war, streitet.
Der Möglichkeiten und der bemerkenswerten Vorschläge, wie der Schlossplatz für die Öffentlichkeit zurückgewonnen werden kann, gibt es inzwischen viele. Ob
die außereuropäische Sammlung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, ob eine Bibliothek, ob das Haus der
Kulturen der Welt: Sie alle und noch andere könnten dem
Platz im besten Sinne neues, wirkliches Leben verleihen.
Ich möchte, wie schon in unserem vorliegenden Antrag
zum Ausdruck kommt, die Erwartung ausdrücken, dass
die Expertenkommission so unabhängig und - um nicht in
das Getriebe künftiger Wahlkämpfe zu geraten - auch so
schnell wie möglich zu einem Ergebnis kommt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3673 und 14/4402 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({0}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Rosel
Neuhäuser, Petra Pau und der Fraktion der PDS
Schaffung der gesetzlichen Voraussetzungen
für die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis für
lange in Deutschland lebende Ausländerinnen
und Ausländer ({1})
- Drucksachen 14/2066, 14/2509 Berichterstattung:
Abgeordnete Rüdiger Veit
Meinrad Belle
Marieluise Beck ({2})
Ulla Jelpke
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({3}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Petra Pau, Ulla Jelpke,
Heidemarie Lüth, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der PDS
Abschaffung des Flughafenverfahrens ({4})
- Drucksachen 14/26, 14/2979 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Peter Kemper
Erwin Marschewski ({5})
Marieluise Beck ({6})
Ulla Jelpke
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Ulla Jelpke von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Bevor ich auf die beiden Anträge - also den Antrag zur so genannten Altfallregelung als auch den Antrag
zur Abschaffung des Flughafenverfahrens -, über die wir
heute Abend zu später Stunde diskutieren, konkret eingehe, möchte ich vorweg betonen, dass wir bezüglich dieser Inhalte nicht alleine dastehen. Die katholische und die
evangelische Kirche unterstützen diese Anträge in ihrer
Zielrichtung. Auch Flüchtlingsorganisationen, Amnesty
International und diverse andere Menschenrechtsorganisationen haben sich über Jahre hinweg dafür eingesetzt.
Worum geht es in unseren Anträgen? Zunächst zur
so genannten Altfallregelung. Hierbei geht es um eine
Gruppe von Menschen, die oft schon seit vielen Jahren in
Deutschland leben - nicht selten zehn Jahre und länger -,
die hier ihren Lebensmittelpunkt haben und hier arbeiten,
deren Kinder hier zur Schule gehen, deren Aufenthalt aber
seit vielen Jahren ungeklärt ist.
Genau vor einem Jahr wurde die Altfallregelung beschlossen. Damals wurde von der Bundesregierung prognostiziert, dass dadurch etwa 23 000 Menschen einen
aufenthaltsrechtlichen Status bekommen. Wie immer
gab es lange Debatten nicht nur im Innenausschuss, sondern auch auf Länderebene. Vor allen Dingen die
CDU/CSU hat dafür gesorgt, dass es sehr regressive
Richtlinien zur Auslegung der so genannten Altfallregelung gegeben hat, sodass, wie man heute sagen muss, dadurch nur etwa 14 000 Menschen eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen haben.
Was ist der Grund dafür, dass den Menschen hier kein
Aufenthaltsstatus eingeräumt wird? Häufig haben diese
Menschen keinen gültigen Pass ihres Heimatlandes mehr,
da die abgelaufenen Pässe nicht verlängert werden. Deswegen lehnen es die deutschen Behörden ab, ihnen hier
einen festen Aufenthaltsstatus zu gewähren.
Überhaupt nicht verstehen kann ich, warum Menschen, die vor zehn Jahren oder auch später aus Jugoslawien zu uns geflohen sind, ganz pauschal von dieser Altfallregelung ausgenommen wurden. Sie werden generell
nicht berücksichtigt, und zwar mit der Begründung seitens der Behörden, dass man sie eigentlich wieder
zurückschicken wollte, dass sich aber die jugoslawischen
Behörden geweigert haben, sie zurückzunehmen. Ich
meine, dass man hier wirklich von Menschenrechtsverletzungen sprechen muss. Es kann einfach nicht angehen,
dass Menschen, die so lange in diesem Land leben, keinen
aufenthaltsrechtlichen Status bekommen.
({0})
Wir haben in dem Antrag aufgeführt, welche Personen
unserer Meinung nach hier dringend einen Aufenthaltsstatus bekommen sollten: Menschen, die länger als fünf
Jahre hier leben, und Alleinerziehende. Aus zeitlichen
Gründen kann ich sie nicht alle aufzählen. Wichtig ist mir,
dass gerade der Aufenthalt von Menschen, die sich im
Kirchenasyl befinden, mit denen ich häufig gesprochen
habe und die über Jahre hier illegal leben, legalisiert werden muss.
Die Flüchtlingsorganisationen schlagen allesamt vor
- das steht nicht in unserem Antrag -, § 100 des Ausländergesetzes zu einer permanenten Altfallregelung zu machen, sodass die Illegalisierung tatsächlich systematisch
aufgehoben werden könnte.
Zum Schluss möchte ich Sie darauf hinweisen, dass in
fast allen westeuropäischen Ländern gesetzliche Initiativen zur Legalisierung von Illegalen gelaufen sind, in
Belgien, in Spanien, in Italien. Dort hat man per Gesetz
Amnestien festgelegt und diesen Menschen dadurch
tatsächlich geholfen. Das ist das Ziel dieses Antrags. Ich
meine, an diesen Ländern sollten wir uns ein Beispiel nehmen, auch wenn ich weiß, dass hier heute beide Anträge
abgelehnt werden.
Zum Flughafenverfahren. Das Flughafenverfahren beschäftigt uns eigentlich seit Jahren. Es ist so, dass die
Menschen dort menschenunwürdig untergebracht sind.
Das hat sich bis heute nicht geändert. Sie werden im Rahmen des Flughafenverfahrens wie in einem Gefängnis gehalten. Wer sich das einmal angeschaut hat, kann überhaupt nicht verstehen, dass unschuldige Menschen, die
hierher geflohen sind und deren einziges Verschulden
darin liegt, dass sie um Aufnahme ersuchen und Asylanträge stellen, unter so unmenschlichen Bedingungen gehalten werden.
({1})
Viele von Ihnen werden jetzt sagen, das sei ja alles eine
Sache der Freiwilligkeit. In der Tat ist es so. Eigentlich
müssten die Menschen spätestens nach 23 Tagen aus dem
Flughafenverfahren herausgenommen werden. In diesem
Sinne kann es also keine Freiwilligkeit geben. Die Alternative zum Transitverfahren, zum Knast am Flughafen ist
das Abschiebegefängnis.
Im Flughafenverfahren findet keine Haftprüfung statt.
In den Räumen sind die Menschen aufs Engste zusammengepfercht. Für mich ist nach wie vor das Schlimmste,
dass man dort auch Kinder unterbringt. Der Bundestag hat
hier vor einiger Zeit zwar beschlossen, dass die Kinderrechtskonvention endlich unterzeichnet werden soll. Der
Innenminister verweigert das aber nach wie vor. So werden Kinder immer noch im Rahmen dieses Verfahrens
dort festgehalten. Gerade jetzt ist bekannt geworden, dass
ein 14-jähriger Tamile über längere Zeit dort gewesen ist.
Er sollte abgeschoben werden. Es ist zum Glück durch öffentlichen Protest gelungen, das zu verhindern.
In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass auch der UNHCR sehr scharfe Kritik an diesem
Verfahren geübt hat, dass Menschenrechtsorganisationen
immer wieder darauf verwiesen haben, dass die Menschen dort viel zu lange festgehalten werden. Bei einem
Besuch, den ich selber dort einmal abgestattet habe, saßen
von 70 Menschen zehn Menschen fast ein Jahr dort, ein
Jahr unter Bedingungen, die schlechter sind als die in
Gefängnissen hierzulande. Man hat nicht einmal die Möglichkeit eines Hofgangs; man ist dort unter schlimmsten
Bedingungen zusammengepfercht.
Frau Kollegin Jelpke, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. - Das
Flughafenverfahren gehört ganz generell abgeschafft.
({0})
Es ist menschenunwürdig. Deswegen fordern wir Sie auf:
Nehmen Sie das ernst, was Kirchenorganisationen und
Menschenrechtsorganisationen seit vielen Jahren fordern!
Tun Sie endlich etwas und lehnen Sie diesen Antrag nicht
ab!
({1})
Als
nächster Redner hat der Kollege Rüdiger Veit von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute Morgen hat meine Fraktionskollegin Hedi Wegener
anlässlich der Debatte zum 50. Jahrestag der Europäischen Menschenrechtskonvention darauf hingewiesen,
dass es nicht nur ausreicht, an einem solchen Tag Festtagsreden zu halten, sondern dass es auch nötig ist, ganz
konkret die Menschenrechtslage vor Ort und vielleicht
sogar auch im europäischen Haus zu betrachten. Ein
konkretes, in der Bundesrepublik Deutschland angewandtes Verfahren, das sie kritisch hinterfragt hatte, ist
das Flughafenverfahren. Hier ging es nicht nur um die
Unterbringungssituation - dazu wird der Kollege HansPeter Kemper anschließend etwas sagen -, sondern eben
auch um die in meinen Augen unerträglich stark angestiegene Verweildauer der Asylsuchenden im Unterbringungsgewahrsam.
({0})
Ich möchte an der Stelle ausdrücklich sagen, dass die
Koalitionsfraktionen sich darum bemühen werden, diesen
Zustand möglichst bald nachhaltig und in rechtsstaatlich
einwandfreier Weise zu verändern und hier Abhilfe zu
schaffen.
({1})
- Wir sind bemüht; wir werden uns weiter bemühen. Jede
Zeitform greift hier, Frau Kollegin Beck. Wir müssen aber
vor allen Dingen zu einem Ergebnis kommen.
Ich bitte um Nachsicht, dass ich diesen Vorgriff auf
einen Aspekt des Tagesordnungspunktes, zu dem der Kollege Kemper noch sprechen wird, gemacht habe. Aber ich
denke, es gehört am Ende eines solchen Tages dazu, dass
man auch einmal auf konkrete Situationen eingeht.
Nun zur Frage der Altfallregelung. Es gibt in der Politik ja manchmal auch noch Überraschungen. Ich jedenfalls - das sage ich ganz offen - war sehr überrascht, dass
im Zuge der Innenministerkonferenz vom 19. November 1999 in Görlitz von den Länderinnenministern in
Übereinstimmung mit dem Bundesinnenminister eine
Altfallregelung beschlossen wurde. Auch wenn es daran
inhaltliche Kritik geben mag, auf die ich noch eingehen
werde, ist es, wie ich denke, ein Verdienst des Bundesministers Otto Schily, dass überhaupt eine Altfallregelung
zustande gekommen ist; denn die Alternative hierzu wäre
gewesen, gar nichts zu tun. Deswegen verdient er an dieser Stelle unsere Anerkennung für seinen Einsatz.
({2})
Ich bin dafür durchaus dankbar, auch wenn, wie bei unseren Debatten im Innenausschuss deutlich geworden ist,
alle Fraktionen mit Ausnahme der CDU/CSU - das versteht sich; denn diese Partei und ihre Länderinnenminister
haben das bei den Konferenzen immer verhindert - darin
übereinstimmen, dass diese Regelungen eigentlich nicht
weit genug gehen. Wir alle waren ja auch sehr skeptisch,
ob die gefundene Regelung überhaupt nur annähernd so
viele Asylsuchende bzw. hier im Verfahren befindliche
Asylbewerber begünstigen könnte, wie dies bei der Altfallregelung von 1996 der Fall war, in deren Genuss bekanntlich etwa 7 800 Personen kamen.
Ein weiteres Mal war ich überrascht, als am Anfang
dieser Woche im Rahmen der Vorbereitung dieses Tagesordnungspunktes die Zahlen aus der vorläufigen Statistik
der Länderinnenminister bekannt geworden sind. Entgegen unseren Befürchtungen wurden immerhin über
14 000 Menschen begünstigt. Darüber hinaus gibt es noch
über 7 000 Anträge - ich nehme allerdings an, dass es im
Ergebnis über 10 000 Anträge sein werden -, über die in
den Bundesländern noch entschieden werden muss, übrigens bis zum 31. Dezember dieses Jahres. Hierzu haben
sich die Innenminister ausdrücklich verpflichtet.
Zwischen den einzelnen Bundesländern gibt es aber
auch ganz erhebliche Unterschiede. Wen wollte es wundern, dass die entsprechenden Ausführungserlasse in Bayern und vor allen Dingen im Saarland besonders restriktiv
ausgefallen sind? Damit liegen sie natürlich auch in der
Praxis bei der positiven Bescheidung der Anträge weit
zurück. Es ist allerdings hervorzuheben, dass das Land
Nordrhein-Westfalen nach heutigem Stand bereits fast
50 Prozent aller Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis gemäß der Altfallregelung stattgegeben hat.
({3})
Ich würde mich freuen, wenn alle so gehandelt hätten wie
Nordrhein-Westfalen; dann hätten wir weniger Probleme.
Aber auch die Zahlen aus Niedersachsen und RheinlandPfalz fallen ganz erfreulich aus.
Die offenkundig unterschiedliche Behandlung von Altfällen in den einzelnen Bundesländern könnte man als zusätzliches Argument dafür nehmen, dass eine einheitliche
bundesgesetzliche Regelung nötig sei. Eine solche Änderung des Ausländergesetzes - das will ich Ihnen ganz offen sagen -, für die in der Tat § 100 in Betracht kommen
könnte, scheitert schlicht und ergreifend an der fehlenden
Zustimmung des Bundesrates. Eine derartige Gesetzesänderung wäre nämlich zustimmungspflichtig. Bekanntlich
haben die sozialdemokratisch geführten Landesregierungen seit der Landtagswahl in Hessen - wer in diesem Saal
würde das mehr bedauern als ich, der ich aus Hessen
komme - dort keine Mehrheit mehr.
Sosehr ich es selber bedauere: Wir sollten erkennen,
dass wir uns von dieser Vorstellung verabschieden müssen.
({4})
Allein unsere Kräfte im Bundestag reichen für eine entsprechende Gesetzesänderung jedenfalls nicht aus, auch
wenn die Anzahl der tatsächlichen Befürworter womöglich weit größer ist als die in derjenigen Fraktion, die diesen Antrag eingebracht hat.
Der Gedanke, wie wir mit sich in Deutschland
langjährig aufhaltenden Ausländern, die jetzt und auf absehbare Zeit die Voraussetzungen für eine Einbürgerung
nicht erfüllen können, umgehen wollen, bleibt aber auf
der Tagesordnung.
({5})
- Nicht nur Ihre Fraktion, liebe Frau Jelpke, wird wieder
einen Antrag einbringen, sondern auch weitere Fraktionen, und zwar aus anderen Gründen.
Wenn wir im Zusammenhang mit der noch zu führenden Debatte über eine neue Regelung der Zuwanderung
die Personengruppe derjenigen Ausländerinnen und Ausländer betrachten, die schon lange hier leben und die aufgrund von Voraussetzungen, die sie nicht erfüllen, nicht
eingebürgert werden können - ihre Kinder sind hier geboren und haben ihre Ausbildung hier gemacht -, dann
muss uns doch klar werden, dass es unter demographischen Gesichtspunkten keinen Sinn macht, Menschen aus
dem Ausland nach Deutschland zu holen - egal, ob aus
ökonomischen oder aus humanitären Gründen -, während
wir gleichzeitig diejenigen mit Gewalt aus dem Land herausdrängen, die schon eine wesentliche Integrationsleistung vollbracht haben. Jedem von uns muss einleuchten,
dass wir auf diese Frage eine gemeinsame Antwort werden finden müssen. Ich hoffe sehr, dass das noch in dieser
Legislaturperiode gelingt.
Wir brauchen von Ihrem neuen Generalsekretär, Laurenz
Meyer - er unterstellt uns, wir wollten das Problem aussitzen -, jedenfalls keine Nachhilfe. Wir wollen die Angelegenheit regeln. Ich füge hinzu: Wir werden auch für
diejenigen Asylsuchenden, die bereits seit langem hier leben und sich einer weitgehenden Integration unterzogen
haben, im Zuge dieser Beratungen eine Lösung finden
müssen. Diese Menschen brauchen Perspektiven. Ich
wiederhole: Das Thema bleibt auf der Tagesordnung.
({6})
Als
nächster Redner hat der Kollege Erwin Marschewski von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Frau Kollegin Jelpke, es ist schon wie der Versuch, den
Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben, wenn sich die
Nachfolgeorganisation der SED auf das Kirchenasyl beruft.
({0})
Zur Sache selbst. In der Union gibt es eine Diskussion
über die Zuwanderung, weil dies ein wichtiges Thema ist.
Dabei ist eines klar: Wir wollen nicht speziell dieses
Thema im nächsten Bundestagswahlkampf behandeln.
Dazu müssen aber bestimmte Voraussetzungen erfüllt
sein:
Erstens. Die Bundesregierung muss ein Zuwanderungsbegrenzungskonzept vorlegen. Die Kommission
muss endlich zu Ergebnissen kommen.
Zweitens. Wir haben ein hervorragendes Integrationsprogramm vorgelegt, das Sie einfach abgelehnt haben, obwohl Sie kein eigenes Konzept besitzen. Das ist schlimm.
Wir brauchen nämlich ein Integrationsprogramm.
({1})
- Frau Beck, wir wissen, dass zu viele Menschen zu uns
kommen, die keine Chance haben, in Deutschland einen
Arbeitsplatz zu bekommen. Gleichzeitig kommen zu wenige, die eine Chance auf einen Arbeitsplatz haben. Gerade deswegen ist die Steuerung der Zuwanderung dringend vonnöten.
({2})
Ich bin mit dem Bundesinnenminister völlig einer Meinung: In dieser Frage darf es keine Denkverbote geben.
Ich bin nicht darauf aus, das individuelle Grundrecht auf
Asyl zu ändern. Aber wenn es dringend notwendig ist,
dann müssen wir auch über Änderungen des Grundgesetzes und des Asylrechts reden.
Die Zuwanderung wird durch die beiden von der PDS
immer wieder eingebrachten Anträge - weder durch Abschaffung des Flughafenverfahrens noch durch eine neue
Altfallregelung - natürlich nicht begrenzt. Herr Kollege,
es ist richtig, dass wir damals der einen Altfallregelung
zugestimmt haben. Das war gut so.
Bei der Flughafenregelung ist die Situation aber ein
bisschen anders. Ihre Abschaffung ist nicht gerechtfertigt;
denn die Flughafenregelung ist notwendig, da sie ein
Hauptproblem in der Ausländerpolitik - die Rückführung
von Asylbewerbern, deren Antrag abgelehnt worden ist
- bewältigt. Außerdem bietet die Flughafenregelung Vorteile: Wir können - das haben wir bei den Gesprächen
über eine Neuregelung des Asylrechts vor ungefähr
sechs Jahren so gewollt - vor der Einreise über den Antrag eines Asylbewerbers entscheiden. Bei Ablehnung des
Antrags ist die Rückführung des Asylbewerbers ohne
weiteres möglich. Es ist auch vertretbar - über diese
Regelung kann man zwar reden; aber sie ist vertretbar -,
dass sich Asylbewerber 19 Tage lang auf dem Flughafen
aufhalten.
Ich meine, dass entgegen dem PDS-Antrag weder die
Würde der Asylsuchenden beeinträchtigt noch deren
Rechtsschutzmöglichkeit eingeschränkt wird. Eines ist
aber klar: Wir müssen die Verfahren so ausgestalten, dass
die Menschen so wenig wie möglich belastet werden. Das
gilt natürlich insbesondere für minderjährige Kinder; das
ist keine Frage. Sie wissen, die Länder sind dafür zuständig. Ich will nicht immer auf die alte rot-grüne Landesregierung in Hessen verweisen. Aber ich muss sagen, dass
unter ihr damals in Frankfurt am Main diese Problematik
leider nicht gelöst worden ist. Ich habe Gespräche mit
dem hessischen CDU-Innenminister geführt. Wir sind dabei, dieses Problem für die Kinder und auch für die anderen betroffenen Menschen vernünftig zu regeln. Die Lage
hat sich inzwischen auch gebessert. Trotzdem ist die
Nichtbeachtung der Regelung damals durch die rot-grüne
Landesregierung in Frankfurt am Main kein Grund dafür,
die Flughafenregelung ersatzlos abzuschaffen.
Auch weitere Altfallregelungen führen zu mehr unkontrollierter Zuwanderung; denn es spricht sich doch
in den Herkunftsländern herum, dass man am Asylverfahren nur vorbeigehen muss und man dann auf Dauer unkontrolliert in Deutschland verbleiben kann. Daher
glaube ich, dass das keine brauchbare Regelung ist. Ein
Mehr an unkontrollierter Zuwanderung brauchen wir in
Deutschland überhaupt nicht. Was wir brauchen, ist eine
kontrolliertere Zuwanderung sowie die Möglichkeit der
Steuerung der Zuwanderung.
({3})
Ich sage noch einmal: Ich hoffe, dass die Kommission
nun endlich zu einem Ergebnis kommt. Man muss doch
nicht so lange tagen, wenn eigentlich völlig klar ist, wie
wir das regeln können. Ich kann Ihnen sagen, wie wir das
regeln können: Wir legen eine Gesamthöchstzahl fest
- das ist überhaupt kein Problem - und überlegen dann
natürlich, wie viele Menschen aus den verschiedenen Regionen der Welt - so ähnlich steht es im F.D.P.-Antrag in Deutschland bleiben können. Das ist doch ganz einfach. Sie haben den F.D.P.-Entwurf; Sie haben unsere Vorschläge und das Papier von Wolfgang Bosbach. Sie brauchen diese vernünftigen Vorschläge - mit denen der
Innenminister im Grunde einverstanden ist, wie er mir immer persönlich sagt - nur zu übernehmen.
({4})
Die Kommission muss zu einem Ergebnis kommen,
und zwar schnell. Wir müssen uns Klarheit darüber verschaffen, wer und wie viele Ausländer nach Deutschland
kommen und hier bleiben sollen. Wir müssen Kriterien
für die Aufnahme festlegen und wir müssen vor allen
Dingen die rechtmäßig in Deutschland lebenden ausländischen Mitbürger integrieren. Wir brauchen Integrationsbemühungen. Ich habe in Bezug auf diese Position von
unserer glanzvollen Bundesregierung noch gar nichts
gehört. Das ist bedauerlich.
({5})
- Das war doch nun wirklich anders gemeint, Herr Kollege. Ich denke, dass Sie trotz der späten Stunde verstehen, was ich damit gesagt haben will.
Darüber hinaus müssen wir die unkontrollierte Zuwanderung verhindern. Wir brauchen Verhandlungen auf europäischer Ebene zum Thema Visumsregelung. Frau
Staatssekretärin, vielleicht sagen Sie gleich, welche Erfolge Sie in den zwei Jahren Ihrer Regierungszeit auf diesem Gebiet zu verzeichnen hatten. Wir brauchen Burdensharing.
Wir müssen vor allen Dingen über Asylanträge schneller entscheiden. Ich will gar nicht die Gerichtsverfahren
kippen; ich bin selbst an der Schaffung dieser Lösung im
Grundgesetz und im Asylverfahrensgesetz beteiligt gewesen. Ein Jahr Gerichtsweg ist aber zu lang. Wir müssen
mehr Richter in den Bundesländern einstellen, die schneller entscheiden. In Nürnberg wird relativ schnell entschieden - drei Monate im Durchschnitt. Es wäre inhuman, die Menschen so lange hier zu lassen, nur um sie
dann wieder auszuweisen.
Wir müssen auch darüber nachdenken, das
Asylbewerberleistungsgeld dem europäischen Durchschnitt anzupassen. Überhaupt müssen wir auf Europaebene über entsprechende Regelungen reden.
({6})
Wir müssen ein klares Nein zur Familienzusammenführungsrichtlinie sagen. Dazu werden wir einen Antrag
in den Bundestag einbringen. Diese Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft dehnt den Familienbegriff aus, erweitert den Angehörigennachzug und verkürzt die Fristen. Nun habe ich gehört, der Herr Bundesinnenminister
habe eine interne Konferenz durchgeführt. Dort sei man
zu dem Ergebnis gekommen, diese Richtlinie solle nicht
akzeptiert werden; er wolle dagegen sprechen. So hat sich
der Bundesinnenminister sehr oft geäußert. Er hat gesagt:
Die Grenze der Belastbarkeit ist überschritten. Die Fraktion hat gesagt: Minister, in diesem Punkt liegst du falsch.
Er hat gesagt: Das subjektive Asylgrundrecht muss abgeschafft werden. Die Koalition aus SPD und Grünen hat
gesagt: Herr Minister, da liegen Sie falsch.
Ich will deswegen im Deutschen Bundestag über diesen Bereich diskutieren, weil dieser Bundesinnenminister
überhaupt nicht die Kraft hat, von dem, was er an rechten
Sprüchen von sich gibt, auch nur ein Minimum durchzusetzen.
({7})
Wir brauchen eine anständige und aufrichtige Ausländerpolitik. Was man sagt, muss stimmen. Dabei gehen wir
von einem Punkt aus: Der Zuzug von Ausländern bietet
Chancen.
({8})
Darin sind wir einer Meinung. Das habe ich auch von dieser Stelle aus immer gesagt. Aber der Zuzug schafft dann
Risiken, wenn die Integrationsprobleme nicht gelöst werden. Wir müssen diese Menschen dazu bringen, unsere
Sprache zu erlernen. Wir müssen sie dazu anhalten, dies
zu tun. Als Beispiel hierfür nenne ich die Niederlande.
Darüber hinaus sind auch ein weitergehendes Bleiberecht und ständig neue Altfallregelungen nicht immer
human. Das hat die Vergangenheit gezeigt. Ähnliches gilt
für die Abschaffung der Flughafenregelung. Unser Ziel
- das sage ich noch einmal - ist: Steuerung und vor allen
Dingen Integration. Diese Probleme haben wir damals gemeinsam gelöst. Dabei denke ich an die Asylberatungen
vor fünf Jahren. Wenn wir dieses Problem noch vor der
Bundestagswahl gemeinsam lösen, dann ist unser Ziel erreicht, dieses schwerwiegende, wichtige und problematische Thema nicht im Wahlkampf zu behandeln. Dafür
müssen Sie die Voraussetzungen schaffen.
Herzlichen Dank.
({9})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Marieluise Beck vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Es reizt mich sehr, Herr Marschewski, auf
Ihren Rundumschlag einzugehen. Aber das kann ich mir
leider deswegen nicht erlauben, weil ich der Meinung bin,
dass die Kolleginnen und Kollegen von der PDS-Fraktion
ein Recht darauf haben, die beiden Themen, die heute aufgrund zweier Anträge zur Debatte stehen, zu erörtern.
Nur ein paar Worte dazu: Wenn Sie tatsächlich der Ansicht sind, dass wir eine gänzlich unkontrollierte Zuwanderung haben, dann muss man allerdings fragen: Was hat
die alte Regierung 16 Jahre lang getan? Hat sie den Zustand einer vollkommen unkontrollierten Zuwanderung
herbeigeführt? Dies wäre dann die Bilanz Ihrer Regierungszeit. Ich weiß nicht, ob Sie wirklich mit dieser Bilanz dastehen wollen.
({0})
So unkontrolliert ist die Zuwanderung gar nicht. Wir
haben bei der Einwanderung eine Menge Tatbestände, die
rechtlich normiert sind.
Das Gleiche gilt natürlich für die Integrationspolitik.
Wenn Sie jetzt feststellen, dass es keine Integrationspolitik gibt, dann heißt das, dass in Ihrer 16-jährigen
Erwin Marschewski ({1})
Regierungszeit nichts passiert ist. Es ist in der Tat wenig
passiert. Wir haben angefangen, das anzugehen.
({2})
Die rechtliche Gleichstellung ist ein zentraler Teil der Integrationspolitik. Auch das neue Staatsbürgerschaftsrecht
gehört dazu. Es ist ein Teil der Integrationspolitik.
({3})
Über alles andere werden wir später diskutieren. Auch
die Tatsache, dass Sie alles für klar halten, verwundert
mich. Ich weiß nicht, warum die Union in diesem Zusammenhang eine Kommission eingesetzt hat, wenn ihr alles
klar ist. Sie scheint bei diesem Thema noch im Nebel zu
tappen; das merkt man auch in dieser Debatte.
Nun zu den beiden Anträgen, die heute zur Debatte stehen. Es geht einmal um die Altfallregelung. Es war in der
Tat so - Kollege Veit hat schon darauf hingewiesen -, dass
es unendlich schwer war, mit den Ländern überhaupt zu
einer gemeinsamen Altfallregelung zu kommen. Es muss
eine gemeinsame Regelung gefunden werden, weil der
Bund nicht alleine handeln kann, sondern auf den Konsens mit den Landesinnenministern angewiesen ist.
Auch wir hätten uns eine deutlich großzügigere Altfallregelung gewünscht, und zwar nicht nur deshalb, weil
es für die Menschen, die nun schon vor Jahren ihre Koffer ausgepackt haben, unter humanen Gesichtspunkten
sinnvoll wäre, sondern auch deshalb, weil solche Altfallregelungen der Befriedung der gesamten Gesellschaft
dienen.
Auf ihre Skepsis kann ich Ihnen nur antworten: Viele
Ihrer Kollegen tragen bei mir als der Ausländerbeauftragten Einzelfälle vor. Sie haben in ihrer Gemeinde diese
oder jene Familie, die dort schon seit sechs, acht oder zehn
Jahren angepasst, unauffällig, bescheiden und arbeitsam
lebt, und zwar immer mit einem unsicheren Status. Sie
fragen uns dann: Könnt ihr nicht etwas tun? Alle, die Kirchen, die Bürgermeister, der kleine Unternehmer, der sie
beschäftigt, wollen, dass die Menschen ein Bleiberecht
erhalten, und sie plädieren dafür, dass in diese Richtung
etwas auf den Weg gebracht wird. Wenn dieses Thema
dann auf die politische Ebene gehoben wird, verweigern
Sie sich einer grundsätzlichen Regelung. Das ist das Dilemma, mit dem wir es zu tun haben.
Wir haben glücklicherweise - das war sehr umstritten die Vietnamesen in die Altfallregelung aufnehmen können.
Das war sehr lange offen. Ich bin froh, dass wenigstens das
geglückt ist. Es ist in der Tat so, dass die Auslegung der
Regelung vor Ort sehr unterschiedlich gehandhabt wird: restriktiv insbesondere in Baden-Württemberg, Bayern und
leider auch in Berlin und sehr viel offener und großzügiger
in den nördlichen Ländern, insbesondere in den rot-grün
geführten Ländern.
Vor dem Hintergrund, dass es hier um die Befriedung
der gesamten Gesellschaft geht, bin ich der Meinung, dass
wir alles tun sollten, die Länder dazu aufzufordern, die
Spielräume, die sie haben, im Sinne von humanitären Lösungen auszunutzen.
({4})
Erlauben
Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bulling-Schröter?
Ja, wenn Sie meine Redezeit entsprechend
verlängern.
Bitte
schön.
Kollegin Beck, Sie waren ja in Bayern und haben die restriktive Politik des Innenministers Beckstein angemahnt. Sie erhielten in diesem Zusammenhang eine große Presseresonanz. Ich finde
gut, dass über dieses Thema diskutiert wird.
Ich habe genau zu diesem Thema an die Bundesregierung eine Kleine Anfrage gerichtet, und zwar dahin gehend, ob die Politik des bayerischen Innenministers dem
Beschluss der Innenministerkonferenz und der Altfallregelung der Bundesregierung entspricht. Ich dachte nämlich, dass die Bundesregierung genau diese restriktive
Handhabung geißelt oder sich zumindest dementsprechend äußert. Leider wurde die Kleine Anfrage von der
Bundesregierung dahin gehend beantwortet, dass die Altfallregelung, so wie sie jetzt in Bayern praktiziert wird,
konform zu den Vereinbarungen der Innenministerkonferenz sei.
Ich bin die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung und befinde mich immer wieder - das liegt
in der Natur des Amtes - in maßvoller Differenz zur Regierung. Deswegen war mein Wirken in Bayern folgendermaßen: Ich habe dazu aufgefordert, die Spielräume zu
nutzen, die die Regelung hergibt. Man kann in der Tat
nicht sagen, Bayern bewege sich jenseits der Verordnungslage. Aber man kann sagen: Es gibt Spielräume und
andere Länder zeigen, dass sie genutzt werden. - In Bayern werden sie nicht genutzt. Das ist die Differenz, um die
es geht.
Nun noch kurz zum Flughafenverfahren. Das Flughafenverfahren steht seit seiner Einführung zu Recht in der
Kritik. Die Verhältnisse vor Ort sind unerträglich. Ich
möchte an dieser Stelle sehr deutlich meinen Respekt gegenüber dem Flughafensozialdienst ausdrücken. Wenn
nicht vor Ort so unermüdlich - trotz vieler Rückschläge
und schwieriger Erlebnisse, die man dort ständig hat gewirkt würde, hätten wir noch mehr dramatische Situationen.
({0})
Marieluise Beck ({1})
Es ist erst einige Monate her, dass sich dort eine Frau das
Leben genommen hat, weil sie nicht mehr weiter wusste.
Die Verfahren sind insbesondere nicht auf unbegleitete, minderjährige Jugendliche zugeschnitten. Auch die
Unterbringungssituation ist sehr mangelhaft. Es wird eine
andere Unterbringungssituation geben - leider erst im
Herbst 2001 -, was aber nicht das Problem löst, dass eine
lange Verweildauer - bis zu 300 Tage - nicht akzeptabel
ist.
Unser Gesetz sieht vor, dass die Verweildauer nicht
länger als 19 Tage sein soll. Vonseiten der Ausländerbeauftragten wurde in einem Lagebericht empfohlen, dass
die Verweildauer auf keinen Fall länger als 30 Tage betragen darf. Wir werden weiterhin mit Nachdruck an einer
Lösung arbeiten. Es ist in der Tat eine Gratwanderung für
den Rechtsstaat, dass wir dort Verhältnisse haben, die
nahe an eine Gefängnisunterbringung heranreichen. Deswegen muss dafür eine rechtsstaatliche Grundlage vorhanden sein; Freiwilligkeitserklärungen sind in der Tat
höchst problematisch. Deshalb muss ein Weg gefunden
werden, damit die langen Verweildauern, wie wir sie
heute noch häufig haben, in Zukunft der Vergangenheit
angehören werden. Auch unbegleitete Minderjährige
gehören nicht in den Transitbereich des Flughafens.
Vielen Dank.
({2})
Als
nächster Redner hat der Kollege Max Stadler von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Anträge der PDS geben mir
Gelegenheit, die Praxis des Flughafenverfahrens als das
zu bezeichnen, was sie ist, nämlich als einen Skandal der
deutschen Asylpolitik. Man kann es nicht anders sagen,
obwohl die F.D.P. im Zuge des Asylkompromisses dem
Flughafenverfahren mehrheitlich zugestimmt hat und daran auch heute noch festhält. Diese Tatsache hat uns aber
nie daran gehindert, die Praxis dieses Verfahrens zu kritisieren. An dieser Kritik hat sich auch nichts geändert, seit
Rot-Grün an der Regierung ist.
Wir wissen alle, dass Cem Özdemir nicht zu Übertreibungen neigt. Seit die Grünen an der Bundesregierung beteiligt sind, äußert er sich bevorzugt staatsmännisch
({0})
und deswegen erscheint er mir als ein geeigneter Kronzeuge. Ich erwähne seine Bewertungen in der „FAZ“ vom
6. Juni dieses Jahres, in denen er das Flughafenverfahren
als unmenschlich bezeichnet, die Zustände als unhaltbar
kritisiert, feststellt, dass in der Praxis rund die Hälfte der
Asylbewerber länger in den Einrichtungen verweilen
muss, als das Gesetz dies zulässt, und dazu mahnt, dringend die bauliche Situation durch Erweiterungen und Erneuerungen zu verändern.
Ich frage mich nur: Wenn dies alles so unmenschlich
ist, warum ändert sich dann nichts daran? Der Verweis auf
das Land Hessen nützt nichts; denn nach Art. 84 Abs. 3
des Grundgesetzes trägt die Bundesregierung die Verantwortung für den verfassungsgemäßen Vollzug der Flughafenregelung. Seinerzeit hat Cem Özdemir die Hoffnung
geäußert, dass auch der Koalitionspartner nach einem Besuch in Frankfurt zu dem Entschluss kommen wird, das
Verfahren zu verkürzen. Offenbar bestand für die SPD
noch keine Gelegenheit, Frankfurt zu besuchen, weil sich
seither noch nichts getan hat.
({1})
Da sehr oft auf die europäischen Standards verwiesen
wird - das macht auch Erwin Marschewski gerne, manchmal nicht zu Unrecht -, muss ich Sie daran erinnern, dass
Frankreich eine ähnliche Flughafenregelung hat wie wir,
aber mit einem ganz rigorosen Vollzug: Wenn dort binnen
18 Tagen - die Regelung ist damit ähnlich der unseren mit
19 Tagen - keine Entscheidung getroffen ist, werden die
Asylbewerber ohne Rücksicht auf den Stand des Verfahrens in das Land gelassen. Die Asylberechtigung wird
dann im Land geprüft und nicht in einem fortgesetzten
Flughafenverfahren.
Wenn Sie nicht wollen, dass auch bei uns solche drastischen Regelungen eingeführt werden, muss die Regierung endlich handeln. Versprechungen, wie sie der Kollege Veit - erfreulicherweise - heute wieder abgegeben
hat, haben wir lange genug gehört.
Etwas günstiger sieht die Bilanz hinsichtlich der Altfallregelung aus. Sie ist immerhin zustande gekommen.
Wir wussten allerdings von Haus aus, dass der unterschiedliche Vollzug in den einzelnen Bundesländern zu
einem Problem wird. Wir sind uns mit Frau Jelpke darin
einig, dass diese Altfallregelung auch ihre Lücken aufweist. Ich hoffe, dass hierdurch der Zuwanderungskommission Impulse für eine Neuregelung gegeben werden.
Unsere Vertreterin in der Kommission, Cornelia SchmalzJacobsen, hat sich am 22. Oktober 2000 in der „Welt am
Sonntag“ dahin gehend geäußert, dass traumatisierte Bürgerkriegsflüchtlinge, etwa aus Bosnien, ein Bleiberecht
erhalten und Asylbewerber, die schon seit Jahren in
Deutschland leben, als Einwanderer behandelt werden
sollten und ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft in Aussicht gestellt werden sollte. Darüber muss in dieser Kommission diskutiert werden. Aber das reicht nicht.
Ich sage denen, die noch skeptisch sind - denn es gibt
ja auch Gegenargumente für die Altfallregelung -: Die öffentliche Diskussion hat sich gewandelt. Heute haben diejenigen, die eine Altfallregelung aus humanitären Gründen wünschen, Verbündete in der Wirtschaft, wie sich in
Baden-Württemberg zeigt, wo es eine entsprechende Initiative der F.D.P. gibt. Dort werden zum Beispiel die
Bürgerkriegsflüchtlinge, die bestens integriert sind, als
Arbeitskräfte eingesetzt. Es ist nicht einzusehen, warum
sie nach Hause geschickt werden sollen, wenn sie zum
Beispiel im Handwerk, in der Gastronomie und im Gartenbau dringend benötigt werden.
Wir haben auch im Bundestag eine Initiative auf den
Weg gebracht, die zum Ziel hat, dass Asylbewerber vom
Marieluise Beck ({2})
ersten Tag an arbeitsberechtigt sind; denn Sozialneid - das
ist der kritische Punkt - entsteht, wenn die öffentliche
Hand für Asylsuchende aufkommen muss. Dem treten wir
entgegen, indem wir diese Menschen in die Lage versetzen - das ist auch human -, selbst für ihren Unterhalt zu
sorgen. Rot-Grün hat hier eine Menge nachzuholen.
({3})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort
jetzt der Kollege Hans-Peter Kemper von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte
zunächst zwei Vorbemerkungen machen. Die eine richtet
sich an die Adresse des geschätzten Herrn Kollegen
Marschewski. Herr Marschewski, ich stimme mit Ihnen
vollkommen überein: Wir brauchen eine bessere Integration der hier lebenden Asylbewerber. Wir brauchen ein
besseres Miteinander von Ausländern und Deutschen.
Aber ich bitte Sie eindringlich, dies auch den Kollegen
Koch und Rüttgers mit auf den Weg zu geben; denn die
Aktion, die diese vom Stapel gelassen haben, war gemessen an dem, was wir brauchen, kontraproduktiv. Vielleicht
können Sie denen das einmal mitteilen.
({0})
Die zweite Vorbemerkung geht an die Adresse meines
lieben Kollegen Max Stadler. Wir haben gemeinsam
Frankreich besucht und haben uns das dortige Flughafenverfahren in der Praxis angesehen. Sie haben natürlich
völlig Recht: Asyl begehrende Menschen werden dort in
der Tat nach kurzer Zeit ins Land gelassen, wenn es nicht
gelingt, das Verfahren vernünftig abzuschließen. Aber das
ist nur die eine Hälfte der Wahrheit. Die zweite Hälfte der
Wahrheit haben Sie nicht gesagt: 90 Prozent derjenigen,
die ins Land gelassen werden, werden anschließend mit
Haftbefehl gesucht. Die Polizei sucht genau die Personen,
die man vorher gehen lassen musste. 90 Prozent stellen
keinen Asylantrag und tauchen stattdessen in die Illegalität ab.
({1})
Das hätten Sie ehrlicherweise erwähnen müssen.
Das Flughafenverfahren wurde für die Asylsuchenden
eingeführt, die ohne gültige Papiere und aus sicheren
Drittstaaten auf dem Luftweg in die Bundesrepublik kommen. Sie dürfen pro forma erst gar nicht in die Bundesrepublik einreisen. Diese Regelung gilt im Prinzip auf allen
internationalen Flughäfen, insbesondere auch auf dem
Frankfurter Flughafen.
Die PDS, insbesondere Frau Jelpke, hat hier eine saubere Analyse der Situation auf dem Frankfurter Flughafen
vorgetragen. Ich kann dieser Analyse zwar in großen Teilen zustimmen. Aber Sie kommen zu einem falschen
Schluss: Die Abschaffung des Flughafenverfahrens kann
nicht die Lösung sein; vielmehr müssen die Lebensbedingungen der Menschen auf dem Flughafengelände verbessert werden. Hier sind wir also völlig einer Meinung.
Darum bemühen wir uns auch. Die Abschaffung des Flughafenverfahrens wäre das falsche Signal.
Das Flughafenverfahren ist aus präventiven Gründen
eingeführt worden. 1993 gab es 20 000 Versuche, über
Frankfurt einzureisen. 1999 lag die Zahl unter 1 000. Wir
werden das Flughafenverfahren nicht abschaffen, weil
wir seine präventive Wirkung nicht beseitigen wollen. Die
Rechtmäßigkeit des Flughafenverfahrens ist gerichtlich
überprüft worden. Laut Bundesverfassungsgericht ist es
mit der Verfassung, mit den Grundrechten und mit der
Menschenwürde vereinbar. Das wissen Sie genauso gut
wie ich. Deswegen werden wir an diesem Verfahren festhalten. Ich möchte Ihre Bedenken gar nicht kleinreden. Es
muss - das ist keine Frage - eine Menge verbessert werden.
Die Mitglieder der SPD-Arbeitsgruppe sind mehrfach
in Frankfurt gewesen und haben sich vor Ort die Situation
der Menschen auf dem Flughafengelände angeschaut.
({2})
Im Übrigen sind auch die Berichterstatter aus dem Innenausschuss dort gewesen. Das Bild, das sich uns darbot,
war nicht schön: Familien wurden gemeinsam mit Alleinreisenden untergebracht. Das ist inhuman. Die sanitären
Einrichtungen waren in einem sehr schlechten Zustand.
Hier muss eine Menge getan werden; das ist keine Frage.
Eine Intimsphäre war so gut wie nicht gegeben. Wir waren uns alle einig: Hier sind erhebliche Verbesserungen
notwendig.
Es ist zwar etwas geschehen, aber zu wenig: Die Mitarbeiter des Flughafensozialdienstes kümmern sich nun
rund um die Uhr um die Asylbewerber. Familien und Alleinreisende sind zumindest teilweise getrennt untergebracht. Die sanitären Verhältnisse sind verbessert worden.
Es sollte ein neues Gebäude errichtet werden. Eigentlich sollte es jetzt seiner Fertigstellung entgegensehen.
Dem ist allerdings nicht so. Man hat noch nicht einmal mit
dem Bau begonnen. Das hängt mit der Flughafenplanung
zusammen; denn dieses Gebäude ist möglicherweise für
die Flughafenerweiterung eingeplant. Das Land Hessen
hat jetzt den Umbau eines anderen Gebäudes vorgeschlagen. Möglicherweise werden die baulichen Veränderungen besser als die ursprünglich geplanten. Aber - auch das
muss man sagen - der Bau wird sich mindestens bis Oktober nächsten Jahres hinziehen, so Gott will. Wir müssen
darauf drängen, denke ich, dass dieser Bau schneller vorangetrieben wird. Diese Verzögerungen sind mehr als ärgerlich.
Solange eine vernünftige Unterbringung nicht gewährleistet ist - da bin ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen und auch mit Herrn Veit einig -, brauchen wir Übergangsregelungen, insbesondere auch im Hinblick auf die
Kinder. Das ist mehrfach betont worden und ich will es
nicht wiederholen.
Aber wir müssen auch Druck auf das Land Hessen ausüben. Diesbezüglich bin ich anderer Meinung als Sie,
Herr Stadler. Das Land Hessen ist hier zuständig. Das ist
durch das Bundesverfassungsgericht festgestellt worden.
Das Land Hessen ist für die Unterbringung, für die Bereitstellung der Gebäude zuständig. Ich fordere die Bundesregierung auf, massiv Druck auf das Land Hessen auszuüben und gemeinsam mit dem Land Hessen hier zu
Änderungen zu kommen.
Es ist die deutliche Kritik geübt worden, dass die Verweildauer zu lang ist. Das ist keine Frage; aber das liegt
nicht am Flughafenverfahren. Das Flughafenverfahren ist
nach knapp drei Wochen beendet. Die Menschen, die länger dort sind, sind dies aufgrund einer Freiwilligkeitserklärung, obwohl man durchaus darüber streiten kann, ob
der Begriff „Freiwilligkeitserklärung“ richtig ist, wenn
die Alternative die Abschiebehaft ist.
Aber bei allem Mitgefühl darf man auch nicht vergessen, dass die Gründe für das längere Verweilen bei den im
Flughafen befindlichen Personen zu suchen sind. Das sind
Menschen, die die Maschine mit Pass und mit Ticket betreten haben und ohne Pass und ohne Ticket in Frankfurt
landen. Die Verschleierung der Identität im eigenen Land
ist ja fluchttypisch. Darüber brauchen wir uns nicht zu unterhalten. Aber wenn diese Menschen bei uns sind, hindert
sie nichts daran, ihre wahre Identität und ihre wahren
Fluchtgründe offen zu legen und mit zur Identifizierung
beizutragen. Das wird eben nicht gemacht.
Ich denke, da müssen wir eine klare Linie zeigen. Nach
meinem Dafürhalten müssen wir deutlich machen, dass
wir nicht die begünstigen, die sich illegal verhalten. Wer
hier ohne gültige Papiere einreist oder die Papiere vernichtet, der richtet sich nach dem Regiebuch der Schleuserorganisationen. Das können wir nicht unterstützen.
Wenn wir dem nachgeben würden, würden die, die sich illegal verhalten, besser gestellt als die, die hier einreisen,
ihre Personalien bekannt geben und, so wie es sich gehört,
um Asyl nachsuchen. Letztere werden dann unter Umständen schneller abgeschoben als diejenigen, die ihre
wahre Identität verschleiern.
({3})
Ich denke, das wäre das falsche Signal. Wir müssen die
Lebensbedingungen deutlich verbessern. Aber das Flughafenverfahren werden wir beibehalten.
Schönen Dank.
({4})
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zu der Beschlussempfehlung des Innenausschusses zum Antrag der Fraktion der PDS zur Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis für lange in Deutschland
lebende Ausländer, Drucksache 14/2066.
Der Ausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/2509, den
Antrag abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Somit ist
die Beschlussempfehlung mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der PDS-Fraktion angenommen
worden.
Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem
Antrag der Fraktion der PDS zur Abschaffung des Flughafenverfahrens auf Drucksache 14/2979. Der Ausschuss
empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/26 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Somit ist die Beschlussempfehlung mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen angenommen.
Ich rufe Zusatzpunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit der Wirtschaftsprüfer ({0})
- Drucksache 14/3649 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({2})
- Drucksache 14/4262 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Rainer Wend
Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der SPD
und des BÜNDNISES 90/DIE GRÜNEN vor.
Es ist vereinbart worden, dass die Reden zu diesem Ta-
gesordnungspunkt zu Protokoll gegeben werden.1) Sind
Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit der Wirt-
schaftsprüfer auf den Drucksachen 14/3649 und 14/4262.
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD und
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zu-
erst abstimmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ände-
rungsantrag auf Drucksache 14/4268 zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltun-
gen? -Dann ist der Antrag, wie ich sehe, einstimmig ange-
nommen.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung mit der soeben beschlossenen Ände-
rung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegen-
stimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der Gesetzentwurf
in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Interfraktionell ist vereinbart, trotz Annahme einer Än-
derung in der zweiten Beratung jetzt unmittelbar in die
dritte Beratung einzutreten. Sind Sie damit einverstan-
den? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung.
1) Anlage 6
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Dann ist der Gesetzentwurf in dritter Lesung einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Schmidbauer ({3}), Gudrun Schaich-Walch,
Marga Elser, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Katrin
Göring-Eckardt, Kerstin Müller ({4}), Rezzo
Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Ziele für die Qualitätssteigerung in der Diabe-
tes-Versorgung
- Drucksache 14/4263 -
Auch hier ist vereinbart, dass die Reden zu Protokoll
gegeben werden.1) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist
der Fall.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4263 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer
Funke, Hans-Joachim Otto ({5}), Dr. Edzard
Schmidt-Jortzig, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Umsetzung der EU-Richtlinie
über das Folgerecht des Urhebers des Originals
eines Kunstwerkes ({6})
- Drucksache 14/3555 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({7})
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Auch zu diesem Tagesordnungspunkt ist vereinbart
worden, die Reden zu Protokoll zu geben.2) Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann wird so verfahren.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/3555 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere
Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages für morgen, Freitag, den 27. Oktober 2000, 9 Uhr,
ein. Die Sitzung ist geschlossen.