Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 3. Oktober wurde ein Anschlag auf
die Düsseldorfer Synagoge verübt. Drei Tage später
durchschlugen Pflastersteine die Fenster der Synagoge in
Berlin-Kreuzberg. Bereits im April dieses Jahres war die
Synagoge in Erfurt attackiert worden. Diese Anschläge
richten sich der Form nach gegen Gebäude, tatsächlich
aber gegen ein Fundament unserer Demokratie, nämlich
gegen den Grundsatz des friedlichen Zusammenlebens in
Deutschland.
({0})
Allein von Januar bis August dieses Jahres wurden insgesamt 596 antisemitisch motivierte Straftaten registriert.
Ignatz Bubis hat im vergangenen Jahr als Präsident des
Zentralrates der Juden in Deutschland kurz vor seinem
Tod in einem Interview auf die Frage, was er in seinem
Amt bewirkt habe, gesagt:
Ich habe nichts oder fast nichts bewirkt.
Er sagte weiter:
Ich habe immer herausgestellt, dass ich deutscher
Staatsbürger jüdischen Glaubens bin. Ich wollte
diese Ausgrenzerei, hier Deutsche, dort Juden,
weghaben. Ich habe gedacht, vielleicht schaffst du
es, dass die Menschen anders übereinander denken,
anders miteinander umgehen. Aber nein, ich habe
fast nichts bewegt.
Bubis sagte in diesem Interview ferner, dass er in Israel
begraben werden möchte, weil - ich zitiere ihn noch einmal ich nicht will, dass mein Grab in die Luft gesprengt
wird.
Meine Damen und Herren, hätte man ihm im letzten
Jahr sagen können, wirklich sagen können, diese Befürchtung sei gegenstandslos? Videoüberwachung an Synagogen, Polizeischutz an jüdischen Schulen, geschändete jüdische Friedhöfe - das ist ein Stück Realität in
Deutschland; aber das ist ein Stück Realität, das wir niemals als Normalität betrachten dürfen.
({1})
Die 80 000 Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens, die in diesem Land leben, haben wie alle Menschen
in diesem Land einen Anspruch auf ein Leben ohne Angst.
Wenn Paul Spiegel, der Nachfolger von Ignatz Bubis, in
diesen Tagen die Frage gestellt hat, ob es richtig war, in
Deutschland nach 1945 den Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden zu betreiben, dann ist der darin deutlich werdende Zweifel beschämend für unsere Gesellschaft.
Ich will zu Beginn der heutigen Debatte ganz deutlich
sagen: Nicht unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdischen Glaubens stehen jenseits unseres Gemeinwesens,
sondern vielmehr diejenigen, die ihnen die Zugehörigkeit
zu unserer Gesellschaft absprechen.
({2})
Es ist nicht nur vor dem Hintergrund des zehnten Jahrestages der deutschen Einheit wichtig, sich und anderen
klarzumachen, dass der Auftrag des Grundgesetzes - und
damit meine ich in erster Linie die Verteidigung und
Sicherung der Würde des Menschen - Tag für Tag zu erfüllen ist. Die Stärke und die Integrationskraft der Bundesrepublik beruhen maßgeblich darauf, dass weder
Herkunft noch Glauben die Teilhabe an unserem Gemeinwesen bestimmen, sondern dass die gemeinsame Anerkennung unserer Verfassungsprinzipien das Band ist, das
uns miteinander verbindet und die gemeinsame Grundlage dafür schafft, dass wir hier in Deutschland zwar mit
Konflikten, aber friedlich miteinander leben können.
({3})
Präsident Wolfgang Thierse
Wer Minderheiten einzuschüchtern versucht, ihre Einrichtungen bedroht oder attackiert, ja, wer meint, von den
Minderheiten erwarten zu können, dass sie ihr Dazugehören zu dieser Gesellschaft rechtfertigen und legitimieren müssten, der verlässt diese gemeinsame Grundlage unseres Zusammenlebens.
Als ich 1998 in den Bundestag gewählt wurde, habe ich
mir nicht vorstellen können, heute Grund zu haben, über
Anschläge auf Synagogen zu sprechen. Ich bin 1969 geboren und gehöre einer Generation an, für die gilt, dass
wir mit der Nazizeit keine persönlichen Erlebnisse verbinden. Wir tragen keine Schuld an dem, was an Verbrechen an der Menschlichkeit auf deutschem Boden und
von deutschem Boden aus geschehen ist. Aber wir tragen
Verantwortung dafür, dass Intoleranz und Verachtung,
dass Rechtsextremismus und Antisemitismus in diesem
Land nie wieder die Demokratie gefährden können.
({4})
Wir tragen Verantwortung dafür, dass deutsche Bürger im
eigenen Land nie wieder zu Fremden erklärt werden können.
Wir wissen: Die Grundsätze der Demokratie werden
nicht vererbt. Nein, sie müssen von jeder Generation aufs
Neue erlernt werden. Wir müssen gerade auch mit Blick
auf die jungen Menschen in Deutschland vermitteln, dass
niemand vor menschlicher Vielfalt Angst haben muss,
wohl aber vor menschlicher Einfalt.
({5})
Es geht nicht nur darum, Taten zu ächten, sondern wir
müssen auch das Gedankengut ächten und bekämpfen,
das zu solchen Taten wie Anschlägen auf Synagogen
führt.
Ich freue mich - man hat mir gesagt, dass er hier ist -,
dass der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Berlins,
Andreas Nachama, heute auf der Tribüne der Debatte
folgt.
({6})
Ich glaube, ich spreche im Namen aller Kolleginnen und
Kollegen dieses Hauses, wenn ich sage: Der Deutsche
Bundestag ist angesichts der Anschläge auf jüdische Einrichtungen in Deutschland entsetzt und betrachtet diese
Vorkommnisse als Anschlag auf das demokratische
Deutschland als Ganzes.
({7})
Die jüdischen Bürger in Deutschland sind Teil unserer
Gesellschaft. Wir werden nicht zulassen, dass man sie isoliert. Wer sie angreift, der muss wissen: Er greift uns alle
an.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Ich erteile dem Kollegen Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! 1949 kam Hannah
Arendt erstmalig wieder nach Deutschland. Als Fremde
und zugleich als Einheimische fand sie in Deutschland ein
physisch, moralisch und politisch fast völlig zerstörtes
Land vor. Gleichzeitig erschrak sie angesichts der Apathie, des allgemeinen Gefühlsmangels, der Geschäftigkeit, die sie vorgefunden hat und die sie als Zeichen für
eine Flucht aus der Wirklichkeit und aus einem verantwortlichen Umgang mit der schrecklichen Vergangenheit
empfunden hat, die erst wenige Jahre zurücklag. Wie
sollte hier, so fragte sie sich selbst und andere, jemals wieder eine gemeinsame Welt, ein wirklicher politischer
Raum der Freiheit entstehen, wie jemals wieder ein Leben
von Juden in Deutschland möglich sein?
Heute, mehr als 50 Jahre später, können wir feststellen:
Mitbürger jüdischen Glaubens haben in Deutschland eine
neue Heimat oder wieder ihre Heimat gefunden. Ich finde,
dies ist ein ermutigendes Zeichen und ein Glücksfall für
unser Land.
({0})
Es ist auch Ausdruck eines wieder entstandenen Vertrauens in unsere Verfassung, in unsere freiheitliche Demokratie und in die Menschen in unserem Land. Es ist
auch Anerkennung der Anstrengungen, die im Umgang
mit dem dunkelsten und schrecklichsten Teil unserer Geschichte unternommen wurden. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen und wir
werden alles tun, damit dieses Vertrauen nicht enttäuscht
wird.
({1})
Jüdische Gemeinden in Deutschland und deren religiöse Kultur sind eine Bereicherung für uns alle. Das sehen wir nicht nur hier in Berlin, sondern auch überall dort
in unserem Land, wo sich im Kleinen wie im Großen wieder jüdische Gemeinschaften gebildet haben. Nirgendwo,
so eine Studie des Jüdischen Weltkongresses aus dem
Jahre 1998, wachsen die jüdischen Gemeinden so schnell
wie in Deutschland. Gleichzeitig interessieren sich immer
mehr auch nicht jüdische Mitbürger für jüdische Kultur.
Ich finde, auch dies ist eine positive Entwicklung.
Die außerordentliche Entwicklung der Philosophie, der
Wissenschaft insgesamt, der Wirtschaft und der Kultur
vor allem seit dem 18. Jahrhundert bis heute wären in
Deutschland ohne die großartigen Beiträge jüdischer Mitbürger nicht möglich gewesen.
({2})
Die Namen von Moses Mendelssohn, Ludwig Börne,
Heinrich Heine, Kurt Tucholsky, Lion Feuchtwanger,
Martin Buber, Leonard Cohen, Theodor Lessing oder
Walther Rathenau mögen hier nur stellvertretend für viele
genannt sein. Sie machen schmerzlich deutlich, wie groß
der Verlust durch den Holocaust auch und gerade in diesem Bereich gewesen ist.
Wir wollen und müssen alles tun, damit diese Kultur
ihren Reichtum auch in Zukunft in Deutschland weiter
und wieder voll entfalten kann.
({3})
Jene Frauen und Männer jüdischen Glaubens, die wieder nach Deutschland zurückgefunden oder ihr Leben hier
aufgebaut haben, sollen sich in ihrer Entscheidung bestätigt fühlen können. Im wiedervereinten Deutschland
- und damit auch im zusammenwachsenden Europa - haben wir neue Chancen, gemeinsam Zukunft zu gestalten.
Umso erschreckender sind die jüngsten Übergriffe auf
jüdische Mitbürger, jüdische Gemeindezentren und jüdische Friedhöfe. Kann man - so fragen viele - nach dem
Zivilisationsbruch als Jude in Deutschland leben? Diese
Frage, die so viele Juden nach 1945 umtrieb, wird angesichts der jüngsten Anschläge wieder gestellt. Es ist eine
Frage nach dem Vertrauen darauf, in Deutschland sicher,
frei und anerkannt leben zu können.
Der Angriff auf jüdische Einrichtungen zielt in der Tat
nicht nur auf die hier lebenden jüdischen Mitbürger, er
zielt nicht nur auf die Minderheit der deutschen jüdischen
Bürger; er zielt auf uns alle. Es ist erschreckend und wird
daher völlig zu Recht von uns allen scharf verurteilt.
({4})
Es muss deshalb alles getan werden, dass diese feigen
und hinterhältigen Straftaten mit allen Mitteln des Rechtsstaats verfolgt und aufgeklärt werden. Die Täter sind
strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen und künftigen
Ausschreitungen muss noch stärker als bisher vorgebeugt
werden.
Allen Tendenzen von Antisemitismus, Extremismus,
Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Intoleranz gegenüber Minderheiten wollen wir mit deutlichem Protest hier
im Bundestag wie überall im Land entgegentreten und
durch entschiedenes, mutiges Eintreten für den zivilisierten Umgang miteinander überwinden helfen.
({5})
Die Straftaten Einzelner oder kleiner Gruppen verurteilen wir mit allem Nachdruck. Aber sie sind kein Spiegelbild der deutschen Gesellschaft insgesamt; sie sind
nicht gleichzusetzen mit unserem Land. Deutschland ist
und bleibt ein weltoffenes, tolerantes Land.
({6})
Deshalb bitten wir die jüdischen Mitbürger, trotz aller
Ängste und Verunsicherung in diesen Tagen, die Einstellungen und unverständlichen Ressentiments von wenigen
nicht für die Einstellung aller in unserer Gesellschaft zu
halten. Die ganz große Mehrheit aller Deutschen verdammt solche Gewalttaten und Verbrechen. Die überwältigende Mehrheit unserer Mitbürger will das Zusammenleben mit Bürgern jüdischen Glaubens, ist solidarisch mit
den jüdischen Gemeinden und ihren Mitgliedern. Angriffe auf jüdische Mitbürger und ihre Einrichtungen
empfinden wir deshalb als Angriff auf uns alle.
({7})
Antisemitismus, Rassismus und Fremdenhass bilden
oft einen Zusammenhang im Denken und Handeln vor allem von Rechtsextremisten. Deswegen müssen wir all
dieses zugleich bekämpfen. Ich stimme deshalb dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul
Spiegel, ausdrücklich zu, wenn er fordert:
Es müssen überzeugende Zeichen gegeben werden,
dass die Mehrheit der Gesellschaft Schulter an
Schulter steht mit den jüdischen Gemeinden im
Kampf gegen Rechtsextremismus.
Dies wollen wir tun und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion setzt sich mit allen Kräften dafür ein.
({8})
Wir müssen zugleich sorgfältig überlegen, was gegen
den Rechtsextremismus tatsächlich wirksam ist. Wir haben in diesem Zusammenhang in den letzten Wochen eine
intensive Diskussion über das Verbot der NPD begonnen. Lassen Sie mich dazu zweierlei sagen: Erstens. Die
Initiative zu einem Parteienverbot ist nicht in erster Linie
Sache eines Parlaments, sondern zunächst eine klassische
Aufgabe der Exekutive, also der Bundesregierung, die
nach gründlicher Prüfung aller nur ihr zur Verfügung stehenden Informationen einen Verbotsantrag stellen kann,
je nach Schwere der Vorwürfe im Einzelfall vielleicht sogar stellen muss. Dann obliegt es aber dem Bundesverfassungsgericht, die eigentliche Entscheidung zu treffen.
Das sollten wir strikt beachten.
Hinzu kommt, dass die Hürden für ein Parteienverbot
sehr hoch liegen. Die Partei muss verfassungsfeindlich
sein, das heißt aggressiv und kämpferisch gegen die
freiheitlich-demokratische Grundordnung vorgehen. Das
muss durch die Bundesregierung sehr genau nachgewiesen werden, damit es nicht zu Fehleinschätzungen mit fatalen Konsequenzen kommt.
Zweitens. Es ist in jedem Fall mindestens ebenso wichtig, den Rechtsextremismus in unserem Land politisch zu
bekämpfen.
({9})
Es ist wichtig, geistigen Entwurzelungen durch geistige
Orientierung zu begegnen. Deswegen müssen wir all die
Gemeinschaften stärken, in denen demokratische Werte
und zivile Haltungen eingeübt werden: die Familien, die
Schulen, die Ausbildungsstätten und die Jugendeinrichtungen.
({10})
Dazu gehört auch, jeder heranwachsenden Generation
Wissen über die menschenverachtenden Diktaturen in
Deutschland zu vermitteln und die Erinnerung an den Holocaust nicht verblassen zu lassen. Dazu gehört aber
ebenso - und das findet sich leider kaum in einem Schulbuch in Deutschland -, den außerordentlichen Beitrag zu
vermitteln, den jüdische Mitbürger vor allem in wissenschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht in
unserem Land und für unser Land geleistet haben. Auch
das gehört zu unserer Geschichte.
({11})
Um diesen Beitrag zu wissen bedeutet, dass jüdische Mitbürger zu uns gehören. Es lässt sie spüren, dass sie gewollt
sind und gewollt bleiben.
({12})
Wer die eigene Geschichte kennt und um diesen Beitrag
weiß, der ist auch eher zur Zivilcourage bereit. Denn
mehr Zivilcourage im normalen Alltag trägt zu einem
Klima der Ächtung antisemitischer, menschenrechtsfeindlicher Äußerungen und Taten bei.
Wenn wir mehr Zivilcourage im Alltag leben, dann ist
das auch eine Antwort an unsere jüdischen Mitbürger: Haben Sie weiter Vertrauen in die Deutschen und die deutsche Demokratie! Die Förderung von Zivilcourage - davon bin ich überzeugt - ist ein Schlüssel dafür, dass
jüdisches Leben ohne Angst zu einer dauerhaften Normalität in Deutschland werden kann.
Wir sagen deshalb klar: Antisemitismus, Extremismus
und Gewalt dürfen in unserer Gesellschaft keinen Platz
haben. Die Achtung der Menschenwürde und religiöse
Toleranz sind nicht nur Wesensmerkmale unserer freiheitlichen Ordnung. Das Engagement der Bürger für die
Verfassung muss tagtäglich gelebte Realität sein. Dazu
gehören eine ständige Empfindsamkeit für die Verletzung
von Recht, die Ächtung von Gewalttaten und praktische
Zeichen der Solidarität mit unseren jüdischen Mitbürgern
durch Gesten und Hilfsangebote.
Wir wollen in Deutschland die Kultur der Verständigung und des Verstehens weiter ausbauen, in der das Zusammenleben von Menschen unterschiedlichen Glaubens
als ganz natürlich gilt, und auch eine Kultur, in der jüdische Mitbürger sich nicht mehr die Frage stellen müssen,
wie sie als Juden in Deutschland leben können, weil ein
Miteinander selbstverständlich ist und Deutschland auch
ihre Heimat ist.
Herzlichen Dank.
({13})
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Cem Özdemir, Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Synagogen haben
in Deutschland eine große Symbolkraft. Jeder Anschlag
auf ein jüdisches Gotteshaus und andere jüdische Einrichtungen beschämt uns doppelt. Wir verabscheuen die
Taten und drücken allen Menschen, die sich durch diese
Taten bedroht fühlen, unser Mitgefühl aus. Die jüdischen
Gemeinden verdienen den Schutz der gesamten Gesellschaft.
({0})
Wir reden heute über eines der wichtigsten innenpolitischen Themen der Bundesrepublik Deutschland. Es geht
um die Werte des Grundgesetzes, die es zu schützen gilt.
Es geht um wichtige Grundwerte wie den Schutz der
Menschenwürde, der Religionsfreiheit, der Meinungsfreiheit, das Recht auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit sowie die Freizügigkeit. Es handelt sich nicht um
ein Problem von Minderheiten, um es deutlich zu sagen,
sondern es geht uns alle an, die wir in dieser Republik leben.
({1})
Es geht auch um die Frage, wie wir sicherstellen können, dass alle Menschen in Deutschland, egal, welcher
Religionszugehörigkeit oder Hautfarbe, welcher sexuellen Ausrichtung, in ihrem Land, in der Bundesrepublik
Deutschland, sicher leben können. Die Politik muss deutlich sagen: In Deutschland leben Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen und das ist gewollt so. Wir
freuen uns darüber. Das ist gut so und dazu bekennen sich
alle.
({2})
Deutsch sein heißt eben nicht mehr automatisch, der
christlichen Religionsgemeinschaft anzugehören. Das
Grundgesetz garantiert Religionsfreiheit. Das heißt, es ist
völlig unerheblich, ob jemand jüdischen, christlichen,
muslimischen Glaubens oder gar ohne Glauben ist. Wenn
es so ist, wie ich es gerade gesagt habe, dann kann es nicht
angehen, dass Politiker hier oder von anderer Stelle jüdischen Bürgern - Bürgern, nicht Mitbürgern ({3})
sagen, dass sie in unserem Land leben können.
Wenn man, wie es der bayerische Staatsminister
Günther Beckstein hier am 28. September 2000 - sicherlich gut gemeint - getan hat, erklärt: „Natürlich könnt ihr
in unserem Land leben“, dann sagt man damit eben auch,
dass es eine Grenze gibt, ein Wir und ein Ihr. Jüdische
Bürger leben aber in ihrem eigenen Land. Sie sind hier
nicht Gast. Sie sind hier nicht nur geduldet, sondern sie
sind Bürger dieses Landes und gehören zu diesem Land
dazu.
({4})
Sie haben hier, in dieser Republik, ein Recht auf freie
Religionsausübung und ein Recht auf körperliche Unversehrtheit. Die Politik muss aufhören, von einem Wir und
einem Ihr zu reden. Sie muss vor allem aufhören, das Wir
als christlich zu definieren. „Wir“ im Jahre 2000 in der
Bundesrepublik Deutschland heißt: Wer in dieser Republik lebt und wer sich zu den Werten unseres Grundgesetzes bekennt, der gehört zu dieser Gesellschaft.
({5})
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um auf ein aktuelles Thema einzugehen. Herr Merz, Sie haben vor mir geredet. Ich glaube, der Applaus hat gezeigt, dass das, was
Sie hier gesagt haben, von allen geteilt wird. Aber ich
möchte Sie schon fragen, was denn die „deutsche Leitkultur“ ist, die Sie jüngst wieder bemüht haben. Was
heißt „deutsche Leitkultur“, an die sich die Zuwanderer
anschließen sollen?
({6})
Unser Land ist ein vielfältiges Land. Es ist ein Land, in
dem es verschiedene Kulturen, verschiedene Lebensstile,
verschiedene Religionen gibt. Wenn man suggeriert, dass
es die eine Leitkultur gibt, dann darf man sich nicht wundern, wenn andere diese Aufforderung missverstehen und
meinen, sie anders umsetzen zu müssen. Auch für das,
was wir sagen und worüber wir sprechen, haben wir eine
Verantwortung.
({7})
Was wir, glaube ich, zukünftig nicht mehr durchgehen
lassen dürfen, ist, dass man morgens im Frühstücksfernsehen davon spricht, wie wichtig es ist, dass wir verschiedene Kulturen im Land haben, im Mittagsmagazin noch
den Antisemitismus und Rassismus verurteilt, aber dann
abends in der Wahlkampfrede sagt, es dürfe keine Tabus
mehr geben, man müsse auch über die Überfremdung reden können, man müsse auch einmal über die Probleme
der Nichtdeutschen reden dürfen. Das geht nicht, meine
Damen und Herren! Das werden wir nicht durchgehen
lassen.
({8})
Ich fordere alle Beteiligten auf, mit dem Zündeln aufzuhören. Man kann auch mit Worten zündeln; das haben
die letzten Jahre eindrücklich gezeigt.
({9})
Ich fordere - auch mit Blick auf den Wahlkampf - alle auf,
zu rationalen Diskussionen, auch über die Einwanderungsfrage, zurückzukehren. Ich bitte Sie alle, die Wahlkämpfe - dieser Appell geht in alle Richtungen; daran haben sich schon verschiedene Parteien probiert - nicht zu
missbrauchen und auf dem Rücken von Minderheiten vermeintliche Wahlschlachten auszutragen. Deutsche Leitkultur - um diesen vielfach strapazierten Begriff noch einmal aufzunehmen - ist im Jahr 2000 auch Currywurst,
Döner, koscheres Essen, gefillte Fisch.
Ich lade alle ein, unser Land zu besuchen. Die Besucher werden dann feststellen, dass dieses Land ein anderes ist als das der 50er- und 60er-Jahre. Der demokratische
Grundkonsens dieser Republik - den sollte jeder unterschreiben können - sollte das, was ich eben gesagt habe,
beinhalten.
Ich danke Ihnen.
({10})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Guido Westerwelle, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unsere Kultur,
die Art, wie wir leben möchten, ist in unserem Grundgesetz festgeschrieben. Das ist die Geschäftsgrundlage, auf
die wir uns alle verständigen sollten. Dort heißt es in
Art. 1:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen
Gewalt.
Da steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“,
nicht: Die Würde der Deutschen ist unantastbar, oder: Die
Würde der Christen ist unantastbar. Alle Menschen haben
das Recht darauf, dass die staatliche Gewalt ihre Würde
schützt, wenn sie in Deutschland sind.
({0})
Deswegen beschämt es uns alle - deswegen findet
diese Debatte auch statt -, dass es drei Monate, nachdem
der Zentralrat der Juden in Deutschland sein 50-jähriges
Bestehen feiern konnte, einen Anlass für eine solche Debatte gibt. Diese Debatte muss zweierlei leisten: Sie muss
klarmachen, dass wir uns solidarisch fühlen und auch solidarisch sind mit den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Deutschland und mit denen, die von Gewalttaten betroffen waren und die durch sie geschädigt wurden.
Aber das Ziel dieser Debatte, glaube ich, wäre verfehlt,
wenn wir der Öffentlichkeit nicht gleichzeitig auch eine
Antwort auf die Frage geben, was wir in Zukunft besser
machen werden, um solche Ausschreitungen zu bekämpfen.
({1})
Wir haben zuallererst Symbole und Signale der Solidarität zu geben. Das ist weit mehr als Betroffenheitskultur. Das ist das Kenntlichmachen von Solidarität. Ich
habe manche seltsame Reaktion erlebt, als unter Führung
des Bundestagspräsidenten Angehörige aller Parteien dieses Hauses einen jüdischen Gottesdienst an einem Abend
besucht haben, obwohl zum Beispiel ich nicht jüdischen
Glaubens, sondern christlichen Glaubens bin. Es wurde
gefragt, warum man so etwas mache. Ich antworte: Das
muss man deshalb machen, weil nur dann, wenn klar
wird, dass eine große Solidarität in der Gesellschaft über
die Parteigrenzen hinweg besteht, auch klar wird, dass die
Steinewerfer nicht einmal mit einer schweigenden Billigung irgendwelcher Gruppen des Volkes rechnen können.
Sie, die Steinewerfer, sind die Isolierten und nicht die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in Deutschland!
({2})
Wenn eine Scheibe in einer Synagoge zerbrochen wird,
dann geht es nicht um 80 DM Sachschaden. Es geht auch
nicht darum, dass irgendeine Schmiererei überpinselt
werden muss; vielmehr geht es darum, dass dann, wenn
eine Scheibe in einer Synagoge zerbrochen wird, auch ein
Stück unserer Verfassungskultur zerbrochen wird. Jeder
Stein, der auf eine Synagoge geworfen wird, ist ein Stein
mitten in das Gesicht jedes aufrechten Demokraten in
Deutschland.
({3})
Es heißt im Grundgesetz:
Sie
- die Würde des Menschen zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller
staatlichen Gewalt.
Das ist nach meiner Meinung eine Frage der Prävention
und der Repression.
Zur Prävention. Ich habe nicht verstanden - das will
ich hier nicht verschweigen -, warum die Synagoge in
Düsseldorf nicht rund um die Uhr beschützt wurde, obwohl aus den Reihen der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf mehrfach darum gebeten worden ist. Wir gehen
selbstverständlich alle davon aus, dass es einen entsprechenden Schutz von Einrichtungen gibt, nicht nur um
unserer Wirkung im Ausland willen, sondern weil wir selber merken, dass hier die Menschenwürde angegriffen
wird. Ich möchte wissen, warum es bislang einen entsprechenden Schutz nicht gegeben hat. Das, was bisher
dazu geäußert worden ist, finde ich nicht ausreichend.
Meine Damen und Herren, bei der Prävention geht es
zum Beispiel auch darum, wie wir in Zukunft politische
Bildungsarbeit in Deutschland verstehen. Ich will das
nicht nutzen und will auch nicht so verstanden werden, als
sei das ein Angriff auf die Bundesregierung, quasi parteipolitische Münze. Aber die Tatsache, dass die Mittel für
die Bundeszentrale für politische Bildung ebenso wie die
Mittel für die politische Bildungsarbeit der Stiftungen seit
1998 deutlich zurückgeschraubt worden sind, ist nicht
vernünftig. Das müssen wir korrigieren.
({4})
Die Mittel der Bundeszentrale für politische Bildung sind
von 39 Millionen DM auf 29 Millionen DM zurückgeschraubt worden. Die Mittel für die politische Bildungsarbeit der Stiftungen sind von 187 Millionen DM auf
167 Millionen DM zurückgeschraubt worden. Eigentlich
müssten wir in solchen Zeiten genau die gegenteilige
Tendenz in unseren Haushalten lesen können, dass nämlich für politische Bildung mehr ausgegeben wird
({5})
und dass mehr getan wird, damit junge Menschen an die
Demokratie herangeführt werden, gerade wenn sie verführbar und in einem verführbaren Alter sind.
Zur Prävention zählt meines Erachtens aber auch, dass
wir uns in diesem Hause darüber im Klaren sind, dass mit
bestimmten Stimmungen und Themen keine Wahlkämpfe geführt werden. Das sage ich mit großer Klarheit.
({6})
Mir ist es völlig gleichgültig, wer sich darüber ärgert. Das
Thema Migration gehört nicht in die Wahlkämpfe.
({7})
Wir halten es am besten aus den Wahlkämpfen heraus, indem wir vor der Bundestagswahl eine klare Antwort des
Parlaments durch ein neues Gesetz geben.
({8})
Schließlich möchte ich zum Thema Repression eine
Sache klarstellen. Über die Parteigrenzen hinweg diskutieren wir sehr kontrovers über das Verbotsverfahren gegen die NDP. Es gibt in allen Parteien Befürworter und
Skeptiker. Ich möchte für meine Fraktion hier sagen: Aus
Sicht der heutigen Lage, der Materialien, die wir kennen,
ist es meine Befürchtung, dass ein NPD-Verbotsverfahren am Schluss eher eine Stärkung der rechtsradikalen
Szene bewirkt als eine Schwächung. Meine Befürchtung
ist, meine Damen und Herren, dass die NPD vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mit einem Verbotsverfahren überzogen wird. Den Erfolg wird man für offen
halten können. Wenn das Verfahren scheitert, bekäme die
NPD den TÜV aus Karlsruhe. Das wäre ein Desaster für
die Demokratie.
({9})
Aber, meine Damen und Herren, es besteht eine noch
viel größere Gefahr, auf die uns zum Beispiel Ute Vogt,
die Vorsitzende des Bundestagsinnenausschusses, hingewiesen hat. Es wird dann aufgeteilt in diejenigen, die
quasi als verfassungsfeindliche Rechtsradikale verfolgt
werden, und in diejenigen, die damit das Gütesiegel der
Verfassungsmäßigkeit inzidenter erhalten, nämlich die
DVU und die Republikaner. Ich sage Ihnen: Das möchte
ich auf gar keinen Fall. Der Rechtsradikalismus, gleich in
welcher Partei er sich organisiert, muss bekämpft werden.
Ich möchte nicht, dass die Attacke gegen die NPD, die
sinnvoll ist und politisch geführt werden muss, zum
Schluss lediglich zu einer Adelung von DVU und Republikanern in der täglichen Auseinandersetzung führt. Bitte
denken Sie das zu Ende. Der Kampf gegen den Rechtsextremismus verbindet uns alle in diesem Hause.
Vielen Dank.
({10})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Roland Claus, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Völlig zu Recht verurteilen
wir Anschläge auf jüdische Bürgerinnen und Bürger, auf
ihre Würde, ihre Kultur und ihre Religion in besonderer
Weise. Es ist gut und wichtig, dass wir dies im Deutschen
Bundestag im Einvernehmen tun. Wir wissen, der Holocaust, die Schoah, war ein weltgeschichtlich einmaliges
Verbrechen. Wir erinnern auch daran, dass der deutsche
Faschismus ein in diesem Lande mehrheitlich geduldeter
Faschismus war.
Der Bundestag hat in dieser Legislaturperiode bereits
ganz in diesem Sinne wichtige Zeichen gesetzt. Ich erinnere an die Entscheidung zum Holocaust-Mahnmal und
auch - bei allen Differenzen und aller Kritik hier im
Hause - an die Entscheidung zur Zwangsarbeiterentschädigung. Dies waren übrigens zwei Entscheidungen,
bei denen alle Kolleginnen und Kollegen sehr wohl die
Enge von Fraktionen verlassen haben.
Dazu passt allerdings nicht die Meldung von gestern,
die Wirtschaft bringe das Geld für die Zwangsarbeiterstiftung nicht auf, oder gar die Ankündigung von Herrn
Henkel gestern Abend im Fernsehen - ich zitiere ihn wörtlich -: „Wir müssen das Gesetz noch einmal überarbeiten.“ Das sollten wir als Parlamentarierinnen und Parlamentarier so nicht hinnehmen.
({0})
Zum Glück gab es dazu klare Worte des Bundeskanzlers.
Wir haben das wohl vernommen und unterstützen ihn.
Aber auch hier sind der Platz und die Gelegenheit, die
deutsche Wirtschaft noch einmal aufzufordern, mit diesem unwürdigen Verhalten Schluss zu machen. Ich habe
den Eindruck, dass es hier nicht mehr nur um das Geld,
sondern um etwas anderes geht; deshalb meine klare Aufforderung.
({1})
Meine Damen und Herren, wir erleben heute eine sehr
zwiespältige Gesellschaft. Auf der einen Seite sind wir
dankbar, dass Jüdinnen und Juden wieder und weiter mit
deutschen Mitbürgern im eigenen Lande zusammenleben
und dass die jüdischen Gemeinden durch Zuwanderung
aus Osteuropa Zuwachs bekommen. Auf der anderen
Seite aber ist ein Ansteigen der Zahl der antisemitischen
Straftaten festzustellen. Die Zahl der Schändungen jüdischer Friedhöfe hat sich im Vergleich der 90er-Jahre mit
den 80er-Jahren mehr als verdoppelt. Die Zahl rechtsextremistischer Straftaten ist im Verhältnis der Jahre 2000 zu
1999 um mehr als 30 Prozent angestiegen und hat sich
vom Juli zum August dieses Jahres verdoppelt. Diese Zahlen ergeben sich aus Antworten der Bundesregierung auf
entsprechende Anfragen. Noch schlimmer aber als diese
statistisch gezählten Fakten ist das Hinnehmen von Antisemitismus im Alltag. Woher kommt es, wenn sich Zwölfjährige auf einem Schulhof mit judenfeindlichen
Schimpfwörtern titulieren? Hier stimmt doch etwas in
dieser Gesellschaft nicht.
Nun gab es eine neue Dimension dieser Ereignisse im
Zusammenhang mit dem 10. Jahrestag der Vereinigung.
Wir hatten eine Häufung antisemitischer Straftaten, so
auch in meinem Wahlkreis in Halle. Wir kennen den Vorgang, dass öffentliches Entsetzen über solche Straftaten
oftmals nicht zur Abschreckung beiträgt, sondern zur
Nachahmung anregt. Trittbrettfahrer fühlen sich aufgerufen. Wir haben aber - das müssen wir uns vor Augen halten - mit dem 3. Oktober eine neue Situation: Hier sind es
nicht mehr nur Trittbrettfahrer gewesen, sondern das war
eine organisierte Provokation an die ganze Gesellschaft
gerichtet, und zwar eine Provokation von der schlimmsten
Art, die wir nicht hinnehmen können.
({2})
Was können wir tun, meine Damen und Herren? Es ist
ein Zusammengehen aller Demokratinnen und Demokraten in diesem Kampf gegen den Rechtsextremismus
verlangt. Es muss Schluss mit der Ausgrenzung von Demokraten in diesem Kampf sein. Auch ist es an der Zeit,
den Begriff „Antifaschismus“ aus dem Verfassungsschutzbericht heraus- und in die gesellschaftliche Werteskala hineinzubringen.
({3})
Es ist an der Zeit, dass wir die Diskriminierung von jüngeren und älteren Bürgerinnen und Bürgern beenden, die
sich früher als wir den Rechtsextremisten in den Weg gestellt haben.
An die eigene Adresse sage ich: Die linke Bewegung
ist schlecht beraten, wenn sie ihre Wut und Empörung zur
Beraterin macht. Wir brauchen in diesem Lande einen gewinnenden, keinen ausgrenzenden Antifaschismus.
({4})
Ich will hier bei aller Kritik an und Auseinandersetzung
mit der Bundesregierung sehr deutlich sagen: Ich will mit
der Bundesregierung den Rechtsextremismus und nicht
mittels des Themas Rechtsextremismus die Bundesregierung bekämpfen. So viel muss klar sein.
({5})
Kollege Claus, Ihre
Redezeit ist überschritten.
Ich komme zum Ende, Herr
Präsident.
Ich will ausdrücklich sagen: Das bedeutet für mich
auch - es geht um den Konsens der Demokraten -, die demokratische Konservative in Deutschland nicht außen vor
zu lassen und alles dafür zu tun, dass sie sich an dieser Politik beteiligt. Ich weiß, dass ich der CDU keine Vorschriften zu machen habe; aber eine Bitte kann ich äußern:
In diesem Sinne bitte ich Sie wirklich, von der Kampagne,
die auf eine Zuwanderungsbegrenzung zielt, Abstand zu
nehmen.
Wir werden am 9. November dieses Jahres - das ist
bald - Gelegenheit haben, die Herausforderung und die
Chance für den Bundestag wahrzunehmen, gemeinsam
Zeichen gegen den Rechtsextremismus zu setzen. Wir sagen deutlich: Antisemitismus und Faschismus, das sind
keine Meinungen, sondern Verbrechen. Wir sollten genauso deutlich sagen: Bis hierher und nicht weiter!
Ich danke Ihnen.
({0})
Ich erteile der Kollegin Gabriele Fograscher, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Sehr
geehrte Kollegen und Kolleginnen! Die Anschläge auf
Synagogen, die Schändung jüdischer Friedhöfe, das
Schmieren von Hakenkreuzen auf Gedenktafeln in ehemaligen Konzentrationslagern, weitere Anschläge und die
Bedrohung von Personen, all diese Taten sind in jedem
Fall abscheulich und durch nichts zu entschuldigen. Es
sind keine einfachen Beschädigungen an irgendwelchen
Gebäuden aus irgendeinem lapidaren Grund. Nein, es sind
Anschläge gegen unsere jüdischen Mitbürger und Mitbürgerinnen; sie zielen gegen unsere Demokratie und gegen unsere Gesellschaft.
Anlässlich der Anschläge auf jüdische Einrichtungen schreibt Außenminister Joschka Fischer in seinem
Brief an den Präsidenten des Zentralrats der Juden in
Deutschland - ich zitiere -:
Sie
- die Anschläge sind ein offener Angriff auf die deutsche Demokratie
und auf den elementaren Grundsatz der Unantastbarkeit der Menschenwürde, auf dem unsere Demokratie aufbaut. Wir alle - Regierung, Justiz und Gesellschaft - haben die Verpflichtung, uns diesem Angriff
entschieden und mit aller Kraft entgegenzustellen.
In den letzten Jahren sind die jüdischen Gemeinden
wieder gewachsen. Wie die überwiegende Mehrheit der
Menschen in unserem Land wollen sie in Freiheit, Frieden
und Sicherheit hier leben, Verantwortung übernehmen
und mitgestalten. Sie sind ein Teil der kulturellen und religiösen Vielfalt in unserem Land und leisten eine unverzichtbare Integrationsarbeit für die neu zugezogenen Bürger. Dafür möchte ich den jüdischen Gemeinden an dieser
Stelle meinen Dank aussprechen.
({0})
Es sind die rechten Gewalttäter und die rechten Ideologen, die unser friedliches Zusammenleben bedrohen.
Dagegen brauchen wir den „Aufstand der Anständigen“,
wie Bundeskanzler Schröder es formuliert hat. Viel zu
lange wurde die rechte Szene verharmlost und wurde darauf vertraut, dass mit den Ewiggestrigen auch die rechte
Ideologie ausstirbt. Die Realität sieht anders aus.
Nur ein Bündel von Maßnahmen wird dem rechten
Sumpf den Boden entziehen. Ursachenforschung und
-bekämpfung, Prävention und Repression, Aufklärung
und Jugendarbeit, Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit und sinnvolle Freizeitangebote, Opferschutz und Täterverfolgung, Integrationskonzepte, Stadtteilarbeit und
gegebenenfalls ein Parteiverbot der NPD - das Verbot von
„Blood & Honour“ ist schon vollzogen - sind ein entscheidender Beitrag zur Bekämpfung des Rechtsextremismus.
Für die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien gehören die politische Auseinandersetzung mit dem
Rechtsextremismus und seine Bekämpfung zu den wichtigsten Aufgaben in dieser Legislaturperiode. Extremistische Aktivitäten sind keine vernachlässigbaren Randprobleme unseres Gemeinwesens. Sie speisen sich aus weit
verbreiteten Vorurteilen, Ängsten und Ressentiments.
Dem wollen wir das „Bündnis für Demokratie und
Toleranz - gegen Extremismus und Gewalt“ entgegenstellen. Es soll die Werte und Garantien unserer Verfassung offensiv vertreten. Das Bündnis verfolgt das Ziel,
dem demokratischen Konsens sowie dem zivilen Engagement eine deutlichere Resonanz in unserer Gesellschaft
zu verschaffen. Dazu wird es die vielen Aktivitäten der
Einrichtungen und Initiativen, die sich gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt wenden,
zusammenführen und es wird weitere anregen. Durch
Aufklärungs- und Medienkampagnen soll die Öffentlichkeit gegen politischen Extremismus sensibilisiert werden.
Neben der Geschäftsstelle für dieses Bündnis, die bereits eingerichtet wurde, wurde als zentrales Gestaltungsgremium ein Beirat eingesetzt. Der Beirat dieses Bündnisses setzt sich aus Vertretern aus Politik, der Polizei, von
jüdischen Gemeinden, Gewerkschaften, aus Arbeitgebern
und Wissenschaftlern zusammen. Er wird am 23. Oktober
zusammentreten und über konkrete Aktivitäten beraten.
Der Beirat organisiert mithilfe der Geschäftsstelle das gesellschaftliche Bündnis und wird prominente Persönlichkeiten um Unterstützung und Mitarbeit bitten.
({1})
In diesem Zusammenhang möchte ich mich bei all denen bedanken, die bereits jetzt offensiv und öffentlich gegen Rechts eintreten, und bei all denen, die sich zu
Aktionen und Initiativen zusammengeschlossen haben.
Einige Beispiele nur: das „Netz gegen Rechts“, zu dem
sich deutsche Zeitungen, Agenturen und Sender zusammengeschlossen haben; die Initiative „Mut gegen rechte
Gewalt“ der Zeitschrift „Stern“; die von Uwe-Karsten
Heye, Paul Spiegel und Michel Friedman ins Leben gerufene Aktion „Gesicht zeigen!“, in der sich zahlreiche Prominente gegen Rechts stellen. Mehr als 500 Prominente
sowie Verbände und Organisationen haben Patenschaften
für regionale Initiativen gegen Rassismus übernommen.
Der Aufstand gegen Rechts wächst. Das ermutigt uns,
weiterzumachen, noch mehr Menschen einzubinden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Politiker stehen
wir in besonderer Verantwortung. Wer versucht, aus Stimmungen Stimmen zu machen, darf sich nicht über Beifall
von der falschen Seite wundern
({2})
und muss sich den Vorwurf gefallen lassen, das Klima zu
vergiften und denen Argumente zu liefern, die mit krimineller Energie gegen die demokratischen Grundwerte
kämpfen. Herr Merz, wie passt denn geistige Orientierung
mit Ihrer Ankündigung zusammen, der nächste Wahlkampf werde ein Ausländerwahlkampf werden?
({3})
Das Bündnis gegen Rechts braucht eine breite Verankerung in der Gesellschaft. Wir brauchen die wehrhafte Demokratie.
Lassen Sie mich mit einem Zitat von
Ich wünsche mir ein vielfältiges und lebendiges
Deutschland - friedlich und weltoffen. Daran zu arbeiten, lohnt jede Mühe. Es kommt nicht auf die Herkunft des Einzelnen an, sondern darauf, dass wir gemeinsam die Zukunft gewinnen.
Danke sehr.
({0})
Ich erteile nun dem
Kollegen Wolfgang Bötsch, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte,
welche wir heute bestreiten, ist angesichts der jüngsten,
schlimmen Ereignisse mehr als erforderlich. Ich möchte
mich ausdrücklich bei den anderen Fraktionen dafür bedanken, dass sie unsere Anregung, diese Debatte heute zu
führen, aufgenommen, akzeptiert und ihr zugestimmt haben.
({0})
Waren schon die früheren antijüdischen Aktionen und
die diversen Anschläge auf jüdische Friedhöfe äußerst
verwerfliche Niederträchtigkeiten, so haben wir mit den
jüngsten Ereignissen, insbesondere mit den Anschlägen
auf die Synagogen, die jüdischen Gotteshäuser, eine neue
Dimension erreicht. Ich bin sicher, dass die ganz große
Mehrheit der Bevölkerung die jüngsten Vorgänge mit
Empörung und Wut über die Taten, mit Zorn und Verachtung für die Täter und tiefer Trauer über den dabei zum
Ausdruck kommenden Verfall von Sitte, Anstand und
Moral sieht.
({1})
Wir verurteilen diese Vorgänge aufs Schärfste und fordern Polizei und Justiz auf, gegen die Täter mit aller gebotenen Härte vorzugehen. Gleichzeitig möchte ich dies
mit einem Appell an unsere jüdischen Mitbürger verbinden: Lassen Sie sich nicht entmutigen, weiter in Deutschland zu leben! Halten Sie Ihre Entscheidung aufrecht, in
unserem gemeinsamen Lande zu bleiben. Lassen Sie uns
weiter teilhaben an Ihrem Leben, Ihrer Kultur und Ihrer
Religion und nehmen Sie teil am Leben in Deutschland
insgesamt.
({2})
Herr Kollege Özdemir, ich weiß nicht, ob Sie gegenüber unserem Fraktionsvorsitzenden nicht einen falschen
Ton angeschlagen haben.
({3})
Ihre Angriffe - zumindest muss man sagen: Ihre Hinweise - waren doch etwas unangebracht. Sie sollten darüber
einmal nachdenken.
({4})
Sie haben gesagt, es gebe kein „ihr“ und kein „wir“. Wen
wollen Sie aber dann eigentlich willkommen heißen,
wenn es kein „ihr“ und kein „wir“ gibt?
Frau Fograscher, Sie haben den Bundespräsidenten zitiert. Auch ich will ihn in diesem Zusammenhang zitieren,
nämlich aus seiner Berliner Rede vom 16. Mai, in der er
sagte:
Jeder weiß, dass die Zuwanderung bei vielen Menschen starke Emotionen auslöst - gute und weniger
gute. Gerade deswegen müssen wir darüber möglichst offen sprechen, möglichst unaufgeregt und realistisch.
({5})
Häufig bleibt zu vieles unausgesprochen.
Mein besonderer Dank gilt der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in München und Vizepräsidentin des
Zentralrats der Juden in Deutschland, Frau Charlotte
Knobloch, die sich von den jüngsten Ereignissen in ihrem
Bekenntnis zum Leben in Deutschland nicht erschüttern
ließ, sondern sich ausdrücklich positiv dazu bekannt hat.
({6})
Jüdische Gemeinden in Deutschland gibt es wieder,
wenngleich keinesfalls mehr in dem Umfang und mit der
Bedeutung, die sie in früheren Jahrhunderten hatten. Als
Beispiel möchte ich meine unterfränkische Heimat nennen. Gab es dort zu Beginn der 30er-Jahre etwa 600 jüdische Gemeinden, so existiert dort heute nur noch eine jüdische Gemeinde, nämlich in Würzburg. Diese Gemeinde
ist umso beispielhafter für jüdisches Leben, als dort bereits unmittelbar nach dem Krieg wieder jeden Sabbat
Gottesdienst abgehalten wurde. Zwar war die Gemeinde
damals zahlenmäßig sehr gering, weil sich nur wenige
junge Menschen und auch nicht viel mehr ältere jüdische
Mitbürger nach dem Krieg dort niedergelassen hatten. So
hatte das jüdische Altersheim zeitweise nur acht Bewohner.
Heute hat die jüdische Gemeinde in Würzburg wieder
einen Funktionszuwachs, nicht zuletzt auch durch Zuwanderung von Juden aus Osteuropa. Mittlerweile gehören der jüdischen Gemeinde, welche Würzburg und
ganz Unterfranken umfasst, nahezu 1 000 Mitglieder an.
Dies ist auch deshalb von großer Bedeutung, als nach wissenschaftlichen Erkenntnissen aus den 80er- und 90erJahren Würzburg im Mittelalter, zwischen 1147 und 1349,
ein maßgebendes Zentrum für jüdisches Wissen und jüdische Kultur war. Dies ergab sich aus der Freilegung von
1 400 Grabsteinen im Jahre 1987, die von einem jüdischen Friedhof stammen, der im 16. Jahrhundert in frevlerischer Weise wegen des Neubaus eines Spitals völlig
zerstört wurde. Die Bedeutung dieses Wissenschaftszentrums war vergleichbar mit Marrakesch, wo ein Zentrum
der jüdischen Kultur für den heutigen nordafrikanischen
Raum und die ganze iberische Halbinsel existierte.
Man versucht heute, an diese Tradition anzuknüpfen.
Dem soll die Gründung eines jüdischen Kulturzentrums
mit dem Namen „Shalom Europa“ dienen. Dieser Name
wurde deshalb gewählt, weil die Würzburger Wissenschaftler mit vielen europäischen Zentren des Judentums
einen regen Erfahrungsaustausch pflegten. Solche Projekte sind das, was wir brauchen, um jüdisches Leben in
Deutschland bekannt und verständlich zu machen.
({7})
Es ist daher die Aufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden, solche Institutionen zu unterstützen.
Die Bayerische Staatsregierung ist hier vorbildlich
vorangegangen und hat durch Kabinettsbeschluss für derartige Projekte in jüngster Zeit 23 Millionen DM bereitgestellt:
({8})
der Großteil davon für ein jüdisches Kulturzentrum in
München und alleine 7 Millionen DM für „Shalom Europa“ in Würzburg.
Ich appelliere an die Bundesregierung, sich diesem
Vorbild anzuschließen und ebenfalls Mittel für diese Projekte bereitzustellen.
({9})
Die bisherige Sachbehandlung der Bundesregierung in
dieser Angelegenheit stellt sich allerdings, vorsichtig ausgedrückt, etwas oberflächlich dar. So schreibt der Ministerialdirektor beim Staatsminister Naumann im März
1999 hierzu:
Wenn auch die geplante Einrichtung in Würzburg in
der Bezeichnung den Begriff „Kulturzentrum“ führt,
so handelt es sich primär doch um eine Einrichtung
der jüdischen Gemeinschaft, und zwar - wie das
Konzept erkennen lässt - der orthodoxen Richtung.
Das Innenministerium ergänzt diese Stellungnahme mit
den Sätzen:
Zu Ihrer Bitte um Förderung des Aufbaus des jüdischen Gemeinde- und Kulturzentrums in Würzburg
möchte ich Ihnen mitteilen, dass eine solche Förderung nicht möglich ist, da es dafür in meinem Ministerium keine Haushaltsmittel gibt. Das ... Kirchenbauprogramm des Bundes ist leider ausgelaufen.
Ich will das jetzt nicht als eine politische Entscheidung
werten, aber doch als eine sehr bürokratisch-oberflächliche.
({10})
Es genügt nicht, erschreckende Vorkommnisse zu beklagen, sondern man muss auch gegensteuern.
Ich fordere deshalb die Bundesregierung auf, ihre bisherige ablehnende Haltung hinsichtlich der Förderung
solcher Projekte aufzugeben und einen erheblichen Betrag aus Bundesmitteln hierfür zur Verfügung zu stellen.
Vielen Dank.
({11})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Annelie Buntenbach, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Anders als andere rechtsextreme Gewalttaten haben die
Angriffe auf Synagogen und die Schändungen jüdischer
Friedhöfe eine bestürzende Symbolwirkung. Wir können
uns nicht damit beruhigen, dass es isolierte Einzeltaten
wären; denn das sind sie leider nicht. Das zeigen die Statistiken, aber auch der Telefonterror, die zahlreichen Bedrohungen und Beleidigungen, auf die Herr Bubis und
Herr Spiegel immer wieder hingewiesen haben. Ebenso
zeigen das Einstellungsuntersuchungen, bei denen eine
antisemitische Einstellung bei 12 bis 15 Prozent der Bevölkerung festgestellt worden ist. Anhänger antisemitischer Weltverschwörungsmythen sind keineswegs nur in
der rechtsextremen Szene zu finden.
Die besondere Symbolwirkung liegt nach dem Holocaust aufgrund der deutschen Geschichte auf der Hand. In
der Nachkriegszeit war die Bekämpfung des Antisemitismus eine Voraussetzung für die Rückkehr der Bundesrepublik in die internationale Gemeinschaft und zu Recht
galt und gilt die besondere Aufmerksamkeit des Auslands
dem Antisemitismus in der Bundesrepublik. Die Aufarbeitung des Holocaust war darum immer auch mit einer
Tabuisierung und Verdrängung des gegenwärtigen Antisemitismus verbunden.
Wie dünn das Eis hier noch immer ist, hat sich in der
Diskussion um die Wiedergutmachung, im Historikerstreit und zuletzt in der Goldhagen-Debatte sowie im Disput um die unsäglichen Äußerungen Walsers gezeigt. In
all diesen Auseinandersetzungen ist die Schlussstrichmentalität ganz deutlich zu spüren. Aber einen Schlussstrich kann und darf es nicht geben.
({0})
Schon die neuerlichen Angriffe auf Synagogen und die
Schändungen von jüdischen Friedhöfen zeigen, wie aktuell Antisemitismus nach wie vor ist. Neben der VerpflichDr. Wolfgang Bötsch
tung, Synagogen so gut wie irgend möglich durch Polizei
und öffentliche Aufmerksamkeit zu schützen, neben den
Zeichen, die der Bundeskanzler dankenswerterweise sofort gesetzt hat, ist darum eine schonungslose Aufarbeitung notwendig, die nicht an der Oberfläche verharren
darf.
Diese Aufarbeitung muss in der Schule beginnen
durch die Auseinandersetzung mit dem Holocaust, aber
auch mit der Geschichte von Antisemitismus und Judenverfolgung, die sich wie ein roter Faden durch die Jahrhunderte zieht. Hierfür brauchen wir Erinnerungsarbeit
und lebendige Gedenkstätten sowie mehr Raum in der Jugendarbeit und in den öffentlichen Debatten in Wissenschaft und Politik.
({1})
Aber wir brauchen auch die Auseinandersetzung mit
einer kollektiven Verdrängung im Nachkriegsdeutschland, die es bis heute ermöglicht, die Täter des Dritten
Reichs auf fremde Barbaren zu reduzieren und gleichzeitig die Nachbarn, die bei der Versteigerung von jüdischem
Eigentum das Fahrrad ersteigert haben, nicht zur Kenntnis zu nehmen, genauso wenig wie die Finanzbeamten,
die nach Recht und Gesetz das Inventar der jüdischen
Wohnung registriert haben, deren Bewohner nach
Auschwitz abtransportiert worden sind. Dieser Realität,
die es nicht zulässt zu sagen: „Wir haben doch nichts gewusst“, müssen wir uns stellen.
({2})
Wir brauchen aber auch mehr alltägliche Berührungspunkte, mehr Kommunikation über unterschiedliche geschichtliche Erfahrungen, religiöse Bindungen und kulturelle Orientierung. Eine demokratische Gesellschaft lebt
von ihrer Vielfalt. Dabei sind die Menschen jüdischen
Glaubens ein wesentlicher, ein unverzichtbarer Teil.
({3})
Ich erteile dem Kollegen Heinz Schmitt, SPD-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Besucherinnen!
Liebe Besucher! Wir haben in den letzten Jahren eine
außerordentlich erfreuliche Entwicklung zu verzeichnen,
die Tatsache nämlich, dass die Zahl unserer jüdischen
Mitbürgerinnen und Mitbürger wieder auf über 80 000 gestiegen ist. Es gibt in der Bundesrepublik eine Verdreifachung der Mitglieder jüdischer Gemeinden. Nach Einschätzung des Zentralrates der Juden in Deutschland wird
diese Zahl weiter zunehmen.
Dass es in Deutschland wieder 83 jüdische Gemeinden
gibt, berührt mich sehr. Denn dies ist alles andere als
selbstverständlich, wenn man sich die Geschichte der Juden in Deutschland vor Augen hält. Die Tatsache, dass
Menschen jüdischen Glaubens in großer Zahl Deutschland wieder als ihre Heimat wählen, ist ein enormer Vertrauensvorschuss für unsere Gesellschaft, für ein Land, in
dem Juden noch vor wenigen Jahrzehnten Entrechtung,
Enteignung, Terror und schließlich systematischem Mord
durch die Nationalsozialisten ausgesetzt waren.
Es stellt sich nun die Frage, ob und wie wir diesem Vertrauensvorschuss gerecht werden können. Wir würden
diese Debatte heute nicht führen, wenn wir die Frage, ob
das heutige Deutschland wirklich sicher und so etwas wie
eine Heimat für Mitbürger jüdischen Glaubens geworden
ist, ohne Befangenheit bejahen könnten. Die jüngsten Anschläge und Schädigungen jüdischer Einrichtungen in
Düsseldorf, Potsdam, Halle und Berlin haben ein erhöhtes Aufsehen erregt, weil die Öffentlichkeit gegenwärtig
durch die Diskussion über den Rechtsextremismus auch
für antisemitische Straftaten sensibler geworden ist.
Diese Straftaten geschehen in Deutschland fast alltäglich. Über 1 000 Schändungen jüdischer Friedhöfe in den
letzten Jahrzehnten sind beschämend. Antisemitismus ist
ein fundamentaler Bestandteil rechtsextremistischer Ideologie und des Denkens rechtsextremer Gewalttäter. Antisemitismus ist zudem in diesem Land in einem Ausmaß in
den Köpfen ganz normaler Bürger verwurzelt, das besorgniserregend ist.
({0})
So müssen wir die Äußerungen von Paul Spiegel, dem
Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland,
sehr, sehr ernst nehmen, wenn er davon spricht, dass es
ihn angesichts des alltäglichen Antisemitismus in
Deutschland schwer fällt, optimistisch zu bleiben.
Die Diskussion der letzten Wochen hat eine Antwort
auf die Frage gesucht, wie rechter Gewalt, wie Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus zu begegnen ist. Es gibt
einen breiten Konsens, eine treibende Kraft, das rechtsextreme Spektrum mit den Mitteln des Rechtsstaates zu
bekämpfen. „Es darf keine Freiheit geben zur Zerstörung
der Freiheit“, hat Karl Jaspers einmal gesagt. Deshalb begrüßen wir den beabsichtigten Antrag auf ein Verbot der
NPD, weil damit ein wichtiges politisches Signal gesetzt
wird, ein Signal der Entschlossenheit gegen den organisierten Rechtsextremismus.
({1})
Auf der anderen Seite brauchen wir aber auch die gleiche Entschlossenheit, gegen die Wurzeln rechtsextremistischer Einstellungen vorzugehen. Wir wissen, dass
rechtsextremistische Straftaten überwiegend von Jugendlichen oder jungen Erwachsenen begangen werden. Es ist
deshalb unsere Aufgabe, Jugendliche besser als bisher gegen rechte Ideologien und rechte Rattenfänger resistent zu
machen.
Ich bin alarmiert, wenn ich feststelle, dass ganze Schulklassen mit den elementaren Spielregeln und Grundwerten unserer Demokratie nicht vertraut sind. Wer die Grundregeln und Zusammenhänge einer freien, pluralistischen
und demokratisch verfassten Gesellschaft nicht kennt, der
wird anfällig werden für einfache Lösungen rechtsextremer Rattenfänger. Auch dies lässt sich in Gesprächen mit
Jugendlichen immer wieder heraushören.
Es ist deshalb eine ebenso dringliche wie langfristige
Aufgabe, in den Schulen wieder intensiver demokratisches Verhalten einzuüben und der Vermittlung grundlegender politischer und historischer Kenntnisse einen angemessenen Platz einzuräumen. Diese Aufgabe muss
umfangreicher und sie muss verbindlicher als bisher in
den Lehrplänen und Bildungskonzepten verankert werden. Nicht zuletzt gilt es auch diejenigen Elternhäuser mit
in die Pflicht zu nehmen, die mit eigenen Vorurteilen und
Ressentiments dazu beitragen, dass Jugendliche sich als
vermeintliche Erfüllungsgehilfen der Eltern verstehen
können. Auch die Eltern auffälliger rechtsextremer Jugendlicher müssen stärker in die Verantwortung genommen werden.
Dies sind nur einige Maßnahmen, wie wir etwa im
schulischen Bereich dafür sorgen können, dem Rechtsextremismus langfristig den Nährboden zu entziehen. Wir
werden darüber hinaus weiterhin dafür sorgen, dass Jugendliche auch eine ordentliche Ausbildung erhalten, eine
Chance auf einen guten Ausbildungsplatz und eine eigene
gute Zukunft. Ich nenne beispielhaft unser JUMP-Programm, um Jugendarbeitslosigkeit gezielt zu bekämpfen.
Wir brauchen eine Familienpolitik, die ebenfalls dafür
sorgt, dass Konflikte innerhalb der Familie ohne Gewalt
gelöst werden. Gewalt in der Familie ist ein wesentlicher
Grund dafür, dass Gewalt auch in der Gesellschaft vorkommt. Wir brauchen den „Aufstand der Anständigen“,
wie von Bundeskanzler Schröder gefordert. Es muss
Schluss sein mit dem Wegschauen. Die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger sollen unsere Solidarität spüren
und wir wollen ihnen das Gefühl vermitteln, nicht allein
zu stehen.
„Die Demokratie ist keine Frage der Zweckmäßigkeit,
sondern der Sittlichkeit“, hat Willy Brandt einmal gesagt.
Dieses Verständnis von Demokratie müssen wir wieder
verstärken und jungen Menschen vermitteln. Wenn uns
dies gelingt, werden auch unsere jüdischen Mitbürger in
Deutschland wieder ohne Angst in unserer Mitte leben
können.
Vielen Dank.
({2})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Heinrich Fink, PDS-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber
Rabbiner Andreas Nachama, ich danke Ihnen, dass Sie
heute hier sind.
Jüdisches Leben in Deutschland zu schützen bedeutet
für mich, öffentlich einzugestehen, dass die Kräfte zu
schwach waren, die seit dem 8. Mai 1945 in Wort und
Schrift unermüdlich versucht haben, die Ursachen des
Antijudaismus und Antisemitismus aufzudecken und
überwinden zu helfen. Wie kann es sonst sein, dass Antisemitismus, der in Deutschland in der systematischen Judenvernichtung gipfelte, junge Menschen aufs Neue zu
antisemitischen Ausschreitungen motiviert?
Darum muss, wer jüdisches Leben in Deutschland
schützen will, nicht nur für sich persönlich die Frage der
Berliner Lyrikerin Nelly Sachs stellen, die der aus deutscher Arroganz beschlossenen Judenausrottung entkommen ist und dann im rettenden Asyl fragte: „Warum die
schwarze Antwort des Hasses auf dein Dasein, Israel?“
Nach dem Holocaust muss dieses „Warum?“ in der Muttersprache Deutsch von jeder Generation beantwortet
werden - und das unabhängig von der Scheindebatte über
Kollektivschuld.
Lessings Ringparabel als Unterrichtsstoff schafft an
sich noch keine Toleranz. Wohlwollende Gleichgültigkeit
verharmlost die bisher keineswegs überwundenen Trugschlüsse des Antisemitismus und stützt vor allem die Interessen derer, die diese Überzeugung immer noch und
schon wieder vertreten.
Die Tatsache, dass in Berlin dem prominenten Antisemiten Heinrich von Treitschke, Professor für Geschichte
an der Berliner Universität, auch noch nach Auschwitz
eine Straße in Steglitz gewidmet ist, halte ich für eine wenn auch verdeckte - permanente Beleidigung nicht nur
der Überlebenden des Holocaust, sondern erst recht der
nach 1945 geborenen Juden, ist doch Treitschkes Satz
„Die Juden sind unser Unglück“, ursächlich an der mörderischen Geschichte von 1933 bis 1945 beteiligt. Sollte
nicht endlich der Bitte von Schülern des Steglitzer Fichtelberg-Gymnasiums gefolgt werden, die Straße einem
anderen, zum Beispiel dem Berliner Bischof Kurt Scharf,
der sich Zeit seines Lebens gegen den Antijudaismus in
christlicher Predigt verwahrt hat und ein Vater des jüdisch-christlichen Dialogs war, zu widmen? Diese
Schüler sind nicht gleichgültig, wenn sie auf ihrem Schulweg Geschichtskenntnisse beherzigen.
Im Kontext neoliberaler Überzeugungsvielfalt ist Antisemitismus nicht nur eine anachronistische Variante,
sondern stellt die humanistische Wertegemeinschaft zutiefst in Frage und damit auch die moralische Qualität bereitwilliger Unterstützung jüdischen Lebens in Deutschland.
({0})
Alle spontanen Aktivitäten, die durch Vermittlung besserer Kenntnisse über jüdisches Leben dumpfe Vorurteile
entlarven helfen, sind dringend zu unterstützen.
({1})
In Deutschland ist in vier Jahrzehnten von jüdischen
und nicht jüdischen Autoren eine umfassende kritische
Literatur zum Verständnis für das Gelingen gemeinsamen
Lebens mit Juden in Deutschland entstanden. Aber
Bücher brauchen Leser! Denn man kann nur unterstützen
und schützen, was man selber versteht. Ächten kann nur
derjenige, der das Judentum sachverständig achtet.
Heinz Schmitt ({2})
Lassen Sie uns aufstehen gegen die Gleichgültigkeit
in unserem Alltag! Elie Wiesel, der uns am 27. Januar vergangenen Jahres so eindrücklich ermahnt hat, das Holocaust-Denkmal nicht nur zum Alibi unseres schlechten
Gewissens deutscher Geschichte werden zu lassen, erklärt
aus seiner Sicht, wie jüdisches Leben und damit auch unseres zu schützen ist. Er sagt:
Ein Schlüsselwort meiner Weltanschauung ist der
Kampf gegen Gleichgültigkeit. Ich habe immer daran geglaubt, dass das Gegenteil von Liebe nicht
Hass ist, sondern Gleichgültigkeit. Das Gegenteil
von Glaube ist nicht Überheblichkeit, sondern
Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Hoffnung ist
nicht Verzweiflung, es ist Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit ist nicht der Anfang eines Prozesses, sie ist
das Ende eines Prozesses. Wenn Sie die Wahl haben,
zwischen Verzweiflung und Gleichgültigkeit zu
wählen, wählen Sie die Verzweiflung, nicht die
Gleichgültigkeit! Denn aus Verzweiflung kann eine
Botschaft hervorgehen, aber aus der Gleichgültigkeit
kann per definitionem nichts hervorgehen.
Danke.
({3})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Guido Westerwelle das
Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen
und Kollegen! Ich habe soeben von unserem ersten parlamentarischen Geschäftsführer erfahren, dass in dieser Debatte kein Vertreter der Bundesregierung die Absicht hat
zu sprechen. Ich möchte für mich und auch für meine
Fraktion - ich weiß, dass es mehreren Kollegen genauso
geht wie mir - zum Ausdruck bringen, dass wir wissen
möchten, was die Bundesregierung tun will, um beispielsweise jüdische Einrichtungen zu schützen. Wir wollen ihre Antwort im Hinblick auf die politische Bildungsarbeit hören. Ich möchte in diesem Hause etwas zu der
Frage der Verbotsverfahren und der Bekämpfung rechtsextremer Gewalttaten hören. Meiner Einschätzung nach
ist es nicht akzeptabel, dass die Bundesregierung in einer
solchen Debatte schweigen will.
({0})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Kerstin Griese, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge kurz nach Rosch ha-Schana, dem jüdischen Neujahrsfest, und die weiteren Anschläge auf
jüdische Einrichtungen haben uns entsetzt.
({0})
- Ich denke, auch das Parlament hat das Recht zu debattieren. Das ist heute meine erste Rede. Ich komme aus
Düsseldorf, wo diese Anschläge passiert sind, und ich
hoffe, Sie geben mir die Möglichkeit, dazu etwas zu sagen.
({1})
Düsseldorf ist innerhalb kurzer Zeit zum zweiten Mal
Ort eines Anschlags geworden, bei dem Personen jüdischen Glaubens bzw. ihre Einrichtungen getroffen wurden. Die Anschläge auf Synagogen, Gedenkstätten und
jüdische Friedhöfe gehen, wie wir wissen, erschreckenderweise weiter.
Es war einer engagierten Bürgerin zu verdanken, die in
der Nacht die Molotowcocktails ausgetreten hat, dass an
der Düsseldorfer Synagoge allein Sachschaden entstanden ist. Doch dieser Sachschaden bedeutet weitaus mehr.
Diese Anschläge sind Anschläge auf unsere Demokratie
und auf das Miteinander in unserer Gesellschaft.
({2})
Es ist deshalb an der Zeit, deutliche Zeichen zu setzen.
Die Bundesregierung hat das auch getan. Ich danke unserem Bundeskanzler Gerhard Schröder ausdrücklich dafür,
({3})
dass er direkt am Tag nach dem Anschlag zusammen mit
Bundesinnenminister Schily, dem Ministerpräsidenten
und dem Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen
nach Düsseldorf gekommen ist.
({4})
Das sofortige Erscheinen an dem Ort dieses Anschlags
war deshalb ein wichtiges Zeichen, weil es zeigt, dass sich
der Staat schützend auf die Seite der jüdischen Gemeinden und auf die Seite der potenziellen Opfer dieses Anschlages stellt.
Als ich erst vor kurzem in den Deutschen Bundestag
nachgerückt bin, habe ich nicht gedacht, dass ich meine
erste Rede zu einem so schrecklichen Anlass halten
werde. In meiner beruflichen Tätigkeit vor dem Einzug in
den Bundestag habe ich oft mit der jüdischen Gemeinde
in Düsseldorf zusammengearbeitet und viele Mitglieder
persönlich kennen gelernt: alte Menschen, die Verfolgung
und Konzentrationslager, Flucht in buchstäblich letzter
Minute und die Ermordung ihrer Familien überlebt haben
und die dennoch nach Deutschland zurückgekommen
sind, um in Deutschland - und in diesem Fall in Düsseldorf - zu leben. Davor habe ich den allergrößten Respekt.
({5})
Ich habe junge Jüdinnen und Juden, die in Deutschland
geboren sind und hier leben, und auch einige, die aus der
ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen
sind, kennen gelernt. Allein die Düsseldorfer Gemeinde,
die heute die drittgrößte in der Bundesrepublik ist, ist von
etwa 1 500 Mitgliedern im Jahre 1989 auf heute über
6 000 Mitglieder angewachsen. Das sind erstmals wieder
mehr Mitglieder als vor dem Holocaust. Das heißt, jüdische Gemeinden in Deutschland haben wieder eine Zukunft und eine Heimat und das soll auch so bleiben.
({6})
Gerade weil das so ist, müssen wir unsere Anstrengungen verstärken, um die Ursachen antisemitischen, rassistischen und fremdenfeindlichen Gedankenguts einzudämmen. Wir brauchen unmissverständliche und eindeutige
Signale, damit die Mitglieder jüdischer Gemeinden nicht
weiter verunsichert werden.
Ich denke, es ist auch unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker, dafür zu sorgen, dass die Schutzmauern
um die jüdischen Kindergärten nicht noch höher werden
müssen. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass jüdische Jugendliche ohne Angst in Jugendzentren gehen
können, dass dort jüdische und nicht jüdische Jugendliche
gemeinsam ihre Freizeit verbringen können. Denn die Erfahrung zeigt: Begegnung ist der beste Ansatz gegen Rassismus und Minderheitenfeindlichkeit. Schule und politische Bildung spielen hier eine Schlüsselrolle. Demokratie
und Beteiligung setzen informierte Menschen voraus.
Dies hilft gegen dumpfen Hass und Vorurteile.
({7})
Gerade für mich als eine Vertreterin der jüngeren Generation ist es wichtig, den jüdischen Gemeinden Solidarität und Unterstützung auszusprechen und ihnen deutlich zu sagen, dass wir uns freuen, dass jüdische
Gemeinden in Deutschland wieder wachsen und aktiv
sind. Seien Sie versichert, dass wir nicht hinnehmen wollen und werden, dass jüdische Bürgerinnen und Bürger in
Deutschland bedroht werden.
({8})
Wir wollen, dass Juden in Deutschland leben und hier
bleiben wollen. Sie sind Teil der Gesellschaft.
Wir sollten daran arbeiten, dass deutsche Bürgerinnen
und Bürger jüdischen Glaubens - wie sie sich selbst definieren, nicht etwa als Juden in Deutschland oder als
Mitbürger - zur Normalität gehören. Wir sollten daran
arbeiten, dass junge Leute erleben, wie Menschen
verschiedener Religionen, Herkunft oder Hautfarbe friedlich miteinander leben.
Als ich in den Tagen nach dem Anschlag mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf gesprochen
habe, habe ich erfahren, dass die Erwartung groß ist, dass
weitere Taten gegen den Rechtsextremismus auf allen
Ebenen folgen: auf der Ebene der Politik, der Justiz, des
Engagements von Nachbarn, der Jugendarbeit, aber auch
im Bereich der neuen Formen des Rechtsextremismus im
Internet.
Lassen Sie mich dazu noch einen Aspekt nennen - wir
werden das hier ja noch häufiger beraten -: Rechtsextremismus ist kein Problem, das sich allein auf Ostdeutschland oder auf Jugendliche abschieben ließe. Die Anführer
sitzen oft im Westen und sind nicht mehr jugendlich. Gerade deshalb müssen wir deutlich machen, dass die
Rechtsextremen und ihre Argumente nicht hoffähig gemacht werden dürfen.
({9})
Es darf nicht noch einmal passieren, dass zum Beispiel
im Rat der Stadt Düsseldorf eine Mehrheit mit der Stimme
des Ratsherrn der so genannten Republikaner zustande
kommt. Man kann auch nicht gleichzeitig Ausländerfeindlichkeit beklagen, aber die Abwehr von Ausländern
zum Wahlkampfthema erheben.
({10})
Rassistische Gewalttäter dürfen keine Stichworte bekommen; denn das sind die Anfänge. Wir dürfen nicht
wegschauen. Wir müssen handeln.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Dies war die erste
Rede der Kollegin Kerstin Griese. Dazu meine herzliche
Gratulation.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4245 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 und den Zusatzpunkt 5 auf:
3. Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Renten
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
- Drucksache 14/4230 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({1})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
ZP 5 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Versorgungsabschläge
- Drucksache 14/4231 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesminister Walter Riester das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben im letzten Jahr zwei wichtige
Entscheidungen zur Sicherung der Renten umgesetzt. Wir
haben als Erstes die Rentenversicherung von versicherungsfremden Leistungen finanziell entlastet. Das war
ganz wichtig. Wir haben als Zweites sichergestellt, dass
die vom Gesetzgeber vorgesehene Rücklage in der Rentenversicherung um 8,4 Milliarden DM aufgestockt
wurde und damit erstmals seit 1994 die Mindestreserve in
der Rentenversicherung wieder vorhanden ist.
({0})
Wir treten heute in die erste inhaltliche Diskussion zur
Rentenreform, zur Reform unserer Alterssicherungssysteme und damit zum größten Reformprojekt der Sozialversicherung dieser Legislaturperiode ein. Wenn wir dieses Reformprojekt abgeschlossen haben, dann - da bin ich
mir sicher - wird die Alterssicherung zukunftssicher, sozial und bezahlbar sein.
({1})
Wir wählen den Einstieg bewusst für die Menschen,
die leistungsgemindert sind, die nicht in der Lage sind,
ihren Beruf auszuüben, die voll erwerbs- oder teilerwerbsgemindert sind und die schwerbehindert sind; denn
sie haben als Erste Anspruch darauf, zu wissen, wie ihre
soziale Sicherung gestaltet wird. Bei den Schwerbehinderten und bei den Erwerbsgeminderten geht es allerdings
nicht nur um Rentenfragen. Deswegen werden wir auch
die Frage des Arbeitsmarktes parallel dazu für diese Menschen besser berücksichtigen.
Ich komme zuerst zu den Menschen, die aufgrund ihrer Leistungseinschränkungen teilweise oder ganz erwerbsgemindert sind. Menschen, die aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen nur noch weniger als drei
Stunden arbeiten können, erhalten nach diesem Gesetz
eine volle Erwerbsminderungsrente. Für die Menschen,
die aufgrund von Leistungsminderungen nur noch weniger als sechs Stunden erwerbstätig sein können, wird ergänzend zum Einkommen eine halbe Erwerbsminderungsrente gezahlt.
Was sehr wichtig ist: Wir berücksichtigen die tatsächliche Situation am Arbeitsplatz. Heute ist es für viele dieser Menschen kaum möglich, bei Arbeitslosigkeit einen
Arbeitsplatz zu finden, auf dem sie ihr Restleistungsvermögen unterbringen können. Teilzeitarbeitsplätze sind
Mangelware. Teilzeitarbeitsplätze für Erwerbsgeminderte
sind kaum zu bekommen. Deswegen kündige ich, bevor
ich auf die Rentenfrage eingehe an, dass wir demnächst
eine breite Initiative zur Ausweitung von Teilzeitmöglichkeiten im Bundestag anstoßen werden. Wir wollen einen
Rechtsanspruch für Menschen durchsetzen, eine Beschäftigung auch in Teilzeitarbeit auszuüben.
({2})
Bei aller notwendigen Disku ssion über die Gestaltung
unserer Alterssicherungssysteme und des Rentenversicherungssystems: Die Problemlage ist breiter angelegt,
sie bezieht sich nicht nur auf die Rentenversicherung.
Entscheidend und neu ist aber: Wir wollen auf die
Menschen, die zwischen drei und sechs Stunden erwerbsfähig, aber arbeitslos sind, nicht die Bürde des Arbeitsmarktes abladen. Deswegen werden diese Menschen auch
zukünftig eine volle Erwerbsminderungsrente erhalten.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert, PDSFraktion?
Ja.
Herr Minister, vielen Dank,
dass Sie mir die Frage gestatten. Ihre Ausführungen betreffen genau das, was ich gerne wissen möchte. Können
Sie garantieren, dass Menschen, die erwerbsgemindert
sind und nach medizinischen Gesichtspunkten - das finde
ich nicht so gut, aber na gut - noch bis zu sechs Stunden
arbeiten können, solange sie keinen Arbeitsplatz haben,
die volle Erwerbsminderungsrente bekommen?
Ich war gerade bei diesem Punkt, Herr
Seifert. Die Menschen, die sich in der von Ihnen beschriebenen Situation befinden, bekommen die volle Erwerbsminderungsrente. Die finanziellen Lasten möchten
wir natürlich nicht bei der Rentenversicherung abladen.
Deswegen der zweite Schritt: Die arbeitsmarktbedingten
Mehrkosten der Rentenversicherung werden von der
Bundesanstalt für Arbeit erstattet. Wir möchten die Lasten
also nicht bei den Menschen abladen, sondern einen Lastenausgleich zwischen den Institutionen vornehmen.
Der sozialdemokratische Ansatz ist eine Erwerbsminderungsrente, welche die konkrete Situation am Arbeitsmarkt berücksichtigt.
Ich komme nun zur Frage der Schwerbehinderten.
Für viele schwerbehinderte, erwerbs- und berufsunfähige
Menschen ist es eine wichtige Botschaft, dass derjenige,
der mit Verabschiedung dieses Gesetzes das 50. Lebensjahr erreicht hat und bereits schwerbehindert ist, auch
zukünftig mit 60 Jahren seine Altersrente ohne Rentenabschläge bekommen wird. Das ist für viele Menschen, die
Präsident Wolfgang Thierse
darum Sorge hatten, eine ganz wichtige und sehr gute Botschaft.
Für die jüngeren Schwerbehinderten wird die Altersgrenze für eine abschlagsfreie Rente auf 63 Jahre angehoben. Gleichwohl wollen wir mit diesem Gesetz sicherstellen, dass Rentenabschläge höchstens bis zu drei Jahren
- mit 0,3 Prozent pro Monat - erfolgen. Wir werden mit
dem Gesetz für die Frühinvaliden ebenfalls sicherstellen,
dass die Jahre zwischen 55 und 60 so gewertet werden, als
wären die Menschen in Arbeit gewesen. Es ist ganz wichtig, dass auch in jungen Jahren vom Schicksal der Invalidität getroffene Menschen anschließend nicht mit unzumutbaren Rentenabschlägen belastet werden.
({0})
Aber auch dies ist nicht nur ein Problem der Rentenversicherung. Wir haben deswegen in diesem Jahr ein Gesetz verabschiedet und in vielen Gesprächen mit der deutschen Wirtschaft, mit den Behindertenverbänden und den
Gewerkschaften eine Vereinbarung getroffen, die zum
Ziel hat, in zwei Jahren in der deutschen Wirtschaft
50 000 zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten für
Schwerbehinderte zu eröffnen.
({1})
Wir haben zurzeit 178 000 arbeitslose schwerbehinderte Menschen. Diesen schwerbehinderten Menschen
müssen vorrangig am ersten Arbeitsmarkt Beschäftigung,
Arbeit, Erwerbstätigkeit ermöglicht werden. Wenn das
nicht gelingt, muss über das Rentenrecht sichergestellt
werden, dass ein Vertrauensschutz für die jetzt 50-jährigen und Älteren besteht und die anderen eine Rente bekommen, die eben nicht harte Einschnitte mit sich bringt.
({2})
Ein weiterer Punkt ist der Berufsschutz im Rentenrecht. Es ist natürlich richtig, dass der Berufsschutz im
Rentenrecht Probleme aufwirft, wenn er von Nichtfachkräften finanziert werden muss. Ich halte es aber für
falsch, wenn dieser Berufsschutz und damit die Berufsunfähigkeitsrente fallbeilartig ausgesetzt wird. Aus diesem Grund werden wir sicherstellen, dass 40-jährige und
Ältere auch weiterhin einen Berufsschutz haben und damit eine Berufsunfähigkeitsrente erhalten können.
Das sind die drei großen Komplexe, die wir für Berufsund Erwerbsunfähige und für Schwerbehinderte regeln.
Das ist der von uns gewählte Einstieg in eine Rentenreform, die vom Menschen ausgeht.
Wir möchten nicht nur abstrakt sicherstellen, dass die
Alterssicherung zukunftssicher, sozial und bezahlbar ist.
Wir wollen die Alterssicherung an die konkreten Lebenslagen der Menschen anlehnen. Das bedeutet, dass wir die
Situation der jetzigen Rentner und rentennahe Jahrgänge
bei der Rentenreform insofern berücksichtigen, als ihr
Rentenniveau stabil bleibt. Das bedeutet, dass wir den
Jüngeren, auch denjenigen, die geringe oder mittlere Verdienste haben, insbesondere aber denjenigen, die Kinder
haben, die Chance geben, eine ergänzende Altersversorgung aufzubauen. Es ist vorgesehen, ihnen dafür über Zulagen erhebliche Mittel zur Verfügung zu stellen. Sie werden - voll ausgeschöpft - pro Person einen Grundbetrag
von 300 DM, für Verheiratete insgesamt 600 DM und zusätzlich pro Kind 360 DM umfassen. Das ist ein hervorragendes Vermögensprogramm zur Altersvorsorge, das
die Menschen mit den kleinen und mittleren Einkommen
sowie Familien mit Kindern vorrangig berücksichtigt und
sie erstmals in die Lage versetzt, eine ergänzende Altersvorsorge zu betreiben.
({3})
Damit schließt sich der Kreis der Altersvorsorge zu einer
Gesamtversorgung, von der wir davon ausgehen können,
dass sie bei normalen Erwerbsverläufen zu einer den Lebensstandard sichernden Altersvorsorge führt.
Nächster Punkt: Wir gehen bei der Rentenreform von
den Menschen aus und berücksichtigen, dass die Menschen in zunehmendem Maße ihre Erwerbstätigkeit durch
Phasen von Nicht- oder Teilzeitbeschäftigung unterbrechen, was sich rentenmindernd auswirkt. Das betrifft vor
allem Frauen. Deswegen wollen wir zukünftig sicherstellen, dass nicht nur die Zeiten der Kindererziehung in der
Rentenversicherung voll gewertet werden, sondern dass
bei der Verbindung von Kinderbetreuung und Erwerbstätigkeit in den ersten zehn Lebensjahren des Kindes die
Erwerbstätigkeit rentenrechtlich um rund 50 Prozent
höher gewertet wird, und zwar bis zum Durchschnittsverdienst des jeweiligen Jahres. Das ist eine ganz deutliche
rentenrechtliche Verbesserung der Situation derer, die
Kindererziehung mit Erwerbstätigkeit verbinden.
({4})
Es gibt aber auch Situationen, in denen Kindererziehung nicht immer mit einer Erwerbstätigkeit verbunden
werden kann. Das gilt insbesondere für diejenigen, die
zwei oder mehr Kinder erziehen, sowie für diejenigen, die
behinderte Kinder erziehen. Deswegen werden wir vorsehen, dass bei denjenigen, die zwei oder mehr Kinder erziehen und deswegen eine Erwerbstätigkeit nicht ausüben
können, die im Prinzip gleiche rentenrechtliche Höherbewertung erfolgt. Bei denjenigen, die die schwierige Aufgabe der Betreuung und Erziehung behinderter Kinder
übernehmen, werden wir die Zeiten bis zum 18. Lebensjahr des jeweiligen Kindes rentenrechtlich höher bewerten.
({5})
Das sind Ansätze einer Rentenreform, die von der Situation des Menschen ausgeht, die den zunehmenden Unterbrechungen im Arbeitsleben gerecht wird und die insbesondere das würdigt, was Menschen durch die
Erziehung von Kindern sowie die Unterstützung und Erziehung behinderter Kinder leisten. Wir wollen aber auch
berücksichtigen, dass es vielen jungen Menschen bei Beginn ihrer Erwerbstätigkeit aus unterschiedlichen Gründen nicht möglich war, frühzeitig eine rentenversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit aufzunehmen. DesBundesminister Walter Riester
wegen werden wir diese Zeiten entsprechend berücksichtigen und sie so in den späteren Rentenanspruch einrechnen. Wir machen also heute den Einstieg bei der Rentenreform für Menschen, die aufgrund ihrer Leistungseinschränkungen ihren Beruf nicht mehr ausüben können,
die teilweise oder voll erwerbsgemindert sind, sowie für
schwerbehinderte Menschen. Wir werden für sie das Rentenrecht so gestalten, dass ihre konkrete Situation und ihre
Möglichkeiten am Arbeitsmarkt berücksichtigt werden,
dass aber gleichzeitig eine Verschiebung der Lasten von
der Bundesanstalt für Arbeit zur Rentenversicherung
nicht erfolgt. Das ist ein Ansatz, der die Bedürfnisse der
Menschen aufnimmt und ihnen gerecht wird, gleichzeitig
aber auch stabile Verhältnisse in der Rentenversicherung
ermöglicht.
Ich denke, der Einstieg in diesen Bereich eignet sich in
besonderem Maße zu einem parteiübergreifenden Konsens. Ich würde mich sehr freuen, wenn dieser Einstieg
auch als ein unstrittiger Einstieg für Menschen, die unserer Unterstützung in besonderem Maße bedürfen, erfolgte. Ich möchte die Opposition gerne einladen, diesem
Gesetz zuzustimmen.
Ich bedanke mich.
({6})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Karl-Josef Laumann, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute Morgen den Regierungsentwurf zur Neuregelung der Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten. Wir sind damit, so
finde ich, an einem sehr sensiblen Punkt der Rentenversicherung; denn in dem Bereich geht es darum, Menschen
vor unabwägbaren Lebensschicksalen zu schützen, auf
die keiner von uns einen Einfluss hat. Deswegen ist es
richtig, dass eine solche Debatte an der Sache orientiert
geführt wird. Sie eignet sich überhaupt nicht dazu, dass
von verantwortungsbewussten Politikern Angst geschürt
wird.
({0})
Aber klatschen Sie von der SPD nicht zu früh! Alles hat
eine Geschichte.
Der Regierungsvorschlag, den Herr Riester gerade vorgestellt hat, fußt natürlich in ganz wesentlichen Teilen auf
der blümschen Rentenreform.
({1})
Deswegen gibt es auch viele Punkte, denen wir zustimmen werden. Aber ich kann nicht verstehen, dass wir
Christdemokraten im Jahre 1998 von der SPD fast gelyncht worden sind,
({2})
weil wir das Alter, ab dem man als Schwerbehinderter in
Rente gehen kann, von 60 auf 63 Jahre angehoben haben.
Sie haben damals in der Debatte draußen beim VDR und
in vielen Versammlungen Angst geschürt. Jetzt schlagen
Sie es selber vor.
({3})
Ich kann nur sagen: Die SPD ist in der Wirklichkeit angekommen. Gut so!
Nächster Punkt. Wir haben damals vorgeschlagen, eine
Teilerwerbsminderungsrente einzuführen; ich nenne dazu
die Zahlen drei und sechs Stunden. Diese Zahlen finde ich
jetzt im riesterschen Entwurf wieder.
({4})
Damals haben Sie gesagt, es müssten vier und sieben
Stunden sein, alles andere sei nicht akzeptabel. Auch da
haben Sie Angst geschürt und haben dieses Thema im
Wahlkampf in unverantwortlicher Weise gegen die damalige Regierung und die damalige Sozialpolitik instrumentalisiert.
({5})
Natürlich gebe ich zu, dass Sie mit der Einführung
der arbeitsmarktbedingten Erwerbsminderungsrente
oder mit der Beibehaltung der konkreten Betrachtungsweise eine richtige Entscheidung treffen. Sie ist im
jetzigen Arbeitsmarkt gerade für Gehandicapte unabdingbar notwendig.
({6})
Deswegen sage ich Ihnen zu, dass wir dieses Gesetz sowohl in der Anhörung am kommenden Freitag wie auch
in den weiteren Ausschussberatungen konstruktiv begleiten werden. Ich kann mir auch vorstellen, dass wir in
dieser Frage der Politik auch im Deutschen Bundestag
zwischen CDU/CSU und SPD einen Konsens erzielen
können.
Man sollte daraus aber nicht sofort auf die ganze Rentenreform schließen. In anderen Bereichen gibt es nach
wie vor große Unterschiede. Herr Riester, wenn Sie eine
Rentenreform im Gesamtpaket mit den Stimmen der
CDU/CSU verabschieden wollen, werden Sie nicht umhinkommen, von Ihren jetzigen Anpassungsfaktoren Abstand zu nehmen.
({7})
Ich kann dazu nur Herrn Ruland zitieren, der gesagt hat:
„Er gleicht nichts aus, er kürzt.“
Im Übrigen ist ein Bestandteil Ihrer Rentenpolitik in
den zwei Jahren, in denen Sie die Verantwortung getragen
haben, dass vieles nicht systematisch ist. Sie nehmen irgendwo Zahlen her und passen danach dann etwas an.
({8})
Zwei Millionen Einsprüche gegen die Rentenanpassung
in diesem Jahr sind der schlagende Beweis dafür, dass
auch der letzte Rentner im Land gemerkt hat, dass die
Rentenerhöhung in diesem Jahr mit Systematik, mit
begründbaren Grundregeln und mit klaren, verlässlichen
Spielregeln nun gar nichts zu tun gehabt hat.
({9})
Wenn wir eine neue Rentenformel für die Rentenanpassung einführen wollen, dann müssen wir darauf achten, dass sie nachvollziehbar ist. Es darf keine aus der Luft
gegriffene Zahl wie 0,3 Prozent sein.
({10})
Wir müssen auch an die Generationengerechtigkeit
denken, also daran, dass die Lasten nicht nur von den in
die Rentenversicherung Einzahlenden getragen werden
können. Wenn die Lasten auf mehrere verteilt werden,
dann hätte das den Vorteil, dass die Abschläge niedriger
ausfallen und dass das Rentenniveau am Ende sogar höher
wäre.
Damit bin ich bei einem weiteren Punkt angekommen,
der für eine Rentenreform, über die im Parlament im Konsens entschieden werden soll, auch wichtig ist. Stellt euch
vor: Wir haben im Parlament Konsens, aber in der Gesellschaft gibt es keinen Konsens. Das würden wir alle
nicht aushalten! Deswegen mache ich mir Sorgen, wenn
die Regierung - wie in jüngster Zeit - mit vielen konstruktiven Vorschlägen unsensibel umgeht.
Zur riesterschen Rentenpolitik gehört auch die Entscheidung, dass Arbeitslosenhilfebezieher Beiträge zur
Arbeitslosenversicherung und zur Rentenversicherung
leisten müssen. Dadurch wird in Zukunft Altersarmut produziert.
({11})
- Als Kommunalpolitiker muss ich Ihnen, Herr Dreßen,
sagen: Mit der Grundsicherung, durch die Sie den Bundeshaushalt entlasten, verschieben Sie die Lasten der Altersarmut in die Kassen der Kommunen, mit denen diese
15 Jahre später fertig werden müssen.
({12})
Darüber sollten Sie einmal mit Ihren Gemeinderäten sprechen. Die Gemeinden sind nicht in der Lage, wieder ein
neues, allgemeines Risiko zu übernehmen. Deswegen
werden wir auch über diese Frage miteinander reden müssen, wenn wir in der Rentenpolitik einen Konsens erzielen wollen.
Zum Schluss möchte ich auf die Frage der Berufs- und
Erwerbsunfähigkeitsrenten zurückkommen. Ich wünsche
mir, dass auch die Kolleginnen und Kollegen des Hohen
Hauses die Anhörungen und die Beratungen im Ausschuss verfolgen, die immer meinen, die Rentenversicherung sei etwas Altmodisches und alles, was mit der
Privatversicherung zu tun hat, sei etwas Gutes. Ich bin
mir ganz sicher, dass die Debatte, die wir in den nächsten
Wochen über diesen Punkt der Reform führen werden,
und dass der große Sachverstand, den wir dazu befragen
werden, klar zutage fördern werden, dass es zur Absicherung breiter Schichten eines Volkes gegen große Risiken
und zu einer solidarischen, umlagefinanzierten Sozialversicherung keine Alternative gibt.
({13})
Ich bin gespannt, wie sich die Lebensversicherer sowie
die Vertreter der Banken, der Investmentfonds und der
Kapitalfonds in dieser Debatte einlassen werden, zu welchen Konditionen sie bereit sind, EU- und BU-Probleme
abzusichern. Ich freue mich auch auf diese Debatte, weil
ich zu den Politikern in diesem Hause gehöre, die zutiefst
davon überzeugt sind, dass die deutsche Sozialversicherung nichts Altmodisches ist und dass sie dem Grundgedanken der Solidarität folgen muss, auf den auch noch, so
hoffe ich, meine Kinder in ihrem Leben vertrauen können.
Ich lade vor allen Dingen die so genannten Ordnungspolitiker ein, die Debatte, die wir in den nächsten
zwei Wochen unter Fachleuten führen werden, einmal in
Ruhe zu verfolgen.
Schönen Dank.
({14})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Katrin Göring-Eckardt, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir steigen
mit der heutigen Diskussion über die Reform der Erwerbsunfähigkeitsrenten in die Debatte über die große Rentenreform ein. Wir tun das sicherlich - das wurde schon gesagt - mit sehr viel Konsens und wenig Verunsicherung.
Ich finde, wir sollten die alten Schlachten, für die ich
durchaus Verständnis gehabt habe, geschlagen sein lassen
und in dieser Debatte damit beginnen, gemeinsam über
das zu reden, was wir wirklich wollen. Wir sollten nicht
mehr über das reden, was irgendwann einmal gewesen ist.
Ich möchte zwar nicht das wiederholen, was hier schon
inhaltlich zu den Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten
gesagt worden ist. Aber ich möchte zwei Dinge herausgreifen, die uns besonders wichtig sind:
Der eine Punkt bezieht sich auf die Frage der Einbeziehung der Arbeitsmarktlage. Hier gab es vielleicht nur
einen Dissens. Solange die Arbeitsmarktlage nicht so ist,
wie wir uns das alle wünschen, können wir denjenigen, die für ihre Situation nichts können - Herr
Laumann hat es gerade erwähnt - und die sich auf diese
Situation nicht vorbereiten konnten, nicht zumuten, einer
verminderten Versorgung ausgesetzt zu sein. Wir finden
es daher besonders wichtig, dass die Arbeitsmarktlage
berücksichtigt wird.
Der andere Punkt, den ich ansprechen möchte, bezieht
sich auf die Berufsunfähigkeitsrente, die wir in dieser
Form nicht mehr weiterführen wollen. Aus unserer Sicht
waren dies Prestigerenten, die besonders Akademiker und
Akademikerinnen bevorteilt haben. Ich finde es richtig,
dass die Erwerbsunfähigkeitsrente besteht; das hat auch
der Bundesrechnungshof gesagt. Es kann aber im solidaKarl-Josef Laumann
rischen System nicht weiter für jemanden gesorgt werden,
der berufsunfähig wird.
Ich möchte einen letzten Punkt ansprechen, der ganz
zentraler Bestandteil dieser Debatte ist. Wir müssen uns
darüber verständigen, was das eigentlich kostet. Wenn
wir heute eine Reform diskutieren wollen, die 0,1 oder
0,2 Beitragspunkte ausmacht, dann müssen wir das in
dem Gesamtkonzept der Rentenreform berücksichtigen,
weil wir es nicht hinnehmen können - das ist der erklärte
Wille der Regierung und ihrer Koalition -, dass wir im
Vorfeld Dinge beschließen, die wir nicht bezahlen können. Deswegen geht dieser Teil der Reform auch hinsichtlich der Kosten in die Gesamtreform ein.
({0})
Herr Laumann, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich
möchte noch einmal auf drei Punkte eingehen, die wir in
Bezug auf die Reform diskutieren wollen.
Der erste Punkt betrifft die Frage der Generationengerechtigkeit. Ich sehe ein, dass wir ein System gefunden
haben - das war sicherlich nicht leicht -, das auf den ersten Blick so aussieht, als würden alle gleich behandelt.
Aber die Belastungen, die zum einen durch die Demographie und zum anderen durch andere Lebensrealitäten entstanden sind, sind nicht gleich. Deswegen haben wir gesagt: Wir schaffen einen so genannten doppelten
Generationenfaktor. Dies bedeutet, dass jede Generation
nach ihren Möglichkeiten zu dieser Reform beiträgt. Was
sind diese Möglichkeiten? Die heute Älteren tragen dazu
über die modifizierte Nettoanpassung bei. Ich glaube, das
ist gerechtfertigt. Etwas Ähnliches hatten Sie mit dem demographischen Faktor vorgeschlagen.
({1})
- Das ist überhaupt nicht willkürlich. Wir legen hier etwas
sehr Reales zugrunde. Von der Union habe ich gehört,
dass sie der Meinung ist, dass wir eine private oder betriebliche Zusatzvorsorge brauchen; bei Ihnen hat es sich
eben etwas anders angehört. Das bedeutet, dass das Geld,
das die Leute für diese Vorsorge benötigen, ihnen netto
nicht zur Verfügung steht. Deswegen ist es richtig zu sagen, dass das bei der Rentenanpassung nicht berücksichtigt wird. Das ist der Beitrag der älteren Generation und er
ist bei weitem nicht geringer als der Beitrag der jungen
Generation. Eine Reform einseitig zulasten der jüngeren
Generation wäre mit uns, Bündnis 90/Die Grünen, nicht
zu machen gewesen.
Lassen Sie mich etwas zum Beitrag der jüngeren Generation sagen. Die jüngere Generation hat über einen
Ausgleichsfaktor, einen Generationenfaktor, ein sinkendes Rentenniveau in der gesetzlichen Rentenversicherung
hinzunehmen. Auch das finde ich richtig, weil es möglich
ist, private Vorsorge zu treffen. Es ist aber nicht so - das
will ich in aller Klarheit sagen -, dass die Bundesregierung die private oder betriebliche Vorsorge einführt. Das
entspricht nicht der Realität. Was machen wir? Wir ermöglichen denjenigen, die es sich bis jetzt leisten konnten, weil sie zu geringe Einkommen haben, zusätzlich
eine private Vorsorge zu treffen. Das ist gerade für die Bezieher niedriger Einkommen auch nur gerecht.
({2})
Lassen Sie mich nun etwas zur Belastung sagen: Wir
können die Beiträge für die gesetzliche Rentenversicherung nicht in die Höhe schnellen lassen. Wir haben uns
hinsichtlich der Beiträge festgelegt, übrigens fast gemeinsam, denn die 20 und 22 Prozent, die in Rede stehen, werden, soweit ich sehe, von Ihnen nicht grundsätzlich bestritten.
Was kommt dann an zusätzlicher Belastung? Zunächst
kommt eine zusätzliche Belastung für die private Vorsorge, die wir einführen wollen. Wir wollen sie nicht erzwingen, aber wir empfehlen sie. Diese zusätzliche Belastung beträgt allerdings nicht 4 Prozent. 4 Prozent sind
das, was für jeden angelegt werden soll. Durch die staatlichen Hilfen, die Steuererleichterungen oder direkten Zuschüsse, geben wir Erhebliches hinzu. Das heißt, der oder
die Einzelne muss nicht 4 Prozent beitragen, sondern weniger. Wer ein geringes Einkommen bezieht, muss beispielsweise nur 1 Prozent beitragen. Das ist ein richtig
gutes Angebot und ermöglicht den Menschen mit geringem Einkommen, in eine Zusatzvorsorge einzuzahlen heute können es viele noch nicht -, sodass ihr Lebensstandard im Alter gesichert ist. Das ist das Entscheidende,
das wir wollen.
({3})
Nun noch zur Frage des sozialen Ausgleichs: Sie haben die Hinterbliebenenversorgung angesprochen und dabei auf die Frage der Kinder abgehoben. Mit unserer Reform sind wir sehr differenziert auf die neuen
Lebensrealitäten von Familien eingegangen, indem wir
Menschen, die Kinder erziehen, in der Rentenversicherung besonders unterstützen. Deswegen werten wir die
Rentenbeiträge aus Teilzeitarbeit bei Kindererziehung
auf, deswegen machen wir etwas bei den Kindererziehungszeiten und deswegen haben wir die Steuererleichterungen und Zuschüsse für die private Vorsorge stark an
die Kindererziehung gekoppelt. Sie von der CDU/CSU
haben das auch gewollt; ich glaube, wir sind uns hier inhaltlich sehr nahe gekommen. Wenn wir der Auffassung
sind, dass die Erziehung von Kindern für die gesamte Gesellschaft wichtig ist, dann muss sich das natürlich in einem Sozialversicherungssystem widerspiegeln. Wir haben das in einer Art und Weise gemacht, die der Realität
entspricht, dass Frauen heute berufstätig sind und Kinder
haben.
Des Weiteren ändert sich für diejenigen nichts, die
heute kurz vor der Rente stehen oder in Rente sind und auf
Hinterbliebenenversorgung angewiesen sind, weil ihre
Lebensrealität so aussah, dass sie vor allen Dingen Kinder erzogen und weniger im Beruf gearbeitet haben. Auch
das ist aus meiner Sicht gerechtfertigt.
Nun komme ich zur Frage der Altersarmut. Herr
Laumann, wenn Sie sich ansehen, wie im Rahmen dieser
Reform gerade die Verbindung von Familie und Beruf,
über die ich eben gesprochen habe, aufgewertet wird,
dann können Sie realistischerweise nicht mehr davon
sprechen, dass hier Altersarmut produziert werde.
({4})
- Nein, wird sie nicht, weil wir nämlich nicht mehr allein
auf Beitragsjahre setzen, sondern einen Ausgleich für Familienarbeit schaffen, der insbesondere Frauen zugute
kommen wird.
({5})
Daher ist aus meiner Sicht - das will ich hier klar sagen; in den Fachdiskussionen hören wir das auch immer
wieder - die ideologisierte Debatte um das Rentenniveau,
die ich aus historischen Gründen ja verstehen kann, heute
eine falsche Debatte.
({6})
- Damit haben wir keinen Wahlkampf geführt.
({7})
Hinsichtlich der verschämten Altersarmut wird Ihre
Einlassung aus der Sicht eines Kommunalpolitikers den
Menschen nicht gerecht.
({8})
Man darf hier nicht nur die Kasse der Kommunen, sondern muss auch die Menschen sehen, die nicht in Anspruch nehmen, was ihnen zusteht. Ich finde es richtig,
dass alte Menschen unabhängig vom Geldbeutel ihrer
Kinder das Recht auf eine Versorgung haben, die ihnen
ein menschenwürdiges Leben ermöglicht.
({9})
Daher kann ich Sie nur herzlich bitten, diese Frage noch
einmal zu überdenken. Es geht ja nicht darum, dass diese
Menschen mehr als etwa Familien bekommen sollen, die
von Sozialhilfe abhängen. Aber es muss Schluss damit
sein, dass sich viele Menschen, insbesondere ältere
Frauen, nicht trauen, zum Sozialamt zu gehen.
({10})
Zum Schluss möchte ich auf die Frage des Konsenses
zurückkommen. Die Angelegenheit hat inzwischen eine
lange Geschichte. Wir hatten viele Verhandlungsrunden.
Manchmal frage ich mich schon, was eigentlich hinter Ihrer Strategie steht. Alle sagen immer wieder, der Konsens
sei richtig. Auch ich halte ihn nach wie vor für zentral. Ich
tue das nicht, weil es dann leichter wird, sondern weil die
Menschen das Vertrauen in die Politik brauchen, dass der
auf einen Zeitraum von 30 Jahren ausgerichtete Blick
ernst genommen und die gemeinsame Verabredung eingehalten wird.
Ich fordere Sie auf, in dieses Reformwerk zu schauen
und festzustellen, wie viel von dem, was Sie vorgeschlagen und unterstützt haben, in ihm enthalten ist. Sie werden verstehen, dass wir keine Rentenreform durchführen
werden, die nur aus solchen Punkten besteht, die für die
Union wichtig sind.
({11})
- Das finde ich gut. - Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir uns an sehr vielen Punkten einig sind und
dass wir Ihnen an sehr vielen Punkten entgegengekommen sind. Ziehen Sie dann bitte einen Schlussstrich. Zwar
kann man immer wieder neue Forderungen stellen und
sagen: „Wir möchten das noch ein bisschen anders gestalten“ - wir sind weiterhin zu Gesprächen bereit -, aber
wir sind grundsätzlich nicht dazu bereit, wieder so zu tun,
als ob man mit weniger Beiträgen mehr Rente erreichen
könnte; in der Diskussion tut man manchmal so, als ob das
möglich wäre.
Wir sind ausschließlich zu einer Rentenreform bereit,
die die Situation der verschiedenen Generationen nicht
nur berücksichtigt, sondern auch dafür sorgt, dass es eine
neue Gerechtigkeit zwischen den Generationen gibt.
Dazu gehören der Blick auf die 30 Jahre, die Beitragsstabilität, soweit sie angesichts der demographischen Entwicklung zu gewährleisten ist, und der soziale Ausgleich.
({12})
Ich bitte Sie: Ziehen Sie einen Schlussstrich und kommen Sie an den Verhandlungstisch! Führen Sie mit uns gemeinsam eine mutige und ehrliche Reform durch, mit der
in aller Klarheit die Realitäten zum Ausdruck gebracht
werden!
Vielen Dank.
({13})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht nun die Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der größte Teil dessen, womit sich die Redner heute beschäftigen, ist im
vorliegenden Gesetzentwurf gar nicht enthalten. Heute
geschieht in der Tat das, was wir mit den Rentenkonsensgesprächen eigentlich vermeiden wollten: eine Rentenreform als Stückwerk.
Dafür tragen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der CDU - das muss ich leider sagen -, nicht unerheblich
Verantwortung, weil Sie sich über Monate nicht einigen
konnten, was Sie eigentlich wollen sollten. Auch die Rede
von Herrn Laumann hat heute wieder klargemacht, dass
Sie bereit sind, ständig Forderungen - versetzt mit
gehöriger Polemik - nachzuschieben.
({0})
Wir können uns lange darüber unterhalten, wie Altersarmut zu definieren ist; aber über eines sollten wir uns
doch nun wirklich nicht mehr streiten: Das Ziel dessen,
was wir bisher diskutiert haben, ist, dass der Lebensstandard im Alter nicht mehr allein durch die gesetzliche
Rentenversicherung gedeckt wird, weil sie es nicht mehr
leisten kann; vielmehr muss durch den Aufbau einer privaten Altersvorsorge mit ausreichender Förderung durch
den Staat und durch die betriebliche Altersvorsorge ein
Betrag erwirtschaftet werden, durch den der Lebensstandard im Alter gesichert wird.
({1})
Wenn Sie sagen, dass das nicht geht, dann entgegne ich
Ihnen: Schon in den bisherigen Konsensgesprächen haben wir etwas anderes errechnet und außerdem werden
wir uns im weiteren Gesetzgebungsverfahren noch darüber unterhalten.
Herr Riester, auch Sie tragen ein bisschen die Verantwortung dafür, dass wir heute den Gesamtentwurf der
Rentenreform noch nicht debattieren können. Sie haben
sich offensichtlich etwas zu oft mit Herrn Seehofer unter
vier Augen unterhalten und das geglaubt, wovon er behauptet hat, dass er es in seiner Fraktion durchsetzen
könne. Das war anscheinend nicht der Fall. Merke also:
Wer parlamentarische Verfahren durch die Absprachen
zwischen zwei Verhandlungsführern ersetzen will, der erleidet Schiffbruch.
({2})
Nun wird uns der Hauptteil der Rentenreform frühestens im November vorliegen, da er noch nicht einmal vom
Kabinett beschlossen worden ist. Die Position der F.D.P.
für diesen Entwurf und für die weiteren Beratungen ist
ganz klar.
Der Beitragssatz, der von Ihnen, Herr Riester, vorgesehen ist - dagegen habe ich noch keinen Widerspruch der
CDU/CSU gehört -, ist für uns nicht akzeptabel, nämlich
insgesamt 26 Prozent im Jahre 2030:
({3})
22 Prozent in der gesetzlichen Rentenversicherung und
4 Prozent für die private Versicherung. Dies ist ein klarer
Verstoß gegen die Generationengerechtigkeit.
({4})
Wir werden im weiteren Gesetzgebungsverfahren versuchen, Sie davon zu überzeugen.
Wir wollen auch, dass wieder ein Demographiefaktor
eingeführt wird. Wir halten ihn nämlich für besser und gerechter als das, was jetzt vorgesehen ist.
({5})
Das können Sie nachlesen, das steht schon in vielen
von mir gehaltenen Reden. Außerdem wollen wir, dass
der Katalog von Anlagemöglichkeiten zur privaten Vorsorge erweitert wird.
({6})
Dieser ist derzeit viel zu eng gefasst. Auf jeden Fall muss
auch das selbst genutzte Eigenheim als Vorsorgemöglichkeit berücksichtigt werden.
({7})
Immerhin bietet ein selbst genutztes Eigenheim nach heutigen Werten eine Ersparnis von durchschnittlich 740 DM
monatlich an nicht zu zahlender Miete.
Heute aber, meine Damen und Herren, geht es um den
Entwurf des Gesetzes zur Reform der Renten wegen
verminderter Erwerbsfähigkeit. Damit dieser Teil am
1. Januar 2001 in Kraft treten kann, wird die F.D.P. an dem
Gesetzgebungsverfahren, bei dem uns die Regierung
unter sehr großen zeitlichen Druck setzt, konstruktiv mitarbeiten. Im Prinzip sind wir bereit, diesem Gesetz zuzustimmen, weil sowieso das meiste aus dem Rentenreformgesetz 1999, das die alte Koalition vorgelegt und
beschlossen hatte, übernommen worden ist. Da aber die
jetzt neu aufgenommenen Regelungen mehr Kosten bei
der Rentenversicherung verursachen, werden wir speziell
diese Aspekte im Gesetzgebungsverfahren noch einmal
prüfen müssen.
Lassen Sie mich festhalten, was aus dem alten Gesetz
übernommen worden ist:
Erstens das so genannte Stufenmodell: Es soll die bisher geltende Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrente durch
eine zweistufige Rente bei verminderter Erwerbsfähigkeit
ersetzt werden, nämlich volle Rente für Behinderte, die
ein Restleistungsvermögen von weniger als drei Arbeitsstunden pro Tag haben, und halbe Erwerbsunfähigkeitsrente bei einem Restleistungsvermögen von drei bis unter
sechs Stunden. Gleichzeitig entfällt die Rente für diejenigen, die noch mehr als sechs Stunden arbeiten können.
Zweitens ist der Rentenabschlag von maximal
10,8 Prozent bei vorzeitigem Rentenbezug übernommen
worden.
Drittens wurde die stufenweise Anhebung der abschlagsfreien Altersgrenze für Schwerbehinderte vom 60.
auf das 63. Lebensjahr übernommen.
Es ist schon richtig, dass Sie die Wahl 1998 in nicht
unerheblichem Maße durch Polemik gegen diese Regelungen gewonnen haben. Jetzt sind Sie in der Realität angekommen. Das begrüßen wir. Deswegen kann ich festhalten: Offensichtlich waren auch unsere damaligen
Überlegungen nicht völlig falsch.
Im Gesetzgebungsverfahren müssen wir noch zwei
Dinge prüfen, nämlich die Verschiebung der Lasten von
der Bundesanstalt für Arbeit auf die Rentenversicherung
und die Vertrauensschutzregelung.
Lassen Sie mich zum Schluss noch sagen, dass wir es
begrüßen, dass nur noch Selbstständige den Anspruch
auf eine volle Erwerbsminderungsrente erhalten.
({8})
Ich möchte auch noch den Hinweis anschließen, dass
es nun umso wichtiger wird, sich zu überlegen, wie man
sich anderweitig, als es bisher der Fall war, gegen das
Risiko der Berufsunfähigkeit absichern kann, um zum
Beispiel die eigene Familie zu schützen.
Ich danke Ihnen.
({9})
Ich gebe nunmehr
das Wort dem Kollegen Dr. Ilja Seifert für die PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf
der Tribüne! In Anbetracht der Tatsache, dass heute eigentlich nur die Erwerbsminderungsrente auf der
Tagesordnung steht - Frau Kollegin Schwaetzer wies
schon darauf hin -, muss man sagen, dass wir eine ziemlich breite Debatte über die Rentenreform haben. Leider
gibt es dazu im Parlament keine einzige Vorlage. Referentenentwürfe und sonstige Papiere schwirren zwar sozusagen in der Gegend herum,
({0})
aber es sind keine Vorlagen für das Parlament. Eines lässt
sich aber heute schon sagen: Die privaten Rentenversicherungsträger reiben sich bereits jetzt die Hände, weil
bei ihnen die Kassen klingeln. Frau Schwaetzer, Ihr letzter Werbeblock hat sicherlich dazu beigetragen.
({1})
Lassen Sie uns zu dem Thema zurückkommen, über
das wir heute reden wollen! Ich habe hier in der Debatte
aus der Rede des Ministers immerhin gelernt, dass die Regierung durchaus gewillt ist, bestimmte Aspekte eines
Leistungsgesetzes - sie nennt es nur nicht so - einzuführen. Wir finden es gut, dass sich, wie Sie sagen, die Institutionen, aber nicht die Menschen streiten sollen und
dass es leistungsrechtliche Dimensionen gibt.
Trotzdem müssen wir einmal Klartext reden und sagen,
worum es eigentlich geht. Sie versuchen, das Rentenreformgesetz der alten CDU/CSU- und F.D.P.-geführten
Regierung in einer leicht abgewandelten Form einzuführen. Deswegen wundert es mich nicht, dass die F.D.P.
zustimmen will.
Die einzige wirklich sichtbare Veränderung ist, dass
Sie eine konkrete Betrachtungsweise in Bezug auf die
theoretisch mögliche Arbeitszeit von drei bis sechs Stunden einführen wollen. Das heißt: Wenn man keine Arbeit
hat, bekommt man trotzdem die volle Erwerbsminderungsrente. Das ist sehr positiv - keine Frage. Aber was
ist denn mit denjenigen, die in Zukunft in diese Situation
kommen? Für diese Menschen wird es wesentlich schwieriger. Ihre konkrete Betrachtungsweise ist für die unter
40-Jährigen, für die es keinen Bestandschutz gibt, wesentlich weniger wirkungsvoll.
Sie schaffen die Berufsunfähigkeitsrente ab und Frau
Göring-Eckardt bemerkt dazu, dass das nur den Akademikern helfen würde. Wo, bitte schön, sind wir denn hingekommen, wenn erworbene Qualifikationen und erworbene Fähigkeiten in diesem Land der Facharbeiterinnen
und Facharbeiter nichts mehr wert sind? Wo kommen wir
denn da hin?
({2})
Wenn jemand - beispielsweise ein Bergarbeiter, ein
Bäcker oder eine hoch qualifizierte Sekretärin - einen Unfall hat, berufsunfähig wird und anschließend diesen Beruf nicht mehr ausüben kann: Wollen Sie allen Ernstes,
dass diese Menschen von vornherein zur Aufnahme einer
Tätigkeit mit geringerer Qualifikation gezwungen werden? Oder wollen Sie, dass diese Menschen in einem anderen Beruf eine Tätigkeit mit derselben Qualifikation
ausüben können? Die Menschen sind dazu fähig. Hemmen Sie sie also nicht, indem Sie ihnen die Möglichkeit
nehmen, gemäß ihrer Qualifikation beruflich tätig zu sein!
Besonders „originell“ ist Ihr Argument von der sozialen Symmetrie, die Sie einführen wollen, indem Sie das
Alter für den Eintritt in die Altersrente für schwerbehinderte Menschen von 60 auf 63 Jahre erhöhen. Was
soll denn das? Jeder, der sich im Lande ein bisschen umschaut, weiß, dass Frauen und Männer, die berufs- oder
erwerbsunfähig oder die - wenn man dieses Wort benutzen darf - Invalide sind, in einem wesentlich jüngeren Alter in Rente gehen, nämlich zwischen 51 und 53 Jahren.
Jetzt wollen Sie das Renteneintrittsalter mit dem Argument von der „sozialen Symmetrie“ erhöhen. Das ist
doch - Entschuldigung, dass ich dieses harte Wort benutzen muss - menschenverachtend; denn die soziale Symmetrie ist bei der Arbeitslosigkeit von Schwerbehinderten
auch nicht gegeben. Alle die Maßnahmen, die Sie, Herr
Minister, genannt haben und die dafür sorgen sollen, dass
Menschen mit Behinderung besser in Arbeit kommen,
müssen Sie durchführen, bevor Sie das Renteneintrittsalter erhöhen.
({3})
Momentan ist es so, dass die allgemeine Erwerbslosigkeit
bei etwa 10 Prozent liegt, die der schwerbehinderten Menschen bei 18 Prozent. Wo ist denn da soziale Symmetrie?
In diesem Fall kräht kein Hahn danach. Ich bitte Sie, solche Verschlechterungen für Menschen, die es im Leben
ohnehin etwas schwerer haben, zu vermeiden.
Als Letztes möchte ich sagen: Machen Sie Ihre Gesetze
transparenter und durchsichtiger! Ich möchte Ihnen ein
Beispiel nennen, das hanebüchener nicht sein kann. Eine
so genannte geistig behinderte Frau erhielt zu DDR-Zeiten ab dem 18. Lebensjahr eine Invalidenrente, die nach
1990 in eine Erwerbsunfähigkeitsrente umgewandelt
wurde. Sie bekam damals 681 DM. Anfang 1997 wurde
diese Rente, Bezug nehmend auf § 315 a SGB VI, auf
431,87 DM abgesenkt. Die Frau bekam natürlich keine
Unterstützung vom Sozialamt, weil ihr allein erziehender
Vater - ihre Mutter war inzwischen gestorben - ein kleines bisschen mehr Einkommen hatte, als es der Sozialhilfesatz zulässt.
Diese Familie war nun ganz verzweifelt und hat sich an
Hinz und Kunz gewandt, am Ende auch an mich. Es kann
doch nicht sein, dass erst ein Bundestagsabgeordneter an
den Präsidenten der BfA schreiben muss, damit dessen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter merken, dass diese Frau
sich mit einem Betrag von weniger als 3 000 DM hätte
nachversichern können! Nachdem sie das getan hat, steht
ihr nun eine Rente von über 1 000 DM zu.
Wenn es Gesetze gibt, die so undurchsichtig sind, dass
die Beamten und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der
Rentenversicherungsträger nicht in der Lage sind, den
Menschen zu sagen, was ihnen zusteht, dann haben wir etwas falsch gemacht. Ich bitte Sie: Machen Sie Gesetze,
die man versteht und die den Menschen helfen! Dann werden Sie uns auf Ihrer Seite haben; aber nicht, wenn Sie etwas machen, was nur CDU/CSU- und F.D.P.-light ist.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und hoffe auf
gute Diskussionen.
({4})
- Herr Laumann, wenn es so ist, wie Sie sagen, dass Sie
dafür sind, dass die Rentenversicherung für alle ist, dann
bin ich auf Ihrer Seite. Aber machen Sie das erst einmal
Ihrer Partei klar!
({5})
Ich gebe nun der Kollegin Erika Lotz für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Natürlich gibt es Unterschiede und manche mögen sie als klein bezeichnen; aber sie sind fein und
das ist wichtig. Auch wenn der Gesetzentwurf zur Neuordnung der Erwerbs- und Berufsunfähigkeitsrenten dem
Konzept, das 1997 unter Blüm verabschiedet wurde, in
seinen Grundzügen sehr ähnlich ist, kommt es doch auf
die Details an, die für die Betroffenen eben nicht klein
sind.
Herr Laumann, ich stimme Ihnen zu: Die Rente ist ein
sensibler Bereich, der seine Geschichte hat. Aber es ist das
böse Wort vom „Lynchen“ gefallen. Da muss ich sagen:
Dass die Anzahl der Vertreter von CDU/CSU und F.D.P.
hier geringer geworden ist, liegt nicht daran, dass Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten einige von Ihnen
gelyncht hätten; die Wähler haben das entschieden und es
gab gute Argumente dafür.
({0})
Nun komme ich auf das Thema zurück, über das wir
heute reden. Frau Schwaetzer hat beklagt, dass wir nicht
über die Erwerbsminderungsrente sprechen, sondern den
Zustand der Rente insgesamt beklagen. Ich hatte das Gefühl, Frau Schwaetzer, dass auch Sie sich davon haben leiten lassen. Aber ich sage einmal: Trotz der erfreulichen
Verbesserungen der Beschäftigungssituation auf dem Arbeitsmarkt ist es doch unerlässlich, bei der Entscheidung,
ob bei einer nur teilweisen Erwerbsminderung weiterhin
eine volle Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gewährt werden kann, die Kapazitäten des Arbeitsmarktes zu
berücksichtigen. Denn das alleinige Abstellen auf den Gesundheitszustand, wie Sie das gemacht haben, ignoriert
die Realität des Arbeitsmarktes.
Auch der Große Senat des Bundessozialgerichts hat
bereits 1969 und auch 1975 entschieden, dass die Fähigkeiten und Möglichkeiten der Versicherten, ihre Restleistungen auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich zu verwerten,
von entscheidender Bedeutung sind. Das - wie auch
manch anderes -, Herr Laumann, haben Sie bei Ihrer Reform im Jahre 1999 ganz einfach ignoriert.
Wir wollen keine alten Schlachten schlagen; das ist
richtig. Aber man muss schon einmal an sie erinnern: Einmalzahlungen, während Ihrer Regierungszeit beschlossen, sind jetzt Belastungen. Weitere Schlagwörter in diesem Zusammenhang sind die Rentenüberleitung für
ehemals Zusatzversorgte der DDR und die Behandlung
von Kriegsopfern in der Krankenversicherung Ost. Auch
an die notwendig gewordene Erhöhung des Kindergeldes
möchte ich erinnern. Das alles sind Belastungen, die Sie
uns hinterlassen haben. Sie haben die Lage damals schöngerechnet. Die Mittel für die genannten Maßnahmen
kommen zu den 1,5 Billionen DM Schulden hinzu, die Sie
uns hinterlassen haben und von denen Sie offensichtlich
nichts mehr wissen wollen.
({1})
Nun möchte ich darauf eingehen, warum wir das Rentengesetz ändern wollen. Was nützt es einem Versicherten,
dass er theoretisch noch drei bis sechs Stunden arbeiten
könnte, er aber in der Praxis keinen Teilzeitarbeitsplatz
findet? Denn die Flexibilität der Arbeitgeber lässt in dieser Hinsicht leider noch sehr zu wünschen übrig. Da müssen wir realistisch bleiben.
Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, dann hätte ein
Versicherter, der noch vier Stunden täglich arbeitsfähig
ist, der aber am Arbeitsmarkt nicht vermittelbar ist, eine
halbe Erwerbsminderungsrente bekommen. Das heißt,
das Arbeitsmarktrisiko, welches jetzt noch von der gesetzlichen Rentenversicherung getragen wird, wäre dann
allein dem Versicherten zugemutet worden, obwohl er
letztendlich für beide Sozialversicherungszweige Beiträge leistet. Dies wollen wir nicht; dies halten wir für
nicht gerechtfertigt.
({2})
Auch der Bundesrat hat in seiner Stellungnahme zum
Rentenreformgesetz 1992 eine sachgerechte und sozial
ausgewogene Risikoabgrenzung zwischen der Rentenund der Arbeitslosenversicherung gefordert. Wir kommen
dieser Forderung jetzt insofern nach, als die Bundesanstalt für Arbeit an den Kosten der Erwerbsminderungsrente zur Hälfte beteiligt wird. Das heißt, die Bundesanstalt erstattet der Rentenversicherung pauschal die Hälfte
der Aufwendungen für Renten wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit. Dies umfasst auch die in diesem Zeitraum anfallenden Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung.
Damit wird bei der Bundesanstalt ein Stück weit der
Anreiz geschaffen, Menschen mit verminderter Erwerbsfähigkeit, die noch Teilzeit arbeiten können, zu vermitteln. Das ist notwendig und das erreichen wir über diesen
Weg.
({3})
Wir wollen nicht, dass die Versicherten mit verminderter
Leistungsfähigkeit keine Chancen haben. Auf dem derzeitigen Arbeitsmarkt haben sie aber keine Chancen; bei
Vollbeschäftigung wäre das natürlich anders. Deshalb ist
das große Ziel all der Reformen, die wir betreiben, wieder
mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Aus diesem Grunde müssen wir diese Reform betreiben.
({4})
Mit der Neuordnung der Renten wegen verminderter
Erwerbsfähigkeit stellen wir uns der Lebenswirklichkeit
und übernehmen wir Verantwortung. Wir wollen, dass
keine Sicherungslücken entstehen.
Wegen der demographischen Veränderungen ist jedoch die Altersgrenze bei der Rente heraufgesetzt worden. Ab dem Jahre 2005 liegt die Regelaltersgrenze bei
65 Jahren. Ich denke schon, dass es nicht von der Hand zu
weisen ist, dass Einzelne versuchen werden, eine Rente
wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu erhalten, um somit eine Rente ohne Abschläge zu bekommen. Deshalb
- auch der Arbeitsminister hat dies angesprochen - soll
die Höhe der Erwerbsminderungsrenten an die vorzeitig
in Anspruch genommenen Altersrenten angeglichen werden. Der bei den Altersrenten vorgesehene monatliche
Abschlag von 0,3 Prozent soll für die Erwerbsminderungsrenten auf maximal 10,8 Prozent begrenzt werden.
So erreichen wir bei dieser Maßnahme Sozialverträglichkeit.
Gleichzeitig wird die Wirkung dieser Schutzmaßnahme dadurch abgefedert, dass die Zeit zwischen dem
55. und dem 60. Lebensjahr höher bewertet wird - so, als
ob der Versicherte erwerbstätig gewesen wäre. Im ursprünglichen Gesetz wurde dieser Zeitraum nur zu einem
Drittel angerechnet; Blüm wollte die Anrechnung auf
zwei Drittel erhöhen. Nach unserem Konzept dagegen
wird die Zeit voll angerechnet.
({5})
Ganz wichtig ist uns, das Vertrauen unserer Versicherten in unsere Rentenpolitik wiederherzustellen. Damit hat es die alte Regierung, auch wenn Sie jetzt noch so
sehr polemisieren, leider nicht so genau genommen.
({6})
Ich nenne dafür ein Beispiel: Mit dem Rentenreformgesetz 1999 sollte der Berufsschutz mit sofortiger Wirkung,
ohne Übergangsregelung, abgeschafft werden, obwohl
insbesondere ältere Arbeitnehmer darauf vertraut hatten,
im Falle von Berufsunfähigkeit eine Rente zu erhalten.
Schon damals gab es eine Reihe kritischer Stimmen, dass
die Übergangsfristen zu kurz seien. Deshalb halte ich es
für richtig und wichtig, all jenen, die bei In-Kraft-Treten
der Reform das 40. Lebensjahr bereits vollendet haben,
diesen Berufsschutz auch weiterhin zu gewähren. Gleiches gilt bezüglich der Anhebung der Altersgrenze für
Schwerbehinderte.
Meines Erachtens, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist
es uns gelungen, das Konzept für die Neuordnung der
Renten wegen Erwerbsminderung, das im Rentenreformgesetz 1999 formuliert war, sinnvoll zu ergänzen und weiterzuentwickeln. Die Beibehaltung der Berücksichtigung
der Arbeitsmarktsituation macht diese Reform sozial verträglicher. Durch die Vertrauensschutzregelungen beim
Berufsschutz und bei der Anhebung des Rentenalters für
Schwerbehinderte schaffen wir Rechtssicherheit für die
Versicherten; das sind wir ihnen, den Bürgerinnen und
Bürgern, auch schuldig.
Die Rente ist ein sehr sensibler Bereich, der Reformen
nur in einem breiten Konsens zulässt. Ich meine, das dargestellte Konzept ist konsensfähig und ein wichtiger Beitrag zur Zukunftsfähigkeit unserer Rentenversicherung.
Ich freue mich auf weitere Gespräche. Allerdings: Die
Quadratur des Kreises ist nicht möglich: Beitragssatzstabilität und niedrige Beiträge - nach Möglichkeit nicht
höher als 20 Prozent - und gleichzeitig Ausweitung von
Leistungen.
({7})
Wir müssen uns schon auf das einigen, was möglich ist,
letztendlich zugunsten der zukünftigen Rentnerinnen und
Rentner und heutigen Beitragszahler.
Danke schön.
({8})
Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Johannes Singhammer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir wollen, dass die Verunsicherung der Rentner nicht weiter
wächst. Vor allem diejenigen, die nicht mehr erwerbstätig
sein können, brauchen Klarheit. Deshalb möchte ich Ihnen, Herr Arbeitsminister, nach diesem Gesetzgebungsverfahren eine Zustimmung in diesem Bereich in Aussicht
stellen. Dies entspricht unserer Linie, die wir angekündigt
haben und der wir treu bleiben, wann immer es möglich
ist, verantwortungsbewusst zu gemeinsamen Entscheidungen zu kommen. Die wichtige Einzelregelung Reform
der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten ist natürlich
nur ein Teil der gesamten Rentenkonzeptes. Wenn wir
dies diskutieren, können wir nicht das andere außer Acht
lassen.
Gerade ist schon die Frage der Verunsicherung der
Rentner aufgeworfen worden. Ich sage Ihnen eines: Das
Vertrauen der Rentner haben Sie massiv beschädigt. Der
Vertrauensverlust hat auch einen Namen: Das ist nicht so
sehr der Name des Bundesarbeitsministers als vielmehr
der Name des Bundeskanzlers.
({0})
Wir und auch die Rentner in Deutschland erinnern uns
noch genau daran, dass er vor mehr als einem Jahr versprochen hat: Ich stehe dafür, dass die Renten auch in Zukunft so steigen werden wie das Nettoeinkommen der Arbeitnehmer; das ist ein Prinzip, das wir nicht antasten.
({1})
Das hat er nach der Wahl gesagt und 126 Tage später hat
er erklärt: Wir haben die Nettoformel für die nächsten
Jahre nur ausgesetzt, um wieder dauerhafte Sicherheit in
die Rente zu bringen. - Das war der entscheidende Anstoß
dafür, dass das Vertrauen in die Rentenversicherung
massiv beschädigt worden ist.
({2})
Das hat sich fortgesetzt. Ich nenne das Stichwort
Ökosteuer. Sie haben versprochen, die Einnahmen aus
der Ökosteuer - bis zum Jahre 2004 etwa 33 Milliarden DM - vollständig für die Finanzierung der Renten zur
Verfügung zu stellen. Heute wissen wir, dass allenfalls die
Hälfte davon zur Senkung der Rentenversicherungsbeiträge verwendet wird.
({3})
Die Kette der Unsauberkeiten setzt sich fort. Natürlich
sind die Menschen in Deutschland verunsichert, wenn Sie
jetzt einen neuen, den vierten Entwurf für ein Rentenkonzept vorlegen ({4})
- beruhigen Sie sich und hören Sie zu - und ausnahmslos
alle Verbände in Deutschland schwerwiegende Kritik
üben und Mängel auflisten.
({5})
Noch nie war die Front der Ablehnung bei Rentenplänen so groß und so geschlossen wie bei den Plänen, die
Sie vor kurzem mit einem Diskussionsentwurf vorgestellt
haben.
({6})
Der Geschäftsführer des Verbandes der Deutschen
Rentenversicherungsträger, Prof. Dr. Ruland, sagt zu Ihrer Reform: Letztlich ist nur die blümsche Reform durch
die riestersche Reform ausgetauscht worden - allerdings
mit einem Ergebnis, das weder für die Versicherten und
ihre Hinterbliebenen noch für die Rentenversicherung
besser ist.
Der Präsident des VdK, Herr Hirrlinger, bedauert, dass
die Bundesregierung an ihrem Kurs festhält, und erteilt
der Einführung einer sozialen Grundsicherung eine klare
Absage.
({7})
Lutz Freitag, Vorstandsmitglied der DAG, warf vor
kurzem der rot-grünen Regierung „soziale Demontage“
vor. Der Deutsche Städtetag lehnt Ihre Pläne rundweg ab.
Möchten Sie noch mehr Stimmen hören? Ich kann Ihnen
noch eine liefern.
({8})
Die DGB-Vizechefin Engelen-Kefer kritisiert empört:
Diese Entwürfe sind das Gegenteil von Generationengerechtigkeit.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn Sie uns
schon nicht glauben, dann glauben Sie doch zumindest
den kompetenten Experten, die sagen, dass die vorliegenden Pläne nicht in Ordnung sind.
({9})
Ich nenne Ihnen in aller Kürze einige Probleme, die
noch nicht einmal in Ansätzen gelöst sind. Es gibt das Megaproblem Bevölkerungsentwicklung. Wenn man verschiedene Umstände bewertet - die Frage ist: Welche
Entwicklungen werden die Rente massiv und welche werden sie weniger massiv beeinflussen? -, dann wird das
Megaproblem Bevölkerungsentwicklung den größten
Einfluss ausüben. Das Gleichgewicht zwischen den Generationen wird kippen. Sie müssen darauf reagieren.
Wenn die Zahl der Menschen der nachwachsenden Generation um ein Drittel kleiner ist, dann muss man auf
diese Tatsache reagieren. Eine Reaktion heißt: Wir müssen Renten- und Familienpolitik vernetzt sehen. Die
eine ist ohne die andere nicht möglich.
({10})
Deshalb bestehen wir darauf, dass die zugesagten
19,5 Milliarden DM für eine bessere Förderung von Familien mit Kindern auch wirklich bei den Menschen ankommen. Das ist uns ganz wichtig.
Der Ausgleichsfaktor in der jetzigen Form ist ein
Kürzungsfaktor und kann so nicht Bestand haben. Ihre
Pläne führen zu der absurden Konsequenz, dass es in einem bestimmten zeitlichen Fenster umso günstiger für jemanden wird, je früher er in Rente geht. Das hat eine
nachhaltige Vertrauensschwächung zur Folge. Diese
Überlegungen müssen vom Tisch.
({11})
- Hören Sie genau zu! Dabei können Sie noch etwas lernen, Herr Dreßen.
Ein entscheidender Schwachpunkt ist die noch nicht
gefundene Balance zwischen den Generationen. Sie wissen selbst, dass Sie das nicht gelöst haben. Wir können
Ihnen nicht zustimmen, wenn Sie einen Punkt, der
entscheidend für die Gewinnung des Vertrauens der jetzigen und künftigen Beitragszahler in die Generationengerechtigkeit ist, nicht zufrieden stellend regeln.
Der nächste Punkt betrifft die so genannte Nettoformel, die Sie jetzt neu geschaffen haben. Diese „Nettoformel neu“ ist nicht die „Nettoformel alt“, sondern sie ist für
viele Rentnerinnen und Rentner eine Nettoverschlechterungsformel. Auch deshalb können wir Ihnen nicht die
Hand reichen.
({12})
Der nächste Punkt betrifft die soziale Grundsicherung. Es geht einfach nicht, dass derjenige, der jahrzehntelang seine Beiträge gezahlt hat - Versicherung bedeutet
Leistung und Gegenleistung -, in einem bestimmten Bereich schlechter als derjenige behandelt wird, der diese
Beiträge nicht gezahlt hat. Auch dies bewirkt einen Vertrauensverlust der Rentenversicherungen und ist das Gegenteil dessen, was wir uns wünschen.
Lassen Sie mich noch einen anderen Sachverhalt ansprechen. Wenn Ihnen wirklich an einem Konsens mit
den Oppositionsparteien gelegen ist, dann unterlassen Sie
es, neue Hürden aufzubauen, die die Konsensbindung erschweren. So bringen Sie zum Beispiel - unabhängig von
Ihren Rentenplänen - einen Antrag ein, der eine gleiche
Behandlung von homosexuellen Partnerschaften und von
Ehe und Familie vorsieht.
({13})
Nun wissen Sie ganz genau, dass wir einem solchen Plan
nicht zustimmen werden. Warum bringen Sie dann diesen
Antrag ein? Warum machen Sie das?
({14})
Angesichts all der schwierigen Fragen ist es doch nicht
die Existenzfrage der Rentenversicherung, ob es für den
Überlebenden in einer homosexuellen Partnerschaft eine
kleine oder eine große „Witwenrente“ gibt. Dies ist für die
Lösung der Rentenproblematik nicht von entscheidender
Bedeutung. Sie haben dies eingeführt, um von sich aus
neue Hürden zu schaffen. Ich sage Ihnen: Wenn Ihnen an
einen Kompromiss gelegen ist, dann ziehen Sie diesen
Antrag sofort zurück. Damit erleichtern Sie die Konsensfindung.
({15})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Dr. Max Stadler.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Die heutige Rentendebatte
gibt uns Gelegenheit, in aller Kürze auf Parallelprobleme
der Beamtenversorgung hinzuweisen, was wahrscheinlich auch weniger Emotionen auslösen wird.
({0})
Es gibt vor allem Gelegenheit, auf eine Tatsache aufmerksam zu machen, die erstaunlicherweise in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen worden ist.
Die alte Koalition hat in der letzten Legislaturperiode
durch Einführung der so genannten Versorgungsrücklage
Vorsorge für die Bewältigung der steigenden Pensionszahlungen getroffen. Diese Versorgungsrücklage haben
Sie bei Ihrer Regierungsübernahme belassen. Das war
klug.
({1})
Es ist Ihr gutes Recht, dass Sie nun versuchen, mit dem
Gesetzentwurf, der heute auf der Tagesordnung steht, an
Details nachzubessern. Aber was gut gemeint ist, ist nicht
immer gut. Dies trifft leider häufig auf Ihre Politik zu.
Dies trifft aber auch auf den Gesetzentwurf zur Neuordnung der Versorgungsabschläge zu, den Sie heute eingebracht haben.
({2})
Die F.D.P.-Fraktion begrüßt es zwar, wenn dienstunfähige und schwerbehinderte Beamte bei vorzeitiger
Inanspruchnahme der Versorgung besser gestellt werden
sollen als bisher. Die von Ihnen vorgeschlagene Regelung
bevorzugt aber die bereits in jungen Jahren ausgeschiedenen Beamten zulasten derjenigen, die über Jahrzehnte
Dienst getan haben. Wenn Ihre Regelung Gesetz würde,
wäre folgende Situation denkbar: Derjenige, der zum Beispiel fünf Jahre nach Eintritt in das Beamtenverhältnis
dienstunfähig wird, wird durch fiktiv hinzugerechnete
Dienstjahre bis zum Pensionseintrittsalter besser gestellt
als derjenige, der sich mit Ende 50 frühpensionieren lassen und deshalb Versorgungsabschläge hinnehmen muss.
Das finden wir ungerecht.
({3})
Wir schlagen daher einen anderen Lösungsansatz vor,
nämlich den Ausbau des Instituts der Teildienstfähigkeit.
Mit der Versorgungsreform in der letzten Legislaturperiode ist dieses Institut eingeführt worden. Wir haben die
Bundesregierung damals zugleich ermächtigt, durch
Rechtsverordnung die Gewährung eines Zuschlags zu den
Dienstbezügen in diesen Fällen der Teildienstfähigkeit zu
regeln.
Hier müsste die rot-grüne Regierung endlich tätig werden, um dieses Institut attraktiv zu gestalten. Das würde
nämlich sehr wahrscheinlich die Zahl der Frühversorgungsfälle senken und den Beamten, die noch, wenn auch
vermindert, in ihrem Beruf tätig sein wollen, eine Perspektive geben. Vielleicht können wir Sie in den Ausschussberatungen davon überzeugen, diesen Weg anstelle
der von Ihnen heute vorgeschlagenen ungerechten Regelung zu wählen.
({4})
Ich erteile dem Kollegen Hans-Peter Kemper für die sozialdemokratische
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Stadler hat gerade darauf hingewiesen, dass es neben den Veränderungen in der Rentenversicherung auch noch Veränderungen
in der Beamtenversorgung gibt. Er hat den vorliegenden
Gesetzentwurf kritisiert. Lieber Max Stadler, unser vorliegender Gesetzentwurf ist nicht nur klug, wie Sie festgestellt haben, sondern er ist auch sozial ausgewogen, und
zwar wesentlich ausgewogener als der, den Sie in der letzten Legislaturperiode vorgelegt haben.
({0})
Die Beamtenversorgung steht in einem ähnlichen Umfang wie die anderen Alterssicherungssysteme vor dem
Problem steigender Kosten. Deswegen ist - das kann ich
auch kurz abhandeln - eine zeitgleiche und inhaltsähnliche Übernahme der Regelung bei der Rentenversicherung
angestrebt. Die Gründe sind klar: die demographische
Entwicklung, die seit geraumer Zeit sehr stark ansteigende Zahl von Frühpensionierungen und die starke Personalvermehrung in den 60er- und 70er-Jahren. Die Beamten, die damals eingestellt worden sind, nähern sich
jetzt - mit erheblichen Belastungen für Bund, Länder und
Kommunen - dem Pensionierungsalter.
Wir haben die Regelung zur Beamtenversorgung - sie
erfolgte in enger Anlehnung an Bestimmungen in der
Rentenversicherung -, die 1998 beschlossen worden ist,
für zwei Jahre ausgesetzt, um dienstunfähige und
schwerbehinderte Beamte zu schützen. Das war richtig.
Diese Regelung musste ausgesetzt werden, weil die von
der damaligen Regierung vorgelegte Regelung eine erhebliche soziale Schieflage beinhaltete. Diese Aussetzung
läuft Ende des Jahres aus. Wir hatten vor der Wahl versprochen, Ungerechtigkeiten in dem erwähnten Gesetz
zurückzunehmen und ein eigenes, sozial ausgewogenes
Gesetz vorzulegen. Wie in anderen Bereichen auch: Diese
Koalition löst nach der Wahl ein, was sie vor der Wahl versprochen hat.
({1})
Die Beamtenversorgung wird damit in einem wichtigen Bereich an die rentenrechtlichen Regelungen angeglichen. Das ist nach meinem Dafürhalten ein Stück
soziale Gerechtigkeit. Ich will nur die wichtigsten Eckpunkte noch einmal ansprechen. Ohne Zweifel ist es notwendig, den Trend der Frühpensionierung zu stoppen. Es
wäre unehrlich, wenn so getan würde, als wenn dabei
Kostenüberlegungen im Hintergrund ständen. Sie gibt es;
das ist klar. Die Einsparungsbemühungen finden statt. Wir
begrüßen sie. Auch begrüßen wir es, wenn die Bundesregierung mit diesen Maßnahmen den Einsparungsbemühungen etwas näher kommt.
Ein richtiger Schritt könnte sicherlich sein, Versorgungsabschläge einzuführen, und zwar nicht im Sinne einer Bestrafung von frühpensionierten Beamten, sondern
im Sinne eines Ausgleichs für die längere Laufzeit der
Pensionszahlungen bei Frühpensionierten.
Ich will noch mal auf die Anrechnungsverbesserungen
zu sprechen kommen, die Herr Stadler gerade erwähnt
hat. Um bei jungen Beamtinnen und Beamten mit wenig
Dienstjahren, die dienstunfähig oder schwerbehindert
werden, oder bei Hinterbliebenen von frühzeitig verstorbenen Beamten die Versorgungsabschläge zu mildern,
wird die Zurechnung deutlich verbessert. Das ist nicht
falsch. Wir sind stolz darauf; denn das ist eine soziale
Komponente, die wir in unser Gesetz eingebaut und die
Sie damals vergessen haben.
Diese Abschlagsregelung gilt nicht bei Dienstunfällen.
Das ist nicht erforderlich, weil bei Dienstunfällen überhaupt keine Abschläge erfolgen. Wir haben eine Übergangsregelung eingebaut. Neben der zweijährigen Aussetzung für lebens- und dienstältere Beamte werden
Angehörige der Jahrgänge von 1938 bis 1941 ausgenommen. Wenn sie 40 Dienstjahre oder mehr gearbeitet haben,
dann greifen die Versorgungsabschläge bei ihnen nicht.
Bei den Schwerbehinderten ist es ebenso. Diejenigen, die
50 Jahre alt sind und zum Zeitpunkt des In-Kraft-Tretens
des Gesetzes schon schwerbehindert waren, genießen einen Vertrauensschutz. Ich denke, das ist auch im Sinne der
sozialen Gerechtigkeit und des Behindertenschutzes sehr
wichtig.
({2})
Wir haben einen wichtigen zusätzlichen Punkt eingebracht, der in der Vergangenheit immer wieder zu Ärger geführt hat: Wir wollen Anreize schaffen, die es
frühzeitig pensionierten Beamten ermöglichen, aus dem
vorgezogenen Ruhestand in den aktiven Dienst zurückzukehren. Bei reaktivierten Beamten wird in Zukunft sichergestellt, dass sie im Falle einer erneuten Zur-RuheSetzung mindestens das früher bezogene Ruhegehalt
erhalten. Damit wird das Risiko einer erneuten Dienstunfähigkeit nicht einseitig bei den gutwilligen und arbeitsbereiten Beamten abgeladen. Das ist auch eine Maßnahme zur Kostenvermeidung, eine Maßnahme, die der
Frühpensionierung entgegen wirken kann.
Der vorliegende Gesetzentwurf enthält erste Schritte
zur wirkungsgleichen Übernahme von Rentenstrukturreformen bei der Beamtenversorgung. Wir werden auch in
Zukunft dafür sorgen, dass weitere Schritte weitgehend
im Gleichklang der Systeme erfolgen, wenngleich uns
klar ist, dass es systembedingte Unterschiede gibt, die wir
berücksichtigen werden.
Die einzelnen Maßnahmen, nämlich Aussetzung für
zwei Jahre, die Herausnahme der dienst- und lebensälteren Beamtinnen und Beamten, die Sonderregelungen für
Schwerbehinderte im Alter von mindestens 50 Jahren und
der verbesserte Schutz bei der Wiedereinstellung reaktivierter Beamter, machen aber eins deutlich: Schwierige
Strukturveränderungen sind möglich, wenn sie sozial ausgeglichen und gerecht gestaltet werden. Das unterscheidet
unseren heutigen Gesetzentwurf von dem Gesetzentwurf,
den Sie in der letzten Legislaturperiode vorgelegt haben.
({3})
All das wird auch in Zukunft die Leitlinie unseres Handelns sein.
Vielen Dank.
({4})
Als letzter Redner
dieser Debatte spricht für die CDU/CSU-Fraktion Kollege Gerald Weiß.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als letzter Redner dieser Debatte will ich einige Aspekte der Vorrednerinnen und Vorredner aufgreifen.
Frau Schwaetzer, Ihrer Kritik ist zuzustimmen: Es ist
für das parlamentarische Verfahren unangenehm und
nicht zu akzeptieren, dass die Rentenreform im Parlament
in Stücken abgeliefert wird. Das ist nicht in Ordnung. Für
dieses missglückte Timing und diese missglückte Steuerung des Reformprozesses sind die Regierung und die Koalition verantwortlich.
({0})
Wer hat denn das sehr brauchbare Rentenreformgesetz
1998/1999 ausgesetzt?
({1})
Wer hat sich ein unglaubliches Rentenhickhack und einen
willkürlichen Zickzackkurs von in keiner Weise zu akzeptierenden Hilfs- und Notmaßnahmen - wie Anpassung
der Rente nach der Inflationsrate - geleistet? Das war
doch diese Regierung.
({2})
Das hat mindestens zwei Jahre Zeit, auf jeden Fall aber
unglaublich viel Vertrauen in der Republik, gekostet.
({3})
Jetzt wird uns zugemutet, ein Teilstück, das wichtig ist,
zu bewerten, ohne dass wir die Chance haben, das Ganze
im Nebel der Nachbesserungen, der Diskussionsentwürfe
und der vielfältigen, immer wieder neuen Konzepte - bei
Riesters siebtem Entwurf habe ich aufgehört mitzuzählen - hinreichend zu erkennen.
({4})
Dieses Teilstück wird uns inhaltlich wahrscheinlich nicht
so viel Ärger machen; denn Sie haben ja mit Recht festgestellt: In den Grundzügen ist das Gesetz ähnlich dem
blümschen Reformansatz zur Erwerbs- und Berufsunfähigkeit.
Warum haben Sie denn damals auf totale Blockade und
Sabotage geschaltet,
({5})
wenn man heute alles akzeptieren kann, was Blüm gemacht hat, nämlich eine Differenzierung der Rente angesichts der modernen Strukturen mit ihren veränderten
Möglichkeiten bei Arbeit, Rehabilitation und Kommunikation vorzusehen und eine gestaffelte Erwerbsminderungsrente zu schaffen? Sie haben damals hinsichtlich der
Differenzierungen, die Blüm vorgesehen hatte, den Untergang des Sozialstaates ausgerufen und jetzt nehmen Sie
genau diese Staffelung, diese Differenzierung vor, die
Blüm gewollt hat. Ihre Politik entlarvt sich somit im
Nachhinein.
Wenn Sie jetzt sagen, es gebe Unterschiede in wichtigen Details, so stimmt das. Wir sind bereit, weiter zu diskutieren und das Konzept weiterzuentwickeln. Wenn ich
mir ansehe, was Sie heute hinsichtlich der Abschläge alles machen, weil unser Rentensystem neu justiert werden
müsse und eine neue Altersschwelle berücksichtigt werden müsse, dann muss man doch erkennen, dass auch die
übrigen Renten auf diese neue Altersgrenze justiert werden müssen. Jetzt, weil es Ihre Regierung macht, ist es
nicht mehr des Teufels. Sie gestehen auch zu, dass die Versicherten die volle EM-Rente erhalten, wenn sie selbstständig waren, sowie vieles andere mehr. Sie haben sich
bewegt; - das erkennen wir an. Diese jetzt vorliegende
Reform ist in den wesentlichen Bausteinen von der von
Blüm vorgelegten kaum mehr zu unterscheiden. Das befriedigt uns, es befriedigt uns aber nicht, dass wir Jahre im
Dissens gestritten haben, und dieser Baustein jetzt im
Konsens eingefügt wird.
({6})
Frau Schwaetzer, ich möchte einen von Ihnen angesprochenen Aspekt aufgreifen. Wenn Sie einen Beitragssatz von 18 Prozent fordern - ich gebe ja zu, dass 18 Prozent für Sie eine magische Zahl zu sein scheinen -,
müssen Sie aber auch sagen, was das für das Rentenniveau bedeutet. Das hätte eine Rente zur Folge, die sich
von der Sozialhilfe kaum mehr unterscheiden würde. Ich
frage mich, ob dann nicht viele Menschen die beitragslose
Form der Alterssicherung, nämlich die Sozialhilfe,
wählen und nicht mehr die Rente, die auf lebenslanger Arbeit und lebenslanger Beitragszahlung fußt. Das ist doch
eine unglaubliche Weichenstellung in Richtung auf Altersarmut. Das ist genauso wenig akzeptabel, wenn man
nur auf das andere Ende schaut.
({7})
Wir sagen: Beides muss stimmen. Der Alterslohn muss
leistungsgerecht sein und sich deutlich von der Sozialhilfe
unterscheiden, er ist durch Lebensleistung gedeckt. Aber
auch die Beitragsleistungen der Aktiven müssen in Bezug
auf die Belastung gerecht sein. Beides muss stimmen, das
sind die entscheidenden Weichenstellungen der Reform.
Frau Göring-Eckardt, ich möchte auf Ihre Ausführungen zur Anpassungsformel eingehen: Wenn Sie sagen, in
der neuen Rentenformel sei die neue Nettobasis der Beitrag der Alten und der Ausgleichsfaktor sei der Beitrag der
Jungen, muss ich Ihnen vorhalten: Diese verminderte Nettobasis wird sich doch später in dem gesamten System
fortsetzen. Die heute Jungen, die im Jahre 2030 verrentet
werden, werden nach Ihrem Konzept noch ein RentenHans-Peter Kemper
niveau von durchschnittlich 61 Prozent haben. Das ist
doch völlig inakzeptabel, wenn die Jungen unser solidarisches Rentensystem weiter unterstützen sollen.
({8})
Dieser Ausgleichsfaktor - er ist willkürlich - und die
neue Rentenerrechnungsbasis sind reine Rechengrößen.
Man hatte ein Ziel und hat sich dort hingerechnet. Das,
was Blüm - vielleicht wird sich diese große Rentenreform
den von Blüm aufgestellten Grundzügen wieder annähern - vorgesehen hat, hat seine systematische Grundlage
im demographischen Faktor gehabt. Der Demographiefaktor war an die Lebenserwartung gekoppelt. Ein längeres Leben hat einen längeren Rentenbezug und damit
mehr Lebensrente zur Folge. Der Beitrag der Älteren war,
dass ihre Renten etwas langsamer ansteigen, aber doch
deutlich an die Löhne gekoppelt bleiben, sodass die Jungen nicht überfordert werden. Das war generationengerecht. Das müssen wir wieder einführen, wenn die Reform
gerecht und akzeptabel sein soll.
Frau Lotz, wenn Sie sagen, Sie hätten eine gute
Übergangsfrist und eine Vertrauensschutzregelung für die
Berufsunfähigkeitsrente geschaffen,
({9})
muss ich Ihnen vorhalten, was in der gleichen Debatte
Frau Göring-Eckardt gesagt hat. Sie hat das als Prestigerente, die wir jetzt abschaffen werden, bezeichnet. Die
Übergangsregelung, die Sie einführen, bedeutet, dass es
25 bis 30 Jahre lang drei Renten in diesem Teil der Alterssicherung geben wird, nämlich die volle Erwerbsminderungsrente, die halbe Erwerbsminderungsrente und daneben noch, auslaufend über drei Jahrzehnte, die
Berufsunfähigkeitsrente.
Es ist nur ein halber Vertrauensschutz. Sie wollen die
Höhe der Berufsunfähigkeitsrente auf zwei Drittel senken. Dann wird sie ihre Funktion verlieren und es wird
kein voller Vertrauensschutz mehr sein. Deshalb sagen
wir: Gehen wir auf die volle Höhe, machen wir den Übergang kürzer. Das wäre ein qualifizierter Vertrauensschutz.
Ich sehe, meine Redezeit ist zu Ende. Ich rufe Ihnen,
Herr Minister, nur noch eines zu: Ordnen Sie die Rahmenbedingungen für die betriebliche Alterssicherung so,
dass sie wieder attraktiver wird. Was bisher vorgelegt
wurde, taugt nicht sehr viel.
({10})
Wir müssen dazu kommen, dass mehr Betriebsrenten gezahlt werden können. Das wäre für den Fall der Erwerbsunfähigkeit ein zusätzliches Sicherungselement.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({11})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 14/4230 zur federführenden Beratung an den
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung und zur Mitbe-
ratung an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft
und Forsten, den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend, den Ausschuss für Gesundheit, den Aus-
schuss für Wirtschaft und Technologie, den Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, den
Rechtsausschuss, den Finanzausschuss und, gemäß § 96
der Geschäftsordnung, den Haushaltsausschuss zu über-
weisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/4231 soll an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse über-
wiesen werden. Ist das Haus damit einverstanden? - Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c sowie die
Zusatzpunkte 6 und 7 auf:
4. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
Breuer, Ulrich Adam, Georg Janovsky, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Zukunft der Bundeswehr
- Drucksache 14/3775 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Soldatengesetzes und anderer
Vorschriften ({1})
- Drucksache 14/4062 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({2})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidi
Lippmann, Wolfgang Gehrcke, Uwe Hiksch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Zukunft durch Abrüstung - Für eine grundlegende Reform der Bundeswehr
- Drucksache 14/4174 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({3})
Auswärtiger Ausschuss
ZP 6 Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
Neuausrichtung der Bundeswehr
ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günther
Friedrich Nolting, Hildebrecht Braun ({4}), Dirk Niebel, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der F.D.P.
Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr sichern Wehrpflicht aussetzen
- Drucksache 14/4256 Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss ({5})
Auswärtiger Ausschuss
Haushaltsausschuss
Gerald Weiß ({6})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister der Verteidigung, Rudolf Scharping.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unmittelbar
nach meinem Amtsantritt habe ich eine umfassende Bestandsaufnahme bei der Bundeswehr veranlasst. Diese
Bestandsaufnahme hat ein klares Ergebnis. Ich kleide dieses Ergebnis in ein Zitat:
Diese Entwicklung würde es den Streitkräften immer
schwerer machen, ihre sich aus der NATO-Strategie
ergebenden Aufgaben in der Zukunft zu erfüllen. Sie
würden daher, wenn nichts geändert würde, in Zukunft ihrer sicherheitspolitischen Aufgabe nicht
mehr genügen können. Um die Struktur der Bundeswehr an die NATO-Strategie anzupassen, ihre heutigen Schwächen zu beseitigen und künftigen Entwicklungstendenzen Rechnung zu tragen, waren
daher Grundsatzentscheidungen für eine neue Wehrstruktur zu treffen und Maßnahmen zu ihrer Realisierung einzuleiten.
Das sagte der damalige Bundesminister der Verteidigung,
Georg Leber, in der Sitzung des Deutschen Bundestages
am 29. November 1973.
Wir stehen heute vor der gleichen Herausforderung.
Die Bestandsaufnahme hat nämlich ergeben, dass die
Bundeswehr in ihrem geltenden konzeptionellen und
strukturellen Rahmen kein Entwicklungspotenzial mehr
hat. Sie ist falsch strukturiert. Sie kann ihre bisherigen
Aufgaben nicht vollständig erfüllen;
({0})
geschweige denn kann sie die neuen Fähigkeiten erwerben, die sie auf der Grundlage fortlaufender Auslandseinsätze und auf der Grundlage der sicherheitspolitischen
Verpflichtungen im Bündnis und in Europa und gegenüber den internationalen Organisationen besitzen muss.
Die Entwicklung der letzten zehn Jahre ist Folge einer
Politik, die mit „Strecken, Schieben, Streichen“ eher
bemäntelt als beschrieben ist. In der Zeit zwischen 1994
und 1998 sind der Bundeswehr auf der Grundlage des
28. Finanzplans aus dem Jahre 1994 gegenüber der Finanzplanung insgesamt 4,2 Milliarden DM entzogen worden. Auf der Grundlage des 29. Finanzplanes, beschlossen 1995, sind der Bundeswehr im Vergleich zwischen
Finanzplanung und Haushalts-Ist 5,7 Milliarden DM entzogen worden.
Die Investitionen in die Ausrüstung der Bundeswehr waren in den Jahren 1996, 1997 und 1998 um
insgesamt 6,1 Milliarden DM niedriger, als es in den
Haushalten für 1999 und 2000 eingeplant und im Haushaltsansatz für 2001 vorgesehen war. Im Zeitraum von
1990 bis 1998 sank der Anteil der investiven Ausgaben im
Verteidigungshaushalt auf 23,7 Prozent. Das ging zulasten der notwendigen Modernisierung der Ausrüstung der
Streitkräfte. Hinzu kommt die Tatsache, dass viele
Großprojekte wie insbesondere der Eurofighter zum Zeitpunkt der Beschaffungsentscheidung nicht wirklich beschaffungsreif waren. Deshalb müssen wir uns allein in
diesem Bereich mit einem erheblichen finanziellen Risiko
herumschlagen.
Ergebnis: Die Bundeswehr hat von ihrer Substanz leben müssen. Sie verfügt in manchen Bereichen über eine
veraltete Ausrüstung. Sie hat nur eine mangelnde Attraktivität für den von ihr benötigten Nachwuchs. Deshalb
wurden die letzten zwei Jahre genutzt, um eine umfassende Reform der Bundeswehr auf gesicherter Grundlage in Gang zu setzen. Die Bundesregierung hat am
14. Juni 2000 die Eckpfeiler für eine Erneuerung der Bundeswehr von Grund auf verabschiedet. Die Entscheidungsgrundlagen wurden systematisch, aber auch zügig
und im Rahmen eines breit angelegten Ansatzes bis zum
genannten Entscheidungsdatum erarbeitet, und zwar auf
der Grundlage einer Bestandsaufnahme. Die Streitkräfte
werden wie die Wehrverwaltung von Grund auf erneuert.
({1})
Sie werden personell, strukturell und materiell auf die
Aufgaben der nächsten 10 bis 15 Jahre ausgerichtet. Das
liegt im Interesse der Bundesrepublik Deutschland.
({2})
Auch die Bundeswehr muss in der Lage sein, den Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland in Europa,
im Bündnis und gegenüber den internationalen Organisationen, namentlich den Vereinten Nationen, gerecht zu
werden. Dafür werden die Streitkräfte auf ihre Kernfähigkeiten konzentriert und gleichzeitig ihre Effizienz und
Wirtschaftlichkeit mit Blick auf die Erfüllung ihrer Aufgaben nachhaltig erhöht.
Mit dem Bundesminister der Finanzen ist eine Vereinbarung getroffen worden, die nicht nur den Haushalt 2001
betrifft, sondern auch die mittelfristige Finanzplanung.
Der Verteidigungshaushalt wird im nächsten Jahr auf
46,8 Milliarden DM ansteigen.
({3})
- Verehrter Herr Kollege Nolting, Sie nennen das Umbuchungen.
({4})
Ich möchte Ihnen wie schon gestern im Verteidigungsausschuss sagen
({5})
- natürlich, das weist auf eine gewisse Unbelehrbarkeit
hin -:
({6})
Vizepräsident Rudolf Seiters
Sie haben eine Haushaltspolitik zu verantworten, in deren
Rahmen 1998 für den damals laufenden Einsatz in Bosnien im Verteidigungshaushalt 50 Millionen DM eingeplant wurden, und zwar mit der Maßgabe, dass alle Mittel
für diesen Einsatz erwirtschaftet werden mussten.
({7})
Das hat dazu geführt, dass aus dem laufenden Einzelplan 14 weit über 400 Millionen DM erwirtschaftet werden mussten.
({8})
Ich halte es für einen großen Fortschritt, dass die Kosten für solche Einsätze in den Haushaltsansätzen 1999
und 2000 gesondert veranschlagt worden sind und dass
dadurch der laufende Betrieb der Bundeswehr nicht belastet wurde.
({9})
Ich halte es für einen großen Fortschritt, dass aus diesen
Haushaltsansätzen auch Investitionen für weitere Auslandseinsätze getätigt werden konnten. Ich halte es im Interesse von Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit
auch für einen großen Fortschritt, dass die für die damaligen Einsätze veranschlagten 2 Milliarden DM jetzt vollständig dem Bundesministerium für Verteidigung zur eigenständigen Bewirtschaftung zurückgegeben werden
und dass der Bundeswehr dadurch folglich mehr Planungssicherheit und mehr finanzielle Bewegungsfreiheit
gegeben wird als vorher.
({10})
Im Übrigen halte ich es auch für einen großen Fortschritt, Herr Kollege Nolting, dass die Bundeswehr 1999
das erste Mal ein Haushaltsjahr erlebt hat, in dem die Ausgaben des Einzelplanes 14 über dem vom Parlament beschlossenen Haushaltssoll gelegen haben, und zwar dank
der beschlossenen Rückeinnahmevermerke und Verstärkungsmöglichkeiten für den Einzelplan 14. Das unterscheidet sich fundamental von der Haushaltspolitik und
von der Sicherheitspolitik, die Sie in den 90er-Jahren betrieben haben.
({11})
Sie haben die Bundeswehr immer wieder mit Haushaltszahlen bedient, die in der Realität zu keinem einzigen
Zeitpunkt eingehalten worden sind.
({12})
Wir haben der Bundeswehr im Haushaltsplan 1999 insgesamt 47 Milliarden DM zur Verfügung gestellt. Durch die
Verstärkungsmöglichkeiten haben wir tatsächlich 48 Milliarden DM verfügbar gemacht. Das wird auch in den
nächsten Jahren fortgesetzt. Es ist das Ergebnis der Vereinbarungen mit dem Finanzminister, über die ich sprach.
Konkret bedeutet das: Die Effizienzgewinne aus höherer Wirtschaftlichkeit, aus der Zusammenarbeit mit der
Wirtschaft und aus gesenkten Betriebskosten bleiben zu
100 Prozent im Einzelplan 14. Die Ergebnisse der Nutzung neuer Spielräume durch neue Finanzierungsarten
bleiben zu 100 Prozent im Verteidigungshaushalt. Allein
die Summe aus diesen beiden Maßnahmen wird im Jahre
2001 vermutlich in einer Größenordnung von 500 bis
600 Millionen DM liegen, die zusätzlich erschlossen werden können.
Die Einnahmen aus Erlösen durch Vermietung, Verpachtung oder Verkauf bleiben zu 80 Prozent im Etat des
Bundesministers der Verteidigung. Ich sage im Rahmen
dieser Regierungserklärung: Ich lehne es ab, aus Haushaltsgründen möglichst schnell möglichst viel zu veräußern. Ich halte es für wirtschaftlich wesentlich vernünftiger, nachhaltig die Kostenstrukturen innerhalb der
Bundeswehr zu verbessern, die Kooperation mit der Wirtschaft auszubauen und dauerhaft eine solide Grundlage
für die Bundeswehr, auch in finanzieller Hinsicht, zu gewährleisten, als durch hektische Verkaufspolitik scheinbare Erfolge kurzfristig zu erzielen, die keinen nachhaltigen Charakter haben. Darauf wird bei der Frage der
Einlösung dieser Vereinbarung sorgfältig geachtet werden.
Da Sie immer wieder Zweifel daran äußern, ob das alles finanziell seine Richtigkeit hat, will ich Sie mit Folgendem vertraut machen. Ausweislich des Finanzberichtes der Bundesregierung sind seit 1991 Liegenschaften im
Wert von fast 22 Milliarden DM veräußert worden. Ein
großer Teil dieser 22 Milliarden DM - 15 Milliarden DM
im Westen, knapp 7 Milliarden DM im Osten - entstand
aus frei gewordenen Liegenschaften der Bundeswehr.
Wenn Sie damals mit dem Finanzminister eine Vereinbarung gehabt hätten, so wie sie jetzt besteht, dann wäre es
im laufenden Haushaltsvollzug nicht notwendig gewesen,
der Bundeswehr immer wieder Mittel zu entziehen. Dann
wären diese Lücken nicht entstanden. Das ist der eine
Hinweis, den ich Ihnen geben möchte.
Der zweite Hinweis, den ich Ihnen geben möchte: Im
Laufe der nächsten zehn Jahre ist nach geltender Finanzplanung im Bereich der Informationstechnologie allein
durch reine Kommunikationskosten ein Betrag von 10 bis
11 Milliarden DM in den Betriebskosten, in den Ausgaben veranschlagt worden. Wer mit Unternehmen aus diesem Sektor redet, weiß, welche Rationalisierungspotenziale hier liegen. Uns liegen Angebote auf dem Tisch, die
in die Richtung von mindestens 2,5 Milliarden DM senkbarer Betriebskosten gehen.
Dritter Hinweis. Im Bereich der Bekleidungswirtschaft
der Bundeswehr sind für die nächsten zehn Jahre Ausgaben von 5 bis 6 Milliarden DM geplant. Jeder, der mit Unternehmen aus diesem Bereich redet, ob das die Logistik,
die Bekleidungswirtschaft oder andere sind, sagt Ihnen,
dass Einsparungen von mindestens 10, vermutlich sogar
20 Prozent erzielbar sind. Bezogen auf die Gesamtausgaben in den nächsten zehn Jahren reden wir also über Beträge im informationstechnischen Bereich von mindestens 2,5 Milliarden DM zu senkender Betriebskosten, im
Bereich der Bekleidungswirtschaft von mindestens 500
bis 600 Millionen DM zu senkender Betriebskosten.
Welchen Unsinn Sie betrieben haben, will ich Ihnen an
einem vierten Beispiel verdeutlichen. Sie hatten geplant,
für die Bundeswehr Bürstenwaschanlagen zu bauen. Das
sind jene Anlagen, die man von den Tankstellen kennt.
Das Dumme ist: Sie haben übersehen, dass die Fahrzeuge
der Bundeswehr in der Regel Aufbauten und anderes haben, sodass sie durch eine normale Bürstenwaschanlage
nicht durchgefahren werden können. Ergebnis: Weit über
50 Prozent des Fahrzeugbestandes der Bundeswehr müssen trotzdem weiterhin von Hand gewaschen werden.
({13})
Sie haben damit Investitionen in fast dreistelliger Millionenhöhe sinnlos in den Sand gesetzt.
({14})
Sie haben in Kauf genommen, dass eine Auslastung von
gerade einmal 20 Prozent erfolgt. Deshalb habe ich im Interesse einer nachhaltigen Modernisierung der Streitkräfte gesagt: Diesen Quatsch werden wir nicht fortsetzen. Die 276 Millionen DM, die damals von Ihnen im
Zusammenhang mit diesem Kuriosum eingeplant waren,
sind schlicht gestrichen. Sie werden in die Modernisierung der Streitkräfte gesteckt, anstatt durch solchen betriebswirtschaftlichen Unsinn verschleudert zu werden.
({15})
Unter dem Strich gewinnen wir mit diesen Maßnahmen ab
2001 finanzielle Gestaltungsspielräume in erheblichem
Umfang. Wir werden sie, wie gesagt, vollständig für die
Erneuerung der Ausrüstung nutzen.
Die Grobausplanung, die von den Streitkräften vorgenommen worden ist, wurde mir in ihrer abschließenden
Form zu Beginn dieser Woche vom Generalinspekteur
vorgelegt. Die wesentlichen Ergebnisse sind in einer kleinen Broschüre zusammengefasst, die präzise dem Inhalt
der Unterrichtung des Kabinetts entspricht. Diese Informationen sind gestern allen Abgeordneten des Deutschen
Bundestages zugeleitet worden. Mit Blick auf diese Informationen beschränke ich mich auf einige ergänzende
Hinweise.
Die Organisation des Bundesministeriums der Verteidigung wird durch die Einführung eines Einsatzrates
und eines Rüstungsrates unter dem Vorsitz des Generalinspekteurs sowie mit dem Aufbau eines Leistungscontrollings und mit der bereits erfolgten Bestellung eines IT-Direktors deutlich verbessert. In der neuen Streitkräftebasis
werden künftig alle den Teilstreitkräften gemeinsamen
Aufgaben wahrgenommen. Querschnittaufgaben und
Ausbildung werden zusammengefasst, der Sanitätsdienst
grundlegend umgestaltet.
Entgegen mancher Vermutung - auch heute in der
Presse - füge ich hinzu: In der Streitkräftebasis und mit
Blick auf die logistischen Systeme der Bundeswehr werden zwei Missstände beseitigt. Der eine Missstand besteht
in 360 unterschiedlichen informationstechnischen Inseln,
die ich alle vorgefunden habe. Sie sind betriebswirtschaftlich unverantwortlich teuer und sorgen leider auch
noch dafür, dass die Streitkräfte ihre Aufgaben nicht effizient wahrnehmen können. 360 informationstechnische
Inseln haben wir identifiziert!
({16})
Wir brauchen aber eine gemeinsame informationstechnische Grundlage.
Herr Kollege Schmidt, wenn Sie dazwischenrufen „Für
jeden Tag eine“, dann fordere ich Sie auf, sich mit den für
die Bundeswehr leider sehr nachteiligen Ergebnissen Ihrer Regierungspolitik etwas seriöser als mit einem so
dümmlichen Zwischenruf auseinander zu setzen.
({17})
Als Beispiel für einen zweiten Missstand verweise ich darauf, dass wir auch in der Logistik höchst unterschiedliche Systeme haben, die teuer, unwirtschaftlich und im
Rahmen der Aufgabenwahrnehmung ineffizient sind.
Vor diesem Hintergrund werden wir in der Streitkräftebasis und gemeinsam mit der Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung und Betrieb all das identifizieren, was
nicht zu den militärischen Kernaufgaben gehört. Das, was
nicht zu den militärischen Kernaufgaben gehört, wird
- einschließlich der Wahrnehmung logistischer Aufgaben - der Kooperation mit der Wirtschaft geöffnet.
({18})
Deshalb verhandeln wir zurzeit mit dem Bundesverband
der Deutschen Industrie und mit dem Transportgewerbe
über einen gemeinsamen Transport- und Logistikverbund
für die Bundeswehr in Kooperation mit der Wirtschaft.
Deshalb verhandeln wir mit der Wirtschaft über die
Wahrnehmung gemeinsamer Aufgaben im Bereich der informationstechnischen Ausbildung und werden bis Mitte
des nächsten Jahres mindestens fünf Kompetenzzentren
für Informationstechnik gemeinsam mit der Wirtschaft
gebildet haben. Deshalb verhandeln wir mit der Wirtschaft über gemeinsame Betriebsgesellschaften von der
Informationstechnik über Bekleidung bis hin zu anderen
Themen. Wir tun dies immer mit dem Ziel, die Wirtschaftlichkeit, die Effizienz und die Kostengunst in der
Bundeswehr zu erhöhen, bestimmte Aufgaben gemeinsam mit der Wirtschaft wahrzunehmen und unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sichere, hoch qualifizierte
und mit besseren beruflichen Perspektiven versehene
Arbeitsplätze bieten zu können.
({19})
Im Übrigen erhalten Heer, Luftwaffe und Marine
schlanke Führungsstrukturen; sie werden auf die Wahrnehmung der Einsatzaufgaben konzentriert.
Meine Damen und Herren, der Präsenzumfang der
Streitkräfte wird 258 000 Soldaten betragen. Hinzu
kommen 22 000 Dienstposten für ausschließlich zivilberufliche Qualifizierung und 2 000 Wehrübungsplätze, deBundesminister Rudolf Scharping
ren Zahl im Zuge der Feinausplanung noch im Einzelnen
zu überprüfen und danach detailliert festzulegen sein
wird.
Der Präsenzumfang wird sich aus Einsatzkräften und
einer militärischen Grundorganisation zusammensetzen,
die im Verbund auch die Aufwuchsfähigkeit für Landesund Bündnisverteidigung sicherstellen kann und Bündnisaufgaben wahrnimmt. Die bisherige Trennung zwischen Krisenreaktionskräften und Hauptverteidigungskräften wird aufgehoben. Sie ist unzweckmäßig.
({20})
Die Zahl der Einsatzkräfte wird auf 150 000 Soldaten
erhöht und damit im Vergleich zu heute fast verdreifacht.
Mindestens jeder zweite - nicht wie bisher nur etwa jeder
sechste - Soldat wird also für Einsatzaufgaben unmittelbar zur Verfügung stehen.
Im Rahmen dieser Struktur wird die Bundeswehr künftig 200 000 Berufs- und Zeitsoldaten haben, also 12 000
mehr als zurzeit. Durch diese neue Zielgröße werden wir
einen kontinuierlichen Aufwuchs erreichen und im Übrigen 80 000 Dienstposten für Grundwehrdienstleistende
hinzufügen, was im Ergebnis jährlich zu mehr als
100 000 Einberufungen führen wird. Damit beträgt der
Friedenspersonalumfang der Bundeswehr 360 000 Menschen, einschließlich der in der neuen Struktur für notwendig gehaltenen 80 000 bis 90 000 Dienstposten - das
Wort „Dienstposten“ verwende ich ausdrücklich - für zivile Mitarbeiter.
Damit wird die Bundeswehr in die Lage versetzt, die
für die Bundesrepublik Deutschland eingegangenen Verpflichtungen innerhalb der NATO und der Europäischen Union wirklich zu erfüllen. Der Schwerpunkt, was
die Verbesserung der Ausrüstung angeht, liegt auf den
Schlüsselfähigkeiten. Das sind strategischer Transport,
strategische Aufklärung, Kommunikations- und Führungsfähigkeit.
Dazu hat die Rüstungskonferenz wesentliche Akzente
gesetzt und die Priorisierung der Vorhaben vorgenommen. Zwischenzeitlich ist ein neues Regelwerk für die Beschaffung und die Entwicklung von Wehrmaterial eingeführt worden. Damit werden die Beschaffungszeiten
halbiert und das Entwicklungsrisiko wird reduziert. Die
Soldaten werden über moderne Ausrüstung schneller verfügen, als es in der Vergangenheit möglich war.
({21})
Im Übrigen machen diese Bemerkungen deutlich, dass
die Reform in die Bündnisinitiativen und die wachsende
europäische Integration konsequent eingebettet ist. Beides, die Bündnisinitiativen wie die wachsende europäische Integration, eröffnet Wege, Kosten zu sparen. Ich erwähne die von Deutschland ausgegangene und mit
Frankreich gemeinsam ergriffene Initiative für ein europäisches Lufttransportkommando. Ich erwähne den gemeinsamen satellitengestützten Aufklärungsverbund, das
gemeinsame Transportflugzeug, die Europäische Rüstungsagentur und die jüngst mit den Niederlanden getroffene Grundsatzvereinbarung über den Aufbau gemeinsamer Transportkapazitäten der See- und Luftstreitkräfte
unter gemeinsamer Führung, mit gemeinsamer Nutzung
und mit gemeinsamer Finanzierung. Es ist sicherheitspolitisch ein echter Durchbruch, dass sich zwei Nationen darauf verständigen, gemeinsame Kapazitäten integriert zu
entwickeln und im Übrigen auch gemeinsam zu finanzieren.
Die politische Führung und die militärische Führung
der Bundeswehr sind sich einig: Die Reform der Bundeswehr muss bei den Menschen ansetzen. Sie stellen das
größte Kapital der Streitkräfte dar. Das führt zur Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht, freilich unter
geänderten Rahmenbedingungen. Die Wehrdienstdauer
wird, wie bekannt, im Jahre 2002 auf neun Monate verkürzt. Die Möglichkeit einer abschnittsweisen Ableistung
des Wehrdienstes wird eingeräumt.
Die Bundeswehr braucht aber über die Wehrpflichtigen
hinaus sehr gut ausgebildete, hoch motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im militärischen wie im zivilen
Bereich. Wer will denn schon in einem Unternehmen arbeiten, das nicht in der Lage ist, seine Mitarbeiter leistungsgerecht zu bezahlen, weil die erforderlichen Planstellen fehlen? Wer will denn in einem Unternehmen
arbeiten, das hohe Mobilität und Abstriche im privaten
Bereich fordert, während es gleichzeitig mit einer Einstiegsbesoldung lockt, die im Vergleich zu allen Sicherheitsberufen die schlechteste ist? Wer will denn schon in
einem Unternehmen arbeiten, das eine zeitlich befristete
Arbeitsplatzsicherheit gibt, aber nur unzureichend organisierte und manchmal zufällige berufliche Qualifizierungsmöglichkeiten für die problemlose Wiedereingliederung in das zivile Erwerbsleben bietet? Das ist der
gegenwärtige Zustand. Er muss und wird verändert werden. Wir werden die Attraktivität des Dienstes erhöhen
und damit die Leistungsfähigkeit der Bundeswehr und
ihre Nachwuchsgewinnung sichern.
({22})
Die akademische Ausbildung der Offiziere wird durch
eine qualifizierte Berufsausbildung in allen anderen Laufbahnen ergänzt werden. Das werden wir in enger Zusammenarbeit mit Industrie, Wirtschaft und Handwerk bewerkstelligen. Ich will den Deutschen Bundestag darüber
informieren, dass wir mittlerweile fast alle Industrie- und
Handelskammern und fast alle Handwerkskammern
ebenso wie über 300 Unternehmen für diese Kooperation
gewinnen konnten. Jeder länger dienende Soldat wird in
Zukunft in den Streitkräften die Möglichkeit haben, seine
zivilberufliche Qualifikation zu verbessern: Wer als Geselle kommt, kann Meister werden. Wer als Facharbeiter
kommt, kann Techniker werden. Wer als Hauptschulabgänger ohne Berufsabschluss kommt, kann eine einfache
zivilberufliche Qualifikation erwerben.
({23})
Wie ernst und wichtig diese Aufgabe ist, das wird für
jedermann in der genannten Zahl von 22 000 Dienststellen für zivilberufliche Qualifikationen, für Berufsfördermaßnahmen und anderes sichtbar. Ich jedenfalls kenne
kein anderes Unternehmen in der Bundesrepublik
Deutschland, das ständig 8 Prozent seiner Mitarbeiter
freistellt und in deren berufliche Qualifizierung investiert.
Im gleichen Geiste werden wir die Unteroffizierlaufbahn
neu ordnen und den Bewerbern ein maßgeschneidertes,
auch auf ihre persönlichen Vorstellungen abgestimmtes
Angebot unterbreiten können.
Wir werden die militärischen Besoldungs- und Laufbahnstrukturen reformieren und damit dafür sorgen,
dass der Arbeitsplatz Bundeswehr für junge Menschen attraktiv bleibt. Das geschieht durch die Erhöhung der
Eingangsbesoldung auf A 3, das geschieht durch die Dotierung der Einheitsführer nach A 12. Mit diesen und anderen Maßnahmen werden wir den Anschluss an das Besoldungsniveau des übrigen öffentlichen Dienstes wieder
herstellen.
({24})
Ich hoffe, das Parlament wird auch den erforderlichen
Maßnahmen zur Beseitigung des Beförderungs- und
Verwendungsstaus zustimmen. Wir haben über
8 000 Menschen in der Bundeswehr auf Dienstposten, die
nicht die Bezahlung erhalten, die mit dem Dienstposten
eigentlich verbunden sein müsste. Deshalb müssen im
mittleren und im gehobenen Dienst 200 Stellen gehoben
werden. Deshalb bedürfen wir der Umwandlung der zeitlich befristet zur Verfügung gestellten circa 900 A 9- bzw.
A 9+Z-Stellen. Deshalb bedürfen wir der insgesamt etwa
2 400 Stellenanhebungen, um die Laufbahn der Unteroffiziere und Feldwebel attraktiv zu gestalten und den Beförderungsstau, den die damalige Regierung und damit
Sie zu verantworten haben, endlich auflösen zu können.
Deshalb bedürfen wir der fast 1 800 Stellen im Bereich
der Offiziere, um dort das Gleiche zu tun.
Ich kann hier nur schildern, dass ich einen Zustand vorgefunden habe, den ich in keiner Weise mehr für verantwortbar hielt.
({25})
Es sind nicht nur 8 000 Menschen unterwertig bezahlt
worden, sondern weitere 8 000 Menschen befanden sich
in einem personellen Überhang, der ebenfalls abgebaut
werden muss und mit der wachsenden Zahl von Berufsund Zeitsoldaten harmonisiert werden muss.
Ich will hier zum Schluss erwähnen, dass wir die Streitkräfte in ihrer ganzen Vielfalt auch für Frauen öffnen,
und zwar für den freiwilligen Dienst, ohne irgendeinen
Verwendungsbereich auszuschließen, sondern ausschließlich an Eignung, Leistung und Befähigung orientiert.
({26})
Das, meine Damen und Herren, bedeutet: Die Bundeswehr der Zukunft wird nicht nur durch moderne Ausrüstung und Ausstattung geprägt sein, sondern sie wird auch
durch modernste Managementmethoden, durch Kostenund Verantwortungsbewusstsein und ein hohes Innovationspotenzial geprägt sein. Sie wird sich durch gut ausgebildete und hoch motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als der wichtigsten Ressource in einer modernen
Wissens- und Informationsgesellschaft auszeichnen. Im
Übrigen wird sich die Bundeswehr durch ein hohes Maß
an Motivation auszeichnen, die sie ja auch in den vergangenen Jahren trotz der erheblichen strukturellen Mängel
bewiesen hat.
Wir haben vor wenigen Tagen an „10 Jahre Armee der
Einheit“ erinnert. Wer die Leistungsfähigkeit der Bundeswehr und der dort versammelten Menschen betrachtet, ob das der Einsatz im Oderbruch, in Bosnien, im Kosovo, in Osttimor, in Mosambik, wo auch immer in
Deutschland oder draußen war, muss feststellen: Die
Menschen der Bundeswehr haben nicht nur Worte des
Dankes und der Anerkennung verdient, sondern auch Taten, in denen sich diese Anerkennung ausdrückt.
({27})
Im Übrigen: Nie zuvor ist in so kurzer Zeit und auf so
solide Weise eine Grobausplanung für die Streitkräfte
nicht nur abgeschlossen, sondern auch dem Parlament offen vorgestellt worden. Auch das ist neu. Ich halte es für
richtig und notwendig, dass wir darüber hier diskutieren.
Ich hoffe sehr, dass bei allen legitimen und notwendigen Debatten der parteiübergreifende Konsens hinsichtlich dieser historischen Reform der Bundeswehr im
Vordergrund steht. Diese Reform befähigt unsere Streitkräfte - multinational eingebettet - zur gemeinsamen
Friedenssicherung in der NATO und in der Europäischen
Union und führt sie wieder auf das Maß an Leistungsfähigkeit zurück, das unsere Bündnispartner von der Bundesrepublik Deutschland zu Recht verlangen.
Vielen Dank.
({28})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Günther Nolting, F.D.P.Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Herr Minister, die Planung, die Sie vorlegen, ist unseriös
und unlauter.
({0})
Ich will Ihnen das an Beispielen aufzeigen.
Als wir noch Verantwortung getragen haben, betrug
der Haushalt 48,4 Milliarden DM. Als Sie 1999 Verantwortung trugen, waren es 47,3 Milliarden DM. Im
Jahre 2001 wird der Haushalt mit 44,8 Milliarden DM zu
Buche stehen. Dabei sind jeweils die 2 Milliarden DM für
die Auslandseinsätze nicht enthalten. Sie reduzieren dann
noch einmal um 1,1 Milliarden DM. Wir haben also eine
Reduzierung um insgesamt 4,7 Milliarden DM. Das heißt:
In diesem Zeitraum entziehen Sie dem Haushalt insgesamt 18 Milliarden DM. Sie können diese Zahlen heute in
der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ nachlesen. Ich
denke, die dort aufgeführten Zahlen sind richtig.
Außerdem haben Sie die alte mittelfristige Finanzplanung völlig über den Haufen geworfen. An dieser Finanzplanung orientieren Sie sich also nicht mehr. Ebenso ist
Ihre Einschätzung hinsichtlich der Einnahmeseite unseriös. Sie gehen von Erlösen und Gewinnen aus, die im
Moment überhaupt noch nicht feststehen. Hier herrscht
also das Prinzip Hoffnung.
Wie unrealistisch und unseriös Ihre Planung ist, zeigt
sich an dem von Ihnen angeführten lächerlichen Beispiel
der Bürstenwaschanlage.
({1})
Wenn Sie danach Ihre Reform ausrichten, dann scheint es
damit wirklich nicht zum Besten gestellt zu sein.
Ich will Ihnen ein zweites Beispiel für Ihre unseriöse
Planung nennen. Sie haben gerade die Anhebung der Eingangsbesoldung nach A 3 angeführt. Diese Anhebung ist
richtig und wird von uns unterstützt. Sie haben ferner erklärt, Sie wollen weitere Anhebungen bei den Planstellen
für Unteroffiziere und Offiziere. Dem stimmen wir ebenfalls zu.
({2})
Sie wollen die Ausrüstung und die Bewaffnung modernisieren. Auch dem stimmen wir zu. Aber ich frage Sie: Womit wollen Sie das finanzieren? Ihnen fehlt doch das Geld.
Auch an dieser Stelle verweise ich noch einmal auf die
„Frankfurter Allgemeine Zeitung“ von heute.
Ich nenne Ihnen ein drittes Beispiel für Ihre unlautere
Planung. In Ihrem Papier schreiben Sie - wir haben es im
Gegensatz zur Presse erst heute Morgen bekommen; das
ist nicht der Stil, in dem man mit dem Parlament umgeht -,
({3})
dass die Aufträge der Bundeswehr eine Einsatzorientierung bereits im Frieden erfordern, dass auf Grundwehrdienstleistende dafür jedoch nicht zurückgegriffen werden kann. Ich frage Sie: Warum halten Sie dann noch an
der Wehrpflicht fest? Sie greifen doch ohne Begründung
massiv in die freie Lebensplanung der jungen Männer ein.
({4})
Die Ableistung des Wehrdienstes ist ein weiteres Kuriosum.
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist zu Ende.
Ich komme zum
Schluss. - Das ist Wehrdienst nach Beliebigkeit.
({0})
Herr Minister, Sie
haben die Möglichkeit zu antworten. - Bitte schön.
Herr Kollege Nolting, nachdem Sie mit Ihrer Kurzintervention zumindest den Verdacht genährt haben, dass Sie
der Rede Ihres Partei- und Fraktionsvorsitzenden nicht so
recht trauen,
({0})
möchte ich Sie zunächst einmal in der Sache auf Folgendes hinweisen. Sie haben von 48,4 Milliarden DM gesprochen. Das war die Planzahl für 1998. Ich beziehe
mich aber nicht auf Planzahlen, sondern auf tatsächliche
Zahlen. Das ist der einzige sinnvolle Maßstab.
1995 wurden 47,5 Milliarden DM, 1996 47,2 Milliarden DM, 1997 46,2 Milliarden DM, 1998 46,8 Milliarden DM ausgegeben.
({1})
Verglichen mit dem 28. Finanzplan waren das in der
Summe 4,2 Milliarden DM weniger, als Sie selbst beschlossen hatten;
({2})
verglichen mit dem 29. Finanzplan, also dem für 1995
- er ist ja ein bisschen realitätsnäher, jedenfalls hinsichtlich der Jahreszahl -, waren es in der Summe 5,7 Milliarden DM weniger.
In die Investitionen für die Bundeswehr flossen
während Ihrer Regierungszeit 1996 5,6 Milliarden DM,
1997 5,3 Milliarden DM, 1998 6,5 Milliarden DM; in der
Summe 6,16 Milliarden DM weniger als in den Haushaltsjahren, die wir zu verantworten haben.
({3})
Damit ist das, was Sie hier zu suggerieren versucht haben,
zumindest als ziemlich oberflächlich zu charakterisieren.
({4})
Sie können gerne weiter argumentieren, dass die
Finanzplanungszahlen des Jahres 1998 einen Vergleich
mit dem erlauben, was diese Regierung und diese Koalition zu verantworten haben. Ich sage Ihnen: Durch diese
hier eindeutig nachprüfbaren, in der Realität verankerten
Zahlen ist bewiesen, dass Ihre Finanzplanungszahlen
keine seriöse Grundlage waren und folglich als Vergleichsbasis untauglich sind.
({5})
Sie haben der Bundeswehr allein in den Haushaltsjahren zwischen 1994 und 1998 durch globale Minderausgaben und andere Eingriffe in den laufenden Haushalt
über 4 Milliarden DM entzogen. Es ist besonders schädlich, in einen beschlossenen Haushaltsplan zum Teil mit
Reduzierungen um mehr als 1 Milliarde DM pro Jahr einzugreifen.
({6})
Auch das haben Sie zu verantworten.
Was ich zu verantworten habe, sind zunächst die Zahlen des Jahres 1999. Ich habe, auch innerhalb der Koalition, heftige Auseinandersetzungen bestehen müssen; das
weiß jeder. Das hat dazu geführt, dass die Haushaltsansätze von 47,05 Milliarden DM im Jahr 1999 durch die
tatsächlich getätigten Ausgaben von über 48 Milliarden DM um mehr als 1 Milliarde DM übertroffen worden
sind. Es ist ein fundamentaler, grundlegender, zugunsten
der Bundeswehr erreichter Unterschied, dass die Haushaltszahlen nicht mehr unterboten, sondern übertroffen
werden und dass die Ausgaben für die Ausrüstung der
Bundeswehr alleine in den drei Haushaltsjahren, über die
wir hier reden, um über 6 Milliarden DM höher liegen
werden als in den letzten drei Jahren Ihrer Regierungstätigkeit.
({7})
Das alles sind Realitäten, über die es sich zu reden lohnt.
Noch zwei kurze Bemerkungen, zunächst zur Verteilung der Broschüre. Ausweislich des Eingangsstempels
der Poststelle des Deutschen Bundestages waren alle erforderlichen Exemplare gestern um 16.13 Uhr in der Poststelle des Deutschen Bundestages abgeliefert.
({8})
Damit erledigt sich meine Verantwortung. Ich habe, wie
Sie sehr genau wissen, gestern um 17 Uhr mit der Presse
zusammengesessen.
Wichtiger ist, was Sie zu den Grundwehrdienstleistenden gesagt haben. Diejenigen, die den Grundwehrdienst in seiner gesetzlich festgelegten Form leisten, können zu Auslandseinsätzen nicht herangezogen werden;
das ist richtig. Diejenigen, die sich freiwillig bereit erklären, beispielsweise wegen eines Auslandseinsatzes ihre
Wehrdienstzeit zu verlängern, werden dazu herangezogen.
Ich mache dazu nur folgende Hinweise. Von
2 700 Mannschaftsdienstgraden im Kosovo sind
1 600 Wehrdienstleistende. In den betroffenen Einheiten
mit der Frage konfrontiert, ob sie ihren Wehrdienst wegen
der Einsatznotwendigkeit freiwillig verlängern, haben
sich 85 Prozent der Befragten, die zurzeit zehn Monate
Wehrdienst ableisten, bereit erklärt, diesen Einsatz mit
ihren Kameraden zu bewältigen und deshalb ihre Wehrdienstzeit freiwillig zu verlängern.
Sie schlagen den jungen Männern ins Gesicht, die ein
sehr hohes Maß an Verantwortungsbereitschaft und
Kameradschaft zeigen, und zwar nur deshalb, weil Sie
eine ideologische Position zum Wehrdienst begründen
wollen, die sich übrigens auch in Ihrer Partei hier und da
als umstritten herausstellt und die sich bei dem einen oder
anderen mit einer Geschwindigkeit geändert hat, die
nachzuvollziehen mir bei der mir nachgesagten Langsamkeit leider nicht gelingt.
({9})
Ich gebe nunmehr
das Wort für die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen
Ruprecht Polenz.
({0})
- Er spricht als General-Sekretär zur Bundeswehr.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Der Verteidigungsausschuss
hat gestern sieben Stunden getagt. Herr Minister, Sie haben es nicht für nötig gehalten, den Kolleginnen und Kollegen in dieser Sitzung Ihr Papier vorzustellen. Das haben
Sie dann am Nachmittag einigen Journalisten gegenüber
getan. Herr Minister, ich halte es für ein starkes Stück, den
Ausschuss im Ungewissen zu lassen, obwohl Ihre
Hochglanzbroschüre bereits gedruckt war.
({0})
Erst spätabends - Sie brauchen in diesem Zusammenhang nichts von Posteingangsstempeln zu erzählen - ging
Ihr dickes Papier dann über die Postverteilstelle an die
Abgeordneten. Sie wussten ganz genau, dass viele unserer Kollegen dieses Papier nicht rechtzeitig zur heutigen
Debatte erhalten würden. Herr Minister, das ist eine Missachtung des Parlaments, eine Missachtung der Abgeordneten. Sie hätten besser daran getan, sich heute dafür zu
entschuldigen, als sich in dieser fadenscheinigen Weise zu
rechtfertigen.
({1})
Ihre Broschüre heißt im Untertitel „Grobausplanung.
Ergebnisse und Entscheidungen“. Im militärischen
Sprachgebrauch bedeutet „Ausplanung“:
({2})
Verlust des Dienstpostens, Streichung aus der Liste der
Mobilmachungsbeorderten, Abgabe des Seesacks und
Entgegennahme der gelochten Kampfstiefel, der Socken
und der Unterwäsche. Ist das Ihre Zukunftsvorstellung
von der Bundeswehr, Herr Minister? Unsere jedenfalls ist
es nicht.
({3})
Nun zu Ihrem Papier, zur „umfassendsten Reform der
Bundeswehr seit ihrem Bestehen“, wie Sie schreiben.
({4})
Wir dürfen Sie jetzt also den umfassendsten Reformator
aller Zeiten nennen, Herr Minister.
({5})
Ihr Konzept - jetzt werde ich ernster - wird von dem Prinzip Hoffnung gespeist. Es enthält zwar einen Fahrplan.
Aber Lokomotive und Kohlen sind nicht in Sicht.
Ich habe mir gestern die Mühe gemacht, Ihr Papier zu
lesen. Vieles darin liest sich nicht schlecht. Auch wir sind
für eine Strukturreform der Bundeswehr. Aber wir nennen
dafür klare Bedingungen. Sie lassen wichtige Fragen weiter offen. Sie schweigen sich über die Standortfragen
aus; Sie machen keine genauen Angaben über die Streichung oder Verschiebung der Beschaffungsmaßnahmen.
Es gibt keinerlei Angaben über Prioritätensetzungen in
Ihrem Papier. Und vor allem: Wo sind die Angaben zu Ihrer Haushaltsplanung? Davon ist in Ihrer gesamten Grobausplanung kein Wort zu lesen. Ihre Neuausrichtung ist
ein gut gemeintes Konstrukt, eine Wunschliste ohne jeden
finanziellen Bezug zur Realität. Mit einer verantwortungsvollen Sicherheits- und Verteidigungspolitik hat das
nichts zu tun. Herr Minister, Sie lassen sich die Realität
schönschreiben. Das Schlimme ist, dass Sie selber daran
glauben.
In der letzten Debatte zu diesem Thema im Juni dieses
Jahres haben wir Ihnen eine faire, konstruktive Aussprache zur Zukunft der Bundeswehr angeboten. Dieses Angebot haben Sie ausgeschlagen. Statt das Gespräch mit
uns zu suchen, setzen Sie Ihren unverantwortlichen Kürzungskurs fort, der unsere Streitkräfte immer mehr auszehrt. Denn es ist ausgeschlossen, dass die Bundeswehr
den wachsenden verteidigungspolitischen Aufgaben bei
einem ständig weiter sinkenden Verteidigungsetat gerecht
werden kann.
({6})
Herr Minister, es gibt eine gewaltige Lücke zwischen
den Bedrohungsszenarien, die auch Sie anerkennen, und
den Mitteln, die die Regierung für die Bundeswehr bereitstellt.
({7})
Nur wenn wir eine breite Debatte über die sicherheitspolitischen Herausforderungen führen, wird es gelingen,
dass die notwendigen Finanzmittel für eine wirksame Sicherheitsvorsorge bereitgestellt werden. Warum verweigern Sie diese sicherheitspolitische Debatte? Aus Angst
vor den Grünen, aus Angst vor Finanzminister Eichel oder
sogar schon aus Rücksichtnahme auf die PDS?
({8})
Herr Minister, auf der internationalen Bühne haben Sie
selbst doch das strategische Konzept der NATO von
1999 unterschrieben. Dort werden die neuen Risiken doch
in aller Deutlichkeit benannt: die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, ethnische oder religiöse Konflikte und der Zerfall von Staaten wie jetzt auf dem Balkan. Sie haben versprochen, 18 000 deutsche Soldaten für
die schnelle Eingreiftruppe der Europäischen Union zur
Verfügung zu stellen. Wir begrüßen diese Entscheidung
ausdrücklich, Herr Minister; denn sie beruht auf der zutreffenden Erkenntnis, dass Europa sicherheitspolitisch
mehr tun muss, nicht weniger.
Auf dem internationalen Parkett geben Sie Versprechungen ab. Wenn es aber darum geht, diese Versprechungen auch tatsächlich einzulösen, können Sie sich im
Kabinett nicht durchsetzen.
Sie erzählen gerne, Herr Minister, dass Ihre Pläne international gelobt würden. Da muss ich bei der letzten
Wehrkundetagung in München auf einer anderen Veranstaltung gewesen sein als Sie.
({9})
Dort wurde der Verteidigungsbeitrag Deutschlands von
allen Bündnispartnern als zu gering eingeschätzt. NATOGeneralsekretär Robertson und US-Verteidigungsminister Cohen haben den sinkenden Verteidigungsetat
Deutschlands mit deutlichen Worten kritisiert. Diese Kritik war und ist berechtigt.
({10})
Um es kurz zu sagen: Durch die Unterfinanzierung gefährden Sie die Bündnis- und Europafähigkeit der Bundeswehr. Denn es gibt schon jetzt erhebliche Defizite im
Bereich Aufklärung und Kommunikation. Bisweilen sind
unsere Einheiten international nicht mehr kooperationsfähig.
({11})
Die Bundeswehr hat erhebliche Probleme, ihren Verpflichtungen in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo
nachzukommen.
({12})
Doch zugleich kommen neue Aufgaben hinzu.
Wie gesagt: Wir unterstützen die Schaffung einer
schnellen Eingreiftruppe der EU; doch fordern wir auch,
dass Sie dafür die notwendigen Mittel bereitstellen. Sie
haben angekündigt, 73 Airbus-Transportflugzeuge zu
beschaffen. Aber die Mittel dafür stellen Sie im Verteidigungshaushalt nicht ein.
({13})
Unsere Partner fragen sich, ob Deutschland zu seinen Zusagen steht oder nicht. Deutschland wird schon jetzt zu einem Unsicherheitsfaktor für seine Partner.
({14})
Wie Sie diese international gemachten Versprechungen
einhalten wollen, bleibt Ihr Geheimnis.
Diese Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit
kennzeichnet allerdings nicht nur die Verteidigungs- und
Sicherheitspolitik. Mehr Schein als Sein ist das traurige
Markenzeichen der Außenpolitik insgesamt geworden.
Das Auswärtige Amt ist chronisch unterfinanziert; Konsulate, Botschaften und Goethe-Institute mussten geschlossen werden.
({15})
Wie Sie deutsche Interessen im Ausland so durchsetzen
wollen, bleibt ein Rätsel.
Sie sprechen vollmundig von Krisenprävention und internationaler Verantwortung - und kürzen bei der Entwicklungshilfe. Sie sprechen von einem neuen Stellenwert der Menschenrechte - und kürzen bei den politischen
Stiftungen, die in vielen schwierigen Ländern Rechtsstaatlichkeit und Demokratie fördern.
({16})
Sie sprechen vom Gewicht Deutschlands im Bündnis aber mit einem Anteil von 1,1 Prozent am Bruttoinlandsprodukt wird Deutschland im kommenden Jahr bei den
Verteidigungsausgaben der NATO auf den vorletzten
Platz zurückfallen. Sie sprechen vom deutschen Einfluss
in der Europäischen Union - aber bald stellt Deutschland
nur noch einen der einflussreichen Generaldirektoren in
der Europäischen Kommission; vor wenigen Jahren waren es noch fünf.
Wir verlieren unter dieser rot-grünen Bundesregierung
an Gewicht und Einfluss.
({17})
Aber Sie träumen von einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat und reden von einer führenden Rolle Deutschlands in Europa. Wenn die Bundesregierung solche vollmundigen Sprüche einlösen wollte, müsste Deutschland
in der Verteidigungspolitik Vorbild sein und nicht Nachhut und Schlusslicht.
Der von Ihnen, Herr Minister, geplante Umbau der
Bundeswehr ist unterfinanziert und der Verteidigungshaushalt sinkt bis zum Jahre 2003 weiter, trotz Ihrer Buchungstricks. Sie haben ja schon 2 Milliarden DM für die
Auslandseinsätze in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo aus dem allgemeinen Haushalt in den Verteidigungsetat verschoben - und trotzdem sinkt dieser Etat von
46,7 Milliarden DM im Jahr 1998 auf 45,7 Milliarden DM
im Jahr 2003. Die Folge: angesichts steigender Personalkosten ein dramatisches reales Absinken des Verteidigungsetats.
({18})
Das Ziel, eine Investitionsquote von 30 Prozent zu erreichen, rückt so in weite Ferne.
Außerdem rechnen Sie sich reich. Die von Annette
Fugmann-Heesing geleitete Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung und Betrieb der Bundeswehr soll im
kommenden Jahr 1 Milliarde DM durch Privatisierungserlöse und durch Kooperationen mit der Wirtschaft erzielen. Das ist eine völlig unrealistische Summe; denn bislang hat die Gesellschaft noch nicht einmal angefangen zu
arbeiten und ihr Hauptzweck ist doch wohl eher, altgediente Sozialdemokraten mit hoch dotierten Jobs zu versorgen.
({19})
Beim Großen Zapfenstreich im Schlosspark Sanssouci vor wenigen Tagen haben Sie, Herr Minister - Sie
haben gerade noch einmal daran erinnert -, ausdrücklich
gewürdigt, dass die Bundeswehr in den vergangenen zehn
Jahren Großartiges geleistet hat.
Die Bundeswehr
- ich zitiere Sie gern war in vielerlei Hinsicht auch ein Schrittmacher der
Einheit und des Zusammenwachsens im Innern.
In der Tat: Die Bundeswehr ist die Armee der Einheit.
Das ist aber auch eine große Leistung von Gerhard
Stoltenberg und Volker Rühe, denen ich an dieser Stelle
für ihre Arbeit als Verteidigungsminister ausdrücklich
danken möchte.
({20})
Es ist nicht damit getan, die großen Leistungen der
Bundeswehr vor der historischen Kulisse Sanssoucis zu
würdigen. Den schönen Worten und Bildern müssen Taten folgen. Herr Scharping, Sie sind jetzt zwei Jahre als
Verteidigungsminister im Amt und trotzdem - heute haben Sie es wieder getan - wiederholen Sie gebetsmühlenartig die Vorwürfe gegen Ihre Vorgänger.
({21})
Sie tun gerade so, als hätte sich Rot-Grün seinerzeit, als
Sie in der Opposition waren, die Finger wund geschrieben, um eine Erhöhung des Verteidigungshaushalts zu
fordern.
({22})
Aber wir haben Frau Matthäus-Maier nicht so verstanden,
als hätte sie mehr Eurofighter gefordert. Im Gegenteil: In
den Jahren 1991 bis 1996 haben Sie für den Verteidigungshaushalt Kürzungsanträge in Höhe von 14 Milliarden DM gestellt. Die Zahlen in den Anträgen der Grünen
haben wir nicht zusammenaddiert; aber die Summe war
sicher doppelt so hoch.
({23})
Wir bieten Ihnen trotz Ihrer gestrigen Spielchen, Herr
Minister, den Dialog über die Zukunft der Bundeswehr
an. Dafür muss aber Schluss mit der Geheimniskrämerei
sein. Lassen Sie uns die Debatte da führen, wo sie hingehört, nämlich im Parlament, statt die Verantwortung an
Kommissionen abzuschieben. Lassen Sie uns dabei die
Soldaten einbeziehen, die mehr und mehr das Gefühl bekommen, dass vollkommen willkürlich über ihren Kopf
hinweg entschieden wird. Die Art und Weise, in der Sie
Generalinspekteur von Kirchbach gefeuert haben, zeigt
nur zu deutlich, dass Sie den Kontakt zur Truppe mehr
und mehr verlieren.
({24})
Sie verunsichern die Soldaten und die Zivilbeschäftigten der Bundeswehr mit Ihrem Führungsstil. Sie kündigen
Reformen an, treffen aber keine klaren Entscheidungen.
Sie nehmen die Menschen nicht mit, Sie entscheiden ohne
die Soldaten statt mit ihnen. Für jeden Soldaten ist die persönliche Lebensplanung derzeit vollkommen ungewiss.
Sie, Herr Minister, sagen den Soldaten nicht, welche konkreten Ziele Ihre so genannte Reform wirklich verfolgt.
Das, was wir über Ihre Pläne erfahren haben, gibt Anlass zur Sorge. Ihre Pläne gefährden die Wehrpflicht und
die Wehrgerechtigkeit. Sie wollen die Zahl der Wehrdienstleistenden drastisch verringern. Zugleich reduziert
die Bundesregierung die Zahl der Zivildienstplätze, obwohl die Jahrgangsstärken bis zum Jahre 2008 anwachsen. Die Folge wird sein, dass es im Laufe der nächsten
Jahre eine große Anzahl von jungen Männern geben wird,
die nicht einberufen werden können.
Auch die CDU/CSU-Fraktion tritt für die Flexibilisierung der Wehrpflicht ein,
({25})
aber das, was Sie vorschlagen, sorgt nur für mehr Bürokratie. Wir sind uns im Grundsatz einig, dass wir aus sicherheits- und gesellschaftspolitischen Gründen an der
Wehrpflicht festhalten wollen. Doch wer die Wehrpflicht
will, darf nicht so handeln wie Sie, Herr Minister.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat unter der Federführung von Paul Breuer ein geschlossenes Reformkonzept für die Bundeswehr vorgelegt, nachdem wir intensiv mit den betroffenen Soldaten und Zivilbeschäftigten der Bundeswehr diskutiert hatten.
({26})
Wir fordern: Der Verteidigungshaushalt darf nicht weiter absinken; mittelfristig sollte er auf 50 Milliarden DM
steigen, damit wir die notwendigen Investitionen in neues
Gerät leisten können.
({27})
Schon im Jahre 2001 brauchen wir zusätzlich 2,2 Milliarden DM als Anschubfinanzierung für Modernisierungsmaßnahmen. Wenn Sie uns das nicht glauben, glauben Sie wenigstens der Weizsäcker-Kommission, die
Ihnen das ins Stammbuch geschrieben hat. Aber offensichtlich haben Sie das in den Papierkorb geworfen.
({28})
Wenn Sie schon bei Ihrem Kanzler, Ihrem Finanzminister und bei Ihrem Koalitionspartner keinen Rückhalt
finden, so verspreche wenigstens ich Ihnen unsere Unterstützung, wenn Sie endlich das Notwendige und Richtige
tun: wenn Sie mehr Geld für einen nicht immer populären
Zweck, nämlich für die Erhöhung des Verteidigungsetats,
fordern.
Auch in der Welt des 21. Jahrhunderts bleibt eine Politik der Stärke als Rückversicherung gegen mögliche Bedrohungen entscheidend.
({29})
Die Welt ist auch nach dem Fall der Mauer nicht ohne Risiken. Es geht um unsere Sicherheit. Werden Sie Ihrer
Verantwortung gerecht, Herr Verteidigungsminister!
({30})
Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Peter Zumkley.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Ich möchte schon eine Vorbemerkung machen,
Herr Kollege Polenz. Ihren Soupçon bezüglich Besoldungen, die irgendwo eingeführt worden sind, fand ich für
einen Generalsekretär nicht angemessen. Sonst reden Sie
hier weder als General noch als Sekretär. Ich fand dies ein
bisschen primitiv.
Die Bundesregierung hat mit ihrem Beschluss vom
14. Juni dieses Jahres die Reform der Bundeswehr eingeleitet. Die Reform ist systematisch, mit großer Sorgfalt
sowie der gebotenen Präzision vorbereitet und ausgeplant
worden.
({0})
Unmittelbar nach Amtsantritt hat der Bundesminister der
Verteidigung eine umfassende Bestandsaufnahme vorgenommen. Das Ergebnis wurde Anfang Mai 1999 dem Parlament und der Öffentlichkeit vorgelegt. Die Bestandsaufnahme hat gravierende Schwächen unserer Streitkräfte
in der Ausrüstung und ihren Strukturen aufgedeckt. Ursache dafür - auch ich kann es Ihnen, meine Damen und
Herren von der Opposition, nicht ersparen - waren unter
anderem die jahrelangen Versäumnisse der Vorgängerregierung. Das steht zweifelsfrei fest.
({1})
Die anschließend eingesetzte Expertenkommission
unter Vorsitz von Altbundespräsident Richard von
Weizsäcker hat die wesentlichen Grundlagen für das
vorliegende Reformkonzept geliefert.
({2})
Mit großer Sorgfalt wurden die Vorschläge erarbeitet, die
sich zum überwiegenden Teil im Eckwertepapier des
Bundesministers der Verteidigung wiederfinden.
({3})
Auf der Basis der Ministerweisung vom 29. Juni dieses Jahres hat der Generalinspekteur der Bundeswehr
seine Weisung zur Ausplanung der Streitkräfte erlassen.
({4})
Seit gestern liegt für alle, Herr Kollege Nolting, auch die
Grobausplanung vor. Sie lässt keinen Zweifel daran, dass
es sich hier nicht nur um eine Reform, sondern auch um
eine grundlegende Neuausrichtung der Bundeswehr handelt. Mit dieser - wie wir meinen - systematischen Vorgehensweise wurden solide und fundierte Grundlagen geschaffen, damit zum 1. April nächsten Jahres mit der
Umsetzung der Planungsergebnisse begonnen werden
kann.
Mit dem Haushaltsentwurf 2001 gibt es zudem auch
Klarheit über die Finanzierung der Reformvorhaben. Die
in 2001 zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel in Höhe
von bis zu 47,8 Milliarden DM - ob wir sie ganz erreichen
werden, werden wir sehen; das ist schwierig ({5})
machen eine intelligente Finanzierung der Bundeswehr
möglich. Der Verteidigungsminister erhält beachtliche
zusätzliche Finanzspielräume innerhalb des vorgegebenen Budgets. Die Bundeswehr bekommt somit auch eine
verlässliche finanzielle Planungssicherheit. Die Reform
kann und wird in den nächsten Jahren nur schrittweise,
aber zügig umgesetzt werden. Die jeweiligen Reformschritte sind solide finanziert.
({6})
Herr Kollege Polenz, ein paar Bemerkungen zu dem,
was Sie ausgeführt haben: Eine Unterfinanzierung erkennen wir nicht. Wir sehen aber natürlich auch Gefahren und
wir müssen gemeinsam aufpassen - hier lassen wir uns
von niemandem überbieten -,
({7})
dass diese Gefahren nicht Wirklichkeit werden, nämlich
dass es nicht zu einer Unterfinanzierung kommt.
Zuweilen hatte ich den Eindruck, Herr Kollege Polenz,
dass Sie den Zustand der Streitkräfte richtig beschrieben
haben, aber für die Zeit, als Sie die Regierungsverantwortung hatten, nicht für jetzt.
({8})
Man muss sehen, wie sich die Streitkräfte entwickelt haben.
Im Übrigen ist die Stellung der Bundeswehr im Bündnis hoch anerkannt. Sie brauchen nur in die internationalen Stäbe in Bosnien-Herzegowina oder im Kosovo zu
gehen. Es gibt in diesem Detail keine Zweifel an der Leistungsfähigkeit der Bundeswehr. Wir müssen sie nur weiter fördern.
({9})
Herr Kollege Polenz, Sie haben von den Kürzungen
gesprochen. Ich muss Ihnen erneut sagen, weil Sie es wieder vorgetragen haben: Das ist so nicht richtig.
({10})
Die CDU hat von 1994 bis 1998 5,6 Milliarden DM bei
der Bundeswehr gekürzt.
({11})
- Ja, es gab Kürzungsanträge der SPD-Fraktion, und zwar
in Höhe von 1,88 Milliarden DM. Wären damals nur
1,88 Milliarden DM bei der Bundeswehr gekürzt worden,
stünden wir heute viel besser da. Daran lässt sich nicht
rütteln.
({12})
Wir freuen uns über die Bemerkung, die Sie über die
Unterstützung gemacht haben. Ich möchte sie gerne aufgreifen. Wir glauben, dass die Bundeswehr die Unterstützung aller demokratischen Parteien braucht und dass wir
uns bemühen müssen, dies über unterschiedliche Auffassungen hinweg tragfähig zu machen. In diesem Sinne
stimme ich Ihnen zu. Aber vergessen Sie doch nicht, dass
es sich hier um eine Grobausplanung handelt und dass die
Feinausplanung noch aussteht. Ebenso ist es mit der Standortplanung. Ende des Jahres wird ein Konzept vorliegen.
Das alles ist bisher im Zeitplan. Daher ist es nicht gerechtfertigt, vom Verteidigungsminister schon jetzt Einzelheiten zur Reform und zur Umstrukturierung zu verlangen.
({13})
Seit wir in der Regierungsverantwortung sind, werden
die Finanzpläne eingehalten. Dies war in der Vergangenheit nicht immer der Fall. So möchte ich an dieser Stelle
daran erinnern, dass zu Zeiten der CDU/CSU-Regierung,
genau wie es der Minister schon ausgeführt hat, gegenüber dem 28. Finanzplan 4,2 Milliarden DM und gegenüber dem 29. Finanzplan 5,7 Milliarden DM in den laufenden Haushaltsjahren eingespart wurden. Die Planung,
Herr Kollege Nolting, ist leider keine Realität. Das wird
auch so bleiben. Wir werden immer den Soll-Ist-Vergleich
machen müssen. Aber wenn wir uns mit Zahlen beschäftigen, die sich auf die Vergangenheit beziehen, dann müssen wir uns an den Ist-Zahlen orientieren und nicht an dem
Ziel, das man einmal angestrebt hat.
({14})
Die Bundeswehr wird kleiner. Die Zahl der Offiziere
und Unteroffiziere wird aber insgesamt um 12 000 Personen erhöht. Dies ist im Hinblick auf die gewandelten
Anforderungen für moderne und leistungsfähige Streitkräfte unumgänglich. Wir begrüßen das. Zur Umsetzung
der Reform brauchen wir gut ausgebildete, leistungsfähige und motivierte Soldaten und zivile Mitarbeiter. Mit
ihrem Engagement wird die Neuausrichtung der Bundeswehr maßgeblich mitgestaltet.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Dehnel?
Aber gerne.
Vielen Dank, Frau
Präsidentin.
Herr Kollege Zumkley, Sie haben zu Beginn Ihrer
Rede von der Besoldung gesprochen und wollten damit
unseren Generalsekretär diffamieren.
({0})
Sie sind jetzt mit Ihrer Rede weit fortgeschritten. Auch
der Bundesminister der Verteidigung hat bisher nicht mit
einem Wort die Unterschiede in der Besoldung zwischen
den Ost- und den Westsoldaten angesprochen.
({1})
Ich muss Ihnen sagen: Ich halte es schon für problematisch, dass Sie auf diesen Punkt überhaupt noch nicht
eingegangen sind und auch im künftigen Haushalt dafür
keine Titel vorsehen. Wie sehen Ihre Planungen dazu aus?
Die Soldaten warten auf eine Antwort.
Herr Kollege, warten Sie bitte
bis zum Ende meiner Rede. Vielleicht komme ich noch
darauf, durch Ihren Redebeitrag mit Sicherheit. Aber eines möchte ich von vornherein klarstellen: Es geht hier
nicht um die Diffamierung des Generalsekretärs. Ich habe
mich über eine Bemerkung geärgert. Das gebe ich zu. Dabei bleibe ich.
Die Umsetzung der Reform braucht, wie gesagt, das
Engagement unserer Soldaten. Das bewährte Prinzip des
Staatsbürgers in Uniform und die Grundsätze der inneren Führung mit dem wichtigen Element der politischen
Bildung bleiben wie bisher eine der bedeutendsten Voraussetzungen für die Leistungs- und Einsatzbereitschaft
unserer Soldaten. Wir dürfen die Reform und die Umstrukturierung nicht nur technokratisch sehen, sondern
müssen diesen Gedanken immer wieder mit der Bundeswehr zusammen diskutieren. Nur auf diese Weise werden
die Streitkräfte in unserer Gesellschaft so, wie wir sie
benötigen.
({0})
In diesem Zusammenhang setzen wir unsere Bemühungen um soziale Verbesserung für die Menschen,
die in der Bundeswehr dienen, kontinuierlich fort. Unser
Ziel bleibt es, den Beförderungsstau, der sich wegen der
jahrelangen Untätigkeit der jetzigen Opposition hat entwickeln können, in den nächsten zwei Jahren spürbar abzubauen.
Die Bundeswehr wird für Frauen weiter geöffnet - darauf werden meine Kolleginnen Frau Wohlleben und Frau
Brandt-Elsweier nachher ausführlich eingehen; ich erspare mir dazu deshalb weitere Ausführungen.
Der Kollege Dehnel hat mir die Frage gestellt, wie es
mit der Ost-West Anpassung ist. Wir wollen diese Anpassung im Verteidigungsbereich. Sie kennen aber die
Probleme: Die Soldaten müssen wie Beamte im öffentlichen Dienst angesehen werden. Es sind doch gerade
CDU-geführte Regierungen in den neuen Ländern, die sagen: Wir können es uns nicht erlauben, dass wir mit dem
öffentlichen Dienst voranschreiten, während die anderen,
die ja letztlich auch zum Steueraufkommen beitragen,
weiter hinterherhinken.
({1})
Ich kann Ihnen nur sagen: Die ganze Sache ist schon am
Anfang verkorkst worden, nämlich beim Einigungsvertrag. Daran waren nicht wir, sondern Sie beteiligt. Es hat
übrigens den Vorschlag gegeben, die Soldaten aus der
Regelung herauszunehmen; das ist ausdrücklich abgelehnt worden.
({2})
Ich sage Ihnen ganz deutlich, dass wir diese Angleichung
möchten.
({3})
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Rossmanith?
Jetzt will ich erst einmal dem
Kollegen Siemann sagen, dass wir dazu natürlich auch die
Unterstützung des Bundesrates und der Länder brauchen,
die unter dem Ganzen mehr leiden als der Bund. - Nein,
ich gestatte keine Zwischenfrage, sondern will meine
Rede im Zusammenhang fortführen.
Die Ausrüstung der Bundeswehr muss modernisiert
werden. Hohe Priorität hat die Fähigkeit zum Lufttransport, zur strategischen Aufklärung und modernen Kommunikation; darauf ist hingewiesen worden. Gleichzeitig
wird überflüssig gewordenes Material weiter abgebaut.
Die Abläufe bei Entwicklung und Beschaffung von Wehrmaterial werden gestrafft und werden damit schneller und
kostengünstiger, was wir begrüßen. Dafür wird auch die
Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung und Betrieb
ihren wesentlichen Beitrag leisten.
Wir sind sehr damit einverstanden, dass Umfang und
Struktur der Bundeswehr endlich auf die neue Aufgabenstellung ausgerichtet werden; die überholte Trennung von
Hauptverteidigungs- und Krisenreaktionskräften gehört
dazu. Die Einsatzkräfte werden nahezu verdreifacht, das
heißt, auf 150 000 Soldaten erhöht, und die militärische
Grundorganisation auf 108 000 Soldaten reduziert. Das
halten wir für richtig, um die Aufgaben der Bundeswehr
auch in Zukunft effektiv gestalten und erledigen zu können.
Es bleibt bei der allgemeinen Wehrpflicht als Sicherheitsvorsorge. Sie wird auf die Dauer von neun Monaten
reduziert. Die Wehrgerechtigkeit werden wir erhalten
können; das werden wir ja gemeinsam begleiten können.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Die Bundeswehr
wird ihre veränderten Aufgaben bei der Landesverteidigung, ihren Beistandsleistungen im Rahmen des Bündnisses sowie bei internationalen Einsätzen zu Krisenverhütung und Krisenbewältigung zukünftig zusammen mit
unseren Partnern leisten können. Damit sind wir außerordentlich zufrieden. Wir werden den weiteren Gang der
Bundeswehr positiv und konstruktiv begleiten.
({0})
Jetzt erhält der
Fraktionsvorsitzende der F.D.P., Dr. Wolfgang Gerhardt,
das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren Kollegen! Wir debattieren über
eine äußerst wichtige Angelegenheit in Gesellschaft und
Demokratie, nämlich über eine Armee in einer Demokratie. Wir stehen jetzt an einem Punkt, bei dem uns der Bundesverteidigungsminister in Grundzügen sein neues Konzept vorgestellt hat. Im Verlauf der Debatte werden wir
uns entscheiden müssen. Meine Fraktion und ich sind der
Überzeugung, dass sein Konzept und die in ihm liegende
Unterfinanzierung die Wehrpflichtarmee an die Wand
fährt.
Man kann sich für das Prinzip der Wehrpflichtarmee
entscheiden. Die Wehrpflichtarmee hat viele gewichtige
Vorteile, die für ihre Beibehaltung sprechen.
({0})
Sie bringt Transparenz in die Armee, führt zu einer
Führungskultur, schlägt den Bogen zur Gesellschaft und
kann leichter Führungsnachwuchs rekrutieren. Das ist
ganz eindeutig. Sie war im Übrigen auch die richtige Entscheidung für die Bundeswehr zum Zeitpunkt ihrer Gründung und in den Folgejahren. Die Bundeswehr ist eine erfolgreiche Armee gewesen und wir haben den Soldaten zu
danken. Das sollte am Beginn stehen.
({1})
Wenn man sich, Herr Bundesverteidigungsminister,
für eine Wehrpflichtarmee entscheidet, muss man dieser
Wehrpflichtarmee auch die ausreichende Kraft geben,
ihre Aufgaben wahrnehmen zu können. Die Wehrpflichtarmee Bundeswehr, wie wir sie heute haben, hat immer
noch die Kernaufgabe Landesverteidigung. Wir wissen
aber alle, dass sich diese Aufgabe gewandelt hat, der alte
Kernauftrag Landesverteidigung höchst unwahrscheinlich ist, er in einer Mischung sehr stark zur Bündnisverteidigung übergeht und dass Einsätze in Krisenregionen
dieser Welt sehr viel wahrscheinlicher und - global betrachtet - auch notwendig sind, um die Sicherheit freier
Gesellschaften und auch der unseren zu garantieren. Das
ist die Lage.
Herr Bundesverteidigungsminister, wenn Sie diese Situation sehen - das sieht ja wohl auch der Mitarbeiterstab,
über den Sie verfügen, sowie jeder vernünftig denkende
Mensch so -, dann kommen Sie in dieser Frage nicht um
die Klärung der Haushaltsansätze herum. Lassen Sie
mich das nur kurz streifen, Das Ganze mag im Haushaltsausschuss und im Verteidigungsausschuss näher debattiert werden. Hier aber hilft es nicht sehr viel weiter, wenn
Sie vortragen, bei der früheren Regierung habe es im Verteidigungsetat über die Jahre hinweg einen Entzug in
Höhe von 4 Milliarden DM gegeben. Ich lese in der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ den Artikel eines
Mannes, der wesentlich mehr von Verteidigungspolitik
versteht als viele von uns, Sie entzögen nach wirklichen
Haushaltsdaten in den nächsten Jahren dem Verteidigungsetat 18 Milliarden DM. Sie vertrösten uns mit dem
Hinweis, Sie hätten intelligente Finanzierungssysteme,
und unterlegen den wirklichen Entzug so mit einer unwirklichen Annahme; denn nichts spricht dafür, dass Sie
das erwirtschaften können.
({2})
Sie sagen also jetzt der Bundeswehr, die im Beförderungsstau steht, die teilweise überaltertes Gerät hat und
die ihre Strukturen verändern muss: Über intelligente Finanzierungssysteme werde ich das alles auffangen können. - Das können Sie in Deutschland erzählen, wem Sie
wollen, aber erzählen Sie es bitte nicht im Deutschen Bundestag. Sie werden nicht in der Lage sein, 18 Milliarden DM durch intelligente Finanzierungssysteme, über
Haushaltspositionen und Verschiebebahnhöfe der eigentlichen Aufgabe zuzuführen.
({3})
Wenn Sie aber eine Wehrpflichtarmee mit den strukturellen Problemen, die Sie festgestellt haben und die Sie bewältigen wollen, nicht ausreichend finanzieren können
bauen Sie uns hier ein potemkinsches Dorf.
({4})
Zur Weizsäcker-Kommission. Sie hatten uns allen
- das darf nicht in Vergessenheit geraten -, quer über die
Fraktionen hinweg, seinerzeit vorgetragen, Sie setzten
eine Kommission ein, Sie haben die Mitglieder dieser
Kommission mit den Fraktionsführungen abgestimmt und
haben es für gut befunden, dass die Kommission zunächst
in aller Ruhe arbeiten kann und wir später in aller Ruhe
eine Generaldebatte führen, in deren Verlauf eine Vorlage
von Ihnen hier zur Entscheidung geführt werden kann. Sie
tragen die Verantwortung dafür, dass das alles ganz anders
gekommen ist. Dies war letztlich nicht zielführend. Als
die Weizsäcker-Kommission noch in ihrer Arbeit steckte
und Sie geahnt haben, dass diese möglicherweise etwas
andere Ergebnisse produziert, als Sie sie für wünschenswert halten, haben Sie den Generalinspekteur ganz urplötzlich mit einem eigenen Konzept beauftragt, ein
Tempo vorgelegt, das eigentlich eine nicht souveräne Bewertung der Weizsäcker-Kommission bedeutete, und
dann den Mann auch noch mit Dank für seine Arbeit entlassen. Ich fand das nicht außerordentlich günstig für die
Beratungen im Parlament.
({5})
Selbst die Weizsäcker-Kommission, die Ihnen in Ihrem
Gedankengut hinsichtlich des Festhaltens an einer Wehrpflichtarmee entgegenkommt, hat Ihnen nachdrücklich
ins Stammbuch geschrieben, man bräuchte bei einem
Festhalten an der Wehrpflichtarmee, weil man sie gesellschaftspolitisch möchte, für die Strukturreformen eine
Anschubfinanzierung. Die Weizsäcker-Kommission hat
für eine kleinere Größenordnung der Wehrpflichtarmee
Bundeswehr mehr Geld für notwendig gehalten, als Sie
im Haushalt für die größere Formation Wehrpflichtarmee
vorgesehen haben.
({6})
Deshalb ist der Hinweis, Sie hätten das alles im Griff,
nicht richtig.
Ich zitiere einmal zur grundsätzlichen Fragestellung
der Wehrpflicht den früheren Bundeskanzler Helmut
Schmidt. Man kann sich ja gerne zu einer Wehrpflichtarmee bekennen, muss eine Wehrpflichtarmee aber immer
mit Wehrgerechtigkeit nach innen und der sicherheitspolitischen Lageanalyse nach außen legitimieren. Helmut
Schmidt sagte: Die politisch-psychologische Vorbedingung für die Beibehaltung des Wehrpflichtprinzips ist
ein hohes Maß an Wehrgerechtigkeit.
Die Weizsäcker-Kommission hat eigentlich einen Auswahlwehrdienst vorgeschlagen. Das ist für mich keine
Wehrpflichtarmee.
({7})
Wer von der jungen Generation nur einen Teil einziehen
will und das mit dem Hinweis begründet, es sei nicht
zulässig, in einer freiheitlichen Gesellschaft mehr Wehrpflichtige einzuziehen, als man unbedingt benötige, den
kann ich nur auffordern, sich vor eine deutsche Schulklasse zu stellen und ihr das zu erklären; denn in dieser
Schulklasse werden sich Jugendliche befinden, die eingezogen werden, und Jugendliche, die sofort ins Berufsleben eintreten. So kann man eine Wehrpflichtarmee
nicht legitimieren. Wenn Wehrpflicht, dann Wehrgerechtigkeit!
({8})
Nun zu Ihrem Konzept. Sie haben etwas über 70 000
Haushaltsstellen für Wehrpflichtige. Können Sie mir einmal erklären, wie Sie mit dieser Anzahl an Haushaltsstellen für Wehrpflichtige - wir hatten bisher über 100 000
Stellen - Ihre Wehrpflichtarmee mit Wehrgerechtigkeit
verbinden wollen? Sie kommen doch um die Diskussion
nicht herum, Herr Verteidigungsminister, dass auch Sie
bei einer Wehrpflichtarmee auf das Prinzip der Wehrgerechtigkeit achten müssen. Das muss auch im Verfolg der
Haushaltsansätze, die Sie für eine Wehrpflichtarmee haben, diskutiert werden.
Die konkrete sicherheitspolitische Herausforderung,
vor der unser Land steht - damit habe ich begonnen -,
macht in diesem begonnenen Jahrtausend eine Wehrpflichtarmee nicht unbedingt notwendig. Die Wehpflichtarmee ist ein wichtiger, überzeugender Abschnitt in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, in der alten,
bipolaren weltpolitischen Situation gewesen. Im Übrigen
fordert die NATO von der Bundesrepublik Deutschland
hohe Einsatzbereitschaft ihrer Armee, ausreichende Verlegefähigkeit, Kompatibilität der Führungssysteme und
moderne Ausrüstung und Bewaffnung. Sie fordert von
uns keine bestimmte Wehrform. Ich glaube, dass auch in
der Bundesrepublik Deutschland die Wehrform diskutiert
werden kann. Es gibt NATO-Mitglieder, die - so wie wir
als Freie Demokraten das vorschlagen - die Wehrpflicht
ausgesetzt haben. Auch sie sind nicht der Auffassung gewesen, dass sie ein für alle Mal die Wehrpflicht abschaffen sollten; Sicherheitslagen kann man nicht für alle Zeiten geschichtlich für erledigt erklären. Deshalb ist eine
solche Ebene bei der Diskussion zur Bundeswehrreform
notwendig. Das Aussetzen der Wehrpflicht würde eine
andere Gestalt der Bundeswehr bringen.
Es kann aber ein Ansatz beibehalten werden, der eine
Wehrpflichtarmee immer sehr attraktiv gemacht hat: nämlich Haushaltsstellen für zwölfmonatige oder zweijährige
Verpflichtung zur Verfügung zu stellen. Dadurch wird
der jungen Generation die Chance gegeben, in die Bundeswehr hineinzusehen und ihre Berufsentscheidung
dann zu treffen. Das wäre ein attraktiver Gesichtspunkt in
einer sehr, sehr guten Kombination.
Was meine Fraktion und was ich am bisherigen Verlauf
der Diskussion so zu kritisieren haben, Herr Bundesverteidigungsminister, ist die Kurzsichtigkeit des gedanklichen Ansatzes. Ich wage die Prognose, dass Sie mit Ihrem
Wehrpflichtarmeekonzept, mit der dünnen Finanzierungsdecke und mit der Vertröstung auf Ihre intelligenten
Finanzierungssysteme die ernsthaften heute vorhandenen
Strukturprobleme nicht lösen, Wehrgerechtigkeit ad absurdum führen und damit die Motivation in der Truppe zunichte machen. Dann haben Sie eine Wehrpflichtarmee,
die ihre Pflichten nicht richtig erfüllen kann.
({9})
Deshalb wäre es besser, eine offenere, klarere Diskussion
über die Zukunft der Bundeswehr zu führen und zu einer
politischen Entscheidung darüber zu kommen, in welcher
Gestalt wir die Bundeswehr haben wollen. Wird diese
Entscheidung getroffen, dann darf sich die Diskussion
überhaupt nicht in Haushaltsfragen erschöpfen; vielmehr
muss dann völlig klar sein, dass keiner der von Ihnen vorgelegten Haushaltsansätze so bestehen bleiben kann, egal,
für welche Wehrform auch immer wir uns entscheiden.
Gehen Sie davon aus, dass wir in den Ausschussberatungen und auch in den weiteren Plenarberatungen gerne
mit Ihnen diskutieren, aber dass wir grundsätzlich über
die Zukunft der Bundeswehr diskutieren wollen, und zwar
unter längerfristigen Gesichtspunkten und nicht unter
kurzfristigen, so wie Sie das hier getan haben.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Zu einer Kurzintervention erhält in diesem Fall der Abgeordnete Rudolf
Scharping das Wort.
({0})
- Kurzinterventionen sind Abgeordnetenrecht.
Herr Kollege Gerhardt, da
Sie sich auf den Artikel von Herrn Feldmeyer, der in der
heutigen Ausgabe der „FAZ“ erschienen ist, beziehen, unterstelle ich, dass Sie dem folgenden Satz zustimmen werden:
Die schwerwiegendste Auswirkung der auf die Ära
Kohl zurückgehenden Politik ständiger finanzieller
Eingriffe ist, dass die Bundeswehr ihre Verbände
nicht mehr auf dem gleichen Ausrüstungsniveau halten kann.
({0})
- Es ist für die Glaubwürdigkeit des Redenden in einer
Debatte schon von Interesse.
Angesichts Ihrer Argumentation bezüglich der Wehrpflicht möchte ich Sie auf zwei Dinge hinweisen:
Erstens. Wenn dem von Ihnen unterstützten Beschluss
gefolgt würde, nämlich dass die Bundeswehr 250 000 Berufs- und Zeitsoldaten haben soll, dann würde das finanzielle Mehraufwendungen bedeuten, die Sie mit 50 000
mal 60 000 berechnen müssten. Das wären, wenn ich richtig gerechnet habe, gut 3 Milliarden DM an Mehrkosten.
Zweitens. Wenn Sie der Auffassung sind, dass das zu
viel ist und mit der geltenden Finanzplanung oder mit dem
Prinzip finanzieller Solidität nicht in Einklang zu bringen
ist, und wenn Sie deswegen wie der Kollege Polenz auf
den Punkt der Wehrgerechtigkeit ausweichen, dann
möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass nach der
Grobplanung für die Streitkräfte im Jahr 2002 99 000
Plätze für Wehrdienstleistende, im Jahr 2003 95 600, im
Jahr 2004 86 500, im Jahr 2005 85 500 und im Jahr 2006
84 400 zur Verfügung stehen werden. Das bedeutet, dass
bei einer Wehrdienstzeit von neun Monaten - nach Abzug
der Zahl derjenigen, die freiwillig länger Dienst leisten jährlich über 100 000 junge Menschen einberufen werden
können.
Der Zielbereich 100 000 bis 105 000 wird im Jahr 2010
erreicht, genau in jenem Jahr, in dem sich der Rückgang
der Jahrgangsstärken voll auswirkt, die von heute 450 000
auf etwa 350 000 ab dem Jahr 2008 sinken werden. Das
muss bei jeder sorgfältigen Bundeswehrplanung berücksichtigt werden. Das ist auch geschehen.
Sie haben wie der Kollege Polenz auch die Frage der
Standorte angesprochen. Hier möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass ich - anders, als es in Ihrer Regierungszeit der Fall war - Standortentscheidungen erst
nach Abschluss der militärischen Planungen treffen werde
und dass ich Standortüberlegungen nicht zum Gegenstand
der militärischen Planungen machen werde. Ansonsten
entstehen unausgewogene, teure und betriebswirtschaftlich unsinnige Strukturen, wie sie bereits in der Vergangenheit festgestellt wurden. Ich halte es für richtig und
sinnvoll, das so zu machen, wie ich es Ihnen hier geschildert habe.
Schließlich: Wenn die Debatte über die Standorte, an
der bestimmte politische Kräfte nicht völlig unbeteiligt
sind, darauf hinausläuft - ich habe das schon im Verteidigungsausschuss gesagt; ich wiederhole das auch im Plenum des Deutschen Bundestages -, dass ich zwischen
dem Bedarf an Erörterungen mit den Landesregierungen
und der Fürsorgepflicht für die Angehörigen der Bundeswehr abwägen muss, dann dürfen Sie sicher sein, dass
ich die Fürsorgepflicht in den Vordergrund stellen
werde. Ich werde dann die Befriedigung des öffentlichen
Erörterungsbedarfs zurückstellen und die Entscheidungen
im Zweifel schneller fällen, als es eine sorgfältige Erörterung mit den Landesregierungen erfordert. Sie können
von mir als Dienstherrn nicht erwarten, dass ich mich bei
der Abwägung zwischen den Fürsorgepflichten, die ich
gegenüber den Angehörigen der Bundeswehr habe, und
dem Bedarf an Erörterungen mit den Landesregierungen
zulasten der Fürsorgepflicht entscheide. Das werde ich
nicht tun. Das möchte ich ausdrücklich ankündigen.
({1})
Das Wort zur Erwiderung hat der Kollege Wolfgang Gerhardt.
Herr Kollege
Scharping, ich möchte kurz erwidern. Ich nehme zwar an
dem Schlagabtausch über das, was die frühere Regierung
versäumt hat, gern teil; das gehört zum normalen parlamentarischen Debattenritual dazu. Aber das hilft uns beiden nicht sehr viel weiter, wenn wir eigentlich über die
Zukunft der Bundeswehr reden wollen. Jetzt haben Sie die
Verantwortung, und jetzt müssen Sie die Fragen zum
Haushalt und zur Bundeswehrstruktur beantworten.
({0})
Sie können das noch eine Weile abwehren, aber am Ende
müssen Sie über die Gestalt der Bundeswehr Auskunft geben.
Ich bin nicht der Überzeugung, dass die Zahl der Stellen, die Sie in den nächsten Haushalten für die Wehrpflichtigen haben werden, das Prinzip der Wehrgerechtigkeit manifestiert. Das wird nicht der Fall sein.
({1})
Das ist aber der Kernpunkt der notwendigen Grundlegung einer Wehrpflichtarmee: die außenpolitische Sicherheitslage und die Wehrgerechtigkeit nach innen. Diese
Wehrgerechtigkeit schleift schon seit Jahren. Ich weiß
gar nicht mehr, wann Willi Weiskirch, ein verehrter Kollege, Wehrbeauftragter war. Er hat schon seinerzeit die
Schrammen festgestellt, die dieses Prinzip in Deutschland
erleidet.
Sie wissen, dass jeder Strukturreform Ihrer wie auch einer Freiwilligenarmee eine heftige Auseinandersetzung
an den Standorten der Garnisonen in Deutschland folgen
würde. Dabei ist es egal, welchen Reformansatz man
wählt. Aber bitte hören Sie auf, der Öffentlichkeit zu erzählen, Ihr Reformansatz könnte über die Schließung von
166 Kleinststandorten möglicherweise abgewickelt werden, sodass die Bundeswehr so breit wie möglich in der
Fläche vertreten sei. Aus vielerlei auch logistischen Gründen werden Sie noch nicht einmal die 166 Standorte
schließen können. Dann bleiben immer noch 50 000 Soldaten übrig, denen Sie eine Antwort geben müssen.
Ich mache diese Bemerkung deshalb, weil ich alle
Fraktionen dieses Hauses bitten möchte, sich nicht in einen Standortwettbewerb zu begeben. - Etwas Ähnliches
habe ich bei der Rentendiskussion in deutschen Altenheimen erlebt. Dort wurde die Frage gestellt: Wer bietet
mehr? - Ich erwarte vom Bundesverteidigungsminister
eine ehrliche Antwort. Sie werden sagen müssen, welche
Standorte geschlossen werden. Sie können sich um eine
Antwort nicht mit einer Klein-Standort-Diskussion herumdrücken. Darauf kommt es an. Das möchte ich Ihnen
in aller Kollegialität entgegnen. Vielleicht denken Sie mit
Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die die Wehrpflicht hoch schätzen, noch einmal konkret darüber nach,
ob in der Bundesrepublik Deutschland die Wehrpflicht
mit der Wehrgerechtigkeit noch in Einklang zu bringen
ist. Geben Sie sich selbst ehrliche Antworten und tragen
Sie nicht nur ein Prinzip vor sich her, dass in der heutigen
Zeit in Mitleidenschaft gezogen wird. In den nächsten
fünf Jahren sehen wir uns öfter. Ich glaube, dass Sie dann
eher meiner Meinung zuneigen werden.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Angelika Beer.
Frau
Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte mich auch im Namen meiner Fraktion bei Verteidigungsminister Rudolf Scharping für die Vorlage der
Grobplanung zu einer Neuausrichtung der Bundeswehr
bedanken. Damit ist die Reform einen Schritt weiter vorangekommen. Allerdings bedauere auch ich, dass die
Vorlage gestern Abend kurzfristig erfolgt ist, sodass eine
ausführliche Prüfung bis zur heutigen Debatte nicht möglich war.
({0})
Wir werden das im Verteidigungsausschuss nachholen.
Es ist an der Zeit, eine grundsätzliche Debatte über die
Zukunft der Bundeswehr zu führen. Vor einem so wichtigen und gewaltigen Schritt, wie ihn die rot-grüne Koalition mit der Bundeswehrstrukturreform beschlossen hat,
sollten wir uns noch einmal der Umstände vergewissern.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Rossmanith?
Nein. - Diese Reform wird nicht nur die Organisation der
Bundeswehr verändern, sondern sie wird mit unseren
außen- und sicherheitspolitischen Vorstellungen und Vorhaben kompatibel sein müssen, das heißt, Politik, politische Begriffsbestimmungen, Werte und Ziele sind die
Eckpunkte, unter denen die Bundeswehrreform stattfindet. Beides muss miteinander vereinbar sein. Deswegen
war es so notwendig, dass wir das Flickwerk Ihrer Regierung endlich beendet haben. Das war der Grund, warum
wir die Kommission zur Zukunft der Bundeswehr eingesetzt haben. Die Kommission hat eine in sich sehr
schlüssige Konzeption für die Bundeswehr erarbeitet, deren Ausgangspunkt eine Analyse der sicherheitspolitischen Situation ist.
Bevor ich auf die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen eingehe, Herr Gerhardt, mit Verlaub: Es ist richtig, dass wir Debatten führen müssen. Auch ich fordere sie
ein. Ich frage mich aber, aus welchem Grunde und vor allen Dingen zu welchem Zeitpunkt welche Debatte losgetreten wird. Sie haben 16 Jahre lang die Reform der Bundeswehr verhindert.
({0})
Sie haben eine Kommission immer abgelehnt. Wir wollten als Opposition eine Kommission durchsetzen. Da haben Sie gesagt: Eine Kommission? Wozu? Wir machen
weiter wie bisher! - Dann haben wir, als wir in der Regierung waren, die Kommission eingesetzt. Sie haben im
Ausschuss nicht einmal an den Vorstellungen zur Reform
der Bundeswehr mitgearbeitet.
({1})
Heute, nachdem die Eckpunkte beschlossen sind und die
Grobplanung vorliegt, veranstalten Sie einen Sonderparteitag und fordern die Flexibilisierung der Wehrpflicht
bzw. ihre Aussetzung. Das bedeutet ihre Abschaffung; wir
wollen hier einmal Klartext reden.
({2})
Sie müssen irgendwann die Frage beantworten, in wessen
Interesse Sie zu welchem Zeitpunkt anfangen, über die
Reform der Bundeswehr und die Wehrform in Deutschland zu diskutieren. Ich glaube, Sie tun das nicht aus Interesse für die Bundeswehr, die Soldaten, die Jugendlichen, sondern aus rein parteitaktischem Kalkül, um sich
von den früheren Fehlern zu distanzieren. Das ist daneben.
({3})
Herr Polenz, ich will Ihnen an dieser Stelle sagen: Die
Reform der Bundeswehr ist doch kein technokratischer
Prozess. Sie ist ein gesellschaftlich höchst brisanter Prozess.
({4})
Wir öffnen alle Bereiche der Bundeswehr für die Frauen.
Sie haben diese Frage ignoriert.
({5})
Wir haben uns auf eine Grundgesetzänderung geeinigt,
um auszuschließen, dass Frauen zu Kampfeinsätzen gezwungen werden können.
({6})
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Niebel?
Ich
möchte das jetzt ausführen. Ich weiß, dass das wehtut.
Aber Sie müssen irgendwann einmal lernen zuzuhören.
({0})
Weil das kein technokratischer Prozess ist, werden wir
weiter über die Wehrpflicht und den Zivildienst diskutieren müssen. Das ist doch richtig. Wir haben eine Freiwilligkeit und einen Zwang. Wir haben ein Bundesverfassungsgericht, das in absehbarer Zeit wieder entscheiden
wird. Wir haben den ehemaligen Präsidenten Herzog, der
sehr kluge Fragen zur Berechtigung des Festhaltens an einem Zwangsdienst, der Wehrpflicht, geäußert hat. Natürlich werden wir diese gesellschaftliche Debatte führen.
Aber ich möchte, dass Sie berücksichtigen, dass es um das
Interesse der Bundeswehr und der Soldaten geht, wenn
wir über die Bundeswehrreform streiten.
Wir haben uns geeinigt, dass die kommunale Betätigung der Soldaten nicht generell eingeschränkt wird,
sondern allenfalls in Ausnahmefällen. Das finde ich gut.
Jede Beliebigkeit bei dieser Entscheidung wird ausgeschlossen, weil sie beim Bundesminister der Verteidigung
liegen wird. Es ist wichtig, diese Debatte zu führen, weil
wir mit der Reform der Bundeswehr den Staatsbürger in
Uniform stärken wollen. Deshalb gibt es einen Konsens
im Haus, dass die kommunale Tätigkeit von Bundeswehrangehörigen in keiner Form angetastet werden darf.
({1})
Zu diesen Themen hätte ich gern etwas von Ihnen gehört.
Frau Kollegin,
es liegt eine weitere Zwischenfrage vor. Gestatten Sie
überhaupt keine Zwischenfragen? Es gab mehrere Wünsche. Ich muss das jetzt irgendwie klären.
Doch, ich gestatte Zwischenfragen. Aber man muss auch
einmal einen Gedanken ausführen können.
Liebe Frau Kollegin Beer, ich
habe drei ganz konkrete Zwischenfragen,
({0})
die ich kurz fasse.
Erstens. Gilt das Magdeburger Wahlprogramm noch,
nach dem die Grünen die Bundeswehr abschaffen wollen?
Wenn nein, wann haben Sie es korrigiert?
Zweitens. Sind Sie immer noch eine Verfechterin der
Freiwilligenarmee als Wehrform? Oder haben Sie Ihre
Meinung geändert? Wenn ja, aus welchem Grund?
Drittens. Können Sie mir ein einziges Datum nennen,
an dem Sie sich ganz persönlich für die Frauen in der Bundeswehr öffentlich stark gemacht haben?
({1})
Nur damit wir
uns darüber klar sind: Normalerweise stellt man nur eine
Zwischenfrage.
({0})
Herr
Kollege, es ist schade, dass Sie die letzten Debatten offensichtlich nicht aufmerksam verfolgt haben. Ich sage
das, weil Sie immer die gleichen Zwischenfragen stellen.
Ich sage Ihnen noch einmal: Im letzten Parteitagsprogramm - ich glaube, es ist das von 1987 - war von der Abschaffung der Bundeswehr die Rede. Inzwischen haben
wir aufgrund der sehr schwierigen Entwicklungen, was
die europäische Sicherheit angeht - ich erinnere an die
Konflikte auf dem Balkan -, nach einer sehr schmerzhaften, aber auch sehr guten Diskussion die Bundeswehr an
sich als Instrument der Politik anerkannt.
Die grüne Position ist allerdings nach wie vor: Wir
wollen die Freiwilligkeit auch für Männer, gerade dort,
wo Frauen den Dienst freiwillig leisten dürfen. Nach unserer Wahrnehmung läuft die gesellschaftliche Entwicklung in genau diese Richtung; deswegen kann ich Ihnen
das ganz ruhig darstellen.
Über die vertraulichen Gespräche, die ich in der letzten
Woche mit weiblichen Angehörigen der Bundeswehr,
zum Beispiel in Makedonien oder im Kosovo, geführt
habe, werde ich hier im Plenum, also in der Öffentlichkeit,
kein Zeugnis ablegen, weil es auch ein Vertrauensverhältnis zwischen Politik und Soldatinnen gibt. Wir werden die
Diskussion in Fachdebatten weiterführen.
Ich kann Ihnen nur sagen, dass mich das Konzept von
Rudolf Scharping im Hinblick auf die Gewährleistung,
dass Frauen aufgrund ihres Geschlechtes in der Bundeswehr nicht diskriminiert werden, und all die anderen konzeptionellen Maßnahmen, die von der Führungsebene der
Bundeswehr vorgelegt worden sind, optimistisch stimmen. Frauen werden den Dienst in den Streitkräften sehr
selbstbewusst und ohne Benachteiligungen leisten können.
({0})
Ich möchte zu den sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen zurückkommen. Es gilt zu konstatieren, dass
wir uns nach Ende des Ost-West-Konfliktes in einer sicherheitspolitisch vollkommen neuen Situation befinden.
Die nukleare Bedrohung, die Gefahr einer gegenseitigen
zivilisatorischen Zerstörung, die uns jahrelang geprägt
hat, besteht nicht mehr. Die russische Armee wird ihre
Streitkräfte reduzieren. Die Gewalt - das gilt es als Tatsache anzuerkennen - äußert sich derzeit international in
Bürgerkriegen und Menschenrechtsverletzungen, die den
Frieden regional so weit bedrohen, dass selbst unser Sicherheitsinteresse davon berührt sein kann.
Deutschland befindet sich daher in einer anderen Verantwortung. Die Handlungsspielräume für deutsche
Außenpolitik haben sich erweitert. Wir sind bereit, diese
im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen zu
nutzen. Wir sollten dies vor dem Hintergrund der guten
Erfahrungen mit integrierter und multilateral angelegter
Politik, wie sie seit der Gründung der Bundesrepublik
Deutschland praktiziert worden ist, sehen.
Wir haben unsere Ziele und Werte - die Friedenspolitik und die Achtung der Menschenrechte - sehr eindeutig
formuliert. Deshalb müssen und werden wir unsere konkrete Politik daran messen, wieweit wir diesen Ansprüchen gerecht werden und ob wir uns diesen Zielen
nähern. Wenn wir in der NATO und in der Europäischen
Union Einfluss nehmen wollen, dann müssen wir die Bundeswehr als Mittel der Politik natürlich akzeptieren. Die
Frage ist, ob es uns gelingt, dieses Mittel in unserem Sinn,
das heißt zur Unterstützung von Friedenspolitik und zur
Durchsetzung der Menschenrechte, anzuwenden. Das
kann kein Freibrief sein; deswegen will ich diese Wertediskussion.
Wir wissen doch: Es besteht ein unauflösbares Spannungsverhältnis zwischen den friedens- und menschenrechtspolitischen Zielen und einem Mittel, das durch den
Einsatz oder durch die Androhung von Gewalt definiert
ist. Alles andere wäre eine unzulässige Beschönigung.
Gerade aus diesen Gründen müssen doch alle Fraktionen,
also diejenigen, die politisch zu entscheiden haben, wann
Soldaten eingesetzt werden, besonders sorgfältig überlegen, ob und wann sie dieses Mittel anwenden.
Ich glaube, wir müssen dazu Kriterien entwickeln, die
uns in Einzelfallentscheidungen ein tragfähiges Beurteilungsraster geben. Daher begrüße ich es sehr, dass zum
Beispiel die katholische Kirche gerade jetzt die Frage der
humanitären Intervention auf die Tagesordnung gesetzt
hat und im Sinne äußerer Zurückhaltung einen ganz wichtigen Beitrag zu einer solchen Diskussion geliefert hat.
Unsere Vorstellungen sind klar: Der Gewalteinsatz
muss an Prävention, Einhegung und Minimierung von
Gewaltandrohungen und Gewaltanwendungen in internationalen Beziehungen orientiert sein. Im Einzelfall kann
dies zu einem Dilemma zwischen Gewaltverbot und dem
Schutz der Menschenrechte führen. Auf die damit verbundenen Fragen gibt es keine generelle Antwort. Ich
glaube aber, eine präventive Außen- und Sicherheitspolitik mit nicht militärischen Mitteln liegt aus diesem
Grunde im Interesse unseres Landes, dessen internationales Gewicht primär und anerkanntermaßen ökonomisch
und nicht militärisch begründet ist, was auch so bleiben
sollte.
Deshalb ist es Bestandteil unserer Politik und unserer
Überlegungen, den Mitteln der Prävention, der Gewaltvermeidung und der zivilen Konfliktbearbeitung Priorität
zukommen zu lassen. Das sind keine Hohltitel, Herr
Polenz, sondern diese Mittel haben Eingang in die praktische Politik unter Rot-Grün gefunden. Ich sage Ihnen
auch noch, warum: Erst wenn all diese Mittel der nicht
militärischen Krisen- und Konfliktprävention eingesetzt
wurden, aber nicht gewirkt haben, ist der Zeitpunkt gekommen, den Einsatz von Militär in Erwägung zu ziehen
und darüber zu entscheiden. Wir sind es auch unseren Soldaten schuldig, erst dann diese Entscheidung sehr verantwortungsbewusst und vollkommen unpolemisch zu treffen.
Wir definieren unsere Ziele und Interessen nicht national, sondern im Kontext der europäischen und globalen
Institutionen. Unsere Außen- und Sicherheitspolitik ist in
internationale Zusammenhänge und Institutionen wie die
UNO, die OSZE, die NATO und die sich entwickelnde europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik integriert. Deshalb sind wir für die Integration der Bundeswehr in multilaterale Gefüge. Das ist ein Beitrag zur
langfristigen Entnationalisierung von Sicherheit. Es gibt
heute immer mehr Risiken und Sicherheitsgefährdungen,
die national nicht mehr bewältigt werden können. Wenn
Sie, Herr Kollege Polenz, an dieser Stelle relativ polemisch versuchen, uns an den Fragen Haushaltsmittel und
Unzuverlässigkeit im Rahmen der europäischen Zusammenarbeit
({1})
zu packen, muss ich Ihnen sagen: Sie haben nicht getroffen, Sie haben - Entschuldigung - voll daneben gelangt,
({2})
vor allen Dingen mit dem von Ihnen angeführten Zitat von
Generalsekretär Robertson. Ich könnte Ihnen da ein sehr
viel besseres anbieten.
({3})
Generalsekretär Robertson hat unsere Konzeption europäischer Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen befürwortet und uns ermutigt, unseren Beitrag zu leisten. An
die Europäer gerichtet hat er gesagt: Es ist nicht die Frage,
ob mehr Geld ausgegeben wird, sondern die Frage lautet,
ob vorhandenes Geld richtig ausgegeben wird. Das, Herr
Polenz, hat Ihre Regierung über Jahre nicht geschafft. Wir
haben uns vorgenommen, das anders zu machen. Genau
das hat auch der Verteidigungsminister vorhin dargestellt.
({4})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, als Lehre aus
dem Kosovo hat sich die Europäische Union mit den Beschlüssen von Köln und Helsinki klare Vorgaben gegeben,
wie die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in
den Dimensionen ziviler und militärischer Sicherheit weiterentwickelt werden soll. Wir haben während des Krieges gegen Jugoslawien die Erfahrung gemacht, dass die
europäischen Fähigkeiten nicht ausreichend, die Europäer
gerade im Vorfeld der Auseinandersetzungen nicht einig
genug und unsere Möglichkeiten und unser Einfluss eng
begrenzt waren. Deshalb sollten wir gemeinsam Ansätze
entwickeln, auch in Form einer zuverlässigen Planung für
die europäischen Partner. Ich meine damit zum Beispiel
die Frage nach Instrumenten zur Aufklärung.
Eine weitere Erfahrung aus dem Kosovo, und zwar
nicht während des Krieges selber, ist für unsere Regierung - ich habe das hier schon häufig gesagt -: Wenn
rechtzeitig Mittel zur Prävention zur Verfügung gestellt
worden wären, hätte vielleicht alles besser laufen können.
Die Lehre muss doch sein, dass wir spätestens jetzt - ich
erinnere nur an diese Tage der Spannung und der Unsicherheit, wie sich Jugoslawien weiterentwickeln wird,
was in Montenegro passieren wird und was in Südserbien
passieren wird - auch andere Elemente wie den Stabilitätspakt, diplomatische Verhandlungen und Unterstützung der Opposition in dieses Paket von Sicherheitspolitik ohne Militär integrieren müssen. Dazu gehört auch ein
weiterer Ausbau des Instruments der OSZE-Mission und
eine Stärkung der Vereinten Nationen.
Deswegen haben wir die Kooperation mit den zivilen
Friedensdiensten sowie deren Ausbau und die Kooperation mit den internationalen Polizeikräften, die für die Gestaltung eines Friedensprozesses so wichtig sind, weil sie
das Militärische entlasten können, intensiviert. Neu ist
auch, dass diese Regierung unter Federführung zweier
Minister, nämlich Innenminister Otto Schily und Verteidigungsminister Rudolf Scharping, diese Konstrukte zusammengeführt hat, um Stabilität zu schaffen. Diese Elemente gehören immer dazu, wenn wir heute über die
Reform der Bundeswehr diskutieren.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es ist ein schwieriges Unterfangen. Ich appelliere an Sie, die Bundeswehrreform nicht aus parteipolitischem Kalkül zum
Spielplatz für Profilierungen und Taktierereien zu benutzen.
({5})
Ich habe das vorhin am Beispiel der so genannten liberalen Partei ausgeführt.
({6})
Ich möchte, dass trotz verschiedener Differenzen die Diskussion in verantwortlicher Weise geführt wird, um der
Bundeswehr die notwendige Planungssicherheit zu geben.
({7})
Wir sollten gemeinsam versuchen, die schwierigen Aufgaben der Zukunft mithilfe dieser Reform zu meistern. Es
ist möglich und machbar. Dazu brauchen wir aber
schnelle und klare Entscheidungen.
Ich sage Ihnen zum Schluss ganz deutlich: Sie machen
das Gleiche wie früher Volker Rühe: Sie instrumentalisieren bestimmte Themen und richten sich nicht nach den
Interessen der Soldaten und der Zivilangestellten der
Bundeswehr. Sie beginnen stattdessen eine Standortdiskussion.
({8})
Ich sage Ihnen ganz klar: Wir werden uns dafür einsetzen - das ist meine herzliche Bitte an den Bundesminister
der Verteidigung -, die Eckplanungen schnellstmöglich
so zu konkretisieren, dass wir die Fakten benennen können. Wir müssen dies noch schneller als geplant durchführen, weil Sie eine Verunsicherungskampagne von
Nord nach Süd und von Ost nach West auf dem Rücken
der Soldaten betreiben. Das können wir nicht zulassen.
Jede Reform muss logischerweise mit Standortschließungen verbunden sein. Wir werden daher versuchen, in diesem Punkt schnellstmöglich Klarheit zu schaffen. Sie
können dann Ihre Munition woanders verschießen.
Ich würde mir wünschen, dass Sie die Blockade - vorhin wurde in diesem Zusammenhang schon der Kollege
Breuer zitiert - beenden und ansatzweise einen Dialog
führen, von dem alle profitieren und der im Interesse der
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist.
Vielen Dank.
({9})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Rossmanith das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Nachdem die Frau Kollegin Beer meine Zwischenfrage nicht
zugelassen hat, muss ich zu dem Mittel der Kurzintervention greifen.
Frau Kollegin Beer, ich bin über den Weg schon sehr
erstaunt, den Sie innerhalb von zwei Jahren beschritten
haben. Sie haben sich zu Beginn - das habe ich überhaupt
nicht verstanden - als Abgeordnete dieses Hauses und als
Mitglied des Verteidigungsausschusses beim Bundesminister der Verteidigung dafür bedankt, dass er den Verteidigungsausschuss missachtet hat und dessen Mitglieder
am gestrigen Tage - ich darf schon sagen - desavouiert
hat.
Ich empfinde es als eine Beleidigung dieses Gremiums
durch den Bundesminister der Verteidigung - Sie bedanken sich auch noch für diese Beleidigung -, dass um
16.13 Uhr eine Broschüre bei der Poststelle des Deutschen Bundestages abgegeben wurde, während wir bis
nach 15 Uhr im Verteidigungsausschuss saßen
({0})
und es selbst auf meine Bitte und auf Antrag der
CDU/CSU-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion nicht möglich war, diese Broschüre bis zu diesem Zeitpunkt den
Mitgliedern des Verteidigungsausschusses zur Verfügung
zu stellen. Wir konnten dann heute Morgen eine Glanzbroschüre in den Händen halten, die schon länger fertig
gedruckt sein musste, obwohl man den Mitgliedern des
Verteidigungsausschusses gesagt hatte, erst Montagabend
seien die abschließenden Gespräche beendet worden.
({1})
Dafür kann ich mich als Parlamentarier nicht bedanken, sondern dafür muss ich den zuständigen Bundesminister, der das alleine zu verantworten hat, rügen. Ich
nehme ausdrücklich seine Mitarbeiter aus;
({2})
denn er kann und muss die entsprechende Anweisung geben. Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas passiert ist.
({3})
Herr Bundesminister Scharping, der Konsens, den wir
alle im Interesse der Sicherheits- und Verteidigungspolitik über Jahrzehnte - egal ob in Regierungsverantwortung
oder in der Opposition - mit getragen haben, wurde von
Ihnen am gestrigen Tage aufgekündigt.
({4})
Das müssen wir Ihnen vorwerfen.
Zu Ihrer so genannten Grobausplanung kann ich nur einen Satz sagen: Das ist keine Grobausplanung, sondern
das ist ein grobes Aus für die Bundeswehr.
({5})
Herr
Kollege Rossmanith, erstens ist es schlichtweg Fakt, dass
wir die bisherige Praxis Ihrer damaligen Regierung verändert haben. Sie haben von Jahr zu Jahr Einzelpläne vorgelegt nach dem Prinzip: schieben, strecken, streichen.
Dazu braucht man nicht viel Zeit; man muss nur ein paar
Zahlen verändern und das war es. Dazu braucht man auch
nicht viel Vorbereitungszeit. Wir haben nicht nach diesem
Prinzip gehandelt. Das Bundesverteidigungsministerium
hat im Auftrage der rot-grünen Koalition ein Konzept zur
Reform der Bundeswehr vorgelegt, das - ich hoffe, das ist
auch für Sie nachvollziehbar - etwas mehr Arbeit, Feinplanung und konzeptionelles Denken erfordert hat.
Insofern habe ich Verständnis dafür, wenn die eine oder
andere Vorlage etwas später erscheint. Es ist mir aber lieber, sie erscheint später, als den gleichen Mist wie von Ihnen und Herrn Rühe weiter zu bekommen - um das einmal ganz deutlich zu sagen.
({0})
Zweitens - ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen,
und appelliere an die Souveränität des Parlaments -: Ich
habe vorhin kritisiert, dass die Vorlage so spät gekommen
ist und ich deswegen heute nicht auf konkrete Einzelheiten eingehen kann.
({1})
- Jetzt lassen Sie mich einmal ausreden! - Ich gebe durchaus zu, dass ich heute mit Interesse sämtliche deutschen
Zeitungen gelesen habe, um über die wichtigsten Punkte
der Grobausplanung informiert zu sein, weil ich heute
Morgen nicht die 40 Seiten der Vorlage durcharbeiten
konnte. Aber weil wir das Parlament sind, wird dies nicht
die letzte Debatte, sondern nur eine der Debatten sein, die
die weitere Reform begleiten. Wir werden diese Diskussion im Ausschuss und mit Sicherheit auch im Deutschen
Bundestag weiter führen. Deswegen habe ich mit dem
ganzen Prozedere kein Problem.
({2})
Ich habe mich, auch im Auftrag der Fraktion, dafür bedankt, dass diese Grobplanung, wie angekündigt, vorgelegt worden ist und wir jetzt eine weitere, detaillierte
Grundlage haben, um die Reform der Bundeswehr zügig
und konsequent umzusetzen. Bei diesem Dank bleibe ich
und ich unterstreiche ihn.
({3})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss ehrlich sagen: Diese Danksagungen kenne ich noch aus
früheren Zeiten, in denen jede Rede damit angefangen
werden musste, einem Generalsekretär zu danken. Können wir das nicht lassen und ein bisschen vernünftiger und
politisch miteinander umgehen?
({0})
Das gehört auch zum Stil.
Die rot-grüne Bundesregierung - das erkenne ich neidlos an - kann inzwischen ganz gut auf verschiedenen Klavieren spielen und sie hat für jeden eine eigene Melodie.
In der Debatte um die Bundeswehrreform verkauft sie kritischen Geistern den Umbau der Armee als Abrüstung; die
Bundeswehr, die um ihren Status fürchtet, beruhigt sie mit
der Aussicht auf viel größere und wichtigere Aufgaben.
Die Grünen schlüpfen einmal mehr in die Rolle - die inzwischen zu ihrer zweiten Natur geworden ist -, nach
außen zu sagen: „Wir würden ja gerne“ - in diesem Falle:
abrüsten - „wenn die SPD uns ließe“, während sie nach
innen so tun, als ob sie die Bundeswehr erfunden hätten.
({1})
Ich glaube, diese Art und Weise der Doppelstrategie kann
man einfach nicht durchgehen lassen.
({2})
Im Unterschied zu den Kolleginnen und Kollegen der
F.D.P. glaube ich Ihnen, Frau Beer, Ihren Gesinnungswechsel zum Militärischen hin. Daran habe ich keinen
Zweifel, wenn ich Ihnen zuhöre. Das Schlimme ist nur:
Sie glauben schon wieder, dass Sie das mit der gleichen
Inbrunst verkünden müssen, mit der Sie es vorher kritisiert haben.
({3})
Etwas nachdenklicher, nüchterner, sachlicher könnten wir
mit den eigenen Entwicklungen ruhig umgehen.
Aus meiner Sicht markiert die Bundeswehrreform in
Wahrheit den Abschied von einer Verteidigungsarmee
und den Beginn einer Armee, die zur weltweiten Intervention fähig ist. Das ist hier nicht bestritten worden. Ich
will festhalten, dass das der entscheidende Einschnitt ist.
Das ist ein historischer Einschnitt und eine völlig neue
Konzeption. Darin, diese umzusetzen, ist sich offensichtlich nicht nur die Regierung, sondern sind sich auch
CDU/CSU, F.D.P. und in diesem Falle leider auch die
Weizsäcker-Kommission einig.
Sie nennen das Modernisierung. Wir haben dazu ein alternatives Konzept vorgelegt. Wir nennen es „Zukunft
durch Abrüstung“. Modernisierung klingt harmlos, klingt
wie ein Weichspüler. Ich finde, dass wir uns gerade in dieser Frage nicht weich spülen lassen sollten.
Der Kern der Differenz, den wir hier auszutragen haben, betrifft den Auftrag der Bundeswehr. Das Regierungskonzept zur Reform der Bundeswehr ist die deutsche Übersetzung der neuen NATO-Strategie. Diese
besagt: Für die NATO sind weltweite Militäreinsätze auch
ohne UNO-Mandat möglich. Sie besagt: Der Zweck der
NATO ist nicht mehr die territoriale Verteidigung, sondern die Erfüllung von Bündnisinteressen - ein Begriff,
der so vage wie dehnbar ist. Zu den Bündnisinteressen
kann gehören, die deutsche Wirtschaft mit Rohstoffen zu
versorgen. Die Möglichkeit, dass dafür auch die Bundeswehr eingesetzt werden könnte, hat Verteidigungsminister Scharping am 24. Mai 2000 auf einer Pressekonferenz,
die vom Fernsehsender Phoenix übertragen worden ist,
ausdrücklich genannt.
Das so genannte Reformkonzept entspricht darüber hinaus passgenau der militärischen Formation, die sich die
Europäische Union schaffen will. Danach sind exakt jene
150 000 Menschen vorgesehen, die die Bundesrepublik
Deutschland zu den europäischen Krisenreaktionskräften
beisteuern soll. Da drängt sich doch die Frage auf: In welche Kriege sollen deutsche Soldaten künftig geschickt
werden? In den Kaukasus? Nach Afrika? Wenn ja, auf
welcher Grundlage?
Dem neuen Auftrag der Bundeswehr entspricht ihre
neue Bewaffnung. Sie braucht Hightech. Diese Umrüstung kostet viel Geld. Was uns von der rot-grünen Bundesregierung unter dem Titel „Reform“ vorgelegt wird, ist
das qualitativ größte Aufrüstungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Das muss man
hier festhalten und das muss man auch draußen sagen.
({4})
Daran mäkelt jetzt - das begreife ich eigentlich nicht die CDU/CSU herum. Herr Kollege Polenz, Ihre Rede
fand ich ziemlich zahnlos und ohne Biss. Ich habe darüber nachgedacht, woran das liegen könnte. Ich glaube, das
liegt daran, dass Sie die jetzige Entwicklung der Bundeswehr eigentlich bejahen und dass deswegen Ihre Kritik,
die Sie aufgrund Ihrer Position üben müssen, etwas kleinlich ist. Das, was Sie ärgert, ist, dass Rot-Grün das durchsetzt, was Schwarz-Gelb schon immer wollte.
({5})
Nur, die Kohl-Regierung hat es nicht geschafft. Sie
musste zu Recht die gesellschaftliche Opposition fürchten, zu der damals im weitesten Sinne auch die heutigen
Regierungsparteien SPD und Grüne gehörten.
({6})
Die hätten damals nämlich nicht mitgespielt und das wussten Sie. Was das bedeutet, das wusste Helmut Kohl zu genau. Zu präsent war die Erinnerung an die Volksbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss. Eine ähnliche
Kraftprobe hat sich die alte Bundesregierung kurz nach
der deutschen Einheit nicht zugetraut. Diese politischen
Skrupel allerdings hat Rot-Grün heute nicht mehr; auch
das muss hier ausgesprochen werden.
({7})
Seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes ist die Bundesrepublik Deutschland nur noch von Freunden und
Partnern „umzingelt“. Dies ist eine einzigartige Chance
zur Abrüstung. Die Bundesregierungen sagten bislang:
Wir können die Chancen leider nicht nutzen, solange in
Südosteuropa blutige Bürgerkriege toben. Die Dekade der
Balkankriege ist aber jetzt aus und vorbei. Jedenfalls
stellte das gestern die Bundesregierung in der Debatte bezüglich der Entwicklungen in Jugoslawien fest. Wenn das
wirklich so ist, dann könnten Sie endlich loslegen: Sie
könnten abrüsten. Sie tun es aber nicht. Warum tun Sie es
denn nicht? Die Regierung beantwortet solche Fragen
nicht.
Auch aus unserer Sicht gibt es nach Ende der Balkankriege noch Risiken wie den Terrorismus, die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, die organisierte Kriminalität, innerstaatliche Konflikte und Bürgerkriege. Aber all diese Risiken entziehen sich ihrer Natur
nach militärischen Lösungen. Sie müssen vielmehr sozial
und humanitär ausgeglichen und gedämpft werden. Das
ist die eigentliche Aufgabe. Diese Konflikte können und
dürfen nicht militärisch gelöst werden.
({8})
Adäquate Mittel wären wirtschaftliche Unterstützung,
politische Hilfen und eine friedliche Zusammenarbeit.
Neue militärische Interventionskräfte der Europäischen
Union, eine kriegerischere Bundeswehr sind eine völlig
falsche Antwort auf neue Problemlagen der Welt. Deswegen meinen wir, deutsche Streitkräfte müssen sich strikt
auf den Verteidigungsauftrag beschränken. Dafür wären
100 000 Soldatinnen und Soldaten mehr als genug.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch einen
knappen Satz zu der Debatte um die Angleichung der Besoldung in Ost und West sagen. Wenn Herr Bundesminister Scharping von der Armee der Einheit gesprochen hat,
sollte damit nicht nur eine Einheit im Dienen, dann muss
damit auch eine Einheit im Verdienen gemeint sein.
({9})
Alle Argumente, die wir von Herrn Zumkley gehört haben, waren nicht besonders überzeugend. Das ging ein
bisschen nach dem Motto: Wasch meinen Pelz, aber ich
will es nicht bezahlen.
Lassen Sie mich abschließend noch die Problematik
der Wehrpflicht ansprechen. Die PDS tritt für die Abschaffung der Wehrpflicht ein. Ein erster Schritt dazu
kann die Aussetzung der Wehrpflicht sein, weil die Wehrpflicht im Grundgesetz als Kannbestimmung verankert ist
und die notwendige Zweidrittelmehrheit für die Änderung des Grundgesetzes hier leider nicht zusammenkommt. Aber es ist besser, sie auszusetzen, als sie weiterzuführen. Das hat übrigens die F.D.P. auf ihrem Parteitag
beschlossen, wenn auch mit anderen Argumenten und anderen Zielen als die PDS. Ich möchte daher im Interesse
der F.D.P. und der PDS deutlich sagen: Von den Zielen her
unterscheiden wir uns auch in dieser Frage völlig. Sie
wollen im Kern ebenfalls eine Kriseninterventionsarmee.
Dass die Grünen so auf diesem Beschluss herumhacken,
spricht wiederum nur für das schlechte Gewissen der Grünen, das sie gerade in dieser Frage haben.
Die PDS dagegen hält daran fest: Armeen, Aufrüstung,
Rüstungsexport und Zwangsdienste sind vollständig zu
überwinden. Das wird sicherlich ein langer Weg sein. Er
muss gegangen werden, bis er eine Mehrheit in der Bevölkerung findet. Wir haben unsere Alternativen in dieser
grundsätzlichen Frage der Bundeswehrreform deutlich
aufgezeigt. Wir halten Abrüstung auch in diesem Parlament nicht für ein Fremdwort. Wir wollen endlich, dass
konkret deutlich abgerüstet wird.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Verena Wohlleben.
Frau Präsidentin! Liebe
Kollegen! Liebe Kolleginnen! Herr Polenz und Herr
Gerhardt, Sie haben zur Zukunft der Bundeswehr gesprochen. So, wie Sie das dargestellt haben, soll sich eigentlich nichts verändern; die veralteten Strukturen der Bundeswehr sollen beibehalten werden.
({0})
- Ich hatte zumindest diesen Eindruck. Ich sage Ihnen
auch, warum ich diesen Eindruck hatte:
({1})
Frauen sind bei Ihnen überhaupt nicht vorgekommen. Es
ist Ihnen wohl entgangen, dass es in der Zukunft Frauen
in der Bundeswehr gibt.
({2})
Dazu haben Sie nicht ein Wort gesagt.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Nolting?
Nein, in Anbetracht der
Zeit gestatte ich keine Zwischenfragen. Außerdem hat
Herr Nolting am Anfang schon genügend Gelegenheit gehabt, hier zu sprechen - wenngleich er nicht auf der Rednerliste stand.
„Frauen erobern die Bundeswehr, ehrgeizig und nicht
weniger hart im Nehmen als ihre männlichen Kollegen“,
so war es dieser Tage in einer Tageszeitung zu lesen. Damit geht ein langer Weg der Irreführung zu Ende, der bis
zum Europäischen Gerichtshof führte. Jetzt wird einer der
letzten Steine zur Gleichstellung von Mann und Frau aus
dem Weg geräumt. Wir können stolz sein; denn das Märchen vom schwachen Geschlecht ist jetzt korrigiert.
Damit die Realisierung nun wirklich ohne Hindernisse
auf den Weg gebracht werden kann, bedarf es der Anpassung des Soldatengesetzes.
({0})
- Lieber Kurt, halt Dich zurück, bitte nicht wieder dieses
Thema! - Die vorgesehenen Änderungen des Soldatengesetzes, was den Dienst für Frauen anbelangt, sind gelungen und entsprechen den Notwendigkeiten voll und ganz.
Weibliche Soldaten im Sanitätsdienst gibt es bei der
Bundeswehr schon lange. Deshalb war bei mir in Roth,
wo Sanitäter ausgebildet werden, die Aufregung nicht
sehr groß, als das Urteil des Europäischen Gerichtshofs
vorlag. Nun werden alle Teilstreitkräfte der Bundeswehr
für Bewerberinnen offen stehen. Die Frau als Sonderfall
bei der Bundeswehr wird es daher nicht mehr geben.
Ein Oberfeldarzt aus meinem Wahlkreis sagte mir, er
sei es gewohnt, dass es bei seiner Truppe in Roth inzwischen mehr Frauen als Männer gebe. Sonderbehandlungen oder reine Frauengruppen haben sich nicht bewährt;
am besten lässt sich eine Truppe führen, in der Männer
und Frauen in etwa gleichstark vertreten sind - so sagen
mir die Fachleute. Frauen müssen auch die gleichen Einstellungsvoraussetzungen wie ihre männlichen Kollegen
erfüllen. Dass von etwa 100 Offiziersanwärtern durchschnittlich nur etwa sieben die schweren Prüfungen zum
Flugzeugführer schaffen, ist völlig normal. Diese Quote
wird ganz sicher auch von Frauen erreicht werden.
In drei bis vier Jahren - da bin ich mir sicher - fliegen die
ersten Pilotinnen bei der Luftwaffe.
Herr Kollege
Braun, Frau Wohlleben gestattet Ihre Zwischenfrage
nicht.
Frauen werden alle Laufbahnen offen stehen. Dies und vieles mehr ist nun im
Soldatengesetz geregelt worden. Dafür danken wir dem
Bundesminister. Dass auch die Umsetzung dieser hervorragenden Regelung exakt und schnell vonstatten geht,
dessen sind wir uns sicher. Dann können wir Frauen, aber
auch die Männer zufrieden sein. Herr Minister, ich
glaube, wir werden zufrieden sein.
({0})
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, die grundlegende
Neuausrichtung der Bundeswehr sowie der Beginn einer
strategischen Partnerschaft mit der Wirtschaft markieren einen Umbruch hinsichtlich der bisherigen Zusammenarbeit, aber auch einen Umbruch dahin gehend, dass
Berufs- und Zeitsoldaten nach ihrem Ausscheiden ihre Erfahrungen möglichst unkompliziert in die Arbeitswelt
einbringen können. Das ist sehr wichtig, damit sie durch
ihr Ausscheiden aus der Bundeswehr nicht sofort aufs
geistige Altenteil geschickt werden und wichtige Erfahrungen und intelligentes Humankapital brachliegen. Dass
das so noch nicht in § 20 a des Soldatengesetzes geschrieben werden konnte, nehmen wir zur Kenntnis.
Dass eine Veränderung des § 25 a notwendig ist, steht
außer Frage. Wir sind endlich erwachsen geworden, und
wenn ich „erwachsen“ sage, dann meine ich damit, dass
wir wie unsere internationalen Partner Pflichten übernommen haben, die über die Kernaufgabe der Landesverteidigung hinausgehen. Wir sind künftig in der Bündnisverteidigung und im internationalen Management mehr
gefordert.
Da darf ein kommunales Ehrenamt nicht im Wege
stehen. Das, was in der freien Wirtschaft gang und gäbe
ist, muss auch für unsere Soldaten gelten. Selbstverständlich wollen wir unsere Soldaten auch in kommunalen
Ehrenämtern sehen.
({1})
Sie sollen weiterhin kandidieren und auch gewählt werden; denn wir sind stolz auf diese praktizierte Form des
Staatsbürgers in Uniform.
({2})
Dieses Amt darf aber nicht dazu benutzt werden, sich
vor Auslandseinsätzen zu drücken.
({3})
- Bisher ist dies nur in einem Fall versucht worden, Herr
Nolting. Das könnte sich aber fortsetzen. Deswegen ist es
notwendig, eine Veränderung im Soldatengesetz vorzunehmen. Auch hier wird uns sicher ein annehmbarer
Wortlaut vorliegen, über den wir beraten werden und den
wir sicher alle miteinander tragen können.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir laden Sie zur
konstruktiven Mitarbeit ein, damit wir diese Reform,
diese Veränderungen im Soldatengesetz auf den Weg
bringen können. Die Zeit dafür ist reif. Erinnern Sie sich
doch: Wann gab es die letzte erfolgreiche Reform? - Verteidigungsminister Helmut Schmidt war der Initiatior.
({4})
Er hat eine weitsichtige, zukunftsfähige Reform der Bundeswehr konzipiert - das lässt sich nachlesen, hören Sie
gut zu - und auf den Weg gebracht. Die Verteidigungsminister Georg Leber und Hans Apel haben dieses wichtige
Werk in die Tat umgesetzt und Sie, meine sehr verehrten
Herren und Damen von der Opposition, haben davon
16 Jahre lang gelebt. So einfach ist das.
({5})
Das sind Tatsachen und Fakten. Lesen Sie es in der Bestandsaufnahme nach.
({6})
Von Ihnen kam keine Erneuerung, Sie haben die Truppe
und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nur verunsichert.
Bitte vergessen Sie einmal für einen Augenblick Ihre
Oppositionsrolle und denken Sie an die Menschen in der
Bundeswehr, die nicht wie Schachfiguren beliebig auf
dem Felde hin und her geschoben werden können, so wie
Sie es bisher getan haben. Die Zeiten dafür sind Gott sei
Dank vorbei. Die Bundeswehr vertraut dieser Regierung
und dieses Vertrauen wissen wir zu schätzen.
({7})
Wir werden diese Menschen nicht enttäuschen, weil nur
wir nachweisbar die Kompetenz dazu haben, unsere Bundeswehr zukunftsfähig zu reformieren.
({8})
Wir danken dem Bundesminister der Verteidigung.
({9})
Wir danken den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die
hervorragende Arbeit und wir danken den Soldatinnen
und Soldaten dafür, dass sie bereit sind, diesen Reformweg mitzugehen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({10})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Nolting das Wort.
({0})
Frau Kollegin
Wohlleben, würden Sie zur Kenntnis nehmen, dass die
F.D.P. bereits im Jahre 1987, also vor 13 Jahren, beschlossen hat, dass sich die Bundeswehr für Frauen in all
den Bereichen öffnen soll, in denen Frauen mitarbeiten
wollen? Können Sie sich daran erinnern, dass die F.D.P.
hierzu im Bundestag Vorstöße unternommen und Anträge
eingebracht hat, die regelmäßig von allen Fraktionen abgelehnt wurden, auch von der SPD-Fraktion? Können Sie
sich auch daran erinnern, dass uns die Grünen, vor allem
die Kollegin Beer, aufgrund unserer Forderung ständig
die Militarisierung der Gesellschaft vorgeworfen haben?
Heute wird dies als Sieg der Gleichberechtigung dargelegt.
({0})
Vielleicht können Sie sich an diese erst wenige Jahre
zurückliegenden Ereignisse erinnern. Ich freue mich, dass
Sie das, was wir als F.D.P. vor 13 Jahren beschlossen haben, jetzt endlich übernehmen.
Frau Kollegin Wohlleben, Sie haben hier im Rahmen
der Diskussion über das Ehrenamt geäußert, dieses Amt
dürfe nicht dazu benutzt werden, dass sich Soldaten vor
Auslandseinsätzen drücken. Sind Sie sich eigentlich bewusst, was Sie damit sagen? Sie verunglimpfen die Soldaten im Einsatzgebiet, Sie verunglimpfen die Soldaten,
die hier vor Ort ihren Dienst tun, und Sie verunglimpfen
die Soldaten, die in dieser Demokratie und für diese Demokratie in den Kommunalparlamenten arbeiten, wenn
Sie hier einen einzigen Fall pauschal vortragen, um dann
zu einer solchen Aussage zu kommen. Sind Sie sich darüber im Klaren? - Ich glaube nicht.
({1})
Sie könnten auf diese Frage antworten, um das richtig zu
stellen.
Vielen Dank.
({2})
Möchten Sie
antworten? - Das ist nicht der Fall.
Dann erteile ich jetzt dem Abgeordneten Hans Raidel
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin
Wohlleben, wer keine Selbstzweifel hat, macht nach alter
Lebenserfahrung im Leben viele Fehler. Ich hoffe, dass
Sie davor bewahrt bleiben.
({0})
Herr Minister, das war heute keine große Rede, das war
kein großer Wurf. Vieles ist im Dunkeln geblieben. Neues
kam nicht so richtig zum Tragen. In meinem Wahlkreis
gibt es ein Sprichwort dafür: „Der Berg kreißte, eine Maus
ward geboren.“
Liebe Freunde, die Bundeswehr muss reformiert werden. Darüber gibt es überhaupt keinen Zweifel. Nach allem, was bisher bekannt ist, kann jedoch von einer durchgängigen, klaren und konsequenten Planung auf der
Grundlage einer soliden Finanzierung für die Bundeswehr nicht die Rede sein. Herr Minister, Sie predigen mit
missionarischem Eifer von der Attraktivität, von der Qualität und von der Motivation. Aber Ihr Dilemma ist doch
ersichtlich: Ihre Regierung will all das, was Sie vorschlagen, nicht bezahlen. Strecken, Schieben, Streichen ist out,
erklärten Sie bei Ihrem Amtsantritt.
({1})
Dies war aus heutiger Sicht vielleicht ein bisschen voreilig. Ich sage: Strecken, Schieben, Streichen ist nach wie
vor in. Das zeigt ein Blick in den Haushalt 2001, in die
mittelfristige Finanzplanung und in die Investitionsplanung. Dies ist für jeden Fachkundigen ersichtlich.
Jeder weiß, dass die Reduzierung der Truppenstärke,
die Steigerung der Attraktivität, eine moderne Ausrüstung
und die Erfüllung internationaler Verpflichtungen erst
einmal zusätzlich Geld kosten. Doch die notwendige Anschubfinanzierung für die Bundeswehrreform ist vom
Tisch. Der Wehretat sinkt. Das sind die Fakten.
Herr Minister, am Ende zählt nicht, ob Sie vielleicht
die richtigen Ideen vorgetragen haben, sondern nur das,
was diese Regierung und Rot-Grün daraus gemacht haben.
({2})
Warum scheuen Sie den erneuten Kampf um mehr Geld?
Nach allen Meinungsumfragen bejaht die Bevölkerung
die Verteidigungsfähigkeit einschließlich der Wehrpflicht
und will eine moderne Bundeswehr. Seit 14 Uhr tagen die
Zuständigen in den Reihen der SPD über die Verteilung
zumindest der Zinsen aus den UMTS-Milliarden. Wo ist
Ihre Forderung, wenigstens 1 Milliarde DM von diesem
Kuchen zu bekommen? Wir wissen es: Herr Schröder und
Herr Eichel wollen nicht, die Grünen wollen nicht, auch
nicht die Linken in der SPD. Sie stehen mit dem Rücken
zur Wand. Das ist die Wahrheit. Ideologie geht vor Realität.
({3})
Ein Wort zur Wehrpflicht. Wir wollen die Wehrpflicht.
Die CDU/CSU ist und bleibt der Garant für die Wehrpflicht. Wir dürfen es gemeinsam nicht zulassen, dass
hier über die Aussetzung und über die Abschaffung der
Wehrpflicht geredet wird und vielleicht sogar Beschlüsse
dazu gefasst werden. In Richtung der F.D.P. sage ich:
Es darf nicht sein, dass der Zeitgeist der
„Möllemänner“ über die Vernunft der Sachkundigen triumphiert. Revidieren Sie diesen Parteitagsbeschluss! Und
die Grünen sollten sich an das erinnern, was sie früher gesagt haben. Sie sollten ein klares Bekenntnis zur Wehrpflicht ablegen.
Die Ausübung des passiven Wahlrechts soll für Soldaten eingeschränkt werden. Den Fall, den Sie zitiert haben, sollten Sie bitte einmal nachlesen. Es ist nur peinlich,
was hier passiert ist. Gerade wir Parlamentarier dürfen
nicht zulassen, dass diese Rechte eingeschränkt werden.
Deswegen fordere ich Sie auf, Herr Minister: Streichen
Sie diese Vorschrift aus dem Gesetz! Sie ist für die praktische Handhabung nicht notwendig, sie ist überflüssig.
({4})
Ich will noch etwas zur Standortfrage sagen. Wir wissen, dass die Präsenz in der Fläche notwendig ist. Wir wissen, wie sehr die Bundeswehr mit ihren Standorten bei
Land und Leuten verwurzelt ist. Das muss natürlich auch
künftig so bleiben. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass
dies einen Ausbildungs- und Wirtschaftsfaktor darstellt.
Wir treten daher für den möglichst vollständigen Erhalt
der Bundeswehrstandorte ein. Herr Minister, Ihre diesbezügliche Aussage ist nicht schlüssig: Sie wollen das Personal um rund 60 000 Personen reduzieren, aber nur
Kleinststandorte schließen. Rechnet man das einmal
nach, ergibt sich, dass das nicht geht. Das bedeutet, dass
eine Standortschließungswelle bevorsteht. Ich sage Ihnen
klipp und klar: Wir sind nicht für diesen Weg. Wir haben
in unseren Vorstellungen dargelegt, wo für uns bei der
Struktur und beim Personal die Unterkante liegt. Wir machen Sie von diesem Platz aus für die Standortfrage verantwortlich. Sie, Rot-Grün, sind für diese Themen verantwortlich.
Sie wollen aus dem Verkauf von Liegenschaften und
veraltetem Wehrmaterial Geld erwirtschaften. Grundsätzlich ist diese Idee richtig. Aber wenn Sie davon ausgehen,
dass hier schnelles Geld - vor allem in ausreichendem
Umfang - erzielt werden kann, dann haben Sie diese Themen nicht richtig durchleuchtet, weil das in der Praxis mit
Sicherheit nicht passieren wird.
Was wird passieren? Sie werden entweder die Sollstärke weiter nach unten fahren oder viele Projekte aus
dem Haushalt streichen müssen. Das ist es eben: Verschieben, Strecken, Streichen. In allen Fällen wird die Unruhe und Unzufriedenheit in der Truppe zunehmen. Von
einer attraktiven Armee kann überhaupt keine Rede mehr
sein. Unsere Verbündeten sind bereits enttäuscht bzw.
werden enttäuscht sein. Deutschland wird seinen Verpflichtungen nicht gerecht.
Die Reformüberlegungen sind auf Rand genäht. Es
geht nur nach der Kassenlage und nicht nach dem Bedarf.
Deswegen lehnen wir Ihre Vorschläge, wie sie derzeit auf
dem Tisch liegen, ab. Sie sind für die Bundeswehr in dieser Form nicht zumutbar.
({5})
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Scharping das Wort.
({0})
Herr Kollege Raidel, da
Sie sich wie auch andere Kollegen aus Ihrer Fraktion regelmäßig wiederholen, ohne auf Zahlen einzugehen,
möchte ich Sie zunächst fragen, welchen Ihrer Finanzpläne ich eigentliche zugrunde legen soll.
({0})
Für das Jahr 1997 haben Sie in diversen Finanzplänen
vorgesehen: 47,5 Milliarden DM, 47,9 Milliarden DM,
48,4 Milliarden DM, 46,5 Milliarden DM, 46,3 Milliarden DM - das nenne ich eine solide Finanzplanung.
Tatsächlich ausgegeben haben Sie 46,2 Milliarden DM.
1998 haben Sie in diversen Finanzplänen 48,4 Milliarden DM, 48,9 Milliarden DM, 46,9 Milliarden DM,
46,7 Milliarden DM, 46,7 Milliarden DM vorgesehen. Im
Jahr 1999 - das sage ich jetzt nur zur Verdeutlichung - hat
diese Koalition für die Bundeswehr 47,05 Milliarden DM
und im Einzelplan 60 rund 600 Millionen DM eingeplant;
das macht rund 47,6 Milliarden DM. Ausgegeben hat sie
48,1 Milliarden DM. Genauso wird es übrigens im Jahre
2000 laufen. Das ist der erste Punkt.
Zweiter Punkt. Sie sagen, Einsparungen bis zu 1 Milliarde DM seien unrealistisch. Ich sage Ihnen - das habe ich
schon im Verteidigungsausschuss und an anderer Stelle
gesagt; aber so ist es dann auch im Protokoll des Deutschen Bundestages -: Wir rechnen mit sinkenden Betriebskosten in einer Größenordnung von 200 bis 250 Millionen DM. Wir haben im Haushaltsentwurf 2001 das
Beschaffungsvolumen, das handelsüblich abgewickelt
und marktüblich finanziert werden kann, mit einer
Größenordnung von 370 Millionen DM identifiziert.
({1})
- Was hat der denn damit zu tun? Sie sind jetzt wirklich
auf dem falschen Dampfer, Herr Kollege Nolting.
Im Übrigen hat Ihre Tätigkeit dazu geführt, dass Liegenschaften frei geworden sind, die von der Wehr- und
von der Bundesvermögensverwaltung folgendermaßen
bewertet worden sind: geschätzter Verkehrswert für das
Jahr 2001 370 Millionen DM. Ich sage Ihnen das nur; Sie
werden ja über den Haushaltsvollzug unschwer kontrollieren können, ob diese Ziele erreicht werden.
Letzter Hinweis. Was die internationale Anerkennung
angeht, beschleicht mich ein eigenartiges Gefühl. Alle
meine Kollegen Verteidigungsminister begrüßen die Reform der Bundeswehr; das haben sie ausdrücklich gesagt.
Alle in der Wirtschaft begrüßen die Reform der Bundeswehr und die Einführung moderner Managementmethoden, die Kooperation mit der Wirtschaft. 85 Prozent der
Angehörigen der Streitkräfte - herausgefunden durch eine
Umfrage von Emnid, durchgeführt mit 12 000 Angehörigen der Streitkräfte - begrüßen die Reform der Streitkräfte. Die einzigen, die nörgeln, sind Sie.
({2})
Sie sagen übrigens weder zu den Besoldungsverbesserungen noch zur Neuordnung der Laufbahn Nein.
({3})
Sie sagen auch nicht Nein zur Neustrukturierung von
Heer, Luftwaffe und Marine. Sie sagen nicht Nein zur
Streitkräftebasis. - Das alles scheint Ihnen doch offenbar
recht zu sein.
Wenn sich also der Dialog darauf begrenzt, die Frage
zu stellen, ob eine richtige Vorstellung auch finanziert
werden kann, dann bin ich bereit - längs der Zahlen, die
ich Ihnen gerade noch einmal genannt habe -, in diesen
Dialog einzutreten. Sie werden mir dann erläutern müssen, auf welcher Grundlage ich vergleichen soll, was Sie
bisher geplant hatten; denn ich habe für jedes HaushaltsHans Raidel
jahr mindestens fünf Zahlen vorliegen und sie lauten immer anders - vor allen Dingen anders als die Realität.
({4})
Herr Kollege
Raidel, bitte.
Herr Minister, erst einmal
vielen Dank, dass Sie mich zur Erwiderung auserkoren
haben.
Wer sich ständig nur auf die Vergangenheit beruft, hat
kaum ein ausreichendes Konzept für die Zukunft.
({0})
Das ist das große Problem der gesamten Planung, die Sie
vorlegen. Die Planung ist nicht ausgegoren - das sagen
hinter vorgehaltener Hand selbst Ihre eigenen Leute. Orientieren Sie sich doch an unserem letzten Finanzplan, der
einen Aufwuchs bis 50 Milliarden DM vorgesehen hat.
Wir begrüßen alle modernen Ideen für eine Umplanung,
für eine moderne Armee. Da gibt es überhaupt keinen
Zweifel. Was in der Wirtschaft, mit der Wirtschaft, für die
Wirtschaft und für die Bundeswehr getan wird - ({1})
- Scheinbar habe ich Sie doch ziemlich getroffen. Sie
können so schön emotional sein.
({2})
- Es sind keine falschen Zahlen. In meinem ganzen Konzept sind kaum Zahlen vorgekommen, also können Sie
sich bei mir auch nicht auf falsche Zahlen berufen.
Ich sage Ihnen nur: Orientieren Sie sich am 32. Finanzplan! Gehen Sie schrittweise auf die 50 Milliarden DM
zu! Sehen Sie zu, dass Sie das Geld, das gerade verteilt
wird, auch für die Bundeswehr nutzbar machen können,
und legen Sie uns bitte alle Unterlagen rechtzeitig vor, sodass wir Ihre Ideen, Gedanken und Modelle in allen Einzelheiten prüfen können! Wenn etwas Vernünftiges dabei
sein sollte - das habe ich Ihnen auch schon einmal persönlich gesagt -, werden meine Kollegen und ich das auch
gerne unterstützen. Wenn aber alles so unverbindlich wie
derzeit formuliert wird, wenn alles im Dunkeln bleibt,
können Sie von uns nicht erwarten, dass wir diesen Weg
ins Dunkle mit Ihnen gehen werden. Sie sind aufgefordert. Sie haben hier die Bringschuld, und zwar nicht nur
gegenüber uns, sondern gegenüber dem ganzen Parlament, der Bundeswehr und der Öffentlichkeit.
({3})
Es gibt noch
zwei Redewünsche. Aber ich darf nicht zulassen, dass aus
den Kurzinterventionen sozusagen eine Nebendebatte
wird. Insofern werde ich in der Reihenfolge der Wortmeldungen fortfahren.
Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Anni BrandtElsweier.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Die Zukunft der Bundeswehr
wird auch weiblich sein. Das wird mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen sichergestellt
und das ist auch gut so. Nach Öffnung der Bewerberinnenlisten für die Bundeswehr haben sich bis Ende August
immerhin 1 641 Frauen in diese Listen eingetragen. Das
ist nicht gerade ein Ansturm, aber am 2. Januar nächsten
Jahres treten die ersten freiwillig dienenden Soldatinnen
ihre Unteroffiziers- und Mannschaftslaufbahn beim Bund
an, am 1. Juli folgen dann die ersten angehenden weiblichen Offiziere. Wie viele es letztlich auch sein mögen, die
Bundeswehr wird ihr Gesicht verändern und manche Vorurteile dürften fallen.
Ich will an dieser Stelle nicht verhehlen, dass ich mich
zu Beginn der Debatte sehr schwer mit dem Gedanken getan habe, Frauen den freiwilligen Zugang zur Bundeswehr
zu ermöglichen. Ich bin Jahrgang 1932 und die Erinnerung an den letzten Krieg macht es mir nicht leicht, dieser Idee völlig unverkrampft gegenüberzustehen. Aber ich
habe mich in zahlreichen Gesprächen, insbesondere mit
jungen Frauen, die dieses Thema bedeutend lockerer sehen als meine Generation, überzeugen lassen. Für sie ist
die Bundeswehr zunächst ein Arbeitsmarkt wie jeder andere, eine Gelegenheit, um auch, wie die Männer, eine
Ausbildung zu erhalten und Karriere machen zu können.
Dieser Aspekt ist richtig und wichtig und doch geht es um
mehr.
Der Zugang der Frauen zur Bundeswehr ist ein
wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem gleichberechtigten Miteinander. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich
bin nicht der Ansicht, dass gerade eine Zivilgesellschaft
wie die in der Bundesrepublik ausgerechnet das Militär
benötigt, um die Gleichberechtigung voranzubringen.
({0})
Es muss noch viel getan werden, um zum Beispiel die
nach wie vor existierende Diskriminierung der Frauen im
Erwerbsleben weiter zurückzudrängen. Wir werden deswegen in Kürze ein Gleichstellungsgesetz vorlegen, das
die Chancen für Frauen, auch in die Chefetagen der
großen Unternehmen vorzustoßen, erheblich verbessern
wird.
({1})
Aber machen wir uns doch nichts vor: Die Bundeswehr
ist eine der letzten Bastionen der Männer, der „kriegerische Männerbund“ ist identitätsstiftend für die Männlichkeit an sich. Wer hat sie nicht vor Augen, die amerikanischen oder auch die deutschen Kriegsfilme, in denen
Männer - mehr oder weniger heroisch - ihr Leben für
Volk und Vaterland einsetzen? Frauen sind da meist auf
die Rolle der bangenden Gattin und der helfenden Krankenschwester beschränkt. Und deswegen gehören Frauen
auch in die Armee, nämlich um die Geschlechterrollen
aufzubrechen, um das Bild des Mannes als Krieger und
Beschützer und das der passiven, hilflosen Frau endgültig
zu verdrängen, damit Frauen an den wichtigen Entscheidungen in unserem Land auch wirklich teilhaben.
({2})
Deswegen begrüße ich ausdrücklich die Entscheidung
unseres Verteidigungsministers Rudolf Scharping, Frauen
nicht von vornherein von irgendwelchen Verwendungen
in der Armee auszuschließen. Keine Sonderregelung,
keine Quote, kein Bonus - allein Leistung, Eignung und
Befähigung sind die ausschlaggebenden Kriterien für den
Einsatz der Frauen.
Sie werden eine Bereicherung für die Bundeswehr
sein. Die ersten Einstellungstests der Bundeswehr liefern
einen eindeutigen Befund: Die so genannte Ausschöpfungsquote ist bei den Frauen wesentlich höher als bei den
Männern. Das heißt im Klartext: An den Eingangshürden
scheitern prozentual viel mehr Männer als Frauen. Im
Vergleich zu den männlichen Kandidaten sind Frauen
meist eloquenter, haben die besseren Kenntnisse über
Bundeswehr und Politik
({3})
und sind, wie zum Beispiel die Erfahrungen in der israelischen Armee zeigen, den Männern in der Logistik überlegen.
Wundert uns das wirklich? Dass Frauen beruflich besser qualifiziert sind, ist hinlänglich bekannt. Dass sie ihre
Fähigkeiten zum Positiven einbringen werden, bezweifelt
sicherlich auch niemand ernsthaft. So haben bereits die
Erfahrungen der sanitätsdienstlichen Unterstützung der
Vereinten Nationen in Kambodscha gezeigt, dass die hohe
Leistungsbereitschaft der Sanitätssoldatinnen einen stark
motivierenden Einfluss auf männliche Kameraden ausüben kann. Aber auch hier machen wir uns bitte nichts
vor: Es wird nicht leicht werden für die jungen Frauen.
Die Stellungnahme der Frauenbeauftragten des
Bundesverteidigungsministeriums, Frau Rita ScholzVillard, spricht eine deutliche Sprache - ich zitiere -:
In der Armee herrscht nach wie vor ein überkommenes Rollenverständnis. Bei der Bundeswehr treffen
Frauen von heute auf Männer von gestern.
({4})
Werbekampagnen für Frauen bei der Bundeswehr hält
Frau Scholz-Villard für Lippenbekenntnisse; in Wahrheit
stünden die Männer nicht dahinter.
Der „Spiegel“ hat sich in seiner Ausgabe vom 1. September 2000 ausführlich mit diesem Thema beschäftigt.
Die Zitate manch männlicher Angehöriger der Bundeswehr lassen den Schluss zu, dass Frau Scholz-Villard mit
ihrer Meinung Recht hat. Dort wird ein bayerischer Oberstabsarzt mit den Worten zitiert:
Wir haben nichts gegen Frauen - nur sagen lassen
wollen wir uns von denen nichts.
({5})
Zu den Vorzügen der traditionellen Männergesellschaft
bekennt sich auch der Kommandeur des Jägerbataillons
im sächsischen Marienberg:
Ein weiblicher Kampfoberst wäre das Letzte, was
mir fehlt.
({6})
Unter diesen Aspekten begrüße ich ausdrücklich, dass
unser Verteidigungsminister bereits reagiert hat und durch
das Zentrum für Innere Führung in Koblenz so genannte
Gender-Trainings für Kompaniechefs und Kommandeure
anbietet, um „Verhaltenssicherheit“ im Umgang mit
Frauen zu gewinnen.
({7})
Frau Scholz-Villard beklagt zudem auch die Mühen,
Frauen auf Beförderungsposten zu bekommen. Anlässlich
einer Reise des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend nach Israel konnten wir feststellen,
dass dieses Problem kein spezifisch bundesdeutsches ist.
Dort ist der Dienst Pflicht, für Frauen wie für Männer. An
der Spitze aber ist die israelische Armee ein frauenfreier
Verein; denn die Toppositionen sind nur Männern vorbehalten, jedenfalls noch heute. Aus diesem Grunde ist auch
der inzwischen erstellte zweite Frauenförderplan des
Bundesverteidigungsministeriums von großer Wichtigkeit. Wir müssen jedoch darauf achten, dass er in die Realität umgesetzt wird; sonst ist er das Papier nicht wert, auf
dem er geschrieben steht.
Es sind also Vorsicht und Wachsamkeit geboten. Vor
allem sollten wir die jungen Frauen nicht unvorbereitet in
den Militärdienst schicken. Männer haben immerhin die
Möglichkeit, während ihres Wehrdienstes zu erkunden,
ob sie sich eine berufliche Zukunft in der Bundeswehr
vorstellen können. Frauen sind allein auf die Informationen der Anwerber angewiesen. Entscheiden sie sich für
die Armee, werden sie bereits nach drei Tagen vereidigt
und müssen dann die gesamte Zeit ableisten. Aus diesem
Grunde sollte man Frauen die Möglichkeit eines Praktikums bei den Streitkräften einräumen.
({8})
Dann hätten beide Seiten die Chance, sich zu orientieren
und falsche Vorstellungen im Vorfeld zu beseitigen.
Ich bin der Überzeugung, dass uns auch hier die Praxis
und die entsprechenden Erfahrungen den richtigen Weg
weisen werden, so wie die Integration der Frauen in Polizei und Bundesgrenzschutz nach anfänglichen Schwierigkeiten ja auch gelungen ist.
Lassen Sie mich abschließend betonen: Frauen wollen
gleichberechtigt sein. Natürlich muss ihnen schon aufgrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofes der
freiwillige Zugang zur Bundeswehr ermöglicht werden.
Soldatinnen werden das Gesicht der Truppe verändern.
Veränderung bedeutet Fortschritt und Erneuerung.
Bei allen Bedenken und Problemen: Die Bundeswehr
braucht Soldatinnen, um eine fortschrittliche und moderne Armee zu sein, die auch für die Anforderungen der
Zukunft gerüstet sein wird.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Helmut Rauber.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Abgeordneter Scharping,
Maßstab für die Auseinandersetzungen im Parlament sind
die vom Parlament verabschiedeten Haushaltspläne; denn
sie haben dem Gebot der Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit zu genügen.
({0})
An dem werden wir uns orientieren. Dementsprechend
haben Sie zukünftig nicht mehr, sondern weniger Geld zur
Verfügung. Verwechseln Sie bitte nicht brutto mit netto!
1998 standen auf dem Balkan 2 700 Soldaten. Ein Jahr
später waren es schon über 9 000. Dazwischen lag ein
Krieg, der sehr viel Geld gekostet hat.
Mich wundert schon, wie Sie von der SPD hier auftreten. Sie, Herr Verteidigungsminister Scharping, waren
vier Jahre Fraktionsvorsitzender. Nennen Sie uns ein einziges Großprojekt, das Sie von der SPD beantragt und das
wir von der CDU/CSU abgelehnt hätten! Sie haben nur
Kürzungsanträge gestellt. Wer dies tut, hat heute kein
Recht, sich über Defizite zu beklagen.
({1})
Noch ein Satz zu den personellen Überhängen: Wir haben die Stärke der Bundeswehr in acht Jahren um
200 000 Personen reduziert. Keine Regierung der Welt
würde dies ohne strukturelle Verwerfungen schaffen. Dies
bitte ich anzuerkennen. Sie haben eine Bundeswehr übernommen, die sich sowohl ausrüstungs- als auch ausbildungsmäßig vor keiner Armee dieser Welt zu verstecken
brauchte. Unsere Armee leistete und leistet auf dem Balkan, aber auch zu Hause hervorragende Arbeit. Dafür sagen wir allen Soldatinnen und Soldaten, aber auch deren
Familien ein herzliches Dankeschön.
({2})
Es ist unserer Politik zu verdanken, dass unter dem
Motto „Frieden schaffen mit weniger Waffen“ eine Friedensdividende von jährlich 50 Milliarden DM entstanden ist. Ohne diese enorme Friedensdividende wäre es
nicht möglich gewesen, allein zwischen 1991 und 1998,
also in unserer Regierungszeit, 1 370 Milliarden DM
- das ist das 30fache des Verteidigungshaushalts - in die
neuen Bundesländer fließen zu lassen. 70 Prozent dieser
Lasten hat allein der Bund getragen. Hier liegt der Grund,
warum auch bei der Bundeswehr gespart werden musste.
({3})
Geschätzte Kollegin Wohlleben - ich sage das nicht
ironisch; ich meine es wirklich ehrlich -, die größte und
tiefgreifendste Reform, die es je gab, war die Schaffung
der Armee der deutschen Einheit.
({4})
Wir waren gezwungen, zwei Armeen, die unterschiedlicher nicht sein konnten, zusammenzuführen. Dies ist uns
auch gelungen. Hierbei möchte ich unterstreichen - die
Gründe sind auch schon genannt worden -, dass es nach
wie vor unser gemeinsames Ziel sein muss, aus 86,5 Prozent Ostlohn 100 Prozent Westlohn zu machen.
Herr Minister Scharping, es waren nicht Sie, sondern
es war Ihr Vorgänger, der die Bundeswehr auf neue Aufgaben ausgerichtet hat. Petersberg ist nicht nur ein Hotel
und ein Ort, sondern ist auch das Synonym für eine neue
Außenpolitik. Nur, Petersberg war 1992. Sie von der SPD
haben noch 1994 mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht verhindern wollen, dass deutsche Piloten in
den AWACS-Flugzeugen mitfliegen bzw. dass sich unsere
Marine an der Überwachung des Waffenembargos in der
Adria beteiligt. Das waren klassische Petersberger Aufgaben.
({5})
Es ist nicht zu leugnen, dass die Bundeswehr bis 1990
eine Armee des Kalten Krieges war und dass wir uns erst
nach 1990, also nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes, verstärkt den Frieden schaffenden und
friedenserhaltenden Maßnahmen zuwenden konnten.
Dies erfordert eine neue Bundeswehr. Wir sind bereit, diesen strukturellen Wandel zu begleiten. Dazu gehört auch,
dass die Frauen in der Bundeswehr angemessen beteiligt
werden. Für die CDU/CSU werden die Frauen in der Bundeswehr keine Belastung. Ganz im Gegenteil, sie werden
eine Bereicherung sein.
({6})
Wenn Sie von der SPD heute den Eindruck erwecken,
als sei Sparen Ihre Erfindung, so liegen Sie auch in diesem Punkt falsch. Flexible Budgetierung, Market-Testing
oder auch Kosten-Leistungs-Verantwortung sind von uns
- ich unterstreiche dies - erfolgreich eingeführt worden.
Wir tragen jede Effizienzsteigerung mit, wenn sie sicherheitspolitisch vertretbar ist.
Eines sage ich in aller Deutlichkeit: Die Gesetze des
abnehmenden Grenzertrages werden Sie nicht außer Kraft
setzen können.
Was wir weiter kritisieren, ist, dass bei der ganzen Debatte nicht deutlich genug herausgestellt wird, welchen
Beitrag die Bundeswehr zur Einlösung elementarer deutscher Interessen leistet. Die Bundeswehr war und bleibt
ein Instrument unserer Außen- und Sicherheitspolitik.
Dies heißt, dass sich die Bundeswehrstruktur nicht allein
von der aktuellen oder latent vorhandenen Bedrohungssituation ableiten lässt, sondern auch von der Frage, inwieweit die Bundeswehr unseren Interessen dienen sollte.
Deutsche Interessen sind in der Masse nicht exklusiv, sondern die Schnittmenge der Interessen vieler Staaten.
Die Unversehrtheit des jeweiligen Staatsgebietes, die Bewahrung von Frieden und Freiheit, nicht nur an der Landes- und Bündnisgrenze, sondern weltweit, sind solche
Schnittmengen. Nur wo Frieden herrscht, blüht der Handel, und nur wo Frieden herrscht, bleiben die Zugänge zu
den Rohstoff- und Absatzmärkten offen.
Kein Industriestaat dieser Welt ist so abhängig vom Export und auch vom Import wie die Bundesrepublik
Deutschland. Deshalb trägt eine friedenssichernde und
Frieden schaffende Bundeswehr entscheidend zur materiellen Sicherung unseres Wohlstandes bei.
Diese Art von Diskussion müssen wir führen, denn sie
erhöht das Selbstverständnis unserer Soldatinnen und
Soldaten. Wir bleiben allerdings dabei, dass die Reduzierung von 340 000 im Soll auf 277 000 als Präsenzumfang
zu tief greifend ist. Wir reden hier über eine Streichung
von insgesamt vier Divisionen à 15 000 Mann.
Herr Minister Scharping, ich war über das erstaunt,
was Sie in dieser Woche im „Spiegel“ erklärt haben. Dort
ist nachzulesen: Rein ökonomisch betrachtet müssten eigentlich 350 Standorte dichtgemacht werden. Ich wäre
auf Ihr Theater gespannt gewesen, wenn einer von uns
eine solche Zahl in den Mund genommen hätte. Sie brauchen sich nicht zu wundern, dass die Diskussionen über
die Standortschließungen nicht mehr so schnell vom Tisch
kommen.
({7})
Die entscheidende Schwäche Ihres Konzeptes - Sie
können sich drehen und wenden, wie Sie wollen - ist
schlicht und einfach die Finanzierung. Sie haben noch
nicht einmal das Geld für Instandsetzungsfirmen, die
schon heute Aufträge für die Bundeswehr erledigen. Die
Rechnungen schleppt man bis in das nächste Jahr. Das ist
nicht gerade ein Zeichen einer hohen Liquidität.
Wir kritisieren nicht nur, sondern wir nennen auch einige positive Punkte. Dazu zählt das Bekenntnis der SPD
zur Wehrpflicht, auch wenn wir bei der Umsetzung erhebliche organisatorische Probleme sehen.
Wir begrüßen des Weiteren die versprochenen sozialen
Verbesserungen, die allerdings auch eingehalten werden
müssen. Die Anhebung der Zahl der Wehrübungsplätze,
die in diesem Jahr von 2 500 auf 1 500 gekürzt wurde, sehen wir ebenfalls als einen positiven Ansatz, wobei wir allerdings großen Wert darauf legen, dass das ursprüngliche
Niveau auch erreicht wird.
Als Präsident des Reservistenverbandes bedanke ich
mich ausdrücklich für die bisherige Unterstützung sowohl
durch das Ministerium als auch durch die Bundeswehr
insgesamt.
Die CDU/CSU ist an einer Konsenslösung interessiert,
die aber den zwingenden Erfordernissen einer zukunftsweisenden Außen- und Sicherheitspolitik genügen muss.
Die jetzige Konzeption erfüllt diese Anforderungen noch
nicht.
({8})
Jetzt hat der Abgeordnete Rainer Arnold das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Die heutige Regierungserklärung, aber auch unsere Debatte zur Zukunft der
Bundeswehr zeigen: Anspruchsvoll ist das Anforderungsprofil der Bundeswehr für die Zukunft. Anspruchsvoll
werden deshalb in Zukunft auch die Konzepte sein, die die
Bundeswehr fit für ihr verändertes Aufgabenspektrum
machen.
Es besteht überhaupt kein Zweifel: Bundesminister
Scharping hat uns heute mit der Grobplanung einen weiteren wichtigen Baustein für den Umbau der Bundeswehr
vorgelegt. Wir sind überzeugt, dass die Bundeswehr hiermit die größte Umwälzung in ihrer Geschichte gut bestehen wird. Wir sind weiterhin davon überzeugt, dass von
der Reform nicht nur die Bundeswehr, sondern unsere Gesellschaft insgesamt einen großen Vorteil haben wird.
({0})
Die Debatte zeigt mir allerdings auch: Die Opposition
setzt sich nicht wirklich mit den Inhalten dieser Reform
auseinander. Als ich heute Herrn Polenz zuhörte, ist mir
etwas passiert, das ich mir nie vorstellen konnte: Ich bekam Sehnsucht nach Paul Breuer.
({1})
Wir wünschen ihm von hier aus gute Besserung.
({2})
Sie operieren hier mit halbwahren Zahlen.
({3})
Die letzten Jahre haben doch gezeigt, dass Ihre Finanzplanungen Märchenbücher waren. Das haben wir bei der
Bundeswehr ebenso wie in anderen Bereichen erlebt.
({4})
Im Übrigen, wer glaubt, dass man immer nur mehr Geld
in das System Bundeswehr geben müsse, der irrt. Wir
brauchen Geld, und wir haben da auch einiges getan. Aber
mehr Geld alleine würde nicht zu einer moderneren Bundeswehr führen.
Sie haben den internationalen Vergleich genannt.
Man kann mit dem Bruttoinlandsprodukt vergleichen.
Man sollte dann aber wenigstens die bereinigten NATOZahlen nehmen. Das wäre ein ehrlicher Vergleich. Wir
können allerdings auch die absoluten Zahlen anschauen.
Im letzten Jahr hat Frankreich 40 Milliarden Dollar, Großbritannien 36 Milliarden Dollar und Deutschland knapp
33 Milliarden Dollar ausgegeben. Das ist die Spitze in Europa, und dann kommt lange nichts. Solche Zahlenspielchen muss man schon genauer betrachten. Gerade in einer
Volkswirtschaft, die in den letzten zwei Jahren dank unserer Regierung stark wächst, ist das Bruttoinlandsprodukt nicht die einzige Messgröße, die gilt.
Nachdem ich den Verteidigungsexperten Ihrer Fraktion
heute genau zugehört habe, habe ich den Eindruck, dass
Sie eigentlich merken, dass die Reform richtig und notwendig ist. Ich bitte Sie dringend: Beugen Sie sich dann
um Himmels willen nicht dem Diktat Ihrer FraktionsHelmut Rauber
führung, die Konfrontation in jedem Themenfeld und offensichtlich um jeden Preis will!
({5})
Machen Sie Herrn Merz klar, dass die Arbeit der Menschen in den Streitkräften mit ihrer hohen Motivation zu
wichtig ist, als dass sie auf dem Altar parteitaktischer
Spielchen geopfert werden dürfte!
({6})
Ich bin ziemlich gelassen, weil ich aus meinen Gesprächen an den Standorten weiß: Ihre Strategie verfängt
bei den Soldatinnen und Soldaten nicht. Die Gespräche
zeigen mir: Sie verbinden mit dieser Reform Hoffnung
auf moderne Ausrüstung,
({7})
auf eine effizientere Organisation, auf ausreichend Personal für die Einsätze, damit die Belastungen auf mehr
Schultern verteilt werden können, und auf Chancen zu
besserer Qualifizierung. Auch Sie wissen, dass der Weg
aufgezeichnet ist, den Soldatenberuf sozial attraktiver zu
machen.
Ich will aber nicht verschweigen: Gelegentlich werden
auch kritische Fragen gestellt. Eine ist die Frage nach den
Standorten. Ich finde es aber gut, dass der Minister sehr
zügig und mit einem genauen Zeitplan diesen Punkt
klären wird. Die Soldatinnen und Soldaten werden zu Beginn des nächsten Jahres wissen, woran sie sind.
Das Zweite ist noch viel wichtiger: Er fährt eben nicht,
wie Sie hier kurz angedeutet haben, mit einem Rasenmäher über die Standorte. Nein, in seine Planungsanweisung ist bereits eingebaut, dass nicht nur militärische Notwendigkeiten, sondern auch strukturelle Überlegungen,
die Einbindung in das gesellschaftliche Umfeld und Fragen der Nachwuchsgewinnung zu bewerten sind. Deshalb
können die meisten Standorte auch dieser Diskussion mit
großer Gelassenheit begegnen.
Außerdem wird immer wieder nach dem Geld gefragt.
Ich muss daran erinnern - es wurde heute wiederholt gesagt -: Nicht der Haushaltsplan mit seinen schöngerechneten Zahlen, auf den Sie sich berufen, sondern der Vollzug im Finanzplan ist letztlich entscheidend. Wenn man
das berücksichtigt, dann waren es im Rahmen Ihrer letzten Finanzplanung eben 5,7 Milliarden DM weniger. Das
eigentliche Problem Ihrer Art von Finanzpolitik ist ein anderes; Sie haben nämlich die Einsparpotenziale, die es
natürlich gab und gibt, nicht strukturell klug genutzt, sondern ziemlich kopf- und konzeptionslos unter großem finanziellen Druck immer wieder gestrichen.
Wir alle kennen die Geschichten, die uns die Soldaten
erzählen: Auf der einen Seite gibt es einen Bedarf an
wichtigen Ausrüstungsgütern - sie sind teilweise gar nicht
so teuer -, die nicht beschafft werden konnten, weil das
Geld angeblich fehlt; andererseits stapeln sich bestimmte
Waren in den Depots, die vielleicht nur deshalb beschafft
wurden, weil irgendein Beschaffer zur betreffenden Zeit
schneller als ein anderer war. Das nennen Sie eine sinnvolle Sparpolitik? Das darf ja wohl wirklich nicht wahr
sein.
({8})
Wir haben jetzt eine realistische Finanzplanung. Es besteht die Chance, das Ergebnis noch innerhalb dieses Jahres zu verbessern. Vor allen Dingen haben wir die Chance,
die Erlöse tatsächlich zu behalten. Die Wende ist tatsächlich erreicht - das ist eindeutig; Sie können es nachlesen -: Es ist nicht nur mehr Geld vorhanden, sondern es
wird in diesen Jahren wieder mehr investiert. Das ist der
Schlüssel zur modernen Bundeswehr. Wir wissen, dass
dies alles aber nicht reichen wird. Effizienz und betriebswirtschaftliche Grundsätze werden nicht nur innerhalb
der Bundeswehr, sondern vor allen Dingen durch den
Projektrahmenvertrag mit der Industrie zum Tragen
kommen müssen.
Wir wissen genau: Das derzeitige Haushaltsrecht und
die Haushaltsordnung blockieren gelegentlich innovative
Ideen. Wir sollten miteinander den Mut aufbringen, das
Haushaltsrecht dort zu entrümpeln, wo Chancen dazu bestehen. Die Gründung der Gesellschaft für Beschaffung
und Betrieb hilft bei den damit verbundenen Fragen ein
gutes Stück weiter. Die Pilotprojekte, die dort ausprobiert
werden, sind sehr gut. Es geht nicht darum, plump outzusourcen; es geht vielmehr darum, wie man die Fähigkeiten der Wirtschaft mit den Anforderungen an die Soldaten
und mit ihren Fähigkeiten besser verzahnen kann. Auf
zwei dieser Pilotprojekte möchte ich eingehen.
Erstes - einfaches - Beispiel: Es liegt doch nun wirklich auf der Hand, dass es keinen Sinn macht, zivile Fahrzeuge, vom Golf bis zum Omnibus und zum Lastwagen,
zu kaufen, investive Mittel zu binden und die Fahrzeuge
dann 12 oder 15 Jahre in den Kasernen stehen zu lassen.
An diesem Punkt kann man wirklich von der Industrie lernen. Im Übrigen braucht man das Rad nicht neu zu erfinden. Andere Streitkräfte sind bereits so weit, dass sie das
Flottenmanagement nach außen verlagert haben. Ihre Kritik, Leasing sei auf Dauer nicht billiger, stimmt nur dann,
wenn Sie tatsächlich nur die Investitionszahlen, die Zinsen und die Leasingraten vergleichen. Sie sollten schon
einmal genau überlegen, was es uns an logistischem und
an Sachaufwand kostet, diese alten Fahrzeuge nach 12
oder 15 Jahren überhaupt noch instand zu halten.
({9})
Insofern ist es besser, diese Praxis zu beenden und dafür
zu sorgen, dass jedes oder jedes zweite Jahr ein neues
Auto auf dem Kasernenhof steht.
Zweites Beispiel - es ist viel komplizierter; für mich
stellt es eigentlich die größte Herausforderung dar -: Wir
wissen, dass wir die Kommunikations- und Datennetze
dringend modernisieren und leistungsstärker machen
müssen. Wir brauchen auch eine ausreichende Zahl von
Endgeräten; das ist ebenso wichtig. Wir müssen mit den
bereits angesprochenen Insellösungen Schluss machen.
Es ist doch klar: Dies wird die öffentliche Verwaltung,
auch die der Bundeswehr, allein kaum schultern können.
Dies hat die Vergangenheit gezeigt. Deshalb ist der Weg
richtig, dass sich große deutsche Unternehmen zusammentun, um möglichst gemeinsam mit der öffentlichen
Hand eine neue Gesellschaft zu gründen, und diese Aufgabe angehen.
An diesem Beispiel sieht man: Es geht nicht nur darum
zu sparen. Jedes Jahr werden mehrere Hundert Millionen DM zu ersparen sein. Aber bei dem Projektrahmenvertrag ist natürlich die Steigerung der Qualität der Ausrüstung für die Bundeswehr noch wichtiger. Dies steht im
Mittelpunkt.
Ich will nicht verkennen: Wir Parlamentarier werden
bei diesem Prozess sehr genau darauf achten müssen, dass
der Mittelstand nicht unter die Räder kommt und dass die
Chancen, sozial abgesichert zu bleiben, für die Beschäftigten tatsächlich größer werden, wenn sie von den Firmen übernommen werden. Wir werden auch darauf achten, dass diese Entwicklung nicht der parlamentarischen
Debatte entzogen wird.
Ich komme zum Schluss: Die wenigen Beispiele allein
zeigen schon: Die Reform der Bundeswehr ist auf einem
guten Weg.
({10})
Der Weg wird noch schwierig und steinig sein. Er ist nicht
einfach. Man wird auch Zeit und einen harten und langen
Atem brauchen, um ihn zu bewältigen. Die Soldaten und
Zivilbeschäftigten bei den Streitkräften - das merken wir
jeden Tag - gehen diesen Weg engagiert mit und bringen
dabei kreative Ideen ein. Das ist wichtig. Sie, meine Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, müssen noch
die Entscheidung treffen, ob Sie diesen Weg mitgestalten
oder ob Sie weiterhin schmollend in der Ecke stehen bleiben wollen.
Schönen Dank.
({11})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3775, 14/4062, 14/4174 und
14/4256 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Aufgrund von Sondersitzungen von Fraktionen unterbreche ich jetzt die Sitzung für kurze Zeit. Wir werden um
ungefähr 15.00 Uhr wieder beginnen. Ihnen wird per
Klingelzeichen Bescheid gegeben.
({0})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die unterbrochene Sitzung ist wieder
eröffnet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 g sowie
Zusatzpunkt 8 auf:
21. a) Überweisungen im vereinfachten Verfahren
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung der Grenze des Freihafens Emden
- Drucksache 14/4223 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung der Grenze des Freihafens Bremen
- Drucksache 14/4224 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
die Zusammenlegung des Bundesamtes für
Wirtschaft mit dem Bundesausfuhramt
- Drucksache 14/3951 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({2})
Innenausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
Funkanlagen und Telekommunikationsendeinrichtungen ({3})
- Drucksache 14/4063 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({4})
Ausschuss für Kultur und Medien
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
die Ausprägung einer 1-DM-Goldmünze
und die Errichtung der Stiftung „Geld und
Währung“
- Drucksache 14/4225 ({5}) Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({6})
Sportausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Bundesarchivgesetzes
- Drucksache 14/3830 -
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Helmut Haussmann, Hildebrecht Braun
({7}), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Mutige
EU-Reform als Voraussetzung für eine erfolgreiche Erweiterung
- Drucksache 14/3522 Rainer Arnold
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
ZP 8 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
Erste Beratung des von den Fraktionen SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes
- Drucksache 14/4241 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({9})
Innenausschuss
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Damit kommen wir zu den Tagesordnungspunkten 22 a
bis 22 k, 8 b und 16. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 22 a:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die assoziierte Mitgliedschaft
der Republik Polen, der Tschechischen Republik und der Republik Ungarn in der Westeuropäischen Union
- Drucksache 14/3076 ({10})
Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({11})
- Drucksache 14/3860 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Eberhard Brecht
Christian Schmidt ({12})
Ulrich Irmer
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt auf Drucksache
14/3860, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen
von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P.
gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 b:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom
6. März 1997 zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrages über den Geheimschutz
- Drucksache 14/3457 ({13})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({14})
- Drucksache 14/4228 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Peter Kemper
Hartmut Büttner ({15})
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Ulla Jelpke
Der Innenausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/4228,
den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von SPD,
CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. gegen die
Stimmen der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung verkehrswegerechtlicher Vorschriften ({16})
- Drucksache 14/3646 ({17})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({18})
- Drucksache 14/4221 Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Börnsen ({19})
Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
empfiehlt auf Drucksache 14/4221, den Gesetzentwurf
unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen von SPD,
CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. gegen die
Stimmen der PDS angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor
angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 d:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Begriffs „Erziehungsurlaub“
- Drucksache 14/4133 ({20})
Präsident Wolfgang Thierse
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({21})
- Drucksache 14/4266 Berichterstattung:
Abgeordnete Hildegard Wester
Maria Eichhorn
Irmingard Schewe-Gerigk
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 e:
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD, CDU/
CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, F.D.P. und
PDS
Einsetzung eines Sonderausschusses „Maßstäbegesetz/ Finanzausgleichsgesetz“
- Drucksache 14/4251 Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen. Der Sonderausschuss
ist damit eingesetzt.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 22 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des
Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 195 zu Petitionen
- Drucksache 14/4155 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Die Sammelübersicht 195 ist bei Enthaltung der PDS mit den Stimmen des sonstigen ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des
Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 196 zu Petitionen
- Drucksache 14/4156 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 196 ist mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des
Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 197 zu Petitionen
- Drucksache 14/4157 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 197 ist mit den Stimmen
des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des
Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 198 zu Petitionen
- Drucksache 14/4158 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 198 ist mit den Stimmen
der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des
Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 199 zu Petitionen
- Drucksache 14/4159 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von
CDU/CSU, F.D.P. und PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 22 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des
Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 200 zu Petitionen
- Drucksache 14/4160 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 200 ist mit den Stimmen
des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 8 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umrechnung und Glättung steuerlicher
Euro-Beträge ({28})
- Drucksache 14/3554 ({29})
aa) Beschlussempfehlung und Bericht des
Finanzausschusses ({30})
- Drucksache 14/4277 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Lydia Westrich
Carl-Ludwig Thiele
Präsident Wolfgang Thierse
bb) Bericht des Haushaltsausschusses
({31}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 14/4288 Berichterstattung:
Abgeordnete Hans Jochen Henke
Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Dr. Günter Rexrodt
Heidemarie Ehlert.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen.
Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen aller
Fraktionen angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen aller Fraktionen angenommen.
Tagesordnungspunkt 16:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 14/4054 ({32})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({33})
- Drucksache 14/4275 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Wolfgang Meckelburg
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({34})gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 14/4292 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner
Dietrich Austermann
Antje Hermenau
Jürgen Koppelin
Dr. Christa Luft
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen aller
Fraktionen angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 5 sowie den Zusatzpunkten 9 und 10:
5. Vereinbarte Debatte zur EU-GrundrechteCharta
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Bosbach, Peter Hintze, Norbert Geis, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Entwurf der Charta der Grundrechte der
Europäischen Union
- Drucksache 14/4246 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union ({35})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Ina Albowitz,
Hildebrecht Braun ({36}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Europäische Grundrechte-Charta als Eckstein
einer europäischen Verfassung
- Drucksache 14/4253 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der
Europäischen Union ({37})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der
SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Jürgen Meyer, SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Dienstag der vergangenen Woche hat der Konvent zur Erarbeitung einer EU-Grundrechte-Charta seine Arbeit abgeschlossen. Das geschah fristgerecht nach etwas mehr als neun
Monaten und mehr als 30 Sitzungstagen in Brüssel. Ich
Präsident Wolfgang Thierse
glaube, das ist ein gutes Beispiel für effektives Arbeiten
mit dem Ziel, Europa nach vorne zu bringen.
Ich freue mich, dass ich heute als Delegierter des Deutschen Bundestages, der von allen Fraktionen gewählt
worden ist, einen abschließenden Arbeitsbericht vortragen kann. Der vorliegende Entwurf der GrundrechteCharta hat in den vergangenen Tagen einiges an Anerkennung erfahren. Das war auch wichtig. Denn der Konvent
war ein Wagnis, das auf Vorschlag der deutschen Bundesregierung im Juni 1999, unter der deutschen Präsidentschaft, begonnen wurde. Das Wagnis lässt sich charakterisieren mit dem Satz: Mehr Demokratie wagen.
Wie Sie wissen, bestand der Konvent zu drei Vierteln
aus Abgeordneten. Er hat öffentlich getagt und während
der gesamten Beratungen ständig den Kontakt zur Öffentlichkeit, zu interessierten Verbänden, zu Nichtregierungsorganisationen, zu den Bürgerinnen und Bürgern gesucht. Es ist wichtig, dass dieses Wagnis gelungen ist.
Denn ich hoffe, dass künftige europapolitische Weichenstellungen nicht mehr von Regierungsbeauftragten hinter
verschlossenen Türen vorbereitet werden. Nichts gegen
hohe Beamte, aber die Schicksalsfragen der Europäischen
Union sollten künftig in offenem Diskurs von demokratisch verantwortlichen Menschen vorbereitet werden, die
auch politisch legitimiert sind.
({0})
Vielleicht hat sich das Wagnis auch insoweit ausgezahlt, als die Charta in einer Sprache verfasst ist, die nicht,
wie es in vielen europäischen Dokumenten der Fall ist,
verschachtelt und schwer verständlich ist, sondern auch
von Normalbürgern, die nicht juristisch vorgebildet oder
verbildet sind, verstanden wird. Was die Sprache angeht,
haben wir uns im Konvent nach der von Roman Herzog
so genannten „Als-ob-Theorie“ gerichtet, das heißt, wir
haben jeden einzelnen Artikel so formuliert, dass er ohne
Veränderung rechtskräftig werden kann. Das hat unsere
Arbeit ganz wesentlich bestimmt.
Im Rahmen des Auftrags, der uns vom Europäischen
Rat in Köln erteilt worden war, sollten wir versuchen, ein
Dokument aus der gemeinsamen Verfassungstradition
der Mitgliedstaaten zu entwickeln. Das war eine spannende Aufgabe, die alle Delegierten dazu veranlasst hat,
nicht nur aus der Sicht der eigenen Verfassung zu argumentieren, sondern sich auch in die Rechtskultur und die
Wertvorstellungen unserer Nachbarn hineinzudenken und
hineinzufühlen. Ich hoffe, dass diese Arbeit nicht nur die
Delegierten, sondern auch unsere Völker ein bisschen
näher gebracht hat.
Bevor ich auf den Inhalt der Charta eingehe, will ich,
weil ich das für sehr wichtig halte, Dank sagen. Ich
möchte zunächst einmal der Bundesregierung danken, die
diese Arbeit im vergangenen Juni überhaupt erst ermöglicht und den Durchbruch auf dem Weg zur GrundrechteCharta erzielt hat.
Ich danke stellvertretend dem Herrn Außenminister
Fischer, der nachher noch seine Sicht der Dinge darlegen
und uns sagen wird, wie es nach Nizza weitergehen soll.
Darauf bin ich gespannt. Ich danke der Justizministerin,
Frau Dr. Däubler-Gmelin,
({1})
die mit großem Engagement in der Zeit vor dem Europäischen Rat in Köln mit Erfolg für die Grundrechte-Charta
geworben hat, sodass in Köln der Durchbruch erzielt werden konnte. Dieser war in erster Linie das Werk von Bundeskanzler Gerhard Schröder. Ich denke, ihm können wir
und auch Sie, die Sie in der Rolle der Opposition sind,
heute fairerweise danken.
Die Präambel des Chartaentwurfs beginnt mit den folgenden Sätzen:
Die Völker Europas sind entschlossen, auf der
Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden.
In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen,
der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.
Diese Sätze machen deutlich, dass Aufgabe des Konvents die Formulierung einer Wertegemeinschaft in Europa war, die aus meiner Sicht nicht nur genauso wichtig,
sondern eigentlich bedeutender ist als die Wirtschaftsund Währungsgemeinschaft, über die bisher vor allem
diskutiert worden ist.
({2})
Wir haben dann mit den folgenden Artikeln - an dieser
Stelle möchte ich meinem Stellvertreter Peter Altmaier
und Herrn Jürgen Gnauck, dem Delegierten des Bundesrates, für die faire Zusammenarbeit danken ({3})
den Versuch unternommen, so etwas wie eine europäische
Identität zu beschreiben. Dabei sind wir von der Frage
ausgegangen, die auch Helmut Schmidt in seinem neuesten Buch über die „Die Selbstbehauptung Europas - Perspektiven für das 21. Jahrhundert“ formuliert, nämlich, ob
es nicht an der Zeit ist, neben unserer jeweiligen nationalen Identität auch eine gemeinsame europäische Identität zu definieren und sie in unser Bewusstsein aufzunehmen.
Helmut Schmidt schreibt dazu - ich zitiere -:
Tatsächlich gibt es seit langem eine sehr weit reichende gemeinsame Identität. Sie ist für Menschen
aus anderen Erdteilen oftmals allerdings leichter zu
erkennen als für uns Europäer selbst. Sie bezieht sich
zunächst auf die Kultur im engeren Sinne: Religion,
Philosophie, Wissenschaften, Literatur, Musik, Architektur, Malerei. Sodann umfasst sie die politische
Kultur, basierend auf den Idealen der Würde und der
Freiheit der Person sowie gleicher Grundrechte. Es
ist die Kultur der demokratischen Verfassungen, des
Rechtsstaates mit geordnetem privaten und öffentlichen Recht bei strikter Trennung zwischen weltlicher
Macht und Kirche. Es ist die Kultur des WohlfahrtsDr. Jürgen Meyer ({4})
staates und des Willens zu sozialer Gerechtigkeit.
Die gemeinsame Identität umschließt die wirtschaftliche Kultur des privaten Landwirts, Unternehmers
oder Kaufmanns, des freien Marktes, der freien
Gewerkschaften, des zuverlässigen Geldwertes und
des gesetzlichen Schutzes vor Ausbeutung der Arbeitnehmer durch Arbeitgeber und der Verbraucher
durch Kartelle oder Monopole.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie die Charta
lesen, werden Sie feststellen, dass in den 54 Artikeln der
Charta versucht wird, genau dieses, nämlich eine europäische Identität, erstmals in einem umfassenden Dokument
zu beschreiben. Dabei können Sie auch entdecken, dass
die Entschließung des Deutschen Bundestages vom Mai
dieses Jahres, in der wir viele Wünsche in Bezug auf die
Charta geäußert haben, zu mehr als 90 Prozent in die
Charta Eingang gefunden hat.
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zur Präambel
machen. Erstmals in einem europäischen Grundrechtstext
hat die Solidarität als unteilbarer und universeller Wert
einen gleichen Rang wie die Würde des Menschen, Freiheit und Gleichheit und einen gleichen Rang wie Demokratie und Rechtsstaat. Ich finde, dies ist ein Mehrwert
dieser Charta, den man hervorheben sollte. Soziale Gerechtigkeit, abgeleitet aus dem Grundsatz der Solidarität,
ist das Charakteristische des europäischen Modells, das
wir in der Charta beschrieben haben.
({5})
Nun erlaubt es die Redezeit nicht, in meinem Arbeitsbericht über alle spannenden Fragen der vorgelegten 54
Artikel zu sprechen. Ich kann nur Schlaglichter werfen,
eine Auswahl treffen, die vielleicht Neugier und Interesse
weckt, den einen oder anderen Artikel zu lesen oder noch
einmal zu lesen. Ich hoffe, dass mir dies mit den wenigen
Hinweisen, die ich zu den einzelnen Kapiteln der Charta
geben werde, gelingt.
Kap. I trägt die Überschrift „Würde des Menschen“.
Grundlage nicht nur dieses Kapitels, sondern der gesamten Charta, ist also die Unverletzlichkeit der Menschenwürde. Sie ist ebenso - wie Sie alle wissen - in unserem
Grundgesetz Ausgangspunkt und Grundlage aller Menschenrechte. Dies wird für die Charta nicht nur durch die
Präambel, sondern auch durch den ersten Artikel der
Grundrechte-Charta deutlich gemacht. Das ist nicht zuletzt eine Absage an ein Übel, über das wir in diesen Tagen zu diskutieren haben, nämlich den Rechtsextremismus, der dadurch charakterisiert ist, dass er nicht die
gleiche Würde und den gleichen Wert aller Menschen bejaht, sondern von ihrer Ungleichwertigkeit ausgeht und
im Übrigen für vertretbar hält, dass man zur Durchsetzung
eigener Überzeugungen Gewalt anwendet. Der Grundsatz
von der Unverletzlichkeit der Menschenwürde ist eine
Absage an den Rechtsextremismus. Das sollte man an dieser Stelle sehr deutlich sagen.
({6})
Aus Kap. I will ich noch auf Art. 3 hinweisen, in dem
wir den Versuch gemacht haben, erste Grundsätze der
Bioethik zu formulieren, zum Beispiel das Verbot des reproduktiven Klonens von Menschen und das Verbot, den
menschlichen Körper oder Teile davon, etwa genetisches
Material, zur Geschäftemacherei zu nutzen. Hier kann
man einwenden, dass dies nur ein ganz vorsichtiger, erster Ansatz ist, bioethische Grundsätze zu formulieren. Ich
vertraue darauf, dass der Europäische Gerichtshof, dem
die Aufgabe der Konkretisierung zukommt - ähnlich wie
das Bundesverfassungsgericht es bei uns seit 1949 getan
hat -, aus dem Muttergrundrecht der Unverletzlichkeit der
Würde des Menschen auch weitere Konkretisierungen im
Bereich der Bioethik entwickeln wird. Wir sollten also mit
dem, was wir formuliert haben, nicht unzufrieden sein.
Kap. II trägt die Überschrift „Freiheiten“. Ich freue
mich sehr, dass auch dem Wunsch des Deutschen Bundestages entsprochen wurde und es gewissermaßen in
letzter Minute gelungen ist, in den Artikel über Gewissensfreiheit das Grundrecht auf eine Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen aufzunehmen. Das ist eine
aktueller werdende Forderung, weil es in naher Zukunft
eventuell Eingriffstruppen der Europäischen Union in
Krisengebieten geben könnte.
Nach längerer Debatte haben wir uns geeinigt, in einem weiteren Artikel auch die Freiheit von Forschung
und Kunst und die Achtung der akademischen Freiheit,
wozu selbstverständlich die Freiheit der Lehre gehört, zu
garantieren. An dieser Stelle möchte ich meinen Dank an
diejenigen Delegierten aussprechen, die zunächst gezögert haben, weil in den Verfassungen ihrer Länder ein solches Grundrecht nicht enthalten ist. Ich will aber ganz besonders den britischen Delegierten danken, die den
größten Sprung machen mussten, weil sie keine geschriebene Verfassung mit ausformulierten Grundrechten haben. Dass sich alle Delegierten auf diesen gemeinsamen
und keineswegs kleinsten Nenner geeinigt haben, das
sollten wir auch von unserer Seite gegenüber den Delegierten der anderen Länder ausdrücklich anerkennen.
({7})
Was das Recht auf Bildung angeht, so gehört es aus
meiner Sicht eher zu den sozialen Grundrechten, nach der
Maxime, dass die Bildungschancen eines Menschen nicht
vom Geldbeutel der Eltern abhängen dürfen. Aber wichtiger finde ich, dass dieses Grundrecht auf Bildung in die
Charta aufgenommen worden ist, und zwar in das Kapitel
über Freiheiten.
Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung zum Grundrecht auf Eigentum. Hier wage ich die Behauptung, dass
es in der Charta teilweise fortschrittlicher als in Art. 14
unseres Grundgesetzes formuliert ist. Manche von Ihnen
erinnern sich vielleicht, dass wir vor etwa drei Jahren in
der Debatte über die Abschöpfung von Gewinnen aus
organisierter Kriminalität die Forderung der Sozialdemokraten diskutiert haben, einen Satz einzufügen, der klarstellt: Kriminell erzielte Gewinne und kriminell erworbenes Eigentum sind nicht geschützt.
Dr. Jürgen Meyer ({8})
Das ist damals vor allem von dem amtierenden
Innenminister, Herrn Kanther, mit der Begründung abgelehnt worden,
({9})
er könne nicht einsehen, dass womöglich demnächst Geldwäscheverfahren wegen, wie er es genannt hat, „hundsgemeiner Steuerhinterziehung“ durchgeführt würden.
({10})
Ich habe das damals überhaupt nicht verstanden, während
es heute leicht verständlich ist. Aber ich stelle gerne fest,
dass der Art. 17 der EU-Grundrechte-Charta nun den weitgehenden Satz enthält, dass sich der Schutz der Charta nur
auf rechtmäßig erworbenes Eigentum bezieht.
Aus Kap. III über die Gleichheit will ich nur, und zwar
mit Freude, auf den Art. 23 hinweisen, der unter den bisherigen europäischen Grundrechtstexten die modernste
Formulierung des Gebots der Gleichstellung von Männern und Frauen enthält. Das entspricht einem Antrag der
weiblichen Delegierten im Konvent. Aber ich kann berichten, dass fast alle männlichen Delegierten dem gerne
zugestimmt haben.
({11})
Kap. IV ist das Kapitel, zu dem ich die meisten Anträge
eingebracht habe und das nunmehr Formulierungen enthält, die ich Ihnen in einer früheren Debatte vorgetragen
habe. Es trägt die Überschrift „Solidarität“. Es geht also
um soziale Grundrechte. Sie erinnern sich vielleicht - um
ein Beispiel zu nennen -, dass ich zum Recht der Arbeit
vorgetragen hatte, dass man richtigerweise nicht „Recht
auf Arbeit“ formuliert, weil dies das Missverständnis hervorruft, es gebe den Anspruch auf einen individuell einklagbaren Arbeitsplatz. Das gibt es in keinem Land der
Welt, in dessen Verfassung das Recht auf Arbeit steht.
Aber die Charta enthält das Recht zu arbeiten. Das steht
in Art. 15, der die Berufsfreiheit garantiert. Im Kapitel
„Solidarität“ sind der Schutz des Arbeitenden vor willkürlicher Kündigung und auch die Förderung von Arbeit
durch kostenlose Arbeitsvermittlung geregelt. Das sind
alles Forderungen, denen Sie in einer früheren Debatte zugestimmt haben und die nun in der Charta stehen.
({12})
Man könnte in diesem Zusammenhang kritisch anmerken, dass manche sozialen Grundrechte - zum Beispiel
das Recht auf Gesundheit, Umwelt- und Verbraucherschutz - sehr allgemein formuliert sind. Ich hoffe und vertraue darauf, dass die konkretisierende Rechtsprechung,
aber auch die wissenschaftliche und die politische Diskussion aus diesen sehr allgemein gehaltenen Artikeln
konkrete Folgerungen ableiten.
({13})
Das gilt auch für einen Artikel, den ich hier noch erwähnen will. Art. 36 nennt das Recht auf Dienstleistungen
von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse; dazu gehört
bekanntlich auch die Daseinsvorsorge. Meine Überzeugung ist, dass in der aktuellen Debatte über Daseinsvorsorge die Kommission, deren Kompetenzen wir mit der
Charta bekanntlich zu begrenzen versuchen, nicht mehr
allein die Aspekte „freie Marktwirtschaft“ und „fairer
Wettbewerb“ berücksichtigen darf. Vielmehr muss sie
auch das Recht auf Dienstleistungen von allgemeinem
wirtschaftlichen Interesse berücksichtigen. In der Verfassungsrechtsprechung des Karlsruher Gerichtshofes nennt
man diese Aufgabe: Herstellung praktischer Konkordanz
zwischen Grundsätzen, die in einem Spannungsverhältnis
stehen. Ich bin gespannt, wie diese Aufgabe in der politischen Diskussion und gegebenenfalls in der Rechtsprechung des EuGH zur Daseinsvorsorge gelöst werden
wird.
Kap. V regelt die Bürgerrechte, neben dem Wahlrecht
und der Freizügigkeit auch das interessante Recht auf gute
Verwaltung. Mit diesem Recht möchte der Konvent der
Kommission und den Behörden der Europäischen Union
gerne ein bisschen Feuer unter dem Stuhl machen; ich
finde das eigentlich ganz zweckmäßig.
({14})
Kap. VI enthält die justiziellen Grundrechte: längst
Vertrautes wie die Unschuldsvermutung und den Grundsatz des Rechtes auf anwaltlichen Beistand. Hier will
ich beispielhaft betonen, dass wir uns weitgehend um
eine Übernahme der wichtigen und durch Rechtsprechung weiterentwickelten Grundsätze der Europäischen Menschenrechtskonvention als einer der großen
Säulen dieser Charta bemüht haben.
Von zentraler Bedeutung ist das siebte und letzte Kapitel. Dazu möchte ich auf drei Punkte hinweisen, die in der
Diskussion bisher nicht ausreichend berücksichtigt werden. Art. 51 regelt zunächst einmal, dass sich die Charta
gegen die EU-Organe richtet; sie sind der Adressat.
In diesem Zusammenhang kann ich eine Episode erzählen. Romano Prodi hat die Charta bei einem Empfang
für den Konvent Ende Juni sehr gelobt und gesagt, sie sei
die künftige Seele der Europäischen Union. Roman
Herzog hat in der ihm eigenen souveränen Art Romano
Prodi gedankt und gesagt, es sei sehr anzuerkennen, dass
er die Charta so lobe, denn er wisse doch, dass sich die
Charta gegen ihn richte.
Das ist eine wichtige Aussage des Art. 51, der im Übrigen besagt, dass die Charta auch bei der Anwendung europäischen Rechts in den Mitgliedstaaten zu beachten ist.
In Abs. 2 wird außerdem klar gesagt: Die Charta begründet keine neuen Kompetenzen der Europäischen Union.
- Herr Kollege Gnauck, Sie nicken. - Ohne diesen zweiten Absatz wäre die Charta überhaupt nicht zustande gekommen.
Weil es gelegentlich Befürchtungen gibt, der nationale
Grundrechtsschutz könnte durch die Charta abgesenkt
werden, zum Beispiel das in Art. 16 verankerte Asylrecht,
weise ich auf die klare Regelung in Art. 53 hin, wonach es
durch die Charta keine Absenkung des Schutzniveaus der
nationalen Verfassungen gibt; deren Adressat sind die nationalen Behörden, in unserem Fall bis hin zur Bundesregierung. Adressat der Charta sind jedoch die EU-Organe.
Dr. Jürgen Meyer ({15})
Also: Nationale Verfassungen werden in ihrem Schutzniveau durch die Charta keineswegs abgesenkt.
Lassen Sie mich abschließend noch eine kurze Bemerkung zum weiteren Verfahren machen. Dazu liegen ja
auch Erschließungsanträge vor, neben denen der Koalition und der F.D.P. auch ein Entschließungsantrag der
CDU/CSU-Fraktion. Ich stelle eine große Übereinstimmung in diesem Hause hinsichtlich des Wunsches fest,
dass wir die frühestmögliche Aufnahme der Charta in
die europäischen Verträge im Anschluss an die bevorstehende feierliche Proklamation in Nizza wollen.
Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dass das
einfach sein wird. Es wird Mitgliedstaaten geben, die
zwar die Proklamation wollen, aber nicht mehr. Ich denke
aber, auch in diesem Punkt hat Roman Herzog Recht:
Wenn es richtig ist, dass die Charta inhaltlich überzeugt,
wird sie ihren Weg machen und auch den Weg in die Verträge finden.
Es gab in den letzten Tagen eine teilweise kontroverse
Diskussion über das Inkraftsetzen der Charta durch ein
unionsweites Referendum. Ich will hier ohne jede Einschränkung sagen, dass ich dies für den besten und überzeugendsten Weg halte, um die Charta in Kraft zu setzen.
({16})
Wenn man überhaupt einen Volksentscheid will, wäre die
Charta das Herzstück einer späteren Verfassung der mit
Abstand geeignetste Gegenstand. Durch ein solches Referendum würden die Legitimität der Europäischen Union
und das Gewicht der Charta gewinnen.
Außerdem gibt es noch eine ganz praktische Erwägung: Wer hier im Plenarsaal und wer von den Menschen,
die uns zuhören, kennt eigentlich schon den Inhalt der
Charta? Wir müssen diese Charta bekannt machen und
dazu wären die politischen Parteien in der Kampagne, die
dem Referendum vorausgeht, verpflichtet. So könnten
wir es schaffen, dass die Charta die Köpfe und die Herzen
der Menschen erreicht.
Ich will gleich hinzufügen: Die Alternative ist selbstverständlich das herkömmliche Verfahren der Ratifikation und wir haben es nicht allein in der Hand, ein Referendum herbeizuführen. In diesem Zusammenhang wiederhole ich den Satz, den Gerhard Schröder gestern im
Europaausschuss formuliert hat. Er hat gesagt, das Ziel,
nämlich die Verbindlichkeit der Charta, sei noch wichtiger als der Weg. Also: Wenn die Verbindlichkeit - ich
sage: leider - nur über das übliche Verfahren der Ratifikation erreichbar wäre, müsste man diese Chance nutzen.
Aber ich wiederhole: Der überzeugendste und beste Weg,
die Charta in Kraft zu setzen, ist ein unionsweites Referendum.
Nun habe ich noch eine kleine Bitte an die Bundesregierung, die nachher durch zwei Minister zu Wort kommen wird: Ich vertraue darauf, dass die Bundesregierung
die Klugheit besitzt, die Erfahrungen mit dem Konvent,
der ja auch von der Bundesregierung schon gelobt worden
ist, zu nutzen und mit positiver Einstellung zu prüfen, ob
nicht die weiteren Teile einer europäischen Verfassung,
also der Kompetenzkatalog und auch die klare Regelung
der Entscheidungsverfahren in der Europäischen Union,
von einem Gremium ähnlich dem Konvent vorbereitet
werden sollten. Die Einbeziehung der nationalen Parlamente sowie des Europäischen Parlaments und der Öffentlichkeit bedeutet nämlich, dass die Demokratie in Europa gestärkt wird, und das wollen wir doch alle.
({17})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Peter Altmaier.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
begrüßt den vorliegenden Entwurf der GrundrechteCharta und stimmt ihr ausdrücklich zu.
({0})
Wir glauben und sind davon überzeugt, dass es sich um
ein großes, ein historisches Projekt der europäischen
Integration handelt, das sich in Projekte wie den europäischen Binnenmarkt, die Abschaffung der Grenzkontrollen, die Schaffung der Währungsunion und die Osterweiterung einfügt. Es ist ein Projekt, das sich auch in die
große Tradition der deutschen Europapolitik aller bisherigen Bundeskanzler, von Konrad Adenauer bis Helmut
Kohl, einfügt.
Es ist auch ein gemeinsames Projekt, das alle Parteien
bzw. alle Fraktionen in diesem Haus gemeinsam vorangetrieben haben. Ich möchte ausdrücklich der Bundesregierung für die wirklich weise und vernünftige Entscheidung
danken, Roman Herzog als Präsident dieses Konventes
vorzuschlagen, weil ich glaube - es ist bisher nicht gesagt
worden -, dass es durch die Persönlichkeit von Roman
Herzog, durch seine Kompetenz und durch seine unbestrittene Autorität möglich gewesen ist, das Zustandekommen dieser Charta in einer sehr kurzen Zeitspanne zu
ermöglichen. Deshalb möchten wir Roman Herzog für
dieses Engagement und diesen Einsatz nachdrücklich
Dankeschön sagen.
({1})
Diese Charta - Kommissionspräsident Prodi hat es gesagt - bildet nicht mehr und nicht weniger als die künftige
Seele der Europäischen Union. Gerade am Vorabend
wichtiger Entscheidungen - Regierungskonferenz in Nizza mit wichtigen Vertragsänderungen, die Aufnahme von
bis zu 20 neuen Mitgliedstaaten in die Europäische
Union - ist es wichtig, dass wir uns über das Wertefundament, auf dem wir stehen, Klarheit verschaffen. Deshalb ist es entscheidend und keine Nebensächlichkeit,
dass wir uns in der Präambel zu dieser Charta eindeutig
zur zentralen Rolle der Menschenwürde, zur zentralen
Rolle der Person und zum Prinzip der Subsidiarität
bekennen. Das ist ein Bekenntnis zum europäischen Menschenbild, das auf der christlichen Tradition, auf der
Tradition der Aufklärung fußt. Es ist vor allem eine
Dr. Jürgen Meyer ({2})
eindeutige Absage an jede Form von Intoleranz, Totalitarismus oder spätsozialistischer Heilslehre.
({3})
Es war auch richtig - darin stimme ich dem Kollegen
Meyer ausdrücklich zu -, dass wir diese Charta durch einen Konvent ausgearbeitet haben, der zu zwei Dritteln
aus Parlamentariern der nationalen Parlamente und des
Europäischen Parlaments bestand. Es war auch für mich
persönlich eine faszinierende Erfahrung, mitzuerleben,
wie sich in diesem Gremium, das aus 60 völlig verschiedenen Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Ländern
- von Skandinavien bis nach Portugal und Griechenland mit unterschiedlichen Rechtstraditionen, unterschiedlichem Grundrechteverständnis, unterschiedlichen Verfassungstraditionen und den unterschiedlichsten politischen
Auffassungen bestand, die Mitglieder Schritt für Schritt
zusammengerauft haben, wie sich eine gemeinsame Arbeitskultur herausgebildet hat und wie man sich schließlich auf gemeinsame Positionen verständigt hat.
Genauso faszinierend war es, mit anzusehen, wie in
diesem Grundrechtekonvent aus anfänglichen Skeptikern
und Gegnern der Grundrechte-Charta nach und nach überzeugte Anhänger und Befürworter wurden, wie sich überhaupt einmal mehr die Erfahrung bestätigt hat, dass immer dann, wenn man sich intensiv und ernsthaft mit der
Materie beschäftigt, kein Raum mehr für dumpfen Skeptizismus und Europafeindlichkeit bleibt.
({4})
Die Erfahrung des Konvents zeigt auch, dass es in der
Europäischen Union bei aller notwendigen Unterschiedlichkeit, bei allen gegensätzlichen Auffassungen zu Einzelfragen eben doch mehr Gemeinsames als Trennendes
gibt. Diese Erfahrung sollten wir bei den Debatten in den
nächsten Jahren nicht vergessen.
({5})
Auch wenn die Ausarbeitung der Charta - zum Bedauern des Kollegen Meyer und vielleicht mancher anderen nicht jeden Tag auf den Titelseiten der Zeitungen stand
und die Abendnachrichten im Fernsehen beherrscht hat,
glaube ich, dass das Verfahren, das wir gewählt haben,
mehr Transparenz und Beteiligung der Öffentlichkeit ermöglicht hat, als es jedes andere Projekt der europäischen
Integration in der Vergangenheit getan hat.
({6})
Meine Damen und Herren, das Ergebnis des Konvents,
die Charta, kann sich sehen lassen. Wir haben - das wird
von so unabhängigen und renommierten Persönlichkeiten
wie dem ehemaligen Richter am Europäischen Gerichtshof in Luxemburg und jetzigen Präsidenten des Bundesgerichtshofs, Herrn Hirsch, und vielen anderen bestätigt einen Chartaentwurf vorgelegt, der in einer positiven Art
und Weise das zusammenfasst, was Grund- und Menschenrechtsschutz in Europa seit vielen Jahrzehnten bedeutet. Diese Charta ist wahrscheinlich das beste Instrument modernen Grund- und Menschenrechtsschutzes, das
wir in Europa und in der Welt haben. Ich bin davon überzeugt, dass diese Charta für viele Verfassungen, für viele
Grundrechtskapitel in Verfassungen osteuropäischer Länder, in Ländern auf dem Balkan, in jungen Demokratien
in der Dritten Welt Pate stehen wird.
Von dieser Charta wird auch die Signalwirkung ausgehen, dass die Europäische Union mehr ist als eine Freihandelszone und ein Binnenmarkt, nämlich vor allem eine
Wertegemeinschaft, die auf dem Prinzip der Demokratie
gegründet ist.
({7})
Diese Charta ist auch deshalb ein Erfolg geworden,
weil sich die Mitglieder im Konvent in weiser Selbstbescheidung dazu verstanden haben, die Charta nicht mit allen möglichen Wunschvorstellungen zu überfrachten, die
man aus der nationalen politischen Debatte selbstverständlich in diese Charta hineintragen kann. Es gibt eben
kein Recht auf Arbeit; es gibt kein Recht auf Wohnung. Es
sind auch manch andere Blütenträume zerstoben, und
zwar auf beiden Seiten des Hauses. Aber gerade weil es so
ist, ist es eine Grundrechte-Charta geworden, mit der alle
leben können und die alle akzeptieren können. Das ist
auch ein Beweis dafür - wenn ich das so sagen darf -, dass
auch in Gremien etwas Gutes entstehen kann, was nicht
nur von sozialdemokratischen Regierungen in den Hinterzimmern von Regierungskonferenzen verhandelt worden ist.
({8})
Die Grundrechte-Charta hat selbstverständlich auch
Defizite. Ich persönlich hätte mir, lieber Kollege Michael
Roth, gewünscht, dass wir beispielsweise vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem Balkan, mit dem Kosovo und mit Bosnien und der ungeklärten Lage von
Minderheiten in vielen Staaten Osteuropas und der ehemaligen Sowjetunion auch den Mut gehabt hätten, Gruppen- und Minderheitenrechte in diese Charta hineinzuschreiben,
({9})
wie zum Beispiel ein Verbot der Vertreibung und ein
Recht auf Heimat.
({10})
- Ja, aber nicht nur die Franzosen. Ich hätte mir auch gewünscht - ich habe zusammen mit anderen entsprechende
Anträge im Konvent eingebracht -, dass die deutsche
Bundesregierung dies vielleicht ein bisschen engagierter
unterstützt hätte, und zwar so, wie sie es bei anderen Fragen ja auch getan hat.
Trotz dieses Defizits und manch anderer Defizite, die
sich in dieser Charta identifizieren lassen - wir werden
zum Beispiel über die Fragen der Biomedizin in Europa
noch lange diskutieren müssen, bevor wir zufrieden stelPeter Altmaier
lende und endgültige Regelungen erreicht haben -, lässt
sich am Erfolg dieser Charta nicht deuteln. Sie wird vor
allen Dingen ein Katalysator für den weiteren Prozess der
europäischen Integration sein. Diese Charta hat Wirkungen, die weit über das Anliegen des Grund- und Menschenrechtsschutzes hinausgehen. Sie wird uns auf dem
Weg zu einer europäischen Verfassungsgebung weiter
voranbringen. Das folgt schon daraus, dass diese Grundrechte-Charta festschreibt, dass die bisherigen Zuständigkeiten der Europäischen Union nicht ausgeweitet werden
dürfen, dass vielmehr ihre Anwendung und Ausübung
besser kontrolliert und überwacht werden.
Nur, wir haben ein Problem: Die Zuständigkeitsverteilung ist an vielen Stellen des EU-Vertrags bisher nicht
eindeutig und klar geregelt. Deshalb ist es notwendig,
dass wir, von dieser Charta ausgehend, eine Diskussion
über die Fragen in Gang setzen: Wer macht was in Europa? Was macht die Europäische Union, was machen
die Mitgliedstaaten? Es ist ja erfreulich, dass die Forderung nach Kompetenzabgrenzung, die ursprünglich von
Schäuble und Lamers in der Debatte erhoben worden ist,
inzwischen parteiübergreifend Anhänger und Unterstützer findet, und zwar bis hin zum französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac, der das vor wenigen Wochen
von gleicher Stelle aus im Deutschen Bundestag gesagt
hat.
Heute habe ich vernommen, dass sich sogar der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt für eine Kompetenzabgrenzung innerhalb der Europäischen Union stark
macht. Wenn er davor warnt, dass die Staats- und Regierungschefs andernfalls das Projekt Europa möglicherweise verpfuschen könnten, dann ist das allerdings eine
Wortwahl, die ich mir nicht unbedingt zu Eigen machen
möchte, weil wir bei allem, was wir sagen, aufpassen
müssen, ob wir nicht das Gespenst der Europafeindlichkeit, das wir eigentlich bannen möchten, heraufbeschwören und erst richtig zum Leben erwecken.
Weil die Grundrechte-Charta den europäischen Bürgern konkrete Rechte gibt, die eines Tages einklagbar sein
können, und weil sie dazu führt, dass das Handeln der europäischen Organe so überprüft werden kann wie das
Handeln der nationalen Organe, das seit jeher an strengen
Maßstäben gemessen wird, wird sie auch die Diskussion
über ein weiteres wichtiges Thema vorantreiben, das
Angela Merkel in einer Rede, die sie vor wenigen Tagen
im „Tränenpalast“ gehalten hat, angesprochen hat, nämlich das Projekt der Demokratisierung der Europäischen Union.
Neben den Fragen: „Wie soll die Europäische Union
hinsichtlich ihrer Zuständigkeiten und Kompetenzen gestaltet werden? Wie viele Mitgliedstaaten sollen der Europäischen Union angehören?“ wird in den nächsten Jahren auch die entscheidende Frage auf der Tagesordnung
stehen: Wie schaffen wir es, die Europäische Union so zu
organisieren, dass sie genauso demokratisch ist wie das
Verfassungsleben in jedem einzelnen unserer Mitgliedstaaten? Es ist ein Problem, dass die europäischen Bürger
über ihre Regierungen zum Beispiel in Frankreich, England und Deutschland entscheiden können, dass sie aber
nicht darüber entscheiden können, wer sie in Europa regiert, und dass sie die Zusammensetzung der Kommission
und die Person des Kommissionspräsidenten einfach hinnehmen müssen, und zwar als Ergebnis dessen, was im
Ministerrat hinter verschlossenen Türen verhandelt worden ist. Ich bin überzeugt, dass die Grundrechte-Charta
auch hier eine Bresche schlagen wird und dass sie deshalb
ein Instrument ist, das die europäische Integration nicht
verlangsamt, sondern was sie beschleunigt.
Meine Damen und Herren, zur Offenheit der Debatte
gehört allerdings auch, dass wir uns darüber Klarheit verschaffen, dass die Charta einen wichtigen Schönheitsfehler hat: Sie ist bislang rechtlich unverbindlich. Sie ist - daran werden nach allem, was wir wissen, weder Biarritz
noch Nizza etwas ändern -, zum gegenwärtigen Zeitpunkt
für keinen Bürger als unmittelbar geltendes Recht einklagbar. Deshalb glaube ich, dass wir unsere Arbeit nicht
mit diesem Konvent beenden dürfen, dass wir uns nicht
nur mit der heutigen Bundestagsdebatte für die vielen Anhörungen und Debatten loben dürfen, sondern dass wir
daran weiterarbeiten müssen, dass diese Charta mit ihren
Grundrechten Rechtsverbindlichkeit erlangt.
({11})
Sehr geehrter Herr Bundesaußenminister, bei allem
Verständnis für die Schwierigkeiten, die es bei Regierungskonferenzen und europäischen Gipfelkonferenzen
gibt: Versuchen Sie, in Nizza und in Biarritz wenigstens
einen Fahrplan zu schaffen, der es regelt, dass die Grundrechte-Charta eines Tages in die europäischen Verträge
aufgenommen wird - nicht eines fernen Tages, sondern
bei der nächsten großen anstehenden Vertragsrevision,
und zwar gemeinsam mit den Kompetenzabgrenzungen
und mit dem, was wir als Kernelemente einer europäischen Verfassung bezeichnen. Wenn diese Charta irgendwo in den Aktenschränken des Auswärtigen Amtes
und des Justizministeriums verschwinden würde, hätten
wir eine große Chance vertan. Deshalb sollten wir alles
tun, damit die Charta die Wirksamkeit entfalten kann, die
sie auch verdient hat.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat
jetzt der Herr Außenminister Joschka Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Entwurf
der Charta wird nicht in irgendwelchen Aktenschränken,
weder in Berlin noch in Brüssel oder anderen Hauptstädten, verschwinden, weil ich der festen Überzeugung bin,
dass der Integrationsprozess im Interesse aller beteiligten
Mitgliedstaaten und auch der Beitrittskandidaten liegt
und dass dieser Integrationsprozess nicht am Sankt-Nimmerleins-Tag, sondern in einer für uns überschaubaren
Zeit der Regelung dringender Fragen bezüglich der individuellen Rechte der einzelnen EU-Bürgerinnen und Bürger wie auch der institutionellen Fragen bedarf. Ich kann
es mir nicht anders vorstellen, als dies in einem verfassungsähnlichen Vertrag, am besten in einer Verfassung, zu
regeln. Insofern ist der Entwurf der Charta der Grundrechte der Europäischen Union für mich ein Meilenstein
in der Geschichte der europäischen Einigung. Der Konvent, der diesen europäischen Rechte- und Wertkanon in
bemerkenswerter Einigkeit formuliert hat - diese Einigkeit wurde im wahrsten Sinne des Wortes erarbeitet -, hat
die Erwartungen bei der Formulierung dieser Initiative
auf dem Europäischen Rat in Köln deutlich übertroffen.
Deswegen möchte ich ganz besonders - das wurde schon
angesprochen - dem Bundespräsidenten a. D. Roman
Herzog danken, der hier eine herausragende Arbeit geleistet hat, eine souveräne Leistung des Konvents. Gestatten Sie mir aber, dass ich auch allen anderen Mitgliedern
des Bundestages und des Bundesrates für ihre sehr gute,
für ihre konstruktive Mitarbeit danke.
({0})
Es ist auch wichtig, dass wir die Form ansprechen. Ich
warne allerdings davor, hier eine Entgegensetzung zwischen dem Konvent und den geheimen Hinterzimmern einer Regierungskonferenz zu machen. Es sind keine Hinterzimmer; zumindest war das 16 Jahre lang nicht der Fall.
Sie werden es auch in Zukunft nicht sein, und wir sollten
das nicht dem Konvent entgegensetzen. Ich bin der Meinung - das sage ich als überzeugter Integrationist -, dass
wir mit dem Konvent eine neue Tür aufgestoßen haben.
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir einen Verfassungsvertrag nicht mehr in der alten Form der Regierungskonferenz bekommen werden.
({1})
Insofern kann ich Ihnen als Haltung der Bundesregierung sagen: Die Bundesregierung hat dafür gekämpft,
diese Initiative auf den Weg zu bringen, bei der alle so hervorragend zusammengearbeitet haben. Wir sind ein Stück
weit stolz darauf und begreifen es als ein implizites Lob,
dass dies unter der deutschen Präsidentschaft in Köln gelungen ist. Aber auch die Form - dass das Europaparlament und die nationalen Parlamente eingebunden waren,
dass es einen transparenten Prozess gegeben hat, was Kollege Meyer zu Recht angesprochen hat - ist für die weiteren Integrationsfortschritte sehr wichtig.
({2})
Mit der Charta, der gestern das Bundeskabinett zugestimmt hat und die wir am Wochenende in Biarritz diskutieren wollen, unterstreicht die EU ihren Anspruch als
Wertegemeinschaft über einen gemeinsamen Markt und
eine gemeinsame Währung hinaus. Das ist ebenfalls ein
sehr wichtiger Gesichtspunkt.
Erlauben Sie mir aber, mich in dieser Aussprache nicht
auf die verfassungsrechtlichen Substanzfragen zu konzentrieren - das wird die Kollegin Justizministerin tun -,
sondern auf einige europapolitische Anmerkungen zu den
nächsten Schritten.
Ich habe mir zum Prinzip gemacht, wenn ich Hauptstädte in der Europäischen Union besuche und Zeit habe,
auch die Diskussion mit den Mitgliedern der Europaausschüsse der nationalen Parlamente zu suchen. Dabei
musste ich feststellen, dass die einhellige Zustimmung,
die wir hier im Haus Gott sei Dank über fast alle Fraktionsgrenzen hinweg haben
({3})
- über alle -, mitnichten in allen Mitgliedstaaten der Fall
ist,
({4})
und zwar aufgrund höchst unterschiedlicher Traditionen.
Die nordischen Länder werfen zum Beispiel immer die
Frage auf, wie sich die Grundrechte-Charta zur Europäischen Menschenrechtskonvention verhalten wird. Die
langjährigen Nicht-EU-Mitglieder haben natürlich eine
andere Tradition der Kooperation mit dem Europarat und
sehen hier eine andere Gewichtung.
Es ist aber auch festzustellen, dass der Kontext dieses
Entwurfes, nämlich die Frage, wie sehr weitere Fortschritte in der Integration gewollt werden, entscheidend
ist. Nicht die Sache ist in anderen Mitgliedstaaten teilweise hoch dissent oder wird, um es noch krasser zu sagen, dort breit abgelehnt, sondern die Frage, ob man
Schritte zu einer vollen politischen Integration gehen will,
was hier im Hause Konsens ist. Das sollte uns nicht entmutigen. Es ist unser Auftrag, dafür zu werben, dass dieser Entwurf nicht nur bei der beschränkten Zahl der Konventsmitglieder aufgrund ihrer Erfahrungen, sondern
auch in den nationalen Parlamenten insgesamt, in denen
die Skepsis bislang überwiegt, mehrheitsfähig wird.
Aber ich kann da dem Bundeskanzler nur zustimmen:
Wichtig ist, dass wir diesem Entwurf möglichst schnell
Vertragscharakter geben können.
({5})
Wir sollten deshalb alles unterlassen, was dies gefährden
könnte. Selbst wenn wir - auch ich - uns aus demokratietheoretischen Überlegungen eine Volksabstimmung wünschen würden, können wir uns die Realitäten nicht malen,
wie man sie gerne hätte. Vielmehr muss man die Dinge realistisch sehen. Für mich ist die Überführung dieses hervorragenden Entwurfes, für den wir dankbar sind, in die
europäischen Verträge wichtiger als die Hoffnung auf eine
europäische Volksabstimmung, die ich bedauerlicherweise so noch nicht sehe.
({6})
Wenn wir das gemeinsam so sehen, finde ich das sehr
gut. Ich glaube, dass die nationalen Parlamente die wichtige Aufgabe haben, diesen Entwurf gerade bei denen, die
ihm skeptisch gegenüberstehen, mehrheitsfähig zu machen - ohne dass die Bundesregierung sich damit aus ihrer Verantwortung zurückziehen wollte. Ich möchte nur
dazu auffordern und dafür werben.
Ich will auf den zweiten Punkt antworten, den Sie angesprochen haben. Biarritz wird eine Vorklärung mit sich
bringen; das ist ein informeller Europäischer Rat, der die
Weichen für den Abschluss der Arbeit in Nizza stellt. Über
Nizza hinaus ist natürlich der Zusammenhang mit der
Erweiterung zu sehen. Die Erweiterung wirft zwei entscheidende Fragenkomplexe auf.
Der erste sind die institutionellen Fragen. Die institutionellen Fragen führen direkt in die Verfassungsdebatte;
denn mit dem fortschreitenden Integrationsprozess, den
eine EU der 27 notwendig macht, wird man um eine Beantwortung nicht nur der Fragen von Individualrechten,
sondern auch der institutionellen Verfassungsfragen nicht
herumkommen. Andernfalls wird man eine Stagnation
oder gar einen Rückschritt verzeichnen.
Der zweite Komplex betrifft Finanzfragen. Ich halte
die Erweiterung zum schnellstmöglichen Zeitpunkt für
unverzichtbar. Daraus ergibt sich - natürlich unter Einhaltung der Reihenfolge -, dass wir mit dem Fortschreiten der Integration - aus der Erweiterung ergibt sich die
Vertiefungsnotwendigkeit - auch eine entsprechende Dynamik bei den Verfassungsfragen brauchen. Ich finde die
begonnene Debatte mit höchst unterschiedlichen Positionen sehr wichtig; sie führt über Nizza hinaus. Aber die Voraussetzung ist, dass der erste Schritt in Nizza gelingt.
Wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir uns eingestehen, dass wir bereits dort wesentliche konstitutionelle
Fragen zu bewältigen haben. Es handelt sich um konstitutionelle Fragen, die etwa die Institution und das Verhältnis der großen zu den kleinen Ländern betreffen. Es
geht um die Repräsentanz einer sich erweiternden Union
in der Kommission. Die Größenordnung der Kommission
und die Anzahl der Kommissare betreffen das Verhältnis
von großen zu kleinen Mitgliedstaaten. Die Stimmengewichtung ist ebenfalls eine konstitutionelle Frage. All dies
gilt nicht für den Teil der Konstitution, der die individuellen Grundrechte behandelt, sondern für den institutionellen Teil. Es ist von zentraler Bedeutung. Selbstverständlich geht es auch um die Frage, inwieweit und mit
welchem Quorum das Mehrheitsprinzip angewandt werden wird.
({7})
- Das hängt mit der Stimmengewichtung wiederum sehr
eng zusammen. Aber das muss ich Ihnen, Herr Altmaier,
nicht erklären. - Darüber hinaus geht es um die nicht in
den Verfassungsrahmen hineinführende Frage der verstärkten Zusammenarbeit. Ich bin optimistisch, dass wir
auch hierbei einen substanziellen Fortschritt erzielen
werden.
Ich sage Ihnen: Nach Nizza werden wir nicht nur über
die Überführung dieses Teils einer Verfassung, des Grundrechtsschutzes, in die europäischen Verträge zu diskutieren haben; vielmehr werden wir auch - ich gehe fest davon aus, Herr Meyer - die Vertiefungsdebatte unter
Ausklammerung der institutionellen Verfassungsfragen
führen müssen. Die Frage danach, wer was macht, ist
zwar einfach formuliert; aber in Wirklichkeit zielt man in
das Zentrum des institutionellen Bereichs, der im Rahmen
einer zukünftigen europäischen Verfassung zu klären
ist.
Insofern hoffe ich, dass wir eine entsprechende Zustimmung finden können und den vor uns liegenden Weg
in den Konklusionen wiederfinden werden. Die Bundesregierung wird sich dafür einsetzen, dass wir zu Formulierungen kommen, die uns nicht nur die Tür öffnen, sondern auch ein Stück weit durch diese Tür hindurchführen.
Das heißt, es geht auch darum, die Richtung zu beschreiben. In dieser Art und Weise haben wir in Köln begonnen.
Wenn wir ehrlich sind, dann müssen wir feststellen: Wir
haben mit dieser Methode sehr viel erreicht, nämlich
einen Entwurf der Grundrechte-Charta, auf die wir zu
Recht stolz sein können.
Ich bedanke mich.
({8})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die F.D.P.-Bundestagsfraktion begrüßt sehr, dass
heute der Entwurf der Grundrechte-Charta des Konvents
in dieser Form zur Beratung und zur Meinungsbildung ansteht; denn wir haben uns immer für eine Entwicklung der
Europäischen Union hin zu einem föderalen vereinigten
Europa auf der Grundlage einer europäischen Verfassung
eingesetzt.
({0})
Früher war es Vision und Ziel und heute wird es etwas
mehr Realität, dass sich die Europäische Union in genau
diese Richtung, von einer Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft - wir waren die entscheidenden Vorkämpfer
für die gemeinsame Währung - hin zu einer zunehmend
staatlich verfassten Wertegemeinschaft, entwickeln
muss. Deshalb sind wir froh, dass wir heute über einen
ganz wichtigen Eckpfeiler dieser europäischen Entwicklung beraten können.
Wie die Vorredner danken wir den Mitgliedern des
Konvents - einige sind aus dem Bundestag - und besonders dem ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog,
der einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet hat, dass
es über unterschiedlichste Verfassungsvorstellungen und
Rechtstraditionen hinweg zu einem Konsens und zu einem Kompromiss gekommen ist.
({1})
Aber auch die Mitglieder des Bundestages und insbe-
sondere die des Europaausschusses sollten ihr Licht nicht
so ganz unter den Scheffel stellen.
Uwe Hiksch [PDS]: Sehr richtig!)
Wir haben im April dieses Jahres zusammen mit dem
Bundesrat eine Anhörung durchgeführt, die sich mit allen
wichtigen Fragen und Problemen der Europäischen
Grundrechte-Charta befasst hat. Ich glaube, das war eine
der Hilfestellungen, um Ihnen, Herr Meyer, und auch
Ihnen, Herr Altmaier, dann die Arbeit im Konvent etwas
zu erleichtern. Sie haben da ja schon gesehen, in welche
Richtung die Vorstellungen der Abgeordneten aus den
jeweiligen Ausschüssen gehen.
Die Grundrechte-Charta ist wirklich ein Projekt, das
weit über das hinausgeht, was uns in den letzten Jahren
auf den jeweiligen Gipfeln und bei den Europäischen Räten beschäftigt hat.
({2})
Für uns ist die Grundrechte-Charta immer schon ein
Schritt hin zu einer europäischen Verfassung gewesen. Ich
freue mich, dass sich die Kollegen hier im Bundestag über
alle Fraktionen hinweg jetzt endlich nicht mehr scheuen,
dieses Wort auch in den Mund zu nehmen.
({3})
Wir hätten die Rede von Präsident Chirac hier im Bundestag nicht hören müssen, um die Grundrechte-Charta in
den Zusammenhang mit einer Verfassung einzuordnen.
Herr Meyer wurde erst richtig ermutigt, dieses in einen
größeren Kontext zu stellen, als auch Herr Chirac von
einer Verfassung sprach.
({4})
Lassen Sie mich zu einigen wenigen inhaltlichen Punkten der Charta etwas sagen. Es ist für uns ja ganz selbstverständlich und entscheidend, dass der Schutz der Menschenwürde als Fundament aller Grundrechte an erster
Stelle steht. Damit kommt der Menschenwürde und ihrer
Unantastbarkeit eine Leitbildfunktion zu; dieser wichtige
Wert strahlt so auf alle anderen Grundrechte aus.
Wir begrüßen es auch, dass in dem Artikel über den
Schutz der Unversehrtheit der Person das Verbot des reproduktiven Klonens von Menschen aufgenommen
worden ist. Ich denke, das kann nur der Anfang sein. Wir
müssen jetzt die Debatte darüber führen, was wir im Bereich des therapeutischen Klonens zulassen wollen und
wie weit wir hier notwendiger technischer Entwicklung
den Raum öffnen wollen, den sie braucht, aber auch darüber, wo wir Grenzen einziehen wollen. Ich denke, es ist
gut, dass hier ein erster Schritt gemacht worden ist.
({5})
Zum Diskriminierungsverbot und zu anderen Dingen
brauche ich nichts weiter zu sagen, da wir das natürlich
unterstützen.
Leider ist es den Verfassern trotz des eindeutigen Auftrages des Europäischen Rates in Köln nicht gelungen,
sich ausschließlich auf diejenigen Rechte zu beschränken,
die nicht lediglich Handlungsziele der Union darstellen.
Ich weise darauf hin, dass manches - Interessierte sollten
einmal die Artikel über Umweltschutz, Verbraucherschutz und Gesundheitspolitik lesen - mehr in den Bereich der Lyrik und der Prosa gehört denn in den Bereich,
den wir mit einer Grundrechte-Charta verbinden.
Lassen Sie mich auf ein Problem aufmerksam machen,
das nicht nur ein sprachliches ist: In vielen Artikeln wird
selbst nach vielen Beratungen im Konvent der Begriff
„Achtung von Rechten“ - ich erinnere dabei an Art. 11
„Medienfreiheit“ - verwandt, und zwar als Ergebnis eines
Diskussionsprozesses im Konvent, der zum Ziel hatte,
den Schutz auf ein etwas niedrigeres Niveau zu senken.
Wir sollten bei aller grundsätzlichen Zustimmung zum
Entwurf dieser Grundrechte-Charta sehr wohl sehen, dass
in manchen Bereichen ein Schutzniveau erreicht ist
- natürlich wegen des notwendigen Kompromisses -, das
unter dem liegt, was wir uns aus unserem Verständnis heraus gewünscht hätten und auch wünschen.
Einen Artikel sehe ich mit großer Sorge: Es ist Art. 18
der Charta, der beim Recht auf Asyl auf die Genfer
Flüchtlingskonvention verweist und sich damit auf ein institutionelles Recht bezieht. Ich sehe sehr realistisch, dass
anderes nicht machbar war. Ich sage an dieser Stelle aber
auch: Ganz entschieden werden wir all denjenigen entgegentreten, die das zum Anlass nehmen zu sagen: Weil
nicht mehr in der Europäischen Grundrechte-Charta verankert ist, muss jetzt auch in Deutschland die Debatte über
eine Änderung des Grundrechtes auf Asyl in Art. 16 a
Grundgesetz geführt werden.
({6})
Solch eine Sogwirkung darf von Art. 18 der Charta nicht
ausgehen.
Das Kapitel Solidarität ist nach unserer Einschätzung
sehr vom Realitätssinn der Mitglieder des Konvents geprägt. Man hat der Versuchung widerstanden - ich denke:
richtigerweise -, ein Recht auf Arbeit und Wohnung hier
aufzunehmen. Einige dieser immer gerühmten sozialen
Grundrechte sind schon in der Sozialcharta und in anderen Konventionen verankert. Herr Meyer, ich weiß, dieses
Kapitel lag und liegt Ihnen sehr am Herzen; Sie haben sich
sehr dafür eingesetzt. Aber realistisch gesehen muss man
sagen, dass es sich mehr oder weniger um Selbstverständlichkeiten handelt, die dort verankert sind.
Lassen Sie mich ein Wort zu den Art. 51 ff. sagen, nämlich den horizontalen Bestimmungen der GrundrechteCharta. Ich denke, es ist gut, dass man hier ein Mindestniveau eingeführt hat. Man darf nicht hinter die
Europäische Menschenrechtskonvention und andere
Regelungen zurückfallen.
Aber ich betrachte den Art. 52; der die allgemeinen
Schranken für die Eingriffe in die Grundrechte formuliert,
mit Sorge. Diese Eingriffsmöglichkeiten müssen sein;
aber sie sind so allgemein formuliert - sie orientieren sich
an den allgemeinen Zielsetzungen des Gemeinwohls -,
dass ich nur sagen kann: Dadurch werden Spielräume
eröffnet, bei denen man nur hoffen kann - ich sage dies
mit Blick auf das Verständnis, das wir im Bundestag mit
dieser Charta verbinden -, dass nicht in einer Art und
Weise in die Grundrechte eingegriffen wird, wie es auch
die Verfasser nicht wollen. Man sollte immer wieder betonen, dass diese Möglichkeiten nicht das Einfallstor für
solch weit gehende Eingriffe werden dürfen.
({7})
Neben diesen Punkten - man hätte die Charta inhaltlich zwar besser ausfüllen können; aber insgesamt begrüßen wir es, dass sie vorliegt - möchte ich noch eine Bemerkung zu dem weiteren Verfahren machen; denn das ist
im Moment der entscheidende Punkt. Wir fordern, dass
nach den Beratungen am Wochenende in Biarritz spätestens auf dem Gipfel in Nizza der Entwurf dieser Charta
politisch angenommen und damit beschlossen wird. Das
ist aber das absolute Minimum; dabei darf es auf keinen
Fall bleiben. Deshalb fordern wir in unserem Antrag die
Bundesregierung auf, alles für das Ziel zu tun, dass dieser
Entwurf einer Grundrechte-Charta in die europäischen
Verträge aufgenommen, also verbindlich gemacht wird,
({8})
und in diesem Verfahren eine Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger in Form einer Volksabstimmung vorzusehen.
Ich verstehe zwar die Zurückhaltung des Außenministers, wenn er in dieser Funktion hier redet. Aber ich denke,
er gibt damit überhaupt nicht den Willen der Fraktionen
von SPD und Grünen wieder. Herr Sterzing, mich hat
heute Morgen wirklich erstaunt, dass ich in der „Süddeutschen Zeitung“ lesen konnte, dass Frau Roth, Frau Künast
und Sie eine Volksabstimmung fordern. Nehmen Sie diesen Punkt doch in Ihren Antrag auf und sprechen nicht nur
lasch davon, dass geprüft werden soll, ob eine Volksabstimmung durchgeführt werden kann!
({9})
Setzen Sie sich dafür im Bundestag ein und wecken Sie
nicht nur entsprechende Erwartungen in der Öffentlichkeit! Der Grund für Ihre Zurückhaltung kann doch nicht
in der Angst des Außenministers liegen, dies nicht durchsetzen zu können. Ich kann mich noch an ganz andere
Debatten im Bundestag erinnern, als es um das Thema
Volksabstimmung und Bürgerbeteiligung generell ging.
Wir befürchten überhaupt nicht, dass die Bürger in
Europa die Grundrechte-Charta geschlossen ablehnen
könnten; denn es ist keine Abstimmung, die morgen stattfindet. Wir eröffnen jetzt die öffentliche Debatte, die Verständnis für das wecken soll, was hier festgelegt wurde.
Vor dem Hintergrund einer solchen Debatte bin ich sehr
zuversichtlich, dass es eine breite Zustimmung geben
wird.
Wollen wir denn ängstlich sein und uns nicht trauen,
bei einer so grundlegenden Verfassungsfrage die Bürgerinnen und Bürger zu beteiligen? Alle Fraktionen und Parteien haben sich doch in den letzten Monaten mit der
Frage befasst: Wie können wir eine stärkere Bürgerbeteiligung ermöglichen? Nun gibt es zum ersten Mal einen
konkreten Anlass, bei dem wir diesen Prozess der Beteiligung einleiten können. Ich muss Ihnen aber sagen: Ich
habe kein Verständnis dafür, dass nur verschämte Ansätze
seitens der Mehrheitsfraktionen vorhanden sind. Dennoch
hoffe ich, dass wir Ihnen Mut machen können, noch energischer aufzutreten.
In diesem Sinne bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Grehn.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Fraktion wertet die Tatsache, dass der Konvent die Europäische Charta der Grundrechte in großer Einmütigkeit verabschiedet hat, als
Beweis dafür, dass die Mitglieder dieses Gremiums, das
Europäische Parlament und zahlreiche nationale Parlamente, darunter auch der Deutsche Bundestag, es als richtig erkannt haben, dass Europa nicht auf einem Defizit
von Rechten seiner Bürgerinnen und Bürger aufgebaut
werden kann. Eine Charta der Grundrechte, die auf den
Prinzipien von Menschenwürde, Selbstbestimmung und
Gleichheit gründet, musste eine notwendige Antwort auf
die Weiterentwicklung der wirtschaftlichen und monetären Integration sein und auch ein deutliches Signal
an die beitrittswilligen Länder setzen.
({0})
Ich möchte hervorheben, dass viele Veränderungen,
die als Ergebnis der Anhörungen und durch die Mitglieder des Konvents selbst am Chartatext vorgenommen
wurden, für uns grundsätzlichen Charakter tragen und von
uns sehr positiv bewertet werden.
Die Fraktion der PDS und die Abgeordneten der PDS
im Europaparlament, namentlich Frau Kaufmann, haben
sich von Anfang an gemeinsam mit den Fraktionen dieses
Hauses, namentlich vertreten durch den hoch geschätzten
Kollegen Meyer und den Kollegen Altmaier, kritisch und
konstruktiv an der Diskussion und der Arbeit an der
Charta beteiligt und sie durch das Einbringen eigener Positionen mitgeformt.
Mit Befriedigung können wir feststellen, dass eine
Reihe unserer Essentials vom Konvent geteilt und in der
vorliegenden Endfassung berücksichtigt wurden. Offene
Probleme und kritische Punkte werde ich später benennen.
Wichtig war für uns, dass der Chartaentwurf nicht hinter die Europäische Menschenrechtskonvention und bereits bestehende nationale Grundrechtsstandards zurückfällt, sondern teilweise sogar darüber hinausgeht. Die
Fraktion der PDS begrüßt den vom Konvent verabschiedeten Entwurf und zollt ihre Anerkennung all denen, die
sich an der Ausarbeitung einer Europäischen Charta der
Grundrechte engagiert beteiligt haben. Der Chartaentwurf
wie auch sein Entstehungsprozess sind ermutigende Zeichen für die Bürgerinnen und Bürger Europas, dass der
Integrationsprozess voranschreitet, dass die Möglichkeiten der demokratischen Mitbestimmung erweitert und
nicht vermindert werden, dass die Grundrechte und Freiheiten aller Bürgerinnen und Bürger auf hohem Niveau
geachtet und geschützt werden.
Auf der Grundlage des Entwurfs können die Grundrechte der Menschen in der Europäischen Union verteidigt werden und die Charta kann zu einem Gegengewicht
einer allein marktwirtschaftlich ausgerichteten Gestaltung Europas werden.
({1})
Die Offenheit und Transparenz der Arbeit des Konvents sowie die vielfältigen Möglichkeiten der Einflussnahme auf den Erarbeitungsprozess durch Bürgerinnen
und Bürger, die Gewerkschaften, Verbände, Institutionen
und Organisationen über Anhörungen oder über das Internet gelten zu Recht als vorbildlich und nachahmenswert für wichtige Entscheidungen auf europäischer
Ebene.
Unsere Anerkennung gilt ganz besonders Professor
Roman Herzog als dem Vorsitzenden des Konvents. Die
breite demokratische Diskussion unter seiner Leitung
führte dazu, dass der nun vom Konvent verabschiedete
Entwurf weitgehend im Konsens getragen werden kann
und in vielen Bereichen das Machbare darstellt.
Wie gesagt, es gibt einige gravierende Verbesserungen
gegenüber früheren Entwürfen. Ich will mich da kurz fassen; vieles ist bereits gesagt worden. In Art. 1 wird die Unantastbarkeit der Würde des Menschen garantiert. Wer
weiß besser als die Beteiligten, welchen Prozess das erfordert hat! Ich verweise auch auf die Wehrdienstverweigerung und auf die Bedeutung der Aufnahme eines
speziellen, bemerkenswert untersetzten Antidiskriminierungsartikels 21. Einmalig und vorbildlich für alle europäischen Staaten sind die Aussagen zur Gleichstellung
von Mann und Frau, wie sie in Art. 23 vorgenommen worden sind. Dabei ist die Gleichstellung bei der Beschäftigung, der Arbeit und dem Arbeitsentgelt explizit aufgeführt. Das stellt auch für unser Land eine große Herausforderung dar.
({2})
Einen Durchbruch bedeutete es, dass das Streikrecht in
Art. 28 als Teil der möglichen kollektiven Maßnahmen
der Arbeitnehmer garantiert wird. Dies aufzunehmen bedeutete einen ähnlich schwierigen Prozess wie im Falle
des Art. 1.
Von grundsätzlicher Bedeutung ist, dass es mit dieser
Charta auf der europäischen Ebene erstmals gelungen ist,
den untrennbaren Zusammenhang zwischen den politischen und den sozialen Grundrechten herzustellen und
letztlich trotz etlicher Widerstände durchzusetzen.
Wir betrachten diesen Prozess als längst nicht abgeschlossen - da stimmen wir mit manchem Vorredner überein - und werden weiterhin auch auf der europäischen
Ebene darum ringen, einen hohen Standard konkreter sozialer Grundrechte für die Union als Ganzes und nicht
mindere nationalstaatliche Regelungen zu erreichen.
({3})
Wie auch andere Fraktionen dieses Hauses mussten wir
im Verlauf der Diskussion über die Charta zur Kenntnis
nehmen, dass die Bereitschaft einiger Regierungen zur
Verbindlichkeit eindeutig formulierter sozialer Rechte
gegenwärtig noch nicht vorhanden ist. So sind die einschränkenden Formulierungen im Text, die gerade bei
vielen der sozialen Rechte das Subsidiaritätsprinzip heilig
sprechen und auf nationale Regelungen verweisen, ein
Relikt der Vergangenheit oder ein Zugeständnis an die
Konsensfähigkeit.
({4})
Die mangelhafte Ausgestaltung vieler sozialer Rechte als
Individualrechte bleibt ein Hauptmangel der Charta und
legt die Unausgewogenheit von bürgerlichen und sozialen
Rechten offen.
({5})
Es ist selbstverständlich eine bedeutsame Entwicklung, wenn jetzt das Recht zu arbeiten vorgesehen ist.
Dies ist jedoch kein Äquivalent zum Recht auf Arbeit. Der
in Lissabon einmütig verabschiedeten Zielsetzung eines
Europas der Vollbeschäftigung hätte als Ergänzung und
individuelle Entsprechung das Recht auf Arbeit zugestanden. Das hätte die Bürger in die Lage versetzt, eines der
obersten Menschenrechte garantiert zu bekommen. Das
gilt übrigens auch für das Recht auf Wohnen.
({6})
Kollege Altmaier, dies sind keine Blütenträume, sondern
die grundlegendsten Menschenrechte.
({7})
Zu begrüßen ist, dass das Recht auf Arbeitsvermittlung
mit dem Zusatz „unentgeltlich“ versehen wurde. Ich sage
das mit Blick auf die private Arbeitsvermittlung.
Die Charta findet keine Lösung für die Personengruppen, die ihre Rechte nur bedingt wahrnehmen können,
zum Beispiel für Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger, Arme oder auch Arbeitslose etwa im Bereich Freizügigkeit und Meldepflichten; ich will das nicht
weiter ausführen.
Demgegenüber steht das wahrlich seltsam anmutende
Recht auf unternehmerische Freiheit in Art. 16, das
eben jenes Recht auf Arbeit verhindert. Erneut werden
also auch in dieser Charta Arbeitgeber und Arbeitnehmer
ungleich behandelt. Dem wird das Sozialstaatsprinzip geopfert, wenn auch im Schlussentwurf auf nationale
Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten verwiesen wird.
Nicht aufgenommen wurde in die Charta so etwas wie
das individuelle Recht auf Asyl. Auch das wäre ein Fortschritt gewesen.
Die Fraktion der PDS tritt dafür ein, auf dem Gipfel in
Nizza die Charta der Grundrechte rechtsverbindlich in
den Verträgen zu verankern. Auch die Verabschiedung der
Charta in Form einer feierlichen Proklamation kann für
die Rechtsprechung der europäischen Gerichte einen
hohen Richtwert haben.
Es muss den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit
gegeben werden, sich mit dem Gehalt der Charta vertraut
zu machen, weitere Veränderungen am Text vorzunehmen, eine breite Aussprache zu führen, Engagement und
Vision im Hinblick auf die Ausgestaltung der EuropäDr. Klaus Grehn
ischen Union einzubringen und die demokratische Mitbestimmung und Transparenz gerade angesichts weiterer
Schritte bei der Vergrößerung der Union zu erhöhen. Am
Ende eines solchen Prozesses sollte im Jahr der Wahlen
zum Europaparlament, im Jahre 2004, eine Volksabstimmung zur Annahme der Charta stehen.
({8})
Ich darf mit der Feststellung schließen, dass die Bundesregierung erklärt hat, dass sie nicht hinter den Entwurf
zurückgehen wird, auch wenn es auf dem Gipfeltreffen in
Biarritz entsprechende Anträge geben wird. Wir begrüßen
diese Erklärung.
({9})
Das Wort hat
jetzt die Frau Bundesministerin der Justiz, Herta DäublerGmelin.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! „Bekenntnis zu den Grundwerten - die Grundrechte-Charta wird der Europäischen Union den Weg weisen“. So lautete in den vergangenen Tagen die Überschrift
über einem großen Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Dies ist eine geradezu euphorische Würdigung der Grundrechte-Charta, über die wir heute sprechen. Diese, wie ich finde, richtige, aber euphorische
Würdigung stammt von einem an sich sehr nüchternen
Mann, von Günter Hirsch, der früher Richter am Europäischen Gerichtshof war und jetzt Präsident des Bundesgerichtshofes ist. Er hat völlig Recht.
In allen heutigen Debattenbeiträgen zu diesem Thema
ist angeklungen, dass dies so ist. Auch das Wort „Gemeinsamkeit“ stand sehr deutlich über allem und war in
den gesamten Beiträgen zu spüren - Gemeinsamkeit aller
Fraktionen im Hinblick darauf, dass uns dieses Projekt
weiterführt. Wir haben zwar drei unterschiedliche Anträge - einen von der Koalition und zwei weitere -, diese
aber deuten in allen zentralen Punkten in die gleiche Richtung; und das ist gut.
Gemeinsamkeit ist in der deutschen Politik im Hinblick auf die Frage, welchen Weg Europa nehmen soll, mit
welchem Ziel wir Europa weiterentwickeln und gestalten
wollen, offensichtlich sehr wohl vorhanden. Ich stelle das
an dieser Stelle mit besonderer Freude fest, weil man ja
gelegentlich aus der einen oder anderen, mehr kurzfristig
und vielleicht interessenbehafteten Äußerung von Parteipolitikern, die sich draußen im Blätterwald wieder findet,
anderes schließen könnte.
Gemeinsamkeit steht über dem Projekt Europäische
Grundrechte-Charta, so wie wir es angelegt haben. Lassen
Sie mich allen sehr deutlich sagen, die sich schon in der
früheren Regierung darum bemüht haben, das Projekt der
Grundrechte der Europäischen Union auf den Weg zu
bringen: Verbal wie in der Sache gab es nie sehr viele Unterschiede; die Tatsache, dass es die rot-grüne Bundesregierung war, die dieses Projekt in der deutschen Präsidentschaft auf den Weg gebracht hat, erfreut mich
allerdings mit Genugtuung und mit Fröhlichkeit. Wenn
ich Herrn Altmaier sehe, dann weiß ich, dass er das im
Grund genommen genauso meint, ich sage es auch!
({0})
Wir können also feststellen: Wir sind jetzt an einer
Stelle angekommen, wo wir nicht nur über unsere Wünsche reden müssen, sondern wo wir sagen können: Jawohl, wir haben das auf den Weg gebracht, und zwar - erinnern wir uns an die Zeit vor eineinhalb Jahren - trotz
zum Teil großer Skepsis, gegen manche Kritik, gegen viel
Ängstlichkeit. Deswegen fand ich das, was Sie gerade gesagt haben, Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger,
so liebenswürdig. Wir haben nicht nur geredet, sondern
gehandelt und stellen jetzt fest: Jawohl, wir sind nicht nur
auf dem Weg in die richtige Richtung, sondern haben
tatsächlich eine Menge hinbekommen.
Übrigens war es die Bundesregierung, die das gute
Konzept eines offenen Konventes nicht nur überlegt,
sondern vertreten und durchgesetzt hat. Es war selbstverständlich dieser Deutsche Bundestag, der stolz darauf sein
kann, dazu beigetragen zu haben, mit allen seinen konstruktiven Beiträgen, seien es Anhörungen oder Debatten,
sei es der persönlichen Mitarbeit oder der Diskussion in
den Ausschüssen. Es war auch das Europäische Parlament
und insbesondere Professor Herzog, den der Bundeskanzler zum Regierungsbeauftragten gemacht hat. - Das alles
gehört zusammen. Die Freude, dass es gelungen ist, diese
Stufe des Erfolgs zu erreichen, gebührt uns allen. Ich betone noch einmal: Es war die Gemeinsamkeit aller.
Mich freut auch, dass wir hier alle feststellen - noch
vor einigen Tagen gab es diesbezüglich die eine oder andere Kritik -: Das ist ein guter Text, und zwar nicht nur,
wenn man es pragmatisch sieht und danach fragt, was
denn eigentlich möglich war, sondern auch, wenn man
sich Fragen stellt wie: Weist die Charta in die richtige
Richtung? Sind die Schritte, die gemacht werden, groß
genug, um nicht als ängstlich, sondern als durchaus mutig
zu erscheinen? - Der Text ist gut, er führt weiter, er ist
modern. Er bringt uns in der Tat ein Stück weiter, auch insoweit, als er die allgemeine Zustimmung zu Grundrechten oder die Formulierung, dass der Mensch im Mittelpunkt stehen müsse, weit überschreitet.
Frau Ministerin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Wenn Sie damit einverstanden sind, würde ich sie
gerne erst später zulassen, weil ich das jetzt noch im Zusammenhang darlegen möchte.
Der Text der Charta bringt uns sehr viel weiter, er konkretisiert die Gemeinsamkeiten und erschöpft sich nicht
in der extrem wichtigen und deshalb von allen immer wieder betonten Tatsache, dass der Mensch im Mittelpunkt
auch dieser Charta steht.
Einen großen Schritt weiter sind wir auch in der Beantwortung der Fragen: Was alles gehört eigentlich zu den
individuellen Freiheitsrechten? Gehören nur sie zu den
Grund- und Bürgerrechten oder gehören nicht auch die sozialen Grundrechte heute unwiderruflich dazu?
({0})
Die Charta sagt ja: Auch das gehört zu den Gemeinsamkeiten. Dafür bin ich dankbar.
Es ist zudem völlig richtig, dass wir auch in den Fragen, die man unter dem Begriff der „modernen Bürgerrechte“ zusammenfassen kann - seien das Fragen des Datenschutzes oder der Biomedizin - in Europa sehr viel
weiter gekommen sind, auch wenn wir noch über viele
Details reden müssen. Auch im Hinblick auf ihre Bedeutung möchte ich eine Gemeinsamkeit in der Bewertung
erwähnen, dass diese Charta gut ist.
Nun zur Verbindlichkeit. Sie haben völlig Recht - ich
glaube, auch hier besteht kein Streit -: Alle - sowohl ich
als auch der Außenminister, vor allem aber der Bundeskanzler und Professor Herzog - sagen immer wieder, dass
die juristische Verbindlichkeit das ist, was wir - mit
aller Klugheit - wollen und anstreben. Gestatten Sie mir
zu sagen: Wir möchten über die Charta nicht nur reden
müssen oder dürfen, sondern wir möchten sie in Europa
auch durchsetzen. Deswegen ist es ganz gut, dass man
sich auch über den richtigen Weg Gedanken macht. Dass
aber die juristische Verbindlichkeit, die Einbeziehung in
die Verträge, zu den integralen Zielen gehört, ist völlig unbestritten.
Wir wollen dies schon deswegen, weil wir aus unserer
eigenen Erfahrung aus den vergangenen 50 Jahren deutscher Geschichte wissen, dass die Formulierung von
Grundrechten und deren ganz praktische Durchsetzbarkeit mithilfe der Gerichte die Identität in unserem Land
und das Bewusstsein, dass wir in einer rechtsstaatlichen
und sozialen Demokratie leben, sehr gestärkt haben. Auch
auf diese Weise wurde der Stolz der Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland auf das, was wir hier
erreicht haben, mitgeschaffen. Das Gleiche wollen wir für
Europa. Wir wollen die juristische Verbindlichkeit als integralen Bestandteil. Wir wollen sie bald. Darüber gibt es
keinen Streit.
Meine Damen und Herren, dass wir die in Biarritz und
Nizza noch nicht erreichen werden, das sollte uns nicht
grämen. Zwar soll man nie Nie sagen, aber wahrscheinlich werden wir sie dort noch nicht erreichen. Bitte lassen
Sie uns die politische Verbindlichkeit dieses Dokuments
nicht selbst kleinreden oder kleinreden lassen. Die politische Verbindlichkeit eines solchen Dokuments, das geeignet ist, den Verträgen ohne Änderungen hinzugefügt zu
werden und sofort ein juristisch für alle verbindlicher Text
zu sein, das ist ein enormer Fortschritt.
Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen: Vor eineinhalb Jahren hätte wohl auch nicht jeder, der sich heute
sehr stolz äußert, geglaubt, dass dieser politische Text bis
heute erzielbar sei, und zwar einfach deswegen, weil unsere Verfassungstraditionen unterschiedlich sind und weil
die Diskussion über Leitziele - wir würden sie bei
uns Staatsziele nennen -, Programmsätze, individuelle
Grundrechte und soziale Grundrechte in Europa damals
noch nicht geführt war.
Es ist eines der wirklich erstaunlichen Phänomene, die
wir mit Dankbarkeit zur Kenntnis nehmen, dass sich in
diesem knappen Jahr das wiederholt hat, was sich in den
Jahren 1948/49 im Parlamentarischen Rat ereignet hat.
Das heißt: Wenn man sich einig ist, dass man ein Europa
der Bürgerinnen und Bürger, ein Europa der Werte und ein
Europa der Bekenntnisse zu Grundwerten will, dann kann
man in diesem Europa der Sechzehn über alle bestehenden Unterschiede und Schwierigkeiten vieles erreichen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich hinzufügen,
es geht nicht nur um das Europa der Sechzehn. Vielmehr
spielen in weiten Bereichen auch die Verfassungsstaaten
in Mitteleuropa, also unsere östlichen und südöstlichen
Nachbarn, eine Rolle. Es war ja nicht so, dass der Konvent oder auch Einzelne aus dem Konvent ausschließlich
innerhalb der EU-Mitgliedstaaten diskutiert, für Öffentlichkeit gesorgt und Interesse geweckt hätten. Vielmehr
haben alle selbstverständlich - angefangen mit der deutschen Präsidentschaft in der ersten Hälfe des Jahres 1999 - auch die Beitrittskandidaten einbezogen. Wir
haben das deswegen gemacht, weil wir wissen, dass sich
dieses Europa der Grundwerte nicht - weder jetzt noch
später - alleine auf die jetzige EU begrenzen darf. Es
muss selbstverständlich als politischer Acquis Communitaire das weitere Europa, das wir anstreben, mit einbeziehen.
({1})
Meine Damen und Herren, heute wird auch viel über
weitere Punkte wie Verfassung oder Kompetenzabgrenzung gesprochen. Auch wir kennen diese Aspekte und
sind uns im Prinzip einig. Die Unterschiede liegen nicht
so sehr in unterstellter Ängstlichkeit, sondern sie liegen
vielleicht darin, dass wir sagen: Der eine oder andere auch
von Ihnen könnte selbst noch mehr tun, um die Ängstlichkeit vor dem kontinental-europäischen Begriff der
Verfassung, die in gewissen Ländern Europas noch vorhanden ist, zu überwinden. Darum geht es.
Mir ist diese Ängstlichkeit übrigens verständlich; gerade unsere englischen Freunde - übrigens aller politischen Parteien - haben in Diskussionen immer wieder
deutlich gemacht, dass sie von einer anderen Verfassungssituation und einem anderen Verständnis ausgehen.
Sie haben enorme Leistungen vollbracht. Lassen Sie uns
das auch würdigen. Im Oktober sind zum Beispiel die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Instrumente in das völlig andere britische System inkorporiert
worden. Dies ist ein Fortschritt, der uns nur nicht so auffällt, dass wir diesen Weg schon längst gegangen sind.
Aber angesichts dessen, dass der Weg zum gemeinsamen
Werteeuropa von unterschiedlichen Ausgangspunkten
ausgeht, dürfen wir nicht übersehen, welche enorme und
geschwinde Leistung nicht nur von uns, sondern auch von
anderen erbracht wurde und wird. Deswegen meine Bitte:
Lassen Sie uns in diesem Bereich, wo nicht wir ängstlich
sind, sondern das, was wir können und was möglich ist,
schnell und zügig tun, darüber reden, wo in Europa vielleicht noch Überzeugungsarbeit geleistet werden kann.
Ich möchte zu dem, was vor uns steht, drei Zitate anführen. Der juristische Grundbestand an Verfassungselementen ist viel größer, als bisher geglaubt wurde. Es gibt
dazu viele Untersuchungen, die uns das alles zeigen.
Peter Häberle, der sich lange mit den Verfassungen Europas beschäftigt hat, kommt zu dem Ergebnis, dass es
„vor allem einzelne Verfassungsprinzipien wie Menschenrechte, Demokratie und Selbstverwaltung sowie
Staatszwecke wie Rechts- und Sozialstaat“ sind, die „gemeineuropäisches Verfassungsrecht greifbar werden lassen, ohne schon einen europäischen Staat zu schaffen“.
Häberle fügt hinzu - auch da hat er Recht -: „Nationale
Varianten bleiben, aber ein gemeinsamer Kernbestand
liegt schon vor.“
({2})
Um uns das Ziel auf dem Weg nach Europa vor Augen
zu halten und als Inspiration trage ich vor, was Carlo
Schmid gesagt hat: „Wir alle irren, wenn wir glauben, wir
könnten Europa schaffen, indem wir es halb schaffen.
Wenn Europa werden soll, muss man aufs Ganze gehen,
dann muss man Europa zu einer ökonomischen, zu einer
politischen, zu einer konstitutionellen Einheit machen.“
Europa der Wirtschaft, symbolisiert durch Europa des
Euro, Europa der politischen und konstitutionellen Einheit, in Zukunft symbolisiert durch die Europäische
Grundrechte-Charta, ist das, was Carlo Schmid meint und
wohin er den Weg weist.
Eine dritte Aussage - ebenfalls zur Inspiration - sei von
einem nüchternen Realist und Pragmatiker und demjenigen hinzugefügt, der als Politiker dafür zu sorgen hat, dass
nicht nur die Wünsche, sondern auch die Umsetzung auf
den Weg gebracht wird, Paul-Henri Spaak. Er sagte:
Entmutigt werden können nur diejenigen, die sich
einbilden, Europa lasse sich durch ein „Sesam, öffne
dich!“ oder durch eine riesige Welle des Enthusiasmus schaffen. Nichts dergleichen wird geschehen.
Ein organisiertes und vereinigtes Europa wird das
Ergebnis langer und mühevoller Anstrengungen
sein.
So ist es, aber es lohnt sich. Lassen Sie uns das heute feststellen. Ich glaube, das ist ein guter Tag.
Herzlichen Dank.
({3})
Nun erteile ich dem
Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten in der
Staatskanzlei des Landes Thüringen, Herrn Jürgen
Gnauck, das Wort. Bitte sehr.
Jürgen Gnauck, Minister ({0}): Vielen Dank,
sehr verehrte Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen
und Herren! Ich freue mich, dass wir die Chartadebatte
fortsetzen können. Wir haben es heute Nachmittag bereits
gehört: Der Chartaentwurf steht. Nach 18 Sitzungen eines
Konvents in Brüssel liegt nun ein wohl ausgewogenes Papier vor, das am Wochenende Gegenstand der Beratungen
in Biarritz sein wird.
Ich freue mich, dass das Hohe Haus, wie ich gehört
habe, übereinstimmend den Entwurf als gut bezeichnet.
Er ist in der Tat ein geglückter Kompromiss, um mit den
Worten meines Kollegen Friedrich zu sprechen, der dies
als respektables Ergebnis bezeichnet hat. Insbesondere das klang in den Beiträgen des Kollegen Meyer bereits
an - findet man ein ausgewogenes Ergebnis zwischen den
wirtschaftlichen Interessen auf der einen Seite und dem,
was unter sozialen Rechten auf der anderen Seite besprochen worden ist, wohl ausgeformt in dem Grundsatz der
Solidarität.
Erfreulicherweise - dafür möchte ich sprechen - sind
auch zahlreiche Forderungen der deutschen Länder in
den Chartaentwurf eingeflossen. Von den Anliegen, die
wir im Verlauf der letzten Monate vorgetragen haben,
sind - so kann man sagen - etwa zwei Drittel tatsächlich
im endgültigen Entwurf der Charta umgesetzt. Das darf
man ohne jegliche Übertreibung durchaus als Erfolg für
die deutschen Bundesländer werten.
({1})
Ich möchte einige Beispiele kurz herausgreifen. Eines
klang bereits an: Die deutschen Länder sahen mit Sorge
das Risiko, dass die Charta zu einer Kompetenzausweitung führen könnte. Ich denke, das darf man hier und
heute deutlich sagen: Dieser Gefahr ist mit einer Reihe
von Schutzklauseln begegnet worden. Es wäre äußerst
vermessen, sie als bloße Feigenblätter zu bezeichnen. Ich
möchte darauf hinweisen, dass der Grundsatz der Subsidiarität im Text zweimal genannt worden ist.
Wichtiger für mich ist allerdings noch, dass eine so genannte Querschnittsklausel im Text ausdrücklich klarstellt, dass weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für Gemeinschaft und Union begründet werden.
Gerade an den Verträgen und an den Zuständigkeiten soll
nichts geändert werden. Es finden sich zudem noch in
zahlreichen Einzelartikeln Verweise auf die einzelstaatlichen Vorschriften. Dabei handelt es sich um einen weiteren Schutz.
In verschiedenen Beiträgen klang bereits die Freude
darüber an, dass ausdrücklich festgehalten worden ist,
dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Eng damit verbunden sind noch einige Einzelartikel, die in dieser Charta Gott sei Dank ihren Niederschlag gefunden haben. Ich erinnere - leider - an die Notwendigkeit, das
Verbot des Menschenhandels in Art. 5 Abs. 3 zu normieren. Das ist ein Problem, das bedauerlicherweise auch
noch zu unserer Zeit anzutreffen ist.
In den letzten Wochen wurde sehr erfolgreich dafür geworben, das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen aufzunehmen, die Kunstfreiheit zu normieren und auch noch die Freiheit der Wissenschaft in den
Entwurf aufzunehmen. Beim Umweltschutz, der sich
in diesem Haus ganz offensichtlich nicht der uneingeschränkten Begeisterung sicher sein kann, hat sich
zumindest die Umweltministerkonferenz sehr darüber
gefreut, dass man das hohe Niveau im Chartaentwurf festgeschrieben hat. Auch frauenpolitische Belange finden
sich wieder. Ich denke, das alles sind wesentliche Elemente unserer europäischen Identität.
({2})
Quasi in den letzten Stunden, nämlich in der nächtlichen Beratung, wurde - auch das klang bereits an - mit
Art. 11 Abs. 3 eine zentrale Vorschrift zur Medienfreiheit
überarbeitet. Dort heißt es nicht mehr: „Die Freiheit der
Medien und ihre Pluralität werden gewährleistet“, sondern es heißt nun: „Die Freiheit der Medien und ihre Pluralität werden geachtet.“ Man befürchtete, dass sich hier
neue Kompetenzen in Richtung Europäische Union einschleichen könnten. Dem wollte man einen Riegel vorschieben. Wichtig war, dass das hohe Schutzniveau der
Medienfreiheit in Deutschland unangetastet blieb. Hier
teile ich, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, nicht ganz
Ihre Ausführungen. Es soll gerade keine Absenkung durch
verschiedene Vorschriften in der Charta vorgenommen
werden. Gerade Art. 53 des Entwurfes stellt dies ausdrücklich klar.
Noch nicht gesagt worden ist, dass quasi in allerletzter
Sekunde ausdrücklich ein neuer Art. 25 aufgenommen
worden ist, der den Schutz der Senioren regelt.
Wo viel Licht ist, ist allerdings auch Schatten. Es klang
bereits an: Auf der einen Seite haben wir die Unterscheidung zwischen den individuell einklagbaren Rechten und
auf der anderen Seite haben wir die Zielbestimmungen
oder auch Grundsätze leider nicht durchgängig realisiert.
Auch der bloße Abwehrcharakter der sozialen Rechte
lässt sich vom ungeübten Leser nicht automatisch erkennen.
Leider ist der Minderheitenschutz nicht so ausgefallen, wie es sich mein Kollege Schelter in Brandenburg
gewünscht hätte. Auf der anderen Seite sind die Kultusminister hocherfreut darüber, dass es in Art. 22 heißt: Die
Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und
Sprachen.
Besonders besorgt bin ich aber nach wie vor über die
Fassung von Art. 36; denn ich habe Angst, dass er zu einer Fehlinterpretation bei der Europäischen Kommission
führen könnte. Es ist schon angesprochen worden: Es handelt sich um den Artikel zu den Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse. Die Kommission
versucht, offensichtlich auf Initiative der französischen
Seite, hieraus Honig zu saugen, wie man der Kommissionsmitteilung vom 20. September dieses Jahres unschwer
entnehmen kann.
Wir haben an die Vertreter der Bundesregierung die
ausdrückliche Bitte - ich habe in diesem Sinne noch einmal direkt an sie geschrieben -, klarzustellen, dass hier
nicht eine Daseinsvorsorge zugunsten der Kommission
angenommen werden darf, die in Wahrheit gar nicht besteht. Dies, meine ich, sollte man sowohl in Biarritz als
auch in Nizza noch einmal deutlich zu Protokoll geben.
({3})
Der Konvent hat sich selbstverständlich - auch das hat
Kollege Meyer gesagt - von dem Gedanken leiten lassen
und alle haben sich bemüht, so zu formulieren, als ob es
geltendes Recht wäre. Gott sei Dank ist der Gedanke des
Kollegen Goldsmith verworfen worden, eine Verfassung
für Nichtjuristen und eine für Juristen zu verfassen; das
würde das Ehrverständnis der Juristen sehr trüben.
Es klang bereits an: Ich halte es eingedenk der Leistungen von Roman Herzog für ein kleines Wunder, dass
es uns in der Kürze der Zeit gelungen ist, ein Papier mit
einer solch hohen Qualität zustande zu bringen. Vereinzelt
klang Kritik an, man habe binnen der neun Monate, in denen man an diesem Projekt gearbeitet hat, die Bevölkerung nicht genügend beteiligt. Ich teile diese Auffassung
ausdrücklich nicht. Nach meinem Verständnis über das
Modell eines Konventes bestand erstmals die Möglichkeit, auch via Internet auf verschiedene Passagen Einfluss
zu nehmen. Ich weiß, dass davon entsprechend Gebrauch
gemacht worden ist; das ist ebenfalls eine wegweisende
Entwicklung.
({4})
Wir sollten auf das Erreichte stolz sein, aber wir sollten auch die Gelegenheit nutzen, denjenigen zu danken,
die aus Sicht der Länder eine ganz hervorragende Arbeit
geleistet haben. Ich möchte die beiden Kollegen hier aus
dem Bundestag noch einmal beglückwünschen: Ihnen ist
es genauso wie uns gelungen, bis zum Schluss parteiübergreifend einen breiten Konsens zu halten. Ich denke,
das ist einer der Gründe dafür, dass wir in Europa deutsche Interessen mit Anstand haben durchsetzen können,
ohne die anderen Nationen zu kränken oder zu verletzen.
({5})
Ich war skeptisch - das will ich gestehen -, ob der Konvent innerhalb der Kürze der Zeit seine Arbeit würde erledigen können. Ich teile die Einschätzung des Bundesaußenministers: Das Modell hat sich bewährt und sollte
und dürfte Vorbild für künftige Arbeiten sein. Ich denke,
es ist durchweg gelungen, in einer Mischung aus Kommissionsvertretern, Regierungsvertretern, Abgeordneten
des Europäischen Parlamentes und der nationalen Parlamente, aber auch mithilfe von Juristen und Wissenschaftlern eine entsprechende Arbeit zu leisten. Es könnte eine
Steilvorlage für die Zukunft sein.
Zum Abschluss erlaube ich mir noch folgende Anmerkung: Die Charta beruft sich in ihrer Präambel auf die nationale Identität der Mitgliedstaaten und auf die Organisation ihrer staatlichen Gewalt auf nationaler, regionaler
und lokaler Ebene. Dies stellt einen wichtigen Hinweis für
eine zukünftige europäische Kompetenzordnung dar. Es
erscheint wesentlich, die Frage der Kompetenzabgrenzung und die Entscheidung über die Aufnahme der Charta
in das EU-Vertragswerk miteinander zu verknüpfen.
Beide Elemente - Kompetenzkatalog und Grundrechtekatalog - könnten aus meiner Sicht den Kern eines künftigen europäischen Verfassungsvertrages darstellen.
({6})
Jürgen Gnauck, Minister ({7})
Ich bedanke mich noch einmal bei den Abgeordneten
für die vertrauensvolle Zusammenarbeit und wünsche
mir, dass wir uns vielleicht in einem anderen Konvent einmal wieder sehen.
Vielen Dank.
({8})
Der Kollege Seifert
wollte eine Kurzintervention an Frau Bundesministerin
Däubler-Gmelin richten. Möchten Sie sie trotz des Têteà-tête noch machen? - Bitte sehr, Herr Kollege. - Frau
Ministerin, Sie können dann darauf antworten.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Ich möchte zu der Rede von Frau Ministerin DäublerGmelin gern eine Bemerkung machen, die mir wichtig ist,
obwohl wir schon kurz miteinander geredet haben. Leider
ging sie in ihrer Rede nicht darauf ein, dass es in der jetzigen Fassung der Grundrechte-Charta im Prinzip um den
Schutz von Personen geht. In Art. 1 steht - das begrüßen
wir sicherlich alle -: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das ist sehr wichtig. Von Art. 2 an geht es aber nur
noch um den Schutz der Personen.
Jeder, der sich ein bisschen mit der philosophischen
Diskussion der Gegenwart befasst, weiß, dass in der
bioethischen Diskussion zwischen Mensch und Person
unterschieden wird: Man muss sich das Recht, Person zu
sein, erst erwerben und kann es auch wieder verlieren.
Das heißt, dass kürzlich geborene Säuglinge oder auch
Menschen in hohem Alter, die sich ihrer eigenen Geschichte nicht mehr bewusst sind, unter Umständen zu
Nicht-Personen erklärt werden können, sodass sie dann
nicht mehr den Schutz der körperlichen Unversehrtheit
usw. genießen können.
Ich denke, es wäre wichtig, vom Deutschen Bundestag
und von der Bundesregierung aus deutlich zu machen,
dass es uns darum geht, keine Unterscheidung zwischen
Mensch und Person zu treffen, und zwar in dem Sinne,
dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Demzufolge muss das in den weiteren Artikeln auch so beschrieben werden. Leider ist es momentan mit „Person“ umschrieben. Die Gefahr, dass tendenziell bestimmte
Menschen, zum Beispiel geistig oder körperlich schwer
behinderte Menschen aus der Wahrnehmung von Grundrechten ausgeklammert werden, ist vorhanden, und ich
bitte darum, dass die Frau Ministerin hier noch einmal
deutlich die Position der Regierung dazu darlegt, wie dieser Schutz sicherzustellen ist.
Danke schön.
({0})
Frau Dr. DäublerGmelin, wollen Sie antworten? - Bitte schön.
Herr Kollege
Seifert, Sie haben natürlich völlig Recht. Ich muss mich
dafür entschuldigen, dass ich am Schluss meiner Rede
nicht nochmals zu Ihnen herübergesehen habe. Sie hatten
ja gesagt, Sie würden gerne eine Frage stellen, und wenn
diese wichtige Frage jetzt im Raume stehen bliebe, wäre
das sicherlich nicht gut.
Wir alle kennen die sehr merkwürdige Philosophie, einen Unterschied zwischen Menschen und Personen zu
machen, wobei einige die Auffassung vertreten - Peter
Singer ist einer der Vertreter dieser Auffassung -, Person
sei weniger als Mensch und daher weniger schutzbedürftig oder schutzfähig.
({0})
- Ja nun, ich weiß nicht, wie Sie das meinen. Peter Singer
hält am Personenbegriff fest.
({1})
- Wenn Sie es sich noch einmal überlegen, werden Sie sehen, dass es ganz einfach so ist: „Mensch“ ist der umfassende Begriff, der die menschliche Würde einschließt, die
in unserem Grundgesetz steht und die wir auch in der
Grundrechte-Charta in Kap. I als Art. 1 als zentralen Begriff stehen haben.
Die Charta spricht - das war der Grund für die Frage
des Kollegen Seifert - von der Person, wenn es um das
Recht auf körperliche Unversehrtheit und Ähnliches geht.
Die Befürchtung ist nun, dass - der Philosophie von Singer folgend - durch dieses Wort zumindest ein gewisses
Maß an Unklarheit bestehen könnte, dass der Schutz der
Person weniger weit reicht, als der Schutz des Menschen
reicht.
Lassen Sie mich ganz klar sagen - ich bin sehr dankbar, dass Sie die Frage gestellt haben -: Wir sehen das
nicht so und ich habe mich gerade noch einmal sowohl bei
dem Kollegen Professor Meyer als auch beim Kollegen
Altmaier, die beide im Konvent tätig waren, vergewissert:
Gerade in Bezug auf die Fragen, die Sie hier angeschnitten haben, gibt es einen Unterschied zwischen Mensch
und Person nicht und sollte es auch nicht geben. Lassen
Sie mich das sehr deutlich feststellen. Den Unterschied
zwischen Schutz bzw. Recht von Mensch und Person gibt
es in diesen Fragen nicht. Das wird im Übrigen durch die
englische Fassung der Grundrechte-Charta, in der von
„everyone“ die Rede ist, bestätigt.
Ihnen kam es darauf an, eine klare Meinung zu hören,
und ich glaube, ich habe meine Auffassung sehr deutlich
gemacht. Daran war mir auch sehr gelegen.
Vielen Dank.
Das hat nun Herrn
Hintze ermuntert, eine Kurzintervention zu machen. Bitte
sehr, Herr Hintze.
({0})
Jürgen Gnauck, Minister ({1})
- Das geht. Das ist Ausdruck der Lebendigkeit des Parlaments. Wenn er jetzt spricht, sehen Sie, dass es geht. Bei
dieser Frage lasse ich eine Zwischenfrage zu, weil ich es
wirklich wichtig finde, dass wir das klären. Herr Hintze,
bitte sehr.
Frau Präsidentin, ich bedanke mich für die souveräne Sitzungsführung. - Ich
wollte in dieser elementaren Frage nur unterstreichen,
dass ich zwar die Anfangsbegründung der Frau Ministerin, die als Abgeordnete gesprochen hat, nicht teile, aber
das Ergebnis voll teile.
Es gibt einen Unterschied zwischen Mensch und Person, wir sprechen aber jedem Menschen das Personsein
zu, und zwar unabhängig von der Fähigkeit des Menschen - sei es als Säugling, Embryo, alter Mensch oder
schwer kranker Mensch -, die im Personenbegriff liegenden Eigenschaften auch selber auszuüben. Ich freue mich,
dass in diesem Haus eine große Übereinstimmung darüber besteht, dass - im Ergebnis sind wir uns wieder einig „Mensch“ und „Person“ identisch ist und die Menschenwürde jeder Person zugesprochen wird, egal, in welcher
Entstehungs- oder Lebensphase er oder sie sich befindet.
Ich wollte das nur noch einmal klarstellen.
({0})
Nun erteile ich dem
Kollegen Christian Sterzing vom Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor
neun Monaten hätte wohl niemand gedacht, dass wir
heute über ein solches Ergebnis debattieren können. Es
gab gegenüber dem Projekt einer Grundrechte-Charta
viele Skeptiker und Bedenkenträger.
Ich glaube, es gibt im Wesentlichen drei Gründe für
den Erfolg dieses Konvents. Der erste Grund ist die Zusammensetzung dieses Konventes, der - das wurde
schon erwähnt - mehrheitlich mit Parlamentariern des
Europaparlaments und der nationalen Parlamente besetzt
war. Es hat sich hier eine Eigendynamik entwickelt, die
meiner Ansicht nach wesentlich zu diesem positiven Ergebnis beigetragen hat. Wir waren durch die Abgeordneten Meyer und Altmaier vertreten. Sie haben gezeigt, dass
sie kompetent und engagiert mitgearbeitet haben. Dafür
sollten wir ihnen an dieser Stelle herzlich danken.
({0})
Die kompetente und engagierte Mitarbeit so vieler Parlamentarier in diesem Konvent hat viele Vorurteile Lügen
gestraft. Sie hat nämlich gezeigt, dass auch Parlamentarier effizient arbeiten können, manchmal sogar effizienter
als eine Konferenz von Regierungsbeauftragten, die Derartiges in einer solchen Zeitspanne wohl kaum zustande
gebracht hätte. Insofern sollte das Schule machen. Das ist
eine Parlamentarisierung des Integrationsprozesses. Daran sollten wir festhalten.
Der zweite Grund für den Erfolg liegt in der Präsidentschaft dieses Konvents; das wurde schon häufig erwähnt. Roman Herzog mit seiner ihm eigenen Art hat erheblich zu diesem Erfolg beigetragen. Den Dank will ich
an dieser Stelle gern wiederholen.
Der dritte Grund ist das Verfahren des Konvents. Ich
glaube, auch das ist ein Erfolgsgeheimnis. Die Transparenz ist für einen solchen Prozess einmalig. Sie ist in diesem Maße gerade für einen europäischen Prozess einmalig. Das hat wohl auch dazu beigetragen, dass sich diese
Eigendynamik entwickelt hat, dass die Beteiligungsmöglichkeiten von Verbänden, von Initiativen, von Gruppen
und Institutionen genutzt worden sind. Insofern ist hier
eine Debatte entstanden, die sich zwar noch in einem begrenzten Raum bewegt, die aber wohl alle als fruchtbar
empfunden haben.
Das sind die drei wesentlichen Gründe, die wir nennen
können.
Was das Ergebnis angeht, so möchte ich zunächst deutlich feststellen, dass auch wir der Meinung sind, dass hier
einer der modernsten Grundrechtskataloge, auf internationaler Ebene wahrscheinlich der modernste Grundrechtskatalog, entstanden ist.
Darin wird erstens die Unteilbarkeit der Menschenrechte dokumentiert, und zwar in einem Dokument
politisch-bürgerliche sowie wirtschaftliche und soziale
Rechte.
Zweitens haben die so genannten neuen oder modernen
Grundrechte ihren Niederschlag gefunden, zum Beispiel
der Umweltschutz, der Datenschutz und der Verbraucherschutz.
Drittens ist die neue Generation von Grundrechten aufgenommen worden. Ich nenne in diesem Zusammenhang
das Thema Bioethik und das Thema Antidiskriminierung.
Man kann, glaube ich, viertens auch deutlich festhalten: Es ist ein Grundrechtskatalog, der durchweg geschlechtsneutral formuliert worden ist.
Schließlich sei erwähnt, dass die Kürze, die Knappheit
und die Lesbarkeit dieses Grundrechte-Chartaentwurfs
ihn in besonderer Weise auszeichnen. Auch daran sollten
wir Parlamentarier uns, wenn wir am Grundgesetz arbeiten, ein Beispiel nehmen.
Insofern liegt in dieser Grundrechte-Charta wirklich
ein europäischer Mehrwert. Es ist deutlich geworden,
dass auf dem Weg von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zur politischen Union, zur Wertegemeinschaft, das Wertefundament, das Grundrechtsfundament
hiermit gelegt worden ist.
Ich kann natürlich nicht auf alle Einzelheiten eingehen.
Ich will für unsere Seite nur feststellen, dass wir eine
ganze Reihe unserer grundrechtlichen Vorstellungen in
diesem Katalog nicht realisiert sehen. Der Umweltschutz
ist ungenügend geregelt. Gerade Art. 3 mit der Problematik der Bioethik ist unzureichend. Der Tierschutz fehlt.
Das Thema Asylrecht wurde bereits angesprochen. Des
Weiteren sind die Defizite beim Minderheitenschutz und
die Schrankenproblematik zu nennen. Das ist eine Reihe
Vizepräsidentin Anke Fuchs
von Defiziten. Meine Aufzählung der Kritikpunkte ist allerdings nicht vollständig.
Gleichwohl würdigen wir das, was an Fortschritten zu
verzeichnen ist, so etwa den umfassenden Antidiskriminierungsartikel, die Formulierungen in dem Artikel zum
Schutz von Ehe und Familie, die Absicherung der Gleichstellung, der Frauenförderung. Zu nennen ist auch das
Kriegsdienstverweigerungsrecht, das in letzter Minute
noch eingefügt worden ist.
Wir wissen zwar, wie strittig viele dieser Formulierungen im Konvent waren, aber der Entwurf belegt: Hier ist
nicht minimalistisch um den kleinsten gemeinsamen
Nenner, sondern hier ist sehr engagiert um den größten
gemeinsamen Nenner gerungen worden. Insofern glaube
ich, dass dieser Prozess vor dem Hintergrund der unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Traditionen in Europa nicht unterschätzt werden darf. Integrationspolitisch
ist dieser Prozess schon an sich mindestens genauso wichtig wie sein Ergebnis.
Die Frage ist natürlich: Wie geht es weiter? Lassen Sie
mich kurz ein paar Stichworte nennen. Rechtsverbindlichkeit: Sie sollte - darüber sind wir uns alle einig frühestmöglich herbeigeführt werden.
Klagemöglichkeit - das ist das nächste Stichwort -:
Wir müssen einen Weg finden, wie wir im Rahmen einer
Vertragsreform ein Verfahren entwickeln können, das es
den Bürgern möglich macht, ihre Grundrechte einzuklagen; denn Grundrechte ohne Grundrechtsschutz verdienen auf Dauer ihren Namen nicht.
Schließlich sind wir uns auch weitgehend über die Notwendigkeit und die Sinnhaftigkeit eines Referendums einig. Nur, wir sollten auch nicht einfach über den Zielkonflikt hinwegreden, der zwischen einer möglichst rasch zu
verwirklichenden Rechtsverbindlichkeit des Dokuments
auf der einen Seite und einem Referendum auf der anderen Seite besteht, für das die Voraussetzungen erst noch
geschaffen werden müssen. Wir glauben insofern, dass
der so genannte Post-Nizza-Prozess eine wichtige Gelegenheit bietet, um die Grundrechte-Charta spätestens zu
diesem Zeitpunkt zu einem Teil eines - wie immer man
das nennen wird - Verfassungsvertrages zu machen. In
der anstehenden Verfassungsdebatte wird sich, so hoffe
ich, das konkretisieren, was es aber noch gegen viele Widerstände, Vorbehalte und Bedenken durchzusetzen gilt.
Herr Kollege, denken
Sie bitte an die Redezeit.
Wir haben im Zusammenhang mit der GrundrechteCharta vielfach von einem Meilenstein gesprochen. Auch
ich glaube, sie ist ein Meilenstein. Aber wir sollten gleich,
nachdem wir diesen Meilenstein passieren, die nächsten
Meilensteine des Integrationsprozesses in den Blick nehmen. Diese liegen mit Nizza und mit dem Post-Nizza-Prozess, in dessen Rahmen über eine Verfassung zu diskutieren sein wird, unmittelbar vor uns.
Vielen Dank.
({0})
Jetzt hat das Wort der
Kollege Norbert Geis, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die europäische Einigung ist eine der größten politischen Erfolge der Geschichte unseres Kontinents. Die Völker waren im letzten
Jahrhundert in zwei großen Kriegen untereinander zerstritten. Sie haben sich dann in der zweiten Hälfte dieses
Jahrhunderts zusammengefunden, haben die europäische
Einigung auf den Weg gebracht und die Grundlage dafür
geschaffen, dass wir in Frieden, Freiheit und Wohlstand
miteinander zusammenleben können.
Es gab im Laufe der Zeit Institutionen, die ein Eigenleben entwickelt haben, ohne richtig demokratisch legitimiert zu sein. Deshalb geht es darum, dass wir sobald wie
möglich einen Verfassungsvertrag schaffen, in dem die
Kompetenzen zwischen der Union auf der einen und den
Mitgliedstaaten auf der anderen Seite ganz klar abgegrenzt sind. Es geht darum, dass in einem Verfassungsvertrag die Grundrechte niedergelegt werden, die in der
Charta entwickelt worden sind.
({0})
Wir begrüßen die Arbeit des Konventes, weil wir mit
ihm in vielen Punkten übereinstimmen können. Es gibt
auch Kritikpunkte; das ist zweifellos richtig. Die Charta
ist vielleicht mit zu vielen Programmsätzen überfrachtet.
Das sollte man bedenken, wenn man die Grundrechte in
dem zukünftigen Verfassungsvertrag verankert.
Es gibt in der Charta sicherlich auch Einzelnormen,
die ganz automatisch zu einer Kompetenzausweitung
führen, obgleich in der Charta ausdrücklich erklärt wird,
dass keine Kompetenzausweitung durch die Charta gewünscht wird. Aber die Kompetenzausweitung ist in diesen Normen unter Umständen schon angelegt. Deswegen
müssen wir unser Augenmerk gerade auf solche Programmsätze richten, die unter Umständen geeignet sind,
kompetenzansaugend zu wirken, und die auf diese Weise
dafür sorgen können, dass wir mehr und mehr in einen
Zentralstaat hineinrutschen, den wir überhaupt nicht wollen. Im künftigen Europa müssen die Nationalstaaten
selbstständig bleiben. Die Kompetenzkompetenz muss
bei ihnen verbleiben.
Ich will ein Wort zu der Debatte sagen, die sich vorhin
über die Begriffe Mensch und Person entfacht hat. Das ist
ein wichtiger Punkt. Die Charta nimmt in ihrer Präambel
Bezug auf das geistig-religiöse Erbe der europäischen
Kultur. Das ist für mich ein sehr wichtiger Satz. Ich weiß,
dass dieser Satz umstritten gewesen ist und dass es den
Mitgliedern des Konvents aus Deutschland, insbesondere
den Mitgliedern der Unionsfraktion, zu verdanken ist,
dass dieser Satz Niederschlag in der Präambel gefunden
hat. Wenn man eine solche Präambel formuliert, dann ist
es gut, sich auf die Wurzeln unserer Kultur zu besinnen.
Wir sagen ja immer, Europa solle eine Wertegemeinschaft
sein. Dann muss man aber auch wissen, auf welchen Wurzeln diese Werte beruhen.
Es gibt sicherlich viele Wurzeln der europäischen Kultur, aber drei tragende Wurzeln sind besonders zu betonen: Erstens ist die griechische Tradition zu nennen: die
Beschäftigung des Menschen mit der Wissenschaft und
mit der Philosophie. Wenn wir heute an Gerechtigkeit
denken, dann denken wir genauso wie die Griechen.
Zweitens ist die römische Kultur mit ihrem Recht zu nennen. Unsere ganze Rechtskultur baut auf dem römischen
Recht auf. Drittens - das möchte ich herausstellen - ist die
jüdisch-christliche Tradition zu nennen. Das ist die wichtigste Wurzel der europäischen Kultur. Unser Abendland
ist ohne jüdisch-christliche Religion undenkbar.
({1})
Man braucht nur durch europäische Städte zu gehen, um
das festzustellen. Man muss nur einen Augenblick darüber nachdenken, wie es wäre, wenn es das Christentum in
Europa nicht gäbe. Das ist völlig unvorstellbar.
Gerade aus dieser jüdisch-christlichen Tradition
kommt der Begriff der Person. Person bedeutet das Unwiederholbare, die Einmaligkeit des Menschen; Person
bedeutet unverletzbare Würde des Menschen. Das verstehen wir, wenn wir an das christliche Abendland denken,
unter Person.
({2})
Deswegen hat Herr Kollege Hintze Recht, wenn er feststellt, dass in unserem abendländischen Verständnis zwischen den Begriffen Mensch und Person kein Unterschied
besteht. Da mag Singer kommen und einen Unterschied
machen,
({3})
aber nach unserem abendländischen Verständnis besteht
zwischen Mensch und Person kein Unterschied.
Um das klarzumachen, haben wir in unseren Antrag
aufgenommen, dass jeder Mensch das Recht auf Leben
hat, so wie jedem Menschen das Recht auf Würde zusteht.
Wir machen hier keinen Unterschied. Deswegen können
wir diesen Begriff in der Charta akzeptieren, ohne dass
wir uns über Singer Gedanken machen müssen. Wir müssen, weil die Charta auf die europäischen Werte Bezug
nimmt, an dem christlich-abendländischen Menschenbild
festhalten. Deswegen kann es kein Abweichen zwischen
Mensch und Person geben.
Nun mögen viele glauben, es sei nicht mehr so wichtig, überhaupt an das christliche Abendland zu erinnern.
Das sei eine verflossene Sache und wir würden einer
neuen Zeit entgegengehen. Hegel hat schon vor 200 Jahren gesagt, dass sich die christliche Religion in ihren
Wertvorstellungen in Europa zweifellos durchgesetzt
habe und dass die europäischen Institutionen diese Wertvorstellungen so verinnerlicht hätten, dass das Christentum insofern überflüssig geworden sei. Ein solches Denken übersieht aber, dass solche Institutionen immer von
handelnden Menschen bestimmt sind. Wenn aber die
handelnden Menschen nicht mehr die den Institutionen
gemäßen Überzeugungen haben, wenn sie also weggebrochen sind, dann dauert es nur noch kurze Zeit, bis auch
die Institutionen wegbrechen.
Deshalb kommt es, wie ich meine, ganz entscheidend
darauf an, dass in der Charta auf das christlich-abendländische Erbe Bezug genommen wird. Ich danke denjenigen
ganz herzlich, die dies durchgesetzt haben.
Danke schön.
({4})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich entnehme der Redefolge, dass zu diesem Thema auch der Bundesaußenminister gesprochen
hat. Ich freue mich, dass die Frau Justizministerin unter
uns weilt, und wünschte, dass auch der Außenminister
nach seiner Rede hier geblieben wäre. Ich habe noch nicht
herausfinden können, Herr van Essen, ob Dispens erteilt
worden ist.
({0})
- Er ist ihm erteilt worden. Aber dann könnte wenigstens
ein Staatsminister hier sitzen. Wir alle legen sicherlich
Wert darauf, dass sich die Bundesregierung dem Dialog
mit dem Parlament stellt.
({1})
Nun hat die Kollegin Monika Knoche, Bündnis 90/Die
Grünen, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen!
Die Ausarbeitungen des Konvents spiegeln natürlich einen Prozess postnationaler Konstellation wider und
drücken Konsens über gemeinsame Werte aus. Ich möchte
mich auf einen Aspekt konzentrieren, auf eine, wie wir
alle wissen, Zukunftsfrage: die Definitionskraft der Garantie der Menschenwürde im Zeitalter der Bio- und Gentechnologie.
Für mich war von zentraler Bedeutung, dass sich die
Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen
Medizin“ des Deutschen Bundestags sofort mit dieser
Frage befasst und eine Definition des Menschenbildes
und Menschenrechts in der EU-Grundrechte-Charta erarbeitet hat. Wir haben dem Konvent Empfehlungen gegeben, in denen es heißt:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu
achten und zu schützen.
Diese Formulierung war vorher nicht im Entwurf der
Charta enthalten. Ferner machte die Enquete deutlich,
dass jeder Mensch ein Recht auf Leben hat. Des Weiteren
empfahl sie, in Art. 3 die Nichtdiskriminierung, insbesondere das für die Zukunft sehr wichtige Verbot der Diskriminierung wegen genetischer Merkmale, aufzunehmen.
Schließlich empfahl die Mehrheit der Enquete, dass das
Recht auf Unversehrtheit ein Verbot von fremdnütziger
Forschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen umfasst.
Das Klonen sowie Eingriffe in die menschliche Keimbahn sind verboten; das ist außerordentlich wichtig. Ebenso kann nicht darauf verzichtet werden, dass das Recht auf
Wissen und das Recht auf Nichtwissen gerade mit Blick
auf die genetischen Daten zum unverzichtbaren Bestandteil einer zeitgemäßen Grundrechte-Charta wird.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Frau Kollegin Knoche,
ist Ihnen bewusst, dass der Text der Grundrechte-Charta
das Klonen von Menschen nicht grundsätzlich verbietet,
sondern nur das reproduktive Klonen? Das heißt, dass das
Schaffen von Embryonen, um sie als „Ersatzteillager“ zu
nutzen, nicht ausdrücklich verboten ist.
Herr Kollege Hüppe, ich werde mich in den wenigen Minuten Redezeit, die mir verbleiben, dieser Fragestellung
zuwenden. Ich hoffe, Sie können akzeptieren, dass ich mit
meiner Rede fortfahre und Ihre Frage im weiteren Verlauf
beantworte.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, jede und jeder von uns weiß oder spürt, dass neue Definitionen vom
Beginn und Ende des menschlichen Lebens unterlegt werden, wenn es um Interessen am zellulären Sein des Menschen geht. Dazu gehört der massive Versuch, den außerhalb eines Frauenkörpers erzeugten Embryo für
Stammzellforschung und Klonierung, also für fremde
Zwecke verwenden zu können. Das zeigt, dass die Biomedizin und die Forschung vielfach über das individuelle
Subjekt hinaus auf die Verfasstheit des Menschen
schlechthin greifen.
Die Grundrechte-Charta muss auch die unantastbare
Würde des Menschen als Gattungswesen garantieren. Angesichts der unvergleichlichen Gefährdungslage sind die
Werte, auf denen unsere Kultur beruht, nur wachstumsfähig, wenn diese Normen nicht verlassen werden. Der
Prozess im Konvent zeigt, dass es möglich ist, zu Werteübereinstimmungen beim Begriff vom Menschen zu kommen.
Wenn es heute heißt „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und in Art. 2 von „Jeder Mensch hat das Recht
auf Leben“ die Rede ist, so ist das eine große Leistung.
Um keine Missverständnisse zu nähren: Die Sinnbestimmung von Mensch, die wir in unserem deutschen Text haben, ist die, die wir in der eigenen Grundrechtedogmatik
haben. Auch das ist ein sehr wichtiger Erfolg und eine
gute Grundlage für die künftige Debatte.
Noch ein Hinweis. Unser Grundrechtsverständnis verlangt von uns, unbedingt Sorge dafür zu tragen, dass das
bestehende Verbot eugenischer Praktiken zwingend auf
die eugenische Selektion durch Präimplantationsdiagnostik erweitert wird. Die Charta sieht heute lediglich vor,
das reproduktive Klonen von Menschen zu verbieten. Das
ist jedoch vollkommen ungenügend. Sie muss auf das
Verbot des Klonens für jedwede Zwecke erweitert werden; denn das, woraus ein Mensch entstehen kann, darf
niemals ein „verzweckbares“ Objekt werden.
Gerade in dem, was in diesem Grundrechtsartikel, bezogen auf das Feld der modernen Medizin, fehlt, offenbaren sich die Nichtübereinstimmungen im wertedifferenten
System Europa. Mit Blick auf Art. 3 kann die heute zu bewertende Fassung sicherlich nicht die letzte für eine europäische Verfassung sein. Da bleibt ein Gestaltungsauftrag. Wir sollten ihn wahrnehmen, auch über den Gipfel
von Nizza hinaus.
Danke schön.
({0})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/4246 und 14/4253 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit
sind die Überweisungen so beschlossen.
Der Entschließungsantrag auf Drucksache 14/4269
soll zur federführenden Beratung an den Ausschuss für
die Angelegenheiten der Europäischen Union und zur
Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuss, den Innen-
ausschuss, den Rechtsausschuss, den Ausschuss für Ar-
beit und Sozialordnung, den Ausschuss für Umwelt, Na-
turschutz und Reaktorsicherheit, den Ausschuss für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend, den Ausschuss für
Menschenrechte und humanitäre Hilfe und an den Aus-
schuss für Wirtschaft und Technologie überwiesen wer-
den. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Wohngeld- und Mietenbericht 1999
- Drucksache 14/3070 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({0})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung
des Gesetzes zur Regelung der Miethöhe
- Drucksache 14/871 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rainer
Funke, Michael Goldmann, Horst Friedrich ({2}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Vereinfachung des Mietrechts ({3})
- Drucksache 14/3896 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({4})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen, wobei die F.D.P.
zehn Minuten erhalten soll. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Wolfgang Spanier für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen! Meine Herren! Der Wohngeld- und Mietenbericht 1999 verkündet sozusagen eine frohe Botschaft,
({0})
zumindest auf den ersten Blick: Mietenanstieg auf einem
Tiefststand - ich glaube, seit 1962 -; ein deutlich geringerer Anstieg der Nebenkosten; insgesamt eine Entspannung auf dem Wohnungsmarkt. Ich ahne, dass Sie sich
heute kräftig auf die Schulter klopfen wollen.
({1})
Auf den zweiten Blick allerdings erkennt man auch in
diesem Wohngeld- und Mietenbericht Ihre Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit. Das wird besonders im
Wohngeldteil deutlich,
({2})
weil trotz des Wohngeldes eine hohe Mietbelastung von
immerhin 30 Prozent des verfügbaren Einkommens in
den alten Bundesländern und von immer noch 23 Prozent
des verfügbaren Einkommens in den neuen Bundesländern festgestellt werden muss. Daran wird deutlich, dass
über Jahre versäumt worden ist, beim Wohngeld etwas zu
tun, und dass trotz des Wohngeldes die Mietbelastung bei
den einkommensschwachen Haushalten exorbitant ist.
Auf diesen zweiten Blick stellt sich auch der Wohnungsmarkt etwas anders dar. Entspannung ja, aber nicht
in einem ganz wichtigen Bereich, nämlich im so genannten preiswerten Marktsegment.
({3})
Der aktuelle Wohnungsmarktbericht des Landes Nordrhein-Westfalen bestätigt noch einmal wachsende - wohlgemerkt: wachsende - Engpässe beim Angebot preisgünstiger Wohnungen besonders in den Großstädten, obwohl
wir in Nordrhein-Westfalen mittlerweile eine Leerstandsquote von 1 Prozent haben.
Im Zusammenhang mit dem Stichwort Leerstand darf
ich einen kleinen Schlenker zu Ihrem Entschließungsantrag machen. Sie weisen ja auf diese Leerstandsproblematik hin, die im Wohngeld- und Mietenbericht 1999
noch nicht so ganz die Rolle spielt, die sie heute in der Tat
in den neuen Bundesländern einnimmt. Ich kann ja verstehen - das ist ja auch nicht unberechtigt -, wenn Sie hier
auf die Fehler der Vergangenheit, also die der DDR hinweisen. Zur Redlichkeit gehört aber auch zu sagen, dass
in den Jahren nach der Wende in den neuen Bundesländern, gerade was die Wohnungspolitik betrifft - zumindest im Nachhinein ist das offensichtlich -, schwere Fehler gemacht worden sind.
({4})
Ich erinnere an den Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“. Ich erinnere an die Lösung der Altschuldenhilfe. Ich erinnere daran, dass wir in fünf bzw. sechs Jahren über 40 Milliarden DM an Steuersubventionen in zum
Teil unsinnige Projekte - als Ostwestfale sage ich das einmal ganz platt - verballert haben. Allein diese drei Fehler
zusammengenommen haben die Situation in den neuen
Bundesländern verschärft und mit dazu beigetragen, dass
wir heute vor diesem gewaltigen Leerstandsproblem stehen.
({5})
Ich glaube, das muss man nüchtern feststellen.
({6})
Ich gebe gerne zu - das habe ich einmal aus Ihren Reihen gehört -, dass man die Wiedervereinigung vorher
nicht üben konnte. Es gehört aber, wie ich glaube, zur
Redlichkeit, dass man einfach feststellt, hier sind von Anfang an die Weichen falsch gestellt worden. Die Auswirkungen dieser Fehler bekommen wir heute zu spüren und
wir haben sie heute zu lösen.
Der Wohngeld- und Mietenbericht ist leider nur eine
Momentaufnahme. Inzwischen stellen wir fest: Die Mieten steigen leicht an. Die Wohnkosten zum Beispiel im
Land Nordrhein-Westfalen betragen zurzeit im Durchschnitt rund 30 Prozent des verfügbaren Einkommens.
Außerdem haben wir, wenn man den Preisindex heranzieht, im September dieses Jahres im Vergleich zum September vorigen Jahres im Bereich Wohnen und all dem,
was damit zusammenhängt, eine Preissteigerungsrate von
4,3 Prozent gegenüber einem allgemeinen Preisanstieg
von lediglich 2,5 Prozent. Selbstverständlich gehen Sie in
Ihrem Entschließungsantrag darauf ein.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Sie sagen dort: Schuld daran ist selbstverständlich die
Bundesregierung als „Preistreiber Nummer 1“ - man
sollte besser sagen: Preistreiberin - mit ihrer Ökosteuer.
Diese muss wieder einmal herhalten, um diesen Preisanstieg zu begründen.
({7})
Ein Blick auf die Fakten belehrt uns eines anderen. Wir
hatten 1998 eine Mineralölsteuer von 10 Pfennigen je Liter Heizöl vorgefunden. Im April 1999 haben wir einmalig 4 Pfennige Ökosteuer draufgeschlagen. Von September 1999 bis September 2000 haben wir allerdings eine
Steigerung des Heizölpreises von über 80 Prozent zu verzeichnen, allein in den Monaten August und September
dieses Jahres von 30 Prozent. Beim Erdgas verhält es sich
ähnlich. Es ist also eine Legende, dass die Ökosteuer die
Heizölkosten und damit den Preisanstieg im Bereich
Wohnen mit verursacht hat.
({8})
- Das ist schlicht und einfach eine Legende.
Im Übrigen wundere ich mich darüber, dass Sie den
von uns geplanten Heizkostenzuschuss für Einkommensschwache, mit dem wir etwas zur Abmilderung dieses Preisanstieges tun wollen und den wir morgen im
Deutschen Bundestag beraten und beschließen werden damit ist er natürlich endgültig noch nicht unter Dach und
Fach -, infrage stellen und möglicherweise mithelfen
werden, ihn im Bundesrat zu blockieren. Das kann ich
wirklich nicht verstehen. Wenn an irgendeiner Stelle der
Vorwurf der sozialen Kälte angebracht ist, dann glaube
ich, dass er an dieser Stelle erhoben werden muss.
({9})
Der Heizkostenzuschuss ist eine Maßnahme, den
einkommensschwachen Haushalten zu helfen. Das
Wohngeld ist eine weitere. Wir werden zum 1. Januar
2001 rund 1,4 Milliarden DM mehr für das Wohngeld ausgeben; das ist eine gezielte Hilfe gerade für die einkommensschwachen Haushalte. Im Durchschnitt sind das immerhin 80 DM mehr. Das bedeutet eine Steigerung um
rund 50 Prozent gegenüber dem jetzigen Wohngeld.
({10})
Eine zusätzliche Erleichterung, die damit zusammenhängt, ist, dass von den knapp 1 300 Kommunen in meinem Lande - ich komme ja aus Ostwestfalen - immerhin
rund 350 in der Mietenstufe heraufgesetzt werden; denn
dort hatten wir in den letzten Jahren eine sehr starke Zuwanderung. Allein in meiner Heimatstadt, einer Stadt mit
68 000 Einwohnern, gab es einen Zuwachs um rund 8 000
Einwohner, im Wesentlichen Aussiedlerinnen und Aussiedler. Sie können sich denken, dass die Mietenstufen in
fast jeder Kommune heraufgesetzt werden. Auch dadurch
werden Verzerrungen auf dem Wohnungsmarkt ein Stück
weit beseitigt.
({11})
Es ist schon nahezu dreist, wenn Sie in Ihrem Entschließungsantrag behaupten, wir hätten die Wohngeldnovelle hinausgezögert und die Erhöhung sei zu gering.
({12})
Herr Dr. Kansy, ich weiß noch, wie oft Herr Töpfer im
Bundestag eine Verbesserung des Wohngeldes angekündigt hat. Sie haben es - trotz des letzten Rettungsversuches von Herrn Oswald - schlicht und einfach nicht geschafft.
Wenn Sie davon sprechen, die Erhöhung sei zu gering,
dann muss ich sagen, dass Sie redlich bleiben sollten. Ich
habe in diesem Parlament, aber auch im Bundesrat keinen
einzigen Antrag von Ihnen gesehen, in dem steht: Wir
wollen eine Mietsteigerung nicht nur von 20 Prozent, sondern von 36 Prozent auffangen. Diesen Eindruck erwecken Sie aber und machen uns im Entschließungsantrag einen entsprechenden Vorwurf. Ich glaube, das ist
unredlich. Wenn Ihnen diese Erhöhung so sehr am Herzen
gelegen hat: Warum haben Sie diese nicht im Bundestag
oder im Bundesrat - vielleicht durch Ihren hessischen Ministerpräsidenten; der weiß ja, wie man mit Geld umgeht
- durchgesetzt?
({13})
Zur Lösung der Probleme auf dem Wohnungsmarkt
gehört natürlich auch die Reform des sozialen Wohnungsbaus. Sie mahnen sie an, was ja in Ordnung ist. Wir
sind uns in den Zielen weitgehend einig. Manchmal habe
ich das Gefühl, wir singen irgendwann gemeinsam das
Lied „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’ “.
({14})
- Ich will jetzt nicht, wenigstens in meinem Fall, über Jugendsünden reden. - Es ist ja vielleicht auch gut, dass wir
uns in diesen wichtigen wohnungspolitischen Angelegenheiten einmal einig sind.
Ich gebe gerne zu: Die Mittel sind reduziert worden,
was Sie uns ebenfalls vorwerfen. Aber auch hier muss
man ganz nüchtern fragen, wie eigentlich die Nachfrage
in den Bundesländern bezüglich des Neubaus im Bereich
des sozialen Wohnungsbaus ist. Man muss feststellen: in
vielen Bereichen Fehlanzeige. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir diese Reform auf den Weg bringen. Dann haben wir eine solide Grundlage, mehr Geld bereitzustellen.
Hilfreich ist auch die Reform des Mietrechts; denn
sie hilft, die Schwächen auf dem Wohnungsmarkt, die es
nach wie vor im Falle einkommensschwacher Haushalte
gibt, ein Stück weit zu beseitigen. Ich denke in diesem Zusammenhang nur an die Kappungsgrenze.
({15})
An dieser Stelle eine kurze Bemerkung zum Gesetzentwurf der F.D.P. Die alte Koalition hat es nicht geschafft, das Mietrecht zu reformieren.
({16})
Die Gründe sind klar: Die Koalition war zerstritten. Ich
habe ein bisschen das Gefühl, dass die F.D.P. das, was sie
ursprünglich einmal wollte, aus der Schublade geholt hat.
({17})
So sieht es jedenfalls aus. Ich kann im Nachhinein die
CDU/CSU voll verstehen, dass sie das nicht mitmachen
wollte. Aber über die Reform des Mietrechts werden wir
an anderer Stelle noch ausgiebig diskutieren. Ich habe
mich ein bisschen gewundert, dass Sie dieses Thema an
die Debatte über den Wohngeld- und Mietenbericht
gehängt haben. Es wäre ein bisschen schade, wenn das
Thema untergehen würde. Wir werden zu gegebener Zeit
auf die Einzelheiten Ihres Gesetzentwurfes sicherlich
noch eingehen.
Ein weiterer Punkt ist die Altbaumodernisierung.
Auch dies ist ein Stück weit Hilfe für einkommensschwache Haushalte, die nach wie vor in dem unteren Preissegment auf dem Wohnungsmarkt Schwierigkeiten haben.
Immerhin wird das Altbaumodernisierungsprogramm,
das wir mit dem Haushalt 2001 auf den Weg bringen, zur
Senkung von Verbrauch und Kosten bei der Raumwärme
führen. Das ist eine Hilfe bezüglich des exorbitanten
Preisanstiegs, den wir in den letzten Monaten zu verzeichnen hatten.
({18})
Ein weiterer Punkt ist - ich will ihn nur stichwortartig
ansprechen - das Programm „Soziale Stadt“. Es ist ja kein
Zufall und für uns durchaus ermutigend, dass BadenWürttemberg Spitzenreiter bei der Nachfrage nach diesem Programm ist. Auch Bayern steht dem nicht nach.
Das Programm ist also ein voller Erfolg, den wir gemeinsam begrüßen sollten.
({19})
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf einen Punkt eingehen, der mir persönlich - ich betone bewusst: persönlich; er hat sich hoffentlich wie ein roter Faden durch meinen Beitrag gezogen - am Herzen liegt, weil diejenigen,
die Schwierigkeiten haben, sich auf dem Wohnungsmarkt
selbst zu versorgen, im Mittelpunkt unseres Augenmerks
stehen sollten. Wir sollten uns als Wohnungspolitiker an
der Diskussion um die Rentenreform beteiligen. Herr
Dr. Kansy, auch Sie haben letztens im Ausschuss eine solche Anmerkung gemacht; ich habe das für zutreffend gehalten. Die zusätzliche Säule der privaten Altersvorsorge wird einen Teil des Einkommens abschöpfen. Das
geht möglicherweise zulasten der Sparrate, vielleicht
auch zulasten des Bausparens. Das wäre sicherlich fatal.
Deswegen meine ich: Wir müssen Lösungen finden, um
so etwas wie eine Quadratmeterrente - so nennt man das
bei uns in Ostwestfalen - zu schaffen, also auch das selbst
genutzte Wohneigentum in die Altersvorsorge einzubeziehen.
({20})
Ich denke da allerdings in erster Linie an die Mieterprivatisierung, um den Schwellenhaushalten zu Eigentum
und damit gleichzeitig zu einem Stück privater Altersvorsorge zu verhelfen. Das halte ich für einen ganz wichtigen
Weg. Wenn wir auch da Seit’ an Seit’ schreiten und gemeinsam überlegen - das ist ja eine knifflige Sache -, wie
wir das erreichen können, dann wäre ich ganz zufrieden
und dann sähe ich auch über den Ton Ihres Entschließungsantrags ein Stück weit hinweg. Das ist so eine
Art populistischer Rundumschlag. Vielleicht hat Ihnen
das ja Herr Merz aufgeschrieben.
Schönen Dank.
({21})
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Dr. Dietmar Kansy für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Spanier, wenn Sie es noch einmal erwähnt hätten,
hätte ich Schwierigkeiten gehabt, nicht anzufangen zu
singen: „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’“. Aber vielleicht sollten wir mit einem gemeinsamen Abendessen in
der Gegend des Gendarmenmarktes beginnen, der zurzeit
„in“ ist. Dabei könnten wir dann einige wohnungspolitische Fakten abklopfen.
({0})
Aber, Herr Kollege Spanier, Sie als alter, erfahrener
und mir persönlich auch sympathischer Kollege haben
natürlich präventiv schon richtig vermutet, dass die Vorlage des Wohngeld- und Mietenberichts an diesem heutigen Tage nicht gerade eine Sternstunde der Regierungsfraktionen bedeutet, und zwar aus mehreren Gründen.
Zunächst einmal müssen Sie nämlich - die Regierung hat
das auch ordnungsgemäß getan, weil man über Zahlen ja
schlecht streiten kann - lobend herausstellen, dass in dem
Berichtszeitraum 1998/99, in dem im Wesentlichen noch
wir regiert haben, eine Entspannung auf den deutschen
Wohnungsmärkten eingetreten ist, die nicht vom Himmel gefallen, sondern Ergebnis einer konsequenten Wohnungsbaupolitik der alten Koalition war, welche es in der
Kombination von Angebots- und Nachfragepolitik geschafft hat, die so genannte Wohnungsnot innerhalb von
wenigen Jahren in einem Umfang zu beheben, dass heute
keiner in diesem Lande mehr ernsthaft von Wohnungsnot
redet.
({1})
600 000 Neubauten Mitte der 90er-Jahre und ein im
Bericht als historischer Tiefstand der MietindexsteigeWolfgang Spanier
rung von 1,1 Prozent im Jahr 1999 genannter Prozentsatz nie hat eine neue Bundesregierung in einer so zentralen
Frage wie dem Thema Wohnen, das alle Menschen bewegt, eine so günstige Ausgangssituation vorgefunden
wie die Regierung Schröder nach unserer Regierungszeit
in den letzten Jahren.
({2})
- Es hilft doch alles nichts: Lesen Sie in Ruhe und ganz
freundlich, Seit’ an Seit’ sozusagen, den Bericht durch.
Dass Ihnen das schwer fällt, ist verständlich; denn mein
ehemaliger Kollege als baupolitischer Sprecher, Großmann,
heute Staatssekretär, hat noch im Entschließungsantrag
zum Wohngeld- und Mietenbericht 1997 - das war im
Frühsommer 1998 - der damaligen Bundesregierung
„eine Euphorie über Entspannungstendenzen auf dem
Wohnungsmarkt“ vorgehalten. Jetzt benutzen Sie die Ergebnisse unserer Wohnungspolitik für einen sichtbaren
Attentismus in diesem Ministerium. Wenn Sie Pech haben, provozieren Sie erneut den Schweinezyklus in der
Wohnungspolitik, sprich: das Auf und Ab zwischen Überangebot und Wohnungsnot, was eine der schlimmsten politischen Fehlentscheidungen sein kann - wenn man überhaupt Wohnungspolitik macht, was ich langsam bestreite.
({3})
Sie holt zum Zweiten eine ganze Kette von Wahlversprechen wieder ein.
({4})
Ich will mich auf zwei Zitate aus der Debatte zum Wohngeld- und Mietenbericht 1997 am 7. Mai 1998, die nicht
hier, sondern damals noch in Bonn stattgefunden hat, beschränken. Mit starken Worten sagte der Hamburger Bausenator Wagner in Wahlkampfmanier im Bundestag,
1,3 Milliarden DM Wohnungsbaumittel im laufenden
Jahr - so waren damals die Zahlen im sozialen
Wohnungsbau - seien „ein weiterer Beweis dafür, dass
sich die jetzige Bundesregierung“ - also die damalige „in Wahrheit aus der Verantwortung seitwärts in die Büsche stiehlt“. - Sehr prosaisch, für einen Hamburger sowieso. Binnen drei Jahren, im letzten Regierungsjahr
nämlich, sind diese 1,3 Milliarden DM, sind die damaligen Ansätze für den sozialen Wohnungsbau auf ganze
0,45 Milliarden DM heruntergefahren bzw. - um beim
Hamburger Sprachbild zu bleiben - aus den Büschen in
die Wüste gejagt worden.
({5})
Angesichts dessen, dass der schon angesprochene Kollege Großmann in der damaligen Debatte vom Rednerpult
aus versprach, eine SPD-geführte Bundesregierung
werde - übrigens im Einklang mit dem damaligen Wahlkämpfer Schröder, was in der „Mieter-Zeitung“ nachzulesen war - dafür sorgen, dass die Zahl der sozialen Wohnungen wieder steigt, ist zu fragen: War es nicht eine
Wählertäuschung, wenn ein Ansteigen prophezeit wurde,
der soziale Wohnungsbau nun jedoch um zwei Drittel reduziert worden ist? - Das sind die Fakten in der Mitte dieser Legislaturperiode.
Zum Dritten halte ich - Sie wissen ja, dass dies ein
Hobby von mir ist - die Zusammenlegung des Bundesverkehrsministeriums mit dem Ministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau mit dem groß angekündigten Ziel angeblicher Synergieeffekte aus Sicht
der Wohnungswirtschaft für einen Flop.
({6})
Denn ein Bundesbauminister hat immer mehr getan, als
sein Ressort nur zu verwalten. Es gibt heute unter der rotgrünen Koalition keine abgestimmte Wohnungspolitik
mehr. Im Grunde ist der Wohnungsbau zum fünften Rad
am Wagen geworden. Wenn Sie sich ansehen, wo neben
den für die Altbausanierung im Osten vorgesehenen anerkennenswerten 400 Millionen DM die Milliardenbeträge
aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen bleiben, werden Sie feststellen, dass für den Verkehr achtmal so viel
Mittel vorgesehen sind wie für den Baubereich. Das ist die
Wahrheit in der Mitte dieser Legislaturperiode.
Meine Damen und Herren, der Bundesbauminister
fährt den sozialen Wohnungsbau zurück, sein Kollege Finanzminister verschlechtert über das Steuerrecht die Rahmenbedingungen für den frei finanzierten Wohnungsbau
und reduziert gleichzeitig die Eigenheimzulage und die
Bundesjustizministerin - sie war bis eben anwesend; jetzt
ist sie weg - legt einen investitionsfeindlichen Mietrechtsentwurf vor und stellt ihn anschließend - zumindest in
Teilbereichen - wieder infrage, sodass sich die letzten
noch nicht entmutigten Investoren so langsam fragen, ob
der Staat überhaupt noch Interesse daran hat, dass in diesem Lande Wohnungen gebaut werden.
Die Ergebnisse dieser Politik kann man an Zahlen ablesen, wenn auch im Wesentlichen nur auf der Ebene der
Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker: Die Zahl von
600 000 Wohnungsbaugenehmigungen war natürlich
der absolute Höchststand. 1999 ist diese Zahl auf 438 000
zurückgegangen. Im ersten Halbjahr 2000 ist ein weiterer
Rückgang auf 181 000 - Hamburg ist dabei noch nicht
berücksichtigt, da es noch keine Meldung abgegeben hat zu verzeichnen. Das Institut für Städtebau erwartet in diesem Jahr höchstens 380 000 Baugenehmigungen. Damit
würde angesichts von fast 38 Millionen Wohnungen in
diesem Land erstmals seit vielen Jahren die Ersatzbaurate
unterschritten.
Nach Angaben des Verbandes Deutscher Hypothekenbanken - das ist ein noch besserer Gradmesser als die Zahl
der Baugenehmigungen; in diesem Zusammenhang kann
man sich selbst etwas in die Tasche lügen; aber abgeholte
Kredite lässt man normalerweise nicht in der Schublade
liegen ({7})
ging im ersten Halbjahr das neue Geschäft für Wohnungsfinanzierungen noch weitgehender, ja schon fast
dramatisch, um 40 Prozent zurück. Der Eigenheimbereich
ist mit 49 Prozent am stärksten betroffen.
Wenn ich jetzt einmal diese ganze Politik resümiere,
muss ich feststellen: Betroffen sind natürlich auch die
Mieter, und zwar in ganz wesentlichem Umfang. Dies ist
von Herrn Spanier schon vorsichtig angedeutet worden,
aber ich will einmal Klartext reden. In der Marktanalyse
des Ringes Deutscher Makler vom August dieses Jahres
heißt es: Der durchschnittliche Rückgang der Mieten für
neu abgeschlossene Verträge - übrigens ein Ergebnis unserer Wohnungspolitik nach dem Motto „Bauen ist der
beste Mieterschutz“ - ist deutlich abgeschwächt. Die
Mieten in vielen Großstädten und in weiten Bereichen
Süddeutschlands sowie generell die Erstvertragsmieten
für Neubauten sind eindeutig wieder ansteigend.
Zu den Mietrechtsvorlagen im Detail wird noch mein
Kollege Pofalla Stellung nehmen. Aber eines, meine Damen und Herren - ob Rechts- oder Baupolitiker - der Koalition, muss ich noch sagen: Die Linie der Union ist
klar - das ist von Ihnen, Herr Kollege Spanier, richtig angesprochen worden - zur Vereinfachung ein klares Ja,
zum Verschieben des in langen Jahren Gesetzgebung und
Rechtsprechung gefundenen ganz sensiblen Gleichgewichtes zwischen Mietern und Vermietern ein klares
Nein.
Dort sitzt ein weiterer Kronzeuge: Wir haben uns als
Regierungsfraktion tatsächlich der F.D.P. verweigert
- das ist die historische Wahrheit -, das Gleichgewicht zulasten der Mieter zu verschieben. Aber, meine Damen und
Herren, die CDU/CSU wird sich heute nicht dazu drängen
lassen, dieses Gleichgewicht jetzt zulasten der Vermieter
und Investoren zu verschieben. Das ist wirklich Politik
der Mitte.
({8})
Fast noch mehr als der Gesetzentwurf der Regierung
selbst waren für mich Äußerungen der Justizministerin
verblüffend. Eine weitere Kollegin, Präsidentin und
Kronzeugin, war wie ich bei der Veranstaltung des Deutschen Mieterbundes am 12. September hier in Berlin.
Dort kündigte die Ministerin an, dass in der Gesetzgebung
noch die weitere Absenkung der Kappungsgrenze auf
15 Prozent, die Absenkung der asymmetrischen Kündigungsmöglichkeiten für Mieter von sechs auf drei Monate, der Verzicht auf Zustimmungsbedürftigkeit von qualifizierten Mietspiegeln durch die Vermieterseite und eine
ganze Reihe weiterer, im Gesetzentwurf der Regierung
enthaltener Ankündigungen geprüft werden sollen. Ich
frage mich: Was gilt denn nun eigentlich bei der Koalition?
Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, wir sind es ja fast gewohnt und würden es vermissen, wenn Sie nicht, nachdem ein Regierungsvorschlag vorgelegt wird, rufen würden: Das war doch gar nicht so mit uns abgestimmt! Sie
haben am 14. September in der „Berliner Zeitung“ wieder
geklagt, die Bundesregierung habe wichtige Punkte nicht
in den Entwurf aufgenommen, den Sie mit ihr und den
Ländern abgesprochen hätten. Das steht zumindest in der
Zeitung. Vielleicht sind mal wieder die Journalisten
schuld; ich weiß es nicht. Man braucht sich jedenfalls
nicht über Attentismus im Baubereich zu wundern, wenn
mit einem so sensiblen Thema wie der Mietenpolitik in
diesem Land so umgegangen wird.
({9})
Es sind noch einige Worte zum Thema Wohngeld fällig. Die sparsame, aber immerhin drei Jahre früher in
Kraft getretene Novelle - noch von Oswald - ist daran gescheitert, dass Sie sie mit der Blockadepolitik Lafontaines
im Zusammenhang mit dem sozialen Wohnungsbau verknüpft haben. Ich erspare es mir aus Zeitgründen, weiter
darauf einzugehen. Ich erinnere Sie daran, dass Sie ein
Gesetz vorgelegt hatten, das wir in der Substanz unterstützen. Aber hätten wir es durchgehen lassen, insbesondere im Bundesrat mit den von der Union geführten Ländern, dass Sie Wohltaten auf Kosten von Ländern und
Gemeinden spenden, wäre dieses Wohngeldgesetz ein
Verschiebebahnhof von 2,5 Milliarden DM geworden.
Das haben wir verhindert, nicht nur die Wohngelderhöhung vor einigen Monaten.
({10})
Wenn man sich die Sache genauer anschaut - das werden wir im Ausschuss noch machen -, merkt man, dass es
da wirklich tolle Sachen gibt. Wir können in diesem Jahr
ein Ausgaben-Ist von 3,4 bis 3,6 Milliarden DM erwarten.
Der Haushaltsansatz für nächstes Jahr beträgt aber nur
4,0 Milliarden DM. Es ist ja fast ein Wunder, wenn man
angeblich das Wohngeld um 1,5 Milliarden DM erhöht,
aber nur eine knappe halbe Milliarde mehr im Haushalt
hat. Der Trick ist ganz einfach: Durch die Deckelung des
pauschalierten Wohngeldes durch Einziehung der Einkommensgrenzen werden wieder 650 Millionen DM in
Richtung Gemeinden abgeschoben. Das sind wieder die
Wohltaten auf Kosten anderer.
Da Sie die Themen Warmmieten und Ökosteuer
schon angesprochen haben, Herr Spanier - ich hätte es
wahrscheinlich gar nicht getan -, muss ich sagen: Es ist
doch unsinnig zu behaupten, das hätte damit überhaupt
nichts zu tun.
({11})
Schauen Sie sich den Mietenindex doch einmal an! Im
Jahre 1998 betrug die Steigerung der Bruttowarmmiete
noch 0,9 Prozent. Zu der Zeit, als der Wohngeld- und Mietenbericht geschrieben wurde, also im Frühjahr dieses
Jahres, betrug sie schon 2,9 Prozent, im August 3,1 Prozent und im September 4,3 Prozent. Meine Damen und
Herren, Sie können sagen, was Sie wollen, aber wenn Sie
die nächste Stufe der Ökosteuer einführen - wenn dies
auch die Kosten für Heizöl nicht betrifft -, wird die Steigerung - unter anderem aufgrund des Euro-Kurses schnell bei 5 Prozent liegen. Das ist die Wahrheit in diesem Land.
({12})
Deshalb fordern wir Sie auf: Denken Sie in der Wohnungspolitik um! Hören Sie mit der Demontage der Eigenheimzulage auf! Bringen Sie endlich den seit Jahren
versprochenen Gesetzentwurf zur Verbesserung des sozialen Wohnungsbaus ein und erhöhen Sie dort insbesondere wieder die Etatansätze! Bringen Sie von den Windfall Profits im Handybereich wenigstens ein kleines
bisschen mit ein! Diese Windfall Profits heißen ja deswegen Windfall Profits, weil Sie sie für eine Entscheidung
von uns, die Sie damals leidenschaftlich bekämpft haben,
kassieren.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Spanier?
Frau Präsidentin, das tue ich deswegen gerne, weil sonst meine Redezeit abgelaufen wäre.
Da haben Sie Recht.
Aber heute sind wir ja großzügig. - Herr Kollege, bitte.
Genau das ist mein Anliegen: Ihre Redezeit zu verlängern.
({0})
Ich möchte auf Ihre Bemerkungen zu den Themen
Warmmiete und Anstieg der Heizkosten eingehen. In der
Tat ist es in den letzten zwölf Monaten zu einem Anstieg
der Heizölkosten von 80 Prozent gekommen; das ist richtig. Für unseren Raum ist das rund 1 DM. Es ist aber auch
richtig, dass wir die Ökosteuer lediglich einmalig, nämlich im April 1999, in einer Größenordnung von 4 Pfennig auf Heizöl erhoben haben. Von allen weiteren Stufen
der Ökosteuer ist das Heizöl ausgenommen. Ähnliches
gilt beim Gas. Hier beträgt die Erhöhung durch die Ökosteuer 0,32 Pfennig.
({1})
- Das ist die Wahrheit. - Wenn man dies zueinander in Relation setzt, dann ist doch völlig klar, dass die Ökosteuer
für diese eklatante Preissteigerung, die viele Mieterinnen
und Mieter belastet - das ist unstrittig -, nicht verantwortlich gemacht werden kann und dass Ihr Hinweis
darauf, wie sich dies in den weiteren Stufen der Ökosteuer
auswirken möge, an der Sache vorbeigeht.
({2})
Herr Kollege
Spanier, zwar wäre es zweckmäßig, wenn Sie stehen bleiben würden, aber wir können uns auch so verständigen.
({0})
Nein, das geht nicht.
Er muss stehen bleiben.
Frau Präsidentin, vielen Dank. - Ich habe ja ausdrücklich gesagt, es
wäre unsinnig, sich bei der Suche nach den Gründen für
diese Entwicklung nur auf ein Thema zu versteifen. Aber
es ist doch richtig, in einer Debatte über Wohnkosten und
Strom zu sagen, dass eine Politik, die durch unbedachte
Bemerkungen den Euro herunterredet
({0})
und dadurch die Importkosten für Öl erst in diesem Umfang in die Höhe getrieben hat, zu der jetzigen Situation
beigetragen hat. Es gibt keinen Bereich der Politik - auch
nicht in der Wohnungswirtschaft -, in dem man nicht
durch fahrlässiges Gerede und selbst durch falsches Handeln in Kleinigkeiten falsche Weichenstellungen vornimmt, aus denen dann andere ihre falschen Schlüsse ziehen. Das ist der Jammer der Ökosteuer - egal, ob mit oder
ohne Bruttowarmmiete.
Meine Damen und Herren, betreiben Sie also die Wohnungspolitik in diesem Land etwas intensiver! Sonst geht
dieses Thema in diesem Superministerium unter.
Vielen Dank.
({1})
Herr Kollege, es gibt
noch eine Zwischenfrage. Wir verlängern Ihre Redezeit
noch einmal. Herr Kollege Grehn hat eine Zwischenfrage.
- Bitte sehr.
Gerne. Diesmal aber nicht Seit‘ an Seit‘.
({0})
- Frau Ostrowski, Sie sind ja gleich noch eine Weile dran.
Jetzt hat der Kollege
Grehn das Wort zu einer Zwischenfrage.
Darauf bezog sich meine
Frage nicht. Meine Fragestellung ist folgende: Können
Sie meine Auffassung zur Wahrheit und nichts als der
Wahrheit teilen, dass 17 Pfennig von den 80 Prozent bzw.
der 1 DM Steigerung der Heizkosten Mehrwertsteuer
sind?
Die Ökosteuer
führt automatisch zu zusätzlicher Mehrwertsteuer. Aber
ich möchte das jetzt nicht unnötig verkomplizieren. Ein
Teil der Erhöhung der Bruttowarmmiete ist durch staatliches Handeln verursacht.
({0})
Es ist unseriös, Kommissionen einzusetzen, um die
Wohnnebenkosten zu senken, und anschließend eine Politik zu betreiben, die die Bruttowarmmieten erhöht.
({1})
Nun hat die Kollegin
Franziska Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr Kollege Kansy, ich verstehe,
dass Sie Sehnsucht nach einem einfachen Weltbild haben. Nach meiner Erinnerung bestand bis zum September 1998 Ihr wohnungs- und mietenpolitisches Weltbild
immer darin zu sagen: Der Wohnungsmarkt ist so wunderbar entspannt und bei den Mieten ist alles so harmlos,
die steigen fast gar nicht. Seit dem Regierungswechsel,
der übrigens nicht erst 1999, sondern schon 1998 war,
dramatisieren Sie und sagen: Die Mieten- und die Wohnkostenentwicklung sind so schlimm. Was passiert denn da
nur? An allem - auch hier haben Sie die Sehnsucht nach
dem einfachen Weltbild - ist diese fürchterliche rot-grüne
Koalition schuld.
({0})
Von einem so gestandenen Marktwirtschaftler erwarte
ich schon, dass er weiß, inwieweit das Kosten-NutzenVerhältnis durch die Marktwirtschaft oder durch die Politik beeinflusst wird.
({1})
Dies hatte ich von dem altgedienten Kollegen Kansy eigentlich erwartet.
Aber ich denke, wir sollten etwas ehrlicher sein und
den Wohnungsmarkt etwas differenzierter betrachten. Wir
wissen alle sehr genau, dass es Regionen gibt, in denen
der Wohnungsmarkt wirklich enorme Probleme aufwirft. Ich nenne nur die Regionen München, Stuttgart,
Frankfurt usw. Dann gibt es Regionen, in denen der Wohnungsmarkt entspannt ist. Dies trifft insbesondere auf
große Bereiche von Nordrhein-Westfalen zu. Dort fangen
die Wohnungsbaugesellschaften an, tatsächlich so etwas
wie Leerstandsprobleme zu bekommen, wovon man sonst
nur im Zusammenhang mit dem Osten redet. Ferner haben wir die Probleme im Osten - wir haben dies hier
schon mehrfach diskutiert -, wo der Leerstand ein zentrales Problem ist. Ich bitte also alle Beteiligten - wir kennen uns nun lange genug und wissen, wie wir fachlich
miteinander diskutieren können -, dementsprechend differenziert an die Wohnungsmarktsituation heranzugehen.
({2})
Tatsache ist, dass wir natürlich auch bei entspannten
Wohnungsmärkten enorme Probleme aufgrund der Mietenentwicklung haben. Die Koalition ist weit davon entfernt, das zu leugnen. Im Gegenteil, wir machen uns Sorgen darüber, weil wir wissen, dass viele Haushalte
Probleme aufgrund der Miethöhen haben. Ich nenne nur
einen der Werte aus dem Wohngeld- und Mietenbericht:
Haushalte mit einem Nettoeinkommen bis zu 2 500 DM
haben eine Wohnkostenbelastung in Höhe von 38 Prozent.
({3})
Das ist eine enorme Belastung. Weil wir uns diese Sorgen
machen, die Sie damals meinten, beiseite schieben zu
können, haben wir die Wohngeldreform nicht nur auf
den Weg gebracht, sondern werden sie zum 1. Januar 2001
auch realisieren.
({4})
Es wird eine Wohngelderhöhung von im Durchschnitt
83 DM geben. Für Familien wird sie im Durchschnitt sogar 120 DM betragen. Ich denke, das ist eine großartige
Leistung. Dazu sollten Sie auch nicht ständig sagen, wir
hätten das verzögert. Wir haben endlich das geschafft, was
Sie jahrelang nicht auf den Weg gebracht haben. Ich
denke, allein dies ist schon eine wohnungspolitische Leistung.
({5})
Wir bringen jetzt auch die Heizkostenpauschale, gekoppelt mit der Entfernungspauschale, auf den Weg. Wir
machen dies nicht, weil wir der Meinung sind, die Ökosteuer sei schuld an der Erhöhung der Heizkosten. Dazu
hat schon der Kollege Spanier zur Genüge gesprochen.
Wir machen dies vielmehr, weil die Heizkosten aufgrund
der marktwirtschaftlichen Entwicklung so enorm gestiegen sind, wir uns aber trotzdem politisch verantwortlich
fühlen. Das ist ein kleiner Unterschied zu dem, was Sie
gesagt haben.
Lassen Sie mich noch auf den Gesetzentwurf der
F.D.P. eingehen. Herr Funke und die anderen Damen und
Herren von der F.D.P., ich muss schon sagen, dieser Gesetzentwurf erschreckt mich eigentlich zutiefst,
({6})
weil er zeigt, dass die F.D.P. nach wie vor nur eine Seite
unserer Gesellschaft sieht und meint, dass es zu den Aufgaben der Politik gehört, einseitig für eine Interessengruppe Politik zu machen und für diese ein Mietrecht auf
den Weg zu bringen.
Sie wollen mit Ihrem Mietrechtsentwurf die Kappungsgrenzen ersatzlos abschaffen. Sie wollen willkürliche Mieterhöhungen bis zur Mietspiegelgrenze möglich
machen. Sie wollen den Mietwucher nicht mehr verbieten
und Änderungskündigungen wieder einführen. Hier zeigt
sich ganz deutlich, für wen die F.D.P. Politik machen will.
Sie wollen ein Mietrecht für Eigentümer, und zwar für
solche, die die Sozialpflichtigkeit des Eigentums überhaupt nicht kennen. Das halte ich für skandalös. Was Sie
uns hier vorlegen, geht politisch in eine unmögliche Richtung und ist typisch für die Partei der Besserverdienenden,
die meint, die anderen sozialen Verantwortlichkeiten existieren nicht.
({7})
Das ist nicht das Mietrecht, das wir für richtig und erstrebenswert halten.
({8})
Wir werden stattdessen ein Mietrecht auf den Weg
bringen, das nicht einseitig ist, sondern das sehr verantwortungsvoll die Bedürfnisse und Interessen der Mieter
und der Vermieter austariert, die in ihrer Hausbewirtschaftung verantwortlich umgehen müssen. Es ist unser
Anspruch, ein solches Mietrecht zu gestalten. Das werden
die Koalitionspartner solidarisch beschließen. So haben
wir das auf den Weg gebracht.
Ich werbe sehr dafür, in der Form Politik zu gestalten,
dass wir nicht mehr eine eindimensionale Politik betreiFranziska Eichstädt-Bohlig
ben, sondern ein mehrdimensionales Austarieren zwischen einander widerstrebenden Interessen vornehmen.
Ich denke, das sollte unser aller Ziel sein, nicht nur der
Koalition, sondern auch der Opposition.
({9})
Frau Kollegin, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin Ostrowski?
Ja, natürlich.
Bitte sehr, Frau Kollegin.
Ich habe noch eine Frage
zur Nichteinseitigkeit des Mietrechts. Frau Eichstädt-Bohlig,
wir waren alle gemeinsam im Forum im Rathaus Charlottenburg. Dort ist vonseiten der Ministerin der Justiz deutlich ausgedrückt und vom Geschäftsführer des Mieterbundes bestätigt worden, dass von den Vorschlägen, die
einerseits von der Vermieterseite und andererseits von der
Mieterseite kamen, nur einer der Mieterseite berücksichtigt wurde, aber etliche der Vermieterseite. Dazu wollte
ich Ihre Meinung hören; denn das hat doch mit Ausgeglichenheit nichts zu tun.
Ich habe die Vorschläge nicht gezählt. Aber
es sind sehr viele mieterfreundliche Ziele in dem Gesetzentwurf enthalten. Ich nenne als ersten Punkt die Absenkung der Kappungsgrenze auf 20 Prozent; das ist ganz
entscheidend. Ich nenne als zweiten Punkt das asymmetrische Kündigungsrecht; auch das ist wichtig. Drittens
wird der qualifizierte Mietspiegel künftig zum vorrangigen Beweismittel; das ist ein weiterer Punkt.
Ich will Ihnen jetzt, um die Redezeit insgesamt nicht zu
sehr zu strapazieren, keine weitere Lektion in diesem Bereich geben. Aber ich bin sicher, dass im Mietrecht wesentlich mehr Punkte der Mieterseite positiv zu Buche
schlagen. Auch der Geschäftsführer des Mieterbundes
wird im Endeffekt dieser Bilanz zustimmen.
({0})
Das wollen wir jetzt
nicht mehr so genau festhalten. - Nun hat der Kollege
Rainer Funke, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin zunächst einmal den Geschäftsführern ganz dankbar, dass sie den Wohngeld- und Mietenbericht 1999 mit dem Gesetzentwurf der F.D.P. zum
Mietrecht verbunden haben. Das zeigt sehr deutlich, dass
für den gesamten Wohnungsmarkt das Mietrecht eine entscheidende Rahmenbedingung ist.
Der Bericht der Bundesregierung zum Wohngeld und
zu den Entwicklungen der Miete weist - das ist schon ausgeführt worden -, für 1998 und 1999 wirklich erfolgreiche Zahlen auf. Danach war bei den Mieten in den Jahren
1998 und 1999 der geringste Anstieg seit der Einführung
des Mietenindexes im Jahre 1961 zu verzeichnen. Diese
Zahlen belegen deutlich die Entspannung auf dem Wohnungsmarkt und bedeuten, dass Angebot und Nachfrage
am Wohnungsmarkt weitestgehend ausgeglichen sind.
Dabei verkenne ich jedoch nicht, dass diese Ausgewogenheit in einzelnen Gebieten - Sie haben es erwähnt,
Herr Spanier - nicht besteht. Aber insgesamt haben wir in
der Bundesrepublik einen ausgeglichen Markt.
Es ist weiterhin festzustellen, dass die Einführung des
Vergleichsmietensystems in den neuen Bundesländern
genauso wie der Fortfall der gespaltenen Kappungsgrenze in keiner Weise zu irgendwelchen Schwierigkeiten in den neuen Bundesländern geführt hat, ganz anders,
als Sie es uns noch in Ihrer Oppositionszeit vorausgesagt
haben. Schließlich ist der Markt noch immer ein besseres
Regulativ als der Eingriff durch gesetzliche Regulierungen;
({0})
und wir wollen den Markt entscheiden lassen, auch bei
Wohnungen und Mieten.
({1})
Unter diesen Umständen ist davor zu warnen, in das
bewährte Mietrecht gravierend einzugreifen. Das soziale
Mietrecht hat sich grundsätzlich bewährt, muss den
Marktverhältnissen jedoch schrittweise angepasst werden.
Das soziale Wohnraummietrecht muss für Mieter und
Vermieter wieder überschaubar, transparent und vor allem
verständlich sein. Durch die vielfältigen Änderungen in
der Vergangenheit ist das Mietrecht im BGB unübersichtlich gegliedert und darüber hinaus in mehrere Gesetze
zergliedert werden. Das führt heutzutage dazu, dass das
Mietrecht sowohl für Mieter als auch für Vermieter kaum
noch handhabbar ist. Ich bin selber in einer Gesellschaft
tätig, die Wohnungen vermietet. Ich kann daher nur appellieren: Wir müssen endlich wieder zu einem Mietrecht
kommen, das handhabbar ist, und zwar sowohl für Mieter
als auch für Vermieter.
({2})
Der Entwurf der F.D.P.-Fraktion bemüht sich daher, ein
ausgewogenes Verhältnis der Interessen von Mieter
und Vermieter herzustellen. Unser Entwurf bemüht sich
um eine klare, verständliche Sprache; das ist auch der
Wunsch des Entwurfes des Justizministeriums. Wir wollen das Mietrecht wieder zum Bürger bringen. Es soll versucht werden, das Mietrecht im BGB in systematischer
Weise zusammenzufassen. Besonders wichtig ist mir dabei, dass der Rechtsfriede zwischen Mietern und Vermietern gewahrt bleibt. Durch klare gesetzliche Regelungen
sollen Rechtsunsicherheiten vermieden werden. Mieter
und Vermieter sollen sich wie echte Vertragspartner verstehen. Eingriffe in das Mietverhältnis durch staatliche
Regulierungen sollten so weit wie möglich vermieden
werden.
({3})
Dass es sich um einen modernen und ausgewogenen
Gesetzentwurf handelt, möchte ich kurz anhand einiger
Beispiele darstellen. Bei der Frage der Mieterhöhung behalten wir das Vergleichsmietensystem, für das es bisher
keine echte Alternative gibt, bei. Besonders wichtig war
es uns aber, bei der Einbeziehung von Wohnraum in die
Vergleichsmieten diejenigen Mieten außer Acht zu lassen,
die sozusagen politisch beeinflusst werden.
Wir haben die Kappungsgrenze bewusst gestrichen;
denn es ist ein ausgeglichener Wohnungsmarkt vorhanden. Wenn ich mir den Mietenbericht ansehe, so ist es
nur konsequent, sie komplett zu streichen und die ortsübliche Vergleichsmiete als alleinige Obergrenze für Mieterhöhungen anzusetzen. Die Kappungsgrenze - wie im
Regierungsentwurf vorgesehen - abzusenken zeigt nur
den Wunsch nach politischer Einflussnahme auf den
Wohnungsmarkt. Das lehnen wir ab.
Bei der Begründung der Mieterhöhung ist die F.D.P.
zur Nutzung moderner Instrumente, wie der Mietdatenbank, bereit. Beim Mietspiegel gehen wir einen eigenen
Weg. Nach unserer Ansicht reicht es für den Mietspiegel,
der als Basis für die Erhöhung dient, aus, wenn sich Mieter- und Vermieterverbände geeinigt haben; denn das ist
die vertragliche Ebene.
Die Umstellung der Mietkaution von Nettomonatsmieten auf Bruttomonatsmieten ist nach unserer Ansicht
dringend notwendig; denn die steigenden Nebenkosten
müssen sich auch insoweit niederschlagen.
Bei der Staffelmiete und der Indexmiete halten wir
eine zeitliche Beschränkung von zehn Jahren für überflüssig und antiquiert. Wir müssen die Vertragsformen an
die jeweiligen Notwendigkeiten der Lebensbedingungen
anpassen, die heutzutage weit stärker variieren als noch
vor zehn Jahren.
Wir wollen einen echten Zeitmietvertrag. Wir trauen
den Mietvertragsparteien zu, dass sie über ihre jeweiligen
Lebensverhältnisse selber entscheiden können und nicht
staatliche Regulierungen benötigen.
Bei der Modernisierungsumlage behalten wir wie die
Bundesregierung den 11-prozentigen Umlagesatz bei.
({4})
Ich glaube, alles andere würde der Bauwirtschaft und
auch der Investitionsbereitschaft der Vermieter schaden.
Wir sind anders als die Bundesregierung der Auffassung, dass asymmetrische Kündigungsfristen keinen Sinn
machen. Auch das widerspricht dem Prinzip der vertraglichen Ebene. Das heißt: Wir wollen, dass Mieter und Vermieter gleiche Rechte und keine unterschiedlichen Rechte
haben.
({5})
Die verbesserte Lesbarkeit des Gesetzes hilft den
Mietern bei der Stärkung ihrer Position. Ich glaube, dass
wir auf diese Weise eher den Rechtsfrieden herstellen
können, als wenn wir durch unklare Gesetze, wie wir sie
jetzt leider haben, für die Vertragsparteien den Anreiz bieten, zu den Gerichten zu rennen, die damit überlastet
wären. Das von uns vorgeschlagene Eintrittsrecht für
Haushaltsangehörige des Mieters bei dessen Tod garantiert langjährigen Mitbewohnern eine Sicherheit, die sie
im Fall des Todes des Mieters bisher nicht hatten. Auch
das ist ein Teil unseres sozialen Mietrechts.
Lassen Sie mich, Herr Dr. Kansy, noch ein Wort zu dem
sagen, was wir in der letzten Legislaturperiode - Sie haben es selber angesprochen - gemeinsam vorgehabt haben. Wir haben gemäß dem Koalitionsvertrag gemeinsam
daran gearbeitet und nur ein Veto aus München hat uns
daran gehindert, dieses Gesetz einzubringen. Wir hatten
gemeinsam einen vernünftigen Entwurf vorbereitet, der
dann von Herrn Stoiber und Herrn Beckstein verhindert
worden ist. Ich will das nur noch einmal der Wahrheit wegen erwähnen. Es wäre besser gewesen, wenn wir dieses
Mietrecht in der letzten Legislaturperiode beschlossen
hätten, denn dann würde dieser unsinnige Gesetzentwurf,
der jetzt von der rot-grünen Koalition eingebracht und
wahrscheinlich in den nächsten Monaten beraten wird man ist offensichtlich noch nicht ganz so weit -, am Ende
nicht im Bundesgesetzblatt stehen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Jetzt hat die Kollegin
Christine Ostrowski von der PDS-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Sie gestatten, dass ich etwas problematisiere:
Erstens. Selbst bei dem entspannten Wohnungsmarkt
im Jahre 1998 betrug die Differenz zwischen Haushalten und Wohnungen nach dem Statistischen Bundesamt - Sie können es sich auf der Homepage selbst ansehen - rund 1 Million. Das heißt: es fehlten 1 Million
Wohnungen - vorrangig im Westen -, und zwar trotz sinkender Bevölkerung bereits im Jahre 1998 und trotz eines
großen Leerstandes im Osten.
Zweitens. Die Bautätigkeit nahm schon damals ab.
Jetzt greift der Trend vom Mietwohnungsbau auf den Eigenheimbau über, der Markt zieht an, die Mieten steigen
und das Bauen ist bereits unter den Ersatzbedarf gesunken; Herr Dr. Kansy, da haben Sie vollkommen Recht.
Das ist die nüchterne Lage.
Die Ursache ist nun nicht nur - wie Sie es im Bericht
schreiben - die Entspannung auf dem Wohnungsmarkt,
die Ursache liegt vielmehr in dem Rückzug aus der Finanzierung, in der Streichung steuerlicher Vorteile bei
gleichzeitigem Rückzug aus dem sozialen Wohnungsbau.
Ich werfe Ihnen wahrhaftig nicht die eine oder andere
Maßnahme vor - es sind auch viele gute dabei -, aber ich
muss Ihnen schon vorwerfen, dass Ihre Gesamtpolitik auf
eine neue Wohnungsknappheit hinausläuft. Dies sagen
auch alle Experten und ich denke, man kann sich das ausrechnen.
Drittens. Der Wohnungsmarkt ist zweigeteilt; auch das
wird in dem Bericht verniedlicht. Während im Westen
Wohnungen fehlen, haben wir im Osten über 1 Million
Wohnungen leer stehen, und dieser Leerstand erhöht sich
definitiv weiter, weil die Sterberate die Geburtenrate deutlich übersteigt. Sie haben außer einer der Situation nicht
adäquaten Novelle des Altschuldenhilfe-Gesetzes seither
nichts unternommen, und zwar überhaupt nichts. Es stellt
sich uns allen die Frage: Entweder wird der Osten das
Altersheim mit zerfallenden Städten oder Sie entschließen
sich zu einem geordneten Umbau, und dieser ist nur mit
einem hohen Subventionsaufwand zu haben. Diese Entscheidung müssen Sie treffen.
Viertens. Es ist richtig: Der Mietindex war kurze Zeit
auf einem historischen Tiefststand. Man sollte aber nicht
vergessen, dass in all den Jahren, selbst auf dem tiefsten
Punkt, der Mietindex immer über dem Lebenshaltungskostenindex lag und dass gegenwärtig der Mietindex gegenüber den Lebenshaltungskosten um das Doppelte
steigt.
In dem Index sind die Heizkosten noch nicht einmal
enthalten. Es ist schon gesagt worden, dass dadurch ein
falsches Bild entsteht. Im letzten Jahr stieg der Preis für
Heizöl um fast 80 Prozent, der für Gas um 20 Prozent und
der für Zentralheizung und Fernwärme um 26 Prozent.
Auch die Mietbelastung steigt und steigt. Im
Jahre 1998 machte sie bei einem Durchschnittshaushalt
ein Viertel aus. Sie marschiert in raschen Schritten auf ein
Drittel zu. Ganz besonders betroffen sind Bezieher von
Niedrigeinkommen. Wer unter 1 000 DM Einkommen
hat, gibt heute schon zwei Drittel seines Einkommens für
Wohnen aus. Bei denjenigen, die ein Einkommen von
mehr als 5 000 DM haben, liegt der Anteil bei weit unter
einem Fünftel.
Ich weiß nicht, wo diese Entwicklung noch hinführen
soll. Der Mensch muss auf alle Fälle wohnen. Er muss
essen und sich kleiden können. Er kann vielleicht auf andere Dinge verzichten.
({0})
Wenn diese Entwicklung so weitergeht, dann muss etwas
geschehen; denn man darf die Augen vor einer solchen
Entwicklung nicht verschließen.
Sie verschließen - wie die Vorgängerregierung - die
Augen auch vor der Entwicklung der Nebenkosten. Ich
denke, Sie kratzen an der Oberfläche. Sie setzen auf der
Ebene des Mieters an - der Mieter soll sparen - und Sie
setzen richtigerweise bei der Wärmedämmung der Gebäude an. Infolge dessen sollen die Kosten sinken. Die eigentlichen Kostenverursacher aber sind die jeweiligen
Ver- und Entsorgungsbetriebe. In der Bundesrepublik gilt
das Kostendeckungsprinzip. Egal, wie teuer oder ineffizient der jeweilige Betrieb produziert: Der Mieter muss die
Kosten über die Gebühr decken.
({1})
Wenn Sie nicht die Bedingungen schaffen, durch die eine
kostengünstige Arbeit der Ver- und Entsorgungsbetriebe
erzwungen wird, dann werden wir es zukünftig mit Nebenkosten zu tun haben, gegenüber denen die jetzigen ein
Klacks sind.
({2})
Zum Wohngeld. Auch hierbei lasse ich alles Oberflächliche beiseite. Beim Wohngeld zeigt sich ein in einem Besorgnis erregenden Ausmaß steigender Trend. Das
ist so, seit es eingeführt wurde; seit Anfang der 90er-Jahre
gibt es einen besonders starken Knick nach oben. Da kann
man sagen: Es ist toll und wunderbar, wie der Staat hilft.
Man kann aber auch auf die Defizite gucken. Offensichtlich ist die Gesellschaft so gestrickt, dass immer mehr
Menschen das Wohnen nicht mehr aus eigenem Einkommen bestreiten können. Im Osten sind es 11 Prozent, im
Westen 7 Prozent. Das Spannende ist, dass das trotz einer
Wohnungsförderung passiert, deren Ziel es ist, bezahlbares Wohnen für breite Schichten der Bevölkerung zu
sichern. Obwohl also Milliarden über Milliarden jahrzehntelang in die Förderung gegangen sind, sind die
Wohngeldausgaben rasant gestiegen und ein Ende ist
nicht abzusehen. Das heißt: Die Förderung des Wohnungsbaus hat offensichtlich ihr Ziel - bezahlbares Wohnen für breite Schichten - verfehlt. Heute müssen breite
Schichten zusätzlich über das Wohngeld gefördert werden. Das ist ein Widerspruch in sich. Ich sage das so nachdrücklich, damit Sie sich nicht in eine Reform des Sozialwohnungsbaus stürzen, ohne sich dieses Widerspruchs
bewusst zu sein.
Die Lage, meine Damen und Herren, ist sehr viel kritischer, als es im Bericht zum Ausdruck kommt. Ich weiß,
dass Sie nicht gern auf meine Ratschläge hören. Ich gebe
Ihnen dennoch zum Schluss den Ratschlag: Reden Sie
sich die Welt nicht schön! Analysieren und problematisieren Sie die realen Prozesse; denn nur so werden Sie zu einer sachgerechten und gerechten Politik kommen! Ein
ausreichender Wohnungsbestand ist immer noch der beste
Mieterschutz. Für den Fall, dass es so weit kommen sollte,
dass Sie mit Ihrer Politik in Richtung einer Verstetigung
steuern, möchte ich darauf hinweisen, dass das Mietrecht,
zu dem ich aus Zeitgründen nicht sprechen kann, dann
flankierend seinen Beitrag zum sozialen Wohnen leisten
muss.
Jetzt hat der Parlamentarische Staatssekretär Achim Großmann das Wort.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Wohngeldund Mietenbericht bietet immer die Chance - das haben
wir auch an dem gemerkt, was Herr Kansy hier vorgetragen hat -, nicht nur über den Bericht selbst zu sprechen,
sondern auch ein bisschen Fazit dessen zu ziehen, was
wohnungs- und städtebaupolitisch in den letzten Jahren
geschehen ist. Ich denke, es macht Sinn, nicht nur über die
Zahlen zu sprechen - die Zahlen sind schon fast Vergangenheit -, sondern auch darüber zu reden, was nach diesem Wohngeld- und Mietenbericht auf der Tagesordnung
steht und wie sich die Wohnungspolitik weiterentwickeln
wird.
Zunächst einmal muss man einiges zurechtrücken,
Herr Kansy. Sie haben gesagt, noch keine Regierung
hätte, was den Wohnungsbau anbetrifft, eine so glänzende
Ausgangsposition gehabt. Ich hatte heute Morgen die Gelegenheit, auf dem Verbandstag des Bundesverbandes
deutscher Wohnungsunternehmen genau diese Bilanz
aufzumachen, nämlich die Eröffnungsbilanz, die wir machen mussten, als wir die Regierung übernommen haben.
Wohngeld? - Nicht reformiert! Sozialer Wohnungsbau? Nicht reformiert! Überforderte Nachbarschaften? - Nicht
angepackt! Altschuldenhilfe-Gesetz? - Nicht novelliert!
Leerstand? - Kopf in den Sand gesteckt! Mietrecht? - In
der Schublade geblieben! Steuerliche Abschreibungen? Nach wie vor bei Luxusmodernisierungen möglich!
Das war die Eröffnungsbilanz, die wir aufmachen
mussten, als wir die Regierung übernommen haben.
({0})
Wir haben dann relativ schnell begonnen, diesen Reformstau aufzudröseln und abzubauen. Wenn man sich die
Koalitionsvereinbarung einmal anschaut - man kann jetzt
die Halbzeitbilanz dieser Legislaturperiode ziehen -,
dann wird einem relativ schnell auffallen, was wir alles
abgearbeitet haben. Ich kann Ihnen das vorbuchstabieren
und möchte das auch bei den wichtigsten Punkten tun,
weil ich das für notwendig erachte.
Wir haben gesagt: Wir verstärken die Städtebauförderung. Diese wird durch das Programm „Die soziale Stadt“
ergänzt, das für die Förderung von Stadtteilen, Innenstädten, Großsiedlungen und Stadtteilzentren mit besonderem
Entwicklungsbedarf gedacht ist. Dieses Programm haben
wir aufgelegt. Wenn man sich den nächsten Haushalt und
die damit zusammenhängende mittelfristige Finanzplanung anschaut - das sind insgesamt sechs Jahre -, dann
wird man feststellen, dass wir zusammen mit der Kofinanzierung der Länder und Gemeinden 1,8 Milliarden DM
für die Förderung benachteiligter Stadtteile zur Verfügung
stellen. Das ist ein großartiger Erfolg für eine Wohnungsund Städtebaupolitik in diesem Lande.
({1})
Hinzu kommen noch die Mittel aus anderen Ressorts.
Das betrifft sowohl die Mittel der Bundesressorts als auch
die der Länderressorts und auch die Mittel der Europäischen Union. Wir sorgen durch Vernetzung, wissenschaftliche Begleitung und „benchmarking“, dass die bisherigen Erfahrungen auch an die Stadtteile vermittelt
werden, die noch nicht unmittelbar in das Programm einbezogen worden sind - immerhin gibt es schon 210 Projekte in 157 Gemeinden -, sodass auch diese Stadtteile die
Chance haben, von dem bisher gewonnen Fachwissen zu
profitieren und mit ihrer Arbeit anzufangen.
Der nächste Punkt betrifft den sozialen Wohnungsbau. Die alte Koalition hatte die Eckwerte überhaupt
nicht mit den Ländern abgesprochen. Wir sind den umgekehrten Weg gegangen: Wir haben uns zunächst mit den
Ländern zusammengesetzt und haben gesagt: So sehen
unsere Vorstellungen aus! Daraus haben sich nicht nur die
Eckwerte ergeben, sondern auch Zielvorstellungen entwickelt.
Herr Kansy, Sie haben immer gefragt: Wo bleibt die
seit Jahren versprochene Reform des sozialen Wohnungsbaus? Wir sind doch schon mitten in der wohnungspolitischen Diskussion. Wir haben im vergangenen Dezember
die Eckwerte vorgelegt. Ich habe Ihnen darüber immer
Bericht erstattet. Im März hat die Arbeitsgruppe, die zusammen mit den Ländern die Eckwerte zu Papier gebracht
hatte, ihre Arbeit beendet. Im Mai fand eine Sitzung der
Argebau, die Konferenz der Bauminister, statt. Ebenfalls
im Mai haben wir im Ausschuss gesagt: Jetzt arbeiten wir
unmittelbar an dem Gesetzentwurf. Wir werden Anfang
November einen entsprechenden Referentenentwurf vorlegen und werden dann diese wichtige Reform auf den
Weg bringen.
Dass wir hinsichtlich der Finanzierung des sozialen
Wohnungsbaus noch nicht so weit gekommen sind, wie
wir kommen wollten, liegt an einer anderen Altlast, die
wir von Ihnen übernommen haben, nämlich an dem
Wohngeld, das zehn Jahre lang nicht reformiert worden
ist. Angesichts der Tatsache, dass der Staat 1 500 Milliarden DM Schulden hat und wir deshalb einen Konsolidierungskurs verfolgen müssen, mussten wir uns entscheiden, wo wir beginnen wollen. Wir mussten - das war
eindeutig - beim Wohngeld beginnen; denn tatsächlich
gab es nur noch - auch eine Hinterlassenschaft der alten
Regierung - 2 Millionen Wohnungen mit Sozialbindung.
Da wir den tatsächlichen Bedarf nicht allein durch Baumaßnahmen befriedigen können, mussten wir den Menschen, deren Einkommen aufgrund des nicht angehobenen Wohngeldes de facto über den Einkommensgrenzen
lagen, deshalb keine Sozialwohnung bekamen und
dadurch wirklich sozial ungerecht behandelt wurden, die
Möglichkeit geben, eine vernünftige Wohnkaufkraft
nachzuweisen, damit sie auch eine Wohnung bekommen
können, die nicht in der Bindung ist. Deshalb stand die
Reform des Wohngeldes eindeutig auf Platz eins der Prioritätenliste. Diese greift zum 1. Januar 2001.
({2})
- Herr Kansy, da Sie die Kürzungen ansprechen, möchte
ich Ihnen vorrechnen: Sie haben in den letzten vier Jahren, in denen Sie die Regierungsverantwortung hatten, die
Mittel für den sozialen Wohnungsbau von 3,9 Milliarden DM auf 1,3 Milliarden DM gekürzt. Sie haben also
um 2,6 Milliarden DM gekürzt. Dafür sind Sie verantwortlich! Wir haben - das tut uns weh - die Mittel von
1,2 Milliarden DM auf 0,45 Milliarden DM - das sind
750 Millionen DM - gekürzt. Das ist schon ein kleiner
Unterschied.
({3})
Die Leute merken, wer mit der Sense gekürzt hat. Wir sorgen zusammen mit den Finanzministern aller BundeslänParl. Staatssekretär Achim Großmann
der dafür, dass durch die Reform, die wir jetzt auf Kiel
legen, wieder mehr Geld zur Verfügung steht.
({4})
Wir sollten uns vergegenwärtigen, dass wir die
Schwierigkeiten der Wohnungsbauunternehmen in den
neuen Bundesländern gut im Griff haben. Wir haben das
Altschuldenhilfe-Gesetz novelliert. Wir haben die
Rechtsverordnung nach § 6a AHG so weit ausgearbeitet,
dass wir sie bald in den Ausschuss geben können. Weitere
Einzelheiten kann ich mir ersparen, weil wir am Freitag
der letzten Sitzungswoche die Möglichkeit hatten, sehr intensiv über das Problem des Wohnungsleerstands in den
neuen Bundesländern zu sprechen.
Fazit: Wir haben uns nach der sehr negativen Eröffnungsbilanz im Bereich des Wohnungs- und Städtebaus
auf den Weg gemacht, den Reformstau zu lösen. Wir haben beim Wohngeld, beim sozialen Wohnungsbau und
beim Wohnungs- und Städtebau in den neuen Bundesländern deutliche Fortschritte gemacht. Wir sind auf die
Halbzeitbilanz dieser Legislaturperiode sehr stolz.
Vielen Dank.
({5})
Jetzt hat der Kollege
Ronald Pofalla, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Das Mietrecht ist und bleibt
eines der unübersichtlichsten und am stärksten von abweichenden Einzelfallentscheidungen geprägten Rechtsgebiete. Kaum ein anderes Rechtsgebiet betrifft die Bürger dabei so unmittelbar. Nahezu jeder wird in seinem
Leben mit den Wägbarkeiten, man müsste besser formulieren: mit den Unwägbarkeiten dieser Materie konfrontiert. Insbesondere die Höhe der Mieten beeinflusst das
Leben und die Lebensführung eines Großteils der Bevölkerung ganz direkt.
Der notwendig Spagat zwischen den Vermieter- und
den Mieterinteressen im Wohnraummietrecht macht eine
ausgewogene Neuregelung des Mietrechts besonders
schwierig. Sich hier nicht von Gruppeninteressen beeinflussen zu lassen und eine wirklich gerechte Lösung zu
finden muss das Ziel sozialen Wohnraummietrechts sein.
Diesem Ziel werden nach unserer Überzeugung beide
vorliegenden Gesetzentwürfe nicht ganz gerecht.
({0})
Der Entwurf des Bundesrates über ein Zweites
Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Regelung der
Miethöhe, dessen Regelungsziel darin besteht, eine beschleunigte Mietpreisentwicklung bei Sozialwohnungen
im mittleren Preissegment zu verhindern, bevorteilt den
Mieter nach unserer Überzeugung zu stark. Dies wird insbesondere daran klar, dass die Kappungsgrenze lediglich
im Preisbereich unterhalb der Vergleichsmiete wirkt.
Die bisher niedrige Kappungsgrenze von 20 Prozent in
drei Jahren für den Wohnraum, der vor 1981 errichtet
wurde und dessen Quadratmeterpreis über 8 DM liegt,
macht das Heranführen billigen Wohnraums an die Vergleichsmiete zu einem sehr langwierigen Unterfangen.
Der private Vermieter wird genötigt, mit Mieterhöhungen
möglichst an der Vergleichsmiete zu bleiben. Eine niedrige Kappungsgrenze fordert den Vermieter geradezu heraus, jede mögliche Mieterhöhung mitzunehmen, um nur
nicht von der Vergleichsmiete abgehängt zu werden.
({1})
Denn versäumt er - zum Beispiel aus persönlichen Gründen - an sich zulässige Mieterhöhungen über längere Zeit,
dann ist es für ihn äußert schwierig, wieder an die Vergleichsmiete heranzukommen. Angesichts der moderaten
Mietpreisentwicklung - sie betrug im letzten Jahr 1,1 Prozent; das haben wir gerade mehrfach gehört - spielt die
Kappungsgrenze in der Praxis nur eine geringe Rolle.
Hier mag es regionale Unterschiede geben, doch im
Großen und Ganzen ist eine Neuauflage der zum 1. September 1998 ausgelaufenen Regelung abzulehnen.
Auch der Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung
des Mietrechts der F.D.P.-Fraktion bevorteilt eine der
Interessengruppen zu stark. Im Falle dieses Entwurfes ist
dies natürlich die Vermieterseite; das kann nicht überraschen. Zwar fußt der Gesetzentwurf im Wesentlichen auf
den Vorschlägen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe aus
dem Jahre 1996/97, doch sind hier wesentliche Punkte des
Entwurfes aufgrund eines nicht gelungenen Interessenausgleichs zwischen Mieter und Vermieter abzulehnen.
Zu nennen sind hier insbesondere die Einführung eines
allgemeinen, fristlosen, zu Gunsten des Vermieters zu
weit gehenden Kündigungsrechts und die Einführung einer zeitlich unbegrenzten Zulässigkeit der Staffelmiete,
die einem Missbrauch Tür und Tor öffnen könnte; auch
die vorgesehene Zulässigkeit der Indexmiete ohne Genehmigungspflicht durch die Landeszentralbanken in der
Neufassung des § 560 b BGB des Entwurfes erscheint
zumindest bedenklich.
Eine zwar mieterfreundliche, jedoch aus anderen
Gründen zum jetzigen Zeitpunkt abzulehnende Regelung
des Gesetzentwurfs ist die Erweiterung des Eintrittsrechts im Haushalt des Mieters lebender Personen bei
Versterben des Mieters. Dieses Eintrittrecht soll laut Gesetzentwurf für all diejenigen Personen gelten, die, ob unterschiedlichen Geschlechts oder nicht, zuvor auf Dauer
in einem Haushalt mit dem Mieter gelebt haben. Damit
ich nicht falsch verstanden werde, füge ich hinzu: Ich bin
nicht der Auffassung, dass diese Regelung in der Sache
falsch sei. Nur glaube ich, dass wir die Debatte über diesen Punkt nicht an dieser Stelle unter mietrechtlichen Gesichtspunkten führen sollten, sondern im Zusammenhang
mit den mittlerweile schon in der Detailberatung befindlichen Entwürfen zur Frage gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften. Ich halte eine isolierte Debatte unter
mietrechtlichen Gesichtspunkten für falsch.
({2})
Anhand der letzten zwei von mir noch zu erwähnenden
Punkte möchte ich jedoch noch einmal die übertriebene
Vermieterfreundlichkeit des F.D.P.-Gesetzentwurfs aufzeigen. Da ist zum einen die Verkürzung des Kündigungsschutzes nach Umwandlung der Mietwohnung in
eine Eigentumswohnung auf drei Jahre. Noch weiter geht
hier sogar die Regelung, der zufolge der Vermieter sofort
und fristlos kündigen kann, wenn er vergleichbaren
Wohnraum in der Nähe anbietet und die Umzugskosten
erstattet.
Zum anderen ist die Aufhebung des § 5 des Wirtschaftsstrafgesetzes vorgesehen, wodurch eine strafbare
Handlung bei Missbrauch der Vermieterstellung und
-rechte nur noch dann vorläge, wenn § 291 des Strafgesetzbuches, Wucher, einschlägig wäre. Dies bedeutete
eine erhebliche Erhöhung der Eingriffsschwelle, durch
die wiederum dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet
würde.
Angesichts der eben angeführten zahlreichen Bedenken kann diesem Gesetzentwurf in der vorliegenden Form
nicht zugestimmt werden.
({3})
Die Bevorzugung des Vermieters ist nach unserer Überzeugung unübersehbar. Ich weise hier noch einmal darauf
hin, dass ein ausgewogener Mittelweg gefunden werden
muss. Die grundsätzlich vorgesehene Vereinfachung und
bessere Transparenz, die durch die geplante einheitliche
Zusammenfassung des Mietrechts im BGB erreicht wird,
ist zu begrüßen.
Für meine Fraktion biete ich an, dass wir uns an den
Beratungen auch vor dem Hintergrund eines möglichen
Regierungsentwurfes konstruktiv beteiligen werden. Wir
werden allerdings einer einseitigen Bevorzugung der Vermieter- oder der Mieterseite im Plenum des Deutschen
Bundestages keinesfalls die Zustimmung geben können.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat der Kollege Helmut Wilhelm, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., auf der
ersten Seite Ihres Antrags haben Sie Recht: Das Mietrecht
bedarf der Novellierung und Vereinfachung. Sie schreiben:
Kein anderes Rechtsgebiet ist für weite Teile der Bevölkerung von so großer Bedeutung für das tägliche
Leben wie das Mietrecht.
Richtig!
Mit der hohen Bedeutung des sozialen Wohnraummietrechts geht jedoch bisher keine entsprechende
Überschaubarkeit, Transparenz und Verständlichkeit
einher.
({0})
Richtig! Da sind wir uns absolut einig.
Vielmehr ist das Mietrecht unübersichtlich gegliedert und auf mehrere Gesetze verteilt.
Auch das ist richtig.
Diese gegenwärtige Zersplitterung des Mietrechtes
ist das Ergebnis jahrzehntelanger unsystematischer
Gesetzesänderungen.
Richtig!
({1})
- Gut, Sie erinnern sich also.
Wer aber war in den letzten Jahren an der Regierung?
Sie hatten dies zusammen mit der CDU/CSU in den vergangenen Legislaturperioden zu verantworten. Gerade
deswegen arbeitet die Regierungskoalition an einem
neuen Mietrecht. Gerade deshalb hat die Bundesregierung
über den Bundesrat einen Gesetzentwurf eingebracht, der
diesem Missstand endlich abhelfen soll.
Meine Damen und Herren von der F.D.P., Sie haben
aber meines Erachtens nicht mehr Recht, wenn Sie
schreiben:
Bei beiden Gesetzentwürfen
- also auch bei dem der Bundesregierung ist bereits jetzt zu erkennen, dass hier einseitig zielgerichtet die Rechte des Vermieters geschwächt und
die Rechte des Mieters gestärkt werden sollen.
Gerade bei einer Rechtsproblematik, die im täglichen Leben in die Interessen- und Betroffenheitssphäre vieler
Bürger weitreichend eingreift,
({2})
ist zwingend geboten, die beiderseitigen Interessen abzuwägen. Dies tut der Entwurf der Bundesregierung.
Interessanterweise kommen auch Sie in Ihrem Entwurf
in einer Reihe von Punkten zu ähnlichen Regelungen wie
der Regierungsentwurf. Dort aber, wo soziale Gesichtspunkte eigentlich höherrangig zu werten wären, stehen
bei Ihnen wirtschaftliche Interessen manchmal doch zu
sehr im Vordergrund. Namentlich möchte ich hier benennen - ich fand es interessant, dass auch die Kollegen von
der CDU zu ähnlichen Ergebnissen gekommen sind -:
Erstens: die völlige Abschaffung der Kappungsgrenzen. Ich habe ein bisschen den Eindruck, dass Sie sich in
Ihrer Fraktion selber nicht ganz einig waren; denn in der
Überschrift Ihres § 561 steht interessanterweise noch das
Wort „Kappungsgrenze“. Es mag sein, dass Mieten ohnedies durch die örtlichen Vergleichsmieten nach oben gedeckelt sind; dennoch sollten Mieter in den wenigen Fällen, in denen die Vergleichsmieten um mehr als ebendiese
Kappungsgrenze höher liegen, vor zu hohen Preissprüngen geschützt werden.
({3})
Zweitens: Erleichterung der Verwertungskündigung,
§ 575 Ihres Entwurfs. Liebe Kolleginnen und Kollegen,
an diesem Punkt sollten Sie sich tatsächlich noch einmal
überlegen, ob Sie das wirklich wollen.
({4})
Denn nach dem Wortlaut Ihres Entwurfs genügt jeder,
aber wirklich jeder noch so kleine Vorteil, um Mieter auf
die Straße zu setzen.
({5})
Wollen Sie wirklich die Voraussetzung des erheblichen
Nachteils entfallen lassen?
Drittens: Aushöhlung des Mieterschutzes bei Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen.
Es gibt wirklich Städte mit besonders hohem Mietwohnungsbedarf - die Auswahl können wir getrost den Ländern überlassen -, in denen drei Jahre viel zu kurz sind.
Viertens: Aufhebung des § 5 des Wirtschaftsstrafgesetzes. Die darin vorgesehene Sanktion gegenüber unverhältnismäßig hohen Mieten hat in erster Linie eine wichtige Appell- und Präventivfunktion und entfaltet eine
unverzichtbare Schutzfunktion im Einzelfall. Ich meine,
dabei sollten wir es wirklich belassen.
({6})
Ich verstehe natürlich, dass Sie vorrangig die Interessen Ihrer Hauptwählerschichten vertreten.
({7})
Soziale Aspekte lässt der Antrag in manchen Punkten
doch vermissen.
Frau Kollegin,
„Quatsch“ ist nicht so ganz parlamentarisch.
({0})
Sie werden sicherlich Verständnis dafür haben, dass ich den Regierungsentwurf für den ausgewogeneren und sachgerechteren halte.
({0})
Zum Abschluss hat
der Staatssekretär Dr. Eckhart Pick das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Etwas ist natürlich erstaunlich: Es wurde sehr viel
über den Regierungsentwurf gesprochen, der heute eigentlich noch gar nicht zur Debatte steht.
({0})
Herr Funke, Sie wissen, er ist auf einem guten Wege.
Er geht den verfassungsgemäß vorgezeichneten Weg.
Jetzt nimmt der Bundesrat Stellung. Der Bundesrat hat
sich mit diesem Entwurf bekanntlich vor kurzem beschäftigt, mit zum Teil sehr überraschenden Ergebnissen,
die wir einmal gemeinsam analysieren sollten. Der Gesetzentwurf wird dann, wenn der Bundesrat Stellung genommen hat, dem Bundestag zugeleitet. Danach wird die
Debatte in den zuständigen Gremien, in den Ausschüssen,
beginnen. Ich finde, es ist durchaus erfreulich, dass diese
Diskussion bereits jetzt begonnen hat. Wir können uns eigentlich nichts Besseres wünschen, als dass frühzeitig und
in aller Öffentlichkeit über ein wichtiges Thema diskutiert
wird. Deswegen bin ich sehr froh, dass unser Gesetzentwurf schon in der Debatte ist.
Dass wir damit übrigens einem Auftrag des Bundestages folgen, den er 1974 formuliert hat, ist ebenfalls bemerkenswert. Die Jubiläumszahl von 25 Jahren, ist schon
überschritten. Dass diese Bundesregierung es geschafft
hat, innerhalb einer, wie ich finde, kurzen Zeit einen Gesetzentwurf vorzulegen, ist durchaus beachtlich.
({1})
Meine Damen und Herren, wir haben ja heute zwei
mietrechtliche Anträge: einmal den Gesetzentwurf des
Bundesrates, zum anderen den Gesetzentwurf der F.D.P.
Bei der Vorlage des Bundesrates fällt mir auf, dass hiermit eigentlich wieder ein Rückfall in eine alte Regelung
vorgeschlagen wird, nämlich die Wiedereinführung einer
gespaltenen Kappungsgrenze, die wir bis September
1998 hatten. Mit Verweis auf den Regierungsentwurf
kann ich da nur sagen: Wir halten eine unterschiedliche
Kappungsgrenze bei Altbaubeständen, die entweder vor
oder nach einem bestimmten Jahr errichtet wurden, nicht
für angemessen, sondern aus Gründen der Vereinfachung,
Rechtssicherheit und Klarheit muss es eine einheitliche
Kappungsgrenze geben.
({2})
Dazu werden wir eine Grenze von 20 Prozentpunkten vorschlagen.
({3})
Ein anderer Punkt ist, dass nach unserem Konzept das
Miethöhegesetz ins BGB einbezogen werden soll. Das
dient der Klarheit, der Verständlichkeit und der Transparenz des Mietrechtes. Ich glaube, dass das ein richtiger
Ansatz ist. Es ist in der Tat so, dass wir von einer Vereinfachung und Klarstellung des Mietrechtes erwarten, dass
es wesentlich weniger Rechtsstreitigkeiten als bisher gibt.
Es gibt rund 300 000 Mietrechtsstreitigkeiten pro Jahr.
Wenn es uns gelingt, einen Teil davon - ich bin da nicht
so pessimistisch - zu vermeiden, ist das schon ein Erfolg
einer Mietrechtsnovelle.
Mit dem Entwurf des Bundesrates kann sich die Bundesregierung deshalb natürlich nicht anfreunden. Es wird
in unserem Gesetzentwurf zudem zu einer Einbeziehung
des Miethöhegesetzes in das BGB kommen.
Helmut Wilhelm ({4})
Nun zum Antrag der F.D.P. - dazu wurde schon einiges
gesagt -: Es ist richtig, dass dieser Entwurf auf den Ergebnissen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe fußt. Ohne irgendeinen Anflug von Unbescheidenheit kann man sagen: Es ist gut, dass man sich der damaligen Ergebnisse
dieser kundigen Kommission bedient. Das tun ja alle: der
Bundesrat, die Bundesregierung und auch einzelne Fraktionen. Hier ist sicher eine sehr gute Vorarbeit geleistet
worden. Aber es kommt auch darauf an, wie man diese Ergebnisse fortschreibt und wo Akzente gesetzt werden. Bei
Ihnen, Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., werden
sie einseitig zugunsten der Investoren gesetzt.
({5})
Insofern hat der Entwurf nicht die soziale Symmetrie, die
Sie sonst stets von uns einfordern.
({6})
Sie wollen die Kappungsgrenze ersatzlos streichen.
Diese Methode können wir nicht gutheißen. In weiten Bereichen gibt es sicherlich einen entspannten Mietmarkt.
Aber gerade dort, wo der Mietmarkt noch angespannt ist,
nämlich in den Großstädten, sind noch immer erhebliche
Sprünge bei den Mieten von Wohnungen festzustellen, die
aus der Mietpreisbindung herausfallen. Diese können
leicht 20 oder 30 Prozent betragen, ohne dass sie die
ortsübliche Vergleichsmiete erreichen. Hier ist die Kappungsgrenze ein Regulativ und hat auch einen gewissen
Appell-Effekt. Das will ich nicht verschweigen.
Herr Staatssekretär,
gestatten Sie nun eine Zwischenfrage?
Ja, natürlich.
Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Staatssekretär, ich wehre
mich als F.D.P.-Bundestagsabgeordnete dagegen, dass Sie
die gleiche Behauptung, wie sie auch dauernd aus dem
Kreise Ihrer Fraktion kommt, aufstellen, nämlich wir
würden nur die „Reichen“ berücksichtigen. Ich möchte
Sie fragen, Herr Staatssekretär, ob nicht auch Sie mit mir
der Meinung sind, dass wir die Interessen der Kapitalanleger auch auf den Mietwohnungsbau lenken sollten. Dieses Interesse verfolgen wir mit unserem Entwurf. Es nützt
nämlich den Wohnungssuchenden überhaupt nichts, wenn
die Kapitalanleger keinerlei Interessen haben, ihr Geld in
den Mietwohnungsbau zu stecken. Wenn Sie selber einmal in diesem Bereich nicht auf der Seite der Mieter, sondern auf der anderen Seite betroffen sein würden, wüssten
Sie, dass es in diesem Bereich nicht nur positive Beispiele
gibt. Das kann ich Ihnen sagen.
Frau Kollegin, wenn Sie zugehört
haben,
({0})
dann wissen Sie, dass ich kritisiert habe, dass dieser Entwurf einseitig zugunsten der Investoren formuliert ist.
Das ist an dem Beispiel der Kappungsgrenze deutlich zu
erkennen.
Es kommt in der Tat darauf an, dass wir eine ausgewogene Regelung finden.
({1})
Wenn Sie zur Kenntnis nehmen, dass unser Entwurf sowohl von der Mieterseite als auch von einem Verband wie
Haus & Grund kritisiert wird, dann können Sie erkennen,
dass es sich um eine ausgewogene Regelung handelt, mit
der wir versuchen, auch die Interessen der Wohnungseigentümer und der Grundeigentümer, die wir nicht verschweigen wollen und die wir nicht negieren können, zu
berücksichtigen.
Sie wissen, dass wir etwa bei der Frage der Modernisierungsumlage einen besonderen Wert gerade auf die Investitionsfähigkeit der Wohnungsbauunternehmen gelegt
haben. Deswegen behalten wir auch mit dem Regierungsentwurf die bisherige Regelung bei.
Wir werden einen Entwurf vorlegen, über den wir in
diesem Hause noch lang und breit diskutieren werden. Ich
lade Sie alle ein, sich an diesem Diskussionsprozess zu
beteiligen.
In diesem Sinne: Schönen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 14/3070, 14/871 und 14/3896 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Weiterhin wird vorgeschlagen, den Entschließungsantrag auf Drucksache 14/4248 zu überweisen zur federführenden Beratung an den Ausschuss für Verkehr, Bauund Wohnungswesen und zur Mitberatung an den Rechtsausschuss. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Johannes Singhammer, Horst Seehofer, Karl-Josef
Laumann, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Förderung ehrenamtlicher Tätigkeit
- Drucksache 14/3778 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({0})
Innenausschuss
Sportausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Matthäus Strebl, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Heute
diskutieren wir in erster Lesung den von der CDU/CSUBundestagsfraktion eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Förderung ehrenamtlicher Tätigkeit.
Ehrenamt ist gelebte Demokratie. Es basiert auf Freiwilligkeit, Gemeinwohlorientierung und ist nicht auf materiellen Gewinn ausgerichtet. Auf diese Kriterien hat sich
der Deutsche Bundestag bei der Einberufung der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ 1999 parteiübergreifend verständigt.
Es gibt in Deutschland über 2,5 Millionen offiziell bekannte ehrenamtlich Tätige. Darüber hinaus gibt es ein
Millionenheer von Menschen, die sich sozial, kulturell
oder ökologisch für Gotteslohn und gegen eine geringe
Aufwandsentschädigung engagieren.
Ein Schlag gegen das Ehrenamt ist aber die neue Regelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse.
({0})
So werden die ehrenamtliche Tätigkeit bei der Feuerwehr,
in Sportvereinen, in den Kirchen und sogar die Tätigkeit
der Versicherungsältesten immer öfter als sozialversicherungspflichtig eingestuft. Das Ehrenamt und den Bezug
einer pauschalen Aufwandsentschädigung mit einer beruflichen Tätigkeit gleichzusetzen ist der Gipfel des Unsinns rot-grüner Politik.
({1})
Es geht nämlich hierbei nicht um Gewinnerzielung und
nicht um den Verdienst für den Lebensunterhalt. Es geht
vielmehr darum, dass Bürgerinnen und Bürger ihre Freizeit, ihr Talent und ihr Wissen einbringen, um sich in der
Gemeinde zu engagieren. Dieses Engagement bestraft die
Bundesregierung mit einem Wust an Bürokratie und Sonderabgaben.
({2})
Wir von der CDU/CSU wollen eine klare Abgrenzung
zwischen beruflicher und ehrenamtlicher Arbeit. Wir wollen das Ehrenamt stärken und nicht in bürokratischem
Wust ersticken.
({3})
Wir wollen den Missbrauch bei den Billigjobs und nicht
das Ehrenamt bekämpfen und wir wollen durch die Aufwertung des Ehrenamtes die kulturelle Vielfalt unserer
Vereine fördern.
Mit unserem Gesetzentwurf zur Förderung ehrenamtlicher Tätigkeit stehen wir an der Seite der Menschen, die
sich täglich für das Ehrenamt engagieren.
({4})
Wir wollen die Versöhnung von Ehrenamt und Beruf.
Dazu gehört aber auch, die Unterschiede klarzumachen.
Auch für die Unternehmen und die Verwaltungen sind
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die zusätzlich ehrenamtlich aktiv sind, ein Aktivposten, ein Gewinn an sozialer Kompetenz,
({5})
an Teamfähigkeit und an Zuverlässigkeit. Es sind in der
Regel diejenigen, die auch im Beruf hoch motiviert arbeiten und engagiert sind.
({6})
Wer Übungsleiter in einem Sportverein ist, kann bei entsprechendem Fachwissen auch eine Abteilung oder eine
Gruppe in einem Betrieb leiten, weil er durch die tägliche
Praxis gelernt hat, Menschen zu motivieren und anzuregen.
Wir brauchen die großen sozialen Netze, wir brauchen
aber auch die kleinen Netze, die Netze vor Ort. Sie geben
der Solidarität in unserer Gesellschaft ein Gesicht, einen
Namen; ja, sie sorgen für die soziale Wärme in unserem
Land, ohne die eigentlich nichts geht. Wirtschaft und soziales Engagement stehen nicht gegeneinander; sie bedingen einander. Das sollte unsere gemeinsame Botschaft
aus dieser ersten Lesung sein.
Das Ehrenamt darf nicht durch einen Wust an bürokratischen Regelungen überflutet werden. Nach dem Ordnungsprinzip der christlichen Soziallehre, der Subsidiarität, hat die kleine Einheit Vorrang vor der nächstgrößeren Einheit. Kommt private Initiative vor staatlicher
Initiative, ist jedoch der Staat zur Hilfe zur Selbsthilfe verpflichtet, wenn sie benötigt wird.
Die rot-grüne Bundesregierung hat hier etwas falsch
verstanden. Sie leistet keine Hilfe zur Selbsthilfe. Sie
praktiziert mit ihren neuen bürokratischen Reglementierungen Hilfe zur Abhilfe des Ehrenamtes.
({7})
Die Gleichsetzung von pauschalen Aufwandsentschädigungen für Ehrenämter mit kommerziellen Einnahmen
ist ein Irrweg. Sie geben den Millionen Ehrenamtlichen
Steine statt Brot.
({8})
Sie rauben ihnen wertvolle Zeit, in der sie sich mit dem
Finanzamt oder den Sozialversicherungsträgern abgeben
müssen, und Sie rauben ihnen die Kraft, die sie besser für
das Gemeinwohl als zur Abwehr bürokratischer Fesseln
einsetzen sollten.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Wenn Sie schon auf diesem Irrweg weitergehen wollen, dann müssten Sie konsequenterweise von den Sportvereinen den Mutterschutz für Übungsleiterinnen einfordern. Rot-Grün verwischt die natürlichen Grenzen
zwischen dem Ehrenamt und einem normalen Beschäftigungsverhältnis. Damit schaden Sie dem Ehrenamt. Es ist
gerade für einen Arbeitnehmervertreter schwer nachvollziehbar, wieso im Rahmen der Steuerreform große Kapitalgesellschaften privilegiert werden, während im Sozialversicherungsrecht und teilweise auch im Steuerrecht
kleine Zeitungsboten, die ihr Taschengeld aufbessern
wollen, und Ehrenamtliche mit der vollen Beitrags- und
Steuerkeule getroffen werden.
({9})
Ich frage: Wie selbstvergessen ist die heutige SPD, dass
sie diesen Kurs der Umverteilung von unten nach oben
einfach nur abnickt?
({10})
Ich fordere Sie auf: Stellen Sie die pauschale Aufwandsentschädigung für Ehrenamtliche generell von der
Sozialversicherungspflicht und der Lohnsteuer frei. Beenden Sie die schreiende Ungerechtigkeit, die Sie mit der
Neuordnung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse den Millionen ehrenamtlich Tätiger angetan haben.
Das Beispiel der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ zeigt doch, dass eine
parteiübergreifende Verständigung über die Kriterien der
Abgrenzung des Ehrenamtes zu einem normalen Beschäftigungsverhältnis möglich ist.
Zu einer solchen Gemeinschaft will der heutige Antrag
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion anregen.
({11})
Gehen Sie mit uns gemeinsam diesen Weg, um das Ehrenamt in Deutschland wieder zu stärken!
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat nun die
Kollegin Ute Kumpf, SPD-Fraktion.
Liebe Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Strebl, ich habe die
Vermutung, dass Sie jedes Thema nach folgender Methode angehen: Der Elefant hat einen Rüssel und dieser
Rüssel sieht aus wie ein Wurm, wobei es Spulwürmer, Regenwürmer und sonstige Würmer gibt. Denn Sie fangen
immer ganz groß an und landen dann ständig bei den 630Mark-Verhältnissen. Das ist allmählich ein bisschen einfältig.
({0})
Ich würde gerne bei dem Thema bleiben, das wir eigentlich zu behandeln haben. Sie haben heute einen Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem die Aufwandsentschädigungen, die an ehrenamtlich Tätige gezahlt werden, von
der Sozialversicherungspflicht freigestellt werden sollen.
Die Bayern haben bereits vorgegriffen und im Juni dieses
Jahres im Bundesrat einen gleich lautenden Gesetzentwurf eingebracht.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Sie sich angesichts des
Mengenproblems und der Vielfältigkeit des ehrenamtlichen Engagements bewusst sind, welche Konsequenzen
Ihr Gesetzentwurf hat und was er vor allem auch finanziell bedeuten würde. Im Gegensatz zu vielen Behauptungen sind wir nicht auf dem Weg zu einer Gesellschaft
von „Ichlingen“. Vielmehr gibt es bei uns in der Bundesrepublik sehr viele bürgerschaftlich engagierte Menschen
- auch Sie kennen die Zahlen -: 34 Prozent der Bevölkerung in der Bundesrepublik sind in irgendeiner Form ehrenamtlich engagiert. Das sind, wenn man dies hochrechnet, 22 Millionen Bürgerinnen und Bürger.
Diese sind organisiert in Vereinen, Verbänden, Gewerkschaften, Parteien, Kirchen, in religiösen Vereinigungen, Selbsthilfegruppen, Initiativen und Projekten wie
dem der lokalen Agenda und in der Stadtteilplanung.
({1})
- Moment, dazu komme ich noch. - Sie nehmen öffentliche Ämter wahr, sind Gemeinderäte, Stadträte, Schöffen
und Arbeitsrichter oder übernehmen Ämter in der Selbstverwaltung des Arbeitsamtes und der Krankenkassen, bei
der Feuerwehr und anderen traditionellen Formen der
Vereinsarbeit. Es gibt Menschen, die sich im Sport engagieren, die einen Gymnastikkurs oder eine Fußballkinderabteilung leiten, die für das Vereinsfest Kuchen backen
oder Prüfungen für das Deutsche Sportabzeichen abnehmen.
({2})
Oder es sind Menschen, die sich um ihre Kinder kümmern. Dies sind Eltern, Väter oder Mütter, die in den
Schulen oder in den Kindergärten Elternarbeit übernehmen, Fördervereine gründen und sogar die Schulkantine meistens handelt es sich dabei um Frauen - ehrenamtlich
betreiben. Dies geht noch weiter: zum Beispiel die
Schatzmeisterin im Seniorenverein. Man kann diese
bunte Aufzählung ewig weiterführen und in diesem Zusammenhang gibt es auch kein Nord- und Südgefälle.
Was Sie und wir alle nicht tun dürfen - dies sollte uns
allen klar sein -, ist, dieses Engagement sozusagen als
Notstromaggregat für die Erwerbsgesellschaft zu missbrauchen.
({3})
Denn oft wird so vorgegangen, dass wir angesichts dessen, dass wir zu wenig Geld haben, entstehende Bedürfnisse über das Ehrenamt oder irgendwelche sonstige
Tätigkeiten befriedigen und dass wir nicht für die Schaffung entsprechender Arbeitsplätze sorgen.
Ein Amerikaner - der müsste auch der CDU/CSU
geläufig sein - hat unser reges Treiben in dieser Landschaft einmal so beschrieben: Die deutsche Gesellschaft
ist wie ein dreibeiniger Hocker, dessen Beine der
marktwirtschaftliche Bereich, der staatliche Bereich und
der sozial-gemeinnützige Bereich sind.
({4})
Das erste Bein schafft wirtschaftliches Kapital, das zweite
öffentliches und das dritte soziales Kapital. Bürgerschaftliches Engagement ist die zentrale Quelle dieses
sozialen Kapitals, das wir schützen, pflegen und fördern
müssen.
({5})
- Tun wir. Dazu komme ich noch.
Wir freuen uns über Signale aus den Chefetagen - dies
möchte ich angesichts dessen, dass dieser Zuruf aus Ihrer
Ecke kam, besonders hervorheben -, die, an sich selbst
gerichtet, besagen - das konnte man in der „Wirtschaftswoche“, im „Spiegel“ und in der „Zeit“ nachlesen -, die
Wirtschaft müsse Flagge zeigen, wenn es um bürgerschaftliches Engagement in Unternehmen geht. Dort setzt
sich allmählich die Einsicht durch: Gutes tun schadet
nicht, sondern lohnt und rechnet sich sogar.
({6})
Inzwischen sind die Verbände, also BDI, BDA und
DIHT, sogar so weit gegangen, dass sie gemeinsam einen
Preis spendieren, mit dem Unternehmen ausgezeichnet
werden sollen, die sich im eigenen Betrieb und allgemein
um bürgerschaftliches Engagement kümmern.
Jetzt noch eine Bemerkung dazu, wie ernst es uns als
SPD ist, bürgerschaftliches Engagement zu fördern. Wir
haben es bereits unter Beweis gestellt. Sie haben 16 Jahre
lang wenig getan. Ich jedenfalls habe nichts davon gehört.
({7})
In dieser Zeit war ich selber noch nicht in diesem Hohen
Hause, sondern ehrenamtlich und bürgerschaftlich unterwegs.
Was haben wir denn getan? Wir haben die Übungsleiterpauschale um 50 Prozent angehoben. Jetzt beträgt sie
3 600 DM.
({8})
Wir haben auch den Personenkreis erweitert. Außerdem
- das ist an Ihnen irgendwie vorbeigegangen - ist mit dieser Steuerfreiheit zugleich auch die Sozialversicherungsfreiheit verknüpft worden. Insgesamt macht das 300 DM
aus.
Wir haben im Steuerrecht wesentliche Erleichterungen
für die Gründung von Stiftungen geschaffen.
Wir haben endlich erreicht, dass Spendenbescheinigungen ausgestellt werden dürfen - wobei mich etwas
verwundert, dass die Vereine sich jetzt beklagen, dass wir
das tun, was sie seit 20 Jahren fordern.
Wir können inzwischen wieder Selbsthilfegruppen im
Gesundheitswesen fördern. Sport - in den Reihen der
CDU/CSU sind viele Vertreter des Sports - kann inzwischen wieder als Prävention gefördert werden.
Wir haben hier ein Bündnis für das Ehrenamt eingebracht, das den Interessen der verschiedenen Vereine und
Verbände Rechnung trägt. Die Bundesregierung wird
nächstes Jahr, im „Internationalen Jahr der Freiwilligen“,
eine große Kampagne durchführen, unterstützt auch von
uns selbst.
Außerdem haben wir die Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ eingesetzt. Die Enquete-Kommission hat sich mit dieser
schwierigen Materie auseinander zu setzen und politische
Strategien zu entwickeln, wie wir dem freiwilligen,
gemeinwohlorientierten, bürgerschaftlichen Engagement
auf die Sprünge helfen und die notwendigen steuerrechtlichen, sozialrechtlichen und arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen schaffen können. Wir werden dann auf
Grundlage dieser Arbeit die entsprechenden Handlungsempfehlungen formulieren. Man muss vielleicht auch ein
bisschen mehr Zeit und Intellekt investieren, damit wir ein
vernünftiges Gesetz in den verschiedensten Ebenen haben. Wir wollen ein solides Konzept. Das erfordert viel
Arbeit, viel Gründlichkeit und auch etwas Geduld. Dieser
Aufgabe wollen wir uns stellen.
({9})
- Nein, nein. So ist es nicht.
Ich bin bei den Feuerwehren und bei den Sportvereinen
unterwegs. Wenn ich dort vermittle, dass wir eine solide
Lösung wollen, dann wird das mitgetragen.
Wir hatten diese Woche ein Gespräch mit Vertretern
der kommunalen Spitzenverbände in Baden-Württemberg. In dem Gespräch haben Gemeinderäte und ehrenamtliche Bezirksvorstände gesagt - sie sind nämlich auch
betroffen -: Macht lieber ein schlüssiges Konzept, keinen
Schnellschuss. Ansonsten tauchen irgendwann an anderer
Stelle wieder Probleme auf. So einfach können Sie das
nicht machen.
({10})
Wir kennen die Diskussionen und die Klagen, dass die
ehrenamtlich Tätigen die Steuer- und Sozialversicherungspflicht als Belastung empfinden. Wir wollen dies
aber umfassend, konkret und seriös regeln. Ihr Gesetzentwurf hat Schwachstellen und ist ein Schnellschuss. Ich
denke, wir wollen kein Gesetz, das durch die Hintertür
über das Ehrenamt wieder sozialversicherungsfreie Beschäftigung ermöglicht. Diese Gesetzeslücke haben wir
gerade mit dem 630-Mark-Gesetz geschlossen. Wir wollen nicht wieder eine Fallgrube für nicht abgesicherte
Beschäftigungstypen ausheben.
Wir wollen auch zur Kenntnis geben - es ist erfreulich,
dass Sie das inzwischen auch selbst in Ihrem Antrag zur
Kenntnis genommen haben -: Die Vorstellung, das Ehrenamt bedeute im Kern unentgeltliche Arbeit, hat sich
gewandelt. Die Zahlung eines geringen - ich betone ausdrücklich: geringen - Ausgleichs für den erlittenen Verlust an Freizeit wird in manchen Bereichen des freiwilligen Engagements als Selbstverständlichkeit angesehen.
Dabei fällt auf, dass anscheinend vor allem die Männer erwarten, dass man dabei entsprechend entlohnt wird. Es
wird dagegen oft als ganz selbstverständlich angesehen,
dass Engagement von Frauen unentgeltlich zu leisten ist.
Es gibt aber nicht nur den Unterschied zwischen Männern
und Frauen, sondern es gibt auch den Unterschied zwischen Nord und Süd oder, je nach Bundesland, Ehrenamt
„light“ und Ehrenamt „S-Klasse“.
Jetzt kommen wir zu den Feuerwehren, wegen derer
das Ganze anscheinend erst ins Rollen gekommen ist. In
Schleswig-Holstein zum Beispiel werden, je nach Aufgabe, einer Feuerwehrführungskraft Entschädigungen
zwischen 95 und 925 DM gezahlt.
({11})
In Bayern rechnet sich ein solches Amt anscheinend
mehr: Für entsprechende Tätigkeiten erhält ein ehrenamtlicher Feuerwehrmann in Bayern mehr als das Doppelte,
nämlich 210 bis 2 000 DM.
({12})
Die Diskrepanz ist auffallend. Stuttgart ist ganz bescheiden: Dort bekommen die ehrenamtlichen Feuerwehrmänner bloß 12 DM pro Stunde und entsprechend auch einen
geringeren Beitrag über das Jahr gerechnet.
Das heißt: Manche Landesregierung müsste sich doch
tatsächlich fragen, welchen Begriff sie vom Ehrenamt hat
und was sie wirklich regeln möchte.
Bundeskanzler Gerhard Schröder hat in seiner Rede
vor dem Deutschen Feuerwehrtag am 24. Juni dieses Jahres erklärt,
({13})
dass Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche Tätigkeiten künftig bis zu einer bestimmten Höhe steuer- und
sozialversicherungsfrei gestellt werden. Das hat er gesagt.
Dabei hat er aber auch betont, dass eine solide, tragfähige
Lösung wichtiger sei als eine schnelle Lösung.
({14})
- Genau, danke.
({15})
- Herr Riegert, er hat aber nicht in Aussicht gestellt, dass was mancher im Sportverein gerne erzählt und was dann
später als „Lübecker Erklärung“ irgendwo kursiert - das
Ehrenamt generell von der Sozialversicherungspflicht
auszunehmen ist.
In der Enquete-Kommission haben wir zu genau diesem Problem ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben.
Daher wundert es mich schon - denn es sind einige Mitglieder der Enquete-Kommission anwesend, zum Beispiel Frau Dött; Herr Riegert, Sie sind ja selbst Stellvertreter -, dass Sie jetzt nicht abwarten, zu welchem
fundierten Ergebnis wir gelangen und zu welchen Regelungsvorschlägen wir aufgrund der Zusammenstellungen,
auch von Professor Igel, schließlich kommen. Das können
Sie offenbar nicht abwarten, weil es Ihnen vielleicht unbequem ist.
({16})
Wir wollen das aber abwarten. Denn wir geben nicht umsonst Hunderttausende von DM für ein Rechtsgutachten
aus.
({17})
Man braucht schon gewissen Sachverstand, um in diesem
Bereich Arbeitsrecht, Sozialrecht, Zivilrecht und Europarecht unter einem Dach abwickeln zu können.
({18})
Nun komme ich ganz konkret zu Ihrem Gesetzentwurf,
damit Sie nicht sagen können, wir machten es uns zu
leicht. Ich nenne einfach ein paar Beispiele für Ihre handwerklichen Mängel: Sie wollen in Ihrem Entwurf durch
schriftliches Verlangen möglich machen, dass die Tätigkeit des ehrenamtlich Tätigen als Beschäftigung behandelt wird. Es ist ganz neu, dass man selbst bestimmen
kann, was eine Tätigkeit und was eine ehrenamtliche
Tätigkeit ist.
({19})
Das gab es im Sozialversicherungsrecht bislang noch nie.
({20})
Soll man sich nun darüber freuen? Welche Vorstellungen
haben Sie hierzu? Ich weiß nicht, wie Sie schäumen würden, wenn sich die Gewerkschaften zu Wort meldeten.
Ihr Gesetzentwurf soll es ferner ermöglichen, dass die
Länder bestimmen, was Ehrenamt ist und wer als ehrenamtlich Tätiger einzustufen ist. Ich kann mir vorstellen,
welch inflationäre Ausmaße die Definition des Ehrenamtes und die entsprechende Abrechnung als ehrenamtlich
Tätiger dadurch je nach Bundesland annehmen. Das Gleiche gilt für die Koppelung der Höhe des Entgelts an das
Vorliegen einer Beschäftigung. Sie haben wahrscheinlich
noch immer nicht begriffen, dass eine Beschäftigung davon abhängt, ob Weisungsgebundenheit und die
Eingliederung im Betrieb vorliegen. Dabei geht es weniger um die Höhe des Entgelts. Auch hierzu müssten Sie
vielleicht noch ein paar Nachhilfestunden nehmen, um
dies richtig einordnen zu können.
Ich frage mich: Wie wollen Sie einer Verkäuferin oder
einer Krankenschwester, die halbtags arbeitet, um Zeit für
die Betreuung ihrer Kinder zu haben, und die sich vielleicht auch noch im Elternverein engagiert, erklären, dass
ein nebenberuflich tätiger Feuerwehrmann, der 2 000 DM
erhält, keinen Pfennig an Sozialversicherungsbeiträgen
zahlt?
Wie wollen Sie erläutern, dass eine Entschädigung von
17 DM in der Stunde - das ist bei der Feuerwehr gar nichts
Seltenes - mit einer Bezahlung nichts zu tun haben soll
und somit auch nicht herangezogen wird? Sie haben darüber hinaus vergessen, das Steuerrecht in Ihren Gesetzentwurf mit einzubeziehen.
Ich habe genügend Belege dafür aufgezeigt, dass dieser Gesetzentwurf mit heißer Nadel gestrickt wurde. Unter uns heißt es, Sie wollten nach dem Deutschen Feuerwehrtag wahrscheinlich nur die Lufthoheit über die
Stammtische gewinnen, damit Sie hier entsprechend
Punkte machen können. So geht es nicht.
({21})
Ich habe nichts gegen die Feuerwehr. Auch ich werde,
wie alle anderen, eingeladen, wenn Feuerwehrfeste stattfinden.
({22})
- Ich bin gerne dabei, und die Leute sprechen sogar mit
mir.
Ich möchte aber auf einen anderen Bereich hinweisen
- ich möchte die Feuerwehrleute gar nicht diskreditieren;
mir geht es um eine sachgerechte und sozial gerechte Behandlung dieses Themas -: Es gibt sehr viele Beschäftigte, die in karitativen und gemeinnützigen Einrichtungen ehrenamtlich tätig sind und die auf den sozialversicherungspflichtigen Schutz warten, weil sie sich
Rentenpunkte erarbeiten möchten. Ein Großteil dieser
Beschäftigten sind Frauen. Wir werden immer wieder, gerade von diesen Frauen, mit Forderungen konfrontiert,
dass hier eine Verbesserung der sozialversicherungsrechtlichen Absicherung vorgenommen werden muss, damit
sie vor allem im Hinblick auf die Alterssicherung Punkte
machen können. Auch dieses Anliegen müssen wir bei einer Neuregelung berücksichtigen.
Ich komme zum Schluss zu dem, was wir wollen:
({23})
Ihren Entwurf wollen wir nicht - das kann ich jetzt schon
sagen -, weil er einfach zu kurz greift. Wir wollen als SPD
eine Lösung für bürgerschaftliches Engagement, durch
die zunächst einmal die Engagierten geschützt werden.
({24})
Sie kennen die Haftpflichtprobleme und all die anderen
Probleme, die mit der ehrenamtlichen Tätigkeit zusammenhängen. Dies sind auch die Anliegen, die die Engagierten an uns herantragen. Wir wollen natürlich, dass diejenigen, die sich engagieren, keinen Nachteil erleiden
oder sogar noch Geld mitbringen müssen. Dies müssen sie
aber in manchen Vereinen. Dies ist ganz unabhängig von
Ihrer Geschichte mit der Feuerwehr.
Wir wollen dafür Sorge tragen, dass derjenige, der sich
ehrenamtlich betätigt, eine entsprechende Anerkennung
erfährt. Wir wollen auch Formen der Anerkennung und
der Förderung entwickeln. Ein türkischer Kollege hat zu
mir einmal gesagt: Ute, die Medaille, die ich bekommen
habe, ist für mich eine seelische Streicheleinheit. Andere
haben gesagt: Nein, ich will lieber ein Mittag- oder
Abendessen mit meinem OB oder vielleicht auch mit
Gerhard Schröder. Die Formen der Anerkennung können
sehr unterschiedlich sein. Daran müssen wir arbeiten. Gerade in Baden-Württemberg haben wir schon sehr viel in
dieser Richtung entwickelt.
Wir arbeiten in der Enquete-Kommission an einer umfassenden und fundierten Lösung. Auch - hören Sie gut
zu, das gilt auch für die linke Seite des Hauses - der Bundeskanzler arbeitet an einer Lösung. Er hat ja auch etwas
versprochen.
({25})
Im Bundeskanzleramt wird auch entsprechend an Lösungen gearbeitet. Es werden Dialoge mit den Verbänden geführt,
({26})
damit man an dieser Stelle vorankommt.
Sie sind herzlich eingeladen,
({27})
in der Enquete-Kommission auf einer fundierten, auf Gutachten beruhenden Basis an einer sachgerechten und seriösen Lösung für ehrenamtlich Tätige zu arbeiten. Das
sind wir alle diesen Menschen schuldig.
Willy Brandt hat einmal gesagt, dass die Menschen ein
Recht darauf haben, mit Liebe und Sorgfalt behandelt zu
werden. Das würde ich mit unserer Partei auch gerne machen.
Danke schön.
({28})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ernst Burgbacher.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Kumpf,
Sie haben gerade von dem Gesetzentwurf als einem Gesetzentwurf geredet, der mit heißen Nadeln gestrickt
wurde. Ich erinnere mich an ein Gesetz, das mit sehr
heißen Nadeln gestrickt wurde. Darauf beruht doch der
ganze Schlamassel, über den wir hier diskutieren.
({0})
Wir erinnern uns alle noch sehr gut daran, wie diese
Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse zustande kam, welches Chaos das damals war. Am
Anfang dieser Debatte muss man festhalten: Hätten Sie
diesen Unsinn nicht gemacht, müssten wir darüber jetzt
nicht diskutieren. Wir diskutieren heute nur über eine
kleine Facette des gesamten Problems.
({1})
Angesichts Ihrer Zwischenrufe und Reaktionen frage
ich mich, ob Sie überhaupt schon einmal mit Vertretern
der Vereine draußen geredet haben,
({2})
ob Sie wissen, was dort im Augenblick los ist.
({3})
- Ihr Verhalten ist schon faszinierend und ich frage mich,
was die Betroffenen, die diese Debatte sehen, davon halten werden. Wenn ich in die Vereine - egal, ob Musikoder Sportvereine - komme, sagen mir die ehrenamtlich
Tätigen ständig: Ich mache das nicht mehr, weil der bürokratische Aufwand zu groß geworden ist, weil niemand
mehr durchblickt.
({4})
- Herr Kollege Dreßen, Sie können ruhig dazwischen rufen, aber es wäre vielleicht vernünftiger, wenn Sie bei der
Sache bleiben
({5})
und auch darüber reden würden, was auf Vereinsseite eigentlich los ist. Wenn ich zu Vereinen komme, ist die erste
Aufforderung, wenn es um politische Maßnahmen geht,
immer die nach der Aufhebung der 630-Mark-Regelung.
Sie sagen: Wir können nicht mehr, wir können diesen
bürokratischen Aufwand nicht mehr bewältigen.
({6})
Jetzt müssen wir dies in einen breiteren Rahmen stellen. Wir reden viel über bürgerschaftliches Engagement.
({7})
Ich habe immer mehr das Gefühl, dass wir verschiedene
Blickrichtungen haben. Es gibt im Augenblick eine Entwicklung, die in erster Linie von Ihnen ausgeht, nämlich
eine Verlagerung weg von der institutionellen Förderung
hin zur Projektförderung. Beides ist ehrenamtliches Engagement. Beides ist wichtig. Aber wenn wir dort kappen,
wo Strukturen bestehen, wenn wir in Sport-, in Musikvereinen und anderen Bereichen eingefahrene Strukturen
nicht mehr unterstützen und mit solchen Gesetzen noch
erschweren, dann werden wir wesentlich mehr kaputtmachen als auf der anderen Seite gewinnen.
Ich nenne Ihnen einen zweiten Punkt. Frau Kollegin
Kumpf, Sie haben von der Enquete-Kommission geredet.
Sie wissen wohl auch, dass einige Verbände für die Anhörung mit Mehrheit wieder gestrichen wurden. Hier wird
grüne Klientel bedient. Hier macht man eine Gruppentherapie.
({8})
- Schauen Sie sich doch einmal an, wen Sie gestrichen
haben. Sie haben zum Beispiel die großen Musikverbände nicht eingeladen. Das sind 20 000 Orchester und
50 000 Chöre. Diese werden in der Anhörung nicht zu
Wort kommen. Sie sind nicht einmal bereit, deren Probleme zur Kenntnis zu nehmen. Das ist doch der Fakt, um
den es hier geht.
({9})
Ich halte gerade in der heutigen Zeit Vereine für wichtiger, als es jemals der Fall war. Vereine erfüllen Aufgaben, die niemand sonst erfüllen kann. Dabei geht es um einen Bereich des Ehrenamts und des bürgerschaftlichen
Engagements, der bei Ihnen in der Diskussion viel zu kurz
kommt. Dort werden junge Leute integriert. Dort lernen
junge Leute, wie man Kompromisse schließt, wie man zu
Entscheidungen kommt und wie man sich einfügt.
Fragen Sie doch die Sportvereine, die Musikvereine
und andere kulturelle Einrichtungen. Diese werden Ihnen
dann sagen: Wir haben mehr und mehr Nachwuchsprobleme, und zwar nicht in der Ausübung von Sport oder
Musik. Dort haben wir eine riesige Bewegung und einen
großen Zuwachs an Jugendlichen. Aber wir haben Probleme in dem Bereich, in dem es um Funktionen geht. Es
fehlen ein Kassierer und ein Vorstand, weil die Leute sagen: Diesen Zauber mache ich nicht mehr mit.
Das ist eine Tatsache. Ich finde es schon seltsam, Frau
Kumpf, dass Sie über diesen Bereich überhaupt nicht reden. Das trifft natürlich auch auf Organisationen wie die
freiwillige Feuerwehr zu. Ich sage Ihnen: Es wird die
Feuerwehr sehr trösten, wenn Schröder kommt und verspricht, etwas zu tun. Dann können sie ein, zwei oder drei
Jahre warten. Das Haus brennt bereits. Jetzt müssen Sie
löschen und nicht erst dann, wenn alles niedergebrannt ist.
({10})
- Herr Dreßen, ich frage mich wirklich: Mit wem reden
Sie und mit wem reden wir?
({11})
Sie von der Enquete-Kommission haben Fragebögen
auch an die Verbände verschickt, die Sie nicht anhören
wollen. Ich war zum Teil dabei. Ich habe mir Fragebögen
angeschaut. Der erste Punkt, der bei der Beantwortung der
Fragebögen von allen genannt wurde, war die 630-DMRegelung.
({12})
- Das ist ein Problem. Selbstverständlich stimmt das.
Schauen Sie sich das bitte einmal an. Aber Sie wollen die
Verbände ja noch nicht einmal anhören.
Ich komme zum Antrag der CDU/CSU.
Herr Kollege
Burgbacher, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kumpf?
Aber selbstverständlich,
gerne.
Herr Kollege Burgbacher, sind Sie
bereit, damit Sie auf dem neuesten Informationsstand sind
und damit Sie wissen, was in der Enquete-Kommission
passiert und welche Anhörungen wir am 12. und 13. November dieses Jahres durchführen, zu gewährleisten, dass
die F.D.P. parlamentarisch entsprechend vertreten ist?
Frau Kollegin Kumpf,
ich rede nicht von der F.D.P., sondern von den großen Verbänden. Diese Verbände, die zum Teil auf der Liste waren,
sind von Ihnen mit Mehrheit gestrichen worden. Darum
geht es. Das sind Verbände, die über 1 Million Mitglieder
und zigtausend ehrenamtlich Tätige repräsentieren.
({0})
Gestatten Sie
eine zweite Zwischenfrage der Kollegin Kumpf?
Ja.
Herr Kollege, sind Sie auf dem aktuellen Stand darüber, dass am 12. und 13. November 2000 die Enquete-Kommission eine Anhörung mit
ganz traditionellen und klassischen Verbänden durchführt? Zweite Frage: Wissen Sie auch, dass ein Fragebogen an - ich weiß es nicht genau - 300 Verbände verschickt wurde
({0})
- 140? Ich habe eine größere Zahl im Kopf -, die ihre Bedingungen darstellen können, wie sich das Ehrenamt
strukturell entwickelt und wie die Zukunft ist? Haben Sie
davon vielleicht schon gelesen? Diese Unterlagen müssten Ihrer Faktion vorliegen. Wenn ja, dann könnten Sie
nämlich die Behauptung, die Sie aufstellen, nicht machen.
Lesen können Sie doch, oder?
Verehrte Frau Kollegin
Kumpf, ich kenne diese Fragebögen. Ich habe gerade gesagt: Ich war bei ihrer Beantwortung zum Teil dabei und
habe mir die Antworten angeschaut. Ich bin nämlich
- vielleicht im Gegensatz zu Ihnen - im Verbandswesen
ziemlich engagiert.
({0})
Mein Verband hat auch einen solchen Fragebogen bekommen. Ich sage Ihnen aber auf der anderen Seite auch,
dass Sie zum Beispiel große Verbände der Laienmusik mit
der Mehrheit von Rot-Grün gestrichen haben; unsere
Fraktion hatte deren Anhörung beantragt. Das ist Fakt und
das müssen Sie zur Kenntnis nehmen.
({1})
- Ja, das ist der aktuelle Stand und ich kenne die Fragebögen natürlich sehr gut.
Ich bitte, hier in diesem Hause zu einem Konsens zu
kommen. Wir sind im Augenblick dabei, durch die Regelungen, die Sie gemacht haben, die Arbeit vieler ehrenamtlicher Bereiche erheblich zu erschweren. Die CDU hat
hier einen Antrag vorgelegt. Ich sage noch einmal unmissverständlich: Unsere Linie war immer: Die 630Mark-Geschichte muss weg. Da ich aber weiß, dass bei
der rot-grünen Mehrheit die Meinung vorherrscht „Augen
zu und durch“ und keine Chance besteht, diese Meinung
zu ändern, werden wir den Antrag der CDU unterstützen.
Wir sehen das als einzige Möglichkeit, in diesem Punkt
weiterzukommen und die Vereine ein Stück weit zu entlasten. Wir müssen die Menschen wieder motivieren, in den
Vereinen Verantwortung zu übernehmen. Hier sehe ich in
vielen Bereichen - mir tut es Leid, wenn Sie die Erfahrung nicht haben; dann sind Sie in Vereinen nicht aktiv
tätig - erhebliche Schwierigkeiten. Ich bitte Sie von RotGrün wirklich herzlich, diese Tatsache wenigstens einmal
zur Kenntnis zu nehmen.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Dr. Thea Dückert.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! „Ehrenamt“ steht über dem Antrag, aber wir haben
wieder gehört: „630 DM“ ist drin. Ich denke, es ist einfach
Etikettenschwindel, unter dem diese Debatte hier geführt
wird.
({0})
Zum wiederholten Male mit dem gleichen Inhalt das
gleiche alte Spiel: Sie wollen mit einem populistischen
Aufhänger wieder gegen das 630-Mark-Gesetz vorgehen.
Der Auslöser ist die Frage, ob zum Beispiel die freiwillige
Feuerwehr ihre Aufwandsentschädigungen, die zum Teil
bis zu 2 000 DM im Monat umfassen,
({1})
sozialversicherungspflichtig machen soll oder nicht. Das
ist die Frage, um die es geht.
({2})
Ich sage das noch einmal ganz deutlich an Ihre eigenen
Reihen; denn offenbar wissen die Kollegen von der
CDU/CSU noch gar nicht, dass es sich beispielsweise um
Größenordnungen von bis zu 2 000 DM handelt, über die
wir hier reden. Ich denke, in diesem Zusammenhang ist
schon die Frage zu stellen, ob das Ganze sinnvoll und gerecht ist.
({3})
Wir müssen uns - die Frage wurde hier zu Recht aufgeworfen - der Auseinandersetzung stellen, was zum Beispiel eine Verkäuferin mit einem gleichen Einkommen zu
diesem Sachverhalt sagen würde.
Es ist richtig, dass die Unterscheidung zwischen einer
Berufstätigkeit, einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit und dem Ehrenamt an vielen Stellen eine sehr
schwierige Unterscheidung ist. Aber es muss eindeutig
klar sein, dass wir nicht von der subjektiven Befindlichkeit der betroffenen Personen abhängig machen können,
ob eine Tätigkeit sozialversicherungspflichtig ist oder
nicht und wie man sich selber in der Frage einschätzt, ehrenamtlich tätig zu sein oder nicht. Aber genau das verlangen Sie in Ihrem Gesetzentwurf. Ich finde, das geht
vollständig an der Realität vorbei. Dem können wir beim
besten Wissen und Gewissen nicht folgen.
Natürlich ist es so, dass die Definition des modernen
Ehrenamtes und vor allen Dingen die Suche nach einer
Abgrenzung, um die Förderung des bürgerschaftlichen
Engagements voranzubringen, eine ganz zentrale sozialpolitische Aufgabe ist. Es ist eine zentrale Frage, wie weit
es uns in Zukunft gelingt, bürgerschaftliches Engagement
voranzutreiben, das wir für einen lebendigen Sozialstaat
brauchen. Aber genau diesem Problem, meine Damen und
Herren von der CDU, wird Ihr Antrag, der sich allein um
die Problematik der 630-DM-Beschäftigungsverhältnisse
rankt, nicht gerecht. Sie bieten keine Lösung an, sondern
möchten eine populistische Debatte, auf die wir uns nicht
einlassen wollen.
({4})
In diesem Zusammenhang stellt sich die grundsätzliche Frage, ob es einen Sinn macht, bürgerschaftliches Engagement grundsätzlich von der Sozialversicherungspflicht zu befreien, wie Sie es hier fordern, oder ob es
nicht möglicherweise viel sinnvoller, unterstützender und
Anerkennung bringender für die Betroffenen ist, wenn
auch diese Tätigkeiten einem sozialen Schutz unterliegen.
Diese Diskussion müssen wir führen. Ich will die Frage
hier nicht beantworten; denn so schnell, wie Sie mit der
Lösung bei der Hand sind,
({5})
sind diese Probleme nicht zu lösen. Es sind vielleicht
andere Personengruppen, über die wir reden; es ist
eben nicht der Feuerwehrkommandant mit monatlich 2 000 DM, sondern es sind andere Personengruppen
mit anderen Beschäftigungsverhältnissen. Diese Fragen
müssen geklärt werden und sie lassen sich nicht so einfach
mit einem Schnellschuss klären, wie Sie es mit Ihrem Antrag versucht haben. Wir müssen sie in der Enquete-Kommission klären und deswegen ist diese auch eingerichtet.
Die Diskussion um das 630-DM-Gesetz hilft uns hier
überhaupt nicht weiter. Gleichwohl haben wir in diesem
Zusammenhang etwas getan, was Sie in der Vergangenheit nicht in Angriff genommen haben: Wir haben
beispielsweise die Übungsleiterpauschale auf 3 600 DM
heraufgesetzt
({6})
und Sie wissen ganz genau, dass damit Hunderttausenden
von ehrenamtlich Tätigkeiten in sehr vielen Vereinen und
Organisationen aus den Bereichen des Sports, der Kirche,
der Jugendarbeit, der Arbeit mit Kindern, des Katastrophenschutzes, des Umweltschutzes, des Tierschutzes
und überall ein großer Dienst erwiesen und eine große Erleichterung verschafft wurde. Sie dagegen kümmern sich
mit Ihrem Ansatz um eine bestimmte Gruppe, insbesondere um die Feuerwehr
({7})
und die Bürgermeister. Ich finde, das wird der Thematik
in keiner Weise gerecht.
({8})
Man muss sich wirklich die Frage stellen - man muss
das Problem auch offen diskutieren -: Wann steht die
Höhe einer Aufwandsentschädigung noch im vernünftigen Verhältnis zu dem geleisteten Aufwand? Ich finde, es
liegt auf der Hand, dass ab einer bestimmten Höhe nicht
vorschnell von einem Anerkennungsobolus gesprochen
werden kann, wie Sie das tun. Das kann man nicht und das
wird auch der Arbeit der freiwilligen Feuerwehr überhaupt nicht gerecht. Deswegen sollten wir uns ganz gelassen und ruhig der schwierigen Arbeit der EnqueteKommission stellen und die vielen Anhörungen, die dort
in Zukunft stattfinden werden, auswerten, bevor wir solche kleinen Kurzlösungen für einen Teilbereich zur Debatte stellen.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Dr. Klaus Grehn.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Ich verstehe die Hektik und
die Aufgeregtheit nicht. Ich stelle mir vor, was geschähe,
wenn 22 Millionen ehrenamtlich Tätige mit ihren Problemen so hektisch umgehen würden. Wir hätten in unserem
Land ein Chaos.
({0})
Wir haben jetzt einen Gesetzentwurf und hatten im
April einen Antrag der CDU/CSU-Fraktion mit der Überschrift „Belastung für das Ehrenamt zurücknehmen“ vorliegen; der Inhalt war in beiden Fällen der gleiche. Wir
hatten einen Antrag der Bayerischen Staatsregierung vom
Juli zum gleichen Thema und haben jetzt wieder einen
Gesetzesentwurf in diesem Bereich. Ich gebe den Kollegen Recht, die gesagt haben, Sie würden die Steine eigentlich auf das 630-DM-Gesetz werfen. Dann werfen Sie
doch die Steine und stellen Sie einen entsprechenden Antrag, nehmen Sie aber nicht das Ehrenamt dafür als
Ausfallbürgen.
({1})
Wissen Sie, ich habe mit dem Inhalt Ihres Antrags insofern kein Problem, als ich meine, dass die Forderung,
das Ehrenamt zu stärken, in die richtige Richtung geht.
Aber das, was Sie vorgelegt haben, wird doch dem Ehrenamt nicht gerecht. Sie haben diejenigen im Auge, die
eine Aufwandsentschädigung bekommen. Ich hingegen
habe die Mehrheit der Ehrenamtlichen vor Augen, die gar
nichts erhalten. Wir müssen uns einmal Gedanken darüber machen, was wir mit denen machen. Sie wollen denen,
die schon etwas erhalten, mehr geben, und diejenigen, die
nichts haben, sollen weiterhin nichts erhalten.
({2})
Die Arbeit der Enquete-Kommission spielt eine wichtige Rolle. Ich glaube, dass damit deutlich geworden ist,
welchen Stellenwert die jetzige Regierungskoalition dem
Ehrenamt einräumt. Die Enquete-Kommission hat eine
große Bedeutung. Sie hat hart gearbeitet - das kann ich sagen -, auch wenn die Ergebnisse noch nicht vorliegen;
aber sie kommen.
Lassen Sie beispielsweise einmal die Dialogveranstaltung, die wir durchgeführt haben, Revue passieren. Dort
haben Vertreter von Arbeitslosenorganisationen gesprochen. Da erhält das Gros Lohnersatzleistungen, sprich: 53
bis 67 Prozent. Sie erhalten keine Aufwandsentschädigung. Sie fahren im ländlichen Bereich herum, um ihre
ehrenamtliche Tätigkeit auszuüben, und bezahlen das alles aus eigener Tasche. Sie können das Ehrenamt gar nicht
bezahlen. Daher müssen Sie sich einmal fragen, wie das
differenziert werden kann. Gebe ich den Feuerwehrleuten
mit einem Einkommen von 3 000 DM
({3})
noch die Möglichkeit einer Steuerentlastung, oder muss
nicht irgendwo eine Linie eingezogen werden, die deutlich macht, dass Aufwandsentschädigungen - die durchaus berechtigt sind; damit habe ich kein Problem - nicht
zum Verschiebebahnhof für nicht gezahlte Steuern aus anderen Bereichen werden?
Die Abgrenzung ist durchaus schwer; das gebe ich zu.
Es ist nicht von heute auf morgen möglich - wir befassen
uns ja damit -, zwischen 630-Mark-Jobs und Ehrenamt in
jedem Falle eine deutliche Unterscheidung zu treffen.
Kollege Strebl, ich schätze Sie ja. Aber zu sagen, den
Ehrenamtlichen würden Steine statt Brot gegeben, ist
nicht die richtige Antwort auf die anstehende Frage. Wenn
wir etwas verbessern wollen, dann braucht es viel Geduld,
weil die Lösung immerhin 22 Millionen Menschen dieses
Landes betrifft. Wenn wir dabei daneben tappen, dann haben wir es wahrscheinlich mit sehr viel größeren Problemen zu tun, als wenn wir die Leute noch ein halbes Jahr
lang mit der weniger befriedigenden Lösung leben lassen.
({4})
Lassen Sie uns also in den Ausschüssen darüber reden,
in welcher Weise der von Ihnen vorgelegte Entwurf so
weiterentwickelt werden kann, dass er dem Anliegen,
dem wir alle folgen - ich unterstelle Ihnen, dass Sie etwas
Gutes für das Ehrenamt wollen, dass Sie es schützen wollen -, gerecht wird. Der nunmehr vorgelegte Entwurf wird
dem Anliegen aber nicht gerecht.
Sie müssen, wie gesagt, klar und deutlich definieren,
ob die Regelung, die Sie angeführt haben, nämlich ein
Siebtel der monatlichen Bezugsgröße nach § 18 Sozialgesetzbuch IV, das Nonplusultra ist oder nicht. Darüber
muss man einmal reden. Genauso müssen wir einmal über
andere Methoden sprechen - es sind schon ein paar genannt worden, etwa der Rentenpunkt -, durch die erreicht
werden kann, dass das Ehrenamt nicht nur im ideellen,
sondern auch im materiellen Bereich den ihm gebührenden Stellenwert erhält. Dazu brauchen wir etwas mehr
Zeit, als Sie sich genommen haben. Sie hatten Zeit. Aber
Sie haben die Zeit nicht genutzt, um neue Ansätze zu finden; vielmehr haben Sie die Zeit darauf verwandt, sich zu
wiederholen, und wenn man sich wiederholt, wird es nicht
besser.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Franz Thönnes.
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geht überhaupt nicht um das 630-Mark-Gesetz.
Es geht Ihnen auch nicht um das Ehrenamt. Ihnen geht es
darum, das deutsche Sozialversicherungsrecht auszuhöhlen.
({0})
Das ist das, was hinter diesem Antrag steckt.
Das wird dem Engagement der mehr als 22 Millionen
Menschen in Deutschland überhaupt nicht gerecht, die in
ihrer Freizeit Dienst für die Gesellschaft leisten und damit
zu einer der wichtigsten Säulen unserer demokratischen
Struktur geworden sind. Wir können auf den Einsatz dieser Menschen nicht verzichten. Wir müssen ihnen heute
Abend auch einmal ein großes Dankeschön für ihren Einsatz und für ihre Arbeit sagen.
({1})
John F. Kennedy hat einmal gesagt: „Wer Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen will, muss bereit
sein, die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen.“
({2})
Deswegen komme ich auf das zurück, was die ehemalige
Bundesregierung auf eine Große Anfrage der CDU/
CSU-Fraktion 1996 geantwortet hat:
Die fließenden Übergänge zwischen unbezahlter ehrenamtlicher und bezahlter Arbeit, das heißt, zwischen Ehrenamt und nebenberuflicher bzw. hauptamtlicher Tätigkeit, ... führen bei der Beantwortung
einzelner Fragen zu Unschärfen.
Recht hat sie; es führt zu Unschärfen.
Weiter hat die damalige Bundesregierung in ihrer Antwort ausgeführt:
Insgesamt ergibt die Auswertung der Umfrage bei
den Trägern ehrenamtlicher Arbeit, dass in der Frage
der Erstattung Unterschiede bestehen, dass aber der
weitaus überwiegende Teil der Ehrenamtlichen ohne
jegliches Entgelt oder mit nur geringen Kostenerstattungen oder Aufwandsentschädigungen arbeitet.
Meist decken diese Erstattungen den Kostenaufwand
nur zum Teil ab.
({3})
Ich habe vor gut einem Jahr mit einer Gruppe ehrenamtlich tätiger Bürgerinnen und Bürgern, die als Besuchergruppe zu mir in den Bundestag gekommen waren,
über dieses Thema sehr ergiebig diskutiert. Wir haben am
Beispiel einer ehrenamtlichen Führungskraft der freiwilligen Feuerwehr genau über diese Frage diskutiert, die Sie
jetzt so in den Mittelpunkt stellen. Nach 20 Minuten sagte
jemand von der „Tafel“, also von einer Vereinigung, die
Lebensmittel, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist,
einsammelt, um sie an Bedürftige zu verteilen: Moment
mal! Worüber reden wir eigentlich? Wir machen alles freiwillig, und zwar ohne Bezahlung. Wieso streiten wir uns
dann darüber, ob es dafür Geld geben soll? Damit wurden
das Spannungsfeld und die großen Unterschiede deutlich,
die es zwischen den auf verschiedene Art und Weise ehrenamtlich tätigen Menschen gibt.
Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal auf
die Antwort der ehemaligen Regierung auf die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion zurückkommen:
Kostenerstattungen oder Aufwandsentschädigungen
stehen der Ehrenamtlichkeit grundsätzlich nicht entgegen. Es entstehen jedoch Abgrenzungsprobleme,
zum Beispiel wenn die finanzielle Anerkennung ehrenamtlicher Arbeit ein Ausmaß erreicht, bei dem
nicht mehr von Unentgeltlichkeit gesprochen werden
kann, sondern von nebenberuflicher Erzielung von
Einkünften. Insbesondere die Unentgeltlichkeit macht
den Wert des Ehrenamtes aus. Die fließenden Übergänge zwischen unbezahlter ehrenamtlicher und bezahlter Arbeit, das heißt zwischen Ehrenamt und
nebenberuflicher bzw. hauptamtlicher Tätigkeit, aber
auch die fließenden Grenzen zwischen Selbsthilfe
und Ehrenamt führen bei der Beantwortung einzelner
Fragen eben wieder zu Unschärfen.
Deswegen kann ich Ihnen nur sagen: Dieses Problem lässt
sich nicht so einfach lösen. Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich die Sozialversicherungspflichtigkeit
danach bestimmt, ob sich eine Tätigkeit nach dem Sozialversicherungsrecht als Beschäftigung gegen Entgelt darstellt. Die Beurteilung obliegt den Sozialversicherungsträgern und richtet sich nach der Rechtsprechung in der
Bundesrepublik Deutschland und nach den Kriterien, die
den Begriff des Beschäftigungsverhältnisses definieren.
Wie sieht die Realität in diesem Land aus? Es gibt
Übungsleiter, die nach dem Sozialversicherungsrecht als
nicht selbstständig Tätige angesehen werden, und es gibt
Übungsleiter - jene, die im Verein nicht mehr als sechs
Stunden unterrichten - die nach dem Steuerrecht als
selbstständig Tätige angesehen werden. Eine einheitliche
Behandlung im Sozialversicherungsrecht und im Steuerrecht wollen auch wir. Wir arbeiten an diesem Fall.
Nun zu den ehrenamtlichen Führungskräften der freiwilligen Feuerwehr: Die Spitzenverbände der Sozialversicherung sagen - unter Bezugnahme auf die Führungskräfte der bayerischen Feuerwehren -, diese seien nach
§ 7 Abs. 1 SGB IV sozialversicherungspflichtig, weil sie
Beschäftigte der Kommunen sind.
Es gibt die ehrenamtlich Tätigen in der Kommunalpolitik, zum Beispiel die ehrenamtlich tätigen Bürgermeister, die eine Aufwandsentschädigung erhalten. Dazu
sagt zum Beispiel die Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein: Die hauptamtlich tätigen Bürgermeister
machen überwiegend Verwaltungsarbeit. Deshalb ist das,
was sie bekommen, sozialversicherungspflichtig. Aber
die ehrenamtlich tätigen Bürgermeister üben überwiegend repräsentative Tätigkeiten aus. Deshalb ist das, was
sie bekommen, sozialversicherungsrechtlich freigestellt.
Gleichzeitig geben alle Beteiligten zu: Bei den Amtsvorstehern haben wir das noch nicht so genau geklärt.
Das alles führt dazu, dass die Fragen der Sozialversicherungspflichtigkeit und des Steuerrechts, die sich in den
unterschiedlichen Bereichen der ehrenamtlichen Tätigkeit stellen, bei denen, die über sie entscheiden müssen,
strittig sind. Darüber gehen Sie mit Ihrem Antrag einfach
hinweg und tun so, als wenn Sie die Weisheit gefunden
hätten.
Über welche Begriffe reden wir? Wir reden über
selbstständige und nicht selbstständige Beschäftigung,
über steuerpflichtige und nicht steuerpflichtige Aufwandsentschädigung, über Kostenerstattung, über
Übungsleiterpauschalen und - das ist der Gipfel - sogar
über Anerkennungshonorare. Dagegen kann eigentlich
niemand etwas haben. Aber Honorare haben immer etwas
mit Bezahlung zu tun: An dieser Stelle kann ich Sie deswegen nur daran erinnern, dass es die jetzige Koalition
war, die mit dem 630-DM-Gesetz festgelegt hat, dass
im Sozialversicherungsrecht Aufwandsentschädigungen
überhaupt beitragsfrei sind. Das wissen Sie ganz genau.
Versuchen Sie nicht, hier einen Popanz aufzubauen!
({4})
Ich komme nun zu Ihren Vorschlägen, die Sie niedergeschrieben haben. Erstens. Sie sagen, was eine ehrenamtliche Tätigkeit sei, solle auf Länderebene geregelt
werden. Was hat das für Folgen? - Das führt in den einzelnen Ländern von Schleswig-Holstein bis nach Bayern
zu Unterschieden in der Behandlung, wer ehrenamtlich
tätig ist und wer nicht. Eine solche Rechtszersplitterung in
diesem Lande kann doch keiner wollen. Dies würde zunehmend Gefahren der rechtlichen Auseinandersetzung
bergen; das wollen wir nicht. Sie bieten damit eine
Scheinlösung.
({5})
Zweitens. Sie wollen, dass sogar Tätigkeiten in Parteien, in Gewerkschaften, in karitativen Organisationen,
im kirchlichen Bereich von dieser Verpflichtung befreit
sind. Der begünstigte Personenkreis ist dann sogar so
groß - daran will ich Sie erinnern -, dass im Zweifelsfall
jemand, der für Scientology oder für die NPD als Parteifunktionär ehrenamtlich tätig ist, von der Sozialversicherungspflicht freigestellt wird. Das ist eine Scheinlösung.
({6})
Drittens. Sie fordern, dass der Einzelne ein Wahlrecht
haben soll, wann die ehrenamtliche Tätigkeit versicherungsfrei und wann versicherungspflichtig ist. Das kann
man doch nicht dem Einzelnen überlassen. Dafür haben
wir in Deutschland geltende Regelungen. Das widerspricht dem System, dass nach dem Sozialversicherungsrecht bestimmt wird, was sozialversicherungspflichtig ist
und was nicht. Das, was Sie in diesem Bereich anbieten,
ist eine Scheinlösung.
Viertens. Sie geben die Parallelität zwischen Steuerrecht und Sozialversicherungsrecht auf. Sie versuchen,
sich auch hier zu verabschieden und bieten nichts anderes
als eine Scheinlösung.
Wegen all diesen Punkten habe ich durchaus Verständnis
dafür, dass die deutschen paritätischen Wohlfahrtsverbände
mit über 2 Millionen Ehrenamtlichen und 380 000 Hauptamtlichen das ablehnen und sagen, Ihre Regularien führten im Gegenteil dazu, dass - 630 DM plus 300 DM
Übungsleiterpauschale - am Ende im Niedriglohnbereich
Billigarbeit ohne Sozialversicherungspflicht möglich
wird. Auch das ist eine Scheinlösung.
({7})
Abschließend möchte ich sagen: Meine Kollegin
Kumpf hat deutlich formuliert, was alles geleistet worden
ist. Es ist erreicht worden, dass ehrenamtliche Tätigkeit
bei den Übungsleitern und bei einem erweiterten Personenkreis steuerlich wieder so begünstigt wird - die
Grenze stieg von 2 400 DM auf 3 600 DM -, dass man den
Ansprüchen der Ehrenamtlichen in diesem Hause erstmals wieder ein Stück weit gerecht geworden ist.
Das, was Sie vorgelegt haben, produziert lediglich
neue Ungerechtigkeiten. Es ist unpräzise, es ignoriert geltendes Recht. Ich sage es noch einmal: Ich werde den Verdacht nicht los, als sollten hier bayerische Pfründe gesichert werden und als würde hier der Schwanz mit dem
Hund wedeln oder, besser gesagt, die CSU mit der CDU.
Das lassen wir mit uns nicht machen.
({8})
Herr Kollege,
denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ja. - Die meisten Ehrenamtlichen lassen sich von der Politik, die Sie machen, nicht beeinflussen. Ich möchte Ihnen nur mit Ihrer Antwort auf die
Große Anfrage antworten:
Die Bundesregierung ist der Überzeugung
- so lautet der letzte Satz der Anfrage dass eine Diskussion über eine finanzielle Förderung
des Ehrenamtes am Ende dem Ehrenamt sogar schadet. Diese Auffassung wird von vielen Verbänden
und Organisationen ausdrücklich geteilt. Es darf
nicht die Erwartung geweckt werden, als wäre am
Ende die bezahlte ehrenamtliche Arbeit möglich. Ehrenamtliche Arbeit muss mehr Anerkennung finden.
Dem kann ich nur Recht geben und schließe mit den
Worten von John F. Kennedy: „Frag nicht, was das Land
für dich tun kann, frage, was du für das Land tun kannst.“
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Riegert.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren!
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat in der vergangenen Woche hier im Reichstagsgebäude eine hervorragende Veranstaltung mit ehrenamtlich tätigen Bürgerinnen und Bürgern durchgeführt. Es war beeindruckend, mit
welchem Engagement diese Bürgerinnen und Bürger zur
Sache sprachen. Ihr Engagement und ihre Fähigkeit, sich
für andere und für die Gemeinschaft einzusetzen, waren
förmlich spürbar. Es waren vornehmlich Ehrenamtliche,
die in kleinen Einheiten, also eigenverantwortlich und
ohne Unterstützung durch einen großen Apparat, tätig
sind. Es war beschämend zu hören, dass oftmals nicht einmal ein Dankeschön für ihr Engagement übrig blieb. Es
war bedrückend zu hören, welchen bürokratischen Aufwand sie in ihrer Freizeit erledigen, wie viel Zeit sie für
Bürokratie aufwenden müssen.
({0})
Diese Zeit möchten sie lieber in ihr Engagement investieren. Hier müssen wir helfen.
({1})
Der von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vorgelegte
Gesetzentwurf zielt auch in diese Richtung: Entbürokratisierung durch Befreiung der Aufwandsentschädigung
ehrenamtlicher Tätigkeit von der Sozialversicherungspflicht. Ehrenamtlich Tätige haben kein Verständnis,
wenn sie für eine pauschale Aufwandsentschädigung von
monatlich 20, 30 oder 100 DM von den Sozialversicherungsträgern zur Kasse gebeten werden.
({2})
Sie wollen nicht, dass ihr ehrenamtliches Engagement mit
einer auf Einkommenserzielung ausgerichteten Tätigkeit
gleichgesetzt wird.
({3})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich unterstelle, dass wir alle in diesem Haus die ehrenamtlich Tätigen stärken wollen. Wir mögen in etwa
dieselbe Zielrichtung haben und nur unsere Wege mögen
sich unterscheiden. Doch wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion unternehmen etwas. Wir fordern Sie
durch unsere parlamentarischen Initiativen zur Diskussion heraus. Sie aber stellen sich dieser Diskussion nicht,
Sie weichen ihr aus und verharren vor dem Finanzminister wie das Kaninchen vor der Schlange, obwohl Sie genau wissen, dass es Handlungsbedarf gibt.
({4})
Aber wenn Sie etwas tun, dann zum Schaden des Ehrenamts: 630-Mark-Gesetz, Scheinselbstständigkeit und
Ökosteuer.
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grehn?
Nein, ich möchte im Zusammenhang ausführen.
({0})
Dies alles war für unsere gemeinnützigen Vereine und
die dort ehrenamtlich Tätigen Murks. Das hat zu Belastungen und Verärgerungen geführt. Sie wissen das, tun
aber kaum etwas, und wenn, dann halbherzig. Wir begrüßen die Anhebung des steuerlichen Freibetrags auf
jährlich 3 600 DM. Doch damit können Sie die Unsitten
des 630-Mark-Gesetzes nicht wettmachen.
({1})
Sie enttäuschen mich zwischenzeitlich. In den letzten
Debatten haben Sie wenigstens noch dazwischengerufen:
Was hat denn das 630-Mark-Gesetz mit dem Ehrenamt zu
tun? Ich erkläre es Ihnen noch einmal: Ihr bürokratisches
Monstrum führt bei den gemeinnützigen Vereinen und Organisationen erstens zu enormen Kostensteigerungen und
macht zweitens ein kompliziertes Lohnbürowissen erforderlich. Dies halsen Sie den Ehrenamtlichen auf.
({2})
Der ehrenamtliche Vorsitzende, der ehrenamtliche Geschäftsführer, der ehrenamtliche Kassierer muss das alles
bewältigen und dann auch noch die Kosten dafür auftreiben. Das belastet die Ehrenamtlichen.
({3})
Der Kollege Schmidt hat in seiner Rede am 29. Juni
von dieser Stelle aus mehr Gemeinsamkeiten in Sachen
ehrenamtliches Engagement eingefordert. Wir wollen
das. Wir sind dabei. Aber - Herr Kollege Schmidt kommt
ja schon gar nicht mehr zu den Debatten - wie sollen wir
zu Gemeinsamkeiten kommen, wenn Sie nichts tun?
({4})
- Wilhelm Schmidt war nicht da
({5})
und hat auch nicht geredet.
Sie haben heute die Gelegenheit, Ihr Angebot in die
Praxis umzusetzen. Lehnen Sie nicht einfach ab, stimmen
Sie zu!
({6})
Unser Gesetzentwurf ist gut; die Verbände haben uns das
in der Anhörung bestätigt.
({7})
Er kostet Sie wenig. Fast alle Abkassierten haben bereits
einen Schutz durch die Sozialversicherungspflicht. Sie
wollen keinen zusätzlichen Anspruch erwerben.
Wenn wir es mit der großen Bedeutung des ehrenamtlichen Engagements für unsere Gesellschaft ernst meinen,
wenn wir ehrenamtliches Engagement als Fundament unserer Gesellschaft verstehen, dann brauchen wir das Engagement mehr denn je. Unser Fraktionsvorsitzender,
Friedrich Merz, hat in einer richtungweisenden Rede zum
ehrenamtlichen Engagement
({8})
von starken Bürgern, von einem starken Staat, von starken
gesellschaftlichen Organisationen und von starken Unternehmen gesprochen.
Stärke des Staats zeigt sich nicht in einem ständigen
Regulierungsdrang. Das machen totalitäre Regime, um
Bürgerinnen und Bürger zu entmündigen. Ein Staat ist
stark, wenn er die Regelungskräfte den Bürgerinnen und
Bürger anvertraut, die Bürgerinnen und Bürger ermutigt,
mehr Verantwortung zu übernehmen, und wenn er Initiativen und freie Vereinbarungen von Bürgerinnen und
Bürger unterstützt. Deshalb müssen wir bei allen gesetzlichen Regelungen darauf achten, ob ehrenamtliches
Engagement tangiert wird. Das war eines unserer Anliegen beim Einsetzungsbeschluss hinsichtlich der EnqueteKommission.
({9})
Doch auch in diesem Punkt fehlt Ihnen die Entschlusskraft, das umzusetzen und die Bundesregierung zu fordern. An dieser Stelle hat diese Bundesregierung nur negative Markierungen gesetzt. Sie belastet ehrenamtliches
Engagement durch eine Fülle kleinkarierter Vorschriften.
({10})
Diese Bundesregierung hat sich bis heute nicht zu gesetzlichen Initiativen zu Aussetzungen der Neuregelungen der 630-Mark-Jobs und der Scheinselbstständigkeit,
zumindest für gemeinnützige Vereine, entschließen können. Diese Bundesregierung hat bis heute nicht darüber
nachgedacht, wie die Belastungen durch die Ökosteuer
für ehrenamtlich Tätige gemindert werden können. Diese
Bundesregierung hat bis heute nichts vorgelegt, was Aufwandsentschädigungen für ehrenamtlich Tätige von der
Sozialversicherung freistellt.
({11})
Aber diese Bundesregierung hat all diesen Unsinn angerichtet.
({12})
Zu unseren Initiativen sagen Sie immer Nein. Oder
sind Sie etwa der Auffassung, unser Staat könne sich diese
Entlastung nicht leisten? Dann müssen Sie sich aber die
Frage gefallen lassen, wie teuer es für den Staat wird,
wenn ehrenamtlich Tätige ihr Engagement einstellen.
Dies könnte sich der Staat fürwahr nicht leisten.
({13})
Unsere Gesellschaft wäre in der Tat ärmer, vor allem an
Wärme und Mitmenschlichkeit.
Unser rühriger Bundeskanzler hat doch stets ein offenes Ohr, wenn dies Schlagzeilen macht: Für den Profifußball gibt es sofort einen Termin, für Schumacher sofort
ein Telegramm, für Holzmänner prompt Millionen. Aber
Ehrenamtliche sind offensichtlich nicht schlagzeilenverdächtig genug.
({14})
Frau Kumpf, Sie haben schöne Reden gehalten, vor Ort
den Ehrenamtlichen Versprechungen gemacht. Die Vorsitzenden der Sportvereine in unserem Kreis warten noch
heute auf die von Ihnen versprochenen Verbesserungen.
Auch der Bundeskanzler hat beim Feuerwehrtag in Augsburg Versprechungen gemacht. Bis heute hat er nichts,
aber auch gar nichts vorgelegt.
({15})
Anhand des Beispiels Feuerwehr möchte ich das erläutern. Wir haben soeben einen Feuerwehrkommandanten
im Wahlkreis des Kollegen Norbert Barthle angerufen und
ihn gefragt, mit welcher Aufwandsentschädigung er ausgestattet werde. Er hat gesagt, dass er als Feuerwehrkommandant in einer Gemeinde mit 6 000 Einwohnern
800 DM bekomme.
({16})
- Im Jahr! - Im Jahr bekommt er 800 DM und Sie wollen
ihm noch die Sozialversicherungspflicht auferlegen.
({17})
Ich sage Ihnen noch eines: Ich war in der vergangenen
Woche in Schleswig-Holstein, im Bereich Ihres Landesverbandes, Herr Thönnes.
({18})
Dort habe ich mit den Feuerwehren diskutiert. Sie müssen
einfach einmal zur Kenntnis nehmen, dass es vordergründig vielleicht um die 200, 300 oder 400 DM Aufwandsentschädigung für die ehrenamtlichen Führungskräfte bei
der Feuerwehr Schleswig-Holstein geht. Aber auch all
jene bei der freiwilligen Feuerwehr in Schleswig-Holstein, die für ihren Dienst keine einzige Mark bekommen,
nehmen diese Diskussion zur Kenntnis und fragen sich:
Was ist das für eine Anerkennungskultur, wenn sich unser
Kommandant, der sich Tag und Nacht oder am Wochenende mit Leib und Leben für Retten, Bergen, Löschen einsetzt, von Ihnen anhören muss, dass es Feuerwehrleute
gibt, die mit 2 000 DM im Monat entschädigt werden?
Wir werden dies dem Feuerwehrverband mitteilen und
werden uns vortragen lassen, in wie vielen Fällen ein Feuerwehrmannkommandant 2 000 DM im Monat bekommt.
Ich kann Ihnen heute schon garantieren, das werden nicht
viele sein.
Lassen Sie mich noch ein Wort zu der Erweiterung des
Personenkreises sagen,
({19})
der in den Genuss der Übungsleiterpauschale kommt. Da
haben Sie die Verantwortungsträger schlichtweg vergessen. Je höher die Verantwortung, desto seltener kommt die
Übungsleiterpauschale in Anwendung. Präsidenten, Vorsitzende von Vereinen, Geschäftsführer, die ihre Tätigkeit
ehrenamtlich ausüben, Schatzmeister und auch Feuerwehrkommandanten haben Sie schlichtweg vergessen.
Zur Gesundheitsförderung, Frau Kumpf, hat Ihnen Ihr
Mitarbeiter nicht das Richtige aufgeschrieben. Im § 20
SGB IV haben Sie ein 5-DM-Limit eingeführt. Zwischenzeitlich wird über Verwaltungsvorschriften die
Schwelle so hoch gelegt, dass ein Übungsleiter ein Hochschulstudium braucht, um überhaupt die Präventionsvorschriften erfüllen zu können.
Lassen Sie mich zum Schluss noch ein Wort zu der
Auseinandersetzung in der Enquete-Kommission bezüglich der Einladung von Verbänden sagen. Es ist doch bezeichnend, dass Sie zum einen sagen, Sie wollten im Konsens handeln, und alle Unterverbände von Dachverbänden, die schon eingeladen wurden, von den Listen
streichen, Sie aber zum anderen sagen, die DAG bleibe
drin, weil sie nicht im DGB sei, während Sie den Christlichen Gewerkschaftsbund aber mit Ihrer Mehrheit von
den Listen gestrichen haben.
({20})
In gleicher Weise sind Sie mit dem Bund der Vertriebenen,
mit dem Kolpingwerk und mit den Musikverbänden verfahren.
({21})
Zuerst reden Sie von Konsens, dann kicken Sie Ihnen
nicht genehme Verbände heraus!
({22})
Ich fordere Sie deshalb heute noch einmal auf: Zeigen
Sie endlich einmal Kraft und Stärke. Verhandeln Sie mit
uns in den Ausschüssen über unseren Entwurf. Das würde
das ehrenamtliche Engagement wirklich stärken. Folgen
Sie den Vorschlägen in unserem Gesetzentwurf!
({23})
Herr Kollege
Bürsch, die Redezeit war schon überschritten, deswegen
konnte Ihre Zwischenfrage nicht mehr berücksichtigt
werden. Außerdem haben wir noch zwei Kurzinterventionen. Zunächst erteile ich das Wort dem Kollegen Grehn,
danach folgt die Abgeordnete Barbara Hendricks. Außerdem können Sie, Herr Riegert, auf beide Interventionen
antworten.
Herr Kollege Riegert, rein
sachlich: Ich weise Ihre Aussagen, dass in diesem Parlament nichts für das Ehrenamt getan wird, mit Nachdruck
zurück. Ich selber arbeite in der Enquete-Kommission
„Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ mit. Ich
behaupte, dass sich alle Mitglieder - einschließlich der
Mitglieder aus Ihrer Fraktion - in dieser Enquete-Kommission, die eine Einrichtung dieses Hohen Hauses ist, erhebliche Arbeit machen und Sorge dafür tragen, dass das
bürgerschaftliche Engagement vorwärts gebracht wird
und die Bedingungen für die Engagierten so weit wie
möglich erleichtert werden. Ich lasse nicht zu, dass deren
Arbeit diskreditiert wird. Ich erwarte von Ihnen eine Entschuldigung.
({0})
Jetzt eine Kurzintervention der Kollegin Hendricks.
Herr Kollege Riegert!
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSUFraktion! Sie sind natürlich frei, jederzeit jeden Gesetzentwurf einzubringen, jederzeit jeden Antrag in diesem
Hause zu stellen, jederzeit jede Rede in diesem Hause zu
halten. Gleichwohl wäre es manchmal hilfreich, wenn
man sich, bevor man an das Pult dieses Hohen Hauses
schreitet, ein wenig sachkundig machen würde.
({0})
Sie, Kollege Riegert, haben in Ihrer Rede zum Beispiel
behauptet, dass jemand, der 20 oder 30 DM im Monat bekommt, dadurch sozialversicherungspflichtig würde. Das
ist barer Unsinn.
({1})
- Das hat er gerade gesagt. Darum weise ich das zurück. Die Sozialversicherungspflicht fängt ungefähr bei einem Verdienst von 90 DM im Monat an. Wenn wir von denen reden - um im Bereich Ihres Antrages zu bleiben -,
die schon eine Beschäftigung haben und außerdem ehrenamtlich tätig sind, wäre die Bagatellgrenze der Sozialversicherung natürlich überschritten, weil ja ein anderes Einkommen da ist.
Reden wir jetzt aber einmal von den Einkünften im Ehrenamt. Als Randbemerkung möchte ich hinzufügen: Es
gibt gesellschaftlich anerkannte und gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten, die aufgrund der Einkünfte, die
dafür bezogen werden, als gesellschaftlich notwendige
Nebentätigkeiten und nicht mehr als Ehrenamt bezeichnet
werden sollten. Insofern müssten wir vielleicht noch einmal über die Definition des Ehrenamtes reden. Es gibt in
der Tat Unterschiede bei den einzelnen Tätigkeiten. Es
gibt gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten, die zwar
neben dem Beruf ausgeübt werden, aber für ein erstaunlich hohes Entgelt. Man muss fragen, ob dies noch mit der
Definition des Ehrenamtes vereinbar ist.
Wenn wir über das Ehrenamt im engeren Sinne reden,
dann muss man feststellen, dass es zwei steuerliche Regelungen gibt, die begünstigend wirken und die zugleich
die Sozialversicherungsfreiheit bedingen. Es gibt zum einen die Aufwandspauschale mit der so genannten DritKlaus Riegert
telungsregelung, die bis zu 300 DM im Monat ausmachen
kann. Es gibt zum anderen die Übungsleiterpauschale,
die zum Beispiel Feuerwehrleute, die zugleich ausbildend
im Feuerwehrverband tätig sind, geltend machen können.
Diese Regelungen gelten kumulativ. Das heißt, neben einem regulären Einkommen aus einer Hauptbeschäftigung
sind so bis zu 600 DM im Monat steuerfrei und sozialversicherungsfrei.
Der Popanz, den Sie aufbauen, entspricht einfach nicht
den Tatsachen. Wenn in Zwischenrufen behauptet wurde,
dass Feuerwehrleute bis zu 2 000 DM im Monat bekommen - der Kollege Jochen-Konrad Fromme aus Niedersachsen hat in dem Punkt widersprochen; auch ich kann
das für Nordrhein-Westfalen nicht bestätigen -, dann
muss man wissen, dass es in Bayern in der Tat Gemeindefeuerwehrhauptbrandleute gibt, die mit bis zu 2 000 DM
im Monat entschädigt werden. Das entspricht dem Einkommen einer hauptberuflich tätigen Verkäuferin. Handelt es sich dann wirklich noch um ein Ehrenamt, dessen
Entschädigung man steuerfrei stellen kann? Mindestens
300 DM und - wenn man zudem als Übungsleiter tätig
ist - kumulativ bis zu 600 DM können steuerfrei sein. Irgendwann muss aber mal Schluss sein. Es geht auch um
Gerechtigkeit in dieser Gesellschaft.
({2})
Frau Staatssekretärin, ich
habe in meiner Rede in der Tat von einem überschießenden Betrag in Höhe von 20, 30 oder 100 DM gesprochen.
Wenn man eine Sozialversicherungspflicht von 20 Prozent unterstellt, dann kann man sich leicht ausrechnen,
dass man für Einnahmen von 4, 6 oder 20 DM aufgrund
der Sozialversicherungspflicht einen großen bürokratischen Verwaltungsaufwand betreiben muss.
({0})
Das wissen Sie ganz genau.
Sie haben gewisse Regelungen betrachtet, die kumulativ zur Anwendung kommen können. Ihre Kollegen haben
von einem Entgelt von 2 000 DM bei Feuerwehrleuten
gesprochen. Dieser Betrag ist noch von den 3 000 DM getoppt worden, die die Kollegen der Fraktion der PDS zur
Sprache brachten. Ich sage Ihnen dazu: Das ist nicht die
Realität bei der Feuerwehr. Diese Fälle werden durch unseren Gesetzentwurf auch nicht erfasst. Dazu habe ich
eindeutige Ausführungen gemacht.
Was die Erweiterung des Personenkreises anbelangt,
ist es in der Tat so, dass diejenigen, die ausbilden, durch
die Erweiterung der Regelungen hinsichtlich der Betreuung besser gestellt wurden. Auch das habe ich ausgeführt.
Es gibt aber eine Antwort der Bundesregierung, nach der
Sie bei Verantwortungsträgern, also zum Beispiel bei Feuerwehrkommandanten, davon ausgehen, dass dieser Bereich der Tätigkeit nur 60 Prozent der Zeit in Anspruch
nimmt und 40 Prozent der Zeit am Schreibtisch verbracht
werden.
Es gibt noch einen weiteren Punkt. Sie können unmöglich wollen, dass alle Ehrenamtlichen dieser Republik jedes Telefongespräch, jede Briefmarke, jeden gefahrenen Kilometer und alle anderen Aufwendungen, die sie
haben, mit bürokratischem Aufwand aufführen, um Ihren
Regelungen gerecht zu werden. Dazu dient die pauschale
Aufwandsentschädigung. Sie darf deshalb nicht besteuert
werden.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Christian Simmert.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Riegert, ich gehe nur kurz auf
Ihre Ausführungen ein. Ein bisschen mehr Gelassenheit
und Sachkenntnis und eine verstärkte Teilnahme an den
Sitzungen der Enquete-Kommission würde Ihnen vielleicht ganz gut tun. Dann könnten Sie den Stand der Diskussion in der Enquete-Kommission besser zur Kenntnis
nehmen.
({0})
Der vorliegende Gesetzentwurf der CDU/CSU trägt
den Titel „Entwurf eines Gesetzes zur Förderung ehrenamtlicher Tätigkeit“. Wenn wir uns aber den Gesetzentwurf anschauen, dann stellen wir fest, dass Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, die Förderung des
freiwilligen Engagements allein auf die Sozialversicherungspflicht reduzieren. Das haben wir gerade wieder
eindrucksvoll bewiesen bekommen. Die Förderung des
bürgerschaftlichen Engagements insgesamt ist jedoch
weitaus mehr und das sollte auch die CDU/CSU-Fraktion
zur Kenntnis nehmen.
({1})
Wahrscheinlich - was sage ich? Nach dieser Debatte
würde ich eher sagen: definitiv - geht es Ihnen nicht um
den angekündigten Titel; es geht Ihnen um die Aushebelung der 630-Mark-Regelung durch die Hintertür. Ich
sage Ihnen: Das wird Ihnen nicht gelingen.
({2})
Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Wir wollen
diesen Etikettenschwindel nicht. Wir wollen eine Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements, des freiwilligen Engagements insgesamt.
({3})
Deswegen diskutieren wir mit Ihnen auch in der EnqueteKommission. Ich hoffe, dass wir dort zu einer gemeinsamen Lösung kommen.
Aus Sicht der Arbeit der Enquete-Kommission gibt
es weitaus größere Herausforderungen hinsichtlich der
Unterstützung des freiwilligen Engagements. Es ist die
gesellschaftliche Anerkennung auch im traditionellen
Engagement für das Gemeinwohl, die wir begrüßen und
natürlich fördern müssen. Doch sollten wir dies nicht
blind tun. Mit einer bloßen Änderung des SGB IV ist es
da nicht getan. Die Enquete-Kommission hat einen wesentlichen Schwerpunkt - auch das hat die Kollegin
Kumpf vorhin gesagt - auf die rechtlichen Rahmenbedingungen gelegt. Seien Sie sicher: Wir werden hier relativ
sauber arbeiten und wenn Sie kommen, können Sie mitarbeiten.
Allerdings - das wiederhole ich an dieser Stelle - frage
ich mich bei Aufwandsentschädigungen im Bereich
der freiwilligen Feuerwehr in Bayern von bis zu rund
2 000 DM monatlich zusätzlich zum sonstigen Erwerbseinkommen - das ist vorhin angeklungen -: Ist das wirklich
das einzige Problem der staatlichen Rahmenbedingungen,
dass derart hohe Summen sozialversicherungsfrei bleiben? Ich glaube das nicht. Wenn wir sehen, dass im Bundesrat ein ähnlicher Antrag aus Bayern anhängig ist, dann
wissen wir, aus welcher Richtung da ein entsprechendes
Interesse bekundet wird.
Wir sollten uns der Diskussion weitaus differenzierter
stellen, als das der Antrag der CDU/CSU-Fraktion tut.
Was ist bürgerschaftliches Engagement, was nicht? Inwiefern wird den Engagierten mehr Trennschärfe dienen?
Wie kann freiwilliges Engagement anerkannt und gefördert werden? Hier muss auch Anerkennung in immaterieller Art und Weise eine wichtige Rolle spielen. Es wäre
sicherlich auch wünschenswert, wenn man sich bei den
Ehrenamtlichen nicht nur auf beinahe ausschließlich von
Männern ausgeführte Tätigkeiten konzentrieren würde.
Vielleicht werden auch Sie, Herr Riegert, dann zur der Erkenntnis kommen, dass es einige Menschen gibt, für die
Sozialversicherungspflicht eher ein Vorteil wäre.
Genau diesen Fragen werden wir in der Enquete-Kommission nachgehen müssen. Darüber hinaus will ich an
dieser Stelle vor allen Dingen die Rolle neuer Initiativen
betonen, von denen in dieser Diskussion bis jetzt von
der rechten Seite des Hauses - anders bei der Kollegin
Kumpf - überhaupt nicht die Rede war. Sie haben immer
von Verbänden gesprochen, von den traditionellen Tankern. Es gibt aber auch noch andere. Es gibt Selbsthilfegruppen, Freiwilligenagenturen, Bürgerinitiativen oder
auch die kommunalen Prozesse im Rahmen der lokalen
Agenda 21. Das sind nur einige Beispiele, die ebenfalls
Formen der Förderung benötigen.
({4})
Gerade mit Blick auf die Stärkung der Zivilgesellschaft
gilt es, neue Ansätze bürgerschaftlichen Engagements zu
stärken, auch und vor allem im Hinblick auf Zivilcourage
gegen Rechts und damit für die Demokratisierung in unserem Land.
Zum Schluss möchte ich noch eines unterstreichen.
Die klassischen Ehrenamtskarrieren gibt es immer weniger, Formen so genannter neuer Ehrenamtlichkeit sind
immer attraktiver, gerade für junge Menschen. Junge
Menschen bezeichnen dies selber eher als freiwilliges Engagement, nicht als Ehrenamt. Für viele junge Menschen
ist dieses Engagement wichtiger Bestandteil ihres Lebenslaufes, zum Teil begleitend, zum Teil konzentriert im
Rahmen eines freiwilligen Dienstes im In- und Ausland.
Hier müssen wir die rechtlichen Rahmenbedingungen
wesentlich verbessern; hier müssen wir Rechte absichern.
Auch dies ist ein wichtiger Bestandteil zur Förderung
ehrenamtlicher Tätigkeit.
Lassen Sie uns also eine breit gefächerte Diskussion
um die Förderung des freiwilligen Engagements führen,
die nicht nur auf den Blickwinkel der Sozialversicherung
eingeengt ist. Hier gilt auch der Satz: Vielfalt statt Einfalt.
Danke.
({5})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 14/3778 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Steuersenkungsgesetzes ({0})
- Drucksache 14/4217 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Es ist interfraktionell vereinbart, die heutige Tagesord-
nung um die Beratung des Antrags der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Mittelstand entlasten - Steu-
ersenkungsgesetz nachbessern“ auf Drucksache 14/4285
zu erweitern und den Antrag zusammen mit diesem Ta-
gesordnungspunkt zu beraten. - Ich sehe, Sie sind damit
einverstanden. Dann ist so beschlossen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Kein
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Die Kollegin Barbara Höll hat gebeten, ihre Rede zu
Protokoll geben zu dürfen.*) Sind Sie damit einverstan-
den? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir auch so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Herr Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel.
*) Anlage 2
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am 14. Juli dieses
Jahres hat der Bundesrat dem vom Bundestag beschlossenen Steuersenkungsgesetz seine Zustimmung gegeben.
Dieses Steuersenkungsgesetz bringt die größte Steuerentlastung, die es je in der Geschichte der Bundesrepublik
gegeben hat.
({0})
Es führt ab dem Jahre 2005 zu einem Entlastungsvolumen
von 93 Milliarden DM. Die größte Entlastungsstufe wird
ab dem 1. Januar 2001 45 Milliarden DM betragen.
Dieses Steuersenkungsgesetz repräsentiert, verbunden
mit dem Steuerentlastungsgesetz, die Steuerpolitik der
Bundesregierung für diese und die nächste Wahlperiode.
In der Auswirkung verteilt sich das Entlastungsvolumen
so, dass 65 Milliarden DM nachhaltig bei den privaten
Haushalten und 30 Milliarden DM bei den kleinen und
mittleren Unternehmen ankommen, während die Kombination von Entlastungsgesetz und Steuersenkungsgesetz
bei den großen Unternehmen zu einem Minus von 1 bis
2 Milliarden DM führt. Die großen Unternehmen ihrerseits hatten jedoch niemals eine hohe Steuerlast. Vielmehr
war für sie das bisherige, nicht wettbewerbsfähige Steuerrecht eine Last. All dies haben wir gelöst.
Voraussetzung für die Einbringung des Entwurfes eines Steuersenkungsgesetzes war die Einleitung einer Strategie der Konsolidierung des Bundeshaushaltes. Denn
nur dann, wenn man seine Ausgaben im Griff hat, nur
dann, wenn man einen Weg verfolgt, der aus der Staatsverschuldung herausführt, kann man glaubwürdig, solide
und seriös an Steuersenkungen herangehen.
({1})
Wer seinen Haushalt nicht in Ordnung hat, wer fortwährend neue Schulden macht, wer Steuersenkungen sogar auf Pump macht, der wird in Wirklichkeit für die
nächsten und übernächsten Jahre Steuererhöhungen vorbereiten.
({2})
Dies beides gehört zusammen. Das ist der Sachverhalt.
Das Problem ist, dass Sie die Staatsverschuldung in die
Höhe getrieben haben. Aus dieser Ecke müssen wir heraus.
({3})
Nun hat der Bundesrat, als er dem Steuersenkungsgesetz mehrheitlich zugestimmt hat, dies mit der Erwartung
verbunden - dies hat er in einer Resolution niedergelegt -,
dass noch an zwei Stellen Änderungen vorgenommen
werden: Die eine betrifft die Absenkung des Spitzensteuersatzes von 43 auf 42 Prozent im Jahre 2005 ab einem zu versteuernden Einkommen von 102 000 DM. Dies
wird in dem heute vorliegenden Gesetzentwurf umgesetzt.
Damit ist übrigens der obere Grenzsteuersatz in
Deutschland der niedrigste, den es im Rahmen der Europäischen Union gibt. Zwar gibt es noch zwei Länder, die
tarifär niedriger liegen, nämlich das Vereinigte Königreich und Portugal. Sie haben einen oberen Grenzsteuersatz von jeweils 40 Prozent. Der greift aber wesentlich
früher: in Portugal bei einem Einkommen von 60 000 DM
und in Großbritannien bei einem Einkommen von
66 000 DM. Bei uns greift der obere Grenzsteuersatz von
42 Prozent bei einem Einkommen von 102 000 DM.
Damit befinden wir uns, wie wir es immer angestrebt
haben, nicht nur aufgrund eines außerordentlich hohen
steuerfreien Existenzminimums und eines niedrigen Eingangssteuersatzes europaweit am unteren Ende und sind
vorbildlich. Wir sind in der Tat auch beim oberen Grenzsteuersatz - das war nicht die ursprüngliche Absicht der
Bundesregierung und auch nicht meine; das will ich ausdrücklich betonen - das Land mit der niedrigsten Steuerbelastung. Das war Ergebnis des Vermittlungsverfahrens.
Aber, meine Damen und Herren: besser diesen Kompromiss geschlossen als die Steuerreform auf die lange Bank
geschoben, was insbesondere die Opposition im Deutschen Bundestag gewollt hat.
({4})
Die zweite Erwartung, die der Bundesrat an sein zustimmendes Votum geknüpft hatte, war eine zusätzliche
Mittelstandskomponente: die Wiedereinführung des
halben Steuersatzes bei Betriebsveräußerungen. Aber
um zu verhindern, dass daraus wieder ein Steuerschlupfloch würde, gilt dies nur einmal im Leben und
auch erst nach Vollendung des 55. Lebensjahres.
({5})
Das hat den Hintergrund, dass das dann wirklich eine Betriebsveräußerung sei, mit deren Ergebnis man dann Altersvorsorge betreiben könne. Das Gesamtvolumen dieser
Entlastung, die ebenfalls im Gesetz vorgesehen ist, beträgt rund 7 Milliarden DM. Damit ist - das war von unserer Seite her selbstverständlich - die Erwartung des
Bundesrates erfüllt. Dies schlagen wir Ihnen vor.
Ich will dem Bundesrat und der Mehrheit der Länder,
die diese Entscheidung herbeigeführt haben, ausdrücklich
danken.
({6})
Es waren die Länder, die sich bereits im Vermittlungsausschuss intensiv um das Zustandekommen eines Vermittlungsergebnisses bemüht haben, zum Beispiel die großen
Koalitionen und auch die sozialliberale Koalition in
Mainz. Ich sage ausdrücklich auch Dank an die F.D.P., in
diesem Fall vermittelt über Herrn Brüderle, dass sie - und
damit die Mainzer Landesregierung - sich entschieden
hat, mit der Zusage dieser Änderungen dem Steuersenkungsgesetz zuzustimmen. Denn es war für alle klar: Ein
rein parteitaktisches Spiel, die Steuerreform über die
Sommerpause zu ziehen, wäre für die deutsche Wirtschaft, für unser Ansehen in der Welt und für die weitere
konjunkturelle Entwicklung im Lande Gift gewesen.
({7})
- Es wäre weder gut für die Steuerzahler gewesen, Herr
Rauen, noch für die Bürger.
Sie wissen es doch genauso gut wie ich: Das Entlastungsvolumen ist jetzt an der Grenze des Möglichen. Wir
sind nicht, wie ich ausdrücklich sage, mit einem so hohen
Entlastungsvolumen in die Steuerreformdebatte hineingegangen, und zwar mit Blick auf die Haushalte der Länder
wie auch auf den des Bundes. Jedenfalls - Sie konnten das
ja auch sehen - hat das die große Mehrheit der Länder bis
an die Grenze des finanziell Möglichen strapaziert. Deswegen waren alle anderen Reden und alle anderen Vorschläge niemals realistisch; denn die große Mehrheit der
Länder im Bundesrat hätte ihnen niemals zugestimmt.
Das haben Sie in Ihrer Strategie von vornherein verfehlt.
Sie können nicht die bayerische Strategie zur Mehrheitsstrategie der deutschen Länder machen.
({8})
Übrigens sind auch die Bayern froh, dass es nicht zu dem
gekommen ist, was sie selber vorgeschlagen haben.
Deswegen sage ich noch einmal ausdrücklich Dank an
die Ländermehrheit. Unter dieser Voraussetzung ist es
dann auch selbstverständliche Pflicht, das, was die Ländermehrheit mit ihrer Resolution als ihre Voraussetzung
für die Zukunft artikuliert hat, nun im Gesetzgebungsverfahren zu vollziehen. Ich bitte Sie daher um die Zustimmung zu diesem Steuersenkungsergänzungsgesetz.
({9})
Das Wort hat
jetzt Herr Kollege Fromme.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer
wäre nicht für Steuersenkungen? Insofern verspricht der
Titel Ihres Gesetzes zunächst einmal etwas Positives.
({0})
Da steht nicht nur „Senkung“, da steht sogar „Ergänzung“. Sie wollen also deutlich machen, dass Sie etwas
Positives fortsetzen.
({1})
Aber wie so oft bei Ihnen stimmen Überschrift und Inhalte nicht überein.
({2})
Ihre Ökosteuer ist weder „öko“ noch „logisch“.
({3})
Der Mittelstand wird von der Steuer nachteilig getroffen;
denn zunächst einmal muss er 15 Milliarden DM vorfinanzieren. Die Erleichterung kommt dann vielleicht
2005.
({4})
Der Montagearbeiter wird bei Ihrem Progressionsverlauf
bei der letzten Mark fast so besteuert wie der Millionär.
Das kann doch wohl nicht richtig sein.
({5})
In Wahrheit handelt es sich bei diesem Gesetz doch um
ein Reparaturgesetz. Die Kette Ihrer Reparaturen wird
immer länger. Sie mussten die Zinssteuerregelung korrigieren. Sie müssen am Freitag die Ökosteuer korrigieren,
weil Sie sonst Schwierigkeiten bekommen.
({6})
- Weil Sie die Kilometerpauschale als Reparatur einführen müssen. - Sie müssen für die Kirchen eine zweite
Bemessungsgrundlage einführen, um großen Schaden
von ihnen abzuwenden.
({7})
Die nächste Reparatur des Steuerentlastungsgesetzes steht
ins Haus. Das Finanzgericht Münster hat Ihnen deutlich
ins Stammbuch geschrieben, dass die Regelung in Bezug
auf die Verlustverrechnung verfassungswidrig ist. Wir
werden uns hier demnächst wieder damit beschäftigen. Im
Urteil heißt es: „Im Streitfall liegt eine derartige Ungleichbehandlung auf der Hand.“ Das ist verfassungswidrig.
Meine Damen und Herren, diese Regelung haben Sie
während des Verfahrens eingeführt und abgeändert, weil
Ihnen alle Experten zu der ersten Regelung gesagt haben,
dass das so nicht läuft. Wir wollten eine zweite Anhörung
durchführen, weil wir von Anfang an - wie die ganze
Fachwelt - Bedenken hatten. Sie haben sie vom Tisch gewischt. Das Finanzgericht Münster hat Ihnen jetzt erklärt,
dass es doch besser gewesen wäre, auf uns zu hören.
Dafür werden Sie die Quittung bekommen.
({8})
Es ist ja bemerkenswert, wie Sie Ihre Positionen verändern. Vieles von dem, was jetzt Gesetz ist, haben Sie
1996 ohne Alternative einfach vom Tisch gewischt. Sie
haben durch das Steuerentlastungsgesetz viele sinnvolle
Regelungen gegen unsere Ratschläge aus dem Steuergesetz gestrichen.
({9})
Dann haben Sie Teile - ich betone ganz besonders: Teile unseres Konzeptes übernommen. Dadurch, dass Sie nur
Teile übernommen haben, ist jetzt eine Schieflage entstanden, wie sie schlimmer nicht sein kann.
({10})
- Nein, schönen Dank.
Das Ganze hätten wir vor vier Jahren gemeinsam umsetzen können. Wer jetzt sagt, die Steuerreform schaffe
Arbeitsplätze, der ist verantwortlich dafür, dass diese
Arbeitsplätze nicht schon in den letzten vier Jahren
geschaffen worden sind.
({11})
Ihnen fehlt der Mut zu einer richtigen, kurzfristigen
Steuerentlastung. Sie entlasten in Raten bis zum Jahr 2005
oder bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag. Sie hätten sich ein
Beispiel an den stoltenbergschen Steuerreformen nehmen
sollen. Damals haben wir mit einer kräftigen, kurzfristigen Absenkung am Ende mehr Geld in der Kasse gehabt.
({12})
Am Ende gab es sogar mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigte. Das war beispielhaft.
({13})
An diesem Kurs und an dem Konzept, das wir 1996 vorgelegt haben, hätten Sie sich ein Beispiel nehmen können.
Ihre Steuerreform ist unausgegorenes Stückwerk. Sie
wurschteln sich zwar weiter vorwärts und ein Stück weit
in die richtige Richtung, aber eben immer nur ein Stück
weit, weil Sie nur schrittweise vorgehen. Sie wurschteln
sich nach wie vor durch. In dem Antrag des Bundesrates,
in dem das Wort „Wiedereinführung“ geschrieben steht,
wird beispielsweise hinsichtlich der Veräußerungsgewinne der Eindruck erweckt, es würde das wieder hergestellt, was einmal war, weil es richtig war.
({14})
Wenn man aber genau hinsieht, stellt man etwas anderes
fest.
({15})
Wie sieht es denn mit den Versprechungen von gestern
aus? Bei Ihnen zählt das Wort von gestern nichts.
({16})
Ich darf an die Überschrift in der „Bild am Sonntag“ vom
6. September 1999 erinnern. Da der Benzinpreis um
6 Pfennig gestiegen war, sagte Gerhard Schröder: „Das ist
das Ende der Fahnenstange.“ Schauen Sie sich nun einmal
an, wo wir gelandet sind.
({17})
Am 17. Februar 1999 sagte Gerhard Schröder: „Ich stehe
dafür, dass die Renten wie die Nettolöhne steigen.“ Meine
Damen und Herren, sehen Sie sich das Ergebnis an.
({18})
Nach unserer Auffassung ist dieses Gesetz, damit es
eine wirklich runde Steuerreform wird, in folgenden fünf
Punkten ergänzungsbedürftig:
Erstens: Wiedereinführung des halben Steuersatzes bei
Betriebsveräußerungen ohne den von Ihnen vorgesehenen
Mindeststeuersatz und rückwirkend ab dem 1. Januar
1999.
({19})
Zweitens: zusätzliche Verbesserungen für den Mittelstand durch die steuerneutrale Umstrukturierung von Personengesellschaften. Auch diese hatten Sie abgeschafft.
Aber wir sollten sie wieder aufnehmen.
({20})
Außerdem sollten Gewinne aus Anteilsverkäufen in die
Reinvestitionsbegünstigung nach § 6 b EStG wieder aufgenommen werden. Auch das hatten Sie gestrichen.
({21})
Drittens: stärkere und frühere Senkung des Einkommensteuerspitzensatzes.
({22})
Viertens: Wiedereinführung des halben Steuersatzes
auch für Entschädigungen bei Arbeitnehmerabfindungen
und Ausgleichszahlungen an Handelsvertreter.
({23})
Fünftens: Wir brauchen kurzfristige Korrekturen, weil
Sie Frankfurt als Handelsplatz für Wertpapiere gefährden.
Wir haben einen entsprechenden Antrag eingebracht
und werden sehen, wie Sie sich dazu verhalten.
Es ist völlig unverständlich, dass Sie Arbeitnehmerabfindungen und Ausgleichszahlungen an Handelsvertreter
jetzt der Steuer unterwerfen und die Kapitalgesellschaften
freistellen. Ich will Ihnen dazu ein Beispiel aus meinem
Wahlkreis nennen.
({24})
Die Preussag hat für 400 Millionen DM Wohnungen gekauft, die sie jetzt für 1 Milliarde DM verkauft. Das ist
nach Ihrem Recht steuerfrei. Aber der Handelsvertreter,
der in den Ruhestand geht, muss jede Mark versteuern.
Das kann doch wohl nicht richtig sein.
({25})
Wie unsozial Ihre Steuerreform ist, konnten wir auch
bei der Anhörung der Kirchen hören. Die Kirchen haben
ganz deutlich gesagt, dass mit dem Halbeinkünfteverfahren die Menschen nicht mehr nach ihrer Leistungsfähigkeit besteuert werden, weil die Hälfte der Einkommen
nicht mehr bei der Progression berücksichtigt wird. Nur
das Vollanrechnungsverfahren, das schließlich unter Ihrem
Bundeskanzler Schmidt eingeführt worden ist, stellt sicher, dass auf der personalen Ebene gerecht besteuert
wird. Das sollten Sie sich einmal vor Augen führen.
Sie entlasten nicht. In Wahrheit sind Sie die Partei der
Steuererhöhungen.
({26})
- Hören Sie sich die Zahlen einmal an. - Im Jahre 1999
ist das Bruttosozialprodukt um 2,3 Prozent gestiegen. Die
Steuern sind um 6,3 Prozent gestiegen.
({27})
- Das ist das Dreifache.
({28})
Also muss doch, da wir ja 1999 eine ganz geringe Inflationsrate hatten, eine Steuererhöhung dahinter stecken.
Selbst wenn ich die Ökosteuer herausrechne, weil das eine
andere Entwicklung gewesen ist, sind die Steuern immer
noch mehr als doppelt so stark gestiegen wie das Bruttosozialprodukt. Deswegen sind Sie die Partei der Steuererhöhungen.
({29})
- Herr Minister Eichel, wenn ich die herausrechne, wird
es noch schlimmer, weil dann die übrigen Steuern noch
stärker gestiegen sind.
({30})
Es bleibt dabei: Sie sind die Partei der Steuererhöhungen.
({31})
- Sie hören das so gerne; deswegen habe ich es noch einmal wiederholt.
Herr Kollege
Fromme, denken Sie bitte daran, dass Ihre Redezeit abläuft.
Jawohl.
Dann versuchen Sie, mit Reparaturmaßnahmen wie bei
der Ökosteuer und mit einem Riesenbürokratieaufwand
das, was Sie vorne falsch gemacht haben, hinten wieder
geradezubiegen. Das wird Ihnen aber nie gelingen; denn
Sie werden durch diese Bürokratie niemals Gerechtigkeit
schaffen. Vielmehr schaffen Sie eine Vergrößerung des
Staatskuchens. Das entspricht auch Ihrer Ideologie. Sie
entmündigen die Bürger, weil Sie ihnen das Geld wegnehmen und sie nicht mehr die eigene Entscheidungsfreiheit haben.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Christine Scheel.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist
schade, dass gerade die CDU, die immer den Anspruch
hat, zukunftsorientiert zu sein
({0})
- den Anspruch -,
({1})
wenn es darauf ankommt, in der Regel nach hinten
blickt - verletzt, beleidigt, mit Neid benetzt,
({2})
wenn sie sieht, welche hervorragende Steuerreform wir
vonseiten der Regierungsparteien auf den Weg gebracht
haben. Genau das ist Ihr Problem.
({3})
Wenn wir uns anschauen, welche Forderungen Sie
jetzt stellen, kann man sagen: Es ist wieder das alte Lied.
Es sollen möglichst alle Steuerschlupflöcher aufgemacht,
möglichst alle Vergünstigungen wieder eingeführt werden, außerdem sollen die Steuersätze niedrig sein. Wie das
zu finanzieren ist, ist Ihnen ziemlich wurscht.
({4})
Das ist Ihre Strategie, obwohl Sie ganz genau wissen,
dass kein einziges Land, weder Baden-Württemberg noch
Bayern noch Hessen noch das Saarland noch die rot-grün
regierten Länder - von den neuen Bundesländen brauchen
wir gar nicht zu reden -, es akzeptieren würde, dass die
Steuerausfälle, die Sie mit Ihren Forderungen produzieJochen-Konrad Fromme
ren, auch die Länderhaushalte letztendlich belasten würden. Sie könnten überhaupt nicht zustimmen, weil sie
die verfassungsgemäße Gestaltung ihrer Länderhaushalte
nach den Maastricht-Kriterien, die wir zu erfüllen haben,
nicht gewährleisten könnten. Deswegen ist es reiner Populismus, wenn solche Forderungen vonseiten der CDU
aufgefahren werden.
({5})
Das ist besonders vor dem Hintergrund interessant,
dass dies gerade von einer der Parteien kommt, die diesen
Schuldenberg mit zu verantworten hat. Wir haben mittlerweile, wenn man alles zusammenrechnet, einen Schuldenberg - mit dem müssen wir umgehen - in einer
Größenordnung von 2,3 Billionen DM. Das sind
2 300 Milliarden DM. Davon entfallen 1,5 Billionen bzw.
1 500 Milliarden DM auf den Bund. Es ist eine hervorragende Leistung, dass es diese Regierung in Anbetracht
dieser äußerst schwierigen Rahmensituation schafft - das
sage ich ganz klar -, einen soliden Haushalt vorzulegen,
einen Konsolidierungskurs einzuschlagen und heute ein
Investitionsprogramm im Hinblick auf die UMTS-Erlöse
mit ökologisch wunderbaren Effekten vorzustellen.
({6})
Gleichzeitig legen wir das vorliegende Steuersenkungsprogramm auf.
({7})
Wir haben - das kann man an den Zahlen klar sehen eine Steuerquote, die in unserer Zeit erstmals wieder gesenkt wird. Herr Fromme, wenn Sie sagen, es gebe eine
Steuerentlastung, die in Wirklichkeit eine Steuerbelastung bedeutet, dann kann ich Sie nur darauf hinweisen:
Die Steuerquote ist gesunken. Die gesamte Steuernettoentlastung seit Beginn dieser Regierung bis zur letzten
Stufe wird sich in einer Größenordnung von über 90 Milliarden DM bewegen.
({8})
Es gab in der gesamten Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland noch niemals eine solch hervorragende Steuerentlastungspolitik, wie wir sie vonseiten dieser Regierung
jetzt machen.
({9})
Wir haben - auch das muss man klar sehen - besonderen Wert darauf gelegt, dass die zusätzliche Entlastung
durch die Reformschritte der breiten Masse der Steuerzahler und Steuerzahlerinnen zugute kommt. Die Maßnahmen, die Sie mit Ihren Anträgen hier immer wieder
vorstellen, nutzen sehr wenigen. Sie begünstigen in der
Regel diejenigen, die sehr hohe Einkommen haben, damit
sie möglichst - das sieht man an Ihren Vorschlägen in Hinsicht auf den § 34 EStG, also zur Betriebsaufgabe - ihren
Steuergestaltungsspielraum nutzen können, um ihre Steuerschuld fast auf null zu rechnen.
({10})
Das ist genau das, was wir vermeiden wollen. Wir wollen
mit niedrigen Tarifen alle vernünftig entlasten. Dazu passen keine Schlupflöcher in dieser Größenordnung.
({11})
Wir haben gerade bei dem Punkt, der die Länder betrifft, in der Beratung des Gesetzentwurfs klar gemacht,
dass wir keine weiteren Steuerausfälle verkraften können.
Minister Eichel hat darauf hingewiesen, dass sich das,
was im Bundesrat letztendlich hinzugekommen ist, in einer Größenordnung von rund 7 Milliarden DM an zusätzlicher Nettoentlastung bewegt. Das ist das, was man in einer verantwortlichen Finanzpolitik für Bund und Länder
gerade noch verkraften kann.
Man muss auch sehen, dass wir im Zusammenhang mit
der gesamten Entwicklung der kleinen und mittelständischen Unternehmen sehr viele Maßnahmen ergriffen
haben, die bereits im letzten und in diesem Jahr zum Tragen gekommen sind.
({12})
Wir haben bei einer Betriebsaufgabe den Freibetrag von
60 000 auf 100 000 DM erhöht. Sie hatten ihn seinerzeit auf 60 000 DM abgesenkt, um das noch einmal in
Erinnerung zu rufen. Wir haben ihn wieder angehoben.
Auch haben wir gesagt, dass wir alternativ zu dem durchschnittlichen halben Steuersatz, der ab dem 1. Januar 2001
mit den begleitenden Maßnahmen ab dem 55. Lebensjahr
oder bei Berufsunfähigkeit gelten wird, die so genannte
Fünftelungsregelung, die wir schon beschlossen haben,
beibehalten werden.
Diese Regelung rechnet sich für kleine Unternehmen,
wenn keine zusätzlichen Jahreseinkünfte in einer Größenordnung gegeben sind, die über dem Existenzminimum
liegen, besser, als wenn man den durchschnittlichen halben Steuersatz nimmt. Aber das wissen Sie sehr gut.
Wir sind angetreten, die Steuersätze nachhaltig zu senken. Wir sind angetreten, um gleichzeitig Steuervergünstigungen abzubauen und mit einer verantwortlichen Finanzpolitik das zu beheben, was Sie jahrelang in Ihrer
Verantwortung - ich sage jetzt einmal ganz bewusst - vermurkst haben. Es ist ein großer Schritt, der jetzt zum Ende
gebracht wird; es ist das, was an Ergänzungen zur Steuerreform 2000 nach der Bundesratsentscheidung notwendig
geworden ist.
({13})
Noch einmal kurz zu Ihrem Antrag: Ich gehe davon
aus, dass Sie das ein oder andere nicht so ernst nehmen
können.
({14})
Ich gehe auch davon aus, dass Sie sehr genau wissen, dass
die Absenkung der Beteiligungsgrenze von 10 auf 1 Prozent notwendig ist, um aufgrund der Strukturumstellungen eine missbräuchliche Gestaltung im Rahmen des Halbeinkünfteverfahrens und damit unkalkulierbare Steuerausfälle zu verhindern. Es ist zwingend, um das Ganze
auch weiterhin verantwortbar zu gestalten.
({15})
Ich gehe weiter davon aus, dass Sie genau wissen, dass
Ihr Antrag natürlich nicht angenommen werden kann,
weil Ihre eigenen Länder diesen Antrag nie unterstützen
könnten. Das wäre mehr als peinlich.
Danke schön.
({16})
Als
nächster Redner hat der Kollege Carl-Ludwig Thiele von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Wort
vorab zu Ihnen, Frau Scheel. Ihre Pirouetten sind manchmal schon tief beeindruckend;
({0})
denn wenn ich mich daran erinnere, dass Sie und der Kollege Metzger in der letzten Wahlperiode gegen die Steuerreform mit dem Argument votiert haben, Sie treten gegen eine Nettoentlastungslüge ein, weil der Staat nicht
entlastet werden darf, dann können Sie heute nicht sagen:
Endlich haben wir die Nettoentlastung erreicht, die Sie
vorher bekämpft haben. Das passt überhaupt nicht zusammen.
({1})
Der zweite Punkt. Die Veräußerungen der UMTS-Lizenzen und der Segen für den Hans im Glück -, kann ich
an dieser Stelle wohl sagen -, sind nur der Erfolg einer beherzten Privatisierungspolitik, die sich für Wettbewerb in
unserer Gesellschaft einsetzt, und zwar für einen Wettbewerb als Entdeckungsverfahren: Das beste System wird
sich durchsetzen. Da müssen wir Freiraum schaffen.
({2})
Ich beglückwünsche Sie, dass Sie momentan Profiteur der
Entscheidungen sind, die wir in der letzten Wahlperiode
getroffen haben.
({3})
Zu diesem Gesetz konkret. Für die F.D.P. begrüßen wir,
dass es in Deutschland endlich zur ersten Stufe einer Steuerreform gekommen ist, wobei insbesondere bei dieser
Reform gilt: Nach der Reform ist vor der Reform. Mit
dem Steuersenkungsergänzungsgesetz, welches wir heute
behandeln, soll eine weitere Entlastung der steuerpflichtigen, insbesondere der mittelständischen Wirtschaft beschlossen werden. Hierauf hat die F.D.P. gedrängt.
({4})
Es ist gut, dass dieses Steuersenkungsergänzungsgesetz
eine höhere Nettoentlastung, eine weitere Senkung des
Steuertarifs, eine Absenkung des Spitzensteuersatzes sowie die Wiedereinführung des halben Steuersatzes bei Betriebsaufgaben vorsieht. Diese Verbesserungen hat die
F.D.P. durchgesetzt, um die Diskriminierung von RotGrün gegen den Mittelstand an diesen Stellen zu beseitigen.
({5})
Die F.D.P. hatte sich schon zu Beginn der letzten Legislaturperiode für eine durchgreifende Vereinfachung
des Steuerrechtes, für mehr Gerechtigkeit, für ein Sinken
der Steuersätze mit dem Eingangssteuersatz von 15 Prozent und einem Spitzensteuersatz von 35 Prozent und vor
allem für eine deutliche Nettoentlastung der Bürger eingesetzt.
({6})
Dieses Ergebnis hätten wir haben können, wenn es nicht
blockiert worden wäre.
Lassen Sie uns doch noch einmal in Erinnerung rufen,
was Sie, Frau Scheel, und Rot-Grün eigentlich beschließen
wollten. Es war eine reine Unternehmensteuerreform, die
ausschließlich die Kapitalgesellschaften entlasten sollte.
({7})
Das war der Auftrag, den die Sachverständigenkommission von Ihnen erhalten hat. Dass wir nicht nur da gelandet
sind, sondern bei einer Senkung des Einkommensteuertarifes und einer Senkung der Belastung aller Steuerzahler
- die aus Sicht der F.D.P. nach wie vor zu niedrig ist -, haben Sie nur dem beständigen Drängen der Opposition zu
verdanken. Sie waren überhaupt nicht auf dem Trip.
({8})
Die Ideologie, Unternehmen in Deutschland müssen
entlastet werden, Unternehmer nicht, verkennt total die
gesellschaftliche Wirklichkeit in unserem Lande. Ja, wer
schafft denn die Arbeitsplätze in unserem Lande? Das
sind die Selbstständigen, die Freiberufler sowie die Mittelständler. Und gerade diese sollten nicht entlastet werden. Das war überhaupt nicht hinnehmbar.
({9})
Die Härte ist, dass Sie das Ganze mit den Stimmen von
Rot-Grün im Finanzausschuss und im Plenum des Deutschen Bundestages vor der Öffentlichkeit dadurch kaschieren wollten, dass Sie eine Optionslösung aufgebaut
haben. Die Optionslösung ist von Ihnen gekommen.
Als wir das Thema im Deutschen Bundestag nach dem
Ende der Beratungen unter Ihrem Vorsitz und mit Ihrer
Stimme im Finanzausschuss behandelt haben, waren wir
für den Bereich der Einkommensteuer bei einem Spitzensteuersatz von 45 Prozent. Das war Ihre Leistung und insofern finde ich es ganz erstaunlich, wie Sie den Weg zu
den 42 Prozent mühelos zurücklegen. Die Aussage, der
Tarif sei von Ihnen gesenkt worden, entspricht nur leider
nicht den Tatsachen,
({10})
denn unter Ihrem Vorsitz und mit Ihren Stimmen lag er bei
45 Prozent und auch der Tarif bewegte sich in dieser
Größenordnung, sodass die Nettoentlastung bei Ihnen viel
niedriger war, als sie jetzt von uns beabsichtigt ist.
({11})
Angesichts der morgigen Sitzung des Finanzausschusses und angesichts der Erfahrungen im parlamentarischen Verfahren zu dieser Steuerreform im Finanzausschuss appelliere ich an Sie, zu einem Minimum an
parlamentarischen Gepflogenheiten zurückzukehren. Die
Begrenzung der Zahl der Sachverständigen, wie es bei der
Anhörung zur Steuerreform der Fall war, war sehr dumm;
denn wenn Sie meinen, Ihre Reform ist gut, dann lassen
Sie doch die Sachverständigen kommen. Die jubeln Ihnen
doch allen zu.
({12})
Man hat vielmehr den Eindruck, Sie hätten etwas zu
verstecken. Das ist ja vermutlich auch der Grund - das,
Herr Finanzminister Eichel, verstehe ich nicht; vielleicht
könnten Sie darüber einmal mit Ihren Kolleginnen und
Kollegen Abgeordneten reden -, warum morgen bei der
Anhörung zum Steuersenkungsergänzungsgesetz die
Zahl der Sachverständigen auf 15 beschränkt werden soll.
({13})
Das ist doch eine reine Jubelnummer, die hier stattfindet.
Wenn es wirklich so ist, dass alle den Entwurf toll finden,
frage ich mich: Warum lassen Sie nicht einfach mehr
Leute jubeln und die sagen, das sei alles eine tolle Geschichte?
({14})
Aus Sicht der F.D.P. muss man in diesem Verfahren
jetzt darauf achten, dass über die Abgrenzungsprobleme
in diesem Bereich bezüglich der Arbeitnehmer, vor allem
aber auch der Handelsvertreter, in Ruhe diskutiert wird.
Wir haben darauf einen Anspruch. Ich kann noch nicht
voraussagen, wie es ausgeht, aber ich glaube, wir sind es
den Betroffenen schuldig, diesen Punkt in Ruhe zu beraten. Wenn dazu Sachverstand beiträgt, bitte ich Sie, diesen Sachverstand zuzulassen. Wie die Entscheidung dann
am Ende ausfällt - ob mit einer breiten Mehrheit oder mit
einer knappen Mehrheit -, ist dann Sache der Politik. Es
ist aber im Grunde genommen unter Niveau, den Sachverstand vorher auszubremsen, weil er nicht opportun ist.
({15})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Lydia Westrich von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Herr Fromme: Ich bin wirklich ein bisschen enttäuscht, weil Sie die uralten Debatten
hier wiederholen, deren Resultate in der Praxis längst
überholt worden sind.
({0})
Frau Scheel hat Ihnen dies deutlich vorgerechnet. Ich
hätte auch erwartet, dass gerade eine christliche Partei mit
uns bei der Bekämpfung von Steuermissbrauch und dem
Stopfen von Steuerschlupflöchern auf dem Vormarsch ist
und an unserer Seite kämpft.
({1})
Unbelehrbarkeit ist allerdings eine Eigenschaft, die für
die heutigen Anforderungen der Politik gänzlich untauglich ist.
Herr Thiele, eines muss ich Ihnen sagen: Da ich Sie
schon länger kenne, weiß ich, dass Sie aus allen Dingen
Honig saugen können,
({2})
egal, ob Sie etwas dafür können oder nicht. Wir sind aber
großzügig und wenn Sie im Endeffekt nach einer sachlichen Beratung zustimmen, werden wir das toll finden und
können uns auf dieser Basis verständigen.
Es ist richtig, Herr Fromme, die Bezeichnungen Steuersenkungsergänzungsgesetz und Steuer-Euroglättungsgesetz sind technische Begriffe, unter denen sich außerhalb der Fachwelt kaum jemand etwas vorstellen kann. Es
ist doch viel verständlicher, wenn Sie zum Beispiel in der
Oktoberausgabe 2000 der Zeitschrift der Stiftung Warentest lesen: „Steuerveränderungen 2001, da bleibt was hängen!“ und im „Handelsblatt“ nachlesen, bei wem etwas
hängenbleibt. Da ist das aufgelistet.
({3})
Dort, Herr Rauen und Herr Michelbach, steht in der Ausgabe vom 25. September: „Steuerbelastung sinkt kräftig,
Steuerreform im Praxistest, Mittelstand wird nicht benachteiligt.“ Sie als Mittelständler sollten sich diesen Artikel mit den Beispielrechnungen ganz genau ansehen.
({4})
Er bestätigt das, was wir von Anfang an gesagt haben: Der
Mittelstand wird kräftig entlastet.
({5})
Wenn Sie sich, meine Damen und Herren, die kleine,
aber ökonomisch effiziente und unternehmerisch vorausschauende Mühe gemacht hätten, die Auswirkungen der
neuen Bestimmungen, die Sie in harter Arbeit - wie wir
sie im Finanzausschuss immer leisten - zwar nicht zustimmend, aber doch Halbsatz für Halbsatz mitbegleitet
und mitdiskutiert haben, einmal auf Ihre eigenen mittelständischen Unternehmen hochzurechnen und Vergleiche
zwischen 1997 und 1998 sowie 1999 bis 2005 anzustellen, dann müssten Sie heute aufstehen - Herr Michelbach,
Sie können das noch tun - und wie das „Handelsblatt“ sagen: Alle Unternehmen, selbst mein eigenes, werden unabhängig von der Rechtsform durch diese Steuerreform
entlastet.
({6})
Sie müssten hier stehen und offen bekennen -, wie das
„Handelsblatt“, dessen Meinung vorher auch ganz anders
lautete -: Es haben sich Vorurteile in unseren Köpfen festgesetzt, diese müssen wir nach dem praktischen Umgang
mit dieser Gesetzgebung heute relativieren. Aber wie ich
Sie kenne, werden Sie die höheren Gewinne nach Steuern
einstecken - diese gönnen wir Ihnen natürlich; denn wir
haben die Entlastungen der mittelständischen Unternehmen bewusst durchgeführt - und hier - lernunfähig wie
die Dinosaurier - weiterhin verkünden, wie schlecht die
Steuerreform gewesen ist. In unserer offenen demokratischen Gesellschaft ist Lernunfähigkeit allerdings kein
Grund, jemanden von den erwünschten positiven Erfolgen unserer hervorragenden Finanz- und Wirtschaftspolitik auszuschließen.
Die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen
wissen, dass Mittelständler wie Sie und viele Tausend andere Arbeitsplätze bzw. Ausbildungsplätze sichern, die
Bedürfnisse der Bevölkerung im Konsum- und Dienstleistungsbereich abdecken und innovativ und flexibel die
sich schnell verändernden Bedingungen in der Wirtschaft
mitgestalten oder gar vorantreiben. Deswegen fällt der
Anteil unserer seriös finanzierten Entlastungsmasse auf
diese Leistungsträger.
({7})
Dass wir es im Prinzip geschafft haben, Herr Dautzenberg,
alle Steuerzahler zu entlasten, kommt nochmals den mittelständischen Unternehmen zugute, was sich jetzt die
F.D.P. auf ihre Fahnen schreiben will.
({8})
Sie werden mit Ihren pessimistischen Voraussagen,
Herr Rauen, und Ihrem ständigen Jammern eines wirklich
nicht verhindern können: Die Inlandsnachfrage bleibt robust.
({9})
Es werden neue Arbeitsplätze entstehen. Wir haben mit
dem Steuersenkungs- und dem Steuersenkungsergänzungsgesetz den Menschen so viel Geld in die Hand gegeben, dass sie
({10})
sich endlich die Investitionen leisten können, auf die sie
in den Jahren Ihrer Regierungszeit lange verzichten mussten.
({11})
- Da können Sie gespannt sein, Herr Seiffert. Wir freuen
uns gemeinsam darauf; einigen wir uns so.
Eine Verkäuferin zum Beispiel wird im Jahre 2005 ein
Viertel ihrer Lohnsteuersumme übrig behalten. Ein Familienvater mit zwei Kindern zahlt bei 60 000 DM Jahreseinkommen nur noch 60 Prozent seiner jetzigen Steuern.
Selbst der Zahnarzt mit 250 000 DM Jahreseinkommen
wird 10 Prozent seiner bisherigen Steuerbelastung übrig
behalten. Das sind Ihre potenziellen Kunden. Davon werden unser Handwerk, unsere Dienstleister, unser Handel
in hohem Maße profitieren. In Zukunft werden wir alle
mehr in unseren Portemonnaies haben. Das gilt vor allem
für diejenigen, die jetzt nicht den Spitzensteuersatz zahlen. Das ist die Quintessenz aus dem Steuersenkungs- und
Steuersenkungsergänzungsgesetz mit der weiteren Mittelstandskomponente.
({12})
Ihr Antrag, Kolleginnen und Kollegen aus der
CDU/CSU, liest sich wieder einmal wie ein Forderungskatalog des BDI. Ich habe die Schreiben der letzten Wochen durchgesehen und festgestellt, dass keine der Forderungen aus diesen Schreiben in Ihrem Antrag ausgelassen
worden ist.
({13})
- Das Abschreiben von Forderungskatalogen, Herr
Fromme, ersetzt wirklich kein gutes, neues Steuerkonzept. Das ist aber Ihre Art, Politik zu machen.
({14})
Die abenteuerlichen Vorschläge, die ich aus Ihrer Fraktionssitzung höre, zur weiteren Senkung des Spitzensteuersatzes zeigen,
({15})
Herr Rauen, die von Ihnen leider seit vielen Jahren geübte
Praxis einer unsoliden Haushaltsführung. Ihre Politik, fiktive Einnahmen schon vorher zu verbraten, hat uns einen
Schuldenberg beschert, den wir jetzt langsam abtragen
müssen. Die jetzige Bundesregierung und die Fraktionen
der SPD und des Bündnis 90/Die Grünen haben - Gott sei
Dank - ein anderes Verständnis von solider Haushaltsführung. Wir unterscheiden zwischen frommen Wünschen und verantwortungsbewusstem Handeln. Vielleicht
kommen Sie irgendwann auch noch dahin. Letzteres
bleibt auch die Maxime unseres Handelns.
Das gilt auch für das Steuer-Euroglättungsgesetz.
Hier gehen die Bundesregierung und die sie tragenden
Koalitionsfraktionen - ich hoffe, auch alle anderen Fraktionen werden das tun - mit bestem Beispiel voran. Wir
dürfen das Vertrauen der Bevölkerung in den Euro nicht
leichtsinnig zerstören. Deshalb bemühen wir uns gemeinsam, die Umstellung der Freibeträge in den verschiedensten Gesetzen so vorzunehmen, dass wiederum eine sehr
positive Wirkung für die Bürger eintritt, und zwar sowohl
bei den Erbschaftsteuerfreibeträgen als auch bei den Sparerfreibeträgen und auch bei der Freigrenze für Sachbezüge
von Arbeitnehmern, deren Verdoppelung gleichzeitig eine
wunderbare Verwaltungsvereinfachung mit sich bringt
und die den Arbeitnehmern am Arbeitsplatz auch einmal
den privaten Blick ins Internet steuerneutral erlauben
wird.
({16})
Auch hier sorgen wir dafür - ich hoffe: gemeinsam -, dass
mehr als 350 Millionen DM in die Taschen der Menschen
zurückfließen werden.
Allerdings verbinden wir - ich denke, das können wir
gemeinsam auch fordern - mit diesem Verfahren der
Euro-Umrechnung auch die Erwartung, dass die private
und die öffentliche Wirtschaft dem Staat nacheifert und
das Vertrauen der Bürger in die Stabilität und den Erfolg
des Euro durch eine faire Umstellung von Preisen und Gebühren stärken hilft.
Geben Sie sich wie Herr Thiele einen Ruck. Wir beraten sachlich. Sie können Ihr falsches Urteil wieder rückgängig machen.
({17})
Das Steuersenkungsgesetz hat sich nach übereinstimmender Meinung im Praxistest als gut herausgestellt. Durch
Ihre Zustimmung zum Steuersenkungsergänzungsgesetz
können Sie demonstrieren, dass Sie Ihre Unbelehrbarkeit
überwunden haben
({18})
und mit uns eine moderne und solide Finanzpolitik machen wollen.
Vielen Dank.
({19})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort
der Kollege Hans Michelbach von der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Auch nach
der heutigen Debatte bleibt das Fazit: Ungleichbehandlungen, Ungerechtigkeiten, Nachbesserungen und leere
Versprechungen sind zum Markenzeichen der rot-grünen
Bundesregierung in der Steuerpolitik geworden.
({0})
Sie, Herr Bundesfinanzminister, machen nicht die
größte Steuerreform aller Zeiten. Sie machen bis 2005 die
langsamste und zögerlichste Steuerreform aller Zeiten.
({1})
Ihre Steuerreform, Herr Bundesfinanzminister, hat einen
so langen Bart. Sie sind der größte Steuermethusalem
aller Zeiten.
({2})
Ich kann Ihnen nur sagen: Ihre Steuerreform ist so langsam, dass sie sich geradezu selbst überholt. Sie sind auf
der Steuerkriechspur. Ihre Steuerreform wird sich sozusagen selbst verjähren.
({3})
Es hat sich überall - das merken die Leute - Ernüchterung breit gemacht, wenn es um die Steuerreform geht.
({4})
Der Steuerzahler sieht sich zu spät und vor allem ungenügend entlastet. Die Wirtschaft beurteilt das Ergebnis inzwischen mit großer Skepsis. Da hilft Ihnen dauerhaftes
Selbstlob nur sehr wenig, insbesondere auch deshalb, weil
die Steuerquote mit 22,6 Prozent ein Höchstniveau erreicht hat und weitere Belastungen durch neue Gegenfinanzierungsmaßnahmen notwendig sind. Sie treiben mit
den AfA-Tabellen geradezu ein Versteckspiel.
({5})
Ich als mittelständischer Unternehmer kann doch erst
dann eine Rechnung über Renditen und Investitionen aufmachen, wenn ich weiß, wie hoch die Gegenfinanzierung
ausfallen wird.
({6})
Ihre Rechnung, Frau Westrich, hält also nicht das, was Sie
versprochen haben.
Nein, mehr und mehr wird draußen erkannt: Das
Unternehmensteuersenkungsgesetz ist ungerecht, willkürlich und vor allem auch kompliziert. Die Ergebnisse
der wissenschaftlichen Prüfung lassen schon jetzt Verfassungsbeschwerden der betroffenen Steuerzahler erwarten.
Wesentliche Elemente des Unternehmensteuersenkungsgesetzes sind aus verfassungsrechtlicher und europarechtlicher Sicht bedenklich. Schwer wiegen hierbei die Verstöße gegen das Nettoprinzip durch das Verbot des
Abzugs von Aufwendungen und die Ungleichbehandlung
bei den Veräußerungsgewinnen.
Auch die Tarifspreizung zwischen dem Spitzensteuersatz der Einkommensteuer und dem Körperschaftsteuersatz ist unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten
mehr als fraglich. Dies gilt vor allem dann, wenn die Anrechnung der Gewerbesteuer auf die Einkommensteuerschuld der Personengesellschafter und der Einzelunternehmer nicht mit der Verfassung in Einklang steht. Der
Vorgängerparagraph 32 c des Einkommensteuergesetzes
ist vom Bundesfinanzhof ja schon für verfassungswidrig
erklärt worden. Wir müssen sehen, was das Bundesverfassungsgericht jetzt dazu sagt.
({7})
Das steuerpolitische Stückwerk geht bei Ihnen weiter,
meine Damen und Herren. Die rot-grüne Koalition bringt
schon jetzt eine erste Korrektur mit dem so genannten
Steuersenkungsergänzungsgesetz ein, das im Bundesrat
von Ihnen, Herr Finanzminister, geradezu als Placebo für
den Mittelstand verschenkt wurde. Die schwerwiegende
Fehlkonstruktion im deutschen Steuerrecht wird damit
nicht korrigiert; sie wird vielmehr mit weiteren Ungleichbehandlungen verschärft.
({8})
Die mittelständischen Unternehmen, die 95 Prozent
aller in Deutschland ansässigen Unternehmen ausmachen, werden teilweise erheblich diskriminiert. Eigentlich
sollte das Steuersenkungsergänzungsgesetz die Diskriminierung der Unternehmen bei der Unternehmensteuerreform verringern. Diesem Ziel wird der Gesetzentwurf jedoch überhaupt nicht gerecht. Die Gerechtigkeitslücken
werden sogar vergrößert. Die von der rot-grünen Bundesregierung versprochene Wiedereinführung des halben
durchschnittlichen Steuersatzes für Betriebsveräußerungen und -aufgaben wird nicht konsequent umgesetzt.
Damit entstehen neues Flickwerk und Willkür für die betroffenen Unternehmen. Dem Mittelstand wird Entgegenkommen suggeriert, in Wirklichkeit werden aber voraussichtlich 60 Prozent der Personengesellschafter und
Einzelunternehmer durch das Gesetz kaum besser gestellt.
({9})
Die Anwendung der Begünstigungsvorschrift ist an viel
zu viele Voraussetzungen geknüpft. Das Gesetz sieht erhebliche Einschränkungen vor: Die Mindestbesteuerung
nach dem Eingangssteuersatz und der Höchstbetrag von
10 Millionen DM Veräußerungsgewinn bedeuten eine unangemessene und ungerechte Einschränkung.
Ich sage Ihnen: Der Gipfel der Gerechtigkeitslücke
trifft ausgerechnet die kleineren und mittleren Mittelstandsbetriebe.
({10})
Durch die im Gesetz geforderte Mindestbesteuerung mit
dem Eingangssteuersatz wird bei einem verheirateten
Personengesellschafter ein Veräußerungsgewinn bis zu
444 000 DM nicht unter die Begünstigungsvorschrift des
halben durchschnittlichen Steuersatzes fallen; hören Sie
sich das einmal an. Das ist Fakt.
({11})
Und bei demjenigen, der 1999 oder 2000 seinen Betrieb
aufgeben oder verkaufen musste, findet Ihr Gesetz keine
Anwendung. Es ist doch ungerecht, dass ausgerechnet
derjenige, der das vorher durchführen musste, überhaupt
keine Berücksichtigung findet.
Das ist die Wahrheit über die soziale Gerechtigkeit dieser rot-grünen Bundesregierung. Der Mittelstand wird abkassiert und ungerecht behandelt. Es findet hier die Teilung der Wirtschaft zulasten der kleineren und mittleren
Betriebe statt.
({12})
Niemand kann nach diesem mittelstandsunfreundlichen
Gesetz noch davon sprechen, dass bei der Regierung
keine Mittelstandsfeindlichkeit vorhanden wäre.
Es gibt weitere Gerechtigkeitslücken, zum Beispiel bei
den Veräußerungsgewinnen, wenn man an die Voraussetzungen für den halben durchschnittlichen Steuersatz
denkt oder an die unterschiedlichen Möglichkeiten, die
man bei Veräußerungsgewinnen und insbesondere bei den
Kapitalanteilen in der Steuerfreiheit hat.
Die CDU/CSU hat mit dem heutigen Antrag dagegen
ein mittelstandsfreundliches Steuerkonzept eingebracht.
({13})
Wir fordern damit die Korrektur Ihrer Gesetze! Es ist eine
wenigstens annähernde Gleichberechtigung bei den Kapitalgesellschaften zu erreichen. Deshalb ist es erforderlich,
dass auf sämtliche Betriebsaufgaben von Personengesellschaften der halbe durchschnittliche Steuersatz Anwendung findet.
({14})
Ferner muss eine Gleichbehandlung der Personengesellschafter und Einzelunternehmer bei der Besteuerung von
Anteilsveräußerungsgewinnen erfolgen. Diese Gewinne, die bei den Kapitalgesellschaften steuerfrei sind, müssen auch bei den mittelständischen Unternehmen begünstigt werden. Hierzu ist erforderlich, dass die Gewinne zu
100 Prozent in eine steuerfreie Rücklage fließen. Umstrukturierungen müssen bei den mittelständischen Unternehmen genauso wie bei den Kapitalgesellschaften gefördert werden.
({15})
Wir fordern deshalb auch die Wiederheraufsetzung der
Grenze für wesentliche Beteiligungen auf 25 oder mindestens 10 Prozent und die Wiedereinführung des halben
durchschnittlichen Steuersatzes für Arbeitnehmerabfindungen und für Ausgleichszahlungen an selbstständige
Handelsvertreter. Natürlich fordern wir auch Klarheit bei
den Afa-Tabellen sowie eine frühere Senkung des Einkommensteuerspitzensatzes, der erst im Jahr 2005 und damit für die Personenunternehmen zu langsam gesenkt
wird.
({16})
Herr Bundesfinanzminister, Sie dürfen nicht glauben,
dass Sie durch das völlig ungenügende Steuersenkungsergänzungsgesetz die Steuerzahler ruhig gestellt haben.
Auch in Zukunft werden die mittelständischen Unternehmer immer wieder darauf hinweisen, dass sie bei ihrer
großen volkswirtschaftlichen Bedeutung ein Recht darauf
haben, im Vergleich mit den Kapitalgesellschaften nicht
höher besteuert zu werden, und Chancengleichheit erhalten müssen. Die mittelständische Wirtschaft wehrt sich
dagegen, dass sie von Ihnen zur Melkkuh der Nation degradiert wird.
Ich muss Ihnen sagen: Dieses Steuersenkungsergänzungsgesetz ist lange nicht das, was es verspricht. Die
Steuerpolitik wird ungerechter und bleibt weiterhin willkürlich.
Vielen Dank.
({17})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/4217 und 14/4293 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der
Antrag auf Drucksache 14/4285 soll an dieselben Ausschüsse überwiesen werden, wobei der Haushaltsausschuss diese Vorlage mitberatend erhalten soll. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Bosbach, Erwin Marschewski ({0}), Meinrad Belle, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung
der beamtenrechtlichen Altersteilzeit
- Drucksache 14/3777 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss
Es ist vereinbart, dass die Reden zu Protokoll genom-
men werden. Gibt es dagegen Widerspruch? - Das ist
nicht der Fall.
Folgende Reden werden zu Protokoll genommen: die
Reden der Kollegen Hans-Peter Kemper von der SPD-
Fraktion, Meinrad Belle von der CDU/CSU-Fraktion,
Cem Özdemir von Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Max
Stadler von der F.D.P.-Fraktion und der Kollegin Petra
Pau von der PDS-Fraktion.1)
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/3777 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 13 auf.
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
F.D.P.
Wahlen in Belarus
- Drucksache 14/4252 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Uta Zapf von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Im großen Haus Europa haben wir
ein Sorgenkind, das wir ziemlich wenig beachten. Es ist
Belarus mit dem autoritär-patriarchalischen Diktator Lukaschenko, der sich seit Jahren demokratisierungsresistent zeigt.
Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben im Jahr 1996,
nachdem Lukaschenko durch ein Referendum handstreichartig sein Parlament entmachtet, die Verfassung
ausgehebelt und seinem Präsidentenamt diktatorische
Machtfülle zugeschanzt hatte, Restriktionen verhängt, die
bis heute fortgelten. Wir unterhalten keine bilateralen Beziehungen auf Ministerebene, ein Beitritt zum Europarat
wird Belarus verwehrt und über das Abkommen über
Partnerschaft und Kooperation wird nicht weiter verhandelt. Damit ist Belarus auch von den EU-Programmen für
die Transformationsländer abgeschnitten. Es laufen nur
noch humanitäre Programme, Unterstützungen für Nichtregierungsorganisationen im Menschenrechtsbereich und
kleinere Bildungsprogramme.
Aber die Hoffnung, dass durch diese Sanktionen eine
Rückkehr zur Demokratie bewirkt werden könnte, hat getrogen.
({0})
Die Isolation von Belarus führt dazu, dass das Land aus
dem europäischen Staatenverbund ausgeschlossen ist.
Umgekehrt führen auch die europäischen Staaten keinen
Dialog mehr mit Belarus. Damit können sie keinen großen
Einfluss auf die Politik von Belarus nehmen. Deshalb
glaube ich, dass die Aufrechterhaltung dieser Isolation
weder im Interesse von Belarus, was seine demokratische
Entwicklung angeht, noch in europäischem Interesse
liegt. Es ist Zeit, diese Isolation zu durchbrechen.
Die Möglichkeit dazu besteht, wenn bei den Parlamentswahlen in Belarus am 15. Oktober demokratischen
Mindeststandards Genüge getan wird. In unserem interfraktionellen Antrag unterstreichen wir unser „großes Interesse, ein demokratisches Belarus als geachtetes Mitglied in der europäischen Staatengemeinschaft zu
begrüßen“.
({1})
Bis dahin wird es aber ein langer Weg sein und die Wahlen
werden allenfalls den Beginn dieses Weges darstellen.
1) Anlage 3
Am 13. November 1997 hat der Deutsche Bundestag
mit den Stimmen aller Parteien außer der PDS eine Vorlage verabschiedet, in der Belarus zur Rückkehr zur
Demokratie aufgefordert wurde. Das Parlament, das
Lukaschenko ernannte, wurde nicht anerkannt. Wir haben
seitdem nur mit den oppositionellen Abgeordneten des
entmachteten Parlaments Kontakte aufrechterhalten.
Es sind und waren in der Tat inakzeptable Zustände in
Belarus. Wir alle wissen, dass die demokratischen Rechte
ausgehebelt sind, dass die Menschenrechte nicht eingehalten werden, dass die Opposition verfolgt wird, dass
Menschen verschwinden und dass es weder echte Medien noch Meinungsfreiheit gibt. Bei allen Demokratisierungsbemühungen, die die OSZE und der Europarat in dieser
ganzen Zeit unternommen haben, ist es immer nur wie bei
der Echternacher Springprozession zugegangen, nämlich
ein Schritt vor und zwei zurück, das heißt: Zusagen wurden nicht oder nur halb eingehalten. Es gab kleine Fortschritte, aber eben auch herbe Rückschläge.
Trotz der Zustimmung von Belarus auf dem
OSZE-Gipfel zu der Advisory and Monitoring Group der
OSZE, die ihre Arbeit im Februar 1998 aufgenommen hat,
hat die unter der Leitung von Botschafter Wieck stehende
Mission, deren Aufgabe die Hilfestellung zur Demokratisierung und die Hinführung zu einem politischen Pluralismus war, über zwei Jahre nur mit minimalen Erfolgen
gearbeitet.
Lassen Sie mich an dieser Stelle Botschafter Wieck
meinen ganz besonderen Dank und meine Hochachtung
für seine Arbeit aussprechen.
({2})
Ihm ist es zu verdanken, dass wir jetzt, kurz vor der Wahl
am 15. Oktober, im Vorfeld der Wahlen doch einen Hoffnungsschimmer und einige Fortschritte erkennen. Ich
schließe auch den deutschen Botschafter in Minsk in diesen Dank ein. Er hat diese Bemühungen in unermüdlicher
Arbeit unterstützt.
({3})
Man hat es in Belarus nicht nur mit einem diktatorischen und demokratieunwilligen Regime zu tun, sondern
auch mit einer starrköpfigen und sehr zerstrittenen Opposition. Dies macht die Sache nicht leichter. Trotzdem ist
es der OSZE-Mission gelungen, den Dialog mit der
Staatsmacht und mit der Opposition in Gang zu bringen.
Ich denke, das war eine harte Arbeit. Es erweckt Hoffnungen, dass möglicherweise doch eine Lösung der innenpolitischen Krise zu finden sein wird.
Diese Mission hat zusammen mit dem Europarat vier
Kriterien für diese Wahl entwickelt. Sie stellen Mindeststandards für freie und faire Wahlen dar. Das heißt: Es
muss ein Wahlgesetz geben, das diesen demokratischen
Mindeststandards genügt; es muss allen Medien der Zugang ermöglicht werden, nicht nur denen der Staatsmacht;
es muss im Vorfeld der Wahl eine Periode des politischen
Friedens geben, in der es keine Oppressionen mehr gegen
Oppositionspolitiker gibt; und die Rechte des zukünftigen
Parlaments sollen gestärkt werden.
In den ersten drei Bereichen gibt es Fortschritte. Deshalb hat die 3. Technische Konferenz der OSZE beschlossen, eine so genannte technische Wahlbeobachtung
zuzulassen. Sie will mit dieser Wahlbeobachtung zwar
keine vorauseilende Absegnung eines demokratischen
Prozesses signalisieren - das Ganze ist ja in gewisser
Weise ein diplomatischer Spagat -, aber vielleicht kann ja
durch Hinschauen sichergestellt werden, dass die Mindeststandards eingehalten werden. An dieser technischen
Beobachtermission wird auch die parlamentarische EUTroika, die aus Vertretern des Europäischen Parlaments
und des Europarats sowie aus OSZE-Parlamentariern besteht, teilnehmen.
An dieser Stelle möchte ich den Mitgliedern dieser speziellen aus Parlamentariern des Europäischen Parlaments,
der Parlamentarischen Versammlung der OSZE und des
Europarats entstandenen Gruppe ausdrücklich danken.
Vor allen Dingen schließe ich in diesen Dank unsere eigenen Kollegen Wolfgang Behrendt und Gert Weisskirchen
vom Europarat bzw. der OSZE und unseren früheren Kollegen Robert Antretter mit ein.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte doch sehr
davor warnen, jetzt schon von einer Wahlfarce zu sprechen, so wie es heute in der „Welt“ geschehen ist. Die
OSZE und viele, die sich in Belarus auskennen, signalisieren, dass es eine Chance gibt, dass diese Wahlen einigermaßen ordentlich über die Bühne gehen. Wir sollten
uns nicht vor Beendigung der Wahlen ein Urteil darüber
erlauben, ob sie einen Fortschritt in den Bereichen gebracht haben, wo wir ihn uns wünschen. Wir könnten
dann an etwas anknüpfen, was ich für dringend erforderlich halte. Wir müssen nämlich endlich mit der Isolationspolitik gegenüber Belarus aufhören und wieder in einen politischen Dialog eintreten. Dazu gehört, dass wir
auch wieder den Zugang zu Hilfsprogrammen ermöglichen. Ohne Hilfsprogramme wird dieses Land nicht auf
die Beine kommen. Es ist wirtschaftlich am Boden, die
Menschen hungern und es ist von wirklich substanziellen
Hilfsprogrammen abgeschnitten, die es wieder ein wenig
auf die Beine bringen könnten,
({5})
sodass eine wirtschaftliche Integration in die Europäische
Union überhaupt angestrebt werden kann.
Dazu bedarf es dann natürlich umgekehrt der Zugeständnisse dieses Diktators, der offensichtlich kein Bewusstsein dafür hat, dass sein Volk hungert und friert. Wir
brauchen ganz offensichtlich eine neue Strategie, die nicht
nur mit harten Sanktionen arbeitet, sondern die „sticks“
und die „carotts“ ein wenig gleichmäßiger verteilt. Das
heißt nicht, dass wir unsere Ansprüche an die Demokratisierung herunterschrauben sollten. Das heißt aber,
dass wir darauf bestehen müssen und von unserer Seite alles dafür tun müssen, dass auch nach den Wahlen, selbst
wenn sie nicht so ausfallen, wie wir es uns vor dem
Hintergrund unserer Standards wünschen, die ganz wichtige Arbeit der OSZE-Mission in Minsk weitergeführt
wird. Dies ist bisher die einzige Dialogplattform, die etwas bewirkt hat. Dies beinhaltet für uns die Verpflichtung,
dass wir als Parlamentarier und auch unsere Regierungen
wieder in einen intensiveren Dialog eintreten, um auf
diese Regierung Einfluss auszuüben. Es gibt in dieser
Regierung nämlich Kräfte, die den Dialog mit Europa und
die Rückkehr zur Demokratie wollen. Diese Kräfte sowie
die demokratische Opposition müssen wir mit unserer Politik stärken. Dies wird nicht gelingen, wenn wir die Isolationspolitik weiterführen.
Lassen Sie mich eine weitere Bemerkung machen.
Demnächst wird Weißrussland ein Nachbar des erweiterten Europas sein. Es wird Konflikte an diesen Grenzen geben, die sich schon heute abzeichnen und immer stärker
werden können. Das heißt, dass wir ein großes Interesse
an einer positiven Entwicklung haben müssen.
Ich möchte einen letzten Punkt selbstkritisch äußern.
Wir neigen dazu, doppelte Standards anzuwenden.
({6})
Wenn wir zum Beispiel die Vorgänge in anderen Transformationsstaaten, zum Beispiel die Vorgänge in Russland und in der Ukraine, beurteilen, dann fällt das Urteil
immer wesentlich milder aus, als es gegenüber Weißrussland ausfällt.
({7})
Dies wird uns mit Recht vorgehalten. Lassen Sie uns also
allesamt daran arbeiten, dass sich dieses Land demokratisch entwickelt! Es gibt eine Chance, dass dieses Land
am 15. Oktober in den Schoß der europäischen demokratischen Völkerfamilie zurückfindet. Unseren Teil wollen
wir gerne dazu beitragen.
Wir appellieren auch heute an Präsident Lukaschenko
- wir hatten dazu bereits eine Resolution verabschiedet -,
zur Demokratie und Rechtstaatlichkeit zurückzukehren.
Ich danke Ihnen.
({8})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Christian Schmidt von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin
Zapf, Optimismus ja, aber auch Skepsis.
({0})
Ich stimme Ihnen zu, wenn Sie fragen, ob man vorneweg
die Wahl tatsächlich als Farce bezeichnen sollte. Diese
Einschätzung ist sehr pessimistisch. Es deuten aber sehr
viele Anzeichen darauf hin, dass Lukaschenko noch der
ist, der er war. Wir müssen deswegen höllisch aufpassen,
dass aus dieser Wahl keine Farce wird.
Ich halte es für gut, dass sich die Opposition - jedenfalls in wesentlichen Teilen - bereit erklärt und sich
durchgerungen hat, an der Wahl teilzunehmen. Die Boykottphilosophie ist fragwürdig. Ich schließe damit an die
Frage der Isolation an - Frau Kollegin, auch Sie haben
diesen Punkt genannt -, über die wir gestern im Zusammenhang mit Serbien diskutiert haben: Die Bevölkerung
sozusagen in Haft zu nehmen für eine Clique, von der sie
regiert und drangsaliert wird, ist eine politisch und moralisch höchst fragwürdige Art und Weise, sich mit den Problemen auseinander zu setzen.
({1})
Deswegen sollten wir uns, was die Hilfsprogramme und
andere Maßnahmen betrifft, in Richtung Weißrussland
öffnen.
({2})
Ich vermute, dass Lukaschenko über die entsprechende
Kanäle gesagt worden ist, dass internationale Anerkennung die Einhaltung von Mindeststandards der Demokratie bedingt. Alle Autokraten und Diktatoren trachten
und schmachten immer geradezu nach internationaler Anerkennung. Ab und an lassen sie sich zu Veränderungen
bewegen, die ohne OSZE und das Engagement der Diplomatie - wir haben die Tätigkeit von Botschafter Wieck
und auch die Unterstützung durch das Auswärtige Amt in
unserem gemeinsamen Antrag hervorgehoben - nicht
möglich wären. Das galt schon vor drei Jahren, als wir
versucht haben, aus der Malaise Lukaschenko durch
diplomatischen Druck herauszukommen.
Ich hoffe, dass die Maßnahmen wirken. Ich hoffe, dass
die OSZE einen hoffnungsvollen Bericht abgeben kann,
der zwar wohl nicht auf ein Wunder hindeuten wird, der
aber einen einigermaßen pluralistischen Wahlausgang
und eine angemessene - also im Sinne: die Rechte des anderen achtend - Verhaltensweise aller Beteiligten zum Inhalt haben wird.
Wir wissen, dass die Opposition zusammen mit den
Gewerkschaften für Samstag eine Protestkundgebung
plant. Hier ist vermutlich die erste Gelegenheit für
Lukaschenko nachzuweisen, dass er den Sicherheitsapparat nicht so zupacken lässt, wie er es in der Vergangenheit
leider des Öfteren getan hat.
In diesen Tagen nach den revolutionsähnlichen Umwälzungen in Belgrad blickt sicher auch die Opposition in
Minsk gespannt und ein wenig neidisch nach Serbien. Der
Anschauungsunterricht in Sachen „Wie stürze ich einen
Autokraten?“ wird ihr bei dieser Wahl allerdings noch
nicht helfen - das ist meine Erwartung - da ein Sturz
Lukaschenkos nicht absehbar ist. Er hat nach wie vor einen gut gesicherten Machtapparat im Rücken, der durch
viele Geheimdienstler, durch Polizei usw. unterstützt
wird. Die Medien hat er vollständig im Griff. Die ihm genehme Verfassung und das widerrechtliche Referendum
von 1996 geben ihm eine starke Stellung. Die Opposition
hat es also nicht leicht.
Allerdings muss ich hinzufügen: Ein Stück Unsicherheit besteht für jeden Autokraten und Diktator. Wie viele
Berichte haben auch wir von gut informierten Nachrichtendiensten und gut informierten Analysten erhalten, in
denen uns mitgeteilt wurde, dass an dem Stuhl kaum zu
rütteln ist? Aber siehe da: Wie Frühlingsschnee in der
Sonne schmolz der Stolz der Diktatoren dahin, schneller,
als sie es sich und als wir es uns haben vorstellen können.
Gerade deswegen müssen wir jetzt die Opposition unterstützen. Ich glaube, ich darf das für das ganze Haus in Anspruch nehmen: Jeder auf seinen Kanälen, jeder mit seinen Kontakten hat die Opposition in Belarus nicht aus den
Augen verloren und unterstützt sie. Deswegen muss man
Leuten wie Statkewitsch, Tschigir und all den anderen
ganz klar sagen: Macht weiter, beteiligt euch!
Die Unentschiedenheit in der Bevölkerung, über die
noch in den letzten Tagen berichtet wurde, ist auch eine
Chance, auch wenn es für die Opposition schwer sein
wird, medial oder wie auch immer an die Bevölkerung
heranzukommen. Ein Wahlkampfetat pro zugelassenem
Kandidat von 130 Dollar ist nicht gerade dazu angetan,
eine breite Medienkampagne zu entfachen, wenn man
denn könnte.
Die Strukturen des Regimes sollten uns nicht daran
hindern, die Opposition in informellen Kontakten zu unterstützen, damit diese aus sich heraus versuchen kann,
das System zu verändern. Dazu ist eine Änderung des
Wahlgesetzes über das hinaus, was die OSZE bereits erreicht hat, ein richtiger Weg. Sie könnte einer der ersten
Steine sein, die aus dem Gebäude Lukaschenkos herausgebrochen werden.
Wir begrüßen die Bemühungen der OSZE, unterstützt
von Europäischer Union und Europarat, um faire Wahlen.
Besonders in den Fragen der Anpassung der Wahlgesetzgebung an europäische Standards, des freien Zugangs
aller politischen Kräfte zu den elektronischen und Printmedien - ich gehe einmal davon aus, dass unser früherer
Kollege und Medienbeauftragte der OSZE, der Kollege
Duve, da sehr rührig und aktiv ist -, der Einhaltung einer
vertrauensbildenden Friedensperiode unter Wahrung der
Menschenrechte und der Erweiterung der Kompetenzen
des Parlaments, die den Vorstellungen und Vorschlägen
der internationalen Organisationen entspricht, haben
diese Bemühungen bereits erste Früchte getragen.
Dennoch sind der Berater- und Beobachtergruppe de
facto die Hände gebunden, wenn Lukaschenko anderes
will. Daher sei vor zu ausgeprägter Euphorie über die erfreulichen Erfolge der OSZE gewarnt. Die OSZE stellte
ja fest, dass das Wahlgesetz, das Lukaschenko am 15. Februar dieses Jahres unterzeichnete, manipulierbar ist und
manipuliert wird. Die Auswahl von angemeldeten oppositionellen Kandidaten, von der wir gehört haben, widerspricht natürlich allen Grundsätzen der Demokratie. Aber
immerhin gibt es oppositionelle Kandidaten. Daran müssen wir uns wohl nach Lage der Dinge festhalten.
Dass Lukaschenko zwischenzeitlich auch die Wahlkommission mit seinen Leuten besetzt und so bestückt
hat, dass von einer unabhängigen Kommission nicht mehr
die Rede sein kann, ist ein weiteres Problem. Umso mehr
kommt es auf die europäischen Wahlbeobachter an. Ich
hoffe doch, dass allein durch ihre Anwesenheit wie schon
so oft ein gewisses Hemmnis entsteht, gar zu schlimme
und gar zu offenkundige Fälschungen und Behinderungen
des Wahlvorgangs zuzulassen. Wir warten also gespannt
auf den Bericht der Expertengruppe.
Europäische Geschlossenheit ist gegenüber Lukaschenko
wichtig. Deswegen ist es auch bedeutsam, dass sich Bundeskanzler Schröder und die Bundesregierung in die diesbezügliche europäische Solidarität einreihen. Hier liegt
einmal ein Fall vor, bei dem es richtig ist, dass sie sich
einreihen. Wenn das geschieht, kann Bundeskanzler
Schröder seine Scharte von damals wieder auswetzen,
als er Herrn Lukaschenko, wie wir uns erinnern können
- ich glaube, es ist zweieinhalb Jahre her; da war er noch
Ministerpräsident in Niedersachsen; dies ist aus heutiger
Sicht sicherlich ein Ausrutscher gewesen -, wegen
irgendwelcher Reifenverkäufe offiziell empfing.
({3})
- Wir haben damals darüber ausführlich gestritten; das
könnte man in den entsprechenden Protokollen nachlesen.
({4})
- Es gibt Dinge, an die erinnere ich mich noch nach Jahren sehr gut.
({5})
- Wenn ich mich richtig entsinne, gab es damals gerade
aus den Reihen altgedienter sozialdemokratischer Außenpolitiker ganz andere öffentliche Meinungsäußerungen zu
diesem Punkt.
({6})
Ich will nun aber in die Zukunft blicken.
({7})
Ich gestehe zu: Er hat ihn in diesem Jahr nicht empfangen.
Das zeigt, dass er auf einem guten Weg ist.
Wir haben, wie übrigens auch vor drei Jahren, einen
gemeinsamen Antrag vorgelegt. Wir wollen ja keine demokratischen Nachhilfestunden erteilen. Aber wir sollten
uns schon unserer Verantwortung bewusst sein. Wir sind
im wirtschaftlichen Bereich nach Russland der wichtigste
Partner Weißrusslands - das können wir auch sein - und
wir haben nach der Katastrophe von Tschernobyl in Form
von humanitärer Hilfe gezeigt, dass bei uns sehr viel
Hilfsbereitschaft besteht.
Auch haben wir ein Stabilitätsinteresse. Frau Kollegin Zapf, Sie haben das angeschnitten. Polen, das bereits
jetzt NATO-Mitgliedsland ist und das immer mit gewisser
Sorge auf die Entwicklung in Weißrussland geblickt hat,
hat einen Anspruch darauf, dass wir als Europäer dort gemeinsam unser Stabilitätsinteresse wahrnehmen. Ich
hoffe, dass unter Präsident Putin das so bleibt, was Jelzin
in durchaus nicht unkluger Weise unternommen hat, nämChristian Schmidt ({8})
lich den Unionsbestrebungen von Herrn Lukaschenko gegenüber gewisse Zugeständnisse zu machen, ihn aber
letztendlich ins Leere laufen zu lassen, um zu verhindern,
dass er mit seinen Vorstellungen von Politik bei der Einflussnahme auf Russland Oberwasser gewinnt.
Somit hoffe ich, dass am 15. Oktober dieses Jahres der
erste Schritt zu einer Rückkehr Weißrusslands in die Gemeinschaft der europäischen Staaten gegangen wird und
dass wir dazu unseren Beitrag leisten.
({9})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Helmut Lippelt
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
Unsere heutige Debatte soll ein Zeichen der internationalen Aufmerksamkeit für die Wahlen in Belarus sein. Ob
wir das zu so später Stunde und so müde, wie wir darüber
diskutieren, hinbekommen, weiß ich nicht.
({0})
Gegenwärtig schauen wir alle nach Belgrad und in den
Nahen Osten. Das ist verständlich und notwendig. Zugleich aber gibt es am kommenden Sonntag eine Wahl, die
wir auf keinen Fall übersehen dürfen. Alles andere würde
nämlich bedeuten, dass wir die Hoffnung auf eine demokratische Entwicklung in diesem Land aufgeben würden.
Deshalb stelle ich fest: Das Land lebt erstens im Zustand des Verfassungsbruchs seines Präsidenten. Deshalb
hat EU-Europa mit Ächtung reagiert. Es gibt auf höchster
Ebene keine Kontakte. Daraus resultiert zweitens, dass jedes Bemühen, dieses Land im Zuge eines ersten Schrittes
nach Europa zunächst zumindest in den Europarat aufzunehmen, gänzlich unterbrochen ist. Daraus folgt aber
auch, dass es keine Förderung zwischenstaatlicher Wirtschaftsbeziehungen gibt.
Wir sind diesem Lande gegenüber allerdings tief verpflichtet, und zwar aus zwei Gründen:
Erstens. Jeder kennt die Namen Oradour und Lidice. In
Belarus hat es aber mehr als 100 Oradours gegeben; wer
kennt schon die Namen im Einzelnen? Auch heute kann
es noch geschehen - so hat mir der Botschafter berichtet -,
dass Bauern Erkennungsmarken deutscher Soldaten von
ihren Feldern mitbringen und in der Botschaft abgeben.
Zweitens. Wir mögen darüber streiten, inwieweit
Tschernobyl nicht nur eine Katastrophe sowjet-russischer Atomtechnik, sondern auch eine Katastrophe des
allgemein geteilten technischen Fortschritts bei uns ist Sie werden da anderer Meinung als wir sein. Klar ist aber:
Ein Drittel des Landes ist atomar verseucht. Eine halbe
Million Menschen leben mangels anderer Wohn-, anderer
Lebens-, anderer Existenzmöglichkeiten auf dieser verseuchten Erde ihr schweres Leben.
Auf der anderen Seite - das ist schon erwähnt worden - hat unsere Zivilgesellschaft in bescheidenem Maße
auf die Verpflichtungen reagiert. Es gibt sehr viele
Tschernobyl-Initiativen aus Deutschland, die Kontakte
nach Belarus pflegen, um in bescheidenem Maße zu helfen. Es gibt manche Gruppen und einige Einzelpersonen,
die um die historische Schuld wissen und deshalb Kontakte zu diesem Lande pflegen.
Das ist Hilfe im Kleinen. Zur durchgreifenden Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Situation aber
bedarf es der voll vom Staat unterstützten Wirtschaftsbeziehungen, der Aufnahme des Landes in europäische
Zusammenhänge. Es gilt also, den Verfassungsbruch zu
heilen, sodass EU-Außenminister wieder in Minsk landen
und Beziehungen vertieft und ausgebaut werden können,
zum Wohle des Landes und seiner Bevölkerung. Zwei
deutsche Botschafter - auch das ist erwähnt worden -,
der Vertreter der Bundesrepublik in Minsk, Botschafter
Winkelmann, und der Leiter der OSZE-Mission, Botschafter Wieck, haben sich intensiv darum bemüht.
Es konnte Konsens zwischen dem Regime und der Opposition über einen Wahlkalender erzielt werden, das
heißt: Parlaments- und Präsidentenwahlen konnten so
aufeinander bezogen werden, dass der Streit um Legalität
oder Illegalität der beiden Institutionen und der Streit um
die Dauer der jeweiligen Legislatur- bzw. Amtsperiode
bei einer korrekten Durchführung der Parlamentswahl in
diesem Jahr und der Präsidentenwahl im nächsten Jahr
hätte aufgehoben werden können. Leider wurden diese
Bemühungen immer wieder durch Willkürakte der Regierung, genauer gesagt des Präsidenten, konterkariert, sodass die Voraussetzungen für einen korrekten Ablauf der
Wahl nicht geschaffen werden konnten.
Die OSZE führt deshalb nur eine technische Wahlbeobachtung durch. Ich bedaure das. Ich hatte mich zur regelrechten Wahlbeobachtung gemeldet. Diese Meldung
habe ich gestern zurückgezogen, weil mir klar wurde,
dass die Differenz zu dem, was man unter technischer
Wahlbeobachtung verstanden hätte, zu groß gewesen
wäre. Ich wäre gegen den Strom geschwommen. Ich wäre
geradezu ein Opfer der Propaganda der anderen Seite geworden. Deshalb ging das nicht. Aber in den Wahlkreisen,
in denen Statkevich und Lebedko kandidierten, durch die
Wahllokale zu gehen, hätte ich immer für sinnvoll gehalten - wohl wissend, dass die Fälschungen im Computer an
ganz anderer Stelle passieren. Natürlich hätte man jederzeit sagen können, dass die Voraussetzungen überhaupt
nicht demokratisch waren. Trotzdem denke ich - da stimmen wir weitgehend überein -, dass wichtig gewesen
wäre, diesen Schutz so weit zu geben, dass zumindest eine
kleine Opposition in Belarus im Parlament hätte entstehen
können. Das heißt, wir hätten zumindest erhoffen können,
dass es vorrevolutionäre serbische Verhältnisse gibt. In
Serbien existierten unter der Diktatur von Milosevic
durchaus jahrelang Parteien.
In der Zwischenzeit gibt es weitere Vorkommnisse, die
uns mit großer Sorge erfüllen. Ich zähle die auf, die mir
zur Kenntnis gelangt sind: Es hat Verhaftungen von Mitgliedern der Zeitung „Rabochy“ gegeben. Es hat einen
Überfall auf das Büro von Statkevich, dem exponiertesten
kandidierenden Demokraten, gegeben. Es hat auch eine
Gang im Wahlbüro von Herrn Lebedko gegeben. Es hat
Christian Schmidt ({1})
die Verhaftung von Flugblattverteilern, die zum Wahlboykott aufrufen, gegeben.
Unsere heutige Debatte ist vor allem eine Selbstverpflichtung, den Verlauf der Wahlen am Sonntag aufmerksam zu verfolgen. Anfang nächster Woche wird es einen
Bericht von OSZE, EU und Europarat über den Verlauf
der Wahlen geben. Wir sollten uns vorbehalten, auf der
Grundlage dieses Berichts gegebenenfalls eine neue Debatte anzustreben.
({2})
Jetzt hat
der Kollege Walter Hirche von der F.D.P. das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Das Erfreuliche an dieser Debatte trotz des
ernsten Themas ist: Es gibt einen gemeinsamen, interfraktionellen Antrag. Auch die bisherige Debatte hat gezeigt, dass die Einschätzung der Situation weitgehend
übereinstimmend ist: auf der einen Seite den Versuch zu
unternehmen - so ist es beschrieben worden; das möchte
ich aufgreifen -, die Isolierung zu durchbrechen, und auf
der anderen Seite eine Hofierung der Machtstrukturen, die
vorhanden sind, zu vermeiden.
Frau Zapf, vor diesem Hintergrund und in Anbetracht
des EU-Beschlusses von 1996, „Restriktionen gegenüber
Weißrussland“, möchte ich sagen, dass es seinerzeit einen
eigenartigen und rustikalen Charme hatte, dass der damalige niedersächsische Ministerpräsident Schröder Herrn
Lukaschenko empfangen hat. Das muss man einfach sagen.
({0})
Mitglieder der damaligen Bundestagsfraktion der SPD
haben dagegen protestiert. Auch das möchte ich festhalten. Insofern gibt es hier in diesem Hause zwischen allen
Fraktionen auch in dieser Frage Übereinstimmung.
Herr Schmidt, wenn man das sagt, dann vor allem deshalb,
({1})
weil wir uns in einem Zwiespalt befinden und hier eine
Balance herzustellen ist. Wir suchen nach allen Wegen,
die Opposition und die demokratische Entwicklung in
diesem Land zu fördern sowie das Land nicht in der Isolierung zu lassen. Wir versuchen, auch das zu berücksichtigen, was Herr Lippelt eben im Hinblick auf historische
und aktuelle Belastungen gesagt hat.
Das führt dazu, dass wir hier genau zwischen dem Regime, und hier speziell dem Präsidenten Lukaschenko, sowie den Ansatzmöglichkeiten, die es an anderer Stelle
gibt, unterscheiden müssen. Der Präsident ist auf die vier
Kernforderungen der Opposition, die Sie, Frau Kollegin, genannt haben - Zugang zu den Medien, Aufnahme
der Vertreter der Opposition in die Wahlkommission, Einstellung der politischen Verfolgung und Übertragung der
abschließenden gesetzgeberischen Gewalt auf das Parlament -, wie wir alle wissen, nur teilweise und in schwammiger Form eingegangen.
Besonders bemerkenswert ist, dass er bei seiner leichten Flexibilität in der letzten Zeit die Warnung ausgesprochen hat, dass jemand, der die Gewaltenteilung durchsetzt, sein Land spalten würde. Dies würde er nicht
zulassen. Auch das muss man hier in aller Deutlichkeit sagen. Das ist eine Kampfansage an das, was wir unter Demokratie verstehen.
({2})
Meine Damen und Herren, deswegen können und wollen wir uns in keiner Weise verschließen, alle Wege zu suchen. Nur müssen wir genau wissen, dass dies nicht ganz
so einfach ist. Hier werden kosmetische Zugeständnisse
gemacht, wenn sie opportun scheinen. Insofern entsprechen diese kosmetischen Zugeständnisse längst nicht den
rechtsstaatlichen Mindeststandards, die wir zugrunde legen müssen.
Aber auch ich unterstreiche: Zum einen ist Belarus mit
der bevorstehenden Osterweiterung der Europäischen
Union ein unmittelbarer Nachbar, zum anderen zeigt
uns - das sei hier abgekürzt gesagt - die Entwicklung in
Serbien, dass wir auch dann, wenn die Situation scheinbar
ausweglos ist, weiter arbeiten und Kontakte pflegen müssen, damit man eines Tages zu einer anderen Situation
kommt.
Deswegen kann ich an dieser Stelle abschließend nur
sagen: Ich möchte mich ganz besonders bei der OSZEMission und unserem Botschafter, Herrn Wieck, bedanken. Auch hier gibt es eine übereinstimmende Beurteilung. Ich freue mich, dass alle Fraktionen an einem Strang
ziehen. Da mag es zwar kleine Unterschiede in der Beurteilung geben, aber das Wichtigste ist, dass der Grundsatz
der Außenpolitik erhalten bleibt, dass wir den Versuch
machen, mit unseren europäischen Nachbarn überall ins
Reine zu kommen, überall dort, wo es geht, die demokratische Entwicklung zu fördern, aber keine Verwischung
durch falsche Kooperationen zur falschen Zeit aufkommen zu lassen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Uwe Hiksch von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Belarus ist historisch und kulturell immer ein integraler Teil Europas gewesen. Mit einer Lage
an der Kreuzung wichtiger Transitwege zwischen Ost und
West, Skandinavien und dem Mittleren Osten kann es eine
wichtige Brückenfunktion zwischen der EU, Russland
und der GUS erfüllen.
Belarus ist ein souveräner Staat mit einer reichen und
komplizierten Geschichte. Das Schicksal der Menschen
in Belarus war häufig, nicht zuletzt durch Deutschland,
von großer Tragik geprägt. Allein der vom deutschen
Faschismus entfesselte und mit grausamster Brutalität geführte Zweite Weltkrieg hat das ganze Land verwüstet und
jeden vierten seiner Einwohner, insgesamt 2,5 Millionen Menschen, vernichtet. Deshalb trägt Deutschland diesem Land gegenüber eine historische Schuld.
Wir sind der Überzeugung, dass wir auch aufgrund dieser historischen Schuld alle gemeinsam die Aufgabe haben, die Entwicklung der Beziehungen zwischen den
Menschen in Belarus auf der einen Seite und Deutschland
auf der anderen Seite als eine grundlegende Aufgabe der
deutschen Außen-, aber auch Innenpolitik zu begreifen.
Die PDS unterstützt deshalb alle Bemühungen Deutschlands um die demokratische, wirtschaftliche und soziale
Entwicklung in Belarus. Wir sind jedoch der Überzeugung, dass wir die Zivilgesellschaft nur dann stärken und
voranbringen können, wenn der jetzige sehr rigide Isolationskurs, den die bundesdeutsche Außenpolitik fährt,
eindeutig überwunden wird. Deshalb brauchen die Menschen nach unserer Überzeugung Hilfe in wirtschaftlicher, ökonomischer und sozialer Hinsicht.
Im Vorfeld der Wahlen wissen wir alle, dass die demokratische Situation in Belarus nicht befriedigend ist. Wir
sehen mit Besorgnis die derzeitige demokratische Situation von Belarus. Wir wissen jedoch auch, dass sich die
demokratische Situation in einer Reihe von postsowjetischen Staaten ähnlich problematisch darstellt.
Deshalb unterstützt die PDS wie auch in anderen Bereichen Initiativen zur Weiterentwicklung solcher problematischer Strukturen hin zur Demokratie. Die Zivilgesellschaft muss gefördert und vorangebracht werden.
({0})
Die PDS-Bundestagsfraktion setzt sich deshalb dafür ein,
dass die Beziehungen mit Belarus voll wiederhergestellt
und weiterentwickelt werden, weil wir der Überzeugung
sind, dass auch das der Zivilgesellschaft nützt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, der jetzt vorgelegte Antrag greift nach unserer Überzeugung zu kurz.
Er enthält eine einzige Forderung, nämlich einen „Prozess
der Abwendung von autoritären und repressiven Herrschaftsmethoden und eine Rückkehr zu Demokratie und
Rechtsstaatlichkeit“ zu beginnen. Diese Forderung unterstützen wir natürlich. Wir halten sie aber für sich genommen für zu wenig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, alle Fraktionen im
Deutschen Bundestag müssen gemeinsam dafür eintreten,
dass die parlamentarische Demokratie auch dadurch
gestärkt wird, dass autoritäre Regime nicht mit dem Hinweis darauf, dass Isolationskurse gefahren würden, eine
falsche Solidarisierung ihrer Bevölkerung durchsetzen
können. Wir halten die jetzige Isolationspolitik deshalb
für falsch und auch für kontraproduktiv.
Die PDS fordert deshalb die Bundesregierung auf, eine
neue, konstruktive Politik gegenüber Belarus voranzubringen. Eine ganzheitliche Politik würde die Aufnahme
anderer diplomatischer Beziehungen als bisher möglich
machen. Aus diesem Grund können wir dem vorgelegten
interfraktionellen Antrag nicht zustimmen.
Danke schön.
({1})
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD, der CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und der F.D.P. zu Wahlen in Belarus auf Drucksache
14/4252. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist der Antrag mit den
Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle, Dr. Edzard SchmidtJortzig, Rainer Funke, weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Ladenschlussgesetzes
- Drucksache 14/1671 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({1})
- Drucksache 14/4272 Berichterstattung:
Abgeordneter Ekin Deligöz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Gudrun Kopp das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte
Herren und Damen! Wir diskutieren ein Jahr nach Einbringung unseres F.D.P.-Antrages auf Abschaffung des
Ladenschlussgesetzes - nach Ladenschluss, spät am
Abend - und in der Zwischenzeit hat sich im Bewusstsein
der Bevölkerung jede Menge getan, aber nicht nur dort,
sondern auch bei vielen Politikern und bei Verbänden.
({0})
Ich zitiere zum Beispiel Frau Merkel, die vor 14 Tagen
in meinem Wahlkreis bei einem Unternehmertag gesagt
hat, dass der Ladenschluss inzwischen als Symbolthema
für Stillstand und Reformstau in Deutschland stehe. Da
hat sie vollkommen Recht.
({1})
Ministerpräsident Clement hat in der Sommerpause die
Abschaffung dieses Gesetzes gefordert. Eine Mehrheit im
Bundesrat fand sich zumindest für eine Liberalisierung
des Ladenschlusses. Allerdings - das war dann der große
Coup -: Bundeskanzler Schröder entdeckte den Ladenschluss als taktisches Beruhigungsmittel in Richtung Gewerkschaften, um in der Rentenfrage weiterzukommen.
({2})
Die so genannte Dienstleistungsgewerkschaft zieht mit
ihren 3 Millionen Beschäftigten gegen 70 Millionen erwachsene Verbraucher im Lande zu Felde,
({3})
obwohl doch jeder hier im Raum längst weiß: Das Gesetz
ist nicht zu halten. Es wird früher oder später fallen.
({4})
So denkt auch Wirtschaftsminister Müller; denn er hat
erst kürzlich in einem Interview geäußert, binnen kurzer
Frist werde dieses Gesetz wie das Rabattgesetz nicht mehr
vorhanden sein. Auch Staatssekretär Mosdorf antwortete
mir auf meine schriftliche Anfrage nach dem größten Anreiz des Internet-Handels, das Beste an diesem InternetHandel sei die 24-stündige Verfügbarkeit. Man hört und
staunt.
({5})
Der Ladenschluss wird inzwischen in Scheiben geschnitten, ausgehöhlt, umgangen und mit Sonderregelungen versehen.
({6})
Natürlich entspricht er längst nicht mehr dem boomenden
Internet-Handel, den Sonderverkäufen an Bahnhöfen,
Tankstellen und an Flughäfen.
({7})
Apropos Tankstellen: 14 Milliarden DM an Umsätzen
machen die Tankstellen jedes Jahr allein durch ShopProdukte.
({8})
Was brauchen wir am Standort Deutschland? - Deregulierung und weniger Gesetze. Hier haben wir die
Chance, dies zu realisieren. Im Übrigen muss niemand
länger öffnen, aber das Zeitfenster, die Möglichkeit dazu
wäre gegeben.
Ich möchte ein Wort zu dem Thema Beschäftigte sagen, für die das angeblich ein großes Problem sei. Wissen
Sie, es gibt längere oder ungewöhnliche Arbeitszeiten
nicht nur für Ärzte, Krankenschwestern, Apotheker oder
Feuerwehrleute.
({9})
Es gibt in der gesamten Freizeitkultur, in der gesamten
Branche von Gastronomie, Kino und Theater Menschen,
die schon heutzutage länger als 20 Uhr arbeiten, manche
sogar die ganze Nacht.
({10})
Wenn es den Gewerkschaftsfunktionären mit der Sorge
um die Beschäftigten wirklich ernst wäre - am Arbeitszeitgesetz wird nichts verändert -, dann dürften sie diese
Freizeitindustrie und diese Freizeitbeschäftigungen konsequenterweise nicht in Anspruch nehmen, weil dort nämlich Beschäftigte angeblich ausgebeutet werden.
({11})
Dies alles ist heuchlerisch, weil wir alle wissen, was eigentlich Sache ist.
({12})
Es ist einfach sehr schwierig, wenn wir vom Deutschen
Städtetag hören, wir sollten einen Schutzwall um die Innenstädte bilden. In diesem Schutzwall sollen dann besondere Öffnungszeiten möglich sein. Ich finde, das ist
rechtlich höchst bedenklich. Es schließt in diesem Fall
nämlich die Gewerbefreiheit aus. Das sollten wir uns
nicht gönnen.
Machen wir uns nicht länger zum Gespött vor allen
Dingen der ausländischen Öffentlichkeit! Ich appelliere
an Sie: Machen Sie Schluss mit dem Ladenschluss, und
zwar jetzt, hier und heute!
Danke schön.
({13})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Doris Barnett von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin, Sie haben eine sehr
selektive Wahrnehmung, was das Internet usw. anbelangt.
Dem kann ich überhaupt nicht zustimmen. Die Lektüre
der „Zeit“ wird Sie vielleicht etwas aufklären.
Ein Frage an Sie: Was haben denn Ostern, Weihnachten und Ihr Antrag zum Ladenschlussgesetz gemeinsam? Sie kommen mit Sicherheit jedes Jahr wieder, und das sogar fast auf den Tag genau.
({0})
Was hat sich seit letztem Oktober geändert? Gibt es
neue bedeutende Erkenntnisse in Sachen Ladenschluss? Keineswegs! Es gibt keine neuen Erkenntnisse
({1})
und keine neuen keine Argumente - auch nicht bei dem,
was Sie heute vorgetragen haben. Es ist nur eine WiederGudrun Kopp
holung dessen, was wir auch aus dem Fernsehen hinlänglich kennen.
Ich wiederspreche eindeutig der Aussage, der Einzelhandel und die Konsumenten würden eine Änderung des
Ladenschlusses wollen. Wer es wirklich will, sind die
großen Konzerne im Einzelhandel.
({2})
Sie haben in großflächige Verkaufsräume investiert, die
im Unterhalt teuer sind. Da muss dann bei der Rendite etwas herauskommen, also wird mit einer riesigen Auswahl
an Gütern, die bisher von mehreren Einzelhandelsgeschäften angeboten wurden, auf Kundenfang gegangen.
Die Konkurrenz stört und wird mit Schnäppchenpreisen,
Sonderangeboten usw. platt gemacht. Das sind ganz
knallharte betriebswirtschaftliche Überlegungen, die zur
Vernichtung von 35 000 Einzelhandelsexistenzen und Arbeitsplätzen geführt haben.
({3})
Auf der Strecke bleiben dann die kleinen und mittelständischen Unternehmen, die weniger Kundenzulauf haben und deshalb aufgeben. Das hat Auswirkungen auf das
ganze soziale Gefüge unserer Städte und auch der ländlichen Regionen. In den Innenstädten machen zunehmend
die kleinen Fachgeschäfte zu. Das macht keine Stadt für
ihre Besucher und Einwohner attraktiv. Was das für die
Menschen heißt, die über kein eigenes Auto verfügen,
muss ich Ihnen nicht sagen. Sprechen Sie einmal mit den
Müttern,
({4})
mit den älteren Menschen oder Behinderten, die jetzt
weite Wege für Ihre Besorgungen zurücklegen müssen,
weil das Angebot vor Ort verschwunden ist!
Es kann deshalb nicht verwundern, dass der kleine und
mittelständische Einzelhandel weiteren Lockerungen widerspricht.
Bereits im letzten Jahr sagte unter anderem der Präsident der Handwerkskammer für München und Oberbayern, Herr Traublinger,
({5})
dass dieses Drängen auf verlängerte Ladenschlusszeiten
im höchsten Maße mittelstandsfeindlich sei, weil im Handel der Wettbewerb sehr scharf sei und dieser Zustand
schon seit Jahren zulasten der Kleinen gehe. Die Mehrzahl der mittelständischen Handelsbetriebe schreibe rote
Zahlen und längere Öffnungszeiten spitzten diese Situation nur weiter zu.
({6})
Dass sich daran nichts geändert hat, zeigt die Stellungnahme einer Gruppe klein- und mittelständischer Einzelhandels- und Ladenhandwerksbetriebe aus Berlin, die Sie
in unserer gestrigen Ausschussdrucksache 14/869 nachlesen können:
Eine noch höhere Öffnungsaktivität können die
klein- und mittelständischen Betriebe aus betriebswirtschaftlichen Gründen nicht erbringen. Bei einer
Änderung oder Abschaffung des Ladenschlussgesetzes käme es zu einer weiteren ruinösen Wettbewerbsverzerrung mit äußerst negativen Folgen für
die gewachsenen Einzelhandelsstrukturen der Innenstädte und darüber hinaus für deren Belegschaft.
Und weiter heißt es:
Die Positionspapiere der Industrie- und Handelskammern sowie der Einzelhandelsverbände zur Deregulierung des Ladenschlussgesetzes spiegeln nicht
die Mehrheitsmeinung der deutschen Einzelhändlerschaft wider. Diese veröffentlichte Meinung sollte
sehr differenziert gesehen werden, da eine repräsentative Umfrage innerhalb der deutschen Einzelhändlerschaft nicht stattgefunden hat.
({7})
Der Präsident des Zentralverbandes Hartwarenhandel
e.V., Dr. Kellerwessel, schreibt am 29. September 2000 an
den „Kölner Stadt-Anzeiger“, dass sich die größte Mehrheit der Handelsunternehmen gegen jede Verlängerung
der Öffnungszeiten ausspricht und schon 1996 einhellig
dagegen war. Denn die Verlängerung der Ladenöffnungszeiten würde nur an wenigen exponierten Standorten
wirksam und würde auch dort wiederum besonders die
Großbetriebsformen profitieren lassen. Immer mehr
kleine und mittelständische Betriebe müssten schließen.
Ich stelle fest: Die kleinen und mittelständischen Unternehmen in unserer Republik sprechen sich einhellig,
unmissverständlich und seit langer Zeit gegen eine Verlängerung der Ladenöffnungszeiten aus.
({8})
Die Erfahrungen aus vier Jahren längerer Öffnungszeiten zeigen, dass diese gar nicht genutzt werden, weil es die
Kundenströme nach 18 oder 19 Uhr gar nicht gibt. Das ist
nicht nur bei uns so, das können Sie selbst auf der 5th Avenue in New York feststellen: Die Läden schließen dort
schon um 17.00 Uhr, weil sie keine Kunden mehr haben.
({9})
Dieser Konzentrationsprozess hat noch eine Konsequenz: Das Sortiment wird überall das gleiche werden, die
Auswahl beschränkt sich auf das Angebot, das die Handelsketten für uns Kunden aussuchen.
({10})
Hat das noch etwas mit der viel beschworenen Vielfalt zu
tun? Deshalb setze ich mich auch im eigenen Interesse für
den Erhalt des Ladenschlusses ein, damit uns die kleinen
Läden, die Spezialitäten bzw. Raritäten haben oder diese
besorgen können, erhalten bleiben. Die Vorstellung, dass
wir über kurz oder lang, sollte sich Ihr Vorschlag durchsetzen, nur noch Wal-Marts, Metros usw. mit einem Einheitssortiment hätten, macht mich als Kunden nicht gerade glücklich.
Wenden wir uns doch einmal den Kunden zu: Stimmt
es denn wirklich, dass eine so überwiegende Mehrheit am
liebsten nach 20 Uhr einkaufen würde?
({11})
Das glaubt in diesem Raum wohl niemand.
({12})
Die wenigsten Kunden werden - abgesehen von den Abgeordneten - eine 80-Stunden-Woche haben. Deshalb ist
es eigentlich verwunderlich, dass sich die Vertreter der
New Economy als ungeeignet und unfähig erweisen, ihre
Einkäufe bis 20 Uhr zu regeln. Wenn sie das schon nicht
auf die Reihe bekommen, wie können wir Ihnen dann
darin vertrauen, unsere Wirtschaft zu lenken? Das ist doch
allmählich absurd.
({13})
Die überwiegende Mehrheit der Käufer - 74 Prozent
der Käuferinnen und Käufer kann man wohl als Mehrheit
bezeichnen - wünschen sich keine Verlängerung der Öffnungszeiten, weil auch die Kunden vor Augen haben, was
sonst geschieht: Einkaufszentren am Rande der Stadt und
keine ausreichende Versorgung der Wohngebiete mehr.
Natürlich gibt es Kunden, die das Bedürfnis haben, sich
um 23 Uhr einen Nagellack, eine CD, Pralinés oder ein
Auto zu kaufen.
({14})
Übrigens: Versuchen Sie einmal, nach 19 Uhr bei dem
Praliné-Laden neben dem Adlon etwas zu bekommen, der
ist zu diesem Zeitpunkt schon längst geschlossen.
Ich habe mir den Spaß gemacht, im Internet unter dem
Begriff „Ladenschluss“ nachzusehen. Dort fand ich
schnell folgende Zeilen:
Mir wäre es am liebsten, alle Geschäfte hätten die
ganze Nacht hindurch offen. Allein schon die Möglichkeit, um 3.00 Uhr morgens Bilderrahmen kaufen
zu können oder Pfandflaschen zurückzubringen,
würde mich zu einem sehr zufriedenen Menschen
machen. Wenn ich nachts trotzdem schlafen würde,
wäre das meine freie Entscheidung. Nun habe ich
keine andere Wahl. Ich schlafe nachts, weil es nichts
anderes zu tun gibt.
Ich glaube, dem braucht man nichts mehr hinzuzufügen.
({15})
Aber nur, um solchen plötzlichen Eingebungen nachzukommen, am späten Abend irgendetwas zu erwerben,
müssen wir doch nicht wichtige Arbeitsschutzbestimmungen abschaffen. Den Wunsch nach Nagellack um
23 Uhr sollten wir Sozialpolitiker doch vielleicht etwas
anders bewerten als den Betrieb eines Heizkraftwerkes,
das nicht täglich angefahren und abgeschaltet werden
kann.
({16})
Auch der Hinweis auf das Klinikpersonal hinkt, denn ich
entscheide mich nicht aus freien Stücken, nachts eine
Blinddarmkolik zu bekommen, mir das Bein zu brechen
oder einen Unfall zu haben.
Schauen wir uns doch einmal die Situation der Beschäftigten an. Seit der Einführung der längeren Öffnungszeiten im Einzelhandel 1996 wurden Vollzeit- und
sozialversicherungspflichtige Teilzeitarbeitsplätze abgebaut, dafür aber jede Menge geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse eingerichtet. Trotz längerer Öffnungszeiten gibt es jetzt 6 Prozent weniger Arbeitsplätze im
Einzelhandel. Dafür sind die Überstunden sprunghaft gestiegen, und zwar auf jährlich 564 Millionen Stunden, das
entspricht 29 000 Vollzeitarbeitsplätzen. Dadurch wird
der Beruf des Einzelhandelskaufmanns auch nicht attraktiver. Wenn nach dreijähriger Ausbildung somit nur die
Chance besteht, bei einem Großkonzern zu arbeiten, oftmals nur als Teilzeitkraft, dazu noch ohne Zukunftsperspektive, werden es sich die Jungen wohl überlegen, ob
sie diesen Beruf ausüben wollen. Denn er garantiert bei
diesem Einkommen nicht einmal mehr, den eigenen Lebensunterhalt zu sichern.
Die Aufsplittung sozialversicherungspflichtiger Vollzeittätigkeit in geringfügige Beschäftigung trifft besonders die Frauen, weil nun einmal 80 Prozent der Arbeitnehmer im Handel Frauen sind. Mit der Arbeit als
geringfügig Beschäftigte wird die Abhängigkeit der
Frauen von dem Einkommen des Mannes wieder zementiert. Das könnte ja Ihre Absicht sein, aber es widerspricht
jedem Emanzipationsanspruch. Demnächst werden wir
uns im Rahmen der Rentendiskussion über die eigenständige Altersvorsorge der Frauen unterhalten. Wie diese mit
geringfügiger Beschäftigung zu erringen ist, können Sie
uns dann einmal erklären.
Der Gesetzentwurf der F.D.P. hat für mich aber auch
noch eine andere Qualität: Weil er alle Bedenken hinsichtlich der Beschäftigten im Einzelhandel, der kleinen
und mittelständischen Einzelhändler und drei Viertel aller
Kunden außer Acht lässt und nur dem Konsum das Wort
redete, drängt sich der Eindruck auf, dass nicht mehr der
Mensch, die menschliche Gesellschaft, im Mittelpunkt
unseres politischen Handelns steht, sondern nur noch der
Profit, das Geld, der Konsum und die Eigeninteressen.
({17})
Wir haben in allen Debatten, die wir bisher geführt haben, darauf hingewiesen, dass Verbände und Vereine über
den dramatischen Rückgang des ehrenamtlichen Engagements klagen. Wir haben heute sogar eine Debatte darüber geführt. Wenn in unserer Gesellschaft zukünftig der
Spaß am Geldausgeben auf Platz eins steht und der Umgang, das Zusammensein mit Menschen nicht mehr interessant ist, dann zerstören wir unsere Gesellschaft.
Kolleginnen und Kollegen, um der Geschichtsklitterung vorzubeugen und zur Aufklärung beizutragen, einDoris Barnett
fach damit Sie die Daten richtig im Kopf haben, Folgendes: Die Bundesregierung hat am 15. Dezember 1999 aufgrund der vorliegenden Gutachten des Sozialforschungsinstituts und des Ifo-Instituts festgestellt, dass es
bezüglich der Ladenschlusszeiten bei uns keinen unmittelbaren Handlungsbedarf durch den Gesetzgeber gibt.
({18})
Es besteht ein breiter Konsens, die Ladenöffnung an
Sonn- und Feiertagen nicht freizugeben. Jetzt, fast ein
Jahr später, stelle ich fest, dass sich an dieser Einschätzung nichts geändert hat, da sich auch die Ausgangssituation nicht verändert hat. Aus diesem Grund bleibt es auch
in diesem Jahr dabei: Wir lehnen den Gesetzentwurf der
F.D.P. ab und hoffen auf die Klugheit und Einsicht der
Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen, das
Gleiche zu tun.
({19})
Als
Nächster hat der Kollege Peter Rauen von der CDU/CSUFraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ein Glück, dass der Ladenschluss nicht für den Deutschen Bundestag gilt.
({0})
Sonst dürften wir dieses Thema zu dieser Zeit gar nicht
mehr diskutieren.
({1})
Ich werde aufgrund der vorgerückten Zeit die mir zustehenden zwölf Minuten Redezeit nicht ausschöpfen und
versuchen, mit zwei, drei Minuten hinzukommen. Dafür
muss ich Ihnen aber leider die acht Seiten meiner Rede
vorenthalten, in der ich mich über die Lebenswirklichkeit
in Deutschland am Rande der Ladenschlussgesetzgebung
ausgelassen habe. Aber ich möchte Ihnen doch das Fazit
der Überlegungen mitteilen.
Das Ladenschlussgesetz in Deutschland ist ein Relikt
aus dem letzten Jahrhundert, und das liegt seit acht Monaten hinter uns. Frau Kollegin Barnett, es hat sich schon
einiges getan, auch seit dem letzten Jahr.
({2})
Sie werden feststellen, dass ein großer Teil der mittelständischen Verbände, die noch vor Jahren entschieden
gegen Änderungen waren, heute fordert: Weg mit diesem
Ladenschluss! Er behindert letztlich auch den Mittelstand
in Deutschland.
Was unsere Fraktion jedoch nicht aufgeben wird, ist
das generelle Verbot, die Läden an Sonn- und Feiertagen
zu öffnen.
({3})
Hiervon darf es nur ganz wenige Ausnahmen geben. Wir
brauchen einmal in der Woche Ruhepausen und Zeit zum
Besinnen. Wir müssen auch über Möglichkeiten zur Verbesserung der Situation des mittelständischen Einzelhandels reden. Es gibt in unserer Fraktion eine Reihe von
Stimmen, die ein kommunales Satzungsrecht zugunsten
der Ladenöffnungszeiten in den Innenstädten fordern, wie
dies auch die BAG und der Deutsche Städtetag tun.
({4})
Dies ist aus verschiedenen Gründen nicht unproblematisch und bedarf noch eingehender Überlegungen. Ich
stelle aus Sicht unserer Fraktion fest und fordere:
Erstens. Wir sind für eine weitere Liberalisierung der
Ladenöffnungszeiten, für eine Abschaffung des Ladenschlussgesetzes an allen Werktagen.
({5})
Dies lässt sich aufgrund der Globalisierung und des technischen Fortschritts ohnehin nicht verhindern. Der Ladenschluss passt nicht mehr in unsere heutige Zeit.
({6})
Zweitens. Wir wollen die Sonntage und die Feiertage
schützen. An dieser Stelle geht uns die F.D.P. in ihrem Gesetzesantrag zu weit. Deshalb müssen wir diesen Antrag
ablehnen.
({7})
- Nein, Sie wollen die Sonntage - ich haben Ihren Antrag
genau gelesen - in die Disposition der Länder stellen. Wir
sind grundsätzlich der Meinung: Der Sonntag gehört geschützt. Es darf nur ganz wenige Ausnahmen geben. Das
ist für uns ein sehr wichtiger Punkt.
Drittens. Die Innenstädte sollen gestärkt werden.
Über die geeigneten Instrumente, gegebenenfalls auch im
Baugesetzbuch, muss befunden werden. Aber es sind
auch andere Fördermaßnahmen denkbar.
Viertens. Wir haben kein Verständnis dafür, dass die
SPD und der Kanzler die Modernisierung des Ladenschlussgesetzes verweigern.
({8})
Der Handlungsdruck ist da. Die Wirklichkeit bleibt nicht
stehen. Nichthandeln schadet dem Standort Deutschland.
({9})
Die Regierung tut wie die SPD nichts an diesem Punkt.
Sie hält uns lediglich hin. Es ist an ihr, einen Vorschlag zu
machen. Stattdessen duckt sie sich und scheut den Konflikt mit den Gewerkschaften.
({10})
Sie schließt faule Kompromisse oder erkauft sich das
Wohlwollen der Gewerkschaften nach dem Motto: Rentenkonsens gegen Beibehaltung der Ladenschlusszeiten.
({11})
- Das konnte man doch vor drei Wochen lesen. Widersprechen Sie doch nicht! Das ist doch Tatsache.
Wir machen dies nicht mit. Ich fordere deshalb die
Bundesregierung auf: Lassen Sie das Thema Ladenschluss nicht links liegen! Legen Sie uns einen Vorschlag
vor! Verweigern Sie sich an diesem Punkt nicht dem
zwingend notwendigen Fortschritt!
({12})
Die Zeit ist über das Ladenschlussgesetz längst hinweggegangen.
Schönen Dank.
({13})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Franziska
Eichstädt-Bohlig vom Bündnis 90/Die Grünen.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte zuerst auf Frau Kopp eingehen. Wenn
Sie tatsächlich meinen, dass das Ladenschlussthema gerade das Zeichen für Stillstand und Reformstau unter der
rot-grünen Koalition sei, dann muss ich sagen, dass
sich diese Koalition bei aller Sympathie für dieses
Thema - auch ich habe vorhin festgestellt, dass meine allabendliche Einkaufsmöglichkeit, der Edeka-Laden am
Bahnhof, schon geschlossen hatte - zuerst um die Steuerreform, die Rentenform, die Bahnreform und die Mietrechtsreform kümmern sollte. Alle diese Reformen werden in diesem Land als sehr viel wichtigere Themen
angesehen als die Frage, wo wir um Mitternacht die Butter kaufen können.
({0})
Nach meiner Meinung ist es dem Thema Ladenschluss
überhaupt nicht angemessen, wenn wir darüber schwarzweiß diskutieren. Ich halte es für nicht sehr sinnvoll, wenn
pauschal gefordert wird: Schaffen wir den Ladenschluss
ab! Setzen wir alle Einzelhändler einer massiven Konkurrenz aus, dann ist das Problem gelöst! - Das ist das Bild
einer Hyperkonkurrenz, das so nicht stimmen kann.
Daher möchte ich - ich habe das neulich schon getan; offenbar beantragen Sie monatlich nicht nur eine Transrapidstunde, sondern jetzt wöchentlich auch eine Ladenschlussstunde - noch einmal dafür werben, dass wir den
Wettbewerb ein Stück weit strukturieren.
Ich bin nicht wie Sie der Meinung, dass es überhaupt
keinen Handlungsbedarf gibt. Ich glaube zwar, dass eine
flexibilisierte Arbeitswelt auch flexiblere Einkaufsmöglichkeiten benötigt, aber nicht in der Form einer Hyperkonkurrenz aller gegen alle. Das Konzept, das der Städtetag vorgelegt hat, sollte sehr ernsthaft abgewogen und
diskutiert werden, weil der Einzelhandel, insbesondere
die mittelständischen Betriebe, in den Innenstädten
tatsächlich unter einem erheblichen Kundenschwund leidet, während der großflächige Einzelhandel auf der grünen Wiese boomt. Das liegt daran, dass es keine gleichen
Bedingungen gibt, weil der großflächige Einzelhandel auf
der grünen Wiese, in den Sonderstandorten und teilweise
auch in den Gewerbearealen Konkurrenzvorteile hat: ein
unbegrenztes Angebot an billigen Parkplätzen, billiges
Bauland, geringen Arbeitskräftebedarf pro Quadratmeter
Verkaufsfläche und eine günstige Kostenstruktur. Daher
ist es gefährlich, diese Konkurrenzsituation noch weiter
zu verschärfen. Aber eine solche Verschärfung wäre die
Folge einer völligen Liberalisierung, wie Sie sie sich vorstellen. Das halte ich nicht für verantwortbar. Wir dürfen
den Verdrängungswettbewerb nicht auch noch politisch
unterstützen, schon gar nicht zulasten der Städte.
Deswegen werben wir sehr dafür, das Modell des Städtetages auch von Bundesseite ernsthaft zu prüfen, nämlich
ob und inwieweit es sich rechtlich verwirklichen lässt.
Dazu gibt es zwei Gutachten, die das für durchaus legitim
halten und die nicht sehen, dass die Gewerbefreiheit so totaliter eingehalten werden muss, wie Sie. Aus diesen Gutachten geht hervor, dass man sehr wohl zwischen dem
städtischen Einzelhandel und dem Einzelhandel an Sonderstandorten unterscheiden kann. Ich denke, wir sollten
die Verwirklichung dieses Modells vorantreiben, damit
wir die Innenstädte gerade am Abend etwas mehr beleben
können.
({1})
Sicher ist, dass dadurch nicht alle Probleme der Innenstädte gelöst werden können, da die Verödung der Innenstädte vielfältige Ursachen hat. Eine Differenzierung des
Ladenschlussgesetzes kann also nicht das Allheilmittel
sein. Sie kann aber dazu beitragen, bestehende Wettbewerbsverzerrungen, die Sie nicht sehen wollen, sondern
die Sie verstärken, zu reduzieren und damit unseren Innenstädten einen neuen Entwicklungsschub zu geben.
Deswegen werbe ich für eine nachdenkliche Variante, die
zwischen den verschiedenen Positionen angesiedelt ist.
Ich denke, dass wir in dieser Richtung Kompromisse finden können, die allen Beteiligten gut tun.
({2})
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin Pia
Maier von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Herr Rauen hat schon festgestellt, dass für uns leider kein Ladenschlussgesetz gilt. Für uns gilt auch kein
Arbeitszeitgesetz, ganz im Gegensatz zu den meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die in der Woche
zum Glück nur 40 Stunden arbeiten müssen. Sie können
bei 80 Stunden Ladenöffnungszeit in der Tat ihre Einkäufe erledigen. Ich bin hier noch in der Probezeit, von
daher musste ich Sie heute leider etwas länger festhalten.
Ich darf noch nicht früher gehen.
({0})
- Da haben Sie natürlich Recht.
Eine Verkäuferin verdient netto um die 2 000 DM. Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., wollen
diese Verkäuferin für dieses Gehalt noch die ganze Nacht
arbeiten lassen. Mir liegen die Probleme dieser Verkäuferin mehr am Herzen als die Möglichkeit, mir die fehlende
Butter heute Nacht noch zu besorgen.
({1})
Mittlerweile äußern sich schon die ersten Initiativen
von Ladenbesitzern, die eigentlich keine weiteren Öffnungszeiten haben wollen; sie haben sicherlich den Brief
der „Aktion Hermannstraße“ bekommen. Auch die Besitzer kleiner Läden möchten ihre Freizeit nutzen, selbst einkaufen und sich um ihre Familie kümmern. Das sind die
Bedenken von Ladeninhaberinnen und Ladeninhabern,
die ich gerne ernst nehmen möchte.
({2})
Von der Erweiterung der Ladenöffnungszeiten haben
vor allem die großen Warenhäuser Gebrauch gemacht.
Eine Belebung der Innenstädte findet eigentlich nur dort
statt und nicht in den Einzelhandelsgeschäften. Längere
Öffnungszeiten würden uns also vor allem eines bringen:
noch mehr große Warenhäuser mit noch längeren Öffnungszeiten, die auf die Angestellten verteilt werden können, aber immer weniger Einzelhandel, immer weniger
kleine Läden. Das belebt die Innenstädte auf Dauer nicht
wirklich.
Zum Abschluss möchte ich ein paar Sätze zu der Mär
der Gefahr des E-Commerce sagen. Der elektronische
Handel wird - gleich einem großen Gespenst - immer
wieder als Gefahr für den normalen Einzelhandel herangezogen. Dabei bietet gerade der elektronische Handel
durch die Möglichkeit, im Internet einzukaufen, eine hervorragende Ergänzung zum normalen Einzelhandel, der
sich weitere Nischen eröffnen kann. Was immer nachts im
Internet bestellt wird, wird am nächsten Tag gepackt, wird
am nächsten Tag ausgeliefert - und zwar von ganz realen
Menschen.
({3})
Der Einzelhandel wird sich gegenüber dem E-Commerce immer durch persönliche Real-Time-Beratung unterscheiden. Wer nicht vom Deregulierungsfetisch besessen ist, wird immer akzeptieren, dass hinter einem realen
Menschen, der beraten kann, auch der reale Wunsch nach
einem Feierabend steht.
Dieser Wunsch ist mir sehr wichtig. Daher werde ich
Ihnen den Wunsch nach einem Feierabend nun auch erfüllen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Frau Kollegin
Maier, ich beglückwünsche Sie zu Ihrer ersten Rede im
Deutschen Bundestag, die Sie leider zu später Stunde halten mussten.
({0})
Ich schließe die Aussprache. Bevor wir zur Abstimmung kommen, gebe ich bekannt, dass eine Erklärung zur
Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung von dem
Kollegen Ernst Hinsken
({1})
und der Kollegin Anita Schäfer zu Protokoll gegeben wor-
den ist.1)
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der F.D.P. zur Aufhebung des Ladenschlussgesetzes auf Drucksache 14/1671. Der Ausschuss
für Arbeit und Sozialordnung empfiehlt auf Drucksache 14/4272, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. ({2})
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? ({3})
Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen der F.D.P.Fraktion bei Enthaltung einzelner Abgeordneter aus den
Reihen der CDU/CSU-Fraktion mit den Stimmen des
Hauses im Übrigen abgelehnt worden. Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ruth
Fuchs, Dr. Klaus Grehn, Uwe Hiksch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Mehr Mitbestimmungsrechte für Betriebsräte - Eckpunkte für die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes
- Drucksache 14/4071 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({4})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Es ist vereinbart worden, die Reden zu Protokoll zu
nehmen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist nicht der
Fall. Es handelt sich um die Reden des Kollegen Klaus
Brandner und der Kollegin Anette Kramme von der SPD-
Fraktion, der Kollegin Dorothea Störr-Ritter von der
CDU/CSU-Fraktion, der Kollegin Dr. Thea Dückert von
Bündnis 90/Die Grünen, des Kollegen Dr. Heinrich L.
Kolb von der F.D.P.-Fraktion und der Kollegin Dr. Heidi
Knake-Werner von der PDS-Fraktion.2)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4071 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
1) Anlage 6
2) Anlage 4
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a bis 10 c auf:
10 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Neuordnung des Gerichtsvollzieher-
kostenrechts - GvKostRNeuOG -
- Drucksache 14/3432 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Gerichtskostengesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 14/598 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({5})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Umstellung des Kostenrechts und der Steuerberatergebührenverordnung auf Euro
- KostREuroUG - Drucksache 14/4222 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({6})
Finanzausschuss
Auch hier ist vereinbart worden, dass die Reden zu
Protokoll genommen werden. Gibt es Widerspruch dage-
gen? - Das ist nicht der Fall. Ich verlese wiederum die Na-
men derjenigen, die ihre Reden zu Protokoll gegeben ha-
ben: Das sind die Kollegen Alfred Hartenbach von der
SPD-Fraktion, Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten von der
CDU/CSU-Fraktion, Volker Beck von Bündnis 90/Die
Grünen, Rainer Funke von der F.D.P.-Fraktion, die Kolle-
gin Dr. Evelyn Kenzler von der PDS-Fraktion und der
Parlamentarische Staatssekretär Professor Dr. Eckhart
Pick von der Bundesregierung.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzentwürfe
auf den Drucksachen 14/3432, 14/598 und 14/4222 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist
nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
({7})
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 13. Oktober 2000, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.