Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zehn Jahre
deutsche Einheit sind ein Grund, dankbar zu sein, und sicher auch ein Grund, stolz zu sein. In diesen zehn Jahren
seit der Wiederherstellung der staatlichen Einheit hat
Deutschland seinen politischen Rang in der Mitte Europas
wieder einnehmen und auch festigen können.
Die europäische Werteordnung, der Deutschland vielleicht mehr als jedes andere Land verpflichtet ist, hat es
nicht nur uns Deutschen ermöglicht, unser Leben in Frieden und Freiheit zu gestalten. Nein, sie bietet auch die
Chance, dass die Menschen in Europa ihre Traditionen
und Talente nach einem Jahrhundert der Zerstörung in ein
gemeinsames Aufbauwerk von Freiheit und auch von
Wohlstand einbringen können.
({0})
Wer heute über die deutsche Einheit spricht, der muss
also auch über die europäischen Erfordernisse sprechen.
Hier reicht es gewiss nicht aus, den technischen Prozess
der fortschreitenden europäischen Einigung zu benennen. Für mich kommt es darauf an, eine praktische Politik der Modernisierung, der Teilhabe und der Chancengerechtigkeit sowie der guten Nachbarschaft in Europa zu
betreiben. Eine solche Politik fängt hier bei uns zu Hause
an. Der entscheidende Beitrag zu einem modernen und
gerechten Europa steht nicht in den Geschichtsbüchern,
sondern muss hier und heute und auch in aller Zukunft
von uns zusammen geleistet werden.
({1})
Das vereinte Deutschland und das sich weiter einigende Europa müssen zukunftsfähig gemacht werden.
Das bedeutet: Die Politik und die Bürger müssen große
Präsident Wolfgang Thierse
Anstrengungen unternehmen, um eben nicht nur für uns,
sondern auch für unsere Kinder und Enkelkinder eine lebenswerte Welt zu erhalten. Das ist der politische Auftrag
des deutschen und des europäischen Vereinigungsprozesses.
({2})
Europa kann es sich beispielsweise nicht leisten, dass
eine führende Wirtschaftsmacht reformunfähig an der
„German disease“ laboriert. Der Reformstau, der sich in
Deutschland über Jahre hinweg aufgebaut hat, war zur
Bedrohung für die Zukunftsfähigkeit ganz Europas geworden.
({3})
Diesen Reformstau hat die Bundesregierung aufgelöst.
({4})
Das ist eine gute Nachricht nicht nur für Deutschland,
sondern auch für Europa.
({5})
Ein solches Jubiläum wie der zehnte Jahrestag der
deutschen Vereinigung eignet sich gut dafür, eine Zwischenbilanz zu ziehen, sich das Erreichte vor Augen zu
führen und den Blick für die Notwendigkeiten der Zukunft zu schärfen. Wozu sich der Jahrestag der deutschen
Einheit hingegen überhaupt nicht eignet ist der Versuch,
das großartige Ereignis der unblutigen Revolution in
Ostdeutschland parteipolitisch auszubeuten.
({6})
Ich schlage vor, dass wir uns in dieser Frage auf eine
historische Einordnung einigen, die ich Ihnen einmal vorlese:
Dass wir Deutsche in diesem Herbst eine glückliche
Wende unserer Geschichte erleben und zugleich eine
große Zukunft für ganz Europa mitgestalten dürfen,
verdanken wir vor allem zwei historischen Entwicklungen:
({7})
Präsident Gorbatschow hat in der Außen- und Sicherheitspolitik der Sowjetunion „Neues Denken“
durchgesetzt und die Völker Mittel-, Ost- und Südosteuropas sind in festem Vertrauen auf die Ideale der
KSZE mutig für ihr Recht, für ihre Freiheit und für
ihre Selbstbestimmung eingetreten.
Ich fahre fort:
Wir, die Unionsparteien, haben sie
- die KSZE-Schlussakte damals mit Skepsis aufgenommen, eine Skepsis, die
sich glücklicherweise als unbegründet herausgestellt
hat. Ich nehme deshalb diese Debatte zum Anlass,
der damaligen Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt und Bundesminister HansDietrich Genscher meinen besonderen Respekt für
diese Entscheidung zu bezeugen ...
({8})
Ich schließe die Kollegen Willy Brandt und Walter
Scheel ausdrücklich in diese Feststellung ein.
({9})
So Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl in der 236. Sitzung
des Deutschen Bundestages am 22. November 1990.
({10})
Wir sollten es bei dieser historischen Einordnung belassen.
({11})
Vielleicht sollten wir eines noch hinzufügen: Diejenigen, die damals in Ost- und in Westdeutschland politische
Verantwortung getragen haben, sind ihren Verpflichtungen sehr gut gerecht geworden. Dafür sind wir ihnen allen zu Dank verpflichtet. Das stellt auch niemand in Abrede.
Der Beitrag unserer Freunde in den Regierungen unserer Partnerstaaten, aber auch und vor allem der Beitrag
von Michail Gorbatschow in der damaligen Sowjetunion
verdient wirklich größte Würdigung. Wir alle werden darüber hinaus nie vergessen, was die Völker in unseren ostund mitteleuropäischen Nachbarstaaten in ihrem
Kampf für Freiheit und Menschenrechte auch für ein
freies Deutschland getan haben.
({12})
Aber, es bleibt doch wahr: Die Mauer ist nicht in Bonn,
in Washington oder in Moskau gefallen; sie ist buchstäblich auf der Straße eingedrückt worden, und zwar von Ost
nach West.
({13})
Die Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland waren es,
die es durch ihre Zivilcourage und ihren friedlichen Protest möglich gemacht haben, dass Familien, die jahrzehntelang getrennt waren, wieder zusammenfinden konnten.
Bei aller Würdigung des Streites, wer welchen Anteil an
der Einheit hatte, ist das der entscheidende Faktor, an den
wir uns und unsere Kinder sich ebenfalls immer erinnern
werden, wenn es um die geschichtliche Einordnung der
wieder hergestellten deutschen Einheit geht.
({14})
In den zehn Jahren des Vereinigungsprozesses hat Ostdeutschland eine beispielhafte Entwicklung vollzogen.
Die Leistungskraft der Wirtschaft hat sich mehr als verdoppelt, und das vor allem, weil mehr als eine halbe
Million neue, meist kleine und mittlere Unternehmen entstanden sind, in denen mehr als drei Millionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze geschaffen wurden.
Mit der Wirtschaftskraft hat sich auch das Pro-KopfEinkommen mehr als verdoppelt. Die verfügbaren Nettoeinkommen liegen heute durchschnittlich bei fast
90 Prozent des westlichen Niveaus.
Auch bei der Versorgung der älteren Menschen, zum
Beispiel bei der Höhe der ausbezahlten Renten, gibt es immer weniger Unterschiede zwischen Ost und West. Die
Wohnqualität hat deutlich zugenommen und die Belastung der Umwelt durch Schadstoffe konnte drastisch reduziert werden. Beim Ausbau der Infrastruktur, bei
Schiene und Straße sind erhebliche Fortschritte gemacht
worden; das Telekommunikationsnetz gehört zu den modernsten der Welt.
({15})
Aber natürlich haben wir es nach wie vor mit enormen
Schwierigkeiten in der wirtschaftlichen Entwicklung zu
tun. Aufgrund falscher wirtschaftspolitischer Anreize Anfang der 90er-Jahre steckt die ostdeutsche Bauwirtschaft in einer ernsten Krise. Das betrifft übrigens nicht
nur das Bauhauptgewerbe, sondern auch, wenn auch nicht
ganz so ausgeprägt, das Baunebengewerbe.
Das verarbeitende Gewerbe aber hat gerade im Osten
unseres Landes bis zu zweistellige Zuwachsraten. In den
produktiven Branchen wächst die ostdeutsche Wirtschaft
inzwischen doppelt so stark wie die westdeutsche - ein
Zeichen, das uns stolz auf die Leistungskraft der Menschen machen sollte, die dahinter steht.
({16})
Nach neuesten Prognosen können wir sogar damit rechnen, dass die Konjunktur in Ostdeutschland im nächsten
Jahr wieder mit der in Westdeutschland gleichzieht. Das
heißt, der andauernde, durch den Abbau von Überkapazitäten bedingte Abschwung im Baugewerbe wird durch
die Zuwachsraten im verarbeitenden Gewerbe mehr als
kompensiert - eine außerordentlich erfreuliche Entwicklung.
({17})
Natürlich ist die fortdauernde Solidarität der Menschen in ganz Deutschland nach wie vor wesentlich für
diese positiven Entwicklungen. Aber ich denke, es ist an
der Zeit, dass wir aufhören, den deutschen Vereinigungsprozess immer nur unter dem Gesichtspunkt von Transferleistungen zu diskutieren.
({18})
Denn erstens hätte auch bei noch so hohen Zuschüssen
das jetzige Wachstum nicht ohne die wirklich großartige
Leistungs- und Veränderungsbereitschaft der Menschen
in Ostdeutschland erreicht werden können.
({19})
Ich denke, die Ostdeutschen können auf das bisher Geleistete stolz sein. Sie haben allen Grund, Vertrauen in ihre
Kreativität, ihre Erfahrungen, aber eben auch in ihre Qualifikation zu haben.
Übrigens gilt das nicht nur für die Leistungen der letzten zehn Jahre; es gilt auch für die Lebensleistung jedes
Einzelnen, zumal diese Leistungen in der Vergangenheit
unter ungleich schwierigeren Bedingungen als im Westen
erbracht werden mussten.
({20})
Diese Lebensleistungen werden nicht dadurch unbedeutender, dass der DDR-Staat die Beiträge seiner Bürgerinnen und Bürger nicht optimal zu nutzen wusste, sondern
sie im Gegenteil häufig genug entwertete und die Menschen buchstäblich um die Früchte ihrer Arbeit betrog.
Zweitens hat eine vernünftige Politik für die Rahmenbedingungen zu sorgen, unter denen sich der Ehrgeiz und
die Kreativität der Menschen auch auszahlen. Deshalb
wird die Bundesregierung auch weiterhin alle Aktivitäten
unterstützen, die zu Modernisierung und als Folge dessen
zu mehr Beschäftigung führen.
({21})
Unsere Maßnahmen etwa für Bildung, Forschung
und Entwicklung sind heute schon so angelegt, dass die
neuen Bundesländer in ihren Wachstumschancen besonders gefördert werden. Wir alle wissen nämlich: Die noch
immer bedrückend hohe Arbeitslosigkeit besonders in
den ostdeutschen Ländern kann auf Dauer nur durch neue
Arbeitsplätze, mit neuen Produkten und neuen Verfahren
auf den Märkten wirklich beseitigt werden. Solche Entwicklungen zu unterstützen ist das Hauptanliegen der
Bundesregierung.
Wir stehen insbesondere in den neuen Ländern für Modernisierung, verbunden mit Gerechtigkeit. Das heißt,
dass wir alles dafür tun müssen, um Arbeit und Ausbildung zu fördern, anstatt als Folge unterlassener Leistungen Arbeitslosigkeit bezahlen zu müssen.
({22})
Deshalb ist auch weiterhin eine Flankierung des Wachstumsprozesses, auf den es uns vor allen Dingen ankommt,
durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik auf hohem Niveau
notwendig.
({23})
Drittens aber sollten wir endlich anerkennen, dass die
deutsche Vereinigung keine Alimentierung ist. Das gesamte Deutschland und damit auch ganz Europa ist durch
diese Vereinigung reicher geworden - reicher an Wirtschaftsleistung, die wir heute schon mit Händen greifen
können. Die in den letzten zehn Jahren von Grund auf
modernisierten Produktionsanlagen und die neuen Betriebe Ostdeutschlands haben schon heute auf den Weltmärkten deutliche Wettbewerbsvorteile.
Reicher geworden sind wir durch die Vereinigung aber
auch an Kultur und daraus folgender Kreativität.
({24})
Deshalb möchte ich in diesem Zusammenhang eine ernste Mahnung an die - vor allem süddeutschen - Bundesländer richten, die jetzt die föderale Finanzarchitektur beklagen, weil sie glauben, im Finanzausgleich ungerecht
behandelt zu werden.
({25})
Diese Länder und ihre Regierungen sollen wissen, dass
das Bekenntnis zur deutschen Einheit fortdauern muss
und eine Verweigerungshaltung nicht nur den Menschen
in den ostdeutschen Ländern schadet, sondern im Ergebnis uns allen.
({26})
Die Bundesregierung wird noch in dieser Legislaturperiode den Bund-Länder-Finanzausgleich auf eine neue
gesetzliche Grundlage stellen und sie wird in einem Solidarpakt II die ausreichende Ausstattung der ostdeutschen Länder nach 2004 sicherstellen.
({27})
Moderne Arbeitsmarktpolitik folgt einem hohen Ziel:
der Herstellung von Chancengerechtigkeit. Deshalb werden wir die Instrumente der Arbeitsmarktpolitik den gewandelten Bedingungen anpassen und für verbesserte
Übergänge vom zweiten in den ersten Arbeitsmarkt sorgen. Wir brauchen mehr Flexibilität und nicht unbedingt
mehr Mittel.
Neben verstärkten Anstrengungen für Bildung und
Ausbildung sowie für den Bereich der industrienahen
Forschung und Entwicklung wird die Schließung der immer noch erheblichen Infrastrukturlücken im Verkehrsund Wohnungsbaubereich weiterhin ein entscheidender
Faktor sein, um eine selbst tragende Wirtschaftsstruktur in
Ostdeutschland zu erreichen.
Wer noch Beweise dafür benötigt, wie erfolgreich die
bisherige Aufbauleistung der Ostdeutschen und wie gut
deshalb die solidarische Unterstützung angelegt ist, muss
sich in Ostdeutschland nur umsehen. Auch jenseits der bekannten ökonomischen „Leuchttürme“ wie Infineon in
Dresden oder Opel in Eisenach gibt es in Ostdeutschland
inzwischen eine Vielzahl hochinnovativer Unternehmen.
Ich nenne als Beispiel nur die Stadt Teterow: Dort trägt die
Firma Plasma-Select dazu bei, dass Deutschland mittlerweile einen Spitzenplatz in der Biotechnologie einnimmt.
({28})
Dies ist ein Beispiel für die Standortvorteile Ostdeutschlands: Es gibt dort hervorragende und hoch motivierte Wissenschaftler, gute Förderbedingungen und - in
diesem Fall - in der Mecklenburger Schweiz eine Umgebung, die ohne weiteres mit dem Münchener Umland mithalten kann.
({29})
- Nein, Herr Glos, die haben wir nicht geschaffen, Sie
aber auch nicht, damit das zwischen uns klar ist - nicht,
dass Sie nachher kommen und auch das für sich reklamieren. Das hätte ich nicht so gerne.
({30})
- Die reklamieren Sie für sich, Herr Gysi; das weiß ich.
Diese zukunftsweisenden Entwicklungen sind nicht
zuletzt das Werk von Menschen, die eine umfassende gesellschaftliche und persönliche Neuorientierung zu bewältigen hatten; von Frauen und Männern, die ergebnisorientiert und pragmatisch denken, die neuen Ideen offen
gegenüberstehen und ohne ideologische Barrieren, aber
mit einem hohen Maß an sozialer Verantwortung arbeiten,
auch von jungen Menschen, die höchstens noch aus geographischer Neugier danach fragen, aus welchem Teil
Deutschlands die Kolleginnen und Kollegen in ihrem
Team stammen, die für Begriffe wie „Besser-Wessis“ und
„Jammer-Ossis“ gerade noch ein nostalgisches Lächeln
übrig haben, vor allen Dingen auch von Menschen, die
nicht zulassen wollen, dass ihre großen Aufbauleistungen
und das Ansehen Deutschlands insbesondere in den neuen
Ländern durch fremdenfeindliche Gewalt beschädigt werden.
({31})
Wenn diese Menschen uns eines vermitteln wollen - dies
habe ich überall spüren können -, dann dies: Wir sind
nicht für Freiheit und Demokratie auf die Straße gegangen, um diese Straße heute Schläger- und Mörderbanden
zu überlassen, die bestimmen wollen, wer in unserem
Land leben und arbeiten darf.
({32})
Die Bekämpfung von Rechtsextremismus und Ausländerhass ist nicht allein ein Gebot deutscher Standortsicherung. Es geht um mehr: um die Verteidigung jener
Werte, die unsere Gesellschaft im Innersten zusammenhalten. Dafür brauchen wir harte und entschiedene Reaktionen von Polizei und Justiz gegen Gewalttäter. Der
Rechtsstaat und sein Gewaltmonopol müssen mit Fahndungsdruck, mit Anwendung der Gesetze und, wo es nötig
und möglich ist, auch mit Verboten von Vereinen und Parteien, die den Rechtsradikalismus fördern und unterstützen, verteidigt werden.
Wir alle zusammen - ich bin froh, dass das in der
gestrigen Debatte deutlich geworden ist - müssen Jugendlichen, die mitrennen, persönliche und berufliche
Perspektiven geben, damit sie nicht in den Extremismus
abrutschen.
({33})
Neben den Schutz von Verfolgten und Minderheiten stellen wir das Gesprächsangebot an alle, die gesprächsbereit
sind.
Des Weiteren brauchen wir ein konsequentes zivilgesellschaftliches Engagement. Gerade in Ostdeutschland
gibt es Beispiele, in denen gesellschaftliche Verantwortung und Bürgermut vorgelebt werden. An diese Initiativen und an das, was in der friedlichen Revolution vor
zehn Jahren deutlich geworden ist, sollten wir anknüpfen
und uns auch darauf verlassen, wenn es um die Bekämpfung von Rechtsradikalismus durch die ganze Gesellschaft geht.
({34})
Zehn Jahre deutscher Vereinigungsprozess sind zehn
Jahre gelebte Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Auch
hierbei gilt, dass die Grund- und Menschenrechte immer
nur im Ganzen durchgesetzt werden können. Ich habe
vorhin von der Bereicherung der deutschen Gesellschaft
durch den Vereinigungsprozess gesprochen. Diese Bereicherung gilt ganz besonders auf dem Gebiet der Zivilcourage und der Aufarbeitung diktatorischer Vergangenheit.
Ich freue mich in diesem Zusammenhang, dass der scheidende Beauftragte für die Stasiunterlagen, Herr
Joachim Gauck, heute hier im Deutschen Bundestag anwesend ist.
({35})
Lieber Herr Gauck, Sie haben zu Zeiten des SED-Regimes Mut zum Widerstand bewiesen. Sie waren eine der
treibenden Kräfte beim friedlichen Umsturz in der damaligen DDR. Sie haben mit Ihrer unbeirrten und unbestechlichen Arbeit in der zu Recht nach Ihnen benannten
Behörde die Deutschen in Ost und West gelehrt, wie schonungslose Aufklärung und demokratischer Neubeginn
miteinander in Einklang zu bringen sind.
({36})
Ich denke, ich spreche im Namen aller hier im Hohen
Hause Anwesenden, wenn ich Ihnen für die geleistete Arbeit aufrichtigen Dank sage.
({37})
Meine Damen und Herren, unsere Politik für den Aufbau Ost war von Anfang an darauf ausgerichtet, alle Maßnahmen und Programme für den Aufbau Ost so zu gestalten, dass sie eine eigenständige Entwicklung und die
Mobilisierung der eigenen Kräfte in den neuen Ländern
ermöglichen. Die Orientierung an den Erfolgsmustern der
alten Bundesrepublik, die zu Anfang des Aufbaus in den
neuen Ländern im Vordergrund stand und stehen musste,
kann heute kein Maßstab mehr sein. Entscheidend ist, das
vorhandene Leistungspotenzial zu entfalten und im Wettbewerb zur Geltung zu bringen.
In der Förderpolitik für Ostdeutschland haben wir deshalb neue Schwerpunkte gebildet: als ersten Schwerpunkt
die Stärkung der Innovationskraft der ostdeutschen
Wirtschaft; denn nur mit neuen Produkten und neuen
Dienstleistungen werden ostdeutsche Unternehmen in der
Lage sein, sich auch auf den Märkten der Welt durchzusetzen.
({38})
Gefördert werden deshalb verstärkt die Kooperation von
Unternehmen mit Einrichtungen der Wissenschaft und auf
diese Weise die Erschließung neuer wirtschaftlicher Möglichkeiten.
Wie sich beides miteinander erreichen lässt, zeigt insbesondere das seit 1999 bestehende neue Förderprogramm „Inno-Regio - Innovative Impulse für die Region“. Durch Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteure
aus Unternehmen, Bildungs- und Forschungseinrichtungen, aus Verwaltung und Verbänden wird das kreative Potenzial einer Region genutzt und wird auf diese Weise
Wirtschaftskraft gestärkt.
Damit korrespondiert als zweiter Schwerpunkt die
Wirtschaftsförderung. Wir brauchen eine Verbreiterung
der industriellen Basis in Ostdeutschland und wir brauchen mehr produktionsnahe Dienstleistungen und daraus
folgende Existenzgründungen. Die bestehenden mittelständischen Unternehmen müssen konsolidiert und in ihrer Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden.
Die Bundesregierung stellt sich dieser Herausforderung mit einem differenzierten Instrumentarium: Neben
der Gemeinschaftsaufgabe und einer verbesserten Investitionszulage als den Kernstücken der Investitionsförderung unterstützen wir verstärkt vor allen Dingen innovative Existenzgründungen. Hinzu kommen Programme
zur Stärkung der Eigenkapitalbasis, zur Absatz- und Exportförderung und - wichtig vor allen Dingen für das
Handwerk - die neuen Regelungen zur Verbesserung der
Zahlungsmoral.
({39})
Ein dritter entscheidender Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung ist der Ausbau der Infrastruktur; insbesondere auf den Gebieten Verkehr, Kommunikation,
Wohnungs- und Städtebau. Mit dem Verkehrsinvestitionsprogramm 1999 bis 2002 hat die Bundesregierung
den Schwerpunkt Ost ausdrücklich bekräftigt.
({40})
Der Vorrang der Verkehrsprojekte „Deutsche Einheit“
bleibt gewahrt. Man muss sich einmal klar machen, meine
Damen und Herren: 59 Prozent der Straßenbau- und
45 Prozent der Schienenbauinvestitionen fließen nach
Ostdeutschland. Das sind wahrlich wichtige Voraussetzungen für die Entfaltung wirtschaftlicher Kräfte.
Zur weiteren Verbesserung der Wohnverhältnisse hat
die Bundesregierung auf die aktuellen Probleme durch die
Folgen des Leerstandes auf dem ostdeutschen Wohnungsmarkt mit der Novelle des Altschuldenhilfegesetzes rasch und - wie wir feststellen - wirksam reagiert.
({41})
In der in diesem Jahr eingerichteten Kommission
„Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel“ entwickeln
die Beteiligten aus Bund, Ländern und Kommunen Handlungskonzepte zur Lösung der noch offenen Probleme
beim Städtebau und bei der Wohnungswirtschaft.
Die Infrastruktur bleibt auch für die weitere wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland von ganz
enormer Bedeutung. Dem tragen wir durch eine weitere
Verstärkung der Infrastrukturinvestitionen auch Rechnung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der deutsche
Vereinigungsprozess ist nicht denkbar ohne die Einbettung in den fortschreitenden europäischen Einigungsprozess. Insofern ist es nicht nur recht und billig, dass wir
gerade den Völkern in unseren östlichen Nachbarstaaten,
ohne deren praktische Solidarität wir Deutschen diese
neue Chance zum Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens in ganz Deutschland nicht erhalten hätten, auf
ihrem Weg in die Europäische Union helfen.
({42})
Ohne die Osterweiterung bliebe der europäische Integrationsprozess Stückwerk. Die Osterweiterung geschieht
nicht nur aus Dankbarkeit. Nein, sie ist die logische Konsequenz aus unserer gemeinsamen europäischen Perspektive.
Natürlich weiß ich, dass dieser Prozess auch mit Ängsten besetzt ist. Übrigens sind das, wenn man genau hinschaut, häufig sehr unbegründete Ängste. Wer sich zum
Beispiel entlang der Oder umtut, der wird finden, dass es
in diesen Bereichen sehr viele auch internationale Unternehmen gibt, die nicht zuletzt diesen Standort deshalb gewählt haben, weil sie von dort aus osteuropäische
Märkte erobern und entwickeln wollen. Diese Brückenfunktion kann auf Dauer nur dann ausgeübt werden, und
die dort entstandenen Arbeitsplätze können auf Dauer nur
dann gesichert werden, wenn es jene Märkte, denen man
sich widmen will, auch wirklich gibt.
({43})
Diese Märkte wird es nur geben, wenn es gelingt, die baltischen Staaten, Polen, Tschechien, alle Staaten des
Grenzgebietes, in die Europäische Union zu integrieren
und ihnen wie uns auf diese Weise eine Perspektive in der
Union zu geben und damit nicht nur Freiheit, sondern
auch wirtschaftliches Wohlergehen zu sichern.
({44})
Ich sage das insbesondere den Menschen, die als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor kommender Freizügigkeit - wir werden sie sozial gestalten - Angst haben,
oder jenen Handwerkern, die Dienstleistungen anbieten
und die vor Konkurrenz mit niedrigen Löhnen Angst haben. Die Osterweiterung, sozial gerecht, aber auch entschieden und zügig durchgeführt, liegt nicht nur aus
Gründen von Demokratie und Stabilität im unmittelbaren
nationalen Interesse Deutschlands, nein, sie liegt in unserem nationalen Interesse auch aus ganz handfesten wirtschaftlichen Gründen.
({45})
So sichern schon heute allein die Handelsbilanzüberschüsse, die wir im wirtschaftlichen Austausch mit Polen,
Ungarn, Tschechien und der Slowakei erzielen, in
Deutschland direkt mehr als 40 000 und unter Einschluss
indirekter Effekte sogar mehr als 80 000 Arbeitsplätze,
und dies jedes Jahr. Ohne Beitrittsperspektive würden
diese Länder ihre Handelsschranken nicht in dem Maße
abbauen können, wie es für beide Seiten vorteilhaft wäre.
Ohne die Aussicht auf Beitritt zur Europäischen Union
würden diese Staaten wohl auch nicht die hohen europäischen Standards zum Beispiel beim Arbeits- oder
Umweltschutz übernehmen. Aber beides brauchen wir.
Das schafft wiederum den Unternehmen Wettbewerbsvorteile, die sich rechtzeitig auf moderne Verfahren umgestellt haben. Ich habe persönlich erfahren können, dass
ostdeutsche Unternehmen, die bereits heute mit der EUErweiterung kalkulieren, beachtliche Wachstumschancen
in den Grenzregionen realisieren können.
In den zehn Jahren des deutschen Vereinigungsprozesses ist wirklich Beachtliches geleistet worden. Man kann
heute ohne weiteres sagen, dass beim so genannten Aufbau Ost die Hälfte des Weges bewältigt worden ist. Unsere Aufgabe ist es, miteinander dafür zu sorgen, dass
auch die zweite Hälfte dieses Weges eine deutsche - besser: eine europäische - Erfolgsgeschichte wird.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({46})
Ich erteile das Wort
Kollegin Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Der 3. Oktober ist ein glücklicher Tag für alle
Menschen in ganz Deutschland, in Ost und West. Er ist der
Tag, an dem die staatliche Einheit Deutschlands wieder
hergestellt wurde. Dies bedeutete den Sieg der Freiheit
über Diktatur und Unfreiheit. Dies bedeutete, dass die
Menschen im Osten mit ihrem Mut und die Menschen im
Westen mit ihrer Solidarität bereit waren, Deutschland als
ein vereintes Vaterland in Partnerschaft und Freundschaft
mit seinen Nachbarn weiterzuentwickeln.
({0})
Dies bedeutete den Sieg einer marktwirtschaftlichen Ordnung unter freiheitlichen Bedingungen über ein planwirtschaftliches System, das, Herr Bundeskanzler, nicht nur
„nicht optimal“ funktioniert hat, sondern überhaupt nicht
funktionieren konnte.
({1})
Es hat 40 Jahre und länger gedauert, bis die Ordnung
der Freiheit in weiten Teilen Mittel- und Osteuropas
wieder hergestellt wurde. In diesen Jahren sind Schäden
materieller und immaterieller Art entstanden, die ganze
Generationen in ihrer Entwicklung schwer beeinträchtigt
haben. Heute ist der Tag, all denen Dank zu sagen, die für
die Einheit eingetreten sind.
({2})
Diese Menschen haben sich nicht irremachen lassen. Sie
haben daran geglaubt, dass der Gedanke der Freiheit
grundsätzlich und unteilbar ist. Heute ist der Tag, all denen Dank zu sagen, die in den letzten zehn Jahren durch
ihre Bereitschaft zur Veränderung und durch ihre Hilfe einen Beitrag dazu geleistet haben, dass wir auf dem Weg
der inneren Einheit Deutschlands weit vorangekommen
sind. Es ist unstrittig: Es gibt einen Gewinner dieser Entwicklung, das sind die Menschen in unserem Lande, die
Menschen in ganz Europa. Die deutsche Einheit gehört
keiner Partei, sie gehört den Menschen.
({3})
Deshalb, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, ist es mir völlig unverständlich - ich finde
es auch inakzeptabel -, was für einen Ton Sie in den letzten Tagen angeschlagen haben.
({4})
Denn die Tatsache, dass die deutsche Einheit keiner Partei, sondern den Menschen gehört, verbietet uns doch
nicht, darüber zu sprechen, wer wann wo die Weichen
richtig oder falsch gestellt hat.
({5})
Ich frage Sie allen Ernstes: Ist es denn wirklich egal,
wer in einer bestimmten historischen Stunde Verantwortung trägt und sich entscheidet, einen Weg so und nicht
anders zu gehen? Ist es wirklich egal, ob man eine Chance
beherzt ergreift, sich über Kostenfragen und andere Bedenken hinwegsetzt oder ob man diese Aspekte in den
Vordergrund stellt? Was für ein Verständnis von Politik
haben wir eigentlich, wenn wir das alles für völlig egal
halten und sagen: Es macht keinen Unterschied, wer gerade Kanzler ist? Ich habe nicht den Eindruck, dass Ihr
Bundeskanzler in anderen politischen Fragen die Auffassung vertritt, dass es ganz egal ist, wer Kanzler in
Deutschland ist.
({6})
Politik darf sich nicht von Ereignissen treiben lassen.
Politik muss Ereignisse bestimmen und gestalten. Politik
muss zugreifen und handeln. Die Menschen haben die
Mauer zum Einsturz gebracht. Helmut Kohl und die von
ihm geführte Bundesregierung haben die Weichen für die
Wiedervereinigung gestellt - vor und nach 1989.
({7})
Es geht auch nicht um einen Streit über Zitate, die wir
den Sozialdemokraten - dem heutigen Bundespräsidenten
oder dem heutigen Bundeskanzler - vorhalten. Es geht
nicht darum, dass Herr Eichel, der heute leider nicht da ist,
als SPD-Landesvorsitzender in Hessen im November
1989 in einem Papier der SPD-Landtagsfraktion geschrieben hat, dass diejenigen, die derzeit von Wiedervereinigung reden - ({8})
- Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich bitte bei aller Erregung zwischendurch
immer wieder zuzuhören.
Auch ich bitte darum, damit Sie mitbekommen, worum es geht.
Es geht nicht darum, vordergründig darüber zu sprechen, dass Herr Eichel als SPD-Landesvorsitzender und
als SPD-Fraktionsvorsitzender im Hessischen Landtag im
November 1989 gesagt hat, dass diejenigen, die derzeit
von Wiedervereinigung reden, aus der Geschichte nichts
gelernt haben und deshalb keine vernünftige Realitätsperspektive haben. Es geht auch nicht darum, dass der Herr
Bundesaußenminister, der leider ebenfalls nicht anwesend ist, gesagt hat: „Vergessen wir die Wiedervereinigung, halten wir die nächsten 20 Jahre die Schnauze darüber.“ Ich bin froh, dass ich die „Schnauze“ nicht halten
muss. Vom Ton, der damals im Hessischen Landtag offensichtlich geherrscht hat, bitte ich Sie, hier einmal abzusehen.
({0})
Es geht vielmehr um die Frage, ob diese historisch
falschen Einschätzungen symptomatisch für ein gesamtes
Politikverständnis sind oder nicht. Deshalb muss man darüber sprechen.
({1})
Es muss darum gehen, dass man in der Politik einen inneren Kompass haben muss, dass man Politik nicht einfach
als Pragmatismus begreifen darf und dass es nicht beliebig ist, welche Weichenstellungen man wann und wo vornimmt; das haben wir doch mit Sicherheit gelernt:
({2})
Die Menschen in Ostdeutschland haben die Mauer zum
Einsturz gebracht. Die Menschen in Ost- und in Westdeutschland sind die Gewinner der Einheit. Helmut Kohl,
Hans-Dietrich Genscher, Theo Waigel, Wolfgang
Schäuble und anderen ist dann gelungen, die Weichenstellung umzusetzen.
({3})
Sie hatten einen inneren Kompass. Sie haben nicht gezaudert. Sie sind mit klaren Schritten auf unsere transatlantischen Partner, auf unsere Nachbarn und insbesondere
auf die Sowjetunion zugegangen.
({4})
Ich kann es Ihnen nicht ersparen: Der Herr Bundeskanzler und damalige niedersächsische Ministerpräsident hat
gegen den Vertrag zur Wirtschaft- und Währungsunion gestimmt. Das ist die Wahrheit. Das ist der Unterschied.
({5})
Es ist eben nicht egal, ob man einfach so dahintreibt,
oder ob man wie Herr Verheugen einfach sagt, es sei der
Flop des Jahres, wenn er von einer Volksbefragung im Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung gesprochen
habe. Es ist eben nicht egal, ob man den Euro irgendwann
als Frühgeburt bezeichnet hat und heute freudige Worte
darüber findet, dass er schwach ist. Es ist nicht egal, dass
man einmal darüber gesprochen hat, ob man die neuen
Bundesländer an Polen abtreten könne oder nicht. Das
müssen Sie doch wenigstens zugeben.
({6})
Dies nimmt überhaupt nichts davon weg - im Gegenteil, ich finde, das macht es noch schlimmer -, dass der
Ehrenvorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, Willy
Brandt, wie andere auch für die deutsche Einheit gekämpft hat und seine Ostpolitik
({7})
als Beitrag dazu verstanden hat, das zusammenwächst,
was zusammengehört. Sie hatten diese Menschen in Ihrer
Partei und haben trotzdem nicht auf sie gehört.
Ich bin außerordentlich darüber erstaunt, Herr Bundeskanzler, dass heute in Ihrer Rede nicht ein einziges Wort
über die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in
den neuen Bundesländern gefallen ist, die in der SDP von
Anfang an für die deutsche Einheit waren.
({8})
Ich halte Ihnen vor, Herr Bundeskanzler, dass Sie als niedersächsischer Ministerpräsident nur die eine Sorge hatten, dass nämlich die Solidaritätsleistung des Westens
an den Osten Ihnen etwas nehmen könnte. Wie war das
mit der Mark von Steuergeldern, die irgendwo nicht hinfließen konnten? Sie hatten damals kein Verständnis
dafür.
({9})
Sie hatten damals kein Verständnis dafür, dass Lothar de
Maizière in seiner ersten Erklärung nach der freien Wahl
zur Volkskammer gesagt hat: „Teilung ist nur durch Teilen zu überwinden.“ Dies war der Grundsatz, auf dem die
Einigung zwischen Ost und West dann jahrelang gut vorangekommen ist.
({10})
Herr Bundeskanzler, Sie sind jemand, der die Geschicke dieses Landes bestimmt, der heute maßgeblich
dafür verantwortlich ist, ob die deutsche Einheit weiter
gelingt, der heute maßgeblich dafür verantwortlich ist,
dass die Völker Mittel- und Osteuropas in die Europäische Union integriert werden. Deshalb erwarte ich von
Ihnen ein Wort, mit dem Sie sagen: Ja, ich habe die Lage
1990 falsch eingeschätzt.
({11})
Ja, ich habe aus diesem Irrtum etwas gelernt. Ja, ich habe
daraus gelernt, dass es in der Politik Stunden gibt, in denen es um mehr geht als um Posten, Schulden und Steuern, nämlich um sehr grundsätzliche Fragen. Das erwarte
ich von Ihnen.
({12})
Joachim Gauck hat einmal gesagt, mit der friedlichen
Revolution hätten die Ostdeutschen unserer Nation das
Entree-Billett in den Kreis jener Völker gelöst, die eine eigene Freiheitstradition haben. Diese Tradition muss sorgsam gepflegt werden. Dagegen hat Karsten Voigt, ein Sozialdemokrat, am 12. November 1989 gesagt - ich zitiere
ihn wörtlich -:
Der Kern der deutschen Frage ist für eine lange Weile
eben nicht die Freiheit. Es ist die Bewahrung des
Friedenszustandes, also des Status quo. Alles andere
sind Ornamente oder Schlimmeres.
Diese Sätze, die am 12. November 1989, also drei Tage
nach dem Mauerfall, gesagt wurden, sagen genau das
Gegenteil von dem aus, was Joachim Gauck für die Ostdeutschen sagte.
({13})
Es geht dabei um eine ganz elementare Frage, nicht um
einen Streit über Zitate. Es berührt nämlich die Frage, inwieweit Freiheit teilbar oder nicht teilbar ist, inwieweit
sie aufgebbar oder nicht aufgebbar ist. Damit wird die
Auffassung vom Menschen an sich berührt. Darin unterscheiden wir Sozial - ({14})
Darin unterscheiden wir Christdemokraten uns von
den Sozialdemokraten - Da können Sie noch so lachen.
({15})
Sie haben eben nicht ein Menschenbild, bei dem die Freiheit des Menschen über den Frieden geht.
({16})
Ich erkenne an,
({17})
dass Sie in der Frage des Kosovo-Krieges
({18})
aufgrund großen internationalen Drucks und eigener Einsicht den Friedensbegriff in den Freiheitsbegriff integriert
haben. Das haben Sie geschafft, nachdem Sie jahrelang
Verfassungsklage gegen deutsche Kriegsschiffe in der
Adria erhoben haben. Sie, Frau Fuchs, waren damals bei
den Verhandlungen vor dem Bundesverfassungsgericht
dabei. Das haben wir alles nicht vergessen. Jetzt haben Sie
dazugelernt; wir freuen uns darüber.
({19})
Ich muss leider feststellen, dass Sie innenpolitisch dieser Frage nach wie vor keine grundsätzliche Bedeutung
zumessen. Sie kooperieren in den neuen Bundesländern
mit einer Partei, die gegen die NATO ist und sich massiv
gegen den Kosovo-Krieg einsetzte, nämlich mit der PDS.
({20})
Damit setzen Sie das Signal, dass Sie immer noch nicht
verstanden haben,
({21})
dass Freiheit innen- und außenpolitisch gleichermaßen
ein unteilbares Gut ist.
({22})
Deshalb war es auch ein Fehler - die Sozialdemokratie
sollte sich damit noch einmal auseinander setzen -, dass
Sie mit der SED auf gleicher Augenhöhe kooperiert haben. Das ist etwas Grundsätzliches.
({23})
Es ist etwas - ({24})
- Herr Präsident, ich muss wirklich bitten.
({25})
Man wird doch hier noch etwas sagen dürfen. Das ist
wirklich komisch hier.
({26})
Sie müssen das schon aushalten. - Es ist,
({27})
liebe Frau Schmidt, etwas anderes, ob Sie mit einer Partei, die für sich die historische Mission der Arbeiterklasse
und damit die Diktatur reklamiert hat, auf gleicher Augenhöhe zusammenarbeiten oder ob man Erich Honecker
empfängt und vor der Öffentlichkeit von Ost und West
Reden hält,
({28})
die die Menschen beeindruckten und die nach außen eine
Wirkung hatten. Das ist ein Unterschied für mich. Das
müssen Sie mich schon sagen lassen.
({29})
Herr Struck, Sie müssen einfach wissen, dass ich, je
lauter Sie schreien, umso mehr Recht habe. Das ist die
ganze Quintessenz aus Ihrem Verhalten.
({30})
Teilung kann nur durch Teilen überwunden werden.
Dabei ist heute vielen zu danken: den Menschen in den
neuen Bundesländern für ihre Veränderungsbereitschaft,
den Menschen in den alten Bundesländern für ihre
Solidarität. Der Sozialismus hat katastrophale Erblasten
hinterlassen.
({31})
Wir dürfen Ursache und Wirkung heute nicht durcheinander bringen.
({32})
Die durchschnittliche Nutzungsdauer von Maschinen und
Industrieanlagen betrug damals 26 Jahre. Ich hoffe, Herr
Eichel erreicht mit den neuen Abschreibungsfristen diese
Zahl nicht wieder. Aber das nur als kleine Seitenbemerkung.
({33})
Meine Damen und Herren, weite Teile des Straßennetzes
waren nicht mehr zu benutzen. Alte, Kranke und geistig
Behinderte wurden in einer grauenhaften Weise behandelt. Die Umweltsituation war dramatisch.
({34})
Das planwirtschaftliche System war eben vom Ansatz her
nicht in der Lage, eine Wirtschaft irgendwie in Gang zu
halten. Dass wir heute 543 000 selbstständige Unternehmer haben, ist eine der großen Leistungen, die das Rückgrat für die neuen Bundesländer darstellen können.
({35})
Aber der Prozess der inneren Einheit ist nicht abgeschlossen. Wer durch die neuen Bundesländer fährt, sieht
Fortschritte. Aber er sieht auch, dass noch vieles zu tun ist.
So lag in den letzten zwei Jahren das Wirtschaftswachstum in den neuen Bundesländern hinter dem in den alten
Bundesländern. Angesichts der gesamtkonjunkturellen
Lage hätte diese Entwicklung eigentlich schon längst umgekehrt sein müssen.
Herr Bundeskanzler, ich werfe Ihnen vor, dass Sie in
den letzten zwei Jahren viele Gesetze verabschiedet haben, die die neuen Bundesländer stärker betroffen haben
als die alten: das 630-Mark-Gesetz, das Gesetz über die
Scheinselbstständigkeit.
({36})
Die Aussetzung der Nettolohnanpassung der Renten hat
ein Jahr lang dazu geführt, dass die Rentnerinnen und
Rentner nicht an der Lohnangleichung teilgehabt haben.
({37})
Die Ökosteuer trifft die neuen Bundesländer stärker, weil
mehr Leute arbeitslos sind, weil mehr Leute keine Entlastung im Rentensystem bekommen, weil die Pendler weiter fahren müssen. Ich sage Ihnen voraus, die Steuerreform trifft die neuen Bundesländer auch stärker,
({38})
weil die mittelständischen Unternehmen, von denen in
den neuen Bundesländern sehr viel mehr vorhanden sind
als in den alten, besonders benachteiligt werden.
({39})
Deshalb ist es so, dass die Chefsache Schröder in vielen
Fällen zu einem Bremsklotz Schröder in den neuen Bundesländern geworden ist.
({40})
Herr Bundeskanzler, ich werfe Ihnen auch vor, dass Sie
in Ihrer Regierungszeit noch keine einzige politische Entscheidung getroffen haben, die in wirklich wesentlicher
Weise dem Grundsatz gefolgt ist, dass Teilung nur durch
Teilen überwunden werden kann
({41})
und dass damit auch Verzicht zugunsten der neuen Bundesländer verbunden ist. Sie haben den Transrapid von
Berlin nach Hamburg gestoppt. Sie haben den Airbus
A3XX nach Hamburg gegeben.
({42})
Sie haben - das war Ihre letzte Tat als Ministerpräsident
von Niedersachsen - gesagt: Ich möchte, dass der A3XX
in Hamburg gebaut wird, denn dahin kommen die niedersächsischen Pendler schneller als nach Rostock-Laage.
Das waren die Worte des Herrn Schröder, als er schon
wusste, dass er Bundeskanzler wird. - So wird es nichts!
({43})
Ich glaube, wir sollten an diesem 3. Oktober auch etwas anderes nicht vergessen.
({44})
Neben den materiellen Notwendigkeiten beim Aufbau - ({45})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich bitte bei aller gelegentlich verständlichen Erregung ausdrücklich darum zuzuhören.
({0})
Sie können nicht
zuhören.
({0})
Ich hatte angenommen, mit dem Jahre 1989 sei sozusagen
die freie Wortwahl erlaubt. Da ich mich nicht in Pöbeleien
ergehe, könnten Sie wirklich zuhören. Es dauert auch
nicht mehr lange.
({1})
An diesem 3. Oktober sollte etwas anderes nicht vergessen werden. Neben den materiellen Notwendigkeiten
beim Aufbau der neuen Bundesländer muss auch über die
immateriellen Schäden gesprochen werden. Vielleicht
haben wir uns in den letzten Jahren nicht ausreichend mit
den Menschen und ihren Lebensumständen befasst.
({2})
Die Leistungen und das Leben der einzelnen Menschen
in der DDR zeichneten sich dadurch aus, dass sie versucht
haben, unter den Bedingungen eines Unrechtsstaates ein
aufrechtes Leben zu führen, jedenfalls die große Mehrheit. Der Rechtsstaat der Bundesrepublik Deutschland ist
nur unvollkommen geeignet und in der Lage, die Folgen
einer Diktatur angemessen aufzuarbeiten. Dies haben wir
bei vielen Opfern von Mauer, Stacheldraht, Schießbefehl,
Enteignung, Bevormundung und beruflichen Benachteiligungen gespürt. Dies hat auch zu viel Trauer und Unverständnis in den neuen Bundesländern geführt. Deshalb ist
es so wichtig, dass das, was sich dem Strafrecht entzieht,
dennoch unserer politischen und moralischen Bewertung
unterzogen wird.
Ich möchte an dieser Stelle deshalb auch Joachim
Gauck danken, der als Beauftragter für die Unterlagen
des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR mit
großer Sensibilität viel von dem aufgearbeitet hat, was der
herkömmliche Rechtsstaat nicht leisten kann. Ich wünsche seiner vermutlichen Nachfolgerin, Frau Birthler, alles Gute.
({3})
Dass es gelungen ist, in 40 Jahren Sozialismus trotz eines diktatorischen Systems aufrechtes Familienleben und
kirchliche Bindungen zu erhalten, ist eine der großen
Leistungen der Menschen in den neuen Bundesländern.
({4})
Für mich ist die wunderbarste und erfreulichste Entwicklung, dass wir heute in den neuen Bundesländern eine
Welle von persönlichem, privatem und vereinsrechtlichem Engagement haben, wie dies in seiner Vielfalt vor zehn Jahren nicht absehbar war.
Die SED hat über Jahrzehnte davon gelebt, die Substanz, auf der sich eine Gesellschaft aufbaut und deren
Grundlagen sie sich selbst gar nicht schaffen kann, zerstören zu wollen. Dies ist aber in 40 Jahren nicht gelungen. Was heute in Heimatvereinen, freiwilligen
Feuerwehren, Musikvereinen, Selbsthilfegruppen und
Sportvereinen an persönlichem, freiwilligem Engagement auf der Tagesordnung steht, war vor zehn Jahren
nicht vorstellbar. Es zeigt sich, dass die Entscheidung der
Menschen, ihre Kreativität zu nutzen und sich für unsere
Gesellschaft einzusetzen, gerade auch in den neuen Bundesländern wieder eine Heimstatt gefunden hat. Deshalb
müssen alle Bemühungen gestärkt werden, die dies unterstützen.
Ich muss an dieser Stelle aber auch sagen: Es kommt
nicht von ungefähr, dass die neue Landesregierung von
Mecklenburg-Vorpommern unter der Beteiligung von
SPD und PDS als eine der ersten Amtshandlungen die
Förderung von privaten Schulen und Kindergärten eingeschränkt und nicht weiter ausgebaut hat. Ich sehe darin
eine prinzipielle Entscheidung. Es kommt nicht von ungefähr, dass Herr Holter zum dritten Mal die Plattenbauten fördert, aber den Bau von Eigenheimen nicht fördern
will. Dies gehört zwar vielleicht nicht zu den grundsätzlichen Entscheidungen zwischen Freiheit und Sozialismus.
Aber es sind Weichenstellungen, die auf Dauer den Charakter dieser Republik prägen werden. Deshalb sage ich:
Engagement stärken!
({5})
Da wir uns darin einig sind, dass die Schule einer der
wesentlichen Grundpfeiler ist, um Fremdenfeindlichkeit,
Gewalt, Rechtsradikalismus und Linksradikalismus Einhalt zu gebieten, sollten wir grundsätzlich darüber diskutieren, ob wir alle Schüler möglichst lange in einer Einheitsschule unterrichten wollen oder ob wir private
Schulformen unterstützen wollen. Das ist ein entscheidender Punkt.
({6})
Herr Bundeskanzler, für die Zukunft der neuen Bundesländer stehen nicht mehr Reisen in den Osten wie in
ein fremdes Land auf der Tagesordnung.
({7})
Für die Zukunft der neuen Bundesländer steht vielmehr
auf der Tagesordnung, die Punkte herauszustreichen, in
denen die neuen Bundesländer weiter sind als die alten
Bundesländer: beispielsweise schnelleres Planungsrecht
und kürzere Schulzeiten bis zum Abitur. Ich würde mich
freuen, wenn in diesem Punkt - 12 Jahre bis zum Abitur - auch diejenigen neuen Bundesländer nachziehen
würden, die von der SPD regiert werden; Sachsen und
Thüringen haben es bereits geschafft.
({8})
Dies wäre ein Ansporn für ganz Deutschland.
Für die Zukunft steht außerdem auf der Tagesordnung,
dort, wo strukturelle Benachteiligungen sichtbar sind,
eine gezielte Förderung auf den Weg zu bringen.
Vor der staatlichen Einheit am 3. Oktober haben die
Menschen 1989 gerufen: „Wir sind ein Volk!“ Das hat uns
die Einheit der Nation gebracht. Ich habe den Eindruck,
dass dies auch dazu geführt hat, dass wir wieder von unserem Vaterland sprechen können, dass wir in Ost und
West - wie in anderen Länder auch - gemeinsam stolz darauf sein können, als Angehörige unserer Nation, als Bürger unseres Vaterlandes - also als Deutsche - in dieser
Welt Verantwortung zu tragen.
({9})
Dass wir dies tun können und dass unsere Nachbarn
dies tragen, ist einer der großen Erfolge der deutschen
Einheit. Es ist aber auch eine Verpflichtung. Herr Bundeskanzler, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, dass daraus
die Verpflichtung erwächst, für Mittel- und Osteuropa
klare Perspektiven für den Beitritt zur Europäischen
Union zu entwerfen. Aber ich sage Ihnen auch: Die Sonntagsreden wurden im Wesentlichen vor 1990 gehalten.
Heute geht es um ganz konkrete Taten.
Sie haben auf dem Berliner Gipfel die Agenda 2000
nicht so verhandelt, dass die Beitrittsfähigkeit seitens der
EU schon hergestellt ist. Sie haben beispielsweise nicht
dafür gesorgt, dass mit Polen Verhandlungen über die
Landwirtschaftsstruktur geführt werden. Dies werden wir
in den nächsten Jahren konkret fordern. Dies erfordert
eine Politik - das ist eine schwierige Aufgabe -, die nicht
nur an den Augenblick denkt, sondern die zu Ende denkt.
({10})
Das sind die Punkte, Herr Bundeskanzler, bei denen
ich mir nicht ganz sicher bin, ob sich Ihr grundsätzliches
Politikverständnis zwischen 1989 und heute geändert hat
oder ob Sie bis heute nicht verstanden haben, dass es nicht
nur um den Augenblick, sondern um die langfristige Perspektive und das Zu-Ende-Denken jeder politischen
Frage geht.
Herzlichen Dank.
({11})
Ich erteile nun dem
Ministerpräsidenten des Landes Sachsen-Anhalt,
Reinhard Höppner, das Wort.
Dr. Reinhard Höppner, Ministerpräsident ({0}) ({1}): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Um es vorwegzunehmen: Ich bin der Überzeugung, dass die
deutsche Einheit für alle ein wunderbarer und zu diesem
Zeitpunkt wohl auch unerwarteter Glücksfall in der deutschen Geschichte war.
({2})
Wer bedenkt, wie viel Leid die Deutschen im vergangenen Jahrhundert über Europa und die Welt gebracht haben, der wird wohl auch eingestehen müssen, dass wir in
ganz besonderer Weise unseren europäischen Nachbarn
Dank zu sagen haben.
({3})
Meine Damen und Herren, wenn es das Glück der
Tüchtigen war, dann waren viele tüchtig daran beteiligt,
und zwar keineswegs erst seit dem Herbst 1989.
({4})
Ein erster Baustein war Willy Brandts kluge Ostpolitik
unter dem Motto „Wandel durch Annäherung“.
({5})
Ein zweiter war die Beharrlichkeit, mit der der HelsinkiProzess vorangetrieben worden ist. Wer daran beteiligt
war, haben wir vorhin gehört.
({6})
Außerdem möchte ich an die Solidarnosc-Bewegung in
Polen erinnern, die oft vergessen wird. Sie fand schon Anfang der 80er-Jahre statt.
({7})
Dann war da Gorbatschow, der die Fronten gelockert und
vom gemeinsamen europäischen Haus gesprochen hat. Im
Sommer 1989 waren es die Ungarn, die den Mut hatten,
den Zaun zum Westen zu durchschneiden.
({8})
Beteiligt waren natürlich auch die Demonstranten des
Herbstes 1989 in der ehemaligen DDR mit ihrem Ruf
„Wir sind das Volk!“, die ihr eigenes Schicksal in die
Hand genommen und mit dem immer wiederholten Aufruf „Keine Gewalt!“ für eine friedliche Revolution gesorgt haben.
({9})
Ich erinnere mich an diese Tage sehr genau. Die ungestüme, auf die sehr baldige Herstellung der deutschen Einheit drängende Bewegung der Demonstranten hat das
Thema der deutschen Einheit auf die Tagesordnung gesetzt.
({10})
Ich erinnere mich auch daran, dass alle Politiker in Ost
und West nur sehr zögernd bereit gewesen sind, dieses
Thema auf die Tagesordnung zu setzen.
({11})
Die Deutschen, die im Osten demonstriert haben, haben
sogar gedroht. Ich erinnere an den Spruch „Kommt die DMark nicht zu uns, geh’n wir zu ihr!“. Das war eine Drohung, weil die Politiker in Ost und West - der Bundeskanzler Kohl war damals mit dabei - zunächst nicht bereit
gewesen sind, dieses Thema auf die Tagesordnung zu setzen.
({12})
Aber ich denke, der heutige Tag ist auch ein Anlass zu
danken. Denn schließlich, als alle merkten, wie radikal
sich die Welt verändert, haben alle Politiker diese Aufgabe ernsthaft auf die Tagesordnung gesetzt und sich ihrer angenommen. Damit haben sie sich der vielleicht
größten Herausforderung in der deutschen Geschichte
nach dem Wiederaufbau Deutschlands aus den Trümmern
des Zweiten Weltkrieges gestellt.
({13})
Liebe Kollegin Merkel, wir sind in einem Land aufgewachsen und wir sind im Herbst 1989 und vor allem im
Jahr 1990 an unterschiedlichen Stellen, aber dennoch intensiv in diese Dinge verwickelt gewesen. Ich hatte heute
bei Ihrer Rede den Eindruck, Sie reden von einem anderen Land und einer anderen Zeit.
({14})
Ich muss hinzufügen: Ich habe inzwischen viele
10-jährige Jubiläen hinter mich gebracht und dabei festgestellt, wie viele unterschiedliche Organisationen und
Unternehmen im Lande seit dem Herbst 1989 an der Herstellung der deutschen Einheit mitgewirkt haben, und
zwar von unten.
({15})
Auch die Kommunalpolitiker haben hier viel geleistet und
wir sollten ihnen dafür an dieser Stelle einmal Dank sagen.
({16})
Es gab nicht einen einzelnen Architekten der Einheit
und keiner kann sich die Leistungen allein auf seine Fahne
schreiben. Nur Kleingeister können behaupten, sie hätten
das Engagement für die deutsche Einheit für sich gepachtet.
({17})
Im Rückblick auf diese Zeit erinnere ich mich immer
an ein Gedicht von Bertolt Brecht, in dem er einen lesenden Arbeiter fragen lässt: Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen. Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?
Manche erinnern sich, wie es weitergeht. Er schließt mit:
So viele Berichte, so viele Fragen.
Richtig ist: Gewaltiges ist seit dem Jahr 1990 geleistet
worden - das wird niemand ernsthaft bestreiten können -:
der Aufbau einer demokratischen Ordnung, für die die
frei gewählte Volkskammer den Grundstein gelegt hat und
für die heute noch viele engagierte Kommunalpolitiker
stehen, denen wir zu Dank verpflichtet sind, und die Umwandlung der die DDR prägenden Staatsbetriebe in
marktwirtschaftlich orientierte Betriebe durch die
Treuhandanstalt. Das war eine Aufgabe - das will ich hier
nach zehn Jahren sagen -, das war eine Aufgabe, die man
ehrlicherweise nicht fehlerfrei bewältigen konnte und die
im Übrigen erheblich dadurch erschwert wurde, dass der
gesamte Ostmarkt zusammengebrochen war. Wo hat es
das schon einmal gegeben, dass sich eine gesamte Volkswirtschaft binnen weniger Jahre einen völlig neuen Markt
erobern musste?
Vergessen wir dabei nicht die Landwirtschaft, die in
kurzer Zeit fast ohne Hilfe von außen außerordentlich
wettbewerbsfähige Strukturen aufgebaut hat! Unsere
Städte und Dörfer waren vom Verfall bedroht und bekommen ein neues schönes Gesicht. So etwas war in so
kurzer Zeit noch nie in der deutschen Geschichte möglich
gewesen.
Milliarden sind in die Infrastruktur investiert worden,
und wenn Deutschland mit einem gewissen Recht in den
90er-Jahren bis zum Regierungswechsel 1998 Reformunfähigkeit bescheinigt wurde, so ist das für den Osten
Deutschlands wahrhaft keine treffende Beschreibung. Die
Ostdeutschen haben den Härtetest in Sachen Veränderungen absolviert und bestanden. Darauf können wir stolz
sein.
({18})
Neulich hat mich eine englische Journalistin gefragt:
Warum sind die Deutschen so wenig stolz auf diese einmalige Leistung? Das ist in der Tat das eigentlich Verwunderliche und Ärgerliche an unserem Einigungsprozess. Offenbar haben wir die Größe der Aufgabe
unterschätzt und uns nur zu gern von der Vorstellung verführen lassen, die deutsche Einheit ließe sich aus der
Portokasse bezahlen
({19})
und es würde bald überall blühende Landschaften geben.
Eines sollten wir für die Zukunft lernen: Nur derjenige,
der die Größe einer Aufgabe realistisch beschreibt, kann
auch die Kräfte mobilisieren, die zur Lösung dieser Aufgabe nötig sind.
({20})
Hier liegt wohl auch der Grund für die vielen immer noch
vorhandenen Ängste im Osten. Manche klagen, wenn sie
hören, wie einige Südländer über den Finanzausgleich reden, hätten sie Angst, wir könnten beim Einigungsprozess
auf halbem Wege stehen bleiben.
({21})
Eine realistische Beschreibung zeigt, dass wir erst auf
der Hälfte des Weges sind. Gewiss: Es gibt Bereiche, in
denen der Osten bereits jetzt moderner und effektiver ist
als vergleichbare Bereiche im Westen. Es gibt andere Bereiche, in denen wir einen deutlichen Nachholbedarf haben. Das ist eine der Herausforderungen der nächsten
Zeit: Wir müssen diese Ungleichzeitigkeiten aushalten,
wir dürfen ihnen nicht mit Neidkomplexen begegnen.
Die wichtigsten deutschen Wirtschaftsinstitute haben
festgestellt, dass allein im Bereich der Infrastruktur zwischen Ost und West eine Lücke von 300 Milliarden DM
klafft und sicherlich noch einmal 100 Milliarden DM an
Förderung nötig sind, um die Wirtschaftskraft in Ost und
West anzugleichen. Die Zahlen, die in ihrer Größenordnung nicht mehr bestritten werden, sind inzwischen nicht
ohne Wirkung. Ich bin darum außerordentlich dankbar das will ich hier noch einmal sagen -, dass sich der Bundeskanzler eindeutig zum Solidarpakt II bekannt hat.
({22})
Ich unterstreiche auch die Schwerpunkte, die er in seiner
Regierungserklärung zur weiteren Arbeit genannt hat.
({23})
Ministerpräsident Dr. Reinhard Höppner ({24})
Im Übrigen, wenn ich das einmal sagen darf: Ich habe
den Bundeskanzler auf seiner Reise begleitet. Das war
keineswegs eine Reise in ein unbekanntes Land, sondern
in ein Land, das ihm vertraut ist und in dem während dieser Reise Vertrauen gewachsen ist.
({25})
Ich freue mich übrigens auch, dass die meisten Finanzminister der deutschen Bundesländer inzwischen zu
der Ansicht gelangt sind, dass der Solidarpakt I nach 2004
in Dotation und Struktur weitergeführt werden muss. Wir
haben gehört - das ist außerordentlich wichtig für uns -,
dass dies in dieser Legislaturperiode noch gesetzlich abschließend geregelt wird.
Meine Damen und Herren, zu den Schattenseiten
gehört, dass uns noch große Arbeitslosigkeit plagt, was
in einem Sozialstaat Deutschland nicht hinnehmbar ist.
Noch ist die Chancengerechtigkeit zwischen Ost und
West nicht hergestellt, noch leiden die Ostdeutschen unter
dem offenkundig falschen Vorurteil, ihre Arbeit, ihre Produkte wären schlechter als die im Westen. Dem müssen
und können die Ostdeutschen selbstbewusst begegnen.
Damit bin ich bei dem Punkt, in dem die deutsche Einheit wohl noch am wenigsten gelungen ist, bei der Partnerschaft auf Augenhöhe, der Einsicht, dass uns unterschiedliche Lebenserfahrungen geprägt haben, dass wir
daran nichts mehr ändern können. Die daraus erwachsenden Unterschiede müssen und können wir akzeptieren,
statt uns lediglich darüber zu ärgern oder uns daran zu reiben. Vielfalt ist schön, Unterschiedlichkeit ist eine Bereicherung. Am deutlichsten kann man das dort erleben,
wo Menschen aus Ost und West gemeinsam in einem
Team oder Unternehmen an der Lösung wichtiger Aufgaben und Probleme arbeiten. Dort redet nämlich niemand
mehr über die nicht gelungene innere Einheit.
Solche Aufgaben stellt uns die Zukunft. Wir müssen
den Herausforderungen der Globalisierung gewachsen
sein und diesen Prozess aktiv mitgestalten. Wir Deutschen
haben eine besondere Verpflichtung, den europäischen
Einigungsprozess energisch voranzutreiben. Ich bin überzeugt, dass die deutsche Einheit erst dann ein Gewinn für
alle Menschen in Europa ist, wenn sie ein Schritt auf dem
Weg zum vereinten Europa ist.
({26})
Auf diesem Wege werden die unterschiedlichen Erfahrungen der Deutschen in Ost und West wichtig sein. Hier
haben wir eine besondere Verantwortung.
Vielleicht darf ich es einmal so sagen: Die Freundlichkeit und Sympathie, die uns unsere Nachbarn 1990 bei
dem Einigungsprozess entgegengebracht haben, können
und müssen wir ihnen jetzt beim europäischen
Einigungsprozess zurückgeben.
Ich danke Ihnen.
({27})
Meine Damen und
Herren, die Bundesminister Fischer und Eichel sind vorhin angesprochen worden. Ich bin darauf hingewiesen
worden, dass erstens Außenminister Fischer in Vertretung
des Bundespräsidenten in Indien ist und dass zweitens
Bundesminister Eichel wegen der Entscheidung in Dänemark beim Ecofin-Rat ist. Ich möchte das nur mitteilen,
damit hier keine Missverständnisse entstehen.
({0})
Ich erteile nun dem Kollegen Klaus Kinkel, F.D.P.Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein guter ausländischer Freund
hat mir neulich gesagt: Ihr geht den zehnten Jahrestag der
deutschen Einheit typisch deutsch an. Alle Welt würde
feiern, glücklich sein und das auch zeigen.
({0})
Ihr aber gedenkt, treibt Nabelschau - fast beklemmt und
auch ein wenig verklemmt.
({1})
Die grüne Europaabgeordnete Ilka Schröder hat sogar gefordert, die Feiern zum zehnten Jahrestag ganz abzusagen.
({2})
Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, Kritik, Selbstkritik, Problembewusstsein, all das ist wichtig, aber an einem solchen Tag sollten dann doch in erster Linie Stolz,
Freude und Dankbarkeit für das Erreichte zum Ausdruck
kommen.
({3})
Ich möchte für mich selber sagen, dass ich stolz und
glücklich bin, dass ich ein wenig an dieser inneren Wiedervereinigung in den Jahren 1989/1990 mitwirken
durfte. Natürlich bedarf es auch ein wenig der Nachdenklichkeit. Ich will deutlich sagen, was mir bisher ein
bisschen zu kurz gekommen ist: Es wurde zu wenig über
die Menschen gesprochen.
({4})
Sie sind doch die Hauptbetroffenen.
Niemand, der hier vor dem Reichstag dabei sein durfte,
wird die Wiedervereinigungsnacht vergessen. Ich werde
nie vergessen, dass ich am Vortag in der Dorotheenstraße 93, im damaligen DDR-Justizministerium - dort
habe ich heute mein Büro -, wo ich achteinhalb Jahre die
deutsch-deutschen Rechtshilfeverhandlungen geführt
habe, im wahrsten Sinne des Wortes das Licht ausdrehen
und tief betroffenen Richtern, Staatsanwälten und Justizangehörigen sagen musste - das ist mir verdammt
Ministerpräsident Dr. Reinhard Höppner ({5})
schwer gefallen -, dass wir den Schritt in die Wiedervereinigung nicht mit ihnen gehen können.
Es ging um Schicksale von Menschen, die ihr Leben
auf einen Staat ausgerichtet hatten, von dem sie glaubten,
er sei ehrenwert. Plötzlich war das ein Unrechtsstaat. Er
war verfemt und mit ihm viele Menschen, die in Armee,
Justiz, Polizei, an den Universitäten und im Ministerium
für Auswärtige Angelegenheiten ihre Arbeit geleistet hatten - teils vom System überzeugt, teils kritisch eingestellt,
aber im Prinzip ohne andere Chance. Wo hätten sie in der
früheren DDR denn arbeiten sollen?
An diejenigen, die die Verlierer der Wiedervereinigung sind - und deren gibt es nicht gerade wenige -, haben wir jedenfalls für meine Begriffe bisher zu wenig gedacht.
({6})
Sie standen plötzlich vor einer anderen Lebenssituation,
oft vor dem Nichts, oft mit dem Gefühl - das ist zum Teil
auch heute noch verbreitet -, es gebe in Deutschland Bürger erster und zweiter Klasse. Ich spreche nicht von denen, die moralisch-ethisch oder strafrechtlich Schuld auf
sich geladen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, 200 Kilometer StasiAkten haben wir übernommen. Mein Dank und der Dank
meiner Fraktion geht an Herrn Gauck, der Erstaunliches
und Wichtiges geleistet hat.
({7})
Frau Birthler - sie wird wohl gewählt werden - wünsche
ich alles Gute. Wir haben mit ihr in der Fraktion darüber
gesprochen, dass durch das Beibehalten dieser Akten und
die Identifizierung der Opfer und der Täter wahrscheinlich doch zur Versöhnung beigetragen werden konnte. Ich
will nicht verheimlichen, dass wir uns damals überlegt
hatten, die Akten zu vernichten.
An einem solchen Tag darf auch nicht vergessen und
verdrängt werden, dass wir in einer Generation zwei Unrechtsregime aufzuarbeiten haben.
({8})
Ich werde nicht vergessen - ich finde schon, dass man an
einem solchen Tag ein wenig besinnlich sein darf -, als
eine meiner ersten Amtshandlungen als Justizminister die
Fahrt nach Bautzen, ins „Gelbe Elend“, war. Dort fand ich
dieselben Tigerzellen vor, die Sie - es ist grausam, aber
ich muss es sagen - auch heute noch in Auschwitz besichtigen können.
Aber natürlich wird alles - zu Recht - durch das
große Geschenk überstrahlt, das uns mit der Wiedervereinigung zuteil wurde. Die Menschen in der ehemaligen
DDR haben vor zehn Jahren ihr Schicksal in die eigenen
Hände genommen und ihre Freiheit erkämpft. Michail
Gorbatschows mutige Reformen und natürlich die friedlichen Revolutionen unserer Nachbarn in Mittel- und Osteuropa waren dafür die Grundlage. Wir schulden ihnen
wahrhaftig Dank. Auch das kommt manchmal zu kurz.
({9})
Gerade wir Deutschen sollten das nicht vergessen,
wenn wir über Kosten und Risiken der Osterweiterung
reden. Ich werde nicht müde zu sagen: Es kann doch wohl
nicht richtig sein, dass wir den Menschen in diesen Ländern über Jahrzehnte zugerufen haben „Legt den Kommunismus, den Marxismus, den Leninismus ab und
kommt zu uns in unsere freiheitliche westliche Wertegemeinschaft!“, um jetzt, weil es ein paar Probleme gibt diese gibt es tatsächlich -, zu sagen: Pardon, in diesem europäischen Haus ist auf absehbare Zeit kein Zimmer für
euch frei. Das wäre unhistorisch, fatal und schlimm. Deshalb müssen wir einen Zeitpunkt nennen, und zwar
schnell, damit es ein Licht am Ende des Tunnels gibt.
({10})
Im Übrigen haben unsere westlichen Partner uns vertraut und uns geholfen, das zu erreichen, was wir als das
größte Glück für die Deutschen in den letzten Jahrzehnten bezeichnen. Wir, die Politiker in Ost und West, die damals Regierungsverantwortung hatten, haben die Chance
beim Schopf gepackt, eine Chance - das will ich nicht
verhehlen -, an die viele nicht geglaubt hatten. Wir waren
entschlossen, mutig neue Wege zu gehen - unter großem
zeitlichen Druck von innen und außen. Wir konnten die
Wiedervereinigung nicht proben; das ist weitgehend vergessen worden. Manches ist nicht ideal gelaufen; manches ist auch schief gelaufen. Aber die Wiedervereinigung
ist gelaufen, dass ist das Entscheidende.
({11})
Die Bürger in Ost und West, die Politiker und nicht zuletzt der öffentliche Dienst haben damals Großes geleistet. Es ist oft die Frage gestellt worden: Hätte das weltweit
ein anderer öffentlicher Dienst gemeistert? Ich glaube, die
Frage ist berechtigt. Man sollte auch einmal daran denken, dass wirklich Einmaliges geleistet wurde, natürlich
vor allem mit Hilfe unserer ausländischen Freunde Gorbatschow, Schewardnadse und Bush - und natürlich
von Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble, Theo Waigel und das werden Sie mir nicht übel nehmen - vor allen Dingen
Hans-Dietrich Genscher, auf den wir in der F.D.P., was
seine Leistungen zur Wiedervereinigung anbelangt, besonders stolz sind.
({12})
Aber, ich will auch deutlich sagen, dass die Einheit
nicht möglich geworden wäre ohne die Vorarbeit von
Willy Brandt, Walter Scheel und anderen.
({13})
Ich finde es wirklich kleinkariert und töricht, wenn heute
darüber gesprochen wird - das ist schon angedeutet
worden -, wem die Einheit gehört.
({14})
Sie gehört uns allen und wenn jemandem in besonderer
Weise, dann den Menschen in den neuen Bundesländern.
({15})
Die Jahre seit 1989/90 - wir durften sie zum Teil mitgestalten, zum Teil miterleben - werden in die Geschichtsbücher eingehen, und zwar nicht nur in die deutschen. Darin werden sich auch einige aus der jetzigen
Bundesregierung mit ihrer damaligen Haltung zur Wiedervereinigung wieder finden.
Ich wende mich gegen jedes Pauschalurteil. Ich sage
nochmals: Die Auseinandersetzung, wem die Einheit
gehört, ist töricht. Aber der Bundeskanzler - ich finde
nicht gut, dass er bei einer solchen Debatte nicht anwesend ist;
({16})
der Außenminister ist entschuldigt, jedenfalls für mich muss sich als Hauptverantwortlicher in der Politik schon
sagen lassen, welchen Schwenk er vollzogen hat. 1989
waren drei Dinge gefragt: Handlungsbereitschaft, Mut
und - jetzt kommt das Entscheidende - der unbedingte
Wille zur Einheit. Der hat bei Ihnen gefehlt.
({17})
Der Bundeskanzler hat damals als niedersächsischer
Ministerpräsident eine Haltung eingenommen, die hier
schon mehrfach apostrophiert wurde. Übertroffen wurde
das Herumeiern - so nenne ich das jetzt - nur noch von
den Grünen: Sie plädierten für die totale Verweigerung.
({18})
Ich bedaure, dass Joschka Fischer nicht da ist. Er hat erst
im Februar 1990 mit schon damals von Sorgen zerfurchter Stirn erklärt: „Wir müssen die deutsche Einheit akzeptieren.“
({19})
Er hat auch gesagt, wir sollten die Wiedervereinigung vergessen: Warum halten wir für die nächsten zwanzig Jahre
nicht die Schnauze? - Es ist erstaunlich, welche waghalsigen Pirouetten Joschka Fischer in der deutschen Politik
unwidersprochen drehen darf.
({20})
Darüber kann man sich nur wundern. Manchmal wünscht
man sich, man dürfte sich genauso verhalten.
Im Übrigen: Wie ernst er die Wiedervereinigung
nimmt, zeigt die Tatsache, dass die Gelder für die Feiern
am 3. Oktober in den Botschaften gestrichen worden
sind. Das ist eine Schande. Es können keine Feiern stattfinden.
({21})
Ich habe persönlich als früherer Außenminister Gelder für
die Botschaften gesammelt, damit sie die Feiern abhalten
können. Das heutige Verhalten ist unhistorisch. Wir haben
als F.D.P. einen Antrag eingebracht, durch den das korrigiert werden soll.
Meine Damen und Herren, ich komme auf die Menschen in den neuen Ländern zurück. Sie haben uns viel zu
sagen. Mit ihrem Freiheitswillen und der friedlichen Revolution haben sie nicht nur die Wiedervereinigung herbeigeführt; sie haben sich auch danach in die Wiedervereinigung eingebracht: mit ihrem Leben, ihren Biografien
und ihrer Lebensleistung. Sie haben Gleichwertiges eingebracht. Sie brauchen sich nicht zu verstecken. Sie haben Anspruch darauf, dass sie gleich behandelt werden,
weil sie Gleiches eingebracht haben. Um sie, um die Menschen vor allem in den neuen Bundesländern, geht es bei
der heutigen Debatte.
({22})
Der Blick muss nach vorn gerichtet sein. Wir sollten
uns nicht im Gemecker darüber verlieren, dass die Landschaften im Osten nicht ganz so heftig blühen, wie wir es
uns erträumt haben. Wir würdigen zu wenig, dass damals
ungewöhnlich viel Vernunft in der Politik waltete und
dass uns die Mächte der Welt und die Geschichte noch
einmal eine Chance gegeben haben, die Vielfalt der deutschen Länder in staatlicher Einheit zu leben. Wir zu oft
Kleinmütigen könnten um ein Quäntchen fröhlicher und
dankbarer sein, nicht nur an einem solchen Tag.
({23})
Das Wort zu einer
Zwischenbemerkung erteile ich dem Kollegen Ludger
Volmer, Bündnis 90/Die Grünen.
Lieber Herr Kinkel, mit untrüglichem Gespür haben Sie
wieder einmal den entscheidenden Punkt getroffen, nämlich ob es genug Geld zum Feiern gibt.
({0})
Im Ernst, Herr Kinkel: Wenn Sie vor der Frage stünden, ob Sie Botschaften schließen oder den Festetat kürzen müssen, wie würden Sie dann entscheiden?
({1})
Schließlich sind Sie der Hauptverantwortliche für die Finanzmisere des Auswärtigen Amtes von 1989 bis 1998.
Während Ihrer Regierungszeit ist der Anteil des Haushaltes des Auswärtigen Amtes am Gesamthaushalt von 1 Prozent auf 0,75 Prozent gesunken. Das heißt, Sie sind
persönlich einer der Hauptverantwortlichen dafür, dass
das Auswärtige Amt nur sehr unzureichende Mittel hat.
Aber ich kann Sie beruhigen: Das Auswärtige Amt
weiß, wie bedeutsam die Feiern sind. Wir haben Sorge
dafür getragen, dass auch in diesem Jahr die Feiern würdig begangen werden können. Wir haben den Etat auch
nicht gestrichen, sondern nur gekürzt. Wir haben zudem
die Aufwandspauschalen für die Botschafter neu zugeschnitten. In den neuen Pauschalen für den Aufwand, den
sie zu besonderen Anlässen haben, sind die Feiern der
deutschen Einheit berücksichtigt.
Zum Dritten haben wir etwas neu eingeführt: das
privatwirtschaftliche Sponsoring, die Kooperation mit der
deutschen Wirtschaft in den jeweiligen Ländern, die auch
ein großes Interesse daran hat, dass der Einheitsfeiertag
begangen werden kann. Sie als F.D.P.-Mann sollten,
denke ich, diesen privatwirtschaftlichen Ansatz unterstützen. Er funktioniert im Übrigen sehr gut. Die Feiern werden überall sehr würdig vorbereitet.
({2})
Herr Kinkel, Sie sind kein armer Mann. Sie sind zudem
der Hauptverantwortliche für die Haushaltsmisere des
Auswärtigen Amtes.
({3})
Sie haben mehrere Einkommen. Ich schlage Ihnen vor:
Suchen Sie sich eine Botschaft, zücken Sie Ihr Portemonnaie, und beteiligen Sie sich am Sponsoring!
({4})
Kollege Kinkel, bitte.
Lieber Herr Kollege
Volmer, si tacuisses, philosophus mansisses. Sie hätten
besser geschwiegen.
({0})
Was Sie gesagt haben, war Unsinn. Ich glaube, dass ich
das nach sechseinhalb Jahren als Außenminister ein bisschen besser beurteilen kann als Sie. Das soll nicht überheblich klingen.
Zu Ihrer Aufforderung: Klaus Kinkel hat als früherer
Außenminister Botschaftern für diese Feiern sehr viel
Geld besorgt. Fragen Sie einmal, wie viel! Denn ich habe
mich geniert, dass das Auswärtige Amt große und wichtige Botschaften nicht in die Lage versetzt hat, bei Freunden und Partnern aus Dankbarkeit Veranstaltungen am
Abend des 3. Oktober abzuhalten. Sie sollten, bevor Sie
solche Behauptungen aufstellen, erst einmal nachfragen.
Ich warte auf Ihre schriftliche Antwort.
Vielen Dank.
({1})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Werner Schulz, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zehn
Jahre deutsche Einheit - ein tief greifender, spannender
Zeitabschnitt liegt hinter uns, eine Zeitdauer, die man
- um uns das einmal vor Augen zu führen - an der Realschule verbringt, also ein Lernprozess, ein Erkenntniszuwachs, im vorliegenden Falle für eine ganze wiedervereinigte Nation.
Es ist noch zu früh für eine Abschlussbilanz, aber es ist
nie zu spät für eine ehrliche Zwischenbilanz. Ich will dies
versuchen, denn Deutschland wächst zusammen, aber es
ist ein mühsamer Prozess. Ich will nicht der klassischen
Philosophiefrage nachgehen, ob das Glas halb voll oder
halb leer ist. Ich hatte in den letzten Jahren eher das Gefühl und die Sorge, dass ein Sprung im Glas ist, dass es so
verkrustet ist, dass wir nicht mehr erkennen können, was
sich darin bewegt. Dass dieser Reformstau aufgelöst worden ist, dass wir wieder Klarheit haben, dass wir sehen,
wo es hingeht, dass da was fließt - auch Mittel kontinuierlich in den Aufbau Ost -, das haben wir nun einmal
wirklich dieser Bundesregierung zu verdanken.
({0})
Der Vergleich mit dem Glas oder mit dem halben Weg
ist aber nicht das richtige Bild; denn die Anfangserwartungen zu Beginn der deutschen Einheit waren eher mit
kommunizierenden Röhren zu vergleichen. In den beiden
Röhren befand sich ein unterschiedlicher Niveaustand
und es wurde erwartet, dass sich das durch den Anschluss
relativ schnell ausgleicht.
({1})
Das ist ein physikalisches Gesetz, das sich offensichtlich
auf die Politik nicht übertragen ließ, weil dort die Beharrungskräfte größer waren als der Veränderungsdruck und
im Grunde genommen die Bundesrepublik Deutschland
die alte geblieben ist, also kein neuer Staat, keine wesentlich andere Republik entstanden ist. Erst durch den Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin ist einiges
in Fluss geraten.
Das Wahnsinnsexperiment hat mehr oder weniger auf
der einen Seite stattgefunden, auf der anderen Seite
konnte man unter dem Motto „Keine Experimente!“
Wahlen gewinnen. Der revolutionäre Elan ist mit der Debatte über die Rechtschreibreform oder die Ladenöffnungszeiten erschöpft worden. Vielleicht ist dieser anfänglich überspannte Erwartungshorizont, dass sich hier
ein zweites Wirtschaftswunder wiederholen könnte,
heute, nach zehn Jahren, der Grund, warum Erfolg und
Misserfolg in dieser Weise abgewogen werden, warum
sich Licht und Schatten so ausschließlich gegenüberstehen. Ich finde, die Sache ist recht gut verlaufen, besser, als
dies manche im Osten wahrhaben oder glauben wollen,
allerdings auch problematischer, als man das vom Westen
aus sieht und empfindet.
Sicher, dieser spontane Jubel, diese Freude, als der
Trabi wie ein vergessener, aus der Art geschlagener,
schräger Käfer in der Volkswagengemeinschaft aufgenommen worden ist, ist vorbei;
({2})
er hatte über den Alltag keinen Bestand. Diese Einheit
kam für uns alle überraschend. Wie ist es denn sonst erklärbar, dass in der Nacht der Freude, in der die Mauer
durchbrochen worden ist und sich die Menschen in den
Armen lagen, der Einheitskanzler verreist war,
({3})
dass die deutsche Einheit mehr als ein Wahlkampfrennen
und weniger als eine Gemeinschaftsaufgabe betrieben
wurde? Ein wunder Punkt, der uns offenbar heute noch
beschäftigt, wenn ich mir diese Debatten anhöre.
({4})
Wäre der demokratische Aufbruch, Angela Merkel, damals wirklich aufgegriffen worden und nicht nur parteipolitisch vereinnahmt worden, wäre sehr schnell klar geworden, dass die Ostdeutschen mehr als marode Betriebe,
ein Dauerlamento und einen Keller unaufgeräumter StasiAkten mit in die Einheit brachten. Dieser Sofortabwicklung Ost stand kein Umbauwille West gegenüber.
({5})
Ich hätte vor Tagen noch eine andere Rede gehalten,
weil ich mich persönlich mit manchen Dingen, so wie sie
gelaufen sind, abgefunden habe. Es ist müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, ob das Tor nur eine kurze
Zeit offen stand. Es stand ja keine Mauer, keine tragende
Wand mehr im Ostblock. Es ist müßig, darüber nachzudenken, ob dieser Weg alternativlos war. Es gab Alternativen, aber sie sind nicht beschritten worden und der beschrittene Weg hat sich als richtig erwiesen.
Ich frage mich, was nach diesem 9. November des vorigen Jahres, als wir hier den 10. Jahrestag des Mauerfalls
gefeiert haben und uns ziemlich einig waren - uns allenfalls noch über die Rednerliste gestritten haben, weil da
überwiegend Redner aufgeführt waren, die mit dem Ereignis nichts zu tun hatten und erst danach in die weltpolitischen Gänge gekommen sind -, eigentlich passiert ist.
Möglicherweise war das unsere vorweggenommene
Einheitsfeier, weil wir immer den 9. November mit dem
3. Oktober verwechseln,
({6})
weil der 3. Oktober möglicherweise gar nicht so viel mit
der deutschen Einheit zu tun hat, weil er mehr an den Todestag von Franz Josef Strauß erinnert, an eine komplizierte Männerfreundschaft und deren Verdienste um die
deutsche Einheit.
({7})
Wie schön wäre es doch gewesen, wenn wir dieses
große Volksfest - ich bin durchaus für das Feiern; ich
frage mich bloß, was wir feiern - damals mit einem
großen Volksentscheid verbunden hätten. Wir haben doch
in unserer Verfassung nicht nur das Ziel der Wiedervereinigung gehabt, sondern auch die Verpflichtung, dass sich
das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung eine Verfassung gibt.
({8})
Eine solche demokratische Gründungslegende des wiedervereinigten Deutschlands, die die beiden Teile hätte
politisch zusammenführen können, fehlt bis heute.
({9})
Zum Glück misst sich die innere Einheit nicht an der
Vielzahl der separaten Einheitsfeiern, die momentan veranstaltet werden.
({10})
Dass Sie, Helmut Kohl, am 3. Oktober nicht in Dresden
sprechen können - wo Sie vor der Frauenkirche eine legendäre Rede gehalten haben, als Ihr Zehn-Punkte-Plan
auf einen Punkt zusammenschmolz - haben Sie doch
nicht dieser bösen rot-grünen Regierung zu verdanken,
sondern Ihnen wird in Ihrer eigenen Partei eine kleinkarierte, alte offene Rechnung präsentiert.
({11})
Sie sind momentan dabei, Ihr inneres Zerwürfnis in die
Politik und in unsere Gesellschaft hineinzutragen.
Angela Merkel, ich habe mich darüber gefreut, als Sie
gesagt haben, die Einheit gehöre keiner Partei, sondern
den Menschen. Bloß haben Sie dann mit jedem einzelnen
Satz Ihrer Rede diese Grundaussage widerlegt.
({12})
Warum halten Sie hier eigentlich die Rede von Helmut
Kohl? Er könnte sie hier doch selber halten, anstatt im
„Tränenpalast“ auf die Drüsen zu drücken und die Gemüter in Wallung zu bringen.
({13})
Wir mögen ja in vielen Fragen geteilter Meinung sein.
Aber wir müssen den Begriff der inneren Einheit ernst
nehmen und dürfen die Spaltung in Einheitsbewahrer und
-verräter einfach nicht zulassen.
({14})
Da lachen sich doch diejenigen ins nationale Fäustchen,
die den Ruck durch die Gesellschaft am liebsten mit einem deutschen Hauruck bewerkstelligen möchten. Genau
denen spielen wir in die Hände.
({15})
Werner Schulz ({16})
Wir entwerten damit die Debatte, die wir gestern geführt
haben, wenn sich die Demokraten erst dann einig werden,
wenn die Demokratie bedroht ist, und sich nicht über
Grundsatzfragen einig sind.
Zu diesen Grundsatzfragen gehört für mich die deutsche Einheit. Sie hatte einen ganz langen Vorlauf, an dem
sehr viele Personen mitgewirkt haben und für die es sehr
viele Faktoren gegeben hat. Nennen Sie mir doch bitte
eine Bundesregierung, die jemals eine andere Politik als
die des Wandels durch Einwirkung betrieben hätte. Keine
andere Bundesregierung! Willy Brandt gehört zu dieser
deutschen Einheit; denn er hat mit seiner Ostpolitik nicht
nur in Erfurt das Fenster aufgemacht und die erste Massenprotestdemo ausgelöst. Helmut Schmidt hat mit dem
KSZE-Prozess die Dissidenten in Osteuropa angeregt, die
Gründung von Charta 77 und von Solidarnosc; darauf gehen Vaclav Havel und Lech Walesa, der heute Geburtstag
hat, zurück, aber auch Michail Gorbatschow. Erinnern Sie
sich bitte, Helmut Kohl, wie Sie Michail Gorbatschow bezeichnet haben, als er von Glasnost und Perestroika geredet hat. Ihre Selbstgerechtigkeit ist schon mit ganz viel
Verdrängungskunst verbunden.
({17})
Die Öffnung der ungarischen Grenze, die vielen Menschen, die sich der DDR verweigert haben, die Ausreiseanträge gestellt und Botschaften besetzt haben, die vielen
mutigen Frauen und Männer, die in Plauen, Leipzig und
anderswo auf die Straße gegangen sind und die friedliche
Revolution ausgelöst haben, aber auch diejenigen, die auf
der westdeutschen Seite an der Staatsbürgerschaft festgehalten haben - das war in diesem Zusammenhang ein sehr
wichtiger Faktor -, diejenigen wie Helmut Kohl und
Hans-Dietrich Genscher, die mit großem Geschick die
deutsche Einheit außenpolitisch abgesichert haben - sie
alle haben doch nicht dazu beigetragen, damit wir heute
- ich bitte Sie! - diese kleinkarierte Diskussion führen,
wem die deutsche Einheit gehört und wer sie herbeigeführt hat.
({18})
Bringt das wirklich etwas oder führen wir diese Debatte nur, weil Sie sich, Helmut Kohl, mit der Art Ihrer Politik in die Enge gedrückt fühlen und auch Ihre Partei in
die Enge gedrängt haben, sodass Sie plötzlich die deutsche Einheit für Ihre politische Rehabilitierung instrumentalisieren?
({19})
Dem Kanzler der Einheit, der Sie sind, wurde zu Lebzeiten ein Sockel gebaut. Dass Sie heute im Schatten des
Denkmals des unbekannten Spenders sitzen, ist bitter,
aber das haben Sie sich doch selbst zuzuschreiben.
({20})
Ich wünsche Ihnen die Souveränität, die Sie vor zwei
Jahren am Wahlabend hatten, als Sie - ganz unüblich zu
dem sonstigen Gesülze, wenn Wahlniederlagen immer
noch in Scheinsiege uminterpretiert werden - diese Wahlniederlage angenommen, die Verantwortung dafür übernommen und Ihren Nachfolgern viel Glück im Interesse
Deutschlands gewünscht haben. Ich wünsche Ihnen diese
Souveränität zurück, dass Sie so wie den Mut zur deutschen Einheit auch den Mut zur Wahrheit finden;
({21})
denn nur Sie haben den Schlüssel in der Hand, damit die
Achtung und die Anerkennung zurückkommen können,
die Ihnen eigentlich gebühren.
({22})
Wir jungen Kollegen, Kollege Merz, Angela Merkel,
sollten aus den parteipolitischen Schützengräben des vergangenen Jahrhunderts herauskommen, all die verbalen
Platzpatronen da liegen lassen, die sich finden in Zitaten
und dergleichen mehr. Da waren wir, Kollege Merz, unter
Ihrem verehrten Vorgänger Wolfgang Schäuble schon einmal weiter. Der hat ein Buch geschrieben: „Und der Zukunft zugewandt“. „Lass uns dir zum Guten dienen,
Deutschland, einig Vaterland“, um eine komplette Textzeile der DDR-Nationalhymne zusammenzubringen. Das
war nämlich ein Grund, warum wir diese Hymne nicht
mehr singen durften.
Es gab in Deutschland nur eine Einheitspartei, die sich
so genannt hat. Die hatte mit Einheit nichts zu tun. Keiner
der drei Begriffe in ihrem Namen war richtig; das war alles falsch und verlogen. Also reden wir nicht von
Einheitspartei.
({23})
Wir haben große Erfolge im Aufbau Ost zu verzeichnen. Das haben wir jedes Jahr immer wieder bilanziert.
Das ist der Tatkraft, dem Engagement der Leute im Osten
zu verdanken, aber auch der tatkräftigen Hilfe, der finanziellen Unterstützung im Westen, wofür wir sehr dankbar
sind.
({24})
Hier ist wirklich ein nationales Aufbauwerk in Größenordnungen entstanden, ohne Fünfjahrespläne, wie man
das früher gewohnt war. Ich will das im Einzelnen gar
nicht aufzählen; das ist sehr gut im Bericht zum Stand der
deutschen Einheit bilanziert.
Ich glaube, was wir vernachlässigt haben bei all den
Diskussionen, die wir immer wieder über die Kosten, die
finanziellen Auswirkungen und die Transfers geführt haben, ist die Frage: In welchem Land, in welcher Gesellschaft wollen wir eigentlich leben? Was wir unterschätzt
haben und was durch diesen spontanen Ausbruch an Widerstandskraft, an Aufbegehren im Osten deutlich geworden ist, ist das Ausmaß von Zivilcourage im Alltag. Ich
Werner Schulz ({25})
glaube, hier haben zwei Diktaturen ihre Spuren hinterlassen in der Erziehung, in den Charakterstrukturen, in den
Verhaltensmustern und, und, und. Damit werden wir noch
viel zu tun haben, da werden wir noch viel aufarbeiten
müssen.
Ich bin deswegen - um das zu wiederholen; das haben
alle Redner vor mir schon getan und in solchen Fragen
können wir uns ja auch sehr schnell einig sein - Joachim
Gauck sehr dankbar dafür, dass diese Behörde diese wirklich schwere Arbeit geleistet hat. Wir müssen jetzt diese
Erkenntnisse auch auswerten. Sie müssen auch Eingang
in die Erziehung und in die Schulbücher finden. Ich
glaube, dort besteht im Moment ein großes Defizit,
({26})
weil viele der Lehrer verunsichert sind, nichts mehr von
Politik wissen wollen, ihre Skepsis gegenüber dem neuen
System ausdrücken und dergleichen mehr. Hier können
wir auch die PDS nicht aus der Verantwortung heraus lassen, weil sie hier nicht so tun kann, als seien das nur die
Bruchstücke der Vereinigung. Hier haben wir es auch mit
den Hinterlassenschaften ihrer Pädagogik, ihrer Erziehung, ihrer Ideologie zu tun.
({27})
Auf jeden Fall müssen wir diesen Prozess, der sich da
momentan ereignet, stoppen; denn eines sollte wirklich
nicht mehr geschehen: dass der Tod ein Meister aus
Deutschland ist. Das müssen wir unter allen Umständen
unterbinden.
({28})
Wie gesagt, wir müssen den Aufbau einer zivilen bürgerlichen Gesellschaft in den nächsten Jahren viel entschlossener angehen. Das ist kompliziert, weil demokratische Strukturen aufzubauen offensichtlich langwieriger
ist, als Infrastrukturen zu reparieren und in Ordnung zu
bringen.
Ich bin unlängst in einer ostdeutschen Schulklasse gefragt worden: Wie funktioniert eigentlich Demokratie?
Wo kann man ziviles Verhalten lernen? Ich weiß nicht,
was Sie auf diese Fragen geantwortet hätten. Es ist in unserer Gesellschaft gar nicht so einfach, solche Fragen zu
beantworten. Wenn ziviles Verhalten nicht in den Elternhäusern vermittelt wird - Lehrer können das Vorbild der
Eltern eben nicht ersetzen -, dann sind wir in einer argen
Zwickmühle. Die Elternhäuser, gerade die im Osten, sind
auch die Treibhäuser für das Meinungsklima, das momentan dort herrscht und das dort hinterlassen worden ist.
({29})
Die deutsche Einheit war der erste Schritt zur EUOsterweiterung. In dem Sinne hat eine EU-Osterweiterung zum ersten Mal stattgefunden. Wir stehen heute, in
diesem 21. Jahrhundert, vor der Aufgabe, nach der Westbindung auch die Ostbindung zu vollziehen und aus den
Beitrittsgebieten bzw. aus den Grenzgebieten, wie sie
noch immer aufgefasst werden, eine europäische Verbindungsregion und eine europäische Wachstumsregion zu
machen. Das ist eine Chance für unser gesamtes Land und
für unsere Zukunft. Das heißt, wenn wir über die Zukunft
der ostdeutschen Bundesländer und über das, was sich
dort abspielt und entwickelt, reden, dann reden wir eigentlich über die Zukunft des gesamten Deutschlands.
Vielleicht kann uns - zum Abschluss - ein Zitat von
John F. Kennedy weiterhelfen, der bekanntlich ein bekennender Wahlberliner war und der sich in einem Moment
zur Wiedervereinigung der Stadt Berlin bekannt hat, als
wir gerade in Ost- und Westberliner geteilt worden waren.
Er hat seiner durchaus schwierigen und vielfältig farbigen
Nation ins Stammbuch geschrieben:
Wenn wir uns einig sind, gibt es wenig, was wir nicht
tun können. Wenn wir uneins sind, gibt es wenig, was
wir tun können.
In diesem Sinne ist der Aufbau Ost eine Aufgabe, die uns
alle angeht, nicht nur Chefsache, nicht nur Herzenssache,
sondern unser aller Sache.
({30})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Gregor Gysi, PDS-Fraktion
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir führen heute eine Debatte um
ein wahrhaft welthistorisches Ereignis. Ich finde, wir
Deutschen sind schon ein merkwürdiges Volk: Wir bekommen es tatsächlich fertig, uns aus diesem Anlass Zitate um die Ohren zu hauen und den Etat der deutschen
Botschaften im Ausland zu diskutieren. Das sagt vielleicht auch ein bisschen über unseren Zustand aus.
({0})
Das für mich wichtigste Ereignis bei der Wiederherstellung der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 wurde
heute noch nicht genannt: 40 Jahre lang bestand die reale
Gefahr, dass der Kalte Krieg zwischen den Blöcken zum
schrecklichsten Krieg der Weltgeschichte und zur Vernichtung der Bevölkerung in beiden deutschen Staaten
hätte führen können. Mit dem 3. Oktober 1990 war diese
Gefahr gebannt.
Letztlich war das der Besonnenheit von Politikern auf
beiden Seiten zu verdanken. Ich verstehe deshalb nicht die
Angriffe aus den Reihen der CDU/CSU gegen Politiker
der SPD und anderer Parteien sowie auch gegen den Bundeskanzler, wenn es um Äußerungen aus den Jahren
1989/90 geht, in denen auf Gefahren hingewiesen wurde.
({1})
In dieser Zeit konnte doch niemand mit Sicherheit abschätzen, welche Politik Gorbatschow durchsetzen kann
und ob die Sowjetunion wirklich auf ihre Einflusssphären
verzichtet. Gerhard Schröders diesbezügliche Aussagen
Werner Schulz ({2})
waren deshalb auch Ausdruck von Verantwortungsbewusstsein und nicht von mangelndem Einheitswillen.
({3})
Wenn ich den Friedensgedanken so hervorhebe, dann
muss ich andererseits betonen: Die Beendigung des
Gleichgewichtes des Schreckens hat zwar die Gefahren
des ganz großen Krieges gebannt, Kriege in begrenzterem
Umfang aber auf neue Art ermöglicht, und das, wie wir im
letzten Jahr erlebten, auch unter Beteiligung Deutschlands. Ich denke, meine Fraktion hat sich aus sehr guten
und nachvollziehbaren Gründen konsequent gegen diesen
Krieg gestellt.
({4})
Der 3. Oktober 1990 hat durch die Beendigung der
Systemauseinandersetzung auch dazu geführt, dass der
europäische Integrationsprozess eine andere Dimension und ein anderes Tempo angenommen hat. Erstmalig
besteht die Chance, auch Osteuropa in diesen Prozess einzubeziehen. Es wäre gefährlich, wenn irgendjemand in
diesem Hause oder außerhalb dieses Hauses versuchte,
antislawische Vorbehalte zu nutzen oder zu schüren, um
den europäischen Integrationsprozess zu beschränken.
({5})
Ich bin sicher, meine Damen und Herren von der
Union: Diesbezüglich hat der Altkanzler Helmut Kohl immer so gedacht. Er hat die deutsche und die europäische
Vereinigung immer als Einheit gesehen. Dasselbe gilt für
Wolfgang Schäuble. Daran sollten Sie sich bei den entsprechenden Verhandlungen erinnern.
({6})
Zumindest heute und hier ist es eher müßig, darüber zu
streiten, wer sich mit welcher Aussage vor und nach der
Einheit geirrt hat. Tatsache ist, dass die ökonomischen
Strukturen der DDR, insbesondere die Industriestrukturen nach der Einheit, fast völlig zusammenbrachen. Die
am häufigsten wiederholte Erklärung dafür lautet, die
Produktivität sei so extrem niedrig gewesen, dass diese
wirtschaftlichen Strukturen nicht zu retten gewesen
wären. Die Argumentation ist durch einen Umstand allerdings nicht ganz schlüssig: In der Landwirtschaft der
DDR war die Produktivität nicht niedriger als in der alten
Bundesrepublik. Dennoch sind auch dort Unternehmen
massenhaft geschlossen und zwei Drittel der Arbeitsplätze abgebaut worden.
({7})
Die Treuhandanstalt ist willkürlich verfahren. Das eine
Unternehmen bekam nichts und wurde sofort ins Aus geschickt, während ein anderes wiederum sehr umfangreich
subventioniert wurde. Die Maßstäbe blieben eher unklar.
Mit dem enormen Verlust von Arbeitsplätzen waren
und sind nicht nur soziale Probleme verbunden - es ging
nicht nur massenhaft so genanntes Humankapital verloren -, sondern auch eine Vielzahl mentaler Probleme, die
bis heute bestehen. Während sich viele von den Langzeitarbeitslosen in der früheren DDR gebraucht fühlten, haben sie heute das Gefühl, überflüssig zu sein. Das löst einen Verlust von Selbstwertgefühl aus und führt zu Frust,
nicht nur gegenüber der Gesellschaft, sondern auch bis in
die Familien hinein. Die Frauen wurden am konsequentesten aus dem Arbeitsprozess gedrängt. Sie werden oft
als die eigentlichen Verliererinnen der Einheit bezeichnet.
Aber das ist natürlich nur die eine Seite der Medaille.
Man muss vor allem die gewonnenen Freiheiten und
Rechte sowie das völlig neue Angebot an Waren und
Dienstleistungen hervorheben. Die wirtschaftlichen Entwicklungen sind enorm, insbesondere durch die Sanierung von Millionen Wohnungen, die Rekonstruktion vieler Stadtzentren und eine ungeheure Entwicklung der
Telekommunikation, des Straßenbaus und anderer Bereiche.
So finden sich im Osten nur wenige, die über die Entwicklung nach der Einheit ein eindeutiges und klares Urteil fällen. Ein Aber in der einen oder anderen Richtung
werden Sie fast immer antreffen.
Nicht zu unterschätzen waren von Anfang an mentale
Verhaltensweisen und Bewertungen. Wer die DDR komplett delegitimiert sehen wollte, der delegitimierte irgendwie immer auch deren Bevölkerung - ob er das wollte
oder nicht. Die Ostdeutschen mussten das Gefühl bekommen, 40 Jahre lang irgendwie falsch produziert, falsch gelebt, falsch gedacht, falsch gefühlt und falsch geliebt zu
haben.
Mit dieser Delegitimierung war von Anfang an verbunden, die westdeutschen Strukturen kaum infrage zu
stellen. Es war wichtig und richtig, alles Undemokratische, Autoritäre, Diktatorische, Antiökologische und ökonomisch Ineffiziente aus der DDR zu überwinden. Menschen, denen Unrecht geschehen war, musste, so weit es
ging, Wiedergutmachung zuteil werden. Das gilt für viele
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, für Christdemokratinnen und Christdemokraten, für Liberale, auch
für nicht wenige Sozialistinnen und Sozialisten, für nicht
wenige Kommunistinnen und Kommunisten und für viele
andere, die sich politisch so nicht einordnen lassen.
Es wäre für die Ost- und die Westdeutschen aber richtig und wichtig gewesen, sich bestimmte Dinge aus der
DDR genauer anzusehen. In diesem Zusammenhang
wurde oft über die Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch, über die flächendeckende Versorgung mit
Kindertagesstätten und schulischen Horteinrichtungen,
über die ökologisch sinnvolle Sekundärrohstofferfassung
und -verwendung, über die zwölf Klassenstufen bis zum
Abitur, über die Vorzüge bei der Berufsausbildung, bei der
Ausbildung von Fachärztinnen und Fachärzten und über
Polikliniken gesprochen. Letztlich ist nichts davon übernommen worden. Erst heute wird wieder darüber diskutiert, das eine oder andere zu revitalisieren.
Dabei geht es mir viel weniger um das einzelne Moment, sondern mehr um das damit verbundene Erlebnis:
Was hätte es für das Selbstvertrauen der Ostdeutschen
bedeutet, wenn von den Verantwortlichen in der Politik
akzeptiert worden wäre, dass sie in einzelnen Bereichen
Lösungen gefunden hatten, die über jene in der alten
Bundesrepublik hinausgehen?
({8})
Vor allem aber ist zu fragen: Wie anders wäre die Einheit
von den Westdeutschen akzeptiert worden, wenn sie unmittelbar erlebt hätten, dass sich durch die Übernahme
solcher Problemlösungen ihr Leben positiv verändert
hätte? Damit hätte verhindert werden können, dass die
Westdeutschen den Eindruck gewannen, das Hinzukommen des Ostens habe den meisten von ihnen nichts als
Kosten gebracht. Durch solche Übernahmen wäre mehr
das Bild einer Vereinigung und weniger das Bild eines
Beitritts entstanden. Das wäre umso wichtiger gewesen,
als der Ersatz des sozialen Wettbewerbs der Systeme
durch den Standortwettbewerb frühere soziale Sicherungen gerade für die Westdeutschen in Frage stellten.
({9})
Durch solche Übernahmen hätten wir also mehr erreichen
können.
Am wenigsten habe ich allerdings verstanden, weshalb
der Beitritt so wenig dazu genutzt wurde, verkrustete
Strukturen im Westen zu überwinden.
({10})
Ich will mich auf ein einziges Beispiel konzentrieren: Seit
Jahren beklagen fast alle hier im Hause das ausufernde
Heer der Beamten. Die DDR kannte keine Beamten.
({11})
- Sie kannten den Status nicht, Herr Schulz. - Dies wäre
die Chance gewesen, den Status auf den hoheitlichen
Kernbereich des Staates zu reduzieren, ihn in der ehemaligen DDR nur insoweit einzuführen und ihn in Westdeutschland in anderen Bereichen schrittweise abzubauen. Wozu muss denn jede Lehrerin und jeder
Hochschullehrer verbeamtet sein? Das konnte mir bislang
noch niemand erklären.
({12})
Aber nein, das ganze ausufernde, verkrustete System
musste auch im Osten eingeführt werden. Dadurch kam
die PDS selbst in die Bredouille: Einerseits wollten wir
das nicht, andererseits konnten wir aber nicht zulassen,
dass diejenigen nicht verbeamtet werden, die im Westen
das Recht darauf gehabt hätten. Das war eine Frage von
Chancengleichheit und Gleichberechtigung.
Ich weiß, dass die de-Maizière-Regierung die alte Bundesregierung darum gebeten hat, den Beamtenstatus,
wenn sie ihn schon einführen wollte, für die Betroffenen
wenigstens gleich einzuführen und eine Klausel aufzunehmen, wonach Einzelne daraus wieder entlassen werden können, wenn sich später herausstellen sollte, dass
Umstände in ihrer Person sie dafür ungeeignet erscheinen
lassen. Das hätte nämlich bedeutet, zunächst einmal allen
zu vertrauen und dann bei Einzelnen zu sagen, man habe
sich geirrt. Sie aber sind den umgekehrten Weg gegangen,
haben die Betroffenen drei Jahre lang nicht verbeamtet,
um erst einmal alle zu überprüfen und dann im Einzelfall
zu entscheiden, wer Beamter werden kann. Das bedeutete,
einen Generalverdacht auszusprechen. Das ist etwas, was
die Einheit auch geprägt hat.
({13})
Vielleicht gab es auch im DDR-Sport mehr als nur Doping. Ich sehe mit Vergnügen, dass französische Ruderteams plötzlich Medaillen gewinnen. Das war früher nicht
der Fall; es war nicht ihre Sportart. Nun hörte ich wie der
Sportreporter erklärt, die Mannschaft werde inzwischen
vom ehemaligen Cheftrainer der DDR für Rudern betreut.
Soviel ich weiß, ist gegen diesen Mann nie ein Vorwurf
erhoben worden. Ist es völlig falsch zu glauben, dass es so
sein könnte, dass die westdeutsche Trainerriege ihn erst
gar nicht in ihre Nähe kommen lassen wollte, damit er ihnen nicht etwas wegnimmt?
({14})
War es wirklich unmöglich, diesen Mann einzusetzen?
Ich denke, er hat seinen Job gefunden; die französischen
Teams sind zufrieden.
Das alles sagt aber etwas aus: Der Westen hatte genügend eigene Eliten. Er brauchte die aus dem Osten nicht.
Deren Ablösung wurde aber für die Ostdeutschen zu einem Identitätsproblem und hat die Umstrukturierungen
erschwert.
({15})
Die linken und rechten Eliten in Westdeutschland waren
über Jahrzehnte tief gespalten. Sie vereinigten sich aber
bei der Ablösung der ostdeutschen, denn sowohl der linke
Altachtundsechziger als auch der Konservative erhielten
ihre Professur im Osten.
({16})
Zur Gleichwertigkeit, auch zum Empfinden eigener
Gleichwertigkeit gehört nun einmal, dass man für gleiche
Arbeit auch den gleichen Lohn erhält. Nach wie vor sind
hier die Unterschiede erheblich. Das hat viele Konsequenzen: Es bedeutet im Falle von Arbeitslosigkeit geringere Arbeitslosenunterstützung, geringere Arbeitslosenhilfe und im Alter eine geringere Rente. Das werden die
heute Zwanzigjährigen noch in 45 Jahren spüren, wenn
sie ihren Rentenbescheid bekommen. Dieser spiegelt
dann wider, dass sie Ossis waren, denn sie bekommen für
bestimmte Beitragszeiten geringere Renten. Da sie ja
nicht nur ein Jahr, sondern 20 Jahre lang Rentnerinnen und Rentner sein werden, bekommen sie das auch
in 65 Jahren noch mitgeteilt.
({17})
Insofern, Herr Bundeskanzler, ist doch unsere Forderung
nicht unberechtigt, wenigstens einen verbindlichen Fahrplan vorzulegen, aus dem sich ergibt, in welchen Schritten und in welchen Fristen die Angleichung erfolgen soll,
und damit eine Perspektive zu geben.
({18})
Wir hätten dann auch Auskunft darüber, welches der erste
Jahrgang sein wird, der nicht mehr dadurch benachteiligt
sein wird, dass er in Ostdeutschland geboren ist.
({19})
Ich verstehe auch nicht, warum nicht in einem einzigen
Punkt, wenn man ein neues Rentenreformkonzept vorlegt, darauf eingegangen wird, in welchen Fristen die
Renteneckwertpunkte Ost denen im Westen angeglichen
werden sollen. Das gehört doch zu einem solchen Reformprojekt.
({20})
Unabhängig von solchen Fragen mache ich mir aber
keine Illusionen: Meine Generation wird die innere Einheit Deutschlands ebenso wenig wie die europäische Integration vollenden können. Wir konnten Türen aufstoßen, aber es wird letztlich die nächste Generation sein,
die solche Prozesse vielleicht auch deshalb anders abschließen kann, weil sie nicht mehr mit den Vorurteilen
meiner Generation behaftet ist. So sehr wir uns mühen
und so sehr auch ich selbst mich bemüht habe: Es fällt
schwer, sich von einmal erworbenen Vorurteilen gänzlich
zu verabschieden. Wir haben aber darauf zu achten, dass
wir wenigstens nichts unternehmen, was es der nachfolgenden Generation unmöglich macht, die Aufgaben zu lösen, die wir nicht mehr gänzlich packen werden.
Um nicht missverstanden zu werden: Ich will keinen
Konsens zwischen allen. Der ist weder möglich noch erstrebenswert. Wir brauchen die politische Auseinandersetzung, auch die streitige. Es muss legitim sein und bleiben, für einen demokratischen Sozialismus zu streiten.
Aber die Auseinandersetzungen müssen auf einer höheren
Ebene politischer Kultur erfolgen, auf der Ebene der Akzeptanz und des Respekts des Gegenübers.
({21})
Einen Wunsch habe ich, obwohl es im Augenblick gar
nicht so aussieht, dass der nächsten Generation gelingen
sollte, was uns nicht gelungen ist und zu Katastrophen im
20. Jahrhundert geführt hat: Es geht mir um die Überwindung der Ausläufer des Mittelalters, das heißt des Rassismus, des Antisemitismus, der Fremdenfeindlichkeit und
des Nationalismus. Sie haben mit Zukunft, wie ich sie
verstehe, nichts zu tun.
({22})
Da ich heute das letzte Mal zu Ihnen als Fraktionsvorsitzender spreche, gestatten Sie mir wenige abschließende
Sätze: Nicht wenige von Ihnen haben es mir in den vergangenen zehn Jahren schwer gemacht. Ich kann nur hoffen, dass ich es Ihnen auch nicht immer leicht gemacht
habe.
({23})
Ich wusste, welche Art Stellvertreterrolle ich hier zuweilen zu spielen hatte und dass ich dadurch eine bestimmte
Form der Auseinandersetzung auf mich ziehen musste.
Ich räume ein: Manches ging mir zu weit, war höchstpersönlich, verletzend und wohl auch so gemeint. Ich hoffe,
dass Sie mir nachsagen können, in der Auseinandersetzung zwar hart, aber nie persönlich oder verletzend reagiert zu haben.
Mein besonderer Dank gilt meiner eigenen Fraktion,
die es auch nicht nur leicht mit mir hatte, die sich aber immer solidarisch mir gegenüber verhielt. Er gilt all jenen
Kolleginnen und Kollegen in allen anderen Fraktionen,
die das Gebot der Fairness mir gegenüber nie verletzten.
Ich wünsche mir einfach Normalität, eine neue Form politischer Kultur und des Dialogs zwischen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, demokratischen Sozialistinnen und demokratischen Sozialisten, aber auch
zwischen Linken und Konservativen; sie sollten sich gegenseitig als Herausforderung begreifen und sich nicht jeweils gegenseitig wegwünschen. Vor diesem Hintergrund
ist es selbstverständlich, dass ich Ihnen allen - nicht floskelhaft, sondern aufrichtig - Gesundheit, persönliches
Glück und Wohlergehen wünsche. Ich möchte mich auch
dafür bedanken, dass ich in den letzten zehn Jahren zumindest mehr Freiheit leben konnte und mehr gelernt
habe als in vielen früheren Jahrzehnten meines Lebens.
Danke schön.
({24})
Ich gebe nunmehr
dem Kollegen Markus Meckel für die SPD-Fraktion das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Kolleginnen und Kollegen! Nach zehn Jahren deutscher
Einheit haben wir ein wichtiges Stück geschafft. Aber es
ist uns allen klar und auch schon gesagt worden, dass wir
noch große Herausforderungen vor uns haben.
Das Glas ist halb voll, sagen manche; andere sagen, es
ist halb leer. Es kommt jeweils auf die Perspektive, also
darauf an, ob wir nach Osten oder nach Westen sehen.
Wenn wir unsere östlichen Nachbarn ansehen, müssen wir
mit Bewunderung feststellen, was bei uns alles schon
möglich war. Bei einem Blick nach Westen ist klar, dass
es nach wie vor Ungleichheiten und auch Ungerechtigkeiten gibt, die noch eine Weile Bestand haben werden.
Es wird auch in Zukunft schwierig sein, diese Herausforderungen und Aufgaben wirklich zu bewältigen. Herr
Stoiber, Sie werden im Anschluss Gelegenheit haben, zu
erklären, dass sich eine gesamtdeutsche Solidarität auch
auf den künftigen Länderfinanzausgleich entsprechend
auswirken wird,
({0})
dass der Länderfinanzausgleich auch in Zukunft bestehen
bleiben wird. Auch Sie selbst haben als Bayer lange davon profitiert. Wir hoffen, einen Weg zu gehen, wie ihn
Bayern in den letzten Jahrzehnten hat gehen können; nicht
von der politischen Richtung, aber von der Entwicklung
der Wirtschaft und der Menschen her.
Viele Menschen in Ostdeutschland feiern diesen Tag
nicht. Ich bedaure das sehr, denn ich glaube, wir dürfen
uns den Blick auf diese große Sternstunde, die wir vor
zehn Jahren miteinander erleben durften, nicht von den
Schwierigkeiten der deutschen Einheit verstellen lassen.
Was wären die Alternativen zu den Schwierigkeiten gewesen, die wir gehabt hätten, wenn dies alles vor zehn
Jahren nicht passiert wäre? Ich wage nicht daran zu denken und bin heilfroh, dass wir eben nicht mehr in einem
geteilten Deutschland, in dem die Nuklearwaffen gegeneinander gerichtet sind, sondern in einem vereinten
Deutschland in der Mitte Europas leben, fest verankert in
der Europäischen Union und der NATO, zu der jetzt - darüber bin ich auch sehr froh - auch unsere östlichen Nachbarn gehören: die Polen, die Tschechen und die Ungarn.
Und es sollen, wie ich hoffe, bald noch mehr werden;
nicht nur in der Europäischen Union, sondern auch in der
NATO.
({1})
Vor zehn Jahren tat sich die Chance der Vereinigung
auf. Da gab es manche Befürchtungen bei unseren
Nachbarn, was aus diesem großen Deutschland in der
Mitte Europas werden könnte. Wir sind froh darüber, dass
wir heute feststellen können, dass diese Ängste verschwunden sind, weil dieses vereinte Deutschland - genauso wie die alte Bundesrepublik vorher - Vertrauen bei
allen Nachbarn im Osten und im Westen gewonnen hat.
({2})
Ich halte es für wichtig, dass dies für die neue Bundesregierung genauso gilt wie für die alte. Ich meine, dass jede
Art der Disqualifizierung der deutschen Regierung, wer
auch immer regiert, uns allen nur schaden kann, wenn wir
uns die Entwicklung in Europa ansehen.
({3})
Deutschland ist heute ein verlässlicher Partner, versöhnt mit seinen Nachbarn, in anerkannten Grenzen. Ich
denke noch daran, Herr Kohl, wie wir damals, vor zehn
Jahren, über die Frage der Grenze gestritten haben. Manches fand ich damals unerfreulich. Heute ist dies alles
glücklicherweise Geschichte.
Deutschland - Motor der europäischen Integration,
engagierter Befürworter einer zügigen Erweiterung der
Europäischen Union. Der Kanzler hat vorhin die Interessenlage deutlich gemacht. Herr Kinkel hat von der historischen Verantwortung gesprochen, die wir in dieser
Frage haben. Wie glücklich können wir sein, dass für uns
Deutsche in diesem Prozess beides zusammenfällt: die
historische Verantwortung, aber auch unser eigenes ökonomisches Wohlfahrtsinteresse als Deutsche. Wir haben
allen Grund und Anlass zum Feiern. Gleichzeitig erleben
wir unsere eigene Unfähigkeit, nicht nur - wie früher gesagt wurde - zu trauern, sondern auch gemeinsam in angemessener Weise zu feiern.
Die meisten unter uns haben ja wohl nicht daran geglaubt, dies jemals erleben zu können. Ich jedenfalls bekenne, dass ich zu denen gehört habe. Trotzdem habe ich
es mir immer gewünscht. Es muss deutlich unterschieden
werden, ob man die deutsche Einheit wollte oder ob man
sie konkret für möglich hielt und wenn ja, zu welchem
Preis.
({4})
Wir dürfen die Situation vor 1989 nicht vergessen. Ich
habe schon von der besonderen Situation Deutschlands
gesprochen, die sich durch die Stationierung der Nuklearwaffen ergeben hat. Angela Merkel, Sie müssten es wirklich wissen: Frieden war die zentrale Voraussetzung
dafür, damit etwas für Freiheit und Demokratie getan
werden konnte.
({5})
Das war ein ganz wichtiger Aspekt, den wir in der Friedensbewegung der DDR immer beherzigt haben. Der
Frieden war die Voraussetzung dafür, dass das Streben
nach Freiheit im Herbst 1989 zum Erfolg führte.
({6})
Dazu gehört natürlich auch die Politik der kleinen
Schritte, die den Zusammenhalt von Ost und West ermöglichte. Mit einer Politik der reinen Konfrontation
wäre das nicht möglich gewesen. Die Adenauer‘sche Politik ist deswegen zu Ende gegangen, weil eine reine Konfrontationspolitik Ende der 60er-Jahre nicht mehr möglich war. Die Ostpolitik und der KSZE-Prozess, der in
diesem Jahr 25 Jahre alt geworden ist, haben neue Dimensionen eröffnet, Menschen zusammengeführt und
den Dissidenten- und Menschenrechtsgruppen sowie den
Oppositionsbewegungen im Osten neue Möglichkeiten
geschaffen. All dies waren wesentliche Stationen auf dem
Weg zur deutschen Einheit, die wir vor zehn Jahren miteinander feiern konnten.
Ich muss gestehen, dass die Selbstgerechtigkeit, von
der schon die Rede war und mit der wir heute leider wieder konfrontiert worden sind, für mich ihresgleichen
sucht.
({7})
Geschichtsklitterung ist es eben auch, wenn man nur die
halbe Wahrheit sagt oder wenn man Akten vernichtet. Wir
haben in der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages versucht, auf diese Fragen eben nicht nur die
halbe Wahrheit zu sagen. Wir haben auch keine Akten vernichtet. Joachim Gauck ist schon mehrfach angesprochen
worden. Marianne Birthler wird diese Akten weiterverwalten. Es ist wichtig, dass wir mit unserer Tradition in
angemessener Weise, aber auch offen umgehen. Ich kann
die entsprechende Seite dieses Hauses nur aufrufen, dazu
auch in Zukunft wieder beizutragen.
({8})
Ich habe einmal gedacht, dass das Geschichtsministerium
à la Orwell nur eine Erscheinung sei, die es in kommunistischen Staaten gibt. Leider muss ich mich jetzt eines Besseren belehren lassen.
Ich könnte Ihnen viel aus der Zeit berichten, in der
die Sozialdemokratie in Ost und West - damals noch
getrennt - in Fragen der deutschen Einheit zusammengearbeitet hat. Ich möchte neben vielen Persönlichkeiten,
die schon genannt worden sind - angefangen bei Willy
Brandt bis hin zu Hans-Jochen Vogel -, Erhard Eppler erwähnen, der eine beachtenswerte Rede am 17. Juni 1989,
also vor dem Mauerfall, gehalten hat. Ich möchte ebenfalls unsere frühere Kollegin Matthäus-Maier nennen, die
als erste die Währungsunion vorgeschlagen hat. All das
waren wichtige Stationen auf dem Weg zur deutschen
Einheit.
Historische Irrtümer gab es viele, zu allen Phasen, in
jeder Partei und in jeder politischen Biografie. Wir sollten
uns dazu bekennen. Ich möchte daran erinnern, dass wir
ostdeutsche Sozialdemokraten ziemlich sauer gewesen
wären, Herr Kohl, wenn wir damals gewusst hätten, dass
Sie Herrn Krenz, nachdem er Staatsratsvorsitzender geworden war, am Telefon gesagt haben, Sie würden nichts
tun, um seine Position zu destabilisieren. Unsere Position
in jener Phase war klar. Wir haben gesagt: Dieser Mann
muss weg, weil er illegitim an die Macht gekommen ist.
Wir brauchen freie Wahlen.
({9})
Herr Kohl, niemand in diesem Hause bestreitet, dass
Sie große Verdienste um die deutsche Einheit haben. Aber
ich muss sagen, dass Sie eines nicht gemacht haben: Sie
haben nicht die Weichen gestellt. Sie haben andere sehr
große Verdienste. Ich sehe ein großes Verdienst insbesondere darin, wie Sie die deutsche Einheit in die europäischen Strukturen integriert haben. Hier war - Sie haben
in den letzten Tagen selbst darauf hingewiesen - Jacques
Delors ein ganz wichtiger Partner in Europa. Dies war ein
Meisterstück. Dafür sind wir Ihnen zu Dank verpflichtet.
Ebenso spielte Ihr Vertrauensverhältnis zu George Bush
und Gorbatschow eine wesentliche Rolle.
Obwohl ich dies klar und deutlich anerkenne, muss ich
aber doch sagen: Jeder Kanzler der Bundesrepublik
Deutschland seit 1949 - jeder mit seinen Stärken und jeweils konkreten Schwächen -, der diese Chance gehabt
hätte, hätte sie mit Freude ergriffen. Denn dies wäre seine
Verantwortung gewesen. Sie haben sie wahrgenommen.
Jeder andere hätte dies auch getan.
({10})
Gleichzeitig haben Sie aber manchen Schatten auf die
deutsche Einheit geworfen. Ich erinnere daran, dass Sie
noch nicht einmal Ihren eigenen Koalitionspartner über
Ihren ersten Zehn-Punkte-Plan informiert haben. Sie haben die Gestaltung der deutschen Einheit ganz klar unter
ein wahltaktisches Kalkül gestellt. Dies hat den Prozess
selber in ganz klarer Weise beschädigt. Statt deutlich zu
machen, dass Transformation und Vereinigung kein
Zuckerschlecken sein werden, sondern dass vielmehr
auch Lasten zu tragen und zu teilen sein werden, versprachen Sie mit der schnellen Einheit den schnellen Wohlstand. Ihnen war ein sicherer Wahlsieg wichtiger als eine
die Schwierigkeiten ernst nehmende Organisation der
deutschen Einheit.
({11})
Dies hatte in den Jahren danach wirklich schwere Folgen. Das dürfen wir nicht vergessen. Wenn Machterhalt
über Gesetzestreue steht - auch diese Erfahrung machen
wir jetzt -, dann ist dies eine schwere Belastung für das
Demokratieverständnis vieler Bürger nicht nur im Osten,
sondern auch im Westen. Ich glaube, dass dies eine ganz
wichtige Frage ist. Gestern haben wir über Rechtsradikalismus diskutiert und sind zu dem Ergebnis gekommen,
dass wir das Vertrauen in die Demokratie stärken müssen.
Hier gibt es leider einen Schatten, der so schnell wie möglich beseitigt werden sollte.
({12})
Die Art und Weise, wie wir die Ereignisse von vor zehn
Jahren heute feiern und begehen, ruft in vielen Menschen
in Ostdeutschland das Gefühl der Enteignung ihrer eigenen Geschichte hervor. Werner Schulz hat schon davon
gesprochen, als wir den 9. November gefeiert haben. Sie
wissen: Ich bin - wie Herr Nooke, Herr Schulz und Frau
Pieper - ein vehementer Befürworter eines Freiheitsund Einheitsdenkmals. Aber ich muss gestehen: Ich
halte es in der augenblicklichen Situation für kaum machbar, zu einer vernünftigen Lösung zu kommen. Hier müssen wir noch einmal genau nachdenken. Denn eines muss
doch ganz deutlich sein: Nur wenn wir dies in einem breiten Konsens hinbekommen, der die verschiedenen Leistungen anerkennt und fähig ist, gemeinsame Linien zu
ziehen, werden wir fähig sein, dem entsprechend Gestalt
zu geben.
({13})
In der öffentlichen Debatte sieht es oft so aus, als wären
die Ostdeutschen mutig auf die Straßen gegangen, hätten
ein Schild hochgehalten - zuerst mit der Aufschrift: „Wir
sind das Volk!“, dann mit der Aufschrift „Wir sind ein
Volk!“ - und dann sei die Mauer gefallen. Daraufhin sei
Helmut Kohl gekommen und hätte uns alle in die deutsche
Einheit gerettet. Aber dies war mitnichten so. Denn eines
muss deutlich sein: Auch im Osten Deutschlands gab es
politisches Handeln, das nicht nur darin bestand, auf die
Straße zu gehen. Vielmehr stand im Herbst 1989 viel konkretes und konzeptionelles politisches Handeln im Hintergrund: Honecker ist gestürzt worden. Auf dem Weg
über den Runden Tisch haben wir uns dann zu einer parlamentarischen Demokratie entwickelt. Die Demokratie
in der DDR war die Voraussetzung für die deutsche Einheit. Niemand außer den Ostdeutschen selbst konnte sie
herstellen.
({14})
Die beiden Regierungen handelten die notwendigen
Verträge aus und nahmen an den Zwei-plus-Vier-Gesprächen teil. Gestern waren wir mit den Außenministern
zusammen. Wir müssen ihnen und den beteiligten Ländern noch einmal den herzlichen Dank sagen, der heute
hier schon ausgesprochen worden ist. Die Entscheidung
zur deutschen Einheit hat das frei gewählte ostdeutsche
Parlament, die Volkskammer, getroffen. Dort sind die entsprechenden Weichen gestellt und die Konsequenzen aus
dem, was im Herbst 1989 begonnen hat, gezogen worden.
Selbstbestimmt und selbstbewusst sind wir damals in die
deutsche Einheit gegangen, nicht etwa - trotz aller wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die es gab und für die wir
im Nachhinein dankbar sind - wie ein fauler Sack bzw.
wie ein fauler Apfel als Rest eines abgewirtschafteten
Teilstaates.
Weil dieser Prozess so vielfältig war und wir diesen
Weg gegangen sind, können wir heute hier im Zentrum
Berlins zu dieser Stunde tagen, und zwar an einem Ort, an
dem früher Menschen in der geteilten Stadt starben. Dafür
sollten wir dankbar sein und versuchen, differenzierter
und dann auch gemeinsam über diese Geschichte zu reden.
Ich danke Ihnen.
({15})
Das Wort hat nunmehr der Ministerpräsident des Freistaates Bayern,
Dr. Edmund Stoiber.
Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident ({0})
({1}):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Zehn Jahre staatliche Einheit: Damit verbinden wir
Deutschen zunächst die Erinnerung - vielleicht unterschiedliche - an ergreifende und bewegende Momente in
den Jahren 1989 und 1990.
Hier in Berlin war das Gemeinschaftsgefühl in der
deutschen Nation am unmittelbarsten zu spüren. Wer die
Öffnung der Mauer oder die bewegenden Friedensgebete
in der Nikolaikirche zu Leipzig oder Kundgebungen auf
dem heutigen Augustusplatz miterlebt hat, dem werden
diese Ereignisse Zeit seines Lebens im Gedächtnis und in
der Seele eingeprägt sein. Ich werde meine persönlichen
Begegnungen damals in Leipzig und Dresden nicht vergessen.
Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde eine
schreckliche und blutige Wunde im Herzen Europas geschlossen. Die Opfer der Teilung Deutschlands, die Opfer
von Mauer und Stacheldraht bleiben unvergessen. Sie
wollten von Deutschland nach Deutschland und haben
dafür mit ihrem Leben bezahlt. Deutsche Schicksale wie
die von Peter Fechter bis Chris Gueffroy bleiben Mahnung gegen Diktatur und Teilung, und sie bleiben Mahnung für die Freiheit und die Einheit Deutschlands.
Ohne Zweifel: In der Aufbruchstimmung der Jahre
1989/90 haben wir im Westen Dauer und Größe der Aufgabe des Einigungsprozesses zunächst unterschätzt. Ich
möchte das jedenfalls für mich sagen. Auch haben wir erst
lernen müssen, wie unterschiedlich die Biografien und
Prägungen in Ost und West verlaufen sind.
Dennoch meine ich: Die große Mehrheit der Menschen
zwischen Rhein und Oder, zwischen Ostsee und Alpen
blickt auf die letzten zehn Jahre insgesamt dankbar
zurück. Alle Erfahrungen und Umfragen in den letzten
Wochen zeigen, dass das Empfinden, ein Volk zu sein,
heute bei der großen Mehrheit der Deutschen tief verankert ist. Wenn wir auf das 20. Jahrhundert mit seinen
Kriegen und schlimmen Verbrechen und Vertreibungen
zurückblicken, wissen wir: Die letzten zehn Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren die besten zehn Jahre, die
unser Vaterland im 20. Jahrhundert erlebt hat.
({2})
Die große Mehrheit der Deutschen weiß auch: Die Einheit war keine Selbstverständlichkeit; die Einheit war
kein historischer Selbstläufer. Der zeitlich so kurze Weg
vom Sommer 1989 bis zum 3. Oktober 1990 war politisch
ein sehr weiter und ein sehr schwieriger Weg. Dass dieser
Weg letztlich zur Einheit führte, war und bleibt vor allem
das historische Verdienst von Helmut Kohl, aber auch
von Hans-Dietrich Genscher, Theo Waigel und Wolfgang
Schäuble.
({3})
Gemessen an vielen anderen Entwicklungen in unserem Land war diese Leistung, Herr Bundeskanzler, schon
weit mehr als dass sie nur „ihren Verpflichtungen sehr gut
gerecht geworden sind“, wie Sie es heute Morgen formuliert haben.
Ein Zweites: Wenn wir heute zehn Jahre deutsche Einheit feiern, dann hat die Darstellung der historischen
Wahrheit und der damals bestehenden unterschiedlichen
Auffassungen über die Frage der Wiedervereinigung
nichts mit parteipolitischer Ausbeutung zu tun.
Wenn Sie zu Recht auf die Verdienste hinweisen, die
Ihre Partei durch die klare Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes hat, wenn Sie auf Ihre Verdienste im Zusammenhang mit den Ostverträgen hinweisen, die damals
sehr umstritten waren, dann müssen Sie aber auch uns und
mir zugestehen, Sie in einer solchen Stunde an die Debatte von 1990 im Bundesrat über die Einführung der
D-Mark in den neuen Ländern zu erinnern, und dann
müssen Sie auch akzeptieren, dass man Ihnen heute vorhält, was Sie damals gesagt haben und dass Sie heute froh
sein können, dass andere Länder Ja gesagt haben und die
D-Mark eingeführt wurde.
({4})
Es war vor allen Dingen die politische Leistung der damaligen Bundesregierung, dass sie 1989/90 in Europa
vielerorts bestehende Besorgnisse und Ängste gegenüber
einem wiedervereinigten Deutschland, gegenüber einem
wiedervereinigten 80-Millionen-Volk der Deutschen in
der Mitte des Kontinents überwunden hat. Es gab viele
Vorbehalte. Ich habe noch das Wort „Pangermanismus“,
das aus dem Süden des Kontinents kam, im Ohr. Ich hatte
gar nicht erwartet, dass aus Rom solche Bedenken angemeldet wurden. Dass das alles gelungen ist, dies war ein
Meisterstück an politischer Weitsicht und diplomatischer
Feinarbeit.
Unvergessen ist aber auch - das muss man in dieser
Stunde sagen - der Einsatz von Freunden wie George
Bush und Gyula Horn sowie der Beitrag von Michail
Gorbatschow. Gerade unseren Freunden in den Vereinigten Staaten war es zu verdanken, dass das Ziel der Einheit
in Frieden und Freiheit erreicht werden konnte.
({5})
Auch die volle Mitgliedschaft von ganz Deutschland in
der NATO war alles andere als eine Selbstverständlichkeit.
({6})
Das gilt ebenso für den Abzug der Roten Armee mit
600 000 Mann in Frieden und Freundschaft.
Das gilt auch für die Leistung, die wir zwar hier vielleicht würdigen, die aber in der Bevölkerung viel zu wenig gewürdigt wird, aus zwei sich letztlich feindlich gegenüberstehenden Armeen in Deutschland eine Armee
geformt zu haben. Deswegen sollte man das in dieser
Stunde auch gegenüber unseren Soldaten zum Ausdruck
bringen.
({7})
Die Bilanz des Weges zur Einheit setzt voraus, dass
man sich mit aller Ernsthaftigkeit an die politischen Ausgangslagen in den späten 80er-Jahren erinnert. In der alten Bundesrepublik hatten sich viele innerlich und auch
politisch mit dem Status quo der Teilung abgefunden.
Nicht wenige auch in den politischen Eliten wurden aufgeschreckt durch die mutigen Rufe im Osten nach Demokratie: „Wir sind das Volk!“ Ich werde nie vergessen, wie
erschrocken viele waren, als plötzlich aus diesem „Wir
sind das Volk“! - der Ruf „Wir sind ein Volk!“ geworden
ist.
Viele Bürger im Westen hatten sich nach 40 Jahren Teilung in der alten Bundesrepublik Deutschland mit festem
Blick nach Westen und festem Blick nach Süden eingerichtet. Der Einheitsruf der Deutschen im Osten stieß bei
vielen im Westen nicht auf eine gleiche Bewusstseinslage
und freudige Resonanz.
Wir verdanken es standhaften Persönlichkeiten mit einem langen historischen Atem und der Kraft, gegen den
Strom des Zeitgeistes zu schwimmen, dass die deutsche
Frage offen gehalten werden konnte.
Sie werden Verständnis dafür haben, dass ich als
bayerischer Ministerpräsident und als CSU-Vorsitzender
in diesem Zusammenhang heute auch an meinen Vorgänger Franz Josef Strauß erinnere. Gegen massive Widerstände und gegen Diffamierungen im In- und Ausland
hat Franz Josef Strauß mit dem Gang vor das Bundesverfassungsgericht 1973 erreicht, dass für alle verbindlich festgeschrieben wurde - das war damals sehr, sehr
strittig -: Die Einheit bleibt verpflichtendes Ziel deutscher Politik. - Das ist der Kernsatz dieser Entscheidung
damals gewesen.
({8})
Dadurch wurde auch die Anerkennung zweier deutscher Staatsangehörigkeiten verhindert. Durch dieses unverrückbare Festhalten am Einheitsgebot des Grundgesetzes blieb die deutsche Frage für die Antwort in den Jahren 1989/1990 offen. Bayern und die CSU haben sich
auch in schwierigen Zeiten gegen Widerstände zur Einheit der Deutschen und zur nationalen Solidarität bekannt
und tun das auch in Zukunft.
Selbstverständlich brauchen wir einen Solidarpakt II
für den Aufbau Ost.
({9})
Die süddeutschen Länder brauchen von Ihnen, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, keinen Nachhilfeunterricht in
Sachen Solidarität.
({10})
Im Übrigen sollten Sie sich auch als Bundeskanzler des
Südens unseres Landes begreifen; denn Sie können froh
sein, dass es dort ein so hohes wirtschaftliches Wachstum
gibt, was für die Bundesrepublik Deutschland insgesamt
günstig ist.
({11})
Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt: Der jetzige Finanzausgleich ist verfassungswidrig. - Aber es
ging doch nicht darum, dass er wegen des Ost-West-Ausgleichs verfassungswidrig ist. Dieser steht doch außerhalb
der Debatte. Der Finanzausgleich ist nach dem Urteil des
Bundesverfassungsgerichts vielmehr deshalb verfassungswidrig, weil sich in den alten Ländern zu große Ungleichheiten entwickelt haben und falsche Kriterien die
starken Länder nach wie vor belasten.
({12})
Da Sie es aber in Ihrer Rede hier schon angesprochen
haben, darf ich dazu feststellen: Baden-Württemberg,
Hessen und Bayern
({13})
wollen gemeinsam mit der Bundesregierung und mit allen
anderen Ländern einen fairen, der Solidarität und der
Leistung verpflichteten neuen Finanzausgleich. Alle
Deutschen haben gemeinsam die Lasten der deutschen
Vergangenheit zu tragen; denn eines steht fest: Je östlicher
die Menschen im Deutschen Reich gelebt haben, desto
bitterer haben sie unter den Folgen des dunkelsten Abschnittes der deutschen Geschichte zu leiden gehabt und
zu leiden. Deswegen sage ich an dieser Stelle: Der Aufbau
Ost ist ein Aufbau für ganz Deutschland.
({14})
Deutschland war schon immer ein Land der Vielfalt
und der regionalen Unterschiede. Das ist keine Schwäche,
sondern eine wertvolle Stärke Deutschlands in Europa.
Die Erfahrung der Geschichte lehrt uns, dass Deutschland
mit föderaler Vielfalt immer gut gefahren ist. Zentralismus dagegen ist unserer Geschichte und Tradition nicht
gemäß. Gute Erfahrungen mit dem Zentralismus haben
wir auch im letzten Jahrhundert bestimmt nicht gemacht.
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({15})
Der föderale Charakter des deutschen Nationalstaates ist der Ausgangspunkt für die innere Einheit
Deutschlands; denn trotz des sozialistischen Zentralismus
in der DDR und nicht selten im Kampf gegen die SEDZwangsherrschaft haben die Deutschen in Thüringen, in
Sachsen, in Sachsen-Anhalt, in Brandenburg, in Berlin
und in Mecklenburg-Vorpommern ihre historisch gewachsene Identität bewahrt und in das wiedervereinigte
föderale Deutschland eingebracht. Das ist ein großer Gewinn für den Föderalismus in ganz Deutschland.
Von manchen wird immer noch mit zum Teil nostalgischem Unterton die Frage gestellt: Was blieb von der
DDR? Ich meine, die Frage ist falsch gestellt. Besser
sollte man fragen: Was hat 1989/1990 die DDR überlebt?
Eine Antwort lautet meines Erachtens: Das wertvollste
Erbe aus der Zeit der DDR sind der Mut, die Zivilcourage
und der Zusammenhalt vieler aufrechter Bürgerinnen und
Bürger.
Viele von ihnen haben die Kraft zum Widerstand auch
aus dem christlichen Glauben und aus der Kultur und Geschichte ihrer Heimatregionen geschöpft. In diesem Sinne
waren die ostdeutschen Länder niemals neue Länder, sondern sie waren und sind das, was sie im Bewusstsein der
Menschen immer waren: vitaler und alter Kernbestand
der deutschen Nation.
({16})
Ich war 1990 erstaunt, als ich als damaliger bayerischer
Innenminister bei den Demonstrationen in Dresden ein
Meer von schwarz-rot-goldenen Fahnen gesehen habe so viele wie bei keiner Veranstaltung in der alten Bundesrepublik. Aber nicht weniger hat mich berührt, dass viele
Menschen auch die weiß-grünen Farben Sachsens
schwenkten. Auch das waren Zeichen: Das Fundament
der nationalen Identität der Deutschen ist die föderale
Vielfalt und die regionale Heimat.
({17})
Diese Verwurzelung in der Region haben selbst 40 Jahre
SED-Regime nicht zerstören können. Föderalismus ist
der Beitrag Deutschlands für das Gleichgewicht Europas.
Was mit dem Fall der Mauer begonnen hat, das wird
mit der Osterweiterung der Europäische Union vollendet. Die Osterweiterung, die politisch entschieden ist,
muss im Interesse Deutschlands und im Interesse Europas
ein Erfolg werden.
({18})
Deshalb warne ich davor, die Sorgen und die Ängste der
Menschen einfach als unbegründet abzutun. Wir müssen
die Probleme einer unzureichend vorbereiteten Osterweiterung jetzt lösen und dann die Menschen von der Richtigkeit dieses Weges überzeugen.
({19})
Es bleibt dabei: Die 15 alten Länder der Europäischen
Union, die sich in der Agenda 2000 für die Jahre von 2000
bis 2006 noch einmal 668 Milliarden Euro zugebilligt haben, müssen mehr Solidarität leisten. 68 Milliarden Euro
für die Osterweiterung in den Jahren von 2000 bis 2006,
also 10 Prozent, sind zu wenig. Wer das hehre Ziel anspricht, muss auch bereit sein zu sagen: Es kostet noch ein
Stück mehr Solidarität, um diesen großen Erfolg zu erreichen. Daran mangelt es, meine sehr verehrten Damen und
Herren.
({20})
Wenn wir über die Gestaltung Europas nachdenken,
müssen wir uns als Deutsche auch fragen: Was bringt unsere Nation mit den Brüchen ihrer Geschichte, aber auch
mit den positiven Traditionen in Europa ein?
Für mich ist eine entscheidende Konsequenz aus unserer Geschichte, dass das zusammenwachsende und erweiterte Europa nur gelingen kann als ein Europa der Nationen und Regionen. Die Identifikation mit der Nation
ist eine europäische und atlantische Normalität. Dabei
können und wollen wir Deutsche unter unsere Geschichte
keinen Schlussstrich ziehen. Wir müssen nach wie vor zu
einem geläuterten Verhältnis zur Nation und zu einem aufgeklärten Patriotismus finden.
Das Wissen über Höhen und Tiefen unserer gemeinsamen Geschichte und ein ruhiges, gelassenes Selbstbewusstsein im Kreise unserer Nachbarn sind wichtig, damit unser Volk und unsere Jugend nicht wieder in
Irrwegen landen.
Nicht zuletzt deshalb ist ein vernünftiger Patriotismus
nötig, weil eine gefestigte nationale Identität unsere Gesellschaft widerstandsfähiger gegen die Gefahren des Extremismus macht - gegen die Gefahren des Extremismus
aus Ablehnung der Nation genauso wie gegen die Gefahren des Extremismus aus einem übersteigerten Nationalismus.
({21})
Die ernsthafte Bilanzierung von zehn Jahren Einheit
erfordert natürlich auch die ernsthafte Auseinandersetzung mit der historischen Wahrheit. Weil es in vielen Reden und Kommentaren durchgängig so klingt, als wäre die
deutsche Einheit so logisch gewesen, möchte ich zum
Schluss noch einmal betonen: Uns Deutschen ist die Einheit wahrlich nicht in den Schoß gefallen. Genau das wollen manche heute vergessen machen.
Ich wiederhole: Der Weg zur Einheit war keine Selbstverständlichkeit. Er musste unter Risiken und gegen Widerstände in einem schmalen historischen Zeitfenster gebahnt werden. Auch der Beitritt der DDR über Art. 23
des Grundgesetzes durch die Entscheidung der ersten frei
Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber ({22})
gewählten Volkskammer war ein höchst kontroverses
Thema,
({23})
aber der einzig richtige Weg.
({24})
Wer aber in der Vergangenheit das Ziel der Einheit aus welcher Motivation auch immer- als illusionär oder
gar als gefährlich bezeichnet hat, hat heute sicherlich kein
Recht, die Leistungen für die Einheit zu relativieren. Gerade nach Ihrer heutigen Rede, Herr Bundeskanzler, bin
ich sicher, dass Sie Ihre politische Einstellung aus den
Jahren 1989/90 und Ihre damaligen Äußerungen gegen
die Wiedervereinigung, die ich im Bundesrat selbst gehört
habe, heute bedauern. Die historische Wahrheit ist: Politiker, die noch im Herbst 1989 von Illusionen und Gefahren durch die Einheit sprachen, hätten die Tür zur Einheit
nicht so aufgestoßen. Sie hätten die historische Chance
zur Einheit damals nicht genutzt. Die Wiedervereinigung
war für viele nicht mehr politisches Programm und Herzensanliegen. Für die damals Verantwortlichen war sie ein
Herzensanliegen.
({25})
So richtig die Aussage ist, die heute mehrfach getroffen wurde, dass die deutsche Einheit keiner Partei allein
gehört - sie gehört Deutschland -, so richtig bleibt auch,
dass die CDU und die CSU damals die Motoren der Wiedervereinigung gegen manche Widerstände waren.
({26})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, heute können wir uns alle über zehn Jahre Einheit freuen. Zweifelsohne gibt es Probleme. Aber Deutschland ist auf einem guten Weg. Wir sollten gemeinsam um die besten
Wege und Lösungen für ganz Deutschland und seine Zukunft in Europa ringen.
Zehn Jahre nationale Einheit sind Anlass für Dank, Optimismus und Zuversicht. Wir haben allen Grund dazu.
Herzlichen Dank.
({27})
Das Wort hat der
Staatsminister beim Bundeskanzler Rolf Schwanitz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als wir heute
Morgen den Bundestag betraten, waren draußen viele
Pressevertreter unterwegs.
({0})
Mich haben Journalisten im Hinblick auf die heutige Debatte gefragt: Werden Sie es hinkriegen, diese Debatte
über zehn Jahre deutsche Einheit zu führen über das parteipolitische Kleinklein hinaus? Ich will Ihnen sagen:
Mein Eindruck ist, dass dies eher verneint werden muss.
({1})
Herr Stoiber, keine Frage: Sie haben hier einen dezenteren Ton angeschlagen. Aber die Schlussphase Ihrer
Rede schlägt sehr wohl in diese negative Kerbe.
Wir müssen aufhören, uns bei solchen Debatten wechselseitig Vorhaltungen zu machen, wer wann einmal irgendetwas falsch gemacht hat. Ich glaube, das ist nicht
das, was die Menschen draußen erwarten.
Ich will Ihnen aus der Sicht eines Ostdeutschen ausdrücklich sagen: Natürlich ist damals im Kreise derer, die
in der DDR Zeitgeschichte kritisch verfolgten, das gemeinsame Papier der SPD und der damaligen Staatspartei
SED mit gemischten Gefühlen aufgenommen worden;
völlig klar. Aber mit genauso gemischten Gefühlen ist von
uns beispielsweise der Milliardenkredit von Franz Josef
Strauß aufgenommen worden.
({2})
Meine Damen und Herren, hören wir doch auf, diese
alten - ich sage ausdrücklich: westdeutschen - Schlachten anlässlich eines solchen zehnjährigen Jubiläums hier
im Deutschen Bundestag zu schlagen.
({3})
Das wird den Verdiensten nicht gerecht.
Gerade ist ausgeführt worden, die CDU/CSU sei Motor der deutschen Einheit gewesen. Das ist in Ordnung.
Der Zehn-Punkte-Plan war - ich habe nachgelesen, wie
das im Deutschen Bundestag debattiert worden ist - in
den alten Bundesländern eine Sensation, das ist völlig
klar. Aber er war bei den Demonstrationen in Ostdeutschland schon längst überholt. Der Motor musste ganz kräftig angeschoben werden; das war die Situation.
({4})
Deswegen will ich ausdrücklich sagen: Mich bewegen
bei der heutigen Debatte zwei Gefühle ganz stark: Das
eine ist Dankbarkeit und das andere ist Stolz. Beim Gefühl der Dankbarkeit frage ich: Wo würden wir alle heute
stehen, wenn es die friedliche Revolution und die staatliche Einheit vor zehn Jahren nicht gegeben hätte? Auch
das prägt mich. Ich meine Dankbarkeit nicht nur dafür,
dass das möglich geworden ist, sondern natürlich auch
dafür, das miterleben zu können, in freiheitlich-demokratischen Grundstrukturen leben zu können, die eigenen
Kinder nicht mehr in einem doppelten Bewusstsein erziehen zu müssen, das heißt nach außen darzustellen, was in
den Schulen, öffentlichen Veranstaltungen und anderem
mehr abverlangt worden ist, und nach innen, in der familiären Erziehung, Grundwerte wie Freiheit und Menschenwürde trotzdem als wichtige Elemente ansprechen
und vermitteln zu können. Es ist für mich ein Gefühl von
großer Freude und Dankbarkeit, dass wir nicht mehr in eiMinisterpräsident Dr. Edmund Stoiber ({5})
ner solchen schizophrenen Art und Weise leben müssen,
gebückt leben müssen, was ja die meisten getan haben.
({6})
Auch daran sollte man heute erinnern: Ich empfinde
ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit, wenn ich an diejenigen
denke, die das in der DDR nicht mehr miterlebt haben. Ich
hatte heute stellenweise den Eindruck, als wären alle mit
dem Plan der deutschen Einheit vierzig Jahre lang politisch tätig gewesen - und keine Hoffnung mehr hatten,
dass sich die politische Situation in der DDR eines Tages
verändern würde.
({7})
Ich finde, wir können alle auf die erbrachten Leistungen stolz sein, und zwar sowohl auf die Leistungen der
Menschen in Ostdeutschland, die natürlich die härtesten
Anstrengungen zu meistern hatten, als auch auf die Solidarität der Menschen in den alten Bundesländern, die eine
Voraussetzung für das geschaffen haben, was in den letzten zehn Jahren in Ostdeutschland passierte.
({8})
Ich wünsche mir, dass dieser Stolz - vor allem vonseiten
der Westdeutschen - nicht mit Neid vermischt wird. Ich
weiß, dass es zum Beispiel im Telekommunikationsbereich im Osten mittlerweile Entwicklungen gibt, auf die
man auch aus den alten Bundesländern neidvoll schaut.
Ich glaube aber, man kann auch als Westdeutscher auf das
stolz sein, was in Ostdeutschland geschaffen worden ist.
Dies ist letztendlich eine Gemeinschaftsleistung für die
Menschen in Deutschland insgesamt. Auch das halte ich
für ganz wichtig.
({9})
Ich bin sehr froh, dass das Thema Europa eine so große
Rolle gespielt hat. Ich bin sicher, dass wir dem europäischen Kontext, wenn wir in die Zukunft schauen und die
Frage beantworten könnten, wie am 20. Jahrestag der
deutschen Einheit über diese Fragen geredet wird, dann
einen größeren Stellenwert einräumen würden, als wir es
jetzt in der Perspektive von zehn Jahren deutscher Einheit
tun. Wir müssen sehr intensiv darüber reden, dass die
neuen Länder durch die EU-Osterweiterung eine zentrale
neue ökonomische Chance bekommen, Positionen
zurückzugewinnen und ökonomische Potenziale zu erschließen, die in den letzten zehn Jahren verloren gegangen sind, vor allen Dingen auf den mittel- und osteuropäischen Märkten.
Die Ostdeutschen haben dafür hervorragende Voraussetzungen. Sie haben nicht nur aus ihrer Geschichte der
letzten 50 Jahre ein ganz besonderes Gefühl für die Kultur der mittel- und osteuropäischen Länder, sie haben
natürlich auch mit dem, was sie in den letzten zehn Jahren haben schultern müssen, mit dem Wissen um die
Transformation, die auch in den osteuropäischen Ländern
noch nicht abgeschlossen ist, hervorragende Standortvoraussetzungen für diesen Prozess. Auf diese Tatsache hinzuweisen halte ich für völlig legitim.
Auch das Thema Ängste hat eine Rolle gespielt. Wir
müssen in diesem Zusammenhang - ich tue dies ausdrücklich als Ostdeutscher - nicht nur das Ökonomische,
sondern auch die besondere moralische Dimension aus
ostdeutscher Sicht ansprechen. Natürlich konnten wir in
der ehemaligen DDR bis 1989 und seit zehn Jahren in den
neuen Ländern einen besonderen Weg gehen. Wir erfuhren besondere Hilfen und Transfers, die natürlich aus der
deutsch-deutschen Teilung und aus der besonderen Rolle
erwachsen sind, die wir innerhalb der früheren RGWStaaten gespielt hatten. Wäre das nicht gewesen, würden
auch wir heute draußen stehen, anklopfen und bitten, dass
die Tür aufgemacht wird. Auch das muss man ab und zu
einmal ansprechen.
({10})
Jetzt geht es also um die zweite Hälfte des Weges. Ich
halte dieses Bild für sehr angemessen, weil es deutlich
macht, dass wir noch nicht am Schluss eines Prozesses
stehen. Jetzt geht es darum, eine zweite Wegstrecke zu beschreiten. Dabei stehen wir vor der Situation, zum einen
auf den wichtigen ökonomischen Veränderungen aufzubauen, die sich in den letzten zehn Jahren in den neuen
Ländern vollzogen haben, zum anderen aber auch die anhaltenden Probleme zu sehen, vor allen Dingen den noch
nicht abgeschlossenen strukturellen Umbruch in der ostdeutschen Wirtschaft - die schwierige Situation in der
Bauwirtschaft ist schon angesprochen worden -, und daraus eine pragmatische Politik der Modernisierung für die
neuen Länder zu entwerfen. Genau das ist das Bestreben
der Bundesregierung.
Ich bin sehr froh, dass die positiven Tendenzen nicht
nur aus den traditionellen Branchen kommen. Wer sich
heute in Ostdeutschland umschaut, wird auch in den Bereichen, die wir mit dem Modewort „New Economy“ beschreiben, hochinteressante Entwicklungen erkennen.
Wer beispielsweise nach Jena guckt, wird dort einen
Standort für Softwareentwicklungen und neuen Kommunikationstechnologien vorfinden, der deutschlandweit
Spitze ist. Wer sich in Mecklenburg-Vorpommern - das
Stichwort „Biocon Valley“ tauchte heute bereits auf - anschaut, wie im Fadenkreuz von Hochschulen und Universitäten neue, junge Unternehmen entstehen und in die
Märkte eintreten, stellt fest, dass sich in Ostdeutschland
nicht nur im traditionellen produzierenden Gewerbe etwas tut, sondern dass auch dort, wo es enorme Expansionsmöglichkeiten für kleine und mittelständische
Unternehmen gibt, die Entwicklungspotenziale genutzt
werden.
({11})
Deshalb ist es ganz besonders wichtig, dass wir diese
Entwicklung durch neu justierte und passend gemachte
Förderinstrumente und Angebote unterstützen. Das haben wir in den letzten beiden Jahren getan; das Förderprogramm Inno-Regio ist hier schon genannt worden. Die
besondere Unterstützungsleistung des Bundes besteht
darin, Netzwerkstrukturen zu etablieren, die es kleinen
und mittelständischen Unternehmen in der Verbindung
mit Hochschulen, Fachhochschulen und öffentlicher Verwaltung ermöglichen, neue Märkte zu erschließen, und
ihnen Innovationspotenziale eröffnen. Wir werden aber
auch über die Programme hinaus, die zum Teil im Etat des
Bundeswirtschaftsministers stehen - als Beispiel nenne
ich Pro Inno -, diese Aufbaustrukturen verstärken. Die
Unterstützung regionaler Wachstumskerne in den neuen
Ländern ist gerade dort, wo wir zusätzliche Haushaltsmöglichkeiten haben - Sie wissen, wir beraten darüber
gerade -, ein vorrangiges ostdeutsches Anliegen.
({12})
Wir tun gut daran, auch über die ostdeutschen Erfolge
zu reden. Herr Nooke, ich habe kürzlich den Ausspruch
von Ihnen gelesen, die Wirtschaftsdaten in Ostdeutschland seien „niederschmetternd“. Ich habe Respekt davor,
dass die Opposition Probleme beschreibt. Das musste ich
auch acht Jahre lang tun. Aber ich werbe sehr dafür, die
positiven Dinge nicht zu verschweigen und die Scheu zu
verlieren, über Erfolge gerade in Ostdeutschland zu sprechen.
({13})
Die Journalistin vom „Economist“ war nicht nur bei Ministerpräsident Höppner, sondern auch bei mir und stellte
die Frage: Warum können sich die Ostdeutschen nicht
freuen? Warum fällt es uns so schwer, auch einmal über
Erfolge zu reden? Ich glaube, das müssen wir viel intensiver tun.
Zum Schluss, Herr Gysi, will ich noch ausdrücklich einen Punkt klarstellen, den ich bei Ihrer Rede als falsch
empfunden habe und der, wie ich finde, nicht so stehen
bleiben darf. Herr Gysi hat im Zusammenhang mit den
Renten in Ostdeutschland ausgeführt, dass auch die jetzt
20-Jährigen quasi lebenslang in ihrer Rentenbiografie die
Nachteile der geringen Beiträge verspüren. Ich will ausdrücklich darauf hinweisen - Herr Gysi hat das schon
mehrfach in Debatten hier im Deutschen Bundestag so gesagt -: Das ist einfach falsch. Richtig ist natürlich, dass
wir aufgrund der Lohnunterschiede - die Rentenbewertungen sind ja an die Lohnentwicklungen gekoppelt noch Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland
haben. Die Lohndynamik wird in den nächsten Jahren die
Angleichung thematisieren.
({14})
Aber völlig falsch ist es, wenn es so dargestellt wird, als
würden dort Anwartschaften minderer Qualität erworben.
({15})
Die Anwartschaften werden in getrennten Gebieten erworben und nach einem zwischen Ost- und Westdeutschland, zwischen den alten und den neuen Bundesländern,
getrennten Durchschnittswert errechnet. Deswegen müssen wir auch aufhören, Dinge zu dramatisieren und eine
Perspektive von 65 Jahren aufzuzeigen, was der Realität
einfach nicht entspricht.
({16})
Zum Schluss will ich noch einmal ausdrücklich - das
haben mehrere Redner getan, aber es ist auch mir ein
wichtiges Anliegen - Herrn Gauck herzlich gratulieren
und ihm für die erfolgreiche Arbeit, die er geleistet hat,
meinen herzlichen Dank sagen, für das, was dort schwer,
auch unter harten Anwürfen gegen ihn persönlich in den
letzten Jahren, im Interesse von uns allen getragen werden
musste.
Ich habe es immer als sehr wichtig empfunden, dass die
Öffnung der Stasi-Akten - eine Erwartungshaltung, die
die Ostdeutschen aus der friedlichen Revolution mitgebracht haben -, nicht im parteipolitischen Streit zerredet
worden ist. Wir waren damals alle - egal, auf welcher
Seite wir jetzt hier in diesem Haus sitzen - in einer
bequemeren oder unbequemeren Situation.
Wenn sich dieser Konsens hier halten lässt, dann ist mir
überhaupt nicht bange, dass auch Frau Birthler in bewährter Art und Weise dieses Amt im Interesse von uns allen ausüben wird.
Herzlichen Dank.
({17})
Ich gebe das Wort der
Kollegin Cornelia Pieper für die F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Allen Pessimisten zum
Trotz, die Umfragen im zehnten Jahr der deutschen Einheit bestätigen es: Für die Mehrheit der Deutschen ist die
Wiedervereinigung Grund zur Freude.
({0})
80 Prozent der Ostdeutschen blicken optimistisch in
die Zukunft. Während vor sieben Jahren nur ein knappes
Drittel der Bevölkerung sich zu den Gewinnern der Einheit zählte, sind es heute fast doppelt so viele. Wir sind mit
der Vollendung der inneren Einheit ein gutes Stück vorangekommen, dank des Mutes und der Flexibilität der
Ostdeutschen. Ich denke, das kann auch nicht oft genug
gesagt werden.
({1})
Aber vielleicht sollte ich nicht „der Ostdeutschen“ sagen,
sondern eher: der Mecklenburger, Brandenburger, Berliner, Sachsen-Anhaltiner, Sachsen und Thüringer. In der
Tat ist zehn Jahre danach die Bezeichnung „neue Länder“
wohl in die Jahre gekommen.
({2})
Schließlich - da stimme ich Ministerpräsident Stoiber
zu - identifizieren sich viele Ostdeutsche mit ihrer Heimat. Ich habe noch vor Augen, dass der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher, noch zurzeit der alten
Bundesrepublik und der DDR, durch die Welt gereist ist
und nirgendwo einen Hehl daraus gemacht hat, dass er in
Sachsen-Anhalt zu Hause ist und in Halle geboren wurde.
Auch das hat toll zum Ausdruck gebracht, dass wir im
Geiste ein Volk sind. Er hat damit deutlich gemacht, welche Bedeutung dieses Thema für uns als Liberale hat.
({3})
Wir, die Freien Demokraten, haben mit der Politik unserer Außenminister Walter Scheel und Hans-Dietrich
Genscher zu jeder Zeit deutlich gemacht, dass wir uns bei
allen politischen Zielen vom Einheits- und Freiheitsgedanken leiten lassen. In dieser Frage erwarten wir auch
von der Bundesregierung mehr Glaubwürdigkeit. Ich sage
das an dieser Stelle ganz bewusst: Der Bundeskanzler hat
zwar heute die Leistungen der Ostdeutschen, die diese in
den letzten zehn Jahren für das Aufbauwerk erbracht haben, anerkannt. Aber es war zu viel der Worte, wo er sich
als Ministerpräsident 1990 so geäußert hat: Ihr Ostdeutschen müsst euch erst einmal krumm legen. Die DDRHilfen dürfen nicht dazu führen, dass am sozialen Netz
der alten Bundesrepublik gerüttelt wird.
({4})
Zur Glaubwürdigkeit gehört auch dazu, dass diese
Bundesregierung den Aufbau Ost zur Chefsache erklärt
hat. Darüber kann auch die gut vermarktete Sommerreise
des Bundeskanzlers in der Tat nicht hinwegtäuschen.
Aber 59 Prozent der Ostdeutschen sind noch immer davon
überzeugt, dass sich der Kanzler nicht genügend für den
Osten engagiert. Dazu sage ich ganz deutlich: Eine
Schwalbe macht noch keinen Sommer und ein Schwanitz
erst recht keinen Aufbau Ost.
({5})
Lieber Kollege Schwanitz, eine Kausalität zwischen
den Aktivitäten des Staatsministers für den Aufbau Ost
und der Entwicklung der gesamtdeutschen Konjunktur ist
ebenfalls nicht belegt. Wir erwarten von Ihnen mehr Engagement, auch beim wirtschaftlichen Aufbau in den
neuen Bundesländern.
({6})
Wir erwarten von Ihnen ein Gesamtkonzept für eine „Zukunftsoffensive neue Bundesländer“.
({7})
Der Bundeskanzler hat die Richtung hinsichtlich Infrastrukturausbau und Innovationsförderung vorgegeben.
Das halten wir zwar ebenso für wesentlich, aber wir wollen nicht nur Worte hören, sondern auch Taten dieser
Bundesregierung sehen.
({8})
Ich sage namens meiner Fraktion: Uns ist die Angleichung der Lebensverhältnisse der Menschen in den alten und neuen Bundesländern wichtig. Die Schaffung
einheitlicher Lebensverhältnisse ist übrigens auch Verfassungsauftrag. Wir werden diesen Prozess vorantreiben.
Ich habe hier ein aktuelles Beispiel vor Augen: Ich war
gestern in Sachsen-Anhalt unterwegs. Dort finden im Moment sehr viele Demonstrationen gegen die Gesundheitsstrukturreform statt. Mich haben die dort arbeitenden
Ärzte, Schwestern und Heilberufler gefragt: Werden wir
jetzt dafür bestraft, dass wir im Osten Deutschlands geblieben sind? Es kann doch nicht sein, dass wir die Menschen nur noch zu 70 Prozent - entsprechend der Budgetierung - gesund machen sollen.
Ich glaube, wir müssen darüber nachdenken, wie wir
die Angleichung der Lebensverhältnisse in den einzelnen
Bereichen mehr voranbringen können. Wir werden dazu
beitragen.
({9})
Der Aufbau Ost und die Vollendung der inneren Einheit bleiben Aufgabe für uns alle. Wenn es wirklich als
Herzenssache gemeint ist, dann eignet sich dieses Thema
nicht für politische und ideologische Auseinandersetzungen. Deshalb möchte ich Sie heute an dieser Stelle namens
meiner Fraktion bitten und auffordern, dass die Chance
genutzt wird, gemeinsam für den Aufbau Ost zu kämpfen
und alles möglich zu machen, damit die Angleichung der
Lebensverhältnisse erreicht wird.
({10})
Herr Präsident, lassen Sie mich zum Schluss sagen: Erkennen wir gemeinsam die Chancen, die sich aus der deutschen Wiedervereinigung ergeben! Der Mut zu Reformen
kommt aus dem Osten Deutschlands. Wir sollten vielmehr
auf die Lebens- und Berufserfahrungen der Menschen in
Sachsen, Thüringen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern zurückgreifen. Darauf
kommt es in Zukunft an.
Vielen Dank.
({11})
Als letzte Rednerin in
dieser Debatte spricht nunmehr die Kollegin Anke Fuchs
für die sozialdemokratische Fraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Ich möchte mich vor allen Dingen
mit dem beschäftigen, was ich als die wichtigste Aufgabe
ansehe. Dann komme ich nachher auf Frau Merkel zu
sprechen. Ich habe mir zwar zuerst überlegt, ob ich das
umgekehrt machen soll. Aber ich beginne mit dem, was
als Aufgabe vor uns liegt.
Willy Brandt hat damals gesagt: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Er wollte also nicht, dass wir
„zusammenpoltern“ oder „zusammenspringen“. Er war
sich bewusst, dass der Weg zur deutschen Einheit ein Prozess ist. Diesen haben wir bis jetzt höchstens zur Hälfte
zurückgelegt.
({0})
Deswegen geht es um die Frage: Wie geht dieser Prozess
weiter?
Heute ist vieles angesprochen worden, was erreicht
worden ist. Ich finde, diejenigen, die das betont haben, haben Recht - egal, wer dafür zuständig war oder die Verantwortung trägt. Ich empfehle Ihnen allen die aktuelle
Ausgabe der Zeitung „Die Woche“. Dort wird auf einer
Doppelseite sehr gut dargestellt, wie sich der Lebensstandard Ost und West verändert hat. Man ist überrascht, wie
viel positive Veränderungen sich auch für die ostdeutschen Normalbürgerinnen und -bürger ergeben haben.
Wir sollten das zur Kenntnis nehmen, sagen und nach
draußen tragen.
({1})
Alle neuen Instrumente, die der Bundeskanzler angeboten hat - Herr Schwanitz hat das vertieft -, sind richtig.
Der Weg geht weiter. Das Wichtigste wird nach wie vor
sein, nicht nachzulassen in dem Bemühen, für jeden Menschen Arbeit zu schaffen. Das wird unser vorrangiges Ziel
bleiben.
({2})
Herr Ministerpräsident Stoiber, ich will Sie beim Wort
nehmen: Ich freue mich, dass Sie den Länderfinanzausgleich - Maßstäbegesetz - und den Solidarpakt II noch in
dieser Legislaturperiode unterstützend begleiten wollen.
Ich bin zuversichtlich, dass Bayern nicht zu knauserig ist,
wenn es darum geht, entsprechende Leistungen zu erbringen.
({3})
Von Herrn Teufel dagegen hört man anderes. Und auch
die hessische Regierung will ich noch einmal darauf hinweisen, dass wir auch aus Hessen Signale der Solidarität
brauchen, wenn es um so einen kleinen Beitrag wie den
Risikostrukturausgleich der Krankenkassen geht. An solchen Punkten können wir beweisen, ob wir Solidarität
üben oder ob wir das Geld knauserig in der Tasche lassen.
({4})
Nun zu einem Punkt, bei dem ich mir überlegt habe, ob
ich ihn hier lieber nicht anspreche: Die Rollenverteilung
in der CDU/CSU, zwischen einem Ministerpräsidenten
und der Parteivorsitzenden, aber auch die zwischen Mann
und Frau, wie sie hier praktiziert worden ist, lag an der
Grenze zur Infamie: Der eine darf den Staatsmann spielen, während die Parteivorsitzende die Drecksarbeit machen darf. - Unappetitlich, meine Damen und Herren!
({5})
Jenseits dessen geht es mir nicht so sehr um die Institutionen und um das, was wir miteinander im Einvernehmen regeln; die Frage ist vielmehr, wie wir den Zusammenhalt so regulieren, dass die Menschen begreifen: Es
lohnt sich, sich in dieser Demokratie zu engagieren und
die Einstellung „Was soll das alles?“ abzulegen. Schließlich müssen wir den Weg nach Europa miteinander gehen. Das ist unsere Zukunft.
({6})
Wir konnten die Einheit deswegen erreichen, weil uns die
osteuropäischen Länder geholfen haben. Es ist doch eine
spannende Aufgabe, mit diesen Ländern nun gemeinsam
den Weg nach Europa zu gehen. Etwas Faszinierenderes
kann es eigentlich gar nicht geben.
({7})
Ich ringe darum, wie wir die Menschen dazu bekommen, dass sie sich, wo auch immer, in der Gesellschaft engagieren und nicht sagen: „Was die da machen, ist mir
egal!“ Das Fatale an der jüngsten Entscheidung in Dänemark ist, dass es junge Frauen sind, die gegen den Euro
eintreten, weil sie Angst davor haben, dass der Sozialstaat
auf dem Weg nach Europa abgebaut wird. Unsere Aufgabe besteht genau darin, dafür zu sorgen, dass Europa
nicht nur ein Europa der Gelder und der Unternehmen
wird; vielmehr müssen wir ein soziales Europa gestalten.
Das wird für uns eine wichtige Zukunftsaufgabe sein.
({8})
Auf dem Weg dorthin müssen wir aufpassen, dass nicht
zu viele auf der Strecke bleiben. Wir sollten uns mehr zutrauen; denn alle europäischen Länder, auch die aus Osteuropa, die bald dazukommen, haben - egal, welche Partei dort regiert, insofern parteiübergreifend - eine sozial
verfasste Vergangenheit. Dies werden wir in diesem Europa nicht aufgeben. Stellen Sie sich vor, dieses Europa
spricht in dieser globalisierten Wirtschaft mit einer
Stimme! Wenn das geschieht, dann werden die WTO, die
ILO, der IWF und die Weltbank andere Standards setzen.
Schließlich hängt es von uns ab, wer dort arbeitet und regiert und wie die Menschen dort mit vernünftigen Konzepten ausgestattet werden.
({9})
Lassen Sie uns daran gemeinsam arbeiten. Ich halte das
für das wichtigste Ziel. Ich glaube, dass es die Anstrengungen wert ist.
Nun ist die Frage: Wie macht man das? - Ich weiß es
auch nicht. Man könnte, wenn man mit jungen Menschen spricht, manchmal verzweifeln. Deswegen gilt es wie ich es immer sage -, dicke Bretter zu bohren.
Ich habe in meinem politischen Leben erfahren, dass
jeder Fortschritt hin zu Gleichheit, Gerechtigkeit und Demokratie eine unheimliche Anstrengung war. Nie ist uns
etwas in den Schoß gefallen. Aber wir haben doch miteinander in dieser gesellschaftlichen Ordnung für die Menschen insgesamt eine Menge erreicht. Wir leben in einem
Staat der Freiheit, der Demokratie und der sozialen Sicherheit. Wann hat es das in diesem Ausmaß in Deutschland gegeben? Wir haben uns das erarbeitet.
({10})
Das müssen die Menschen begreifen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wir daran weiter arbeiten müssen.
Anke Fuchs ({11})
Wir werden Formen finden müssen, müssen auf die Menschen zugehen und an der Basis, in den Vereinen oder wo
auch immer, mit ihnen reden. Das wird uns nicht erspart
bleiben. Aber ich glaube, es lohnt sich. Es kann allerdings
nicht so gehen, wie sich das manche vorstellen: Die Politik baut ein europäisches Haus und die Spaßgesellschaft
Bürger fühlt sich darin wohl. So habe ich mir das nicht gedacht. Wir brauchen das Engagement aller Bürger.
({12})
Nun ein kurzer Rückblick. Ich gehöre noch zu der Generation - das darf ich eigentlich gar nicht sagen -, die
Kerzen ins Fenster gestellt hat. Solidarisch, wie ich in
meinem Leben immer war, habe ich das gemacht, wenn
der Parteivorstand das verordnet hat. Deswegen waren
wir emotional immer für die Wiedervereinigung. Es gab
einige bei uns, die das anders gesehen haben; das gebe ich
zu. Aber ich möchte daran erinnern: Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion hat am 20. September 1990 geschlossen für den Einigungsvertrag gestimmt. Bei der
CDU/CSU waren 13 dagegen.
({13})
Auf die außenpolitische Flankierung ist schon hingewiesen worden. Deshalb gleich zu einem Punkt, auf den
mich die Kollegin Hanewinckel aufmerksam gemacht
hat: Wir haben ein Grundgesetz, auf das wir stolz sein
können, auch deshalb, weil wir auf dem Weg zur Wiedervereinigung das Grundgesetz nicht ändern mussten. Wir
haben es ja offen gelassen und hätten sogar zwei Möglichkeiten gehabt. Im Übrigen - auch daran gilt es zu erinnern -: Konrad Adenauer war damals dagegen, er wollte
diese Offenheit des Grundgesetzes nicht haben.
({14})
Dann noch zu der Frage, wer wann etwas geahnt hat.
1987 - ich war damals Bundesgeschäftsführerin der
SPD - hatte ich die große Ehre, zum Staatsbesuch von
Herrn Honecker eingeladen zu werden. Diesen Besuch
haben aber nicht die Sozialdemokraten organisiert; den
roten Teppich hat vielmehr der damalige Bundeskanzler,
Herr Kohl, ausgerollt.
({15})
Stellen Sie sich einmal vor, wir hätten das gemacht. Wie
hätte sich die CDU/CSU darüber aufgeregt! Aber alle sind
brav gekommen. Auch wenn einigen Nuancen anders waren, so war doch formal ein ausländisches Staatsoberhaupt zu Gast. Es war die Zeit, wo Herr Kohl wusste, dass
er sich mit Herrn Honecker als Staatsoberhaupt treffen
und mit ihm reden musste.
Dann hat Herr Kohl im November 1989 ein ZehnPunkte-Programm über das langsame Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten in einem längeren Prozess vorgelegt. Erinnern wir uns daran noch? - Ja. Unser
Kollege Karsten Voigt hat damals für die SPD-Bundestagsfraktion Zustimmung signalisiert. Der Ehrlichkeit
halber will ich aber hinzufügen, dass ihn manche dafür
kritisiert haben. Ich erinnere deswegen daran, weil daraufhin eine Dynamik eintrat, mit der wir alle nicht gerechnet haben; zum Beispiel erfolgte bei uns die Vereinigung mit der zuvor gegründeten SDP. Zusammen mit
meinem Kollegen Hilsberg habe ich damals den Vereinigungsparteitag organisiert.
Der Kern aber war die Wahl zur Volkskammer 1990.
Viele, vor allem diejenigen, die bürgerrechtliche Bewegungen unterstützt hatten, waren enttäuscht. Da war klar,
was die Menschen wollten. Sie wollten, wie heute schon
gesagt worden ist, die Einheit, und zwar schnell. Ihrer
Stimmung gaben die Menschen wie folgt Ausdruck:
„Kommt die Mark, dann bleiben wir; kommt sie nicht,
geh´n wir zu ihr.“ - Das war die Stimmung, deshalb sollte
man sich heute keinen Illusionen hingeben.
({16})
Herr Schäuble hat im Frühjahr 1990 die Bundesgeschäftsführer und die Generalsekretäre zusammengeholt.
Er war damals entschlossen, eine gesamtdeutsche Wahl zu
veranstalten und wollte die verfassungsrechtlichen Kriterien dafür ausarbeiten. Wir haben uns damals auf den Weg
gemacht und haben unsere Partei vereinigt. Wir haben
natürlich auch über Fehler geredet. Jetzt so zu tun, als ob
keine Fehler gemacht worden wären, unter denen wir
noch heute zu leiden haben, ist unehrlich.
Ich sage nach wie vor: Dieses grässliche Kriterium
„Rückgabe vor Entschädigung“ war falsch und bleibt
falsch und hat vieles in die falsche Richtung gebracht.
({17})
Das sieht ja auch Herr Nooke so. Herr Nooke, heute stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU, hat damals dem Vertrag nicht zustimmen können, weil, wie er
sagte, die Eigentumsverhältnisse falsch gelöst seien.
Überhaupt wundere er sich über diesen „Wohlstandswahlkampf“, das sei keine moralische Veranstaltung, so
Herr Nooke im Jahre 1990. Auch daran gilt es zu erinnern.
Auch die Regelungen im Altschuldenhilfe-Gesetz
waren falsch. In verschiedenen Novellen haben wir dieses
jetzt endlich dank der neuen Bundesregierung ändern
können. Während Herr Stoiber sagt, die letzten zehn Jahre
waren die schönsten für Deutschland, sage ich, die letzten
zwei Jahre waren die schönsten.
({18})
Meine Kollegin Sabine Kaspereit weist mich immer
darauf hin, ich solle das nicht zu konkret sagen, sondern
es so zusammenfassen: Das Schlimmste war eigentlich
damals, dass den Bürgerinnen und Bürgern in Ostdeutschland nicht die Wahrheit gesagt wurde:
({19})
„Keinem wird es schlechter gehen, jedem wird es besser
gehen. Das zahlen wir aus der Portokasse.“ Was für eine
Bereitschaft bestand damals auch im Westen, Opfer zu
bringen, meine Damen und Herren!
({20})
Anke Fuchs ({21})
Wir haben uns engagiert. Deswegen war es falsch, die damalige Opferbereitschaft nicht zu nutzen und stattdessen
einen Schuldenberg aufzuhäufen, unter dem wir noch
heute leiden.
({22})
Es gäbe noch einiges anderes über die Fehler und den
Reformstau zu sagen, zum Beispiel: Hätten wir die Polikliniken wirklich nicht erhalten können? Das wäre doch
vernünftig gewesen.
({23})
Ich schließe damit ab und sage nur noch: Wer damals kritisiert hat, war nicht gegen die Einheit. Wir hätten uns
manche Fehler ersparen können.
Ich komme zum Schluss und darf, Herr Präsident, noch
zwei Zitate bringen, weil diese besonders deutlich die Befindlichkeit von Sozialdemokraten darstellen, die damals
dabei waren. Das erste stammt von unserem verstorbenen
Vizepräsident Heinz Westphal. Er sagte damals in seiner
Freude über die Einheit:
Wenn man zu denjenigen gehört, die damals in Berlin 1945, 1946, 1947 usw. dabei waren im Kampf gegen die Entstehung einer neuen Einparteienherrschaft durch die Kommunisten, wenn man, als die
Mauer gebaut wurde, nicht aufgab, sondern statt der
schal gewordenen Parolen den neuen Weg zur Einheit der Deutschen über die Politik der Entspannung
einschlug, der nun als die Voraussetzung für den Erfolg der friedlichen Revolution selbst von den damaligen Gegnern anerkannt wird, dann hat man tatsächlich Grund zur Freude über das nun erreichte Ziel der
deutschen Einheit. Um auch das klar zu sagen, über
den in diesem Zusammenhang erreichten endgültigen Sieg des demokratischen Teils der Arbeiterbewegung.
({24})
Ich zitiere, wie es sich gehört, zum Schluss aus der
Rede, die Willy Brandt als Alterspräsident des ersten gesamtdeutschen Bundestages am 20. Dezember 1990 gehalten hat:
In besonderer Verbundenheit begrüße ich die Landsleute in den neuen Bundesländern, in Goethes und
Schillers Thüringen, in Bachs und Leibnitz’Sachsen,
in Luthers und Nietzsches Sachsen-Anhalt, wenn es
das schon gegeben hätte, in Fritz Reuters und Ernst
Barlachs Mecklenburg, in Caspar David Friedrichs
Vorpommern, in Schinkels und Fontanes Brandenburg, in Humboldts und Hegels jetzt nicht mehr zerklüfteten Berlin.
Und zum Schluss sagte er:
Menschen, die mir freundlich gesonnen sind, bemerken dann und wann, der Tag, an dem sich die Deutschen in Freiheit vereinten, müsste die Erfüllung
meines politischen Lebens sein. Das ist zu kurz gedacht und zu eng. Ich möchte den Tag sehen, an dem
Europa eins geworden ist.
Diesem Vermächtnis Willy Brandts fühlen wir uns immer noch verpflichtet.
({25})
Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar
zunächst zu den Entschließungsanträgen zur Regierungserklärung:
Entschließungsantrag der Fraktion der F.D.P. auf
Drucksache 14/4154. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der F.D.P. bei Enthaltung der
CDU/CSU-Fraktion abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/4143. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen
die Stimmen der PDS abgelehnt.
Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit dem Titel „Zehn
Jahre Einheit Deutschlands“ auf Drucksache 14/4132.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Stimmen der
CDU/CSU und der F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen.
Abstimmung über den Antrag der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Zehn Jahre deutsche Einheit“
auf Drucksache 14/4168. Wer stimmt für diesen Antrag? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den
Stimmen von SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung
der F.D.P. abgelehnt.
Wir kommen nun zu den Überweisungen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/4129, 14/4140 und 14/4149 ({0}) an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen, liebe
Kollegen, der Deutsche Bundestag wählt heute eine
Nachfolgerin des Bundesbeauftragten für die Unterlagen
des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR,
Joachim Gauck. Ich darf auch ganz offiziell im Namen
des Hauses Herrn Joachim Gauck, der den Beratungen des
Deutschen Bundestages auf der Tribüne folgt, herzlich
begrüßen und willkommen heißen.
({1})
Lieber Herr Gauck, der Bundeskanzler hat in seiner
Regierungserklärung Ihr Wirken zu Recht gewürdigt.
Auch für den Deutschen Bundestag will ich feststellen:
Sie haben in den letzten zehn Jahren ein einzigartiges Amt
Anke Fuchs ({2})
wahrgenommen, das ohne Beispiel in der Geschichte ist.
Sie haben nicht nur die Akten und Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR verwaltet, den
Opfern Zugang zu den Akten verschafft, die die Staatssicherheit über sie angelegt hatte, und Forschungen über
den Repressionsapparat ermöglicht, Sie haben sich auch
ganz persönlich als Anwalt der Opfer gefühlt und mit Ihrer Behörde zur Rehabilitierung der Opfer beigetragen.
Sie haben dabei stets nach der Maxime gehandelt, dass
nur die konsequente Suche nach der Wahrheit uns von den
- wie Sie es einmal ausdrückten - „Gespenstern der Vergangenheit“ befreien kann. Für die von Ihnen geleistete
Arbeit und Aufklärung danke ich Ihnen im Namen des
ganzen Hauses.
({3})
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Wahl der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik
Einige kurze Hinweise zum Wahlverfahren: Sie brauchen die blaue Stimmkarte und Ihren weißen Wahlausweis. Die Wahlen finden offen statt. Sie können also an
Ihrem Platz die entsprechenden Felder auf den Stimmkarten ankreuzen.
Nach § 35 Abs. 2 des Stasi-Unterlagengesetzes wird
der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik auf Vorschlag der Bundesregierung vom
Deutschen Bundestag mit mehr als der Hälfte der gesetzlichen Mitglieder gewählt. Zur Wahl sind also mindestens
335 Stimmen erforderlich.
Die Bundesregierung hat mit Schreiben vom 4. September 2000 Frau Marianne Birthler vorgeschlagen. Bevor Sie die Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen,
müssen Sie Ihren Wahlausweis einer der Schriftführerinnen oder einem der Schriftführer geben. Die Schriftführerinnen und Schriftführer bitte ich, darauf zu achten, dass
dies geschieht.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Darf ich fragen, ob
alle Schriftführerinnen und Schriftführer die Plätze eingenommen haben? - Das ist offenbar der Fall. Ich eröffne
die Wahl.
Haben alle Mitglieder des Hauses, auch die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre Stimmkarte abgegeben? Das ist offenbar der Fall. Ich schließe die Wahl und bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Wahl wird später bekannt gegeben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, wieder
Platz zu nehmen, damit wir mit den Beratungen fortfahren können.
Ich rufe den Zusatzpunkt 12 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Peter
Rauen, Gerda Hasselfeldt, Dietrich Austermann,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der
CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Senkung der Mineralölsteuer und zur Abschaffung der Stromsteuer ({4})
- Drucksache 14/4097 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({5})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner
dem Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg, Erwin Teufel, das Wort.
Erwin Teufel, Ministerpräsident ({6}) ({7}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am Anfang der so genannten Ökosteuer stand nicht Vernunft,
sondern Ideologie.
({8})
Am Anfang stand der Beschluss des Bundesparteitages
der Grünen von Magdeburg im Jahre 1998. Ich zitiere
wörtlich:
Wir halten eine schrittweise und berechenbare Erhöhung der Mineralölsteuer für notwendig. Um die
Verkehrswende einzuleiten, ist eine Erhöhung der
Mineralölsteuer als Teil einer auf zehn Jahre angelegten ökologisch-sozialen Steuerreform ein sozial
verträgliches Mittel.
({9})
Anschließend wird eine Erhöhung um 50 Pfennig am
Anfang und von 30 Pfennig in jedem weiteren Jahr gefordert, bis es in rund zehn Jahren einen Benzinpreis von
5 DM gibt.
({10})
Das war der Anfang.
Dann heißt es weiter:
In der vor uns liegenden Legislaturperiode muss
dafür der wirksame Einstieg erkämpft werden.
Dieser wirksame Einstieg ist den Grünen bzw. der rot-grünen Bundesregierung gelungen. Der Benzinpreis liegt bei
über 2 DM.
Meine Damen und Herren, natürlich gibt es dafür eine
Reihe von Ursachen. Wer will das bestreiten? Es sind zum
Beispiel die OPEC-Preise und das Verhältnis des Euro
Vizepräsident Rudolf Seiters
zum Dollar. Aber Sie können nicht bestreiten, dass Sie
eine der Ursachen gesetzt haben.
({11})
Auf die OPEC-Verhandlungen und den Wechselkurs haben Sie keinen kurzfristigen Einfluss. Aber Sie haben einen Einfluss auf den Benzinpreis, wenn Sie die Ökosteuer
beseitigen.
({12})
Es wird an jedem 1. Januar zu einer Mineralölsteuererhöhung um 6 Pfennig plus Mehrwertsteuer kommen. Weitere Energiearten werden belastet. Es handelt sich nicht
um Ökologie, sondern um eine reine Steuererhöhung und
eine Belastung der Bürger. Mit Ökologie hat diese Konzeption überhaupt nichts zu tun.
({13})
Sie knüpft nämlich nicht an Immissionstatbeständen bzw.
an umweltschädlichen Immissionen der einzelnen Energieträger an. Sie belastet vielmehr saubere Energiearten
und entlastet umweltbelastende Energien.
({14})
Ich nenne einige Beispiele: Strom aus umweltfreundlicher
Wasserkraft wird ab 10 Megawatt belastet. Gas, eine saubere Energie, wird belastet. Die CO2-Belastung durch die
Kohle wird überhaupt nicht berücksichtigt. Die Kohle
wird nicht belastet, sondern mit Milliardenbeträgen subventioniert.
Als Begründung wurde von den Befürwortern der so
genannten Ökosteuer noch heute Morgen im Bundesrat
die hohe moralische Standarte vorangetragen, das Geld
komme der Rentenversicherung zugute. Wer konnte
schon gegen eine Beitragsentlastung bei der Rentenversicherung sein? Das hat so von Anfang an nicht gestimmt, weil nur ein Teil der Einnahmen in die Rentenversicherung ging, der andere jedoch in den normalen
Haushalt floss. Es gab bis zur Stunde auch keine Senkung
der Rentenversicherungsbeiträge.
({15})
Jetzt aber hat der Bundesfinanzminister die Standarte
eingeholt. In dieser Woche hat er im „Spiegel“ wörtlich
erklärt: „Die Verknüpfung der Ökosteuer mit der Absenkung der Rentenbeiträge ist falsch.“
({16})
- Herr Kollege Metzger, der Bundesvorsitzende der Grünen, Herr Kuhn, hat ihm ausdrücklich zugestimmt.
({17})
Der Weihrauch, mit dem Sie in den letzten Monaten eine
reine Steuererhöhung eingenebelt haben, ist weg. Deswegen sollten Sie auch die Ökosteuer wegputzen.
({18})
Die gleichen schlimmen Folgen wie die steigenden
Benzinpreise haben die gestiegenen Heizöl- und Gaspreise. Sie reißen in die Haushalte von Arbeitnehmerfamilien mit einem Normaleinkommen Löcher, die nicht
gestopft werden können. Es gibt auch hier wieder verschiedene Ursachen. Aber Ihre Politik hat mit dazu beigetragen, dass auf der einen Seite des Spektrums die Menschen stehen, die gut verdienen und die Steuererhöhungen
verkraften können und die höheren Heizölpreise bezahlen
können, und auf der anderen Seite des Spektrums Entlastung gegeben wird und die Mehrkosten auf die Sozialhilfe
oder das Wohngeld ausgeglichen werden. Aber dazwischen sind 80 Prozent der Haushalte, die Sie mit den Maßnahmen, die Sie angekündigt haben, nicht entlasten,
({19})
80 Prozent, für die Sie ebenfalls Verantwortung tragen
und an die Sie denken müssen. Sie denken aber nicht an
diese Menschen, weder bei den laufenden und nach wie
vor geplanten Steuererhöhungen noch bei den von Ihnen
in Aussicht gestellten Entlastungen. Sie machen eine Politik, die an 80 Prozent der Bürger vorbeigeht. Das aber ist
die Mitte in Deutschland; das muss man dem Bundeskanzler und dieser Bundesregierung sagen.
({20})
Denken Sie nicht nur vor Wahlen und auf Wahlplakaten an die Mitte, sondern denken Sie in Ihrer praktischen
Politik daran! Zur Mitte gehört der Taxifahrer, der
1 200 DM Mehrbelastung tragen muss. Zur Mitte gehört
das Transportgewerbe. Es ist mittelständisch strukturiert, 70 Prozent der Transportunternehmer haben nur ein
bis zwei Lastzüge. Auch auf sie kommt eine gewaltige
Mehrbelastung zu, die zur Konkurrenzunfähigkeit gegenüber den Betrieben aus den europäischen Nachbarländern
führt.
Zur Mitte gehört das Busreiseunternehmen. Es trägt
35 000 DM Mehrbelastung. Zur Mitte gehören auch die
Bauern und die Gartenbaubetriebe. Zur Mitte gehören die
Rentner. Alle diese Berufsgruppen werden von Ihnen belastet. Sie begünstigen keine einzige von ihnen mit den
Entlastungsmaßnahmen, die Sie beschließen wollen.
({21})
Meine Damen und Herren, Sie gefährden mit Ihrer Politik auch die Konjunktur in der Automobilindustrie. Die
Räder laufen nicht automatisch; das möchte ich Ihnen sagen.
({22})
Zurzeit haben wir eine sehr günstige Konjunktur in der
Automobilindustrie; aber sie ist ausschließlich vom Export getragen. Es kann doch niemand übersehen, dass wir
seit 1. Januar dieses Jahres Monat für Monat einschließlich August einen Rückgang der Zulassungen von 10 bis
12 Prozent auf unserem Binnenmarkt haben.
({23})
Ministerpräsident Erwin Teufel ({24})
Wenn sich das Euro-Dollar-Verhältnis in die andere Richtung entwickelt, was wir alle hoffen, dann schaffen Sie
mit Ihrer Politik große Probleme für die Binnenkonjunktur.
Ein Beispiel sind die Nutzfahrzeuge. Sie haben vor, die
Abschreibungsfristen für die Nutzfahrzeuge nennenswert
zu verlängern.
({25})
Das wird natürlich zu einem Rückgang der Bestellungen
führen. Sie nehmen dem Mittelstand die Möglichkeit der
Refinanzierung. Ich sage daher noch einmal: Wir haben es
mit einem mittelständischen Gewerbe, mit kleinen Mittelständlern zu tun, mit 150 000 Betrieben.
({26})
Was Sie also zur Entlastung vorhaben, ist ein Kurieren
an Symptomen,
({27})
aber nicht die Beseitigung der Krankheit. Es ist ein kleines Justieren in Randbereichen;
({28})
es ist eine kosmetische Operation. Zudem kommt die Aktion Entfernungspauschale nur wenigen und diesen
auch noch ganz und gar unzureichend zugute.
({29})
Meine Damen und Herren, der Gipfel ist die Finanzierung der so genannten Entlastungsmaßnahmen. Die Einnahmen aus der Mineralölsteuererhöhung fließen zu
100 Prozent in die Bundeskasse, während die Entlastungsmaßnahmen mehrheitlich von den Ländern und den
Gemeinden getragen werden sollen. 860 Millionen DM
trägt der Bund, 670 Millionen DM die Länder und
270 Millionen DM die Gemeinden. Das sind doch Geschäfte zulasten Dritter, die wir auf keinen Fall mitmachen können.
({30})
Das ist nicht nur unseriös, das ist auch unzulässig. Nicht
nur die Länder müssen sich bundesfreundlich verhalten,
sondern auch der Bund muss sich länder- und gemeindefreundlich verhalten.
({31})
Vor allem aber muss sich der Bund verfassungskonform
verhalten.
Am Anfang stand nicht Vernunft, sondern Ideologie.
Jetzt marschieren Sie jeden Tag weiter in eine Sackgasse.
Der Rückweg zur Vernunft ist für Sie sicher schwierig;
aber er ist der allein richtige. Der vorliegende Gesetzentwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum Ausstieg
aus der so genannten Ökosteuer gibt Ihnen Gelegenheit
zur Rückkehr zur Vernunft.
({32})
Der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag von
Baden-Württemberg sagte in der „Eßlinger Zeitung“ vom
27. Mai dieses Jahres wörtlich:
Wir hatten vergangenen Freitag im Landtag den
Mädchentag mit 450 Mädchen von 15 bis 17 Jahren.
Denen haben wir die Frage gestellt, was ihnen an den
Grünen auffällt. Es kam die Antwort: Die müssen
entweder reich sein oder kein Auto fahren.
({33})
Das genau ist die Situation, eine wichtige Selbsterkenntnis.
Meine Damen und Herren, die ganz große Mehrheit
der Deutschen ist nicht reich, will aber dennoch Auto fahren. Machen Sie nicht an dieser ganz großen Mehrheit der
Deutschen vorbei Politik! Kehren Sie um! Machen Sie
keine Politik gegen die Bürger! Weg mit der Ökosteuer!
({34})
Bevor ich das Wort
weitergebe, komme ich noch einmal zum Tagesordnungspunkt 17 zurück.
Ich gebe das Ergebnis der Wahl der Bundesbeautragten
für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik bekannt.
Mitglieder im Deutschen Bundestag 668, abgegebene
Stimmen 496, davon gültig 496. Mit Ja haben gestimmt
419 Abgeordnete, mit Nein haben gestimmt 43, Enthaltungen 34.
({0})
Damit stelle ich auch förmlich fest, dass Frau
Marianne Birthler die erforderliche Anzahl von Stimmen erhalten hat und somit zur Bundesbeauftragten für
die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik gewählt
ist.
Sehr verehrte Frau Birthler, ich wünsche Ihnen im Namen des Hauses alles Gute bei der Wahrnehmung dieses
wichtigen Amtes, beglückwünsche Sie und wünsche Ihnen vor allen Dingen Gottes Segen.
({1})
Wir fahren in der Aussprache fort. Ich gebe das Wort
Kollegin Ute Vogt für die SPD-Fraktion.
({2})
Ministerpräsident Erwin Teufel ({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Unser Steuer- und Abgabensystem macht gerade das
teuer, was wir am dringendsten brauchen - Arbeitsplätze. Dagegen ist das, woran wir sparen müssen,
eher zu billig zu haben - Energie- und Rohstoffeinsatz. Dieses Ungleichgewicht müssen wir wieder
stärker ins Lot bringen, wenn wir unseren beiden
Hauptzielen mehr Beschäftigung und weniger Umweltbelastung näherkommen wollen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hätte brausenden
Applaus erwartet. Ich habe das Zukunftsprogramm der
CDU aus dem Jahre 1998 verlesen.
({1})
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, bei aller Wertschätzung Ihrer Person - die fehlende Seriosität Ihrer Argumente hat mich doch sehr verwundert. Wenn Sie den
Bürgerinnen und Bürgern hier vormachen, durch die Abschaffung der Ökosteuer könnte der Benzinpreis auf
Dauer gesenkt werden, dann ist das so ähnlich, wie wenn
Sie den Bürgerinnen und Bürgern sagen: Löscht euren
Durst mit Salzwasser!, und es ist genauso schädlich.
({2})
Es ist aus meiner Sicht kaum nachzuvollziehen, wie
sehr sich die Meinungen insbesondere bei der CDU in diesem Punkt mit dem Wind gedreht haben.
({3})
Der baden-württembergische Bundestagsabgeordnete
Hans-Peter Repnik sagte noch 1995 ganz klar und entschieden:
Umweltverbrauch ist zu billig, Arbeit zu teuer.
Deutschland muss notfalls im Alleingang die Ökosteuer einführen und die Lohnnebenkosten senken.
({4})
Genau das haben wir getan.
Wenn jetzt besondere Härten ausgeglichen werden,
dann hätte ich erwartet, Herr Teufel, dass gerade von Ihnen als Ministerpräsident eines Flächenlandes Jubelschreie erklingen, weil wir den Pendlern helfen, und dass
Sie es begrüßen, wenn wir in einem Flächenland die Berufspendler unterstützen.
({5})
Ich weiß, dass es Ihnen insgesamt nicht leicht fällt - Sie
haben damals in Ihrem Steuerkonzept schließlich eine Absenkung der Pendlerpauschale vorgeschlagen -: Aber
wenn wir heute die Entfernungspauschale erhöhen und
insgesamt diejenigen, die auf ein Fahrzeug angewiesen
sind, um zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen, unterstützen,
dann hätte ich erwartet, dass Sie im Interesse der Menschen dieses Landes zustimmen.
({6})
Eines verwundert mich schon:
({7})
Es gibt große Zukunftschancen in diesem Bereich, die im
Moment völlig vergessen sind. Gerade für uns in BadenWürttemberg spielt die Automobilindustrie eine zentrale
Rolle. Natürlich ist es wichtig, dass die Räder auch noch
in vielen Jahren rollen. Darin sind wir völlig einer Meinung. Aber wir wissen, sie können in 20, 30 oder 40 Jahren nicht mehr mit Diesel bzw. mit klassischem Benzin
rollen.
({8})
Herr Schrempp von Daimler-Chrysler hat selbst ganz
deutlich gesagt: Der Konzern hält die Betriebsstoffart
Brennstoffzelle mit Wasserstoff für die ganz große Alternative. Wenn wir heute erkennen, dass Benzin nicht mehr
unendlich zu haben ist, dann geht es jetzt darum, umzusteuern und Initiativen zu unterstützen, um Brennstoffzellen schnell auf den Markt zu bringen.
({9})
Daimler-Chrysler hat die Modelle bereitstehen und ist in
der Lage, in den nächsten Jahren Diesel- und Benzinmotoren durch Brennstoffzellen serienmäßig auszutauschen.
({10})
Ein weiterer Punkt, der insbesondere für den ländlichen Raum interessant ist - hierbei sind die Bayern weit
besser als die Baden-Württemberger, wie ich leider gestehen muss -: Wir haben die Möglichkeit, auch auf den Antrieb mit Rapsöl umzusteigen.
({11})
Wir hätten die Chance, den Landwirten eine Verdienstmöglichkeit anzubieten und gleichzeitig eine Raffinerie
einzurichten, in der Arbeitsplätze geschaffen werden, wodurch wir auch die hohen Ölpreise unterlaufen könnten,
weil wir Alternativen anzubieten hätten.
({12})
Die Realität war leider anders: In der vergangenen Woche war das Rapsdiesel bei uns in Baden-Württemberg
leider ausverkauft,
({13})
weil die Nachfrage so groß war und nicht vorgesorgt worden war. Statt dass Sie populistische Kampagnen machen,
wäre es viel wichtiger, im eigenen Land die Zukunft zu organisieren.
({14})
In der Heizungsbranche steigt jetzt beispielsweise die
Firma Vaillant um und wird in den nächsten Jahren eine
Serienproduktion von Brennstoffzellenheizungen aufnehmen. Die Konzerne Shell und BP haben in erneuerbare
Energien investiert. Nicht nur in Deutschland, sondern international werden Milliarden investiert, um den Energieverbrauch an die ökologischen Erfordernisse anzupassen,
während wir hier über 30 Pfennig in fünf Jahren diskutieren.
Wir dürfen vor der notwendigen Entwicklung nicht die
Augen verschließen. Wir müssen ehrlich zu den Menschen sein.
({15})
Wir sind nicht bereit, den Menschen vorzugaukeln, dass
es auf ewig so weitergehen kann. Aber wir sind bereit zu
sagen: Wir bieten die Sicherheit, dass man auch in Zukunft weiterhin Auto fahren kann, jedoch auf eine andere
Art, nämlich so, dass es umweltverträglich ist und dass
unseren Kindern die Umwelt erhalten bleibt.
({16})
Es ist die Aufgabe der Politik, vorausschauend zu arbeiten und vorausdenkend zu planen. Wir als Bundesregierung nehmen diese Aufgabe sehr ernst und wünschen
uns für das eine oder andere Bundesland, dass die dortigen Landesregierungen diese Aufgabe ähnlich ernst und
ähnlich ehrlich angehen. Ich wünsche mir, dass wir im
Sinne einer vernünftigen politischen Streitkultur wieder
dahin kommen,
({17})
dass wir Fakten gemeinsam akzeptieren. Wir können
durchaus unterschiedlicher Meinung sein; aber wir müssen aufhören, Halbwahrheiten zu verbreiten und, vor allen Dingen die Menschen pauschal zu verunsichern,
({18})
wie zum Beispiel beim Heizölpreis, bei dem ja ganz klar
und deutlich erwiesen ist, dass es keinen Zusammenhang
mit der Ökosteuer gibt.
({19})
Wenn man in diesem Zusammenhang behauptet, dass ausgerechnet das Heizöl preiswerter würde, dann es ist eine
ganz bewusste Täuschung, nur um entsprechende kurzfristige Erfolge zu verbuchen.
({20})
Ich bin mir sehr sicher, dass diese Rechnung nicht aufgehen wird und dass die Bürgerinnen und Bürger durch
diese Diskussion lernen, wer es mit den Problemen ernst
meint und wer hier nur versucht, eine populäre Show abzuziehen.
({21})
Ich will nur vorsorglich sagen, Herr Kollege Niebel: Die Liberalität in diesem
Hause geht nicht so weit, dass Sie hier die Stühle kaputt
machen können; damit das klar ist.
({0})
Nun gebe ich das Wort dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({1}): Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Herr Teufel, ich verstehe ja, dass Sie
meinen, den Bundestag auch für Wahlkämpfe nutzen zu
dürfen. Das ist legitim und Sie haben aus Wahlkampfsicht
ja auch eine gute Antwort bekommen.
Aber ich habe mich beim Zuhören Ihrer Rede gefragt:
Wer hat Ihnen diese Rede aufgeschrieben?
({2})
Sie sollten dem nachgehen. Es war jemand, der Ihnen
nicht wohlgesonnen war; denn jemand, der Ihnen wohlgesonnen wäre, hätte Ihnen nicht zu einem Einstieg über
Magdeburg und den Benzinpreisbeschluss der Grünen
geraten. Er hätte Ihnen aufgeschrieben, dass die jetzige
Parteivorsitzende der Christlich Demokratischen Union,
Ihre Vorsitzende, diesen Beschluss damals eine - ich zitiere - „richtige Grundidee“ genannt hat.
({3})
Ich füge ein Weiteres hinzu: Er hätte Sie vielleicht auch
auf eine Reihe von Zitaten von baden-württembergischen
CDU-Mitgliedern hingewiesen. Ein Teil von ihnen - Frau
Vogt hat sie gerade zitiert - hat sich genau für dieses Prinzip ausgesprochen. Das Verblüffende ist: In dem Moment,
in dem die jetzige Bundesregierung das umsetzt, was Herr
Repnik gefordert hat, nämlich Arbeit billiger machen,
Umweltverbrauch verteuern - notfalls im nationalen Alleingang -, steuern Sie eine Kampagne, die die Ideen und
den Grundgedanken Ihrer eigenen Vorsitzenden ad absurdum führt.
({4})
Ute Vogt ({5})
Sie behaupten sogar, dieser nationale Alleingang sei eine
Belastung für die deutsche Wirtschaft. Sie sind nicht einmal in der Lage, zu lesen und Tatsachen zur Kenntnis zu
nehmen.
({6})
Tatsache ist: Durch die Mechanik der Ökosteuer - Senkung der Sozialversicherungsbeiträge bei moderater,
schrittweiser Verteuerung von Mineralöl- und Stromverbrauch; so viel zum Thema Kohle - ist die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr um 2 Milliarden DM entlastet worden.
({7})
Diese Entlastung hätten wir als Bundesregierung sogar
im Subventionsbericht der EU zu nennen.
({8})
Die Ökosteuer, verehrter Herr Teufel, verehrter Herr Ministerpräsident, bedeutet keine Schwächung, sondern
nachlesbar eine Stärkung des Standortes Deutschland.
({9})
Ich verstehe, dass der wirtschaftspolitische Sachverstand Ihnen abhanden gekommen ist,
({10})
als Sie eine Koalition mit Herrn Döring eingehen durften.
({11})
Vielleicht hätte Ihnen jemand anders einen Hinweis darauf gegeben, dass es keinen zwingenden Zusammenhang
zwischen Steuersenkung und Preissenkung gibt. Denn
sonst wäre es nicht erklärlich, dass der Unterschied zwischen den Benzinpreisen in Luxemburg und Trier vor Einführung der Ökosteuer 32 Pfennig betrug und nach Einführung der Ökosteuer, zwei Jahre später, immer noch
32 Pfennig beträgt. In Luxemburg sind also die deutschen
Erhöhungen einfach mitgenommen worden.
({12})
Nun kann man sagen: In Luxemburg sind die Konzerne
anders als in Deutschland. Sie haben sich aber das falscheste Beispiel gegriffen - nein, aufschreiben lassen; das
will ich Ihnen zugute halten -, als Sie sagten, es liege an
der steigenden Belastung durch die Ökosteuer, dass die
Heizölkosten so gestiegen sind.
({13})
Ich darf Sie informieren: Erstens. Der Steuersatz bei Heizöl ist der niedrigste von allen Mineralölsteuersätzen.
Zweitens. Es gibt keine weiteren Steigerungen. Dennoch
steigt der Preis.
({14})
Was schließen wir daraus? Die Unternehmen tun das,
was Unternehmen tun. Sie werden den Preis nehmen, den
sie am Markt bekommen können. Jede Luft, die man ihnen mit Steuersenkungen gibt, werden sie genau in der
Weise ausnutzen, wie sie es beim Heizöl gemacht haben.
({15})
Deshalb haben wir gesagt, dass denjenigen, die sozial
schwächer sind als andere und die die Preistreiberei nicht
durch umweltgerechtes Verhalten kompensieren können,
geholfen werden muss. Wir haben die Soforthilfe für
Menschen, die Wohngeld bekommen, und Studierende
aufgelegt, um diese preispolitische Entwicklung, die die
Menschen nicht durch umweltgerechtes Verhalten ausgleichen können, sozial abzufedern.
Sie haben gesagt, das mit dem Heizöl sei nicht genug;
das mit der Entfernungspauschale - Bayern und BadenWürttemberg hatten das noch in diesem Frühjahr in den
Bundesrat eingebracht - sei nicht genug, bringe überhaupt
nichts. Dann sind Sie Gott sei Dank - ich hätte es Ihnen
noch vorgehalten - zum Kern Ihrer Rede gekommen.
Nachdem Sie sich hier sieben Minuten als ein sozial Gerechter echauffiert hatten, sind Sie zu dem zurückgekommen, was Sie eigentlich sind: ein ebenso bigotter wie
sparsamer Mensch. Was Sie an der Heizölhilfe und an der
Entfernungspauschale stört, ist doch schlicht und ergreifend, dass Sie sie mittragen müssten. Sie wollen sich an
der sozialen Entlastung nicht beteiligen.
({16})
Wenn man sich auf der einen Seite in einer Kampagne als
Rächer sozial Schwacher und Belasteter darstellt und auf
der anderen Seite bei nächster Gelegenheit sagt: „Mir gäbet nix“, dann ist das bigott und verlogen. Das lassen wir
Ihnen nicht durchgehen.
({17})
Letzte Bemerkung. Wenn Sie sich einmal ein bisschen
mit dem Thema beschäftigt hätten und sich nicht vor allen Dingen darauf kapriziert hätten, zum Beispiel als Land
Baden-Württemberg das Erneuerbare-Energien-Gesetz
im Bundesrat abzulehnen,
({18})
von dem Tausende Bauern leben - wir haben eine weltweit beachtete Entwicklung; wir sind bei erneuerbaren
Energien heute Spitze -, dann hätten Sie begriffen, dass
wir die Besteuerung der erneuerbaren Energien mit einem Marktanreizprogramm für erneuerbare Energien
zurückgeben. 200 Millionen DM jedes Jahr bedeuten
12 000 bis 15 000 Arbeitsplätze. Nicht einmal das hat man
Ihnen aufgeschrieben.
({19})
Bundesminister Jürgen Trittin
Einen Hinweis will ich Ihnen gerne noch geben, für
den Fall, dass Sie eine Diskussion mit Taxifahrern suchen.
({20})
Sie brauchen noch nicht die Brennstoffzelle. Aber sie haben heute schon eine praktische Alternative. Im Rahmen
der Ökosteuer ist nämlich eine Mineralölsteuerentlastung
für Benutzer von Erdgasfahrzeugen beschlossen worden.
Der Steuersatz liegt heute bei 20 Prozent der sonstigen
Mineralölsteuer. Die Mehrkosten für die Umrüstung einer
Taxe sind nach spätestens 80 000 Kilometern - bei einer
Lebensfahrleistung pro Taxe von 800 000 bis 1 Million
Kilometer - über die Steuerersparnis wieder aufgeholt.
Somit kann ich sagen: Die Entlastung für die Taxifahrer
liegt auf der Hand. In Hannover sind zum Beispiel 100 Taxifahrer bereits diesen Weg gegangen, sie haben auf Erdgas umgestellt, im Sinne von Klimaschutz, im Sinne einer
verbesserten Energieausnutzung und aus Sparsamkeitsgründen; sie haben nämlich ein besseres Betriebsergebnis.
({21})
Das Wort für die
F.D.P.-Fraktion hat der Kollege Rainer Brüderle.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Ihre Rede, Herr Trittin, zeigt, dass Sie
dialektisch gut geschult sind, aber nicht bereit sind, die
Zusammenhänge korrekt wiederzugeben.
({0})
Ich möchte zunächst mein Bedauern darüber ausdrücken, dass sich der Finanzausschuss am Mittwoch
nicht in der Lage sah, unseren Antrag zur Abschaffung
der Ökosteuer abschließend zu beraten. Mir ist dieses
Manöver zu durchsichtig. Vor allem die Grünen wollen
eine Debatte im Parlament über unsere Vorschläge verhindern.
({1})
Die Grünen wollen der Öffentlichkeit vorenthalten, dass
sie die Forderung nach einer verkehrsmittelunabhängigen
Entfernungspauschale bei der F.D.P. abgeschrieben haben.
({2})
Es ist okay, wenn Sie unsere Ideen übernehmen - das kann
ich nachvollziehen -, aber dass Sie mit Geschäftsordnungstricks Ihre eigene Ideenlosigkeit kaschieren wollen,
ist politisch schwach und einer Regierungspartei unwürdig.
({3})
Menschen in Deutschland - Pendler, Rentner, Taxifahrer und Trucker - verdienen Lösungen für die drängenden
Probleme. Parlamentarische Spielchen sind hier nicht angebracht, denn die Lage ist ernst. Der Konjunkturhimmel
verdunkelt sich. Der ifo-Index für das Geschäftsklima ist
zum wiederholten Male zurückgegangen. In der Wirtschaft macht sich langsam eine gefährliche Abwartehaltung breit, die das Wachstum gefährdet. Die Verteuerung des Erdöls trägt zu einer Verschlechterung des
Geschäftsklimas bei. Die Kerninflation fängt an zu steigen, da mittlerweile der Zweitrundeneffekt zum Tragen
kommt, das heißt, Unternehmen geben ihre gestiegenen
Kosten aus teuren Importen und hohen Energiepreisen an
ihre Kunden weiter. Wenn das so weitergeht, lässt die
nächste Leitzinserhöhung der Europäischen Zentralbank
nicht lange auf sich warten. Was das für Investitionen,
Wachstum und Arbeitsplätze bedeutet, brauche ich nicht
zu erklären.
({4})
Der Euro schwächelt weiter vor sich hin, die Volksabstimmung in Dänemark hat das Vertrauen in den Euro
nicht gerade gestärkt. Die direkten und indirekten Interventionen der Europäischen Zentralbank sind an den
Devisenmärkten verpufft, und zwar deshalb, weil die
großen EU-Länder Deutschland, Frankreich und Italien
keinen Politikwechsel hin zu mehr Flexibilität auf den Arbeits- und Gütermärkten vornehmen.
({5})
Die Binnennachfrage ist mangels privater Kaufkraft
nach wie vor schwach. Das wird sich auch nach In- KraftTreten der Steuerreform nicht ändern, weil die Entlastung
der privaten Haushalte durch die hohen Energiekosten
aufgefressen wird. Die angekündigte Erhöhung des Kilometergeldes werden die Bürger erst im Jahre 2002 spüren.
Im Übrigen ist sie in der Summe zu niedrig und außerdem
hilft es den auf das Auto angewiesenen Pendlern wenig,
wenn Sie den Fußgängern pro Kilometer 80 Pfennig Pauschale geben.
({6})
Diese Ökosteuer verstärkt auch das Rezessionsrisiko.
Die Sympathien in breiten Kreisen unserer Bevölkerung
für die Proteste gegen die Ökosteuer machen auch die
Steuermüdigkeit der deutschen Bevölkerung deutlich.
Die Menschen haben die Schnauze von dem vielen Abkassieren in Deutschland voll.
({7})
- Wer schreit, hat Unrecht, also schreien Sie ruhig weiter.
Die Entfernungspauschale ist keine Antwort auf die
Existenzsorgen der Fuhrunternehmer, der Taxifahrer und
weiter Teile unseres Mittelstandes. Die Ökosteuer muss
weg und der von Herrn Trittin wiederholte Einwand,
wenn man die Mineralölsteuer senkt, würden die Mineralölkonzerne - dies sind die neuen dunklen Kräfte, früher
Bundesminister Jürgen Trittin
in der Geschichte hat man andere dunkle Kräfte beschworen, um die eigene Unfähigkeit zu kaschieren - dies
zu einer Preiserhöhung nutzen, ist falsch.
In den Vereinigten Staaten ist der Steueranteil um
ein Vielfaches geringer als bei uns. Wäre Ihre Milchmädchenökonomie richtig, müsste es dort ein Superabzocken durch die Scheichs geben.
({8})
Allerdings machen die Amerikaner die bessere Nahostpolitik, die bessere Südamerikapolitik, die bessere Afrikapolitik als Ihr Kollege Joseph Fischer,
({9})
der mittlerweile Bewerbungsreden für den Posten des Generalsekretärs der UNO hält, weil ihm die deutsche
Außenpolitik offenbar schon zu langweilig wird.
Die Grünen wollen lieber den Bürgern den Urlaub
streichen, als endlich ihr verfehltes Ökosteuerkonzept
aufzugeben.
({10})
Ihr Argument, ohne die Ökosteuer gebe es ein großes
Loch in der Rentenkasse, stimmt nicht, weil Sie ja einen
Teil des Geldes - bei der zweiten Stufe sind es 6 Milliarden DM - im Haushalt verschwinden lassen, indem Sie
die Beiträge für Zivildienstleistende, Arbeitslose und
Wehrdienstleistende zu den Sozialversicherungssystemen
anstatt aus dem Haushalt aus den Ökosteuereinnahmen
zahlen. Es ist doch ein Schwindel, wenn Sie sagen, jede
Mark gehe in die Rente. Gleichwohl bleibt leider die
These „Rasen für die Rente“ richtig.
({11})
Herr Trittin, Sie haben im Umweltausschuss auf die im
Koalitionsvertrag von Rheinland-Pfalz enthaltene Regelung zur Entfernungspauschale verwiesen. Das ist ja drollig. Diese Regelung ist eine sinnvolle Maßnahme, aber
natürlich keine adäquate Antwort auf die Probleme, die
wir jetzt haben. Von ihnen können Sie nicht ablenken. Sie
sind ja auch erst seit Neuestem für die Erhöhung des Kilometergeldes. Als Herr Beck das in Rheinland-Pfalz gefordert hat, haben Sie ihn vehement angegriffen und laut
beschimpft. Für Sie ist das doch nur der kaschierte Ausstieg aus der Ökosteuer. Sie nehmen die Hintertür, weil
Sie nicht den Mut haben, durch die Vordertür zu gehen.
({12})
Meine Damen und Herren, die Frau Kollegin Wolf hat
vor kurzem in diesem Hause so schön aus einer Umfrage
zitiert, die besagte, dass die Rheinland-Pfälzer die optimistischsten Bundesbürger seien. Das hat seinen Grund
darin, dass in Rheinland-Pfalz die Grünen nie regiert haben.
({13})
Sie werden auch nicht regieren; dafür werden wir sorgen.
Die Chancen sind sehr gut, dass die Grünen dem nächsten
Landtag nicht mehr angehören. Ich sage Ihnen vorher: Die
Erhöhung der Ökosteuer Anfang 2001 wird zum Sargnagel der Grünen in Rheinland-Pfalz werden. Die rheinlandpfälzischen Bürgerinnen und Bürger werden Ihnen die
Quittung dafür erteilen, dass Sie Ihre Ideologie auf dem
Rücken der kleinen Leute austoben. Das ist Ihr Verständnis von Politik und das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
({14})
Das ist nicht der Weg, wie man vernünftig Zukunft gestaltet, sondern das krampfhafte Aufrechterhalten einer
Begründung dafür, den Dienstwagen weiter fahren zu
können. Sie wollten das Staatsangehörigkeitsrecht für alle
in der Welt öffnen und sind damit an die Wand gefahren;
es kam die rheinland-pfälzische Lösung. Sie wollten
schnell aus der Kernkraft aussteigen und haben jetzt einen
Kompromiss mit 32 Jahren; so lange halten die Kraftwerke gerade. Auch das ist wieder nichts für Ihre Wähler.
Deshalb klammern Sie sich an den Titel der Ökosteuer,
die keine ist. Sie wollen einen Rest Pseudobegründung
dafür haben, dass Sie noch auf der Regierungsbank sitzen.
Hören Sie auf, die Leute im Lande weiter zu drangsalieren, nur damit Sie Ihre Dienstautos behalten!
(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Horst Kubatschka [SPD]: Das ist aber billig! Ute Vogt [Pforzheim] [SPD]: Weil Sie traurig
sind, dass Sie kein Dienstauto mehr haben ! Weiterer Zuruf von der SPD: Der Realitätsverlust ist frappierend!
Das Wort für die PDSFraktion hat die Kollegin Dr. Barbara Höll.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gab einmal den schönen Fernsehspot „Wir haben nur diese eine Erde, schützen wir sie.“
Er brachte punktgenau ein Hauptproblem unserer Zeit
sinnlich wahrnehmbar in unser Fernsehen. Die Berichte
des Club of Rome sowie das politische Engagement erst
einzelner Belächelter, später ganzer Gruppen von Menschen, in Deutschland in Gestalt der grünen Partei, stellten das bisherige ungebrochene Wachstumsdenken und
den sorglosen, ja fahrlässigen Umgang mit den natürlichen Ressourcen und die damit verbundene Verschmutzung unserer Umwelt infrage. Gerade deshalb, weil in
diesem Bereich auch Verdienste der grünen Partei liegen,
ist es heute schon fast tragisch, dass nun eine Regierung
unter Beteiligung der Grünen durch ihre schlechte Politik
die Notwendigkeit ökologischen Handelns diskreditiert.
Mit einer Ökosteuer, die ökologisch weitgehend wirkungslos und sozial ungerecht ist, die in Wahrheit eine
weitere Umverteilung von unten nach oben beinhaltet, die
die Haushaltslöcher des Finanzministers stopft
({0})
und die gerade die Großindustrie entlastet,
({1})
haben Sie von der rot-grünen Regierungskoalition dem
ökologischen Denken und Handeln nachhaltig geschadet
und der CDU/CSU den Vorwand für eine flache, populistische Kampagne geliefert.
({2})
Lassen Sie mich gleich am Anfang klarstellen: Die Partei des Demokratischen Sozialismus bekennt sich dazu,
dass es notwendig ist, auch über eine Verteuerung der
natürlichen Ressourcen einen Umschwung zum nachhaltigen Wirtschaften und zum sparsamen Umgang mit den
Rohstoffen der Natur zu vollziehen.
({3})
Wir sind für eine Ökosteuer, aber nur für eine Ökosteuer,
die diesen Namen auch tatsächlich verdient.
({4})
Die jetzige Ökosteuer gehört ausgesetzt, abgeschafft und
muss durch eine neue ersetzt werden.
Die CDU/CSU nutzt die aus der Verteuerung der Weltmarktpreise für Rohöl und aus der von Rot-Grün eingeleiteten steuerlichen Verteuerung der Produkte des Rohöls
und des Stroms entstandene Situation, um die Menschen
vom ökologischen Grundgedanken abzubringen. Ihr
Gesetzentwurf, der heute vorliegt, fordert nur die Rücknahme der jetzigen Ökosteuer. Ich frage Sie: Wo sind Ihre
Antworten auf die Probleme? Wie wollen Sie sie lösen?
Die Atomkraft, mit der zukünftige Generationen belastet
werden, kann es als einzige Antwort ja wohl nicht sein.
({5})
An dem Punkt unterscheiden wir uns grundsätzlich von
der rechten Opposition dieses Hauses. Seit Beginn der
Diskussion über eine Ökosteuer haben wir unsere grundlegende Kritik an den rot-grünen Vorschlägen stets verbunden mit eigenen realisierbaren Vorschlägen für eine
ökologisch wirksame und sozial gerechte Ökosteuer.
({6})
Erstens. Um eine ökologische Lenkungswirkung
tatsächlich zu erzielen, ist es notwendig, bei der Erzeugung der Energie anzusetzen. Selbst die alternative
Stromerzeugung wurde ja von Ihnen in der ersten Stufe
mit belastet, und die 200 Millionen DM für die angeführten Programme sind zuerst überhaupt nicht im Haushalt
verankert gewesen. Auch da bedurfte es des Drucks der
Opposition.
Zweitens. Die Verteuerung des Energieverbrauchs darf
unserer Meinung nach das produzierende Gewerbe eben
nicht außen vor lassen. Die Unternehmen sind nun einmal
die größten Energieverbraucher und sie bekommen derzeit durch die interne Regelung der Ökosteuer von der erhöhten Strom- und Mineralölsteuer, die sie über 1 000 DM
zu zahlen haben, 96 Prozent erstattet. Das bedeutet, dass
kleine und mittelständische Betriebe gegenüber den
Großbetrieben wieder ungerecht behandelt werden.
Drittens kann unserer Meinung nach eine Ökosteuer
nur dann eine ökologische Lenkungswirkung entfalten,
wenn Bürgerinnen und Bürger reale Alternativen haben,
ihr Verhalten zu ändern. Ich nehme nur ein Beispiel: Die
Zahl der Berufspendler ist durch die Knappheit der
Arbeitsplätze, durch Standortwechsel der Unternehmen
und durch steigende Spezialisierung der Arbeitskräfte in
den letzten zehn Jahren sehr angestiegen. Die durchschnittliche Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsplatz hat sich von 1987 bis 1997 von 9,7 auf 10,7 km erhöht. Insbesondere die Zahl der Pendler, die einen
Arbeitsweg zwischen 10 und 40 km zurückzulegen haben,
hat zugenommen.
Dieser Prozess wurde begleitet von einem eklatanten
Rückgang des Angebotes der Bahn, einer vehementen
Verteuerung des öffentlichen Personennahverkehrs, sodass die realen Alternativen zum Umstieg für eine Vielzahl von Menschen überhaupt nicht mehr gegeben sind.
Ich erinnere nur an die Preise für S- und U-Bahn in Berlin: 4 DM für eine Streckenbenutzung.
Viertens. Die Anbindung der Ökosteuer an die Rentenversicherung war von Beginn an falsch. Es ist erstaunlich, aber auch begrüßenswert, dass Herr Eichel inzwischen laut darüber nachgedacht hat, ob man diese
Anbindung nicht auflösen müsste. Wir fordern: Tun Sie
diesen Schritt sofort. Beginnen Sie damit im Jahre 2001.
({7})
Denn während Unternehmen fast uneingeschränkt von
der Senkung der Rentenversicherungsbeiträge profitieren, werden ganze Bevölkerungsgruppen von dieser
Kompensation ausgeschlossen: Rentner und Rentnerinnen, Studenten, Kinder, Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose. Wenn man gerade diese Bevölkerungsgruppen mit
einer neuen Steuer belastet, kann man nicht erwarten, dass
diese Bevölkerungsgruppen dem dann noch begeistert
folgen. Das ist sozial ungerecht. Nur eine sozial gerechte
Steuer kann auch tatsächlich von der Bevölkerung getragen werden. Es ist deshalb notwendig, sofort mit Beginn
einer ökologischen Besteuerung einen unmittelbaren sozialen Ausgleich für sozial Schwache zu schaffen.
Frau Kollegin Höll,
denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Die Vorschläge dafür liegen
auf dem Tisch. Lassen Sie mich noch ein letztes Wort zur
verkehrsmittelunabhängigen Entfernungspauschale sagen. Ich bin froh, dass es nun auf Druck gelungen ist, die
von uns jahrelang erhobene Forderung zu verwirklichen,
und zwar so, wie es auch im Koalitionsvertrag steht. Ich
glaube, sie ist noch nicht sozial gerecht ausgestaltet. Aber
sie ist immerhin ein erster großer Schritt im Autoland
Deutschland.
Frau Kollegin, ich
bitte Sie, zum Schluss zu kommen.
Ich bedanke mich.
({0})
Das Wort für die Bundesregierung hat jetzt die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks.
Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben in den letzten Tagen eine Kampagne, die sich aus Populismus, Heuchelei und Lügen zusammensetzt.
({0})
Es ist gar nicht so einfach, zu sachlichen Fragestellungen
zurückzukommen, wenn zum Beispiel Herr Brüderle
heute hier eine Mischung aus Kassandra und Klippschule
bietet. Darauf kann man sachlich wirklich nur noch
schwer eingehen.
({1})
Es ist ja wohl fast zu vermuten, dass Sie entweder die
tatsächlich positiven ökonomischen Basisdaten einfach
nicht zur Kenntnis genommen haben oder dass Sie sie bewusst schlechtreden, um daraus einen parteipolitischen
Vorteil zu ziehen. Ich weiß nicht, ob das ein verantwortungsbewusster Politiker machen sollte.
({2})
Tatsache ist - darum geht es heute -: Der Rohölpreis
hat sich seit Ende 1998 mehr als verdreifacht. Das ist die
wichtigste Ursache für das gegenwärtig hohe Niveau der
Kraftstoffpreise. Natürlich wird die Mineralölsteuer von
den Konzernen über die Preise überwälzt. Aber ich darf
daran erinnern: 51 Pfennig Mineralölsteuererhöhung gehen auf das Konto der letzten CDU/CSU-F.D.P.-Regierung unter Kohl. Die Erhöhungen fanden in einem sehr
kurzen Zeitraum statt, nämlich von 1990 bis 1994.
({3})
- Das hören Sie nicht gern; das würden Sie gern vergessen, Sie haben die Mineralölsteuer in zwei Schritten, nämlich 1992 und 1994, erhöht.
Damals stieg parallel auch der Rentenversicherungsbeitrag. Er blieb nicht auf gleicher Höhe, nein, der Rentenversicherungsbeitrag stieg, und zwar fortwährend. Wir
dagegen entlasten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
sowie auch die Arbeitgeber durch eine Senkung des
Rentenversicherungsbeitrags. Auch das wollen Sie nicht
hören.
Die Opposition fordert die Abschaffung der Ökosteuer.
Wer ist das eigentlich, der das fordert? Sind das nicht die
gleichen Leute, die sich noch vor wenigen Jahren für eine
Ökosteuer stark gemacht haben? Haben Sie plötzlich den
Glauben an die Lenkungswirkung von Preisen verloren,
meine Damen und Herren von der F.D.P.? Was ist da eigentlich in Ihren Köpfen geschehen, oder ist die Umwelt
für die Opposition kein schützenswertes Gut mehr?
({4})
Die Länder hätten schon bald Gelegenheit, die Autofahrer zu entlasten, - wenn das Ihr Anliegen ist. Sie könnten auf die Anhebung der Kfz-Steuer zum 1. Januar
2001 verzichten. Auch Sie, Herr Ministerpräsident Teufel,
könnten das. Das beruht auf einer Gesetzesänderung aus
dem Jahre 1997. Das haben wir nicht in unserer Regierungszeit zu verantworten. Die Kfz-Steuer, deren Aufkommen allein den Ländern zugute kommt, steigt im Januar um rund 20 Prozent. Wo ist denn da die Initiative der
Länder? Offenbar wollen die Länder im nächsten Jahr auf
die zusätzlichen 2,5 Milliarden DM nicht verzichten. Hier
könnten sie initiativ werden.
({5})
Von Ihnen, Herr Teufel, höre ich dazu nichts. Es wäre
doch gar nicht so schlecht, wenn da einmal etwas käme.
Ihnen geht es natürlich nicht um die Sache, sondern um
eine Attacke auf die Bundesregierung. In diesem
Zusammenhang muss ich noch einmal auf Ihre Rede eingehen. Sie haben die zu erwartenden Veränderungen der
Abschreibungstabellen beklagt. Sie wissen doch, das
geht auf ein Urteil des Bundesfinanzhofes zurück, an dessen Umsetzung alle Länder beteiligt sind. Dieser Umsetzungsprozess ist noch nicht zu Ende.
Ich darf auch daran erinnern, dass Sie von der Union in
ihrem Steuerkonzept genauso wie wir in unserem jetzigen Finanztableau von 3,5 Milliarden DM Mehreinnahmen ausgehen. Wir werden dafür Sorge tragen, dass es
nicht mehr wird.
({6})
Ich darf auch daran erinnern, dass Sie von der Union
Ihr Steuerkonzept nur deshalb finanzieren konnten und
nur deshalb den Spitzensteuersatz für die wirklich Gutverdienenden auf 35 Prozent senken konnten, weil Sie
zwar wie wir jetzt auch die Einführung einer Entfernungspauschale - das ist ökologisch vernünftig - vorsahen. Aber Sie wollten diese auf 50 Pfennig senken und
zugleich die ersten 15 Kilometer nicht mehr als anrechnungsfähig anerkennen.
({7})
So sollten die Autofahrer mit mehr als 5 Milliarden DM
zur Senkung des Spitzensteuersatzes beitragen. Das war
Ihr Steuerkonzept.
({8})
Dieses Steuerkonzept ist nicht alt. Sie haben dafür noch in
diesem Jahr in diesem Haus und im Bundesrat gefochten.
Die Autofahrer sollten mit über 5 Milliarden DM zur Senkung des Spitzensteuersatzes beitragen. Das war Ihr Konzept.
({9})
Die Ökosteuerreform wird von uns so weitergeführt,
wie es im Gesetz steht. Wir spüren bereits die positiven
Folgen für den Arbeitsmarkt. Auch die ersten positiven
Effekte für die Umwelt treten ein. In der Wirtschaft werden neue Produkte entwickelt. Das Innovationspotenzial
ist noch längst nicht ausgeschöpft. Die Automobilindustrie hat beispielsweise Autos entwickelt, die mit weniger
Benzin als früher auskommen. Nach und nach werden die
alten Spritfresser durch moderne Autos ersetzt werden.
Der Benzinverbrauch wird zurückgehen, auch wenn die
Fahrleistung nicht abnimmt.
Herr Ministerpräsident Teufel, in diesem Zusammenhang möchte ich Folgendes sagen: Es ist schon richtig,
dass die Kfz-Anmeldezahlen in der Bundesrepublik
Deutschland zuletzt zurückgegangen sind. Es ist aber
auch richtig, dass der Grund für die gute Konjunktur nicht
nur der gegenwärtige Euro-Kurs ist. Wie Sie alle wissen,
gehen ungefähr 50 Prozent unserer Exporte in den
Euro-Raum. Daran kann die Veränderung der Paritäten in
der Währung überhaupt nichts geändert haben.
Ich darf Sie darauf aufmerksam machen - als Ministerpräsident eines „Autolandes“, das darf man durchaus
so sagen, müssten Sie das wissen -: Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland zurzeit die historisch jüngste
Autoflotte, die es jemals gegeben hat. Wenn die Marktgesetze also noch irgendwie gelten, dann scheint es so zu
sein, dass derzeit bei uns ein gewisser Sättigungsgrad erreicht ist. Wenn es so ist, dass in Deutschland die durchschnittlich jüngste Autoflotte, die es seit Bestehen der
Bundesrepublik gibt, unterwegs ist, dann sind die Autobesitzer wohl mit relativ neuen Autos versorgt und es wird
irgendwann eine Welle geben, wo mehr neue Autos gekauft werden.
({10})
In Frankreich haben die Anmeldezahlen deutlich zugenommen, bei gleichzeitig hohen Energiepreisen, die auch
für Privatleute nicht gesenkt worden sind. Das ist aber auf
der Basis einer ganz anderen, viel älteren Autoflotte geschehen. Das können Sie sehen, wenn Sie durch eine französische Stadt gehen. Die Wirtschaft in Frankreich entwickelt sich jetzt positiv. Die Menschen haben mehr Geld
in der Tasche und kaufen sich neue Autos. Bei uns ist das
schon seit zwei Jahren der Fall und deswegen haben wir
die historisch jüngste Autoflotte.
({11})
Genauso beliebig wie Ihre Prinzipien in der Umweltpolitik - ich bin eben schon darauf eingegangen - ist auch
Ihre Haltung zur Entfernungspauschale. Wir werden einen Gesetzentwurf Entfernungspauschale, auf die sich die
Regierungsparteien schon in der Koalitionsvereinbarung
geeinigt haben - Herr Brüderle, wir haben das nicht von
Ihnen abgeschrieben, wie Sie meinten; das gilt auch für
die Grünen -, in den Bundestag einbringen.
Die Umsetzung zum 1. Januar 2001 wird allen Arbeitnehmern zugute kommen. Da die Entfernungspauschale
mit 80 Pfennig je Kilometer höher als die bisherige Kilometerpauschale für PKW ist, fällt die Entlastung für
Pendler sogar höher aus als die Bruttobelastung durch die
Ökosteuer. Dabei ist die Entlastung durch die Rentenversicherung noch nicht einmal gegengerechnet. Gleichwohl
werden die insgesamt steigenden Benzinpreise nicht vollständig aufgefangen werden können. Zumindest wird
aber die Belastung durch die Ökosteuer aufgefangen.
Herr Brüderle, in diesem Zusammenhang möchte ich
Ihnen eine kleine Nachhilfe in Sachen Umsetzung des
Steuerrechts - das muss man nicht wissen - geben:
({12})
Unsere Maßnahmen wirken natürlich schon ab dem 1. Januar 2001, weil sich jeder Bürger einen entsprechenden
Freibetrag, auf der Lohnsteuerkarte eintragen lassen kann,
sodass er von da an monatlich weniger Steuern zahlt.
({13})
- Diejenigen, die keine Steuern zahlen, sind in der Tat
steuerlich schwer zu entlasten. Das ist nun einmal so.
Dasselbe würde für andere Formen der Entlastung, zum
Beispiel für eine Kilometerpauschale, wie Sie sie vorgesehen haben, gelten.
({14})
Dort, wo die Preisentwicklung auf den Rohölmärkten
zu sozialen Härten führt, greift die Bundesregierung ein.
Sozialhilfeempfänger, Wohngeldbezieher und Studenten,
die BAföG beziehen, werden einen einmaligen Heizkostenzuschuss bekommen. Dies hat gar nichts mit der
Ökosteuer zu tun; vielmehr geht es um die Preisexplosion,
auf die sich die Menschen so kurzfristig nicht einstellen
konnten. Deswegen wollen wir ihnen mit einer einmaligen Beihilfe zur Seite stehen.
({15})
Ich hoffe, dass wir in diesem Hohen Hause eine Mindestübereinkunft darüber erzielen - ich denke insbesondere an diejenigen, die die Marktwirtschaft so hochhalten,
wie Sie das zumindest sonst immer tun; jetzt scheint Ihnen das auf einmal nicht mehr so wichtig zu sein -, dass
der Staat nicht auf Dauer mit Beihilfen gegen weltweit
steigende Preise angehen kann. Deswegen muss dies eine
einmalige Hilfe bleiben. Wir müssen die Bürgerinnen und
Bürger leider bitten, sich darauf einzustellen, dass die
Preise im Laufe des Jahres anhaltend hoch bleiben.
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt die Kollegin Gerda Hasselfeldt.
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Die Geschichte der Ökosteuer ist ein Paradebeispiel für die fehlende Glaubwürdigkeit dieser Bundesregierung und insbesondere des Bundeskanzlers.
({0})
Das will ich Ihnen im Folgenden begründen. Erstens.
In der Koalitionsvereinbarung, die Sie am Anfang dieser Legislaturperiode abgeschlossen haben, heißt es wörtlich:
Bei der konkreten Ausgestaltung dieser Schritte
muss auch die konjunkturelle Lage und die Preisentwicklung auf den Energiemärkten berücksichtigt
werden.
Mit den Schritten sind die weiteren Schritte der Ökosteuer
gemeint. Die Preisentwicklung und die konjunkturelle
Entwicklung sind also zu beachten. Und was tun Sie?
({1})
Bei steigenden Preisen und bei Problemen mit der konjunkturellen Entwicklung senken Sie nicht die Steuern,
sondern erhöhen sie. Sie machen also genau das Gegenteil dessen, was Sie in der Koalitionsvereinbarung geschrieben haben.
({2})
Wenn Sie glaubwürdig sein wollten, dann müssten Sie das
Kommando schnellstens zurücknehmen und die Ökosteuer abschaffen.
({3})
Zweitens. In der Debatte um die Ökosteuer hieß es
vonseiten des Bundeskanzlers von Anfang an, die weiteren Schritte würden auf EU-Ebene abgestimmt und harmonisiert. Das hat er versprochen. Ist dies tatsächlich eingehalten worden? Auf EU-Ebene ist über nichts
abgestimmt worden. Im Gegenteil: Mittlerweile reagieren
andere Länder wie zum Beispiel Frankreich oder die Niederlande auf die gestiegenen Preise und ergreifen eigene
Maßnahmen. Die deutsche Regierung dagegen lässt die
Spediteure, die Landwirte, die Unternehmer und die Bürger im Regen stehen. Das ist das Ergebnis dieser Regierung.
({4})
Drittens. Der Bundeskanzler hat bei der Verabschiedung der ersten Stufe der Ökosteuer gesagt: Ich bedauere,
dass der Eine oder Andere im Monat 10 DM mehr für das
Autofahren, für das Heizen, für Gas zu zahlen hat. Auch
im ungünstigsten Fall ist es nicht mehr; bei 6 Pfennig ist
Ende der Fahnenstange. - Tatsächlich aber sind es eben
nicht 10 DM pro Monat, sondern das Vielfache davon.
({5})
Tatsächlich ist nicht bei 6 Pfennig Schluss gemacht worden, sondern erst bei 30 Pfennig; das ist also eine Erhöhung um fünfmal 6 Pfennig. Zusätzlich kommt darauf
noch die Mehrwertsteuer. An diesem Beispiel wird deutlich: Diesem Bundeskanzler darf man gar nichts mehr
glauben.
({6})
Wenn Sie in Ihren Reihen noch einen Funken an
Glaubwürdigkeit haben, dann müssen Sie die berechtigten Sorgen der Bürger ernst nehmen, auch derjenigen, die
in diesen Tagen demonstriert haben, die uns täglich Briefe
schreiben, die Familien, die Landwirte, die Spediteure,
die Geringverdiener und die Gartenbaubetriebe. Angesichts deren Existenzsorgen müssen Sie die Konsequenz
ziehen und die Ökosteuer abschaffen. Sie passt nicht in
die konjunkturelle Lage, sie passt nicht zur Preisentwicklung, sie schwächt die Wettbewerbsposition unserer Betriebe und schadet vor allem den sozial schwächeren Bürgern.
Es wird immer wieder gesagt, die Einnahmen aus der
Ökosteuer würden für die Rentenversicherung verwendet. Wir haben von Anfang an darauf hingewiesen, die
Probleme in der Rentenversicherung müssten durch eine
Reform in diesem Bereich gelöst werden. Wenn Sie nach
der Bundestagswahl nicht das, was wir beschlossen hatten, zurückgenommen hätten, dann hätten Sie in der Rentenversicherung heute nicht die Probleme, die Sie nicht
lösen können.
({7})
Sogar der Bundesfinanzminister hat gesagt, die Verknüpfung der Ökosteuer mit der Absenkung der Rentenbeiträge - so haben Sie die Ökosteuer immer begründet sei falsch. Wo er Recht hat, hat er Recht.
({8})
Wenn aber selbst der Finanzminister das zugesteht, dann
muss die logische Konsequenz sein, dass sie abgeschafft
wird. Man darf sie auf keinen Fall aufrechterhalten oder
sogar noch erhöhen, wie Sie es vorhaben.
({9})
Nun wird in diesen Tagen ja angekündigt - auch jetzt
wieder -, dass Sie die Pendler durch die Erhöhung der Kilometerpauschale bzw. die Umgestaltung dieser Kilometerpauschale in eine Entfernungspauschale entlasten. Es
wird angekündigt, dass die Wohngeldempfänger und die
Sozialhilfeempfänger durch einen Heizkostenzuschuss
entlastet werden. Ich frage Sie: Was machen Sie dann mit
den Spediteuren und den Gartenbaubetrieben, was geschieht mit den Landwirten und anderen mittelständischen Unternehmen, die zusätzlich belastet sind und in einem enormen internationalen Wettbewerb mit Firmen in
Ländern stehen, in denen die Regierungen andere Maßnahmen ergriffen haben? Was geschieht mit den Familien,
die kein Wohngeld und keine Sozialhilfe beziehen, weil
deren Einkommen etwas darüber liegt, aber sehr wohl
niedrige Einkommen haben? Was geschieht mit Auszubildenden, die pendeln müssen, oder mit denjenigen, die
wenig verdienen, weil es zum Beispiel nur einen Verdiener gibt? Diese bezahlen nur wenig Lohn- oder Einkommensteuer und haben deshalb überhaupt nichts von der
Entfernungspauschale, müssen aber trotzdem die gestiegenen Benzinpreise bezahlen.
Meine Damen und Herren, Sie schaffen mit diesen
Maßnahmen neue Ungerechtigkeiten. Es handelt sich um
eine Flickschusterei. Es wäre viel konsequenter und sozial
gerechter, wenn Sie den Schluss ziehen würden, diese
Ökosteuer ganz abzuschaffen. Dann nämlich könnten Sie
sich all diese Flickschusterei sparen.
({10})
- Richtig, Herr Kollege Seiffert, zulasten der Länder und
Kommunen.
Der Herr Ministerpräsident hat es ja schon angesprochen: Die Länder und Kommunen zahlen bei diesen Ausgleichsmaßnahmen - Entfernungspauschale, Heizkostenzuschüsse - mehr als die Hälfte. Die Einnahmen aus
der Ökosteuer aber kassiert der Finanzminister alleine,
genauso wie er die Einnahmen aus den UMTS-Lizenzen
alleine kassiert.
({11})
Da kann er natürlich schön den braven Buchhalter spielen, wenn er alle Gelder aus dem Abkassieren behält, aber
bei Ausgaben und Mindereinnahmen die Länder und
Kommunen mit einbezieht. Die Kommunen haben - das
möchte ich noch dazu sagen - nicht nur Mindereinnahmen aufgrund dieser Entscheidungen, sondern sie müssen
auch noch die gestiegenen Preise und die erhöhten Steuern bezahlen, beispielsweise bei den Hallenbädern, den
Bauhöfen, den Schulbussen und dergleichen mehr. In diesen Bereichen werden sie noch zusätzlich belastet. Solch
eine Ungerechtigkeit ist nicht mehr tragbar. Ich bin sehr
froh, dass auch einige Ministerpräsidenten aus der SPD
dieses mittlerweile erkannt haben. Ich bin auch gespannt
darauf, welche Entscheidung dann der Bundesrat treffen
wird.
({12})
Die ganze Ökosteuer-Geschichte war von Anfang an
eine Missgeburt; daran besteht überhaupt kein Zweifel.
Die Entwicklung der Ökosteuer und die Entscheidungen
für die Ökosteuer waren von Anfang an durch nicht eingehaltene Versprechungen der Regierung und des Bundeskanzlers begleitet.
({13})
Was jetzt vorgelegt wird, ist nichts anderes als Flickschusterei.
Ich möchte Sie deshalb herzlich bitten, einmal über
Ihren Schatten zu springen, einzusehen, dass dies eine
falsche Entscheidung war, und Bereitschaft zu zeigen, die
damals getroffene falsche Entscheidung zu revidieren und
die Steuer endgültig abzuschaffen.
({14})
Frau Kollegin
Hasselfeldt, es gab noch eine Zwischenfrage des Kollegen
Berg, aber sie wurde mir leider zu spät signalisiert.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Reinhard Loske für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man
kann es kurz machen. Da wir heute einen CDU/CSU-Antrag vorliegen haben, macht es Sinn, noch einmal kurz die
Glaubwürdigkeit der CDU/CSU in dieser Angelegenheit
zu betrachten, und zwar auf zweierlei Weise,
({0})
indem wir zum einen schauen, was sie früher gesagt haben und was sie heute sagen, und zum anderen, was sie
hier im Parlament und was sie auf der Straße sagen.
Zu dem Punkt, was sie früher gesagt haben, könnte
man viel zitieren. Das haben wir schon oft gemacht. Wir
haben Herrn Schäuble zitiert, wir haben Herrn Repnik zitiert, wir haben Frau Merkel zitiert und auch Herrn Merz
zitiert. Sie alle waren früher für die ökologische Steuerreform.
({1})
Interessant ist für mich auch, dass sich unter den Namen
auf dem hier vorgelegten Gesetzentwurf weder Herr
Repnik noch Herr Schäuble, noch Frau Merkel, noch Herr
Merz finden, sondern nur Herr Michelbach und die anderen militanten Kämpfer gegen die Ökosteuer.
({2})
Das heißt also, es gibt offenbar noch gewisse moralische
und intellektuelle Skrupel bei der Führungsspitze der
CDU/CSU. Das ist absolut zu begrüßen. Frau Merkel
wird früher oder später realisieren, dass man nicht nach
dem Motto operieren kann: Was ich früher prima fand,
bekämpfe ich heut’ im ganzen Land! Das glauben die
Leute nicht. - Das ist das Erste.
({3})
Der zweite Punkt ist: Wie redet man hier im Parlament
und wie redet man auf der Straße? Hier im Parlament
heißt es: Wir wären ja für die ökologische Steuerreform,
wenn sie denn ökologisch zielführender wäre, wenn sie
denn europäisch harmonisiert wäre und wenn sie denn
wirtschaftsverträglicher wäre. Draußen auf der Straße
randaliert Michelbach und beklebt Autos des BundestagsFahrdienstes mit „K.O.-Steuer“-Aufklebern. Wer wird
wohl die Kosten für die Reinigung der Autos bezahlen?
Aber das ist eine Nebenfrage.
Wir wollen uns den Argumenten zuwenden. Wie sieht
es denn mit der europäischen Harmonisierung aus? Wie
war es, als die CDU regiert hat? 1990 wollte Klaus Töpfer
eine nationale CO2-Steuer einführen: 10 DM pro Tonne
CO2. Damit haben ihn seine Parteifreunde aber im Regen
stehen lassen; sie haben gesagt: Hier muss es zu einer europäischen Harmonisierung kommen. Und was geschah
auf europäischer Ebene? Die Harmonisierung stand kurz
vor dem Abschluss, als sie von Waigel und Bangemann,
die hier so getan haben, als sei dies nur europäisch zu regeln, verhindert wurde.
({4})
Das ist die gespaltene Zunge, mit der Sie schon damals
gesprochen haben und mit der Sie auch heute sprechen.
Nun zur europäischen Harmonisierung: Wo stehen wir
denn in Europa? Bei den Benzinpreisen liegen wir auf
Platz neun, im hinteren Mittelfeld, beim Strompreis und
beim Heizölpreis im Mittelfeld. Auch von daher ist Ihr Argument „nationaler Alleingang“ töricht, falsch und irreführend.
Wie steht es mit der ökologischen Zielführung der
Ökosteuer? Wir haben neben dem allgemeinen Lenkungseffekt dieser Ökosteuer verschiedene Begünstigungstatbestände vorgesehen: für die Kraft-Wärme-Koppelung, für die Blockheizkraftwerke, für die Bahn, für den
ÖPNV, für die Erdgasfahrzeuge und für hoch effiziente
Kraftwerke. Dies wirkt. Das sind jedoch die Details, die
Sie überhaupt nicht interessieren.
Was aber wehtut - das führt zum Thema Wirtschaftsverträglichkeit - ist Folgendes: In Memmingen demonstrieren die Bauern, und zwar nicht gegen die Ökosteuer,
sondern dafür, dass man mehr für erneuerbare Energien
und nachwachsende Rohstoffe tut - genau das, was wir
wollen.
({5})
Die Waldbesitzer geben heute eine Erklärung heraus, in
der es heißt, dass von den hohen Mineralölpreisen der
Rohstoff Holz profitiert, wovon man sich große Zukunftschancen verspricht. In Uelzen gibt es eine ganzseitige Anzeige des gesamten Handwerks, die etwa so lautet: Leute,
ihr braucht nicht zu demonstrieren! Kommt zu uns, wir
halbieren sofort eure Heizkostenrechnungen! ({6})
Piëch kündigt öffentlich an, VW werde bald das Einliterauto bauen, Daimler und BMW setzen auf Wasserstoffautos und Gesamtmetall ist gegen die Abschaffung der Ökosteuer. Meine Damen und Herren von der Union, ich
verstehe, dass das wehtut. Sie stehen bald allein im Regen. Deshalb ist Ihr Gezeter auch so heftig.
({7})
Abschließend zu Baden-Württemberg und RheinlandPfalz: Herr Ministerpräsident, wir kennen uns nicht persönlich. Ich habe Sie immer als knorrigen Konservativen
wahrgenommen. Aber gerade deshalb verstehe ich Ihr
Staatsverständnis überhaupt nicht. Sind Sie denn ernsthaft
der Meinung, dass wir demnächst neben den Preissäulen
der Tankstellen Finanzbeamte platzieren sollen, und wenn
die Preise steigen, senken wir die Steuer, und wenn die
Preise fallen, erhöhen wir die Steuer? Das kann doch nicht
Ihr Ernst als Konservativer sein!
({8})
Ich lebe im Rheinland, die Landesgrenze verläuft
200 Meter hinter meinem Haus. Deshalb hätte ich gern etwas zu den fröhlichen Leuten in Rheinland-Pfalz gesagt.
Ich glaube, dass gestern die Stimmung bei den lustigen
Leuten in Rheinland-Pfalz noch erheblich gestiegen ist;
denn die jüngste Umfrage besagt, dass die F.D.P. in der
Wählergunst von 10 auf 7 Prozentpunkte gefallen ist.
({9})
Abschließend zur Kampagne der Union und der F.D.P.
Zur Abschaffung der Ökosteuer möchte ich, leicht modifiziert, Wilhelm Busch zitieren - den kennen Sie alle -:
Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Falsche, das
man lässt. Das geht an Ihre Adresse.
Danke schön.
({10})
Die letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Nina Hauer von der SPDFraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Damen
und Herren! Dass Sie hier unlauteres Spiel betreiben, weil
Sie früher selbst die Notwendigkeit einer ökologischen
Steuerreform bejaht haben, ist Ihnen heute schon oft genug vorgehalten worden. Aber unlauter ist Ihr Spiel auch
deshalb, weil Sie die eigentliche Ursache der hohen Benzinpreise, die die Leute drücken, immer noch nicht begriffen und hier auch nicht genannt haben. Die eigentliche
Ursache ist die Preiserhöhung durch die Mineralölkonzerne und nicht die Ökosteuer.
({0})
In Ihrem Antrag verweisen Sie mit Recht darauf, dass
wir einen bemerkenswert guten wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland genommen haben, seit die rotgrüne Koalition an der Regierung ist. Für diesen Aufschwung gibt es verschiedene Gründe. Einer dieser
Gründe ist sicherlich, dass es uns gelungen ist, die Arbeitskosten zu senken.
({1})
Dies ist uns gelungen, weil wir die Ökosteuer eingeführt
haben. Das Prinzip der Ökosteuer ist: Wir verteuern die
Energie ein bisschen, senken aber dafür die Beiträge für
die gesetzliche Rentenversicherung.
Dass diese Steuer ökonomisch sinnvoll ist, zeigt sich
an den Beschäftigungszahlen - wir haben allein in diesem
Jahr 171 000 Beschäftigte mehr - und an der Tatsache,
dass die Arbeitnehmereinkommen entlastet werden, weil
die Menschen weniger in die Rentenversicherung einzahlen. Wir entlasten damit natürlich auch die Arbeitgeber. Zu diesen Entlastungen gibt es wirtschaftspolitisch
keine Alternative. Es wäre ausgesprochen unsinnig, diese
Entlastungen zurückzunehmen,
({2})
weil das dazu führen könnte, dass wir diesen erfolgreichen wirtschaftspolitischen Kurs nicht fortsetzen können.
Es ist natürlich auch klar, was passieren würde, wenn
wir heute beschließen würden, die Ökosteuer zu streichen. Jeden Pfennig, den wir mit der Steuer heruntergehen, zahlen wir morgen aufgrund einer Benzinpreiserhöhung an der Tankstelle wieder zurück. So funktioniert
das marktwirtschaftliche Prinzip. Es wundert mich, dass
Sie von der CDU/CSU, aber auch Sie von der F.D.P. immer noch nicht richtig verstanden haben, wie dieses Prinzip funktioniert.
({3})
Angenommen, wir würden mitspielen und die Ökosteuer streichen: Was würden Sie eigentlich machen,
wenn zum Beispiel die Shell AG ihre Ankündigung wahr
macht, im Falle eines gesunkenen Barrelpreises beim
Benzinpreis nachzugeben? Dann würde das Benzin zwar
weniger kosten, aber die Menschen müssten einen höheren Rentenversicherungsbeitrag zahlen. Das würde die
Einkommen und den Mittelstand wieder belasten. Von
Entlastung kann dann also keine Rede sein.
({4})
Zu Ihrem Antrag. Phantasievolle Finanzpolitik mag ja
den einen oder anderen in der CDU/CSU-Fraktion ansprechen. Aufgrund dieses bemerkenswerten wirtschaftlichen Aufschwungs haben wir natürlich mehr Steuereinnahmen.
({5})
Diese Steuereinnahmen schätzen Sie in Ihrem Antrag auf
18 Milliarden DM. Sie wollen diese Einnahmen verwenden, um die Abschaffung der Ökosteuer gegenzufinanzieren. Diese Mehreinnahmen stehen aber dem Bund, den
Ländern und den Kommunen zu. Ich weiß nicht, ob Sie
sich einmal überlegt haben, ob die Länder und die Kommunen dem Bund ihren Anteil für die Gegenfinanzierung
überlassen würden. Ministerpräsident Teufel hat heute
Morgen nichts darüber gesagt, ob er diese Einnahmen
dem Bund zur Verfügung stellen würde. Diese Einnahmen
stehen nicht dem Bund alleine zu, sie müssen aufgeteilt
werden.
Nach Ihrer eigenen Berechnung - das ist übrigens auch
das Ergebnis unserer Berechnung - sollen die Ausfälle allein im ersten Jahr 22 Milliarden DM betragen. Diese
müssten durch die Mehreinnahmen aufgrund der guten
Konjunktur gegenfinanziert werden. Auf der einen Seite
haben wir also Mehreinnahmen von 18 Milliarden DM,
die unter den drei staatlichen Ebenen aufgeteilt werden
müssen, und auf der anderen Seite gibt es Ausfälle von
22 Milliarden DM, die gegenfinanziert werden müssen.
Meine verehrten Damen und Herren von der CDU/CSU,
wenn Sie so rechnen, dann wird mir klar, warum wir zu
1,4 Billionen DM Schulden gekommen sind.
({6})
Das ist eine Finanz- und Haushaltspolitik, die zwar sehr
phantasievoll sein mag, die aber doch riskiert, dass wir
eine solide Konsolidierung unserer Finanzen nicht erreichen können. Sie sollten sich das also noch einmal überlegen!
({7})
Sie argumentieren mit den Belastungen für die mittelständischen Unternehmen. Wir wissen, dass die kleinen
und mittelständischen Unternehmen unter der hohen Abgabenlast gelitten haben, die Sie während Ihrer Regierungszeit verursacht haben. Wir konnten dies den vielen
Gesprächen entnehmen, die wir mit ihnen geführt haben.
Wir haben deshalb immer wieder gesagt - beispielsweise
im Rahmen der Debatte über die Steuerreform -: Wir können uns nicht darauf einlassen, dass Sie gemeinsam mit
wenigen Funktionären, zum Beispiel mit Funktionären
der Handwerksverbände, immer nur darauf insistieren,
den Spitzensteuersatz auf abenteuerliche 38 Prozent zu
senken.
Wir haben immer wieder gesagt, dass diese Maßnahme
den kleinen und mittelständischen Unternehmen in unserem Land nicht gerecht wird. Diese Unternehmen brauchen eine ganz andere Entlastung. Wir können ihnen nicht
mit einer Senkung des Spitzensteuersatzes helfen.
({8})
Diesen Unternehmen helfen wir, indem wir sie auf breiter
Front entlasten. Das haben wir getan. Die kleinen und mittelständischen Unternehmen spüren das. Von einer Belastung kann also keine Rede sein. Im Gegenteil: Es gibt eine
Entlastung für die kleinen und mittelständischen Betriebe,
für die Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnenhaushalte
von 93 Milliarden DM. Ich denke, das kann sich sehen
lassen. Wir haben das im Gegensatz zu Ihrem Antrag - das
habe ich Ihnen eben vorgerechnet - auch solide finanzieren können.
Wir tun aber noch mehr. Wir entlasten auch diejenigen,
die darauf angewiesen sind zu pendeln. Es sind übrigens
ungefähr 14 Prozent aller berufstätigen Menschen in
unserem Land, die mehr als 25 Kilometer zur Arbeit
fahren.
({9})
Ich weiß, dass in der einen oder anderen Region mehr
oder weniger Menschen - auch in meiner Region sind es
übrigens mehr Menschen - auf das Auto angewiesen sind.
Denen wollen wir jetzt helfen, indem wir die Entfernungspauschale einführen. Dass wir dies als eine Maßnahme, um die Mobilität zu unterstützen, sowieso getan
hätten, passt in die politische Konzeption unserer Politik.
Wir unterstützen mit unserer Ökosteuer eine Konstruktion, die die Belastungen vom Faktor Arbeit wegnimmt
und die Energiekosten anhebt, indem eine Querfinanzierung stattfindet. Dies ist ein sinnvoller Vorgang. Unsere
wirtschaftlichen Daten sprechen dafür. Insofern können
Sie Ihren öffentlichen Druck meinetwegen auf der Straße
oder auch mit anderen Kampagnen fortsetzen. Wir werden uns diesem Druck nicht beugen. Vor allen Dingen,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU, sind wir
nicht erpressbar.
({10})
Frau Kollegin Hauer,
bevor wir fortfahren, möchte ich eine Bemerkung machen. Dem Präsidium ist eben die Nachricht zugetragen
worden, dass Sie morgen heiraten. Im Namen des Hauses
wünsche ich Ihnen „Toi, toi, toi!“ für den morgigen, wichtigen Tag in Ihrem Leben.
({0})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die
Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache
14/4097 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert
Geis, Ronald Pofalla, Wolfgang Bosbach, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU
eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes
zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes ({1})
- Drucksache 14/4070 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kolleginnen und Kollegen Stünker, Götzer, Beck, van Essen und
Jelpke haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. - Ich sehe
im Namen des gesamten Hauses Einvernehmen damit,
dass sie dies getan haben.
Deshalb sind wir bereits beim Überweisungsvorschlag.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/4070 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Auch das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe deshalb den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Namensaktie und zur Erleichterung der Stimmrechtsausübung ({2})
- Drucksache 14/4051 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kolleginnen und Kollegen Brinkmann, Tiemann, Margareta Wolf
und Barbara Höll haben ihre Reden bereits zu Protokoll
gegeben. Es gibt jedoch seitens der F.D.P.-Fraktion einen
Redewunsch. Deshalb erteile ich dem Kollegen Rainer
Funke das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie brauchen sich gar nicht aufzuregen.
Ich halte Sie hier nicht im Schnack auf, wie man in Hamburg sagen würde. Ich habe vielmehr um das Wort gebeten, weil ich das Namensaktiengesetz durchaus begrüße.
Wir werden daran mitwirken, dass dieses Gesetz im
Rechtsausschuss schnell beraten wird. Wir möchten aber
auch, dass die Regelung des so genannten VW-Gesetzes,
dass Dauervollmachten bei der Hauptversammlung von
VW nicht möglich sind, mitberaten und aufgehoben wird.
Das ist der eine Punkt.
Weiterhin möchten wir anregen, dass die Unsitte einiger Daueropponenten in den Hauptversammlungen, Anfechtungsklagen anzukündigen und häufig auch umzusetzen, gesetzlich untersagt werden muss. Die Firmen und
damit auch die Arbeitnehmer nehmen dadurch nämlich in
erheblichem Maße Schaden. Die Daueropponenten tun
dies nicht etwa, weil es Ihnen um den Minderheitenschutz
geht, sondern ausschließlich, um sich selber zu bereichern, indem sie die Gesellschaft abzocken. Sie verlangen
von ihr, bestimmte Beträge zu zahlen. Anschließend nehmen sie die Anfechtungsklage zurück. Diese Unsitte muss
endlich aufhören.
Beim Deutschen Juristentag ist darüber debattiert worden. Es wäre denkbar - ich bitte Herrn Staatssekretär
Pick, sich dafür einzusetzen -, dass wir in den Berichterstattergesprächen eine Formulierung finden, die analog
zu § 16 Abs. 3 Umwandlungsgesetz ist, damit diese Unsitte endlich bekämpft wird.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Der Parlamentarische
Staatssekretär Eckhart Pick gibt seine Rede ebenfalls zu
Protokoll.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/4051 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur
Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze ({0})
- Drucksache 14/4061 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Finanzausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kollegin-
nen und Kollegen Hartenbach, Tiemann, Wilhelm, Funke,
Kenzler sowie der Parlamentarische Staatssekretär
Eckhart Pick haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. -
Ich sehe keinen Widerspruch gegen dieses Verfahren.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzes-
entwurfs auf Drucksache 14/4061 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 e sowie Zusatz-
punkt 13 auf:
23. e) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Gemeinsamen Protokoll vom 21. September
1988 über die Anwendung des Wiener Übereinkommens und des Pariser Übereinkommens
({2})
- Drucksache 14/3953 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
ZP 13 Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Atomgesetzes ({3})
- Drucksache 14/3950 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Die Kolleginnen und Kollegen Kubatschka, Grill, Hustedt, Homburger
sowie Bulling-Schröter haben ihre Reden zu Protokoll gegeben. - Auch hier sehe ich keinen Widerspruch im
Hause.
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 14/3953 und 14/3950 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Auch hier gibt es keine anderweitigen Vorschläge. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 14 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung zur anhaltenden
öffentlichen Diskussion über den weiter zunehmenden Wohnungsleerstand in Ostdeutschland
und zum Arbeitspapier der ostdeutschen Länder anlässlich der 101. Bauministerkonferenz
Ich eröffne die Aussprache und erteile für die PDSFraktion der Kollegin Christine Ostrowski das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Das Haus war heute Vormittag voll
besetzt, als wir die Debatte zum zehnten Jahrestag der
deutschen Einheit führten. CDU und SPD haben die Erfolge benannt und sich die Argumente gebührend um die
Ohren geschlagen. Dabei waren Sie sich in einem einig:
Es wächst zusammen, was zusammengehört.
Nichts aber hat sich in den zurückliegenden Jahren so
weit auseinander entwickelt wie der Wohnungsmarkt in
Deutschland. Hier ist nichts von Einheit zu spüren. Er
wächst auch nicht zusammen. Er ist so gespalten, wie er
es noch nie zuvor war. Über leer stehende Wohnungen
wurde heute früh kein Wort verloren. Tote Fenster passen
auch schlecht zu Jahrestagen.
Der Wohnungsleerstand kommt jetzt vor leerem Haus
zur Sprache, aber über 1 Million leere Wohnungen in Ostdeutschland gehören zur Bilanz deutscher Einheit. Zum
ersten Mal in der neueren deutschen Geschichte steht der
Abriss von Wohnungen auf der Tagesordnung. Es gibt
eine Vermögensentwertung, die ohne Beispiel ist. Zum
ersten Mal gibt es Konkurse kommunaler Wohnungsunternehmen. Zum ersten Mal schrumpfen Städte und es besteht die Gefahr ihres Zerfalls, nicht nur baulich, sondern
auch sozial. Das ist ein historisch einzigartig negativer
Zustand. Leere Wohnungen sind der äußere Ausdruck tiefer liegender Prozesse. Ich rede jetzt hier nicht von der
Standortpolitik der DDR, nicht vom Wegbrechen von Arbeitsplätzen und auch nicht von ungeahnten Forderungen
nach Sonderabschreibungen und ähnlichem. Das alles
trifft zu. Ich rede hier und jetzt von einer Völkerwanderung, die für Deutschland in diesem Jahrhundert - wenn
ich die Kriegsfolgen ausnehme - ohne Beispiel ist.
Über 2 Millionen Menschen haben in den letzten zehn
Jahren den Osten verlassen und sich im Westen angesiedelt, haben dort einen neuen Lebensmittelpunkt gefunden. Es sind vorwiegend die Jüngeren gegangen, die
Flexibleren. Zurückgeblieben sind die Älteren, die weniger Flexiblen. Die Tatsache, dass auch von West nach Ost
1 Million Menschen wanderten, konnte den absoluten
Verlust nicht kompensieren. Die Bevölkerungsbilanz von
zehn Jahren deutsche Einheit heißt eben ein Defizit von
weit über 1 Million Menschen, das nicht rückgängig zu
machen ist.
Vizepräsidentin Petra Bläss
Die Abwanderung wird allen Prognosen nach weiter
anhalten, aber - das ist das nunmehr gravierendere Problem - sie wird überlagert durch den natürlichen Bevölkerungsrückgang. In den nächsten 15 Jahren wird die Zahl
der Todesfälle die Zahl der Geburten übersteigen. Zu weiter anhaltender Abwanderung wird ein weiteres Defizit
von 10 Prozent hinzukommen, das durch nichts und durch
niemanden aufzuhalten ist. Dazu sinkt die Zahl der Jüngeren rapide und die Zahl der Älteren nimmt rapide zu.
Betroffen sind wiederum jene Städte, die heute schon
unter Abwanderung leiden, wie Wittenberge, Hoyerswerda, Wolfen, Schwedt usw. Und so sind leere Wohnungen nur die Spitze des Eisberges eines wirklich ernsthaften Prozesses.
Heute noch unsichtbar sind Vermögensentwertungen.
Sie beginnen bei einer Wohnung, bei einem Gebäude, und
sie werden sich bei der Infrastruktur fortsetzen und auf sie
übergreifen. Unsichtbar sind auch noch die Folgen der
mangelnden, der sinkenden Nachfrage nach Wirtschaft,
nach Dienstleistungen, die Folgen der wegen der Alterung
veränderten Nachfrage. Verdeckt sind noch die Folgen für
die Sozialstrukturen der Städte.
Im Moment schlägt dieser Prozess unerbittlich und
knallhart auf die wirtschaftliche Seite der Wohnungsunternehmen durch. Leere Wohnungen verursachen - so hat
das Institut Empirica bilanziert - Kosten von 2,2 Milliarden DM pro Jahr. Ich wiederhole diese Zahl: 2,2 Milliarden DM pro Jahr. Allen hier ist klar, dass diesen 2,2 Milliarden DM Kosten keine 2,2 Milliarden DM Einnahmen
gegenüberstehen. Im Gegenteil, denn die Wohnungsunternehmen sind gleichzeitig durch finanzielle Forderungen belastet, die sie aufgrund von für die Modernisierung
aufgenommenen Krediten zu erfüllen haben.
Leere Wohnungen gibt es überall. Es gibt sie im Altbau
in den Innenstädten, zum Beispiel in Görlitz, in Leipzig,
in Wittenberge. Es gibt sie in Plattenbaugebieten wie
Hoyerswerda, Schwedt und Weißwasser. Es gibt sie in unterschiedlichem Ausmaß, in Dranske schon über 50 Prozent, in Hoyerswerda bei 30 Prozent. Aber selbst ein
Wachstumsknoten wie die Landeshauptstadt Dresden hat
einen Wohnungsleerstand von 17 Prozent.
Meine Damen und Herren, der Markt wird hier nichts
richten. Die Bundesregierung wird vor einer Grundsatzentscheidung stehen. Entweder sie verhält sich so, wie
sie sich bisher verhalten hat, das heißt, außer einigen kosmetischen Maßnahmen tut sie nichts. Dann wird sich die
Lage, weil die natürliche Bevölkerungsentwicklung nicht
zu ändern ist, unabänderlich zu einer extremen Lage ausweiten. Wir werden mit dem weiteren Zerfall von Sozialstrukturen, mit dem Zerfall von Infrastruktur, mit Konkursen, mit der Ausweitung von Vermögensentwertung,
auch mit sterbenden Orten zu tun haben. Oder die Bundesregierung nimmt die bestehenden Tatsachen zur
Kenntnis und macht sie zur Grundlage ihres Handelns und
entscheidet sich im Wissen darum, wie dieser Prozess verläuft, für das einzig Mögliche, nämlich für einen hohen
Subventionsaufwand.
Dieser Subventionsaufwand ist gerechtfertigt und notwendig, wenn man nicht die Gefahr des Auseinanderbrechens von Städten in Kauf nehmen will. Diese Gefahr ist
ernst und sie erzwingt diesen Aufwand, den die
Bundesregierung zu leisten hat, auch unter Beteiligung
der Länder und Kommunen, aber auf gar keinen Fall mit
einem Anteil der Bundesregierung, der unter demjenigen
der Städte, der Länder und der Wohnungsunternehmen
liegt.
Danke.
({0})
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt Kollege Peter Danckert.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren Kollegen! Der strukturelle Wohnungsleerstand, über den wir heute hier reden, ist - darüber gibt es gar keinen Zweifel, Frau Ostrowski - in Ostdeutschland ein wichtiges Problem. Es ist aber auch ein
sehr schwieriges und vielschichtiges Problem, für dessen
Lösung es keine Patentrezepte gibt. Das ist auch das Ergebnis der Bauministerkonferenz vom 4. September dieses Jahres.
Ich füge hinzu: Es ist in meinen Augen auch ein gesamtdeutsches Problem - das übersehe ich keineswegs mit erheblichem sozialen Sprengstoff. Das bedeutet, dass
wir uns gemeinsam bemühen müssen. Insofern ist dies gar
kein Feld für parteipolitische Auseinandersetzungen.
Deshalb verkneife ich mir jeden Rückblick auf die Entstehungsgeschichte dieses Problems an dieser Stelle. Das
hilft weder uns noch den Menschen.
Wir brauchen für die Lösung einen Gesamtansatz, an
dem alle mitwirken müssen: Der Bund - darauf komme
ich nachher noch -, die Länder, die Kommunen, die Wohnungswirtschaft und - auch das ist für mich ein ganz
wichtiger Gesichtspunkt - die Kredit gebenden Banken
müssen mitwirken. Sie haben an diesem Vorgang etliche
Märker verdient und sollten jetzt, wie es in jeder krisenhaften Situation bei jedem Wirtschaftsunternehmen der
Fall ist, ihren Beitrag zur Lösung des Problems leisten.
Wir alle kennen die Ursachen für diesen strukturellen
Leerstand. Das sind die hohe Arbeitslosigkeit, der Wegzug jüngerer Menschen, der damit in Verbindung steht,
der Geburtenrückgang, der damit ebenfalls zusammenhängt, und die Veränderung der Bevölkerungsstruktur. All
diese Gesichtspunkte machen deutlich, dass es sich hier
um ein Problem handelt, das so vielschichtig ist, dass man
hier nicht mit einer einzigen gesetzlichen Regelung etwas
verbessern kann.
Jeder hat in seinem Wahlkreis Beispiele für die katastrophale Situation. Ich kann aus Luckenwalde, der
Kreisstadt meines Wahlkreises, berichten. Die Zahl der
Bevölkerung ist von 1990 bis jetzt etwa um 12 Prozent
zurückgegangen. Die Arbeitslosenquote liegt bei etwa
17,4 Prozent. Der Wohnungsleerstand beträgt über das
Ganze gesehen etwa 23 Prozent. Bei den Wohnungsunternehmen sind es 45 Prozent, bei dem restitutionsbehafteten Wohnungsbestand sogar 75 Prozent. Das sind
erschreckende Zahlen. Sie zeigen, dass wir an dieser
Stelle eingreifen müssen. Aber wie gesagt, ein Patentrezept gibt es dafür nicht. Wir müssen mit einem Bündel von Maßnahmen versuchen, dieses Problem zu lösen.
Es ist klar, dass sich in den Bereichen, in denen es Leerstand gibt, soziale Verwerfungen ergeben: für die Mieter,
die sich in diesem Umfeld natürlich nicht besonders wohl
fühlen, und für die Wohnungsunternehmen, denen der
Leerstand wirtschaftliche Probleme verursacht. Insofern
sind alle aufgerufen, hier mitzuwirken und diesen Missstand zu beseitigen.
Ich will nur einmal andeuten, dass wir die WohngeldNovelle auf den Weg gebracht haben. Andere Verbesserungen in dem sozialen Bereich sind die Erhöhung des
Kindergeldes und die Auswirkungen der Steuerreform.
Aber wir werden versuchen, das Problem der Wohnungswirtschaft mit der Novelle zum Altschuldenhilfe-Gesetz
und hier insbesondere mit dem § 6a anzugehen, der die
Ermächtigung für den Erlass einer Rechtsverordnung beinhaltet. Ich gehe davon aus, dass dieses Gesetz in Kürze
auf den Weg gebracht werden kann.
Aber es geht nicht nur darum, dass wir hier eine
Rechtsverordnung vorlegen, die den Bedürfnissen, die für
alle klar zu erkennen sind, Rechnung trägt. Wir müssen
auch - das ist das Entscheidende - im Haushalt die Mittel zur Verfügung stellen, um diese Aufgabe zu lösen. Das
ist etwas, von dem ich hoffe, dass es in diesen Wochen angegangen werden kann; denn wir haben 1 Million leer stehende Wohnungen. Wir müssen bei den Wohnungsunternehmen, die von der Krise besonders betroffen und in
ihrer Existenz gefährdet sind, rund 100 000 Wohnungen
rückbauen. Das bedeutet in vielen Bereichen einen erheblichen finanziellen Kraftakt. Der Bund muss dazu seinen Anteil leisten, indem er weitere Teilentlastungen bewilligt. Die Länder müssen bei der Erstellung eines
Sanierungskonzeptes mitwirken. Ebenso müssen die
Kommunen mitmachen. Und auch - so steht es auch in
der amtlichen Begründung zum AltschuldenhilfeGesetz - die Kredit gebenden Banken müssen ihren Beitrag leisten.
Wir müssen weitere Verbesserungen vornehmen. Auch
das, was im Rahmen der Mietrechtsreform gemacht wird,
ist wichtig. Wir müssen die Verwertungsmöglichkeiten
eröffnen. Wenn ein Rückbau vorgesehen ist und die Mittel dafür zur Verfügung stehen, kann es nicht sein, dass ein
einzelner Mieter diese Sanierung verhindern kann.
Wir können also sehen, dass an verschiedenen Stellen
eingegriffen werden muss, um einen gemeinsamen Lösungsansatz für dieses doch sehr schwierige Problem zu
finden. Wir sind alle aufgerufen, hieran mitzuwirken. Insofern kam die Aktuelle Stunde an diesem Tage, an dem
heute Morgen im Plenum der Verwirklichung der deutschen Einheit große Aufmerksamkeit geschenkt wurde,
noch im richtigen Moment. Übrigens hat Bundeskanzler
Schröder sehr wohl etwas zu der Problematik gesagt.
({0})
Herr Kollege
Danckert, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Natürlich kann man in einer so umfassenden Regierungserklärung diesen Punkt
nur streifen, aber er hat es erwähnt.
Ich finde, wir sollten alle daran mitwirken, dass es zu
einem erfolgreichen Abschluss bei der Lösung dieses
schwierigen Problems kommt.
Vielen Dank.
({0})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt Kollege Manfred Grund.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Probleme
sind durch die Vorredner hinreichend beschrieben worden. Ungefähr 1 Million Wohnungen stehen in den neuen
Bundesländern leer, Fluktuation und Wegzug sind nicht
zu stoppen, das Überangebot von Wohnungen führt zu
Mietpreisverfall, Angebot und Nachfrage am Wohnungsmarkt stehen in keiner Relation. Im Ergebnis droht jedem
sechsten kommunalen Wohnungsunternehmen in den
neuen Bundesländern die Pleite.
Dies ist im zehnten Jahr der deutschen Einheit - wir haben heute Morgen Bilanz gezogen - keine zufrieden stellende Bilanz. Wir wünschten uns, weiter zu sein. Aber wir
hätten es auch schlechter treffen können.
Wie war die Ausgangslage? Nach dem 8. Parteitag der
SED war das Wohnungsbauprogramm Schwerpunkt einer proklamierten Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik; das Wohnungsproblem als soziales Problem
sollte bis 1990 in der damaligen DDR gelöst sein. Der
Volksmund spottete: Bis 1990 jedem eine Wohnung und
bis 1995 jedem seine Wohnung. Es entstanden Plattenbauten mit zunehmend schlechterer Qualität und Ausstattung. Heizungen waren nicht regulierbar, Dichtungsfugen
in Plattenbauten wurden nicht mehr abgedichtet und
Wohngebietsstraßen wurden als sandgeschleppte Schotterwege ausgeführt. Arbeiterschließfächer, Arbeiterintensivhaltung - das war die spöttische Umschreibung dieses
kollektivierten Wohnens.
Und doch: Neubauwohnungen, Plattenbauten waren
begehrt. Hier gab es Zentralheizung, warmes Wasser und
meist ein intaktes Dach. Denn mit der Konzentration auf
den Bau von Neubauwohnungen gingen der Verfall und
die Verwahrlosung der Altbausubstanz einher: defekte
Fenster, undichte Dächer, aufsteigende Feuchtigkeit,
keine ausreichenden Sanitäranlagen. Dies war der Alltag
kommunaler Altbauwohnungen und zunehmend auch der
noch privaten Mietshäuser, für die es keine Baubilanzen
gab, sodass vielen Eigentümern nichts anders übrig blieb,
als ihre Häuser dem Staat zu schenken.
Die Verwahrlosung der Innenstädte, der Verfall der Altbausubstanz hatte System: Ruinen schaffen ohne Waffen.
Sarkastischer und hoffnungsloser als der Volksmund
konnte man diesen von der SED zu verantwortenden Verfallsprozess nicht umschreiben.
({0})
- Da kann man lachen? Ich kann nicht darüber lachen; mir
fehlt da wahrscheinlich Ihr Humor.
Dies war 1990 die Ausgangslage: Millionen nicht bewohnbarer Altbauwohnungen, Millionen sanierungsbedürftiger Neubauwohnungen. Die Quote an Eigenheimen
und privatem Wohnraum lag weit unter dem Durchschnitt
Westdeutschlands und der europäischen Staaten.
Seit 1990 sind in die Wohnungsmodernisierung in den
neuen Bundesländern Milliarden investiert worden, öffentliche Mittel und private Gelder. Aus Ruinen wurden
blühende Städte.
({1})
In Erfurt konnte das historische, zum Abriss preisgegebene Andreasviertel gerettet werden.
Das Wohnungsproblem als soziales Problem ist gelöst.
Aus Mietersicht sind Wohnungsleerstand und Mietpreisverfall keine schlechte Sache. Aber ein auf Dauer funktionierender Markt braucht ein Gleichgewicht zwischen
Angebot und Nachfrage. Das heißt, dauerhaft leer stehende Wohnungen müssen durch Rückbau oder durch Abriss vom Markt genommen werden. Dazu braucht es öffentliche Gelder und gute Konzepte. Hier ist zuerst der
Bund gefragt, aber auch Länder und Kommunen.
Es gibt noch eine andere Dimension - auch sie ist angesprochen worden -: Dem Bevölkerungsrückgang, dem
Wegzug in die alten Bundesländer muss gegengesteuert
werden. Es darf keine Wegzugprämie geben, wie sie im
SGB III beim Wechsel des Arbeitsplatzes oder bei der
Aufnahme einer Ausbildung in den alten Bundesländern
vorgesehen ist.
Der Freistaat Sachsen hat ein Ausbildungsprogramm
aufgelegt, wonach es einen Kredit gibt, den man nur dann
zurückzahlen muss, wenn man sich in den alten Bundesländern ausbilden lässt und nicht nach Sachsen zurückkommt.
({2})
Das ist eine Stimulierung zur Rückkehr. Ich glaube, das
müssen wir einmal miteinander diskutieren. Wir müssen
schauen, ob man da nicht mehr machen kann.
Die öffentlichen Mittel, die zurzeit für Abwanderung
gezahlt werden, müssen in Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze in den neuen Bundesländern investiert werden. Dies ist eine Investition, die sich auch für die
Wohnungsbauunternehmen lohnen wird.
Danke.
({3})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Franziska Eichstädt-Bohlig.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Erst einmal muss ich, ähnlich wie die Kollegin
Ostrowski, mein Bedauern ausdrücken, dass die Diskussion über die deutsche Einheit heute Morgen teilweise zu
einer Aufrechnung über bessere und schlechtere Vereinigungsmacher missbraucht wurde.
({0})
Das fand ich sehr problematisch. Ich freue mich, dass wir
uns überwiegend einig sind, dass die Menschen und die
Städte in Ostdeutschland es durchaus verdient haben, dass
wir über ihre Probleme sehr ernsthaft und nicht mit Rechthaberei, wie sie heute Morgen inszeniert wurde, diskutieren.
({1})
Ich denke, inzwischen besteht auch darüber Einigkeit es hat ein Jahr intensiven Anstoßens gebraucht, dass dieses Problem überhaupt ins Bewusstsein kam; bei vielen
Westdeutschen ist es noch gar nicht im Bewusstsein, weil
sie nicht wissen, wie die Verhältnisse im Ostteil sind -,
dass wir einen dramatischen Bevölkerungsrückgang und
Strukturwandel haben. Insgesamt sind die Bevölkerungszahlen im Osten bis 1998 um 5 Prozent zurückgegangen. Entscheidend ist aber, dass die Städte 12 bis
15 Prozent der Bevölkerung verloren haben, die eine
Hälfte durch Arbeitsplatzsuche - sei es nach Westdeutschland, sei es in andere Städte -, die andere Hälfte
durch wohnungsbezogene Stadt-Umland-Wanderung, in
der Regel in die kleineren Umlandgemeinden.
Herr Kollege Grund, Sie haben das Herunterwirtschaften der Innenstädte und Altstädte durch die SED-Politik
stark kritisiert. Diese Kritik teile ich völlig. Aber ich muss
schon sagen, dass die Politik der gießkannenmäßigen Förderung von Neubauten in den Umlandgemeinden in Ostdeutschland nach dem Fördergebietsgesetz Ihrer Regierung - ohne Prüfung der Bevölkerungsentwicklung und
des Wohnungsbedarfs - eine Übersubvention gewesen ist.
Wir alle sind froh, dass sie inzwischen abgebaut ist. Sie
hat dem Osten tatsächlich geschadet. Wir haben heute die
Situation, dass die Innenstädte den Großsiedlungen
Konkurrenz machen und beide zusammen den Einfamilienhaus- und Kleinsiedlungsgebieten. Die Bürgermeister
wissen praktisch nicht, wohin sie ihre Potenziale stecken
sollen. Denn natürlich wollen viele Leute möglichst im
Einfamilienhaus leben, wenn sie es sich leisten können.
Ich sage es ohne Häme: Auch diese Verantwortung muss
man als ein Stück Vereinigungsgeschichte sehen; wir alle
müssen sie heute tragen.
({2})
Die Zahlen sind schon genannt worden: 1 Million
Wohnungen stehen leer. Das sind 13 Prozent aller Wohnungen in Ostdeutschland. Das muss man sich einmal
vorstellen. In Sachsen stehen 16 Prozent der Wohnungen
leer. Das bedeutet eine wirklich sehr schwierige Aufgabe.
Es geht nicht nur um das Thema Leerstand. Vielmehr
geht es auch darum, dass die Städte in Zukunft ihr
Schrumpfen planen müssen. Stellen Sie sich bitte einmal
einen Bürgermeister vor, der mit seiner Stadtverordnetenversammlung den Rückbau eines Stadtteils beschließen muss. Eine so dramatische Entwicklung können
wir uns alle bisher gar nicht vorstellen. Teilweise haben
wir da eine innere Barriere. Ich möchte nur darauf hinweisen, wie schwierig die Aufgabe ist. Es ist nicht nur
eine kurzfristige Aufgabe, sondern wir müssen damit
rechnen, dass die nächsten zehn bis zwanzig Jahre gebraucht werden, um diese Anpassung an die rückläufigen
Bevölkerungszahlen vorzunehmen, die generell zu einer
Herausforderung des Stadtumbaus im Osten werden.
Ich möchte dafür werben, dass es nicht nur darum geht,
über Leerstände, Rückbauten und Abrisse zu reden, vielmehr müssen wir es mit positiven Bildern verbinden. Für
die Menschen ist es sehr wichtig, dass der Stadtumbau mit
einem positiven Bild zum Bleiben in den Städten
herausfordert. Das heißt; wenn ich auf der einen Seite den
Rückbau sehe, möchte ich auf der anderen Seite die Reihenhaussiedlung, die schöne Grünanlage oder florierende
Gewerbebetriebe sehen, die wieder Mut machen, in der
Stadt oder in dem Stadtteil zu wohnen, zu leben und dort
in Zukunft zu bleiben.
({3})
Wir haben das Thema auf Bundesseite intensiv angestoßen und sind inzwischen schon sehr weit. Wir haben
mit dem Altschuldenhilfe-Gesetz und dessen Ergänzung
durch den berühmten Paragraphen 6a, den wir vor der
Sommerpause verabschiedet haben, Zeichen dafür gesetzt, dass die Koalition dazu bereit und daran interessiert
ist, insbesondere der ostdeutschen Wohnungswirtschaft
zu helfen. Wir werden das tun und im Rahmen der Haushaltsberatungen auf den Weg bringen. Ich möchte aber
auch die Kommunen, die Länder und die Wohnungswirtschaft auffordern, ihrerseits nicht immer nur Forderungen
an den Bund zu stellen, sondern auch von sich aus aktiv
daran zu arbeiten, dass der Einstieg in diesen Stadtumbau,
den wir alle dringend brauchen, Schritt für Schritt positiv
begonnen und begleitet wird.
Ich glaube, insofern müssen alle die Ärmel hochkrempeln und wir müssen das gemeinsam nach vorne treiben,
und zwar nicht nur auf der Bundesebene, sondern genauso
in den Ländern und Kommunen.
({4})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Karlheinz Guttmacher.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben
heute Vormittag in einer sehr eindrucksvollen Debatte an
den zehnten Jahrestag der Wiedervereinigung unseres
Vaterlandes erinnert, in der wir sowohl die Probleme aufgezählt als auch die Erfolge genannt haben.
Ich glaube, eines der größten Probleme, das wir bei der
Wiedervereinigung in der Bundesrepublik Deutschland
hatten, war die Umstrukturierung der Wirtschaft von einer
klassischen Planwirtschaft zu einer sozialen Marktwirtschaft.
({0})
Das führte dazu, dass wir als Ausgangsbasis sehr große
Kombinate hatten, in denen 20 000, 30 000 Menschen gearbeitet haben, verbunden mit der Konzipierung der ehemaligen DDR, die Wohnsiedlungen als kleine Satellitenstädte den Kernstädten anzugliedern. Aufgrund des
Wegfalls der Kombinate, des Wegfalls des Jobs und natürlich auch des Wegfalls des Bodenplatzes erfolgten große
Veränderungen. Die Menschen haben sich letztlich einen
neuen Job und eine neue Wohnung gesucht. Das ist das
dramatische Problem, vor dem wir heute stehen.
Deswegen beklagen wir heute - zehn Jahre nach der
deutschen Wiedervereinigung -, dass wir einen Leerstand
an Wohnungen in der Größenordnung von 1 Million haben. Frau Eichstädt-Bohlig, der Wert von 13,2 Prozent
geht auf eine Analyse von 1998 zurück. Ich behaupte, dass
diese Zahl heute wesentlich höher liegt. Deswegen wundert es mich nicht, dass im Arbeitspapier der ostdeutschen
Bauminister das Problem des Leerstandes als ein Alarmzeichen angeführt wird.
Ich kann mich erinnern, dass diese Bauminister, nachdem wir wenige Wochen zuvor im Bundestag über die
Novellierung des Altschuldenhilfe-Gesetzes debattiert
hatten, dieser Novelle der rot-grünen Bundesregierung im
Bundesrat zugestimmt haben. Nun kommen sie und sagen: Wir haben hier ein Kardinalproblem, das wir dringend lösen müssen.
Herr Dr. Danckert, ich schätze Sie ja sehr und kenne,
auch Ihre Haltung zum Altschuldenhilfe-Gesetz sowie zu
dem von uns eingebrachten Vorschlag in Bezug auf den
strukturellen Leerstand. Danach sollte in das Altschuldenhilfe-Gesetz ein Passus aufgenommen werden, der besagt, dass alle Wohnungsunternehmen, die einen größeren
Wohnungsleerstand und damit einen strukturellen Leerstand haben, von der Altlastenschuld in Höhe von
150 DM pro Quadratmeter entlastet werden. Mit bis zu
5 Prozent Leerstand muss ein jedes Wohnungsunternehmen ordentlich umgehen können.
Sie haben unserem Antrag nicht folgen können, sondern einen § 6a mit der Ermächtigung, eine Rechtsverordnung zu erlassen, in das Altschuldenhilfe-Gesetz aufgenommen. Heute haben auch Sie dankenswerterweise
gesagt, dass jetzt etwas gegen den Leerstand getan und
§ 6a jetzt umgesetzt werden müsse. Wenn man ehrlich ist,
muss man zugeben, dass wir das alles schon hätten haben
können.
({1})
Deswegen, meine Damen und Herren, bitte ich Sie,
durch eine Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes in
der Form, wie ich es eben dargestellt habe, alle Wohnungsunternehmen, die einen höheren strukturellen Wohnungsleerstand als 5 Prozent aufweisen, grundsätzlich
von den restlichen Altschulden in Höhe von 150 DM pro
Quadratmeter zu entlasten. Als Voraussetzung für eine
solche Entlastung müssen die Wohnungsunternehmen
über ein Unternehmenkonzept verfügen, das die beabsichtigten Instandsetzungs-, Modernisierungs-, Wohngeld-, Rückbau- und Abrissmaßnahmen enthält. Des Weiteren sollten sie eine Bescheinigung der Kommune
vorlegen, die besagt, dass ihr Konzept in das jeweilige
Städte- bzw. Gemeindebaukonzept hineinpasst. Auf diese
Weise könnten wir noch in den nächsten Monaten den
Kommunen eine Hilfestellung bei der Überwindung ihres
strukurellen Wohnungsleerstandes geben.
({2})
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie alle sehr herzlich, die Wohnungsunternehmen in den neuen Ländern
nicht im Stich zu lassen.
Ich danke Ihnen.
({3})
Es spricht jetzt der
Kollege Reinhard Weis, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Situationsbeschreibung und den Katalog von denkbaren Maßnahmen, die
die Bauminister nach ihrer Sitzung in Dessau vorgelegt
haben, hätte ich mir schon viel früher als gemeinsame Position der Fachminister gewünscht.
Wenn der Bundeskanzler heute Morgen in seiner Regierungserklärung gesagt hat, dass in Bezug auf die besonderen Probleme der ostdeutschen Wohnungsunternehmen mit der Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes
schnell reagiert worden sei, dann stimmt dies im Vergleich zur üblichen Zeit, die für Gesetzgebung erforderlich ist. Ich erlaube mir aber angesichts der Kenntnisse,
die ich in meinem Wahlkreis sammeln musste, den Hinweis, dass es aus dem Blickwinkel betroffener Wohnungsunternehmen und Kommunen lange gedauert hat,
bis der strukurelle Leerstand mit den aus ihm resultierenden Problemen für die Wohnungsunternehmen und Kommunen von der Landespolitik und auch von der Bundespolitik als eigenständiges Thema akzeptiert wurde.
Damit meine ich nicht die heutige Debatte, denn lange
im Vorfeld der Novelle zum Altschuldenhilfe-Gesetz ist
zum Beispiel Staatssekretär Großmann auch in Stendal
gewesen, einem Ort, der in allen Aufzählungen von Problemkommunen vorkommt - darüber bin ich überhaupt
nicht glücklich -, die im Zusammenhang mit Leerstand
genannt werden. Als er Ende 1998 bei uns in Stendal war,
tagte dort schon zwei Jahre lang eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Vertretern der betroffenen Wohnungsunternehmen, aus Vertretern der Stadt und der Landespolitik zeitweise bestanden auch Verbindungen in das Bundesministerium -, ohne dass die Bereitschaft erkennbar gewesen wäre, diese speziellen Lasten über die kommunale
Verantwortung hinaus zu verteilen. Heute ist die
Erkenntnis Allgemeingut, dass der örtlich drohende Kollaps der Wohnungswirtschaft eine Lastenverteilung zwischen Wohnungsunternehmen, Kommunen, Landespolitik, Bundespolitik und Gläubigerbanken erfordert. In
Stendal ist dies seit langem klar. Es gibt eine veränderte
Stadtplanung, an der auch die Bürger beteiligt sind, und
eine Zielkonzeption für die Stadtentwicklung.
Da die fünf Minuten Redezeit in einer Aktuellen
Stunde nicht viel zulassen, möchte ich einen einzigen
Aspekt dieses komplexen Themas konkret benennen, aus
dem deutlich wird, mit welchen Erwartungen ich in die
Beratungen gehen möchte, die wir nach der Vorlage der
Kommissionsergebnisse hier werden führen müssen.
Das Wirtschaftsforschungs- und Beratungsunternehmen Empirica begleitet die Kommissionsarbeit im Auftrag der Bundesregierung. Diese Empirica GmbH hat dargelegt, dass die Nachfrage nach Mietwohnungen in den
neuen Bundesländern noch kurze Zeit stagnieren, dann
aber bis zum Jahr 2015 um 15 Prozent absinken wird.
Da deutet sich für die Stadtentwicklung - Frau
Eichstädt-Bohlig hat dieses Thema auch angesprochen ein dramatischer Zustand an. Abrisse, die sich zum Beispiel aufgrund von Stadtentwicklungsplänen ergeben,
die umgesetzt werden müssen, sollten nach meiner
Überzeugung deswegen in den nächsten fünf Jahren möglich werden. Die Programme, die wir dafür entwickeln,
müssen das ermöglichen, damit die Recyclingflächen - es
geht da um Gebiete, die mit Infrastruktur erschlossen
sind - auch vermarktet werden können und in der Zeit bis
zum Wegbrechen der Nachfrage nach Mietwohnungen in
den neuen Bundesländern für Wohneigentum in der Stadt
zur Verfügung stehen.
Ich denke, dass wir uns über die Probleme der Finanzierung des Abrisses hinaus mit den Ländern zusammen
überlegen müssen, wie wir alles das, was an Städtebauförderung möglich ist, auf den Weg bringen können.
Ich denke hier an eine Kampagne - um nicht wieder „Förderprogramm“ zu sagen - unter der Überschrift „Wohnen
in der Stadt attraktiv machen“. Denn nur funktionsfähige
Städte können ihre Funktionen, die sie auch für das Umland bieten, erfüllen, und nur funktionsfähige Städte machen Regionen lebenswert. Ich denke nur an Vorhaltungen
im kulturellen Bereich, die sich keine Gemeinde im ländlichen Raum leisten kann. Hierfür haben wir unter
Raumordnungs- und Städtebaugesichtspunkten Verantwortung zu tragen.
Danke.
({0})
Nächster Redner ist
der Kollege Günter Nooke für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich finde es auch
ganz gut, dass wir jetzt wieder über die konkreten Dinge
reden. Aber, Frau Eichstädt-Bohlig, dass solche Debatten
wie heute früh gleich immer diffamiert werden müssen,
weil es in diesem Haus endlich wieder Debatten gibt, in
denen wichtige Dinge ausgehandelt werden, finde ich einfach nicht richtig. Ich fand die Debatte sehr angenehm,
und ich fand es auch richtig, dass wir dahin gehend Position bezogen haben, dass man auch die grundsätzlichen
Dinge sagen darf.
({0})
Wir verweigern uns nicht den Niederungen des Leerstandes in Ostdeutschland und reden auch dazu. Aber lassen Sie uns noch einmal deutlich sagen: Politische Debatten - und wenn es um zehn Jahre deutsche Einheit geht,
ist das eine politische Debatte - sind nötig. Ich denke, am
20. Jahrestag wird alles das, was wir hier gesagt haben,
auch wieder richtig sein. Auch von Ihnen wird das anerkannt werden.
Ich will mit einem Punkt anfangen: 1983 oder 1984 saß
ich im Keller der Moritz-Bastei in Leipzig und fragte den
Architekten von Leipzig-Grünau, dem zweitgrößten Neubaugebiet der DDR, ob er sich denn auch mal überlegt
habe, wie er die Dinger wieder abreißen könne. Das war
zu DDR-Zeiten eine nicht ganz beliebte Frage und der Architekt war auch stolz auf das, was er baute. Aber dass
diese Städte, die dort entstanden, nun wirklich für alle
Zeiten Grundlage für ein menschliches Miteinander und
ein schönes Leben für alle Bürgerinnen und Bürger, egal
in welchem System, sein könnten, diesen Glauben hatte,
glaube ich, in der DDR nicht jeder. Darüber wurde bei einem Vortragsabend in Studentenkreisen sogar öffentlich
diskutiert.
Wir sind nach 1990 also vielleicht auch ein bisschen
der Versuchung erlegen, die Plattenbauten und die Siedlungen als besser hinzustellen, als sie im Grunde je waren.
Die drastischen Ausdrücke hat Manfred Grund hier genannt. Ich finde es wichtig, dass wir uns noch einmal klar
machen: Es ist dort nicht alles erhaltenswert. Vielleicht ist
manches sogar schon zu viel saniert worden. Das ist für
mich ein größeres Problem als die sentimentale Befindlichkeit, dass das eine oder andere davon abgerissen werden muss.
Wichtig ist, dass zu all dem ein wahnsinniger Weggang
aus den neuen Bundesländern hinzu kommt. 1997 lag die
Zahl derjenigen, die weggezogen sind bei „nur“ 10 000.
Diese Zahl stieg - wenn ich die Zahlen richtig im Kopf
habe - 1998 auf über 30 000, 1999 auf über 40 000 oder
sogar 44 000 an. Wir gehen für dieses Jahr 2000 von netto
über 60 000 Menschen aus, die sich quasi von Ost nach
West weg bewegen und die neuen Bundesländer verlassen.
({1})
- Es kommen ja auch ein paar wieder zurück. Ich habe gerade die Nettozahlen genannt.
Wenn wir jetzt darüber debattieren, was wir tun können, möchte ich auf ein weiteres Problem deutlich hinweisen - auch wenn jetzt keine Medien mehr da sind; das
ist vielleicht auch für die Menschen auf den Besuchertribünen, die uns jetzt noch zuhören, interessant -: Wir
müssen aufpassen, dass wir den Solidarpakt II für die
neuen Bundesländer nicht zu einem Zeitpunkt verhandeln, zu dem einige Medien aus dem Westteil unseres
Landes den ebenfalls mit Steuergeldern finanzierten Abriss von sanierten Plattenbauten zeigen. Wir müssen sehr
sensibel über dieses Thema hier reden und bedenken, in
welche Gefahren wir uns begeben, wenn wir in diesem
Zusammenhang zu oft über öffentliche Gelder reden;
denn es macht keinen allzu guten Eindruck, wenn wir nur
fordern: Das muss jetzt hoch subventioniert werden!
Es geht darum, eine verantwortliche Stadtpolitik zu initiieren, positive Bilder einer Stadtentwicklung in den Vordergrund zu stellen und möglichst zu verhindern, dass zu
viele Bilder über den Abriss von Plattenbauten und von
anderen Gebäuden mitten in der Stadt gezeigt werden. Ich
sehe auch das Problem, dass es sich zwischen Baustellen
schwierig wohnen lässt. Aber es wohnt sich erst recht
schwierig auf Baustellen, auf denen Häuser abgerissen
und keine neuen gebaut werden. Wir alle sind aufgerufen,
mit diesem Thema sehr sensibel umzugehen und zu verantwortlichen Lösungen zu kommen.
Ich möchte jetzt als letzten Punkt den Lösungsweg beschreiben, der mir der einfachste zu sein scheint. Wir hätten - Herr Goldmann, Sie haben es bereits gesagt - schon
weiter sein können. Nach dem Altschuldenhilfe-Gesetz
war es ja möglich, den Ländern und Kommunen hier Planungssicherheit anzubieten. Ich schlage einfach vor: Ehe
wir wieder neue Förderprogramme, -kampagnen und
-richtlinien auflegen und der Bund für den Abriss von leer
stehenden Wohnungen zahlt, sollten wir lieber dafür sorgen, dass jede Wohnung, die jetzt vom Markt genommen
wird, ohne Altschuldenbelastung vom Markt genommen
werden kann, das heißt: Wir streichen einfach die im Altschuldenhilfe-Gesetz vorgesehenen 150 DM.
({2})
Wenn ich die 100 000 Wohnungen, von denen Sie gesprochen haben, als Grundlage nehme, dann kostet das
etwa 1 Milliarde DM. Das ist gar nicht so viel Geld. Mit
einer solchen Streichung würde man die Länder und
Kommunen in der Verantwortung lassen, selbst auszuwählen. Die Bürgermeister würden dann wissen, wie viel
Geld sie zu erwarten hätten. Das würde keine zusätzlichen
Kontrollmechanismen notwendig machen, denn für die
Wohnung, die vom Markt genommen wird - das lässt sich
haushaltsrechtlich ganz einfach nachprüfen -, müssten
keine Altschulden in Höhe von 150 DM pro Quadratmeter mehr getilgt werden. Das wäre ein sehr einfaches Verfahren, mit dem man schon jetzt den Ländern und Kommunen sehr schnell Planungssicherheit verschaffen
könnte.
Wir sollten die Lösung dieses Problems nicht vertagen,
sondern schnell angehen. Auch ich bin dafür, hier schnell
zu handeln und das Schaffen von neuem Wohneigentum
in der Stadt, wie Sie es gefordert haben, zu propagieren.
Da können durchaus noch ein paar hübsche Siedlungen
entstehen.
Danke.
({3})
Das Wort hat die Kollegin Steffi Lemke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr
geehrte Frau Präsidentin! Werte Kollegen und Kolleginnen! Man muss das Problem des Wohnungsleerstandes
aus meiner Sicht, Frau Ostrowski, nicht zum Thema einer
Aktuellen Stunde machen; denn das Problem ist seit mindestens einem Jahr bekannt. Solange wird darüber auch
schon diskutiert. Bündnis 90/Die Grünen haben es schon
seit mindestens einem Jahr in die öffentliche Debatte
eingebracht.
({0})
Der Sachstand und die Vorschläge zur Lösung des Problems sehen so aus, dass sich im Wesentlichen die Beteiligten bereit erklärt haben, ihren Anteil zu übernehmen.
Der Bund hat signalisiert, dass er sich auch finanziell an
der Lösung des Problems beteiligen wird. Ich denke, dass
insbesondere die Länder und die Kommunen ihren Anteil
zu leisten haben und dass Bund, Länder und Kommunen
dieses Problem gemeinsam lösen können.
Herr Nooke, ich möchte Ihnen an einer Stelle widersprechen. Ich finde es sehr wichtig, dass wir uns mit den
konkreten Problemen beschäftigen, die momentan in Ostdeutschland herrschen. Ich finde das wichtiger als die absolut peinliche Debatte, die in den letzten Tagen und Wochen in den Medien über die Fragen geführt worden ist,
wer denn nun weniger die Einheit gewollt habe, wer an ihr
wohl mehr Verdienste habe und ob die Einheit ein Verdienst der Parteien sei oder nicht, und an der die Medien
wesentlich mehr interessiert hat, ob Exkanzler Kohl zur
deutschen Einheit redet oder nicht. Ich kann Ihnen nur sagen: In meinem Umfeld wurde diese Debatte als absolut
negativ empfunden. Die Bürger haben sich von dieser Debatte eher ignoriert als angenommen gefühlt. Sie haben
sie als abstoßend empfunden.
({1})
Zu den konkreten Problemen. In Ostdeutschland sind
fast alle Städte von der Leerstandsproblematik betroffen,
die einen mehr, die anderen weniger. Mit Durchschnittswerten aus der Statistik lässt sich davon nur sehr schlecht
ein Bild zeichnen. Die Hilfe muss daher in den jeweiligen
Städten individuell geleistet werden. Es ist klar, dass
selbst dann, wenn Bevölkerungsrückgang und Arbeitslosigkeit gestoppt werden könnten - diese Entwicklung ist
leider nicht in Sicht -, mindestens 250 000 Wohnungen in
Ostdeutschland in den nächsten Jahren abgerissen werden. Man weiß inzwischen, dass davon sowohl Wohnungsunternehmen als vor allem auch Eigentümer betroffen sein werden. Man wird nicht umhin kommen, ein
Programm - ich denke an steuerliche Regelungen oder
andere Maßnahmen - aufzulegen.
Die eigentlich Betroffenen der derzeitigen Entwicklung sind allerdings die Einwohner. Wohnungsunternehmen und Wohnungs- bzw. Hauseigentümern kann geholfen werden. Wenn sich das Bild von Gettos in den Städten
Ostdeutschlands verfestigt - es gibt bereits einzelne
Stadtteile, in denen kaum noch oder sogar gar keine Wohnungen bewohnt sind -, dann ist das Problem in sozialer
Hinsicht - Jugendarbeitslosigkeit, Zukunftsbild dieser
Städte - viel gravierender. Ich sehe bisher noch nicht, dass
sich die Bürgermeister in den Kommunen darauf ausreichend eingestellt haben.
({2})
Es gibt nach wie vor viele Kommunen, in denen gigantische Straßenbauten geplant und Eigenheimsiedlungen auf der grünen Wiese ausgewiesen werden. Natürlich
gibt es einen entsprechenden Bedarf gerade bei jungen
Familien mit Kindern. Wenn aber kein Umdenken einsetzt, dann werden die Städte in Ostdeutschland in eine
absolut negative strukturelle Situation hineingeraten, weil
die von mir beschriebene Entwicklung nicht zu bewältigen sein wird. Die notwendige Infrastruktur lässt sich
nicht bereitstellen und die Flächenausweisungen sind
nicht möglich. Ich glaube, dass sich die Bürgermeister
diesem Problem - nicht so sehr, was die finanzielle Seite
angeht, sondern im Hinblick auf die notwendigen Planungen - noch viel stärker werden stellen müssen.
({3})
Es wurde das Bild gezeichnet, dass der Wohnungsbestand einzelner Gebiete verändert werden muss, weil es
zum Wohnen nicht mehr attraktiv ist. Vielleicht wird es
dafür in der jeweiligen Stadt ein kleines Eigenheimgebiet
mit sehr viel Grün und ansprechenden Wohnbedingungen
für junge Familien mit Kindern - man muss sich dort nicht
über Jahre hinweg über den Spielplatz streiten - geben.
Wenn das geschieht, dann kann man eine Entwicklung in
Gang setzen, die die Innenstädte attraktiv macht.
Ich appelliere an die PDS, mit der endlosen Nörgelei,
dass Ostdeutschland nur mit Problemen behaftet ist, aufzuhören. Sie sollten wenigstens ab und zu einmal versuchen, ein positives Bild von dem zu zeichnen, was sich
dort in den letzten Jahren getan hat.
({4})
- Es tut mir Leid: Genau das tun Sie nicht. Sie sprechen
nur die eine Seite des Problems an. Ich bin immer dafür,
zu sagen, wo es Missstände gibt. Dafür muss man aber
auch Lösungsvorschläge machen. Man sollte definitiv
herausstellen, dass sich in den letzten zehn Jahren in den
ostdeutschen Städten sehr viel zum Positiven gewandelt
hat.
Die Aufgabe besteht darin, den Wohnungsleerstand als
Problem zu behandeln, damit wir keine sich selbst erfüllende Prophezeiung erleben und sich der nach wie vor
prognostizierte Abwanderungstrend eventuell noch verstärkt.
Danke.
({5})
Das Wort hat die Kollegin Christine Ostrowski, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Politiker sind auch nur Menschen. Im
Nachhinein wundere ich mich, dass man Anfang der 90erJahre, als jedes Schulkind anhand des Geburtenknicks eigentlich hätte vorausberechnen können, wann wir in die
Situation kommen, in der wir uns jetzt befinden, nämlich
dass die Anzahl der Todesfälle die der Geburten - übersteigt, nicht vorausgedacht hat. Stattdessen haben wir,
lieber Herr Nooke, lieber Herr Grund, immer mehr Steuermittel in einen sinnlosen Wohnungsneubau hineingebuttert.
({0})
- Ich wollte politische Polemik wirklich vermeiden. Ich
glaube, Sie können sich erinnern, dass dies in meiner ersten Rede geschehen ist. Mir wird wirklich ein bisschen
angst - nicht so sehr wegen Ihres „Ruinen schaffen ohne
Waffen“ und Ähnlichem; das stecke ich weg -, weil ich
den Eindruck habe, dass Sie die Brisanz, nämlich dass wir
die Entwicklung - man kann es einfach nicht ändern,
wenn Menschen sterben - nicht beeinflussen können,
überhaupt nicht begriffen haben. Das ist überhaupt nicht
in Ihrem Kopf. Das ist übrigens eine Beobachtung, die ich
bei vielen Politikern mache, und zwar auf allen Ebenen,
auch - um eine Reverenz an die Grünen zu machen - bei
Kommunalpolitikern, zum Beispiel bei Bürgermeistern.
Auch die haben das bis heute nicht verstanden.
Ich gebe Ihnen Recht: Es gibt keine Patentrezepte. Woher sollten wir sie auch haben? Wir stehen zum allerersten
Mal vor dieser dramatischen Situation. Aber wenigstens
in zwei Punkten, denke ich, müsste es eigentlich Einigkeit
über eine Art Grundsatzentscheidung - Herr Staatssekretär Großmann, Sie werden ja nach mir noch sprechen geben. Empiriker prognostizieren, dass sich die Zahl der
leer stehenden Wohnungen auf zwei Millionen erhöhen
wird. Ich denke, sie haben Recht.
({1})
- Sie haben keine Ahnung, Herr Grund, Sie sind ungetrübt
von jeder Sachkenntnis. Aber das ist Ihr Problem.
({2})
- Dabei muss man wissen, dass sich das nicht von selbst
regulieren wird. Wenn es zu einem Schrumpfen der Zahl
der Einwohner - zu einem von uns gewünschten geordneten Schrumpfen - in den Städten kommen wird und
gleichzeitig weiterhin eine hohe Lebensqualität gewährleistet werden soll, dann muss man wissen; dass das ohne
hohe Subventionen nicht gehen wird. Oder man gibt dieses Ziel auf.
Wenn das klar ist, dann kann man sich in einem zweiten Schritt darüber verständigen, zu welchen Anteilen
Bund, Länder, Kommunen und Unternehmen daran beteiligt werden. Klar ist: Diese Anteile müssen gerecht sein.
Es kann nicht sein, dass beispielsweise der Bund, wenn
jährlich insgesamt 2,2 Milliarden DM Kosten allein für
leer stehende Wohnungen anfallen, bereit ist, wie ich lesen konnte im Rahmen der Härtefallregelung in § 6 a,
500 Millionen DM zu geben - vielleicht auch noch bis zu
700 Millionen. Ich habe das umgerechnet: Dieser Betrag
reicht - Sie wollen ja bis zu maximal 150 DM pro Quadratmeter für die Streichung der Altverbindlichkeiten zuschießen, je nach Haushaltslage, nach Schlussbescheid
usw. - ungefähr für 44 000 bis 88 000 Wohnungen und das
reicht nicht. Sie kennen die Zahlen; Sie haben sie ja alle
genannt. Da muss man sagen: Da sind die Anteile verschoben.
Auch hinsichtlich des Wohnungsmarktes müsste es eigentlich Einigkeit geben. Der Wohnungsmarkt ist völlig
unterschiedlich. Deswegen muss man unterschiedliche
Instrumente anwenden. Man kann nicht die gleichen Förderinstrumente, die man seit Jahrzehnten in der alten Bundesrepublik verwendet hat und die man Anfang der 90erJahre für den Osten neu entwickelt hat, einfach bis heute
fortführen. Genau das machen wir aber im Jahr 2000.
Frau Lemke, Sie plädieren für Eigenheime in der Innenstadt. Dann hätten Sie aber schon längst die Eigenheimzulage erhöhen und die Zulage für Neubauten senken können. Das könnte man zumindest im Wesentlichen
kostenneutral machen. Solch eine Maßnahme, zugeschnitten auf die besondere Situation im Osten, hätten Sie schon
längst einführen können. Außerdem denke ich hier an die
Erhöhung der Investitionszulage für Altbauten.
Das alles sind Dinge, die Sie unterlassen haben. Selbstverständlich gehört die Streichung der Altschulden auf
dauerhaft leer stehende Wohnungen dazu; das haben wir
übrigens als Erste beantragt. Alles das, was die Bauminister jetzt geschrieben haben, können Sie in all unseren Anträgen seit 1998 nachlesen. In Wirklichkeit tun Sie bis
jetzt nichts. Im Oktober soll die Rechtsverordnung hier
vorliegen. Darauf bin ich gespannt. Ich denke, ich weiß
ungefähr, was darin stehen wird. Deswegen glaube ich,
dass das insgesamt nicht reicht.
Lassen Sie mich eine Bemerkung zu Leipzig-Grünau
und den dortigen Plattenbauwohnungen machen. Herr
Nooke, ich bin dankbar, dass Sie dieses Beispiel angeführt
haben. Wie man es von konservativer Seite gewöhnt ist,
ging es auch dort gegen „die Platte“. Plattenbauwohnungen und das Umfeld drumherum sind nicht besonders
schön; das ist klar.
({3})
Aber, Herr Nooke, der Wohnungsleerstand zeigt sich
eben nicht in Leipzig-Grünau, sondern in den wunderschönen, modernisierten Altbauten der Innenstadt. Und
warum? Wahrscheinlich, weil sich viele Leipziger die
Mieten für diese Altbauwohnungen, die höher sind als die
für Plattenbauwohnungen, nicht leisten können. Es geht
also keineswegs um den Abriss von Plattenbausiedlungen
querbeet. Das wissen alle, auch die Bauminister, egal, in
welcher Partei sie sind. Fragen Sie Herrn Dr. Buttolo oder
Herrn Minister Hardrath.
Letzte Bemerkung zu Frau Lemke: Welches Thema wir
für eine Aktuelle Stunde wählen, ist unsere Sache. Das ist
völlig klar. Das muss ich Ihnen nicht erzählen. Das müssen Sie schon uns überlassen. Außerdem sollten Sie doch
auch wissen, dass es nicht um einen Missstand im Osten
geht. Ich dachte, ich hätte klar gemacht, dass wir es mit einer Entwicklung zu tun haben, für die überhaupt niemand
direkt verantwortlich ist.
({4})
Frau Kollegin
Ostrowski, ich muss Sie an die Redezeit erinnern.
Ich komme sofort zum
Schluss. - Es gibt eine natürliche Bevölkerungsentwicklung, die von niemandem direkt verschuldet ist und die
nicht aufzuhalten ist. Bezüglich Ihrer Vorschläge bitte ich
Sie: Schauen Sie bitte ins Netz und lesen Sie alle unsere
Anträge noch einmal nach.
Ich hoffe und wünsche mir, dass der Bund alle ihm zur
Verfügung stehenden Mittel nutzt, um die Entwicklung in
Ostdeutschland einigermaßen geordnet ablaufen zu lassen.
({0})
Es spricht jetzt für die
Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär
Achim Großmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es geht im
Wesentlichen um zwei große Fragenkomplexe, die wir
klären müssen.
Die erste Frage lautet: Wie schaffen wir es, die Wohnungswirtschaft in den ostdeutschen Ländern wieder unternehmerisch handeln zu lassen, wie schaffen wir es, sie
wirtschaftlich auf eine solche Basis zu stellen, dass sie mit
Problemen, die auch Wohnungsgesellschaften im Westen
haben, selber fertig werden können?
({0})
Die zweite Frage lautet: Wie sieht die Zukunft der
Städte in den neuen Bundesländern aus? Das ist schon
deshalb hochinteressant, weil wir unter Umständen das
Problem, das wir dort heute haben, mit einer Verzögerung
von 10 oder 20 Jahren auch im Westen haben werden.
({1})
Es wird auch in Westdeutschland in den nächsten 10 bis
20 Jahren zu einem weiteren Zuzug in einige Ballungsgebiete kommen. Es wird aber auch Städte geben, die sich
ähnlichen Problemen wie in den neuen Ländern stellen
müssen. Es wird auch dort zu einem Bevölkerungsrückgang kommen und man wird dort darüber nachdenken
müssen, wie man Städte zurückbaut.
Das ist wiederum keine völlig neue Erfahrung, weil sie
auch schon in anderen europäischen Ländern gemacht
wurde. Am Montag und Dienstag fand die EU-Bauministerkonferenz in Paris statt. Dort haben wir uns ausgetauscht. Natürlich haben Länder wie England - ich
erinnere an Glasgow, Liverpool, Newcastle und andere
Städte - die Erfahrung schon gemacht, was mit Städten,
in denen große Brachflächen entstanden sind und zurückgebaut werden müssen, passiert. Ähnliche Erfahrungen
haben wir auch schon im Ruhrgebiet gemacht. Das heißt,
diese Frage muss uns alle interessieren. Diese Frage ist
nicht allein auf Ostdeutschland zugespitzt, auch wenn die
Probleme im Moment in Ostdeutschland kulminieren.
Schauen wir uns jetzt den ersten Fragekomplex an.
Hier ging es darum, wie man die Wohnungswirtschaft so
stärkt, dass sie wieder unternehmerisch handeln kann. Als
wir nach der Bundestagswahl 1998 die Regierungsverantwortung übernommen haben, stellte sich die Situation so
dar, dass von den 2 079 Wohnungsgesellschaften, die Altschuldenhilfe in Anspruch genommen hatten, erst ganze
26 einen so genannten Schlussbescheid bzw. einen Bescheid des Nichtvertretens erhalten hatten, also nur eine
ganz geringe Anzahl. Wir haben dann sofort untergesetzlich gehandelt. Das heißt, wir haben all das aus dem Weg
geräumt, was wir ohne Gesetzesänderung machen konnten. Dann haben wir die Altschuldenhilfenovelle ins Parlament eingebracht und verabschiedet.
Noch bevor die Novelle des Altschuldenhilfe-Gesetzes
greifen kann - das ist ja diese Woche mit einem Anschreiben der KfW an die Unternehmen eingefädelt worden -, haben die Maßnahmen, die wir vorher schon eingeleitet hatten, dazu geführt, dass Ende August 2000 von
den 2 079 Wohnungsgesellschaften 1 340 den Schlussbescheid erhalten haben oder ihr Antrag auf Nicht-Vertreten-Müssen positiv beschieden wurde. 65 Prozent der ostdeutschen Wohnungsunternehmen sind damit aus dem
Geltungsbereich des Altschuldenhilfe-Gesetzes mit seinen Verpflichtungen herausgefallen. Diesen Erfolg haben
wir in weniger als zwei Jahren geschafft.
({2})
Die KfW hat am Montag die ostdeutschen Wohnungsunternehmen angeschrieben und sie aufgefordert, letztmalig einen Bericht über die Privatisierungen des Jahres
1999 zu geben. Das heißt, wir sind jetzt dabei, die Erfüllung ihrer Privatisierungspflicht ein letztes Mal, nun vor
dem Hintergrund der Erleichterungen, die wir beschlossen haben, zu prüfen. Das bedeutet wiederum, dass vielleicht noch 100 oder 150 - keiner kennt die genaue
Zahl - übrig bleiben werden. Das sind dann Wohnungsgesellschaften, die unter Umständen noch einmal darlegen müssen, warum sie noch nicht privatisiert haben oder
unter Umständen diesen Nachweis gar nicht führen können.
({3})
Aber alle anderen, die wirklich guten Willens waren
und privatisiert haben, was zu privatisieren war, können
wieder wirtschaftlich handeln, sie können planen, sie können Drohverlustrückstellungen, die sie gebildet haben,
wieder aktivieren und in den Wohnungsbau investieren.
Das meine ich mit „wirtschaftlich aufstellen“. Sie haben
die starren 15 Prozent kritisiert und damit Recht gehabt,
wir verabschieden uns jetzt von dieser Zahl. Das heißt,
wir haben innerhalb kürzester Zeit dafür gesorgt, dass die
meisten Wohnungsunternehmen wieder in der Lage sind,
sich am Markt zu behaupten.
Es gibt einige, die Schwierigkeiten haben werden. Das
bedeutet, dass wir ihnen helfen müssen. Es sind die Wohnungsunternehmen, die unter Umständen in wirklich existenzielle Nöte kommen. Nur um diese, Herr Nooke und
Herr Guttmacher, kann es gehen. Wenn wir Ihren Vorschlag aufnehmen würden, allen Wohnungsunternehmen
die Altschulden zu erlassen, auch denen, denen es wirtschaftlich gut geht, würde das eine Ausgabe von über
9 Milliarden DM und nicht von 1 Milliarde DM bedeuten.
({4})
- Ich habe von 1 Million Wohnungen gesprochen. Wenn
Sie den Bericht, den wir Ende Oktober vorlegen werden,
in dem von 1 Million Wohnungen die Rede ist, nehmen
und das hochrechnen, kommen Sie auf 9 Milliarden DM.
({5})
- Stellen Sie sich doch einmal diesen Zahlen! Das ist eine
unvorstellbare Summe, abgesehen davon, dass es völlig
unsinnig ist. Das gibt es in keinem anderen Wirtschaftszweig, dass man einem Unternehmen, dem es wirtschaftlich so geht, dass es mit seinen Problemen selbst fertig
werden kann, Subventionen des Staates einräumt. Das
machen wir in anderen Bereichen auch nicht, dazu haben
Sie uns übrigens auch zu viele Schulden hinterlassen.
({6})
Deshalb haben wir mit den Ländern - auch mit den
CDU-geführten Ländern, damit das völlig klar ist - vereinbart, dass wir ein Programm für die in ihrer Existenz
gefährdeten Wohnungsunternehmen erarbeiten. Es legt
fest, dass wir dort, wo abgerissen wird und ein Unternehmen in existenzielle wirtschaftliche Schwierigkeiten
kommt, die Altschulden übernehmen, wenn bestimmte
Bedingungen erfüllt sind - hier bin ich wieder beim Städtebau -: Es müssen städtebauliche Konzepte vorgelegt
werden, denn das alles muss sich in einem vernünftigen
Rahmen vollziehen.
Ich möchte noch eines Ihrer Argumente zurückweisen.
Sie haben eben so locker gesagt, dass man das schon lange
hätte haben können. Wir haben den Ländern vorgeschlagen, in § 6a des Altschuldenhilfe-Gesetzes festzulegen,
dass bis zum Jahr 2003 Anträge auf Abriss gestellt werden
können und man dann bis zum Jahr 2005 Wohnungen abreißen kann. Die Länder haben uns geantwortet, sie
schafften das nicht; die Städte hätten keine Konzepte und
die Länder hätten dafür keine Haushaltsmittel; sie müssten erst das Geld besorgen und könnten diese Maßnahme
erst dann umsetzen. Die Länder flehen uns also an, diese
Fristen zu verlängern. Es gibt zwar den Fall Stendal, aber
es gibt auch sehr viele Städte und Gemeinden, die keinen
Plan in der Schublade haben. Sie sind völlig überfordert,
wenn sie ein städtebauliches Konzept in diesem Umfang
erstellen sollen.
({7})
- Tun Sie nicht so, als ob man das alles einfach so machen
könnte! Das muss solide und seriös vorbereitet werden.
Dazu müssen Haushaltsmittel zur Verfügung gestellt werden. Wir brauchen Konzepte; die Städte müssen planen
können. Wir müssen den Städten helfen. Deshalb werden
wir überlegen, ob wir das Erarbeiten von Konzepten
durch die Städte aus Städtebaumitteln unterstützen können.
({8})
Wir haben Anfang der 90er-Jahre ein so genanntes Modellstadtprogramm für die Innenstädte gehabt. Damit haben wir den Städten Know-how zur Verfügung gestellt,
denn das fehlte ihnen. Jetzt müssen wir das in ähnlicher
Form wiederholen. Wir haben denen, die schon weiter
sind, die Wohnungen abreißen können, zum Beispiel
Schwedt, gesagt: Wenn ihr diese Gebiete als Sanierungsgebiete ausweist, könnt ihr aus Städtebaumitteln den Abriss bezahlen. Das heißt, wir finanzieren jetzt schon mit
Bundesgeldern den Abriss von Wohnungen. Da, wo das
möglich ist, geschieht es bereits. Dort, wo das nicht geschieht, ist es teilweise nicht möglich, weil die Konzepte
fehlen und die Rahmenbedingungen nicht stimmen.
Ich meine also, wir haben eine Menge auf den Weg gebracht. Deshalb haben uns die Bauminister in Dessau
durch die Bank, völlig unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit, dafür gelobt, dass wir richtig Schwung in
diese Frage gebracht haben.
({9})
Zum Abschluss möchte ich einiges zu den Ländern sagen. Eine Zeit lang haben die Länder immer auf uns gezeigt. Allmählich begreifen sie, dass sie selbst mitmachen
müssen. Sie haben in Dessau gesagt, wir sollten doch
Bürgschaftsprogramme für die Wohnungsunternehmen
machen, denen es nicht gut geht. Ich habe gefragt, warum
sie nicht selbst Bürgschaften übernehmen. Daraufhin haben sie gefragt: Warum macht ihr nichts mit der Grunderwerbsteuer, denn wenn eine Wohnungsgesellschaft vor
der Insolvenz steht und von einer anderen, größeren Gesellschaft übernommen wird, fällt Grunderwerbsteuer an.
Das ist unsinnig. Die Grunderwerbsteuer ist eine Ländersteuer. Die Länder könnten hingehen und sagen: Wir ändern das Gesetz an dieser Stelle, sodass das jeweilige
Bundesland selbst in der Lage ist, in solchen Fällen die
Grunderwerbsteuer zu erlassen.
Meine letzte Bitte an die Länder und Kommunen: Nehmen Sie das Angebot des Bundes an, das ausgebreitet auf
dem Tisch liegt! Dann können wir zuversichtlich sein,
eine gute Städtebaupolitik zu machen. Damit können wir
Parl. Staatssekretär Achim Großmann
der Wohnungswirtschaft helfen, dass sie wieder auf einer
gesunden Basis steht.
Vielen Dank.
({10})
Der letzte Redner in
dieser Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der CDU/CSU
der Kollege Manfred Grund.
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich habe mich
zu Wort gemeldet, um uns anhand eines guten Beispiels
von einem gelungenen Strukturwandel ermutigt ins Wochenende zu entlassen; denn bei der Diskussion über den
Wohnungsleerstand stehen - sicher zu Recht - ungelöste
Probleme im Vordergrund, so auch im Arbeitspapier der
ostdeutschen Länder anlässlich der 101. Bauministerkonferenz.
Doch es gibt Lichtblicke und Beispiele gelungenen
Strukturwandels. Ich denke in diesem Zusammenhang an
eine Stadt, die es geschafft hat, den ökonomischen, sozialen und ökologischen Strukturwandel so zu gestalten, dass
es zu einer spürbaren Verbesserung der Wohn- und Arbeitssituation gekommen ist. Dieser gelungene Strukturwandel ist Teil der EXPO-Präsentation des Freistaates
Thüringen.
Dieses Projekt „Exemplarische Umgestaltung von
Plattenbauwohnungen“ gilt deutschlandweit als führend
und findet internationale Beachtung. So ist der Bürgermeister dieser Stadt nach Japan eingeladen worden, um
dort in fünf Vorträgen über Lösungsansätze und Erfahrungen zu berichten. Es handelt sich um die Stadt Leinefelde im thüringischen Eichsfeld.
Mit der Ansiedlung von Großbetrieben wie einem Textilkombinat und einem Zementwerk wurden - 1962 beginnend - Plattenbauten aus dem Boden gestampft. Aus
einem Dorf mit ursprünglich 2 300 Seelen wurde eine Industriestadt mit mehr als 15 000 Bürgern. Mit dem politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Umbruch
haben sich 1989 die Rahmenbedingungen für Leinefelde
radikal verändert. Der Wegbruch des größten Teiles der
industriellen Arbeitsplätze der Region stellte die Bewohner vor die Wahl zwischen Arbeitslosigkeit, Pendeln in
die benachbarten Wirtschaftsräume, Abwanderung, Umlernen oder Selbstständigkeit. In den ersten Jahren nach
der Wende hat Leinefelde jährlich circa 1 000 Einwohner
verloren - mit entsprechend hohem Wohnungsleerstand,
der doppelt so hoch ist wie der Durchschnitt der neuen
Bundesländer.
Langfristige Trendanalysen machten deutlich, dass
sich der Bedarf an Plattenbauwohnungen um bis zu
50 Prozent reduziert, sofern sich Wohnungsqualität und
das Wohnumfeld nicht grundlegend verbessern. Dies war
die Ausgangslage und genau an diesem Punkt begann die
Stadtverwaltung zu handeln. Aus dem Plattenbauwohngebiet „Südstadt Leinefelde“ wurde die „Zukunftswerkstatt
Leinefelde“. Mit dem Start der Rahmenplanung im Jahre
1994 - wir hörten gerade, dass manche Städte bis heute
noch keine vernünftige städtebauliche Planung haben begann ein komplexer Entwicklungsprozess mit sozialen,
städtebaulichen, ökonomischen und ökologischen Zielsetzungen. In einem beispielhaften Prozess wurden Städtebaumittel und Mittel der Wohnungsbauförderung kombiniert. Die EXPO diente als Katalysator.
Die Entwicklungsstrategie für die „Südstadt Leinefelde“ hat frühzeitig den Rückbau und die damit verbundenen Chancen einer städtebaulich funktionalen Aufwertung zum Kernpunkt einer künftigen Entwicklung
gemacht. Die durch den Rückbau gewonnenen Spielräume wurden genutzt, um die gravierenden Mängel im
Wohnumfeld zu beseitigen. So entstehen attraktive Freiräume in unmittelbarer Wohnungsnähe. Es wurde ein
Wohnungsangebot entwickelt, das in seiner Qualität und
in seiner Quantität den veränderten Bedürfnissen angepasst wurde - auch im Hinblick auf die Finanzierbarkeit
dieser Wohnungen. Dazu kommt die kommerzielle und
soziale Infrastruktur. Nicht zuletzt wird die Natur, die
Ökologie, in die Stadtentwicklung einbezogen.
Entscheidend bleiben das Engagement der Menschen
vor Ort, das Eintreten der Bürger für ihre Stadt. Genau
hier hat die „Zukunftswerkstatt Leinefelde“ beispielhaft
das bürgerschaftliche Engagement gefördert. Mieterbindung und -akzeptanz - wir diskutieren heute über dieses
Thema - sind eine Herausforderung an Kommunen und
an Wohnungsbauunternehmen in den neuen Bundesländern. Leinefelde hat Vorzeigenswertes und Beispielhaftes auf den Weg gebracht. Dies wollte ich vor dem
Wochenende kurz berichten.
Herzlichen Dank.
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Ich schließe die Aussprache. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit
am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 11. Oktober 2000, 13 Uhr, ein.
Ich möchte mich ausdrücklich für die intensive Mitarbeit
in dieser Aktuellen Stunde bedanken. Es gab, wenn wir
auch nur wenige waren, sehr große Aufmerksamkeit. Vielen Dank für Ihr Durchhalten und auch für das Interesse
dort oben auf der Besuchertribüne.
Die Sitzung ist geschlossen.