Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Frau Präsidentin! Meine
lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute
Vizepräsidentin Anke Fuchs
über ein Thema, das uns alle beschäftigt, bedrückt, herausfordert, und zugleich über ein Thema, bei dem die Einigkeit der Demokraten, unsere grundlegende Übereinstimmung sich zeigen wird und sich bewähren muss.
Was ist neu am Ende dieses Sommers? Nach Wochen
und Monaten, in denen die deutsche Öffentlichkeit aufgeregt, empört, entsetzt über Intoleranz, Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und extremistische Gewalt diskutiert
hat, haben wir etwas gelernt. Haben wir wirklich etwas
gelernt? Oder war das Ganze nur ein mediales Sommertheater? Ich hoffe es nicht. Denn neu ist nichts.
93 Tote, 93 Opfer rechtsextremistischer Gewalt hat es
in den letzten zehn Jahren in Deutschland gegeben. Das
haben zwei Zeitungen dokumentiert. Über 1 000 Schändungen jüdischer Friedhöfe in den letzten Jahrzehnten das ist die grausige Bilanz eines gerade erschienenen Buches. Die Namen Rostock und Mölln, Eberswalde und
Solingen, Hoyerswerda, Guben und Hünxe - die Namensliste ließe sich fortsetzen - sind verbunden mit der
Erinnerung an schreckliche Gewalttaten gegen Bürger
ausländischer Herkunft.
Ich sage nicht, dass Deutschland ein rechtsextremistisches Land ist, dass die Deutschen ein ausländerfeindliches Volk sind. Das wäre nicht nur schlicht falsch,
({0})
sondern eine Beleidigung für die übergroße Mehrheit der
Deutschen.
({1})
Ich will auch betonen, damit wir uns darüber nicht zerstreiten, dass Intoleranz und Gewalt in jedem Falle unsere
Ächtung und unseren Widerstand finden müssen, egal, ob
sie rechts- oder linksextremistisch motiviert, begründet,
drapiert sind. Aber in dieser Zeit haben wir eine Gefahr
vor allem von Rechtsaußen und der haben wir uns zu stellen - jetzt. Sie ist die Herausforderung unserer demokratischen Gemeinschaft.
({2})
Ich hoffe, nein ich bin überzeugt, dass sich alle in diesem Hause in der Abwehr dieser Gefährdung unseres
friedlichen Zusammenlebens, dieses Angriffs auf die
Wertegrundlagen unserer Demokratie einig sind. Das
heißt aber auch, zu begreifen, dass es nicht mehr um ein
so genanntes Randphänomen geht, sondern dass die Gefährdung bis weit in die Mitte der Gesellschaft hineinreicht.
Rechtsextremismus ist eben nicht mehr ein parteipolitisch isolierbares Phänomen. Man konnte in den vergangenen Jahren in der Bundesrepublik, im Westen immer
glauben, dass es ein parteipolitisch isolierbares Phänomen
ist. Die NPD wurde in Landtage gewählt; nach vier Jahren fiel sie wieder heraus, weil die Bürger von dem Verhalten der Abgeordneten enttäuscht waren. Man konnte
immer glauben, das sind die alten Herren, die ein paar
junge Leute um sich versammeln, ein isolierbares Phänomen.
Nein, jetzt müssen wir begreifen: Es hat sich etwas
zum Schlimmen geändert. Ausländerfeindlichkeit ist eben
bei nicht wenigen Menschen ein fast selbstverständlicher
Teil des Alltagsbewusstseins geworden. Der Rechtsextremismus ist geradezu ein kulturelles Phänomen geworden.
Er bedient sich unterschiedlicher kultureller Instrumente,
um sich zu vermitteln. Er ist weniger parteipolitisch fassbar.
Ich war in den vergangenen anderthalb Jahren viel unterwegs, besonders in Orten rechtsextremistischer Gewalttaten, in so genannten rechten Hochburgen. Ich habe
mir vorher nicht vorstellen können, was man da erleben
kann, das Ausmaß von Angst, das sich bereits verbreitet
hat. Es war mir unvorstellbar, dass junge Leute nicht mehr
wagen, in bestimmte Teile einer Stadt zu gehen, einen Jugendclub zu besuchen. Die Gespräche mit Opfern von Gewalt, mit von ihrer Angst gelähmten Jugendlichen haben
mich nicht mehr losgelassen. Es gibt wirklich, was die
Rechtsextremen großtönend „nationale befreite Zonen“
nennen. Wir können es anders nennen: Stadtquartiere und
Gegenden, in denen die rechten Schläger und die rechten
Ideologen dominieren und die anderen nur unter Angst leben und existieren können.
Aber ich habe bei diesen Besuchen auch etwas anderes
erlebt, nämlich alltäglichen demokratischen Anstand,
vielfältige Initiativen von jungen Leuten, von Lehrern,
von Kommunalpolitikern, die sich dagegen wehren, Aktivitäten an Schulen. Deswegen sage ich immer: Wir müssen die falsche Faszination durch Gewalttäter und Gewalttaten überwinden und uns wieder faszinieren lassen
durch den normalen alltäglichen Anstand unserer Bürger
und gerade auch unserer jungen Leute.
({3})
Ich habe aber ebenso erlebt - auch das gehört zu meinen Erfahrungen -, dass es durchaus Verharmlosung, Beschönigung gibt aus Angst um die Beschädigung des Images einer Stadt. Ich verstehe das. Man darf die Namen, die
ich genannt habe, nicht auf diese Gewalttaten reduzieren.
Ich verstehe das. Trotzdem ist das eine Haltung, die zu
überwinden ist. Ich sage ausdrücklich: Es handelt sich
hier nicht vor allem und nicht nur um ein ostdeutsches
Problem - damit wir uns nicht missverstehen.
Ich sage ferner: Mir sind bei diesen Besuchen und den
Erfahrungen, die ich gemacht habe, alle einfachen, alle
monokausalen Erklärungen für den Rechtsextremismus
und für Gewalt, etwa nach dem Muster, Arbeitslosigkeit
und Ausbildungsplatznot bewirke rechtsextreme Einstellungen, vergangen. Wir wissen doch, dass viele von
den rechtsextremen Ideologen und Schlägern nicht Arbeitslose sind und nicht ohne Ausbildung sind.
({4})
Dies gilt auch für Behauptungen, die deutsche Einheit, die
Delegitimierung der DDR und ihres Antifaschismus seien
schuld. So etwas habe ich eher aus Ihren Reihen gehört.
Nein, so einfach dürfen wir es uns nicht machen.
({5})
Es gibt ein ganzes Bündel von Ursachen: Reden wir von
Überforderungsängsten und von Vereinfachungsbedürfnissen. Das bekommen wir doch mit. Wir sind inmitten eines rasanten Wandels, einer beschleunigten Entwicklung:
ökonomisch, technologisch, in der Forschung, im sozialen Leben. Wir erleben die radikale Veränderung der Arbeitswelt. Dieser rasante Wandel erzeugt Verunsicherung
und massive Ängste bei denjenigen, die nicht sicher sind,
nicht sicher sein können, dass sie erfolgreich darin sein
können.
In Ostdeutschland ist das besonders deutlich zu sehen. Die Radikalität des Umbruchs in allen Lebensbereichen hat jeden betroffen. Die Komplexität, das scheinbar
Überwältigende der Probleme erzeugt ein menschlich gewiss sehr verständliches Vereinfachungsbedürfnis, das
Bedürfnis nach einfachen Antworten auf komplexe, überwältigende Fragen. Diese Bedürfnisse und diese flottierenden Ängste machen Menschen empfänglich für die
Botschaften radikaler, bösartiger Vereinfachungen.
Reden wir von der Ethnisierung sozialer Konflikte.
Unsere Gesellschaft hat gewiss Integrationsprobleme. Sie
sind sehr unterschiedlicher Art. Die Ängste aber vor Desintegration, davor, den Anschluss zu verlieren, nicht mithalten zu können, sind groß und ebenso das Bedürfnis
nach Bindung, nach Beheimatung, nach sozialer Zugehörigkeit, nach Gruppenzugehörigkeit. Auch daran
knüpfen die rechtsextremen Ideologen an. Das Kernstück
ihres Angebots ist die Ideologie der Ungleichwertigkeit.
Raul Hilberg, der Historiker des Holocaust, hat einmal
gesagt: „Die Logik des völkermordenden Verbrechens beginnt mit der Definition des Fremden.“ Wir sind also gewarnt.
An dieser Stelle möchte ich doch einen Blick auf die
spezifisch ostdeutsche Seite des Problems werfen. Ich
wiederhole: Es geht nicht nur um ein ostdeutsches Problem; aber das Problem hat ein ostdeutsches Gesicht, das
nicht nur und nicht an erster Stelle durch die Vereinigung
und die Schwierigkeiten des Umwälzungsprozesses hervorgerufen ist.
Es gibt Umfragen aus den Jahren 1990 und 1991, die
Beunruhigendes aussagen über das, was in den Köpfen
und Herzen der Ostdeutschen vor sich ging. Ich erinnere
mich an Untersuchungen, die unser ehemaliger Kollege
Konrad Weiß in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre über die
Skinheadszene, die rechte Szene in der DDR angestellt
hat. Diese durften nie veröffentlich werden und waren nur
als innerkirchliches Material verfügbar. Es gibt eine
schlimme Tradition aus SED-Zeiten: eine Tradition des
Rechtsextremismus, des Antisemitismus. Dies wurde immer unter den Teppich gekehrt, weil nicht sein konnte,
was nicht sein durfte. Es konnte nicht bearbeitet werden;
denn der Antifaschismus von oben war ja ideologische
Staatsdoktrin.
Erinnern wir uns auch an eine andere Erbschaft der
SED-Diktatur. Die DDR war eben ein eingesperrtes
Land. Wie sollten Menschen selbstbestimmt, konfliktfähig werden, den Umgang mit Fremdem und Fremden
erlernen, das Aushalten von Differenzen einüben? Wie
sollten sie Demokratieerfahrungen machen?
Das wirkt nach, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der PDS. Sie kennen die Umfrage von Forsa über den Zusammenhang zwischen PDS-Wählerschaft und bestimmten Einstellungen zur Ausländerfrage. Ich sage nur, dass
unendlich viel an dieser Erbschaft zu bearbeiten ist.
Ein weiterer Aspekt ist das ideologische Denkmuster,
das uns in einem verkommenden Marxismus-Leninismus
eingebläut wurde: schwarz-weiß, Freund-Feind, der Klassengegner. So kam ein Klassenkampfmuster in die Köpfe,
das immer nach einem einfachen Schema verlief.
Ein letzter Aspekt, der vielleicht am schwierigsten zu
besprechen ist: Die DDR hat unter den Werthaltungen, die
sie den Menschen aufgeprägt hat, wohl am folgenreichsten die Vorstellung von Gleichheit und Gerechtigkeit geprägt. Ich will das nicht kritisieren; das Bedürfnis nach
Gerechtigkeit ist ein sehr menschliches Grundbedürfnis.
Aber jetzt wird sichtbar, dass die spezifische Ausprägung
der Gleichheitsvorstellung eine Rückseite hat: den Konformitätszwang, die Unfähigkeit, mit Differenzen umzugehen und soziale, kulturelle, weltanschauliche Differenzen auszuhalten. Ich hätte mir jedenfalls nicht vorstellen
können, dass es eine neuerliche Kombination von Sozialismus und Nationalismus gibt. Ich sage trotzdem, indem ich dies so beschreibe, dass dies nicht ein ostdeutsches Problem ist. Aber da ist viel mehr aufzuarbeiten.
({6})
Was ist zu tun, liebe Kolleginnen und Kollegen? Wir
sind uns einig: Wir müssen die Gewalt energisch bekämpfen und mit außerordentlicher Geduld und viel Kraft die
Ursachen der Gewalt bearbeiten. Wir reden über einen
Antrag zum Verbot rechtsextremistischer Parteien,
also der NPD. Polizei und Justiz haben selbstverständlich
ihre Pflicht zu tun. Natürlich geht es darum, dass wir Arbeitslosigkeit verringern und verlässliche Perspektiven
für junge Leute schaffen. Aber es geht eben auch - das ist
sehr schwierig - um ein neues Begreifen des Rangs und
Gewichts von Bildung und Aufklärung. Es muss uns erschrecken, dass nach so vielfältigen Anstrengungen unterschiedlicher Art in den vergangenen 40, 50 Jahren in
Deutschland bei Umfragen unter jungen Leuten, was
Auschwitz oder Holocaust bedeute, so viel Unwissenheit
zum Ausdruck kommt. Das zwingt uns zum Nachdenken
darüber, was wir anders machen müssen, was falsch gelaufen ist, was wir gegenüber einer neuen Generation verändern müssen, damit dieses geschichtliche Gedächtnis
und die Verpflichtung daraus für das Heute weiterleben.
({7})
Wir müssen an den Vorurteilen arbeiten, die von einer
unerträglichen Zähigkeit sind. Ich war in Hoyerswerda,
einer Stadt mit 50 000 Einwohnern. Ich fragte den Bürgermeister: Wie viele Ausländer gibt es hier? Er antwortete: 500. In einem Gespräch mit jungen Leuten - sie waren alle keine Rechtsaußen - nannten sie mir auf die
Frage, wie viele Ausländer denn nach ihrer Meinung in
Hoyerswerda lebten, Zahlen zwischen 2 000 und 10 000.
So übertragen sich Vorurteile über eine Gefahr und Gefährdung.
Daran müssen wir arbeiten. Wir müssen begreifen,
dass demokratische und moralische Erziehung wieder
von viel größerem Gewicht sein müssen; denn wir müssen hier auch vom Phänomen moralischer Entwurzelung
sprechen, wenn elementarste Regeln des menschlichen
Zusammenlebens, etwa das Gewalttabu, das auch bedeutet, dass man nicht auf jemanden tritt, der am Boden liegt,
nicht mehr funktionieren. Hier müssen wir nach den Ursachen fragen: Was ist in der Schule los, was passiert in
den Familien, was tun die Massenmedien? Ich sage auch
hier: Bei einer Gesellschaft, die Gewalt zum wichtigsten
Gegenstand ihrer abendlichen Fernsehunterhaltung
macht, ist etwas nicht in Ordnung.
({8})
Begreifen wir neu den Rang von Jugendarbeit und
Jugendpolitik. Ich lasse das besondere Problem beiseite,
ob das Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit in Ostdeutschland überhaupt funktioniert und ob wir es nicht
verändern müssen.
({9})
Aber es geht darum, demokratische Initiativen zu stärken,
die alltägliche Courage zu unterstützen. Wir haben Gewalt energisch und entschlossen zu bekämpfen. Daneben
dürfen wir aber die anderen Aufgaben, die mittel- und
langfristiger Natur sind, nicht aus den Augen verlieren.
Denn worum geht es? Um eine Kultur der Anerkennung
oder, wie Bundespräsident Rau es wunderbar und treffend
formulierte, um eine Gesellschaft, in der wir Menschen
ohne Angst verschieden sein können.
Herzlichen Dank.
({10})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, das für die Preisvergabe zuständige Kuratorium der Stadt Frankfurt hat einstimmig beschlossen,
Wolfgang Thierse den Ignatz-Bubis-Preis zu verleihen für
seine Verdienste um Verständigung und für seinen Einsatz
gegen Rechtsextremismus und Gewalt. Ich glaube, dies
ist die passende Stelle, um ihm dazu herzlich zu gratulieren.
({0})
Nun erteile ich das Wort für die CDU/CSU-Fraktion
dem Kollegen Wolfgang Bosbach.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fülle der schlimmen ausländerfeindlichen, rassistisch motivierten Straftaten der letzten Zeit hat vor allem in den Sommermonaten
die Ursachen, Auswüchse und Folgen von Extremismus
und Gewaltbereitschaft und der damit verbundenen kriminellen Energie erneut in das öffentliche Bewusstsein
gerückt. Selten zuvor ist über diese Themen so ausführlich gesprochen, geschrieben und gesendet worden wie in
den letzten Wochen und Monaten.
Zu viel? - Ich meine, nein. Denn gerade die jüngsten
Gewalttaten der rechtsextremen Szene und die damit verbundenen Folgen für die Opfer, für die Angehörigen, für
das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Nationalität, Hautfarbe und Religion und für
das Ansehen unseres Landes in der Welt müssen uns aufrütteln, noch wachsamer zu werden gegenüber jeder Form
von Intoleranz, Extremismus und Gewalt.
({0})
Sie verlangen eine entschiedene Reaktion, nicht nur
des Staates und seiner Institutionen, sondern auch aller
verantwortungsbewussten Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Unser Dank und unsere Anerkennung gebühren denen, die sich, zum Teil unter Inkaufnahme eigener Gefährdungen, Extremismus und Gewalt nicht
beugen, die Mut und Zivilcourage zeigen und damit unmissverständlich deutlich machen, dass Deutschland
braunen Terror nicht ein zweites Mal dulden wird.
Gelegentlich war zu hören, dass der Kampf gegen
Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in den
Sommermonaten mangels anderer wichtiger Themen die
Schlagzeilen so lange dominiert habe. Das mag sein. Ungeachtet dessen gehört der Kampf gegen jede Form von
Intoleranz, Extremismus und Gewalt auch weiterhin in
den Mittelpunkt sowohl des politischen Bemühens als
auch des öffentlichen Interesses. Diesen Auftrag gibt uns
Art. 1 des Grundgesetzes:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen
Gewalt.
Dieser staatliche Schutz gebührt allen Menschen in unserem Land, gleich welcher Nationalität, Hautfarbe oder
Religion.
({1})
Wer die richtigen, jetzt notwendigen Entscheidungen
treffen will, muss sich gleichermaßen ernsthaft mit Ursachen, Wirkungen und Folgen von Extremismus jeder
Spielart und der Gewaltbereitschaft insgesamt beschäftigen. Die unbestreitbare Tatsache, dass es auch über 7 000
gewaltbereite Linksextremisten und mindestens 67 extremistische Ausländerorganisationen mit einem erheblichen Gefährdungspotenzial gibt, darf uns nicht dazu verleiten, rechten Extremismus gegen linken Extremismus
und rechte Gewalt gegen linke Gewalt aufzurechnen oder
gar die Probleme zu relativieren.
Die öffentliche Diskussion über Ursachen und Folgen
des braunen Terrors ist nicht überflüssig, sondern überfällig. Wenn Ausländer oder Angehörige anderer Minderheiten verfolgt, gehetzt, zusammengeschlagen oder gar getötet werden, dann müssen Staat und Gesellschaft Flagge
zeigen, nicht nur zum Schutz der Rechtsordnung und aller
Opfer, sondern auch zum Schutz des Staates insgesamt;
denn nicht wenige Extremisten wollen diesen Staat umstürzen. Sie wollen eine andere Republik.
Wenn es Extremismus und Gewalt auf beiden äußersten Rändern des politischen Spektrums gibt, dann ist das
kein Grund zur Beruhigung, sondern Grund zu einer doppelten Beunruhigung und eine doppelte Herausforderung
für unsere wehrhafte Demokratie.
({2})
Deshalb sagen wir, die Union: Notwendig ist ein entschlossener Kampf gegen jede Form von Intoleranz, Hass
und Gewalt, ganz gleich, aus welchen politischen Motiven die Täter handeln.
({3})
Wir sagen grundsätzlich: Null Toleranz der Intoleranz!
Wenn am Ende des vergangenen Jahres 134 rechtsextreme Organisationen registriert wurden und damit 20
mehr als noch vor einem Jahr, wenn das rechtsextremistische Potenzial auf über 51 000 Personen geschätzt wird
und wenn die Zahl der Gewaltbereiten auf 9 000 - Tendenz steigend - beziffert wird, dann belegen diese Zahlen,
wie wichtig ein nachhaltiger, entschlossener Kampf gegen den Rechtsextremismus ist. Wenn dieser Kampf erfolgreich sein soll, dann brauchen wir viele fundierte Informationen, Daten und Fakten. Dafür brauchen wir gut
funktionierende und gut ausgestattete Verfassungsschutzämter mit qualifizierten und motivierten Mitarbeitern. Wer sie in ihrer personellen oder organisatorischen
Schlagkraft schwächen will, schwächt damit die Abwehrkräfte unseres Landes gegen die erklärten Feinde unserer
freiheitlichen demokratischen Grundordnung.
({4})
Die Union begrüßt, dass die Bundesregierung nach
zunächst verkündeter Ablehnung dann doch noch den
Vorschlag des bayerischen Innenministers Günther
Beckstein aufgegriffen hat, zu prüfen, ob genügend Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass ein Antrag auf
Verbot der NPD beim Bundesverfassungsgericht hinreichende Aussicht auf Erfolg haben könnte. Zwar vertritt
die NPD verfassungsfeindliche Ziele; aber das alleine
könnte einem Verbotsantrag noch nicht zum Erfolg verhelfen.
Eine weitere wichtige Voraussetzung für ein Verbot ist
ein aggressiv-kämpferisches Auftreten als Indiz für eine
feindliche Haltung gegen unsere verfassungsmäßige Ordnung, zum Beispiel durch militante Erklärungen oder
durch Aufrufe zu Straftaten. Auch für die Prüfung der Erfolgsaussichten eines Verbotsantrags sind wir auf Informationen nicht nur der Strafverfolgungsbehörden, sondern auch der Verfassungsschutzämter des Bundes und
der Länder angewiesen. Wenn die notwendigen Informationen vorliegen und eine hinreichende Erfolgsaussicht
belegen, dann erwarten CDU und CSU, dass die Bundesregierung einen entsprechenden Verbotsantrag stellt.
({5})
Ein Verbot könnte zwar durch eine Zerschlagung der
Struktur und der Organisationskraft der NPD einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung des Rechtsextremismus
leisten, aber eben nur einen Beitrag. Mindestens ebenso
notwendig ist eine intensive Befassung mit den Gründen
von Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt.
Aus vielen Untersuchungen wissen wir: Es gibt nicht nur
einen Grund, eine Ursache, ein Motiv. Oft kommen die
überwiegend jungen Täter aus besonders schwierigen familiären und sozialen Verhältnissen. Oftmals wurden sie
selber ganz früh und unmittelbar mit Gewalt konfrontiert.
Zerfallende soziale Milieus und eine stetig nachlassende Bindungskraft gesellschaftlicher Institution können
junge Menschen, die in Gefahr sind, auf die schiefe Bahn
zu geraten, nicht mehr auffangen. Hinzu kommen soziale
und kulturelle Ängste und nicht zuletzt die Verführung
durch Medien, zum Beispiel durch einschlägige Homepages im Internet oder durch eine aggressive rechtsextreme
musikalische Szene.
Vor diesem Hintergrund brauchen wir für eine erfolgreiche Bekämpfung von Extremismus und Gewalt eine
vernünftige Kombination von sozialer Prävention und
staatlicher Repression.
({6})
Wir brauchen Hilfsangebote für gefährdete Kinder und
Jugendliche ebenso wie eine schnelle und konsequente
Reaktion auf Straftaten. Wir müssen beides gewährleisten. Wir brauchen eine Stärkung der Erziehungskraft der
Familien und der Schulen, wohl wissend, dass die Schule
nicht die Reparaturwerkstatt für Versäumnisse in Familie,
Gesellschaft und Politik sein kann. Vor allem brauchen
wir eine Kultur der Toleranz und der Akzeptanz auch desjenigen, der anders ist.
({7})
Es mag zwar Fälle geben, bei denen Hopfen und Malz
verloren ist. Aber das gilt sicherlich nicht für alle, die sich
in der rechten Szene bewegen. Dies zeigen gerade Aussteiger, die es geschafft haben, die schiefe Bahn zu verlassen.
Der stellvertretende Bundesvorsitzende der GdP hat
vor wenigen Tagen darauf hingewiesen, dass wir auch
Hilfsangebote für gefährdete Jugendliche aus der so genannten Skinheadszene und für Aussteiger aus der rechten Szene machen müssen.
Das sei zwar unpopulär, aber trotzdem erforderlich. Freiberg hat Recht: Wir dürfen Jugendliche, die noch kein
vollständiges rechtsextremes Weltbild haben, nicht den
braunen Rattenfängern überlassen.
In der letzten Zeit ist viel darüber gesprochen worden,
wie wichtig es ist, dass das Recht dem Unrecht nicht weichen darf. Somit müsste heute eigentlich jedem klar sein,
dass auch Gewalt gegen Sachen nicht toleriert werden
darf und dass der Ruf „Macht kaputt, was euch kaputtmacht!“ dazu führen kann, dass Blut fließt.
In vielen Veröffentlichungen wurde darauf hingewiesen, wie wichtig eine aktive Jugendverbandsarbeit
- auch der Präsident hat dies erwähnt - und auch die
Arbeit anderer Vereine seien. Ohne sie und das ehrenamtliche Engagement von Millionen wäre unser Land viel
ärmer.
({8})
Beispiel Sport: Ich bin der festen Überzeugung, dass
die gesellschaftliche Bedeutung des Sportes - hiermit
meine ich weniger den Spitzen- als vielmehr den Breitensport - eher unterschätzt als überschätzt wird. Dies gilt in
besonderer Weise für die Erziehung junger Menschen. Sie
erlernen und trainieren in den Vereinen nicht nur bestimmte Sportarten, sondern sie erlernen gleichzeitig, namentlich im Mannschaftssport, richtiges Sozialverhalten;
sie erleben Freundschaft und Respekt vor der Leistung
des Gegners. Sie lernen, dass Teamgeist für den Erfolg
wichtig ist und dass sich Anstrengungen lohnen. Wer
mehrfach in der Woche hart trainieren muss und danach
hundemüde ins Bett fällt, der kommt nicht so leicht auf
krumme Gedanken.
({9})
Sind es nicht vor allem die Sportvereine, in denen tagtäglich gerade für junge Menschen ausländischer Herkunft wichtige Integrationsleistungen erbracht werden? In
dieser Beurteilung werden wir uns vermutlich schnell einig sein. Dann jedoch sollte der Staat die Arbeit der Vereine und das vielfältige ehrenamtliche Engagement von
Millionen nicht nur fordern, sondern auch fördern.
({10})
Der Staat sollte alles unterlassen, was die Arbeit unserer
Vereine und der dort ehrenamtlich Tätigen unnötig erschwert.
({11})
Wichtig ist, dass wir jetzt, nach einer langen Zeit mit
vielen öffentlichen Debatten und klugen Appellen, in
wichtigen Bereichen zu Entscheidungen kommen. Unser
Antrag enthält viele konkrete Vorschläge, insbesondere
im Hinblick auf die notwendige Reaktion des Staates hinsichtlich der Verfolgung von Straftaten und der Aburteilung überführter Straftäter. Wir alle wissen, dass eine
schnelle Reaktion der Gerichte gerade auf jugendliche
Straftäter oftmals mehr Eindruck macht als eine harte
Strafe. Wir plädieren nicht für den berüchtigten „kurzen
Prozess“, aber dafür, dass wir einmal ernsthaft darüber
nachdenken, ob in geeigneten Fällen nicht auch bei jugendlichen Tätern ein beschleunigtes Verfahren, das jetzt
gemäß § 79 JGG ausgeschlossen ist, sinnvoll oder gar notwendig sein kann. Gut 75 Prozent der fremdenfeindlichen
Gewalttäter sind jünger als 21 Jahre. Schon diese eine
Zahl belegt, welche wichtige Funktion das Jugendstrafrecht bei der Bekämpfung gewaltbereiter Extremisten haben kann. Auch unser Vorschlag eines so genannten
Warnarrestes, der neben einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe verhängt werden kann, damit der Täter
einmal hautnah spürt, was Freiheitsentzug für ihn persönlich bedeutet, sollte nicht abgelehnt werden.
Am 29. Januar dieses Jahres - zum Andenken an den
so genannten Tag der Machtergreifung, den 30. Januar
1933 - sind erneut Hunderte von Neonazis mit
schwarz-weiß-roten Fahnen durch das Brandenburger Tor
marschiert.
({12})
Diese Bilder gingen um die ganze Welt. Sie haben das Ansehen unseres Landes erheblich beschädigt.
({13})
Solche Bilder sind eine Zumutung, vor allem für unsere
jüdischen Mitbürger.
({14})
Die zuständigen Behörden hätten diese Demonstration
gerne verhindert. Das war jedoch auf der Grundlage des
geltenden Rechts nicht möglich. Das geltende Demonstrationsrecht garantiert leider auch den Neonazis zum
Tag der Machtergreifung, zu Führers Geburtstag oder zu
anderen unappetitlichen Anlässen eine höchst medienwirksame Kulisse, einschließlich Schutz durch die Polizei. Genau das müssen wir ändern.
({15})
Wir haben bereits vor geraumer Zeit vorgeschlagen,
das Recht dahin gehend zu ändern, dass die Bundesländer - sofern sie es als notwendig erachten - um Gebäude
oder Orte von besonderer, herausragender nationaler und
historischer Bedeutung in einem räumlich eng umgrenzten Bereich befriedete Bezirke einrichten können, in denen Demonstrationen dann verboten werden können,
wenn sie erkennbar im Widerspruch zur Bedeutung des
Ortes stehen und dadurch die Würde des Ortes gestört
wird.
Für die Hauptstadt Berlin hat Innensenator Werthebach
beispielhaft die Neue Wache, das Brandenburger Tor und
das noch zu errichtende Denkmal für die ermordeten Juden Europas genannt. Dass grölende Neonazis demnächst
wieder durch das Brandenburger Tor marschieren und in
Richtung Holocaust-Mahnmal abbiegen, um dort zu demonstrieren, dass der braune Spuk noch nicht vorbei ist,
muss für jeden rechtschaffenen Bürger ein Albtraum sein.
Diesen Albtraum können wir verhindern. Wir müssen ihn
verhindern.
({16})
Die in diesem Zusammenhang aufgestellte Behauptung, die Union wolle das Grundrecht auf Demonstrationsfreiheit außer Kraft setzen, erfüllt ebenso wie die Aussage, wir dürften unsere politischen Entscheidungen nicht
von den in London, New York oder Tel Aviv veröffentlichten Meinungen abhängig machen, den Tatbestand
des groben Unfugs. Selbstverständlich müssen wir stets in
eigener Verantwortung, nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden. Es kann uns aber doch nicht völlig
gleichgültig sein, was die Menschen in England, in den
USA oder in Israel über uns denken, wenn sie diese Bilder sehen. Die SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus ist mittlerweile der gleichen Meinung, das Land
Rheinland-Pfalz offenbar auch. Bei dem einen geht es etwas schneller, bei dem anderen dauert es etwas länger.
Wir wollen keinen unnötigen Streit. Wir bieten der
Mehrheit des Hauses ausdrücklich konstruktive Gespräche über die wichtigen Fragen des Demonstrationsrechtes an.
({17})
Wenn wir hier gemeinsam zu einer vernünftigen Lösung
kämen, dann wäre das ein wichtiger Beitrag zu der vor
wenigen Tagen von Innenminister Beckstein zu Recht
eingeforderten Harmonie gegen den Terror.
Die Bundesrepublik Deutschland ist kein ausländerfeindliches Land - ganz im Gegenteil. Gerade deshalb
können wir in unserem Land Rassismus und Fremdenfeindlichkeit nicht dulden. Aber wir können auch nicht
dulden, dass jedes Nachdenken über eine andere Zuwanderungspolitik, die stärker die Interessen unseres Landes
berücksichtigt, von vornherein als fremdenfeindlich oder
rassistisch diskriminiert wird.
({18})
Die Debatte, die wir in den vergangenen Monaten geführt haben und auch in den kommenden Monaten noch
führen werden, darf nicht das Ergebnis haben, dass in unserem Land nicht mehr über die Chancen einer vernünftigen und die Risiken einer unvernünftigen Zuwanderungspolitik offen und vorurteilsfrei gesprochen werden darf.
Wer will ernsthaft bestreiten, dass Zuwanderung für ein
Land unter bestimmten Bedingungen nicht nur aus volkswirtschaftlichen, sondern auch aus vielen anderen Gründen eine Bereicherung bedeuten kann? Wer will auf der
anderen Seite bestreiten, dass Zuwanderung auch für unser Land unter bestimmten Bedingungen eine Belastung
sein kann, insbesondere dann, wenn die Zahl der Zuwanderer zu groß ist und die Integrationsfähigkeit des Landes
und die Integrationsbereitschaft vieler Bürgerinnen und
Bürger überfordert?
({19})
Dies gilt insbesondere dann, wenn zu viele kommen, die
weder integrationsfähig noch integrationswillig sind, oder
wenn sich durch Gettoisierung Parallelgesellschaften bilden, mit der Folge, dass die dringend notwendige Integration nicht erfolgen kann.
Deutschland muss zur Sicherung wissenschaftlicher
Spitzenleistungen, hoher Innovationskraft und wirtschaftlicher Dynamik offen sein für ausländische Fachkräfte,
Unternehmer und Wissenschaftler. Weltoffenheit ist Voraussetzung für herausragende Leistungen in allen Bereichen, nicht nur im Sport. Gleichzeitig müssen wir aber
auch offen darüber reden können, dass wir nicht alle sozialen und humanitären Probleme der Erde auf dem Boden
der Bundesrepublik Deutschland lösen können,
({20})
dass ungesteuerte und unsteuerbare Zuwanderung mit
Problemen verbunden ist und dass wir in dem wichtigen
und sensiblen Bereich der Zuwanderung unser Land und
die Bürger nicht überfordern dürfen.
Natürlich kann und muss man über den besten Weg zur
Bekämpfung des Extremismus streiten. Aber wir sollten
uns nicht gegenseitig das Bemühen absprechen, den Extremismus in allen Erscheinungsformen zu bekämpfen.
Die notwendige Gemeinsamkeit hintertreibt, wer andere
der geistigen Urheberschaft rechtsradikaler Ausschreitungen bezichtigt.
({21})
Solche Polemik nutzt Extremisten. Es muss in diesem
Lande auch noch erlaubt sein, wertkonservative Positionen zu vertreten, ohne gleich als rechtsradikal diffamiert
zu werden.
({22})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir leben in einem
Staat, der sich wehren kann, der sich zu wehren weiß. Unsere Demokratie ist stabil; daran sollte kein Zweifel aufkommen. Der wehrhafte demokratische Rechtsstaat ist
fest im Bewusstsein der Deutschen verankert. Berlin ist
nicht Weimar.
Ich danke Ihnen.
({23})
Nun erteile ich der
Kollegin Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am
13. Februar 1999 wird Farid Guendoul, Flüchtling aus Algerien, 28 Jahre alt, in Guben in Brandenburg von Rechtsradikalen durch die Stadt gejagt. In seiner Panik tritt er in
eine Glastür und stirbt an den Verletzungen.
Am 14. Juni dieses Jahres wird Alberto Adriano, ein
39-jähriger Migrant aus Mosambik, in Dessau von drei
Neonazis erschlagen. Einer der Täter sagt später vor Gericht: Ich habe den Neger getreten, weil ich ihn hasse.
9. Juli 2000: Fünf Rechtsextremisten überfallen in
Wismar einen 52-jährigen Obdachlosen und töten ihn.
13. September dieses Jahres: Zwei Skinheads erschlagen
in Flensburg einen 45-jährigen Obdachlosen. In beiden
Fällen leugnen die Ermittlungsbehörden leider den
rechtsextremen Hintergrund der Tat.
Jüngstes Beispiel: Am 23. September dieses Jahres
fliegt ein Molotowcocktail in ein Übergangswohnheim in
Wuppertal, in dem 47 Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien leben. Zwei Kinder werden zum Glück nur verletzt. Ich
möchte nur daran erinnern: In der Nachbarstadt Solingen
waren 1993 bei einem ganz ähnlichen Anschlag fünf türkische Mädchen und Frauen ums Leben gekommen.
Meine Damen und Herren, es vergeht immer noch kein
Tag, an dem nicht Menschen in Deutschland von rechtsradikalen Schlägern angegriffen, verletzt oder getötet
werden, und zwar nur, weil sie Schwarze sind, weil sie
Flüchtlinge sind, weil sie Obdachlose sind, weil sie homosexuell sind. Auch ich finde es gut, dass dieses Thema
im Sommer breit diskutiert wurde. Es ist gut, dass wir
heute diese Debatte führen. Aber andererseits - das sage
ich hier auch sehr deutlich - ist es schlimm, dass die Gefahr rechtsextremer Gewalt immer erst dann auf die Tagesordnung kommt, wenn Menschen getötet wurden.
({0})
Wir sollten die Fehler der Vergangenheit nicht erneut
wiederholen. Nach den mörderischen Anschlägen von
Mölln 1992 und von Solingen 1993 war die Empörung in
der Bevölkerung sehr groß. Damals schien auch die
Auseinandersetzung mit den Ursachen fremdenfeindlicher Gewalt plötzlich ernsthafter. Sogar Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, diskutierten damals
ernsthaft die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft. Doch wirklich dauerhafte Konsequenzen im
Kampf gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wurden nicht gezogen. Jetzt sind wir wieder fassungslos angesichts der Opfer dieser brutalen Übergriffe. Deshalb
müssen wir uns doch fragen: Was bleibt von unseren Diskussionen? Reicht der Appell an die Zivilcourage des
Einzelnen?
In mancherlei Hinsicht sind wir uns ja, was die Maßnahmen betrifft, einig. Wir alle wollen eine schnelle, konsequente Strafverfolgung. Es ist gut, dass die Justiz den
Mord in Dessau so schnell geahndet hat. Das ist ein gutes
Beispiel dafür, wie es gehen kann.
({1})
Wir brauchen auch neue Formen der Bildungsarbeit, eine
Neuorientierung der Jugendarbeit. Auch darin sind wir
uns einig. Wir sollten auch ein NPD-Verbot gründlich
prüfen. Allerdings - das möchte ich auch sehr deutlich sagen - darf ein Verbotsantrag nicht vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern, denn dann würde die NPD auch
noch ein demokratisches Gütesiegel von höchstrichterlicher Instanz bekommen. Das wäre eine Katastrophe und
darf auf keinen Fall passieren.
({2})
Aber wir sollten uns darüber im Klaren sein: Auch ein
Verbot der NPD löst die Probleme des Rechtsextremismus nicht. Wir müssen gegen die Vergiftung in den Köpfen und Herzen der Menschen angehen, wenn wir Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus wirksam
und vor allen Dingen dauerhaft bekämpfen wollen. Da
stellt sich mir, Herr Beckstein, schon die Frage: Wie passen Ihre Forderung nach dem NPD-Verbot und Sätze wie:
„Wir brauchen weniger Ausländer, die uns nur ausnützen,
und mehr, die uns nützen“, zusammen?
({3})
Sie stehen mit solchen Aussagen nicht allein. Ich will
nicht alle diese Aussagen der vielen Politiker wiederholen wie die von Herrn Lummer und Herrn Kanther, Herrn
Landowsky und Herrn Schönbohm, Herrn Zeitlmann und
Herrn Stoiber. Die Botschaften waren immer die gleichen:
„Das Boot ist voll. Die Gastfreundschaft geht zu Ende.
Der Staatsnotstand ist nahe.“
({4})
Solche Sprüche, meine Damen und Herren, können auch
ein Nährboden sein, auf dem organisierter Rechtsextremismus wachsen und gedeihen kann.
({5})
Ich sage nicht, dass es hier einen direkten Ursachenzusammenhang gibt, aber ich sage: Wir müssen vorsichtig
damit sein, welche Signale wir an diese Gesellschaft hineingeben.
({6})
- Ja, das ist doch gut.
Ich denke, wir sollten diesen Zusammenhang wirklich
sehen. Schauen wir auf die letzten 20 Jahre deutscher Politik: Anfang der 80er-Jahre wurde in aufgeheizter gesellschaftlicher Stimmung Einwanderern aus der Türkei die
Rückkehr empfohlen. Dies sollte mit Rückkehrgeldern erreicht werden. In der Folge waren vor allen Dingen diese
Menschen Opfer von Anschlägen. In den 90er-Jahren erhitzte die Asyldebatte die Gemüter so weit, dass es zur
Grundgesetzänderung kam. Höhepunkte dieser Debatte
waren die Anschläge von Mölln, von Hünxe und von Solingen. Im vergangenen Jahr zog Herr Koch mit der Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft
zu Felde. Und Herr Rüttgers ging mit dem Slogan „Kinder statt Inder“ in den Wahlkampf. Meine Damen und
Herren von der Opposition, damit muss endlich Schluss
sein! Mit solchen Kampagnen muss Schluss sein!
({7})
Ich will auch denjenigen, die zurzeit eine tabufreie Diskussion über Einwanderung und Flüchtlinge fordern, sagen - und sie damit wenigstens zum Nachdenken auffordern -: Es müsste in dieser Gesellschaft doch ein Tabu
Kerstin Müller ({8})
sein, Wahlkampf auf dem Rücken der hier lebenden
Migranten, auf dem Rücken von Flüchtlingen und Minderheiten zu machen.
({9})
Ich finde es wirklich bedauerlich, dass ein solcher
Konsens, wie es ihn in anderen Ländern gibt, in der Bundesrepublik nicht möglich ist. In den Niederlanden zum
Beispiel sind sich alle demokratischen Parteien darüber
einig, dass man dieses Thema nicht zum Wahlkampfthema macht. Ich finde, es ist an der Zeit, dass wir das
auch in der Bundesrepublik erreichen.
({10})
Deshalb reicht es auch nicht, wenn man sich hinstellt
und sagt: Wir lehnen jede Gewalt mit Abscheu und
Empörung ab. Wir müssen nicht nur zeigen, dass wir Rassismus und Gewalt nicht dulden, sondern wir müssen
auch selbst die demokratischen Werte vermitteln, von
denen wir unsere Kinder, die Jugendlichen in Ost und
West, überzeugen wollen. Deshalb meine ich: Auf keinen
Fall dürfen wir Bürgerrechte, zum Beispiel das Versammlungsrecht, einschränken. Das käme doch einer Kapitulation des Rechtsstaates vor den Rechtsextremen gleich,
meine Damen und Herren.
Der Staat darf nicht nur Humanität einfordern, er muss
selbst human sein. Politik muss aufklären, muss Vorurteile bekämpfen, muss die Achtung vor dem Fremden vorleben, muss sich auf die Seite der Verfolgten stellen, und
zwar eindeutig und unmissverständlich. Dann wäre unser
Werben um Zivilcourage im Alltag und um bürgerschaftliches Engagement auch glaubwürdig.
Meine Damen und Herren, ich bin davon überzeugt,
die demokratische Substanz einer Gesellschaft erkennt
man auch an ihrem Umgang mit Minderheiten. Deshalb
ist unser Platz an der Seite von Verfolgten und Flüchtlingen, auch solchen im Kirchenasyl. Deshalb wird es mit
uns auch keine Verschärfung des Asylrechts geben.
({11})
Unser Platz ist an der Seite von Einwanderern, auch wenn
sie nicht über Studium und hoch dotierte Verträge verfügen. Deshalb brauchen wir ein Einwanderungsgesetz. Unser Platz ist an der Seite von Homosexuellen. Deshalb
wollen wir mit der eingetragenen Partnerschaft endlich
gleiche Rechte schaffen. Und unser Platz ist an der Seite
von Obdachlosen.
Ich fordere die Innenministerkonferenz auf: Setzen Sie
endlich den Beschluss des Bundestages um, ein Bleiberecht für Bürgerkriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo zu schaffen, die nicht in ihre
Heimat zurückkehren können.
({12})
An uns alle gerichtet: Lassen Sie uns endlich das inhumane Flughafenverfahren abschaffen, das immer wieder
von Amnesty International kritisiert wird!
({13})
Es ist einer zivilisierten, demokratischen Gesellschaft unwürdig, Menschen wochenlang in Flughafenbaracken
einzusperren. Das wären klare Signale für mehr Humanität.
Wir dürfen vor allen Dingen die Opfer nicht vergessen.
Viele Menschen sind in den vergangenen zehn Jahren zu
Schaden gekommen. Nach der Recherche der „Frankfurter Rundschau“ und des „Tagesspiegel“ sind seit 1990
93 Menschen durch rechtsextreme Gewalttaten getötet
worden. Es gibt inzwischen sehr viele ehrenamtliche Opferschutzinitiativen, die wichtige und absolut professionelle Arbeit leisten. Wir müssen sie unterstützen und dafür
sorgen, dass die Finanzmittel, die wir zum Kampf gegen
Rechtsextremismus bereitstellen, auch bei diesen Initiativen vor Ort unbürokratisch und schnell ankommen.
({14})
Zum Schluss - dies sage ich im Hinblick auf das, was
Sie, Herr Bosbach, angesprochen haben -: Beenden Sie,
meine Damen und Herren von der Opposition, in dieser
Diskussion doch endlich diesen unsäglichen Eiertanz um
rechts und links! Wenn Flüchtlingsheime brennen, dann
sollten wir nicht über Autonome reden. Wenn schwarze
Menschen nur wegen ihrer Hautfarbe getötet werden,
dann sollten wir nicht über Antifa-Gruppen sprechen.
Wenn jüdische Friedhöfe geschändet werden, dann sollten wir nicht über irgendwelche kommunistischen Splittergrüppchen - schon gar nicht über eine Fraktion in diesem Hause - reden.
({15})
Damit sollten wir aufhören. Das ist eine Verharmlosung
des Rechtsextremismus.
Wir müssen Verantwortung zeigen. Wir müssen Farbe
bekennen gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus und Gewalt. Darum muss es in den nächsten
Jahren gehen.
Vielen Dank.
({16})
Für die F.D.P.-Fraktion erteile ich dem Kollegen Dr. Guido Westerwelle das
Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte
zunächst Ihnen, Herr Bundestagspräsident und Kollege
Thierse, im Namen meiner Fraktion sehr herzlich zur Verleihung des Ignatz-Bubis-Preises gratulieren. Ich möchte
diesen Dank ausdrücklich mit einer Wertschätzung und
Kerstin Müller ({0})
Anerkennung Ihrer vorzüglichen Ausführungen verbinden, die Sie heute Morgen gemacht haben.
({1})
Der Deutsche Bundestag hat sich zuletzt am 8. Juni
dieses Jahres mit dem Thema Rechtsextremismus befasst.
Meine Fraktion hatte einen Antrag zur Beratung eingebracht. Auch die PDS und die Koalitionsfraktionen hatten
anschließend entsprechende Anträge auf die Tagesordnung gesetzt. Dieser Tagesordnungspunkt wurde aber erst
zu nachtschlafender Zeit aufgerufen. Der Stenographische Bericht vermerkt an dieser Stelle, dass alle Reden
hierzu zu Protokoll gegeben worden sind und dass damit
eine Aussprache nicht stattgefunden hat. Ich glaube, wir
müssen uns selber die Frage stellen, ob wir diesem dramatischen Thema immer die nötige Aufmerksamkeit geschenkt haben.
({2})
Betrüblicherweise stimmt die Einschätzung, dass immer erst etwas passieren muss, bevor ein solches Thema
in diesem Hause zur Kernzeit diskutiert wird. Ich muss an
dieser Stelle noch bemerken - selbstverständlich spreche
ich damit nicht die beiden Kollegen an, die auf der Bundesratsbank sitzen -: Es muss kritisiert werden, dass bei
einer solchen Debatte - bis auf die erwähnte Ausnahme gähnende Leere auf der Bundesratsbank herrscht, obwohl
die Innenminister der Länder für die Bekämpfung des
Rechtsextremismus federführend sind.
({3})
Dreieinhalb Monate später findet aufgrund dieser
schrecklichen Vorkommnisse eine bemerkenswerte Debatte zur Kernzeit im Deutschen Bundestag statt. Dazwischen lag die parlamentarische Sommerpause. In dieser
Zeit passierten betrübliche Vorfälle, mit denen wir über
alle Parteigrenzen hinweg konfrontiert worden sind.
Diese Vorfälle haben uns betroffen gemacht, nicht nur,
weil wir oft von jungen Menschen angesprochen werden,
sondern weil sich jeder weit über unsere politischen Funktionen hinaus als Staatsbürger geniert, vielleicht sogar
manchmal schämt, wenn er derartige Berichte in den Zeitungen lesen muss.
({4})
Das ist ein Grundgefühl, das wir als diejenigen, die in diesem Lande politische Verantwortung tragen, mit den allermeisten in Deutschland teilen.
Der aktuelle Verfassungsschutzbericht 1999 lag
schon im Juni dieses Jahres allen vor und hätte genügend
Stoff für die Diskussion geboten, die wir jetzt sinnvollerweise hier führen. Ich glaube, wir beschäftigen uns in diesem Hause oftmals mit ausführlichster Redezeit mit einer
Vielzahl von geradezu „bedeutenden“ Themen, dass ich
mich manchmal frage: Wie kann man eigentlich so lange
zu diesem Thema hier sprechen?
({5})
Wenn ein Thema aber wirklich einmal wichtig ist, dann
findet die Debatte darüber zu einem Zeitpunkt statt, an
dem die deutsche Öffentlichkeit naturgemäß kaum noch
teilnehmen kann, weil die Medien berechtigterweise um
Mitternacht oder kurz vor Mitternacht kaum noch Interesse haben, so etwas zu übertragen.
Ich möchte nicht die Zahlen wiederholen, die von Ihnen, Herr Thierse, und auch von anderen, zum Beispiel
von dem Kollegen Bosbach, angeführt worden sind. Ich
glaube auch, dass uns ein Streit über die Statistiken hier
nicht weiterhilft. Die einen berufen sich auf die Statistik,
die in der „Frankfurter Rundschau“ veröffentlicht wird.
Andere nennen andere Statistiken und sagen: Es waren
gar nicht fast 100, sondern weit weniger Opfer. Darauf
kommt es nicht an. Jeder dieser Fälle ist so dramatisch für
unser Ansehen und unser gesellschaftliches Zusammenleben, dass er diese Debatte wahrlich rechtfertigt.
({6})
Ich möchte an einen Punkt anknüpfen, den Sie, Herr
Kollege Thierse, hier angesprochen haben, weil ich finde,
dass er wichtig ist. Sie haben sehr ausgewogen und sensibel auf die Diskussion in Ostdeutschland, in den so genannten neuen Bundesländern, hingewiesen. Wir alle wissen, dass der politische Extremismus auch in
Ostdeutschland in großer Zahl Teilnehmer, Mitläufer
und aggressive Täter findet. Aber das Problem des politischen Extremismus auf Ostdeutschland zu reduzieren
wäre ein Desaster für die politische Diskussion. Die Strippenzieher sitzen nämlich im Westen.
({7})
Diejenigen, die die rechtsextreme DVU mit widerlichen Kampagnen in den Landtag in Sachsen-Anhalt katapultiert haben, sitzen als Geldgeber, Strippenzieher oder
Schreibtischtäter im Westen. Das ist etwas, was nicht unterbewertet werden darf. Es ist eine gesamtdeutsche
Herausforderung, den politischen Extremismus zu
bekämpfen. Es ist nicht nur eine Herausforderung für Ostdeutschland.
({8})
Da von den Bundesländern die Rede gewesen ist, ist es
im Grunde genommen geradezu müßig, dennoch notwendig, dies an dieser Stelle anzuführen: Es gibt die rechtsextreme DVU in Sachsen-Anhalt. Wir wissen, welche miserable Politik sie gemacht hat, seitdem sie dort im
Landtag sitzt. Aber seit zwei Legislaturperioden gibt es
auch in Baden-Württemberg eine rechtsextreme Partei:
die Republikaner. Beide muss man bekämpfen, nicht nur
die Partei in Ostdeutschland.
({9})
Man bekämpft diesen politischen Extremismus nach
Auffassung der Freien Demokraten nicht, wenn man das
Thema für die eigenen parteipolitischen Ziele instrumentalisieren möchte. Deswegen, Kolleginnen und Kollegen
der PDS, komme ich um diese kritische Bemerkung nicht
herum, weil Sie diese Aussage in dieser Woche gemacht
haben: Wenn die PDS dem Bundesinnenminister vorwirft,
„Stichwortgeber der Neonazis“ zu sein - das ist ein wörtliches Zitat -, weil er sich für eine offene Diskussion über
die Zuwanderung nach Deutschland ausspricht und vor
einer ungesteuerten Zuwanderung warnt, dann ist das in
meinen Augen nicht nur eine grobe politische Entgleisung, sondern auch eine fatale Verharmlosung des politischen Extremismus in Deutschland.
({10})
Frau Kollegin Müller, Ihnen muss ich sagen: Es ist
nicht in Ordnung, wenn Sie hier einerseits - an Mitglieder
dieses Hauses, in diesem Falle an die Mitglieder der konservativen Opposition adressiert - sagen, sie würden hier
den Nährboden für bestimmte extremistische Entwicklungen bereiten, und gleichzeitig in einem Nebensatz hinzufügen: Aber natürlich will ich nicht sagen, dass sie die
Ursache dafür sind. In dem Augenblick, in dem Sie ein
Wort wie „Nährboden“ in die Diskussion einbringen und
an Mitglieder dieses Hauses adressieren, begehen Sie
meiner Meinung nach einen großen Fehler. Sie sollten
jetzt nicht alles, was den Grünen lieb und teuer ist, politisch damit begründen, dass der Extremismus bekämpft
werden muss. Sie können Anträge zur Flughafenregelung
in diesem Haus einbringen und vermutlich hätten Sie
dafür die Zustimmung der Freien Demokraten. Ich glaube
aber, es ist ein Fehler, wenn in diese Extremismusdebatte
alles eingeführt wird, was einem persönlich politisch
wichtig ist.
Die Neonazi-Keule - das muss ich an die PDS gerichtet sagen - dürfen Sie nicht schwingen. Ich befürchte
nämlich wirklich, dass Sie damit denjenigen einen Gefallen tun, die wir gemeinsam politisch bekämpfen sollten.
({11})
Man muss sich auch überlegen, wo man etwas sagt. Es
gibt mehrere Mitglieder dieses Hauses, die dem vom Verfassungsschutz beobachteten Zeitungsorgan „Junge
Freiheit“ Interviews gegeben haben. Ich bedauere das.
({12})
Diese Zeitung ist im Verfassungsschutzbericht genannt
worden und es wäre spätestens jetzt weiß Gott nicht mehr
notwendig gewesen, diesem Blatt eine solche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Ich muss der Bundesregierung, Herrn Minister Schily und den anderen Mitgliedern
des Kabinetts, sagen: Es ist nicht in Ordnung, dass ein
Staatsminister dieser Bundesregierung der „Jungen Freiheit“ in der vorvergangenen Woche ein Interview gegeben
hat und damit diesem Blatt sogar noch das regierungsamtliche Siegel verleiht und der Eindruck entsteht, man
könne sich mit einer solchen Zeitung normal unterhalten.
({13})
Es geht nicht darum, was er gesagt hat. Es geht darum,
dass er ein solches Blatt aufwertet. Das sollten Sie zurücknehmen, davon sollten Sie sich distanzieren. Das Interview war nicht nur ein Akt politischer Ungeschicklichkeit, sondern ich glaube, es war eine politische
Aufwertung, die nicht sinnvoll ist.
Meine Damen und Herren, ich will noch zwei Themen
ansprechen, die mir wichtig sind und die in die Debatte
über den politischen Extremismus eingeführt worden
sind. Das erste Thema ist das Parteiverbot. Ich kann nur
an das anknüpfen, was Frau Kollegin Müller hier zum angestrebten Verbotsverfahren gegen die NPD gesagt hat.
Ich habe bereits in der letzten innenpolitischen Debatte, als wir über den Haushalt diskutiert haben, gesagt:
Es wäre ein Fehler, wenn ein solcher Verbotsantrag aus
politischer Opportunität heraus gestellt wird. Wenn ein
Verbotsantrag gestellt wird, dann darf es nicht nur hinreichende Chancen für den Erfolg geben, dann muss man
sich so sicher sein, wie man sich vor Gericht nur sicher
sein kann, dass dieses Verbotsverfahren zum Erfolg führt.
Denn anderenfalls bekommt diese Partei quasi noch eine
TÜV-Plakette vom Bundesverfassungsgericht und das
wäre meiner Meinung nach ein Fehler.
({14})
Sie, Herr Innenminister, haben vor drei Wochen bezüglich des Vereins „Blood & Honour“ das Vereinsverbotsverfahren gewählt. Ich glaube, dass Sie den richtigen
Weg gegangen sind.
({15})
Das ist ein vernünftiger Weg, weil es sich um einen Verein und nicht um eine Partei handelt. Für Parteien gilt das
besondere Privileg der Verfassung. Mit dem Vereinsverbotsverfahren können Sie leichter und übrigens effizient
gegen den politischen Extremismus vorgehen.
Meine Damen und Herren, das Letzte, was ich in Anbetracht der Redezeit sagen möchte, ist das Folgende: Ich
glaube, dass wir in Deutschland weit mehr Toleranz, Mitmenschlichkeit und aktiv gelebte Demokratie haben, als
es braune Hemden, Springerstiefel und Bomberjacken
gibt. Deswegen gilt, dass wir immer wieder - bei aller
Notwendigkeit dieser Debatte - gerade auch im Ausland
darauf hinweisen sollten, dass unser Land ein tolerantes
Land ist. Es ist ein Rechtsstaat, es ist eine wunderbare Demokratie. Wir sollten nicht zulassen - an welcher Stelle
auch immer -, dass das Ansehen Deutschlands in der
Welt, nicht nur bei uns selbst, durch Bilder zerstört wird.
Das ist unser gemeinsamer Auftrag, denn diese Debatte
verpflichtet zur Gemeinsamkeit und sollte nicht zur Konfrontation führen.
({16})
Für die PDS-Fraktion
erteile ich das Wort der Kollegin Ulla Jelpke.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Die breite gesellschaftliche Debatte über den
Rechtsextremismus, die wir seit dem Sommer führen, ist
unserer Meinung nach eine große Chance, um lange bestehende Versäumnisse endlich zu korrigieren. Zu solchen
Korrekturen, Herr Bosbach, gehört auch, dass die
CDU/CSU endlich aufhört, linken und rechten Extremismus auf eine Stufe zu stellen.
({0})
Angesichts von über hundert Menschen, die seit 1990 von
Rechtsextremisten getötet worden sind, ist das wirklich
eine unerträgliche Verharmlosung, die Sie hier immer
wieder betreiben.
Diese Verharmlosung reicht leider in alle gesellschaftlichen Bereiche. In Schleswig ist vor kurzem ein Obdachloser von zwei Neonazi-Skinheads totgetreten worden.
Trotzdem stufen die Polizei und die Staatsanwaltschaft
ihre Tat nicht als rechtsextremistisch ein. Obdachlose genießen offenbar keinen gesellschaftlichen Schutz.
Auch die Justiz muss ihren Umgang mit rechten Gewalttätern kritisch überprüfen. Wie sehr das nötig ist,
zeigt auch die Dokumentation des „Tagesspiegels“ und
der „Frankfurter Rundschau“. Darin werden Urteile zitiert, bei denen einem wirklich die Haare zu Berge stehen.
Wörtlich heißt es zum Beispiel, es sei nicht nachzuweisen, dass ein Skinhead, der einen 17jährigen Kurden getötet hat, „zum Zeitpunkt des Messerstichs rassistische Motive verinnerlicht“ hatte.
Um Neonazis zu bekämpfen, ist aber mehr erforderlich
als entschlossenes Handeln von Polizei und Justiz. Kirchen, Gewerkschaften, andere Verbände, die Wirtschaft,
alle müssen sich einmischen, denn der Rechtsextremismus reicht, wie Herr Thierse hier richtig gesagt hat, weit
in die Mitte der Gesellschaft. Beispiele dafür sind Traditionsverbände der Wehrmacht, Burschenschaften und
Teile der Vertriebenenverbände. Dort hat sich in der Vergangenheit eine enge Zusammenarbeit zwischen Konservativen und Rechtsextremisten entwickeln können und
ich meine, dass auch dieses Parlament damit nicht mehr
ignorant und verharmlosend umgehen darf.
Ein anderes Beispiel ist die weit verbreitete Fremdenfeindlichkeit. Sie ist Ergebnis jahrelanger falscher Politik. Wer Menschen, die seit vielen Jahren hier leben, als
„Gastarbeiter“ diskriminiert, als Menschen zweiter
Klasse einstuft, ihnen nicht einmal das kommunale Wahlrecht einräumt, wer Flüchtlinge als „Asylanten“ herabsetzt und das Asylrecht so restriktiv wie möglich handhabt, muss sich nicht wundern, wenn braune Gewalttäter
noch ganz anders gegen diese Menschen vorgehen.
Wer Rechtsextremismus bekämpfen will, muss fremdenfeindliche Bestimmungen und Gesetze grundlegend
korrigieren und aufheben. Wenn zum Beispiel Menschen
aus Vietnam, die seit über zehn Jahren hier leben, oder
Menschen aus Krisengebieten wie Sri Lanka und anderen
Regionen abgeschoben werden, dann muss das ebenfalls
thematisiert werden, genauso wie die Gettoisierung von
Flüchtlingen. Das arbeitet meines Erachtens in der Tat
auch den Brandstiftern in die Hände, denn die Hemmschwellen werden hier immer niedriger.
Auch fremdenfeindliche Sprüche, wie wir sie aus diesem Hause und aus anderen Parlamenten kennen - „Kinder statt Inder“ ist schon genannt worden, „Grenzen der
Belastbarkeit“ nenne ich -, aber auch Kampagnen, wie sie
von der CDU/CSU gegen den Doppelpass geführt wurden, tragen zu diesem Klima bei.
Ich habe hier eine Resolution des Jugendparlaments
aus diesen Tagen. Ich zitiere:
Rechtsextremismus lebt von der täglichen Sorge vor
dem Neuen und dem Vorurteil gegenüber allem
Fremden. Mancher scheinbar harmlose Spruch über
Minderheiten bereitet den Boden vor.
An anderer Stelle heißt es:
Vor allem Politikerinnen und Politiker dürfen keinen
Zweifel darüber aufkommen lassen, dass Ausländerinnen, Einwanderer, Flüchtlinge, Menschen anderer
Hautfarbe oder anderen Glaubens nicht nur geduldet,
sondern willkommen sind.
Ich meine, dass diese Resolution, die ja einstimmig
vom Jugendparlament beschlossen wurde, ein Vorbild für
den Deutschen Bundestag sein sollte und er sich diese zu
Eigen machen sollte.
Ich will jetzt einige Punkte nennen, auf die sich der
Bundestag meines Erachtens bei gutem Willen als auf
eine Art Sofortprogramm sehr schnell einigen könnte.
Erstens. Es gab vor Jahren eine gute Kampagne der Gewerkschaften: „Mach’ meinen Kumpel nicht an“. Eine
ähnliche Kampagne durch Aufklärungsarbeit könnte sofort beginnen, wenn denn dafür die Mittel zur Verfügung
gestellt würden.
Darüber hinaus könnten auch Preisausschreiben an
Schulen und unter Jugendlichen mit der Losung „Weg mit
dem Nazidreck“ veranstaltet werden. Sicherlich würde
das dazu beitragen, in den Schulen Diskussionen anzuregen bzw. gegen Nazischmierereien und Nazisprüche
vorzugehen.
Zweitens. Innenbehörden und Verfassungsschutzämter
haben rechte Gewalt jahrelang verharmlost. Deshalb ist
eine unabhängige Beobachtungsstelle gegen Rassismus
und rechte Gewalt dringend nötig, an die sich vor allen
Dingen auch die Opfer rechter Gewalt wenden können.
Das ist nicht nur unsere Forderung, sondern auch die von
vielen Kriminologen.
Drittens. Es ist hier schon gesagt worden, dass für die
Opfer rechter Gewalt und ihre Angehörigen mehr getan
werden muss. Im Opferentschädigungsgesetz steht bisher,
dass nur Menschen, die hier länger als ein halbes Jahr leben, Entschädigungen erhalten können. Das muss unbedingt verbessert werden. Ich möchte an dieser Stelle noch
einmal darauf hinweisen, dass es nicht sein kann, dass
Menschen, die Opfer rechter Gewalt geworden sind, abgeschoben werden, wie es passiert ist.
Frau Kollegin, denken Sie an Ihre Redezeit.
Ich komme gleich zum Schluss.
Ein weiterer Vorschlag, der mir noch sehr wichtig ist,
bezieht sich auf eine Idee, die die Gewerkschaft der Polizei schon 1994 aufgegriffen hat. Ich zitiere aus dem Vorschlag:
Alle demokratischen Kräfte sind aufgefordert, darauf
hinzuwirken, dass ... Bestrebungen zur Wiederbelebung nationalsozialistischen Gedankengutes für
verfassungswidrig erklärt werden.
Sie schlägt vor, dies in Art. 26 des Grundgesetzes aufzunehmen. Auch das wäre eine wichtige Initiative.
Zum Schluss möchte ich noch einmal sehr deutlich sagen: Rechtsextremismus muss bekämpft werden. Die antifaschistische Bewegung formuliert im Moment die Parole: Faschismus ist keine Meinung, sondern ein
Verbrechen. - Danach sollten wir handeln.
({0})
Jetzt erteile ich der
Kollegin Ute Vogt, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ein älterer Herr proklamiert
am Tresen der „Winzerstube“, dass es doch gut wäre,
wenn der „Herr aus Braunau“ wieder da wäre, um Ordnung zu schaffen. Die Kellnerin sagt: Hitler interessiert
mich nicht; ich lasse eben die Rollläden herunter, wenn
die Herren von der NPD da sind. Dann bringe sie das Bier
und das sei es dann.
Andere schreien auf Aufmärschen: Keine Arbeit für Ali
Mustafa in Germanien! Ein Landesvorsitzender der NPD,
ein Student der Rechtswissenschaften, fasst zusammen,
das Recht der Ausländer in Deutschland sei, zu wählen, ob
sie per Flugzeug oder per Eisenbahn aus dem Land geworfen werden wollen.
Wesentlich subtiler geht es an manchen Stammtischen
oder anderen Orten zu, wo Sprüche und Witze auf Kosten
anderer Menschen, Menschen, die einem fremd sind oder
die aus anderen Ländern kommen, gerissen werden. Über
Witze lachen viele. Andere Aussagen entsetzen uns. Sie
spiegeln die Vorurteile von Menschen wider. Die Aussagen sind nicht selten Ausdruck von Ängsten vieler Bürgerinnen und Bürger. Vorurteile und Ängste vor der eigenen Zukunft fügen sich schnell zur Suche nach einem
Sündenbock zusammen, einem, der für alle Unsicherheiten und für alles Schlechte in der eigenen Lebenssituation
herhalten muss.
Es ist unsere Verantwortung, hier in diesem Parlament
als Politikerinnen und als Politiker diese Ängste ernst zu
nehmen. Es ist aber gleichzeitig auch unsere Verantwortung und unsere Verpflichtung, Vorurteilen und
oberflächlichen Betrachtungen entschieden entgegenzutreten und zu widersprechen.
({0})
Es ist richtig, dass wir ein breites gesellschaftliches
Bündnis brauchen. Auch ist es notwendig, dass wir Bürgerinnen und Bürger, Verbände, Vereinigungen und viele
Gruppierungen auffordern, mitzumachen, Zivilcourage
zu zeigen und sich für die Demokratie aktiv zu engagieren.
Aber all diese Appelle, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden ins Leere laufen, wenn wir nicht selbst vorbildlich handeln,
({1})
wenn wir selbst bei der Auswahl der Worte nicht sehr
sorgfältig sind, mit denen wir über andere Menschen und
über anstehende Probleme reden. Es geht um Sorgfalt, genaues Hinschauen und differenziertes Argumentieren.
Das heißt auch, dass wir der Versuchung widerstehen
müssen, bei Ängsten und Vorurteilen der Bevölkerung
einzuhaken und auf populistische Weise um Wählerstimmen zu buhlen, weil dies in der Konsequenz zu Ausgrenzung führt und damit Fremdenfeindlichkeit unterstützt wird und Argumente für sie geliefert werden.
Ich hätte mir sehr gewünscht, dass viele der politischen
Auseinandersetzungen des letzten Jahres und insbesondere viele der Kampagnen im Rahmen von Landtagswahlkämpfen nicht stattgefunden hätten.
({2})
Wir sollten heute gemeinsam nach vorne schauen und uns
überlegen, wo die Herausforderungen für unsere Demokratie und für uns als Parlamentarier liegen. Wir sollten
der Versuchung widerstehen, einfache Lösungen anzubieten. Verbote sind in vielen Fällen unabdingbar, aber wir
wissen alle: Verbote ändern keine Gesinnung.
Ich möchte auf eine Gefahr beim Verbot der NPD hinweisen. Es sind - es wurde schon angesprochen - auch andere rechtsextreme Parteien bei uns im Land tätig. Die
DVU und die so genannten Republikaner haben sich sogar in Landtagen festgesetzt. Wir sollten in dieser Diskussion nicht zulassen, dass diese sich das Mäntelchen der
Unschuld umhängen, mit dem Finger auf die NPD zeigen
und sagen: Das sind die Bösen, wir sind die Guten. - Ich
sage Ihnen: Mir dreht es wirklich den Magen um, wenn
ich sehe, dass Herr Schlierer in Baden-Württemberg im
Moment eine Veranstaltung ankündigt, auf der er zum
Thema „Keine Gewalt gegen Fremde“ redet, weil diese
Leute die geistigen Brandstifter sind, sie Vorurteile
schüren und sie täglich mit allem, was sie sagen und tun,
dafür arbeiten, dass Menschen gegeneinander aufgehetzt
werden.
({3})
Diese Verlogenheit muss man aufdecken und gegen sie
muss man sich stellen. Es geht darum, dass wir in unserer
Gesellschaft umdenken. Wir brauchen einen Wandel in
den Grundeinstellungen. Wir wissen - Wolfgang
Thierse hat es angesprochen -: Es gibt keine einfachen
Lösungen, weil es vielfältige Formen von Rechtsextremismus gibt. Es handelt sich eben nicht mehr um den arbeitslosen Alkoholiker aus dem problematischen Wohnviertel, sondern es gibt in einigen Teilen der Bevölkerung
eine schleichende, stille Akzeptanz von Vorurteilen. Es
entwickelt sich zum Teil auch an unseren Hochschulen
eine intellektuelle Szene, die die geistige Brücke hin zum
Rechtsextremismus bildet und die die ideologischen
Grundlagen dafür legt, dass andere auf die Straße gehen,
junge Menschen einfangen und versuchen, sie für sich zu
gewinnen.
({4})
Zum Thema Differenzierung habe ich insbesondere an
die Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU die Bitte,
dass wir tatsächlich auch zwischen Rechts- und Linksextremismus unterscheiden.
({5})
Wir sind uns einig, dass wir Extremismus in jeder Form
bekämpfen und ihn von beiden Seiten angehen wollen.
Aber es sind unterschiedliche Debatten; denn Links- und
Rechtsextremismus unterscheiden sich in der Zielsetzung
und der Motivation der Einzelnen. Wir brauchen andere
Ansätze für die jeweilige Gruppe. Ich bitte Sie, dass wir
diese beiden Diskussionen zwar führen, aber sie getrennt
führen und nicht immer versuchen, alles in einen Topf zu
werfen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir es schaffen
wollen, dass es nicht nur ein kurzes Aufflackern in einer
sonst nachrichtenarmen Zeit des Sommers war, wenn wir
wollen, dass das Thema Rechtsextremismus aktiv aufgegriffen wird, dann bedeutet das: Wir müssen uns diesem
Thema langfristig widmen. Wir müssen uns dauerhaft anstrengen, unsere Demokratie positiv darzustellen. Wir
müssen den Wert der Demokratie gemeinsam verdeutlichen und bewusst machen.
Ich finde, die Debatte heute ist ein guter Anfang, weil
wir dadurch - zumindest bisher - gezeigt haben, dass wir
in der Lage sind, eine demokratische Streitkultur in diesem Haus zu pflegen, bei der man unterschiedliche Argumente austauschen kann, ohne dass man jeweils nur platt
aufeinander einhaut. Es gibt kein einfaches Rezept für
kurzfristige Erfolge. Entscheidend ist, dass wir junge
Menschen, die für leere Parolen anfällig sind, ernst nehmen, ihre Schwierigkeiten und Ängste aufgreifen, sie in
unsere Überlegungen einbeziehen, ihnen Selbstwertgefühl vermitteln und vor allem zeigen, dass wir sie brauchen und dass sie in der Gesellschaft mitmachen können,
({7})
sodass sie nicht auf zweifelhafte Kameradschaften angewiesen sind. Es ist ganz zentral, dass wir anerkennen: Nur
wer stark ist und wen wir selbst mit einer Position in unserer Gesellschaft ausstatten, nur der hat auch die Kraft,
andere neben sich anzuerkennen und anzuerkennen, dass
auch jemand, der anders ist als man selbst, seinen Stellenwert hat und seinen wichtigen Beitrag in dieser Gesellschaft leisten kann.
Ich wünsche mir, dass wir gemeinsam tatsächlich nach
diesen Maximen handeln, denn auch junge Leute lernen
nicht so viel aus Büchern, sondern viel mehr aus dem, was
man ihnen vorlebt. Insofern sind wir alle in einer großen
Verantwortung.
({8})
Nun erteile ich dem
bayerischen Staatsminister des Innern, Herrn Dr. Günther
Beckstein, das Wort.
Dr. Günther Beckstein, Staatsminister ({0}) ({1}): Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren
Abgeordneten! Ich halte es für wichtig, dass der Deutsche
Bundestag sich heute in einer grundsätzlichen Debatte mit
der Frage der Bekämpfung von Extremismus, Gewalt und
Fremdenfeindlichkeit beschäftigt. Ich halte es auch für
wichtig, dass die Länder, denen hierbei eine große Aufgabe zukommt, hier das Wort ergreifen. Darum möchte
ich mich ausdrücklich bei der CDU/CSU-Fraktion dafür
bedanken, dass sie mir Redezeit abtritt. Denn einer der
Gründe, warum Vertreter des Bundesrats nicht immer in
großer Zahl vertreten sind, ist ja, dass die Abgeordneten
des Bundestages die Anrechnung auf die eigene Redezeit
nicht überall extrem schätzen.
({2})
Herr Minister, Sie
könnten aber auch zuhören. Das wäre doch ganz gut.
({0})
Dr. Günther Beckstein, Staatsminister ({1}):
Frau Präsidentin, für diesen Hinweis bin ich dankbar, aber
ich weise darauf hin, dass das Zuhören dank moderner
Kommunikationsmittel auch möglich ist, wenn man nicht
hier im Saal sitzt.
({2})
Man braucht auch stundenlange Reisen gar nicht erst anzutreten, wenn man die Debatten über ein entsprechendes
Medium verfolgt.
({3})
Aber mir geht es darum, deutlich zu machen, dass ich
diese Debatte für wichtig halte, und ich will meinen Beitrag dazu leisten.
Lassen Sie mich in allem Ernst sagen - ich will das
ganz bewusst vor die Klammer setzen, weil wir in dieser
Diskussion auch die eine oder andere politische AuseiUte Vogt ({4})
nandersetzung zu führen haben -, dass es mir als dem
Verantwortlichen für die Sicherheit in einem Bundesland
eine drängende Sorge ist und es mir manchmal den Schlaf
raubt, wenn ich daran denke, dass es Menschen im Land
gibt, die Angst haben, auf die Straße zu gehen. Politik im
Rechtsstaat trägt dafür die Verantwortung, dass jede Person sich an jeder Stelle des Landes aufhalten kann und sie
sicher ist, unabhängig davon, ob es Tag oder Nacht ist, ob
sie Mann oder Frau ist, unabhängig davon, ob es sich um
einen Deutschen oder Ausländer handelt, ob sie von
schwarzer, weißer oder gelber Hautfarbe ist, und - das betone ich - unabhängig davon, ob sie Wissenschaftler oder
Flüchtling ist. Selbst derjenige, der am nächsten Tag abgeschoben werden muss, sollte nicht Angst haben müssen, am Tag vorher von irgendeinem Schläger angegriffen
zu werden. Wenn das passiert, haben alle Verantwortlichen die Aufgabe, mit aller Massivität des Rechtsstaats
gegen Gewaltübergriffe vorzugehen.
({5})
Der Schutz vor Gewalt, der Schutz der persönlichen
Unversehrtheit, ist die absolute Voraussetzung für alle
weiteren Menschenrechte, die geltend zu machen sind.
Deswegen ist der Schutz vor Kriminalität auch eine der allerersten Aufgaben, die jeder Rechtsstaat hat und die er
wahrnehmen muss. Sobald ein Staat diese Aufgabe nicht
mehr hinreichend wahrnehmen würde, wäre auch die Akzeptanz eines solchen Staates gefährdet.
Wir müssen jetzt natürlich fragen: Wie ist die aktuelle
Situation? Im Sommer hatten wir eine Menge Gewalttaten. Ich habe auch überhaupt keine Probleme damit festzustellen, dass die aktuelle Frage derzeit der Rechtsextremismus ist. Jeder weiß, dass wir auch mit anderen
Extremismusformen, zum Beispiel dem Ausländerextremismus - Stichwort PKK -, in den vergangenen Jahren
Schwierigkeiten hatten, aber die aktuelle Diskussion betrifft in erster Linie den Rechtsextremismus. Deswegen
will ich mich dem auch stellen und fragen: Was müssen
wir tun? Gerade wenn ich die Besorgnis der Menschen
ernst nehme, muss ich darauf hinweisen: Wir müssen
dafür sorgen, dass jeder in diesem Land sicher ist und sich
sicher fühlt.
Bei allen gut gemeinten Darlegungen warne ich davor,
den Eindruck zu erwecken, man dürfe als Ausländer nirgendwo mehr auf die Straße gehen, ohne gefährdet zu
sein. Herr Kollege Özdemir, wir waren bei dem Abschiedsempfang des türkischen Botschafters Vural, der
mich mit ergreifenden Worten darauf hingewiesen hat,
dass nach seiner Meinung die derzeitige Diskussion dazu
führe, dass sich viele türkische Mitbürger nicht mehr auf
die Straße trauten.
Da kann ich für Bayern nur sagen: Bei monatlich drei
bis vier Straftaten in diesem Bereich in ganz Bayern wäre
es falsch zu sagen: Leute, ihr dürft nicht mehr auf die
Straße. - Wir müssen jede dieser Straftaten verhindern
und unterbinden sowie verübte Straftaten mit Härte bestrafen. Wir müssen aber auch den Mitbürgern sagen:
Macht euch nicht unnötig Angst, damit ihr euch nicht selber eure Freiheitsrechte nehmt.
({6})
Ich sage das gerade auch nach Gesprächen mit jüdischen Mitbürgern. Es belastet mich enorm, dass jüdische Mitbürger in unserem Land wieder darüber diskutieren, ob man in Deutschland bleiben kann oder nicht. Das
wird der Realität nicht gerecht. Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, jede Spur von Antisemitismus mit
Massivität zu bekämpfen. Wir müssen aber auch sagen:
Natürlich könnt ihr in unserem Land leben und wir wollen alle Voraussetzungen dafür schaffen.
Bezüglich der langfristigen Ursachen von Gewalt und
der Möglichkeit, sie langfristig zu bekämpfen, möchte ich
ausdrücklich feststellen, dass vieles von dem, was Herr
Thierse gesagt hat, und praktisch alles, was Herr Bosbach
gesagt hat, auch meine Meinung ist, sodass ich hier auf
vieles verweisen kann, ohne dies im Einzelnen noch einmal darstellen zu müssen.
Ich glaube, allen ist klar, dass die Bekämpfung der psychologischen und erzieherischen Ursachen für Gewalt
eine langfristige Aufgabe ist. Hierbei sind viele Bereiche,
die Erziehung, die Schule, Eltern und auch Kirchen, also
alle, die Werte vermitteln, in besonderer Weise gefragt.
Meine Aufgabe als Innenminister ist es, in besonderer
Weise die kurzfristigen Maßnahmen darzustellen, denn
selbstverständlich können wir nicht warten, bis alle langfristigen Maßnahmen der Jugendarbeit, der Jugendpolitik
bis hin zum Sport wirken. Wir müssen vielmehr fragen:
Wie kann man kurzfristig Gewalt und Extremismus unterbinden?
Eine der entscheidenden Grundlagen dafür ist für
mich, dass wir im Grundgesetz das Prinzip der wehrhaften Demokratie verankert haben. Das bedeutet, dass wir
ein Staat sind, der von Toleranz geprägt ist, dass es einen
weiten, freiheitlichen Raum gibt, dass der Staat darauf
vertraut, dass sich im Meinungskampf die Kraft der Argumente bewährt und nicht irgendwelche Schlägertruppen die Oberhand gewinnen, dass Entscheidungen durch
Wahlen getroffen werden. Wehrhafte Demokratie bedeutet aber auch, dass es keine Freiheit für aggressive Feinde
der Freiheit geben kann.
Das war für mich der Ausgangspunkt für meine Aussage: Wir haben in den vergangenen Monaten eindeutig
feststellen müssen, dass die NPD eine besondere Bedeutung im Bereich des Rechtsextremismus erlangt hat. Ich
habe übrigens, ohne dass die Öffentlichkeit sowie die
Kollegen der SPD dies wahrgenommen hätten, bereits im
vergangenen Jahr in einer Pressekonferenz darauf hingewiesen - ich könnte wörtlich zitieren, was ich im Frühjahr 1999 ausgeführt habe -, dass NPD, Neonazis und Autonome dabei sind, eine neue, besondere Gefahr zu
werden.
Ich habe das Verbot der NPD aus zwei Gründen zur
Diskussion gestellt: Einmal geht es mir darum, ein Zeichen für die Bereitschaft des demokratischen Staates zu
setzen, die Mittel der wehrhaften Demokratie einzusetzen, und zwar alle Mittel, die unser Rechtsstaat zur
Staatsminister Dr. Günther Beckstein ({7})
Verfügung hat. Als Zweites ist mir wichtig, dass ein zentraler Faktor in der Organisation der rechtsextremen Gewalt frontal angegangen wird und durch das Verbot in seinen Möglichkeiten entscheidend beschnitten wird.
Herr Staatsminister,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin BullingSchröter von der PDS?
Dr. Günther Beckstein, Staatsminister ({0}): Ja,
bitte.
Bitte sehr, Frau Kollegin.
Herr Minister
Beckstein, Sie haben gerade von der wehrhaften Demokratie gesprochen. Ich unterstütze das. Für mich gehören
zur wehrhaften Demokratie auch Demonstrationen gegen
Rassismus. Ich komme aus einem Wahlkreis, in dem es
bis vor kurzem eine Druckerei gab, die NPD-Druckerei
Sinning, die jetzt aber weggezogen ist.
Wie erklären Sie sich die Tatsache, dass zum Beispiel
Menschen, die gegen diese Druckerei demonstriert haben,
die in Passau gegen DVU und NPD demonstrieren, in
Ihrem Verfassungsschutzbericht erscheinen?Glauben Sie
nicht, dass auch das Rassismus fördert? Wie beurteilen
Sie die Tatsache, dass der Ministerpräsident Bayerns, des
zweitgrößten Bundeslandes, immer wieder von einer
„durchrassten Gesellschaft“ spricht?
Dr. Günther Beckstein, Staatsminister ({0}): Ich
will nur knapp darauf antworten.
Zunächst: Das Verbot einer Demonstration ist dann
möglich, wenn es Hinweise auf Gewalttätigkeiten gibt.
Auch wenn Leute gegen Rassismus demonstrieren, müssen sie friedliche Mittel wählen und dafür sorgen, dass
Gewalttäter nicht dabei sind.
({1})
Ich sage das gerade auch an Ihre Adresse: Sorgen Sie
dafür, dass Sie sich von der „Arbeitsgemeinschaft Junge
GenossInnen“ in der PDS,
({2})
die von nahezu allen Bundesländern als eine verfassungsfeindliche und auch nicht die Friedlichkeit wahrende Organisation eingestuft wird - lesen Sie den Bericht des
Bundesamts für Verfassungsschutz nach -, distanzieren!
Denn Sie tragen damit Mitverantwortung für die Gewalt
in diesem Land.
({3})
Das Zweite. Ich halte es schlichtweg für unanständig,
einem Politiker, der sehr viel reden muss - wie wir Politiker alle -, eine Äußerung, die er nach wenigen Minuten
zurückgenommen und für die er sich entschuldigt hat,
auch nach Jahren noch zuzurechnen. So kann man nicht
miteinander umgehen.
({4})
Dass sich die NPD verändert hat, ist eindeutig.
Führende Persönlichkeiten von Organisationen, die wir
verboten haben - in den vergangenen zehn Jahren sind
zehn Vereinigungen im rechtsextremistischen Bereich
vom Bund und zwei von Bayern verboten worden -, sind
zur NPD übergetreten. Ich will da durchaus Ross und Reiter nennen, obwohl das unappetitlich ist. Aber man muss
sehen, welche Gefahren bestehen. Ich will nur drei Namen nennen: Sascha Roßmüller, der beim Nationalen
Block war, ist jetzt der Bundesvorsitzende der Jungen Nationaldemokraten. Jens Pühse, der bei der Nationalen
Front war, die wir verboten haben, ist jetzt Bundesorganisationsleiter. Steffen Hupka, der ehemalige NPDLandesvorsitzende von Sachsen-Anhalt, war ebenfalls
früher bei der Nationalen Front.
Wir haben darauf hingewiesen, dass die NPD ein DreiPhasen-Konzept hat: Kampf um Köpfe, Kampf um die
Straße, Kampf um Parlamente. Sie selber sagt, dass es
sich bei ihrer jetzigen Aktivität um den Kampf um die
Straße handelt. Dabei verfolgt sie eine Doppelstrategie,
wie die Verfassungsschutzbehörden festgestellt haben:
Ausnutzen der Privilegien einer Partei - zum Beispiel mit
der Erleichterung im Bereich des Demonstrationsrechts und gleichzeitig Einbindung von Kameradschaften und
Skinheads einschließlich Gewaltbereiter.
Deswegen muss man meines Erachtens, wenn man
wirklich alle Mittel der wehrhaften Demokratie einsetzen
will, auch die Frage eines NPD-Verbotes angehen, zumal
dort völkischer Kollektivismus, Rassismus, übersteigerter
Nationalismus und die Diffamierung der Parteien und des
Staates - von „Demokratur“ ist da die Rede - völlig eindeutig nachgewiesen sind.
Wir haben einen ganzen Leitz-Ordner voll Material
dazu an die zuständigen Stellen des Bundes gegeben. Ich
habe gelesen, dass der Bundeskanzler mir bei der Debatte
hier im Bundestag am 13. September schöne Grüße hat
ausrichten lassen; verbunden mit der Aufforderung, wir
sollten Material liefern. Ich bedaure, dass die Bürokratie
in der Bundesregierung so langsam ist, dass das zwischen
dem 16. August - der ersten, großen Teillieferung - bzw.
Ende August - der zweiten, abschließenden Lieferung und dem 13. September nicht bis zum Bundeskanzleramt
gedrungen ist.
({5})
- Ja, ich weiß selber, wie hemmend Bürokratie sein kann.
Aber in der Spitze sollte das nicht vorkommen. Das stellt
der Aktionsfähigkeit des Kanzleramts kein gutes Zeugnis
aus. Herr Schily, vielleicht geben Sie da einmal Nachhilfeunterricht.
({6})
Wir haben diese Materialien vorgelegt. Ich bin wie
auch meine Mitarbeiter im Haus felsenfest davon überzeugt - wir hatten das über Monate geprüft -, dass die
Mittel eindeutig beweisen, dass die NPD nicht nur eine
Staatsminister Dr. Günther Beckstein ({7})
verfassungsfeindliche, sondern auch eine aggressivkämpferische Partei ist.
Weil hier die Diskussion beginnt, möchte ich eines
ganz deutlich sagen: Ich halte es für erforderlich, dass alles, was der Verfassungsschutz ermittelt hat, in das Verbotsverfahren eingeführt werden kann. Ich bin Ihnen,
Herr Minister Schily, dankbar dafür, dass Sie dafür sorgen, dass nicht beispielsweise der Datenschutz verhindert, dass Abhörergebnisse aus rechtsstaatlich zulässigen
Telefonüberwachungen verwendet werden können. Es
kann ja wohl nicht richtig sein, dass der Verfassungsschutz die Aufgabe hat, Gefahren für die Demokratie festzustellen, aber dass man das, was dann festgestellt wird,
nicht in Verfahren einbringen kann. Ich meine, wir müssen glasklar auf dieser Möglichkeit bestehen. Notfalls
müssen wir in diesem Parlament dafür entsprechende
rechtliche Grundlagen schaffen.
({8})
Ich bin auch dafür - und ich bedanke mich, dass hier
Zustimmung von den Länderkollegen signalisiert worden
ist -, dass wir die Möglichkeit der Überwachung des
Post- und Fernmeldeverkehrs bei einzelnen Straftätern
haben müssen. Bisher ist dafür Voraussetzung, dass es
sich um Banden, um Gruppen handelt.
Es ist davon gesprochen worden, dass die meisten
Täter im rechtsextremistischen Bereich zwischen 18 und
21 Jahre alt sind. Dennoch dürfen wir nicht automatisch
sagen: Das sind Jugenddummheiten. Wenn ein 20-Jähriger „Juden raus“ ruft oder entsprechende Schmierereien
macht, dann verdient er es in aller Regel, dafür als Erwachsener bestraft zu werden. Das kann nicht etwa als
eine Jugenddummheit abgetan werden.
({9})
Ich appelliere auch an alle, anders als in der Vergangenheit den Verfassungsschutz nicht zu schwächen, sondern den Verfassungsschutz zu stärken. Herr Özdemir, wir
brauchen einen starken Verfassungsschutz, damit wir
nicht erst den Straftätern hinterherlaufen, sondern mögliche Straftaten, gerade auch im rechtsextremistischen Bereich, verhindern. Ohne einen starken Verfassungsschutz
hätten wir nie die Kundgebungen anlässlich des Heß-Todestages in Wunsiedel in den Griff gekriegt. Das muss der
Verfassungsschutz vorher wissen, damit die Polizei dort
ist, wenn die Leute ankommen, damit sie sie präventiv
kontrollieren und diejenigen, die beispielsweise verbotene Gegenstände dabei haben, in den polizeilichen Unterbindungsgewahrsam nehmen kann. Mit diesen Mitteln,
die die wehrhafte Demokratie setzt, haben wir die Problematik dieser Fragen massiv reduzieren können. Wir sind
ja auch in anderem Zusammenhang, beispielsweise bei
den Fußball-Hooligans, so vorgegangen.
Eine kleine Randfrage noch, die mir aber auch ein wesentliches Anliegen ist: Ich ärgere mich seit Jahren darüber, dass Extremisten gerade deswegen, weil sie Extremisten sind, das Bedürfnis nach einem Waffenschein
zuerkannt wird. Es kann doch nicht richtig sein, dass ein
extremistischer Herausgeber einer Nationalzeitung gerade deswegen die Möglichkeit hat, einen Waffenschein
zu bekommen, weil er sagt, dass er auch von Linksextremen bedroht wird. Wir müssen in die Novelle des Waffengesetzes einführen, dass Extremisten keinen Waffenschein bekommen.
({10})
Ich stimme auch zu, dass wir die Möglichkeiten des
Opferschutzes verbessern müssen. Aber ich sage auch:
Das ist ein generelles Problem. Wir müssen insgesamt
dafür sorgen, dass wir nicht immer nur an die Täter denken. Vielmehr müssen wir insbesondere auch daran denken, wie wir Opfer besser schützen können, zum Beispiel
in den Gerichtsverfahren. Wir haben in Bayern partiell die
Möglichkeit eingeführt, dass ein Opfer von Gewalt
ebenso einen Pflichtverteidiger auf Steuerzahlerkosten
bekommt wie der Täter.
({11})
Ich appelliere an Sie, diese Möglichkeit überall einzuführen. Wenn Sie das vielleicht auch noch von Bundes
wegen bezahlen, dann wären wir natürlich völlig glücklich.
Zu einem letzten Punkt: Es gehört in ein Parlament,
dass man in der geistigen Auseinandersetzung um solche
Dinge ringt. Ich bin den Kollegen Bosbach und
Westerwelle ausnehmend dankbar, dass sie ausdrücklich
sagen: Es muss möglich sein, wertkonservative Haltungen darzustellen oder auch Fragen anzusprechen, die einen großen Teil der Bevölkerung bewegen, ohne dass das
in der Polemik der Diskussion gleich als Kampfmittel der
Demagogie bezeichnet wird und man so tut, als hätte das
etwas mit Rechtsextremismus zu tun.
Ich möchte Sie, Frau Müller, direkt ansprechen: Ich
finde es schon seltsam, dass man sagt, es müsse einheitliche Meinung sein, dass man sich über Fragen der Ausländerpolitik nicht streitet, sondern großen Konsens herstellt,
und die Niederlande als Beweis dafür anführt. Das Asylrecht der Niederlande wäre mit unserer Zustimmung morgen einzuführen: Aufenthaltsbeschränkung für diejenigen, die reinkommen, und beschleunigte Verfahren,
sodass die Außerlandesverbringung der Abzuschiebenden, der Abgelehnten, binnen drei Monaten möglich
ist. So partiell kann man nicht denken, dass man sagt: Das,
was meine Meinung ist, das ist die Demokratie, und andere Meinungen sind automatisch Extremismus. Es ist
auch eine Form des totalitären Denkens, wenn man den
eigenen Standpunkt absolut setzt.
({12})
Demokratie lebt davon, dass man den anderen ernst
nimmt. Aber wenn Sie für Ihre Meinung absolute Gültigkeit beanspruchen, dann können wir das mit demselben
Recht auch für unsere Meinung verlangen.
Als ich damals an diesem Pult das erste Mal dargestellt
habe, was wir uns unter einer neuen Ausländerpolitik vorstellen - ich bin der Meinung, dass man auch hier darüber
reden muss -, habe ich Folgendes gesagt: Ich lasse es
nicht zu, dass irgendjemand die Leistungen der Bundesländer im Bereich humanitärer Verpflichtungen gerade in
Staatsminister Dr. Günther Beckstein ({13})
den letzten Jahren bei der Aufnahme von Flüchtlingen
kleinredet. Wir haben mehr Bosnier, mehr Kosovo-Albaner als jedes andere Land in Europa aufgenommen,
({14})
übrigens ohne nennenswerte finanzielle Hilfe des Bundes - unabhängig davon, ob es die frühere oder die jetzige
Bundesregierung war.
Die Länder und die Gemeinden haben die finanziellen
Opfer erbracht. Wir haben hier mehr Humanitäres geleistet als alle anderen europäischen Länder zusammen. Das
war zwar gut so. Aber wir müssen darüber hinaus durch
Veränderung unseres Ausländerrechts mehr Spielräume
für die Aufnahme von Menschen schaffen, die wir benötigen - ich verwende extra nicht den Begriff „Nutzen“ -,
und zwar von Wissenschaftlern bis hin zu Fußballspielern. Jedes Land auf der Welt richtet sein Einwanderungsrecht an den eigenen Interessen aus. Wer das bestreitet,
verkennt die Bedeutung dieser Frage, zumal auch unsere
Mitbürger nicht ohne weiteres bereit sind, selber finanzielle Opfer zu erbringen, zum Beispiel massive Einschnitte
durch eine Gesundheitsreform hinzunehmen und auf bestimmte medizinische Behandlungen zu verzichten, und
gleichzeitig in anderen Bereichen grenzenlose Unterstützung zu gewähren.
Es ist zwar nicht erstaunlich, dass die PDS die Frage
des volkswirtschaftlichen Nutzens ganz bewusst tabuisiert und als Kampfmittel missbraucht, denn die Nachfolgeorganisation der SED hat bis heute Leute in ihren Reihen, die auf jeden Fall als Extremisten bezeichnet werden
müssen und die selber über Jahre hinweg die Menschenrechte mit Füßen getreten haben. Aber dass auch Teile der
Grünen und der SPD die Tabuisierung dieser Frage ganz
bewusst als Kampfmittel einsetzen, ist meines Erachtens
ein schwerer Fehler, weil das die bisherige Einigkeit über
den Grundsatz gefährdet, dass in der Demokratie zwar
über alles gestritten werden kann, aber über eines nicht:
Die Auseinandersetzungen, die in Form von Rede und Gegenrede, von Argument und Gegenargument geführt werden, werden letztlich durch Abstimmungen im Parlament
und durch Wahlen und nicht durch Gewalt entschieden.
Darüber sollte es einen Grundkonsens geben.
({15})
Das betrifft auch die Frage - die kann sich sehr schnell
wieder anders stellen - nach dem Schwerpunkt der Gewalt. Herr Schily, wie intensiv bereiten wir uns doch auf
polizeilicher Ebene auf den nächsten Castor-Transport
in diesem Jahr vor! Wenn er durchgeführt wird, dann werden Sie sehen, dass sich beim Thema Gewalt auch wieder
andere Fragen stellen. Sie wollen doch auch nicht, dass jeder, der gegen Atomkraft ist, für die rund um den CastorTransport begangenen Gewalttaten verantwortlich gemacht wird.
Wenn wir von demokratischer Gemeinsamkeit reden,
dann setzt das auch Toleranz der anderen Meinung, auch
der Meinung von Wertkonservativen, voraus. Wenn wir
diese Toleranz nicht aufbringen, können wir mit dem Reden aufhören. Wir brauchen Gemeinsamkeit bei der
Bekämpfung des Rechtsextremismus, des Linksextremismus und der Gewaltbereitschaft. Aber wir brauchen auch
eine gemeinsame Auffassung darüber, dass wir in einer
Demokratie über alle Fragen, die die Menschen bewegen,
reden, diskutieren und manchmal auch streiten können.
({16})
Herr Minister, Sie
hätten noch Gelegenheit gehabt, auf eine Frage des Kollegen von Larcher zu antworten. Aber diese Gelegenheit
ist jetzt vorbei.
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Cem Özdemir,
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich möchte,
bevor ich mit meiner eigentlichen Rede beginne, zunächst
die Gelegenheit nutzen, Herrn Bundestagspräsident
Thierse zur Verleihung des Ignatz-Bubis-Preises der
Stadt Frankfurt zu beglückwünschen. Ich glaube, er hat
mit der Rede, die er heute gehalten hat, bewiesen, dass er
diesen Preis zu Recht erhalten hat.
({0})
Ich möchte uns allen ein Kompliment für die bisherige
Qualität der Debatte machen. Ich glaube, wir hatten im
Bundestag selten eine Debatte, die sich zu herausgehobener Zeit mit diesem Thema auf diese Weise beschäftigt
hat. Von einigen Ausnahmen abgesehen haben die meisten
der Versuchung widerstanden, hier die klassischen Klischees zu wiederholen, und sich die Mühe gemacht, den
Tiefgang der Debatte im Sommer in diesem Hause fortzuführen.
Ich will Ihnen ein Angebot machen - von den Kollegen
der Union wurde das gelegentlich angesprochen -: Wenn
Sie das Bedürfnis haben, über den Linksradikalismus zu
diskutieren, dann tun Sie das. Sie haben die Möglichkeit,
in diesem Haus Anträge zu stellen und Debatten zu beantragen. Das wird dann so geschehen. Niemand scheut sich
davor, diese Debatten zu führen.
Ich will ausdrücklich wiederholen - es wurde verschiedentlich gesagt -: Linksradikalismus und Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik Deutschland können
und dürfen nicht gleichgestellt werden. Wir haben zurzeit
das Problem, dass das Leben von Menschen auf eine ganz
extreme, widerliche Art und Weise bedroht wird. Die Zahlen sprechen eine sehr deutliche Sprache. Ich glaube, wir
sollten die Qualität der Debatte im Sommer nicht dadurch
kaputtmachen, dass wir dort Gleichsetzungen vornehmen,
wo sie nicht gestattet sind.
({1})
Ich möchte die Gelegenheit auch nutzen, den Medien
zu danken; denn es waren die Medien, die dieses Thema
in alle Wohnzimmer getragen haben. Sie haben die Perspektive der Opfer, die allzu oft und allzu lange vergessen
worden sind, in den Mittelpunkt gerückt. Die Medien
Staatsminister Dr. Günther Beckstein ({2})
haben auch deutlich gemacht, dass es neben allem Kritikwürdigen, neben allem Widerwärtigen - Glatzköpfe,
Rechtsradikale, die gegen die Opfer ihrer Gewalt hetzen - viele Initiativen in unserer Republik und viele engagierte Mitbürgerinnen und Mitbürger gibt, die sich für
ein tolerantes Zusammenleben in Deutschland einsetzen.
Dies ist das anständige Deutschland, das wir Abgeordneten in diesem Hause vertreten. Daran sollten wir uns immer wieder erinnern.
Die Medien haben darauf hingewiesen, dass es
heute beispielsweise das „www.netz-gegen-rechts.de“,
die „Aktion ,Z’“ der „taz“, die Spendensammelaktion
der „Zeit“ und des „Stern“ für die Amadeo-Antonio-Stiftung - der der Bundestagspräsident und ich angehören gibt. Außerdem haben die Medien deutlich gemacht: Es
bedarf Maßnahmen mit Tiefe. Die Grundvoraussetzung
für ein Verhindern der Ausbreitung rechtsextremen Gedankengutes ist die Verteidigung demokratischer Werte
durch die Zivilgesellschaft.
({3})
Dazu gehört allerdings auch, dass man sich dem Türkenwitz entgegenstellt, der irgendwann zum Judenwitz
wird.
({4})
Jeder und jede ist gefordert - auch im Betrieb -, nicht
wegzuschauen, wenn solche Witze geäußert werden,
sondern mutig einzugreifen. Es geht um den Einsatz für
die Werte dieser Gesellschaft, die immer und überall
verteidigt werden müssen. Initiativen wie die „Aktion
Noteingang“, „Exit“, der „Verein Miteinander“, „Aktion
Courage“ und die bereits mehrfach erwähnte
„Amadeo-Antonio-Stiftung“ leisten eine hervorragende
Arbeit. Ich glaube, ich kann ihnen im Namen des ganzen
Hauses für ihre Demokratiearbeit - nichts anderes ist es,
was sie tun - danken. Sie arbeiten für unsere Demokratie
und setzen das um, wofür wir hier gemeinsam werben.
({5})
Wir brauchen mehr mobile Beratungsteams. Die Kommunen, die Schulen und die Polizei dürfen im Umgang
mit Rechts nicht alleine gelassen werden. Sie müssen beraten und entsprechend geschult werden, damit sie noch
besser als in der Vergangenheit in der Lage sind, sich dem
Rechtsextremismus entgegenzustellen.
Herr Beckstein, Sie haben das NPD-Verbot angesprochen. Andere Redner sind ebenfalls darauf eingegangen.
Ich möchte dieses Thema in aller Ernsthaftigkeit aufgreifen. Sie wissen, dass wir in dieser Republik bereits mehrere Verbote gegen rechtsextreme Organisationen erlassen haben. Die FAP und die Wiking-Jugend wurden 1992
verboten. Mittlerweile gibt es eine Art Arbeitsteilung in
der rechtsextremen Szene. Sie kennen dies aus den Berichten des Verfassungsschutzes, aber auch von vielen Experten.
Eine wichtige organisatorische Stütze sind die NPD
und natürlich auch die Jungen Nationaldemokraten.
Durch das Parteienprivileg - Sie haben das angesprochen kann die NPD Veranstaltungen organisieren, Säle mieten
und beispielsweise auch die staatliche Parteienfinanzierung in Anspruch nehmen. Deshalb ist es gut und richtig,
dass die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern
zurzeit die Voraussetzungen eines Verbotsantrages prüft.
Frau Kollegin Müller, Kollege Westerwelle und andere
haben angesprochen, was das heißt: Wir müssen uns sicher sein, dass wir, wenn wir vor das Bundesverfassungsgericht ziehen - man wird sich bestimmt in Karlsruhe
wiedersehen -, nicht hinterher als Verlierer dastehen.
({6})
In diesem Fall würden nicht nur wir, sondern auch die demokratische Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland würde verlieren, wenn die NPD dort einen Persilschein für ihre widerliche Arbeit bekommt.
Deshalb - dies möchte ich hinzufügen -: Ich warne davor, die Debatte auf ein Verbot der NPD zu konzentrieren.
Uns alle erfüllt die Sorge, dass hier mit unrealistischen Erwartungen gearbeitet wird. Es darf nicht zu einer vorübergehenden Entsorgung des Problems kommen. Nicht
ein einziges Problem durch einen Wähler der NPD wird
durch ein Verbot aus der Welt geschaffen werden. Nicht
ein einziger Sympathisant der NPD, nicht einer der Kader
der NPD wird seine Meinung ändern, weil die NPD verboten sein wird. Wir müssen uns dann auch die Frage stellen: Was machen wir mit der DVU, was machen wir mit
den Republikanern? Dann sehen Sie, dass es so einfach,
wie das oft dargestellt wird, nicht ist.
Wir brauchen auch mehr Opferberatungsstellen. Es
wurde bereits der sehr unappetitliche Streit um die Zahl
der Opfer angesprochen. Ich will mich an diesem Streit
nicht beteiligen; es wurde das Notwendige dazu gesagt.
Jedes Opfer ist ein Opfer zu viel, für das wir alle uns gemeinsam schämen müssen. Deshalb brauchen wir auch
mehr Opferberatungsstellen, damit die Opfer rechtsradikaler Gewalt - da gibt es eine sehr hohe Dunkelziffer, wie
all diejenigen, die sich vor Ort umschauen, wissen - in der
Lage sind, dort, wo man sie versteht, ohne Scheu von dem
zu berichten, was ihnen angetan wurde. Auch unsere Polizei braucht das, damit sie besser in die Lage versetzt
wird, sich den rechtsradikalen Straftätern entgegenzusetzen.
({7})
Ganz wichtig ist in diesem Zusammenhang das Stichwort Schule. Die Schulen haben mittlerweile wahrscheinlich mit die zentralste Funktion in diesem Bereich,
weil wir es zunehmend mit Familien zu tun haben, die ihre
Aufgabe nicht erfüllen können. Entweder sind sie nicht in
der Lage oder sie haben selber nie erfahren, was es heißt,
Werte zu vermitteln: Werte wie Nächstenliebe, Werte wie
Toleranz, Werte wie das Zugehen auf Menschen fremder
ethnischer Herkunft. Die Schule hat zunehmend die Aufgabe, zu kompensieren. Das ist nicht einfach. Wir müssen
unsere Lehrer dabei unterstützen. Wir müssen sie aber
auch in die Lage versetzen, diese Aufgabe zu erfüllen,
weil sie zunehmend Dinge tun müssen, für die sie eigentlich nicht ausgebildet sind und die ursprünglich nicht
ihrem Auftrag entsprechen.
Es gibt aber viele Lehrer in den neuen Ländern - ich
habe mich selber oft mit Lehrern unterhalten -, die sagen:
Ich bin müde, ich musste viele Jahre die Werte eines Regimes predigen, das zusammengebrochen und sinnlos geworden ist, und heute soll ich den Kindern etwas über Demokratie erzählen. Lasst mich in Ruhe mit Politik, ich will
damit nichts zu tun haben!
Man muss diesen Lehrern sagen, dass sie damit der offenen, pluralen Gesellschaft, die sie vertreten und für die
sie werben sollen, einen Bärendienst erweisen. Nein, wir
werden sie nicht in Ruhe lassen können. Die Lehrer dürfen auch die Kinder nicht in Ruhe lassen mit den Werten
dieser Gesellschaft; denn sonst würde sich die Demokratie zurückziehen.
({8})
Ich möchte zum Schluss auf zwei Dinge eingehen, die
mich nach wie vor nicht in Ruhe lassen, weil sie mich einerseits zornig machen und mir andererseits auch meinen
Mut nehmen, mich dem Rechtsradikalismus entgegenzusetzen. Ich werde oft für die Bundesrepublik Deutschland ins Ausland zu Reden eingeladen, demnächst wieder
am 3. Oktober. Natürlich nutze ich die Gelegenheit, dort
für das andere Deutschland zu werben, für das plurale, für
das demokratische Deutschland, das eine Mehrheit ist.
Aber ich habe große Schwierigkeiten, das mit Überzeugung zu tun, wenn ich sehen muss - da möchte ich Sie
noch einmal ansprechen, Herr Beckstein, weil Sie den
Verfassungsschutz genannt haben -, dass in Thüringen
der Schwerpunkt bei der Arbeit des Verfassungsschutzes
nach wie vor bei der Bekämpfung des Linksradikalismus
gesetzt wird, obwohl jeder in der Republik weiß, wo die
Probleme in Thüringen sind und wo Thüringen in der Gewaltstatistik rangiert - nämlich nicht ganz unten, sondern
ganz oben.
({9})
Angesichts dessen kann ein solcher Schwerpunkt doch
nicht richtig sein. Ich habe Schwierigkeiten, das - nicht
nur im Ausland - zu vertreten und zu sagen: Dort geschieht all das, was geschehen muss, um sich dem Rechtsradikalismus entgegenzusetzen.
Das letzte Beispiel stammt aus Mecklenburg-Vorpommern - damit mir keine parteipolitische Einseitigkeit vorgeworfen werden kann -: Neulich bei „Panorama“ konnte
man sehen, wie Sondereinsatzeinheiten, die zur Bekämpfung des Rechtsradikalismus da sind, sich an einer Tankstelle vor sich mobilisierenden Skinheads zurückziehen,
weil sie sich sagen: „Es ist besser, wenn wir uns zurückzuziehen, sonst kommt es zu irgendwelchen negativen Ereignissen.“ Bei einem solchen Vorgehen hat sich dort
nicht nur die Polizei von Mecklenburg-Vorpommern
zurückgezogen, es hat sich auch diese Gesellschaft
zurückgezogen. Das kann es nicht sein, wofür dieser Staat
steht.
({10})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Klaus Haupt, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist erschreckend, mit welcher Bedenkenlosigkeit in unserem Lande Menschen weggestoßen, ausgegrenzt, sich selbst überlassen werden:
Ausländer, Obdachlose, Behinderte, alte Leute. Der Geist
der Gedankenlosigkeit, die Angst vor dem Fremden und
die Menschenverachtung sind die Quellen dieser Intoleranz.
Das wird einem auf so beschämende Art und Weise
wieder deutlich und bewusst, wenn man an die Ereignisse
der vergangenen Sommermonate denkt. Es stimmt mich
äußerst nachdenklich, dass die Hemmschwelle für Gewalt bei von Hakenkreuz und Bier verblendeten Jugendlichen so weit gesunken ist, dass der Zynismus der Worte
bereits in Drangsalierung, ja sogar Mord umschlägt.
Meine Damen und Herren, solche Parolen wie „Ausländer raus!“, mit all ihren Variationen an Hauswände geschmiert oder auf der Straße gebrüllt, sollte man nicht
mehr länger nur als Gerede und leere Worte unterschätzen. Schon Faust irrte, als er sprach: „Ich kann das Wort
so hoch unmöglich schätzen.“ Worte können sehr wohl
verletzen, schlagen, vergiften, ja töten. Worte sind eine
Macht, täglich tausendfach belegbar. Ebenso wahr ist,
dass Worte auch Gutes bewirken können, die klärenden,
die ermutigenden, die ehrlichen, die kritischen.
Lassen Sie uns in diesem Sinne ohne parteipolitische
Brille in Gemeinsamkeit und Entschlossenheit die Kraft
aufbringen, unsere Demokratie immun gegen braunes Gedankengut und seine Auswucherungen zu machen.
({0})
Der Kampf der rechten Szene um die Vorherrschaft auf
der Straße, aber vor allem um die Köpfe unserer Jugend
ist eine Kriegserklärung an unsere Demokratie und stellt
eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung an alle
Demokraten, an Schulen, Kirchen, Gewerkschaften und
nicht zuletzt an die Politik dar. Als Abgeordneter aus
Hoyerswerda weiß ich, wie schädlich sich rechtsextreme
Gewalt auf die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft allgemein auswirkt. Auch weiß ich, wie zählebig
und hartnäckig ein Negativimage für eine Region wirkt,
wie Medien fleißig und immer wieder ein Klischee bedienen. Deshalb reagiere ich äußerst sensibel auf gefährliche Vereinfachungen, erst recht auf herablassende Berichterstattung mancher Medien über den „unkultivierten
Osten“, die Rechtsextremismus quasi als Ost-Phänomen
einfach abqualifizieren.
({1})
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns gemeinsam
dieser Tendenz entschieden entgegentreten. Ostdeutschland darf und kann man nicht einfach pauschal in die
rechte Ecke stellen. Die Worte von Herrn Thierse haben
mir heute sehr viel Mut gemacht. Zwar liegt in den neuen
Ländern regional ein Schwerpunkt rechtsextremer Gewalttaten und der Rechtsextremismus in den neuen Ländern ist jünger und auch militanter, aber die geistigen
Brandstifter und die Geldquellen sitzen in den alten Bundesländern. Deswegen ist das Problem des Rechtsextremismus kein regionales, sondern ein gesamtdeutsches.
({2})
Ebenso falsch und gefährlich sind zu einfache und zu
einseitige Erklärungsversuche für die Phänomene von
Ausländerfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Gewalt
besonders in den ostdeutschen Ländern. Es gibt eben einen ganzen Komplex von Ursachen. Sicher hat der gesellschaftliche Umbruch nach der Wende vor über zehn
Jahren zu Orientierungslosigkeit und Frustration beigetragen und zu einem Wertevakuum geführt, das der
Rechtsextremismus leider auch ausfüllen konnte. Auch
die autoritären Strukturen in der DDR haben das Entstehen des braunen Sumpfes begünstigt. Wer, wie in der gelebten Arbeiter- und Bauernrepublik, nie die Chance
hatte, Alltagserfahrungen mit gleichaltrigen Ausländern
zu sammeln, kann auch seine Vorurteile nicht kritisch
überprüfen, seine Ängste nicht überwinden. Deshalb
muss es endlich verstärkt Programme geben, die diese Erfahrung möglich machen. Es muss schwerpunktmäßig in
den neuen Ländern in Projekte zur Förderung der Weltoffenheit von Jugendlichen investiert werden.
({3})
Sicher gehören wirtschaftliche Probleme zu den Faktoren, die Extremismus jeder Art begünstigen. Wenn
junge Menschen nicht die Perspektive haben, sich in den
Städten und Gemeinden, in denen sie zu Hause sind, ihren
Lebensunterhalt zu verdienen, und keine berufliche Zukunft sehen, dann wird es einfach schwierig, die sich daraus ergebenden Frustrationen aufzufangen und die viel
beschworene Bürgergesellschaft zu stärken. Wenn es uns
nicht gelingt, die wirtschaftlichen Problemregionen besonders in den neuen Ländern auf eine wirtschaftliche Zukunftsbasis zu stellen, werden sich Aggression und Gewalt weiter ausbreiten, werden Eliten abwandern und
potenzielle Investoren nicht bereit sein, dort Risikokapital zu investieren.
Wir müssen der Jugend Chancen bieten, Talente und
Fähigkeiten zu entfalten, eine Aufgabe zu haben. Dazu
gehört die Stärkung ehrenamtlicher Tätigkeit in unserer
Gesellschaft, dazu gehört ein attraktives und modernes
Angebot der Vereine für Sport, Kultur und gesellschaftliches Engagement. Hier ist nicht nur der Staat, sondern unsere Gesellschaft als Ganzes, auch jeder Einzelne gefordert.
({4})
Allein die wenigen angerissenen Probleme verdeutlichen eines: Uns hilft kein kurzfristiger Aktionismus. Es
gibt keine schnellen Erfolge, die man medienwirksam
verkaufen kann.
({5})
Die Politik - also auch wir - muss beweisen, dass sie
über genügend Zivilcourage verfügt und auf langfristige
Konzepte setzt, deren Ergebnisse sich möglicherweise
erst in einigen Jahren zeigen. Die F.D.P. hat dazu bereits
im Frühjahr ein langfristig angelegtes und mit jährlich
250 Millionen DM ausgestattetes Programm vorgeschlagen - eine gute Grundlage für gemeinsames Handeln.
Danke.
({6})
Ich gebe nunmehr
das Wort dem Innenminister des Landes Niedersachsen,
Heiner Bartling.
Heiner Bartling, Minister ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Deutschland ist eine lebendige, starke und erfolgreiche
Demokratie. Deutschland ist ein liberales, weltoffenes
und tolerantes Land, in dem fast alle Menschen sicher leben können.
Wer nicht sicher hier leben kann, sind diejenigen, die
Rassenhass, Intoleranz und Gewalt predigen. Sie sind es
- und nicht friedliebende Bürgerinnen und Bürger - die
sich in unserem Land nicht sicher fühlen dürfen. Sie sind
es, die mit permanenter Überwachung, konsequenter polizeilicher und strafrechtlicher Verfolgung sowie gesellschaftlicher Ächtung zu rechnen haben.
Unser Bundesland Niedersachsen hat sich bereits unter meinem Vorgänger Gerhard Glogowski der Aufgabe,
den Rechtsextremismus zu bekämpfen, erfolgreich gestellt. Niedersachsen hat nach meiner Auffassung seine
Hausaufgaben gemacht. Ich würde gerne dem Kollegen
Westerwelle noch eine andere Erklärung für die Nichtanwesenheit der Innenminister der Länder anbieten: Sie alle
machen ihre Hausaufgaben, Herr Westerwelle, deswegen
sind sie nicht vollständig anwesend.
Aber nicht alle, meine Damen und Herren, haben ihre
Hausaufgaben gemacht. Das lässt sich unter anderem
auch von der alten Bundesregierung sagen. So musste das
Bundesinnenministerium unter Manfred Kanthers Führung beim Verbot der FAP und der Wiking-Jugend
Mitte der 90er-Jahre von anderen, unter anderem auch
von Niedersachsen, geradezu zum Jagen getragen werden.
Vieles von dem, was die CDU/CSU-Bundestagsfraktion in ihrem Antrag fordert, greift deshalb nichts Neues
auf. So ist es nicht zuletzt der Initiative Niedersachsens,
aber auch der Anregung aus Bayern zu verdanken, dass
jetzt bis Mitte Oktober die Aussichten für ein NPD-Verbot geprüft werden. Allerdings kann es nicht so gehen,
wie Herr Beckstein das angelegt hatte, nach dem Motto:
„Hannemann, geh du voran!“ Also: Die Bundesregierung
soll mal machen. Wenn wir nach sorgfältiger Prüfung zu
dem Ergebnis kommen, dass ein NPD-Verbot sinnvoll
und erfolgreich erscheint, sollten alle Verfassungsorgane
diesen Antrag beim Bundesverfassungsgericht stellen.
({1})
Wir in Niedersachsen schöpfen darüber hinaus die
Möglichkeiten, die das Vereinsrecht gegen Rechtsextremisten bietet, konsequent aus, wobei wir immer wieder
rechtliche Risiken eingegangen sind. So wurden in Niedersachsen bzw. auf niedersächsische Initiative hin 1992
der Deutsche Kameradschaftsbund Wilhelmshaven, 1994
die Wiking-Jugend, 1995 die FAP sowie 1998 die das Heideheim in Hetendorf tragenden Vereine verboten. Wir
werden rechtsextremistische Organisationen auch weiterhin beobachten und, sofern die Voraussetzungen vorliegen, verbieten. Dabei werden wir das Mittel des Verbots
auch für die angeblich nicht organisierten so genannten
Kameradschaften genau prüfen.
Die Linie des Landes ist es daneben, unter voller Ausschöpfung des rechtlichen Rahmens versammlungsrechtliche Veranstaltungen der gewaltbereiten rechtsextremistischen Szene zu verbieten. Auch ohne tief greifende
Änderung des Versammlungsrechts - das ist meine feste
Überzeugung - lassen sich in diesem Bereich durchaus
Erfolge erzielen. So haben wir in Niedersachsen in den
letzten fünf Jahren 37 rechtsextremistische Versammlungen untersagt bzw. aufgelöst. Die allermeisten dieser Verbotsverfügungen, nämlich 31, wurden von den Gerichten
bestätigt.
Seit Anfang der 90er-Jahre gehen Polizei und Verfassungsschutz konsequent gegen rechtsextremistische und
fremdenfeindliche Straftäter vor. Skinhead-Konzerte
und Neonazi-Aufmärsche wurden, soweit das rechtlich
möglich war, von der Polizei aufgelöst. Die polizeilichen
Maßnahmenkataloge, von denen jetzt allenthalben - auch
in dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion - die Rede ist, enthalten insofern nicht so sehr viel Neues.
Man kann jedoch nie ganz ausschließen, dass grölende
Neonazis aufmarschieren und die Polizei dann nicht sofort zur Stelle ist. Zudem haben - das müssen wir sehr
sorgfältig registrieren - die Aktivitäten der Rechtsextremisten eine neue Qualität erreicht: Sie treten frecher, gewaltbereiter und brutaler auf. Sie agieren ganz bewusst
über Ländergrenzen hinweg in der Absicht, die Polizei zu
täuschen und Gegenmaßnahmen zu unterlaufen. Sie nutzen verstärkt das Internet für die Propaganda. Aus all diesen Gründen werden wir unsere Maßnahmen weiter intensivieren. Polizei, Verfassungsschutz und Justiz spielen
bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus eine besondere Rolle.
Das heißt konkret: Erstens. Die Polizei muss den
Rechtsextremisten auf den Füßen stehen. Sind die Namen
der Schläger bekannt, werden sie bei bevorstehenden Gefahren von der Polizei in Gewahrsam genommen. Zweitens. Wir brauchen eine bundesweite Datei „Gewalttäter
Rechts“ nach dem Modell der Hooligan-Datei. Drittens.
Wir brauchen eine einheitliche Begriffsdefinition von
Rechtsextremismus, um die Aussagekraft von Lagebildern zu verbessern. Viertens. Wir brauchen die Erfassung
aller Straftaten mit rechtsextremistischem Hintergrund
- also auch von Propagandadelikten, die wir übrigens generell aufnehmen, was aber nicht überall geschieht -, um
zu einer offenen Analyse der Situation zu kommen. Fünftens. Wo Rechtsextremisten mit ihren Taten Geld verdienen, etwa durch den Vertrieb von Skinhead-Musik, werden wir diese illegalen Gelder beschlagnahmen und
abschöpfen.
Von Kritikern wird jetzt immer wieder betont, repressive Mittel von Polizei und Justiz wirkten nur begrenzt,
die Schule könne nicht jedes gesellschaftliche Problem
lösen, die Polizei könne den Rechtsextremismus nicht allein bewältigen, durch ein Verbot der NPD sei der Rechtsextremismus nicht aus der Welt. Das mag ja für sich genommen alles richtig sein. Aber ich bin der Auffassung,
wir sollten uns nicht auf das konzentrieren, was wir alles
nicht tun können. Stattdessen sollten wir jetzt möglichst
rasch, konsequent und effektiv das tun, was wir tun können
({2})
und wofür wir gegenüber der Gesellschaft wie auch gegenüber potenziellen Opfern verantwortlich sind.
Erforderlich sind vor allem konkrete Maßnahmen,
die unmittelbare Wirkung zeigen. Entschlossenes Handeln im Konkreten ist ein deutliches Signal für alle: für
gefährdete Jugendliche, denen wir helfen wollen, für
braune Schläger, denen im Guten nicht mehr geholfen
werden kann, und für diejenigen, die glauben, das gehe sie
alles nichts an.
In unserem Bundesland haben wir uns deshalb entschlossen, das - wie wir es nennen - „Netzwerk Innere Sicherheit“ noch dichter zu knüpfen. Mit einer ganzen Serie von Veranstaltungen werden wir deshalb in die
Regionen des Landes gehen. Wir wollen dabei zur Übernahme gesamtgesellschaftlicher Verantwortung ermutigen und die regionale Verknüpfung präventiver Arbeit
stärken.
Das alles reicht allerdings noch nicht aus; denn die
gesamtgesellschaftliche Vernetzung muss sich auch auf
Bundesebene widerspiegeln, um besonders effektiv zu
sein. Schließlich halten sich Neonazis nicht an Ländergrenzen. Wir haben das gerade wieder am Wochenende
festgestellt, als die niedersächsische Polizei gemeinsam
mit der Polizei anderer Länder an der Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt ein SkinheadKonzert mit Teilnehmern aus dem ganzen Bundesgebiet
aufgelöst hat. Ich appelliere deshalb an Bund und Länder
sowie an die gesellschaftlichen Gruppen, sich im gleichen
Maße wie Niedersachsen für das Deutsche Forum Kriminalprävention zu engagieren, damit das DFK endlich
seine Arbeit aufnehmen kann.
Trotz dieser konkreten Schritte dürfen wir uns nicht der
Illusion hingeben, den Rechtsextremismus ganz und gar
beseitigen zu können. Das heißt: Wir müssen dicke Bretter bohren, und zwar immer wieder. Hier ist ein langer
Atem gefragt, nicht kurzfristiger Aktionismus. Das gilt
nicht nur während eines Sommers, sondern auch danach,
Minister Heiner Bartling ({3})
so wie wir es in Niedersachsen über viele Jahre schon getan haben.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Für die Fraktion der
PDS spricht nun die Kollegin Petra Pau.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir debattieren heute ein Thema, zu dem
alle Fraktionen Anträge vorgelegt haben. Wir sollten uns
aber auch fragen: Was können Bürgerinnen und Bürger
von dieser Debatte heute erwarten? Ich meine zweierlei:
Zum einen kann der Nachweis erbracht werden, dass es
der Bundestag wirklich so ernst meint, dem Rechtsextremismus Einhalt zu gebieten, wie es im Sommer und danach vielfach zu hören war. Zum anderen kann belegt
werden, dass es sich um eine grundlegende Herausforderung für Leib und Leben allzu vieler, aber auch für die
Verfasstheit der Bundesrepublik insgesamt handelt.
({0})
Ich möchte den Zahlenbeispielen noch eines hinzufügen, um die Dimension, über die wir hier reden, zu
erhellen: Allein im vergangenen Jahr wurden über
10 000 Straf- und Gewalttaten registriert, die fremdenfeindlich, antisemitisch oder rassistisch motiviert waren.
Das waren durchschnittlich 27 am Tag und mehr als eine
in der Stunde. Wir alle wissen doch, dass dies nur die
Spitze des Eisberges beschreibt. Denn die tatsächliche
Zahl rechtsextremer Straf- und Gewalttaten liegt um ein
Vielfaches höher. Alltägliche Demütigungen, Ängste und
Erniedrigungen lassen sich statistisch ohnehin nicht erfassen. Deshalb finde ich - bei allen unterschiedlichen
Auffassungen in der Sache -, wir sollten bei diesem
Thema auf jegliches parteipolitisches Muskelspiel verzichten. Ich bin dazu bereit.
({1})
Ich stimme der Kollegin Vogt zu, die in der „Frankfurter Rundschau“ vom 7. August dieses Jahres anbot, ein
hohes Maß an Übereinstimmung im Bundestag anzustreben und dies auch in unseren Beschlüssen auszudrücken.
Vielleicht, liebe Kolleginnen und Kollegen, können
wir auch in drei anderen Einschätzungen übereinstimmen: Erstens. Wir führen die Debatte viel zu spät. Deshalb
sollten wir sie umso grundsätzlicher und konkreter
führen. Zweitens. Wir führen die Debatte zu einer substanziellen Frage, weshalb wir auf jegliche Relativierungen verzichten sollten.
({2})
Drittens. Wir führen sie in eigener Sache, weshalb wir
unsere eigene politische Verantwortung nicht delegieren
dürfen.
Es ist ja völlig in Ordnung, von der Gesellschaft Zivilcourage gegen Rechts zu fordern. Denn der Rechtsextremismus ist ein gesellschaftliches Problem und damit nur
gesamtgesellschaftlich zurückzudrängen. Wir alle aber
werden unglaubwürdig, wenn wir diesen Appell in das
Land schicken, ohne zugleich gesellschaftliches Engagement zu stärken und Zivilcourage zu schützen: sowohl die
Opfer rechtsextremistischer Gewalt als auch zum Beispiel
die mutige Berlinerin, die seit Jahren faschistische Symbole und Losungen von Gebäuden entfernt
({3})
und neben den rechtsextremen Schlägern auch Anzeigen
wegen Sachbeschädigung fürchten muss. Kontraproduktiv, ja verlogen wäre es auch, wenn wir Sonderprogramme
für Sozial-, Jugend- oder Kulturarbeit verabschieden und
zugleich jene, die permanent Sozial-, Jugend- oder Kulturarbeit leisten können oder wollen, vermeintlichen
Sparzwängen opfern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein weiterer Gedanke: Ich möchte dringend dafür werben, ganz einfache
Antworten zu vermeiden, zum Beispiel in der aktuellen
Debatte um das NPD-Verbot. Damit ich nicht missverstanden werde: Liegen die Gründe vor, werden wir uns
natürlich entsprechend verhalten. Aber so wie diese Debatte geführt wird, birgt sie mehrfache Gefahren von Versimpelungen oder Scheinlösungen, vor allem, wenn es als
Königsweg gepriesen wird.
Herr Kollege Beckstein, mir braucht niemand etwas
über den Charakter, die Ziele oder die Funktion der NPD
beziehungsweise ihres militanten Ablegers, der JN, zu erzählen. Gerade für die PDS hier in Berlin gab es schlimme
Anlässe, sich mit dieser rechtsextremistischen Kampftruppe zu befassen. Wenn ich mir ansehe, was Sie in den
Verfassungsschutzberichten zur NPD und an Verbotsargumenten anführen, stelle ich fest, dass wir dies offenbar
sehr viel gründlicher taten als Ihr Verfassungsschutz. Sie
sollten Ihre Feindbilder aktualisieren; denn die „AG Junger GenossInnen“ in und bei der PDS gibt es seit Jahren
nicht mehr.
({4})
Die Konzentration auf die NPD verengt aber auch den
Blick auf die Komplexität des Problems. Die Konzentration auf Verbote birgt die Gefahr, dass grundlegende Bürgerrechte zur Disposition gestellt werden. Herr Kollege
Bosbach, das gilt auch für das Demonstrationsrecht. Auch
ich finde es unerträglich, wenn Neonazis durch das Brandenburger Tor marschieren. Ich will sie aber auch nicht in
Berlin-Hellersdorf, Passau oder Lübeck demonstrieren
sehen.
({5})
Ein letzter Gedanke: Der Rechtsextremismus war, ist
und bleibt ein Problem der gesamten Bundesrepublik. Besonders problematisch jedoch und auch nicht kleinzureden ist die derzeitige Situation in den neuen Bundesländern. Etwa die Hälfte aller verübten fremdenfeindlichen
Gewaltdelikte erfolgt dort, und vielerorts - das wurde
schon beschrieben - wird rechtsextremistische Kultur
durch einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung geduldet
Minister Heiner Bartling ({6})
oder gar unterstützt; aber wehe uns, wenn wir eindimensionale Erklärungen zu den Ursachen abgeben.
({7})
Drängend und nötig ist die nunmehr begonnene gesellschaftliche Auseinandersetzung. Kollege Thierse hat
völlig zu Recht die besondere Verantwortung der PDS angesprochen. Ich will, dass sich auch die PDS weiter dafür
einsetzt, dass diese Debatte nicht versandet und dass sie
zu antifaschistischen Konsequenzen und gesellschaftlichen Veränderungen führt. Sie haben Recht, wenn Sie beklagen, dass sich Rechtsextremismus erneut mit Sozialismus vermengt. Aber dann sollten wir beide innehalten, ich
als Mitglied der Partei des Demokratischen Sozialismus
und Sie als Sozialdemokrat. Ich möchte mit Ihnen gemeinsam klar machen, dass Fremdenfeindlichkeit, Neofaschismus, Rassismus und Antisemitismus weder demokratisch noch sozialistisch sind. Das sollten wir
gemeinsam in Ost und West demonstrieren.
({8})
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Sebastian Edathy.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir heute eine Debatte miteinander führen, die weniger kontrovers und unversöhnlich ist
als viele andere Aussprachen, die an diesem Ort sonst
stattfinden, dann ist das gut. Es ist gut, weil wir uns als
Demokraten darin einig sein müssen, dass wir die Grundlagen unseres Gemeinwesens niemals preisgeben dürfen.
Zu den Grundlagen unseres Gemeinwesens gehört elementar der erste Satz des ersten Artikels unserer Verfassung, der heißt:
Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Da steht nicht, die Würde der Nichtbehinderten ist unantastbar. Da steht nicht, die Würde derer, die nicht obdachlos sind, ist unantastbar. Da steht nicht einmal, die Würde
des deutschen Staatsbürgers ist unantastbar. Nein, da steht
so schlicht wie eindrucksvoll: Die Würde des Menschen
ist unantastbar.
Das heißt, dort, wo die Würde des Menschen mit Worten verhöhnt oder mit Taten in den Schmutz gezogen wird,
da wird ein Kern unserer Verfassung infrage gestellt. Der
zentrale Grund, dem Rechtsextremismus mit Nachdruck
entgegenzutreten, ist für mich deshalb nicht - nicht in erster Linie jedenfalls -, dass das Ansehen Deutschlands, die
Achtung Deutschlands im Ausland leiden könnte.
({0})
Nein, ich halte es für viel entscheidender, dass unsere
Selbstachtung leiden muss, wenn wir zulassen, dass
Feinde der Demokratie in diesem Land die Würde von
Menschen mit Füßen treten.
({1})
Wer Menschen angreift, weil er ihre Würde für antastbar hält, wendet sich gegen die Grundlagen unseres Gemeinwesens und trifft nicht nur diejenigen, die er ganz
praktisch angreift, sondern er greift uns alle an. Deswegen
sind wir auch alle gehalten, in unserem Land an jedem Ort
und zu jeder Zeit die Gültigkeit des Grundgesetzes sicherzustellen.
Fast auf den Tag genau vor 38 Jahren, im späten September des Jahres 1962, stellte Präsident John F. Kennedy
durch den Einsatz von 400 Bundesbeamten sicher, dass
der dunkelhäutige Staatsbürger James Meredith sein
Studium an der Universität von Mississippi aufnehmen
konnte, was ihm zuvor aus rassistischen Gründen verwehrt worden war. 400 Menschen sorgten damals dafür,
dass ein Mensch sein demokratisches Recht wahrnehmen
konnte. Das war richtig, das war nicht unverhältnismäßig,
weil ein demokratischer Staat - das gilt für die USA wie
für uns heute - es nicht hinnehmen kann und darf, dass
seine Verfassungsprinzipien in Frage gestellt werden,
auch wenn das nur einen einzigen Menschen, der in diesem Land lebt, betrifft.
({2})
Das heißt für mich auch, meine Damen und Herren, es
wäre beschämend, wenn wir nicht gewährleisten könnten,
dass sich auf den Marktplätzen und auf den Straßen unseres Landes die hier lebenden Menschen ohne Angst bewegen können. Ich denke - und habe auch die Debatte so
aufgefasst -, dass hierüber Konsens besteht.
Wer meint, das Gewaltmonopol des Staates anzweifeln zu können, dem muss mit allen dafür erforderlichen
Mitteln deutlich gemacht werden, dass er sich irrt, weil für
uns die Verteidigung der menschlichen Würde keine Nebenaufgabe, sondern eine Kernaufgabe ist. Wenn eine solche Debatte, wie wir sie heute führen, dazu beitragen
kann, uns das noch einmal selbst und gegenseitig bewusst
zu machen, dann betrachte ich das zunächst einmal als ein
sehr gutes Ergebnis dieser Debatte.
Ebenso wichtig finde ich, bereits tätig zu werden, bevor die demokratiefeindliche Idee von der Antastbarkeit
der menschlichen Würde zur Tat führt, ja anzusetzen, bevor eine solche Idee überhaupt entstanden ist. Deshalb
reicht es nicht aus, über Verbote zu diskutieren, denn das
allein würde eindeutig zu kurz greifen.
Das Verbot einer extremistischen Partei ändert
zunächst einmal nichts daran, dass es offenbar Leute gibt,
die bereit sind, sich einer solchen Partei anzuschließen,
und das Verbot einer Demonstration gegen Toleranz ändert zunächst einmal nichts daran, dass es Menschen gibt,
die bereit sind, zu einer solchen Demonstration zu gehen
und an ihr teilzunehmen. Ich glaube, wir müssen uns klar
machen: Mit der Bekämpfung von Symptomen alleine
kommen wir nicht zum Ziel; wir müssen auch an die Ursachen herangehen.
({3})
In dieser Hinsicht haben wir eine mindestens doppelte
Aufgabe. Menschlichkeit und Toleranz nämlich müssen
vor Ort gelebt werden. Wir können sie weder in Parlamenten noch in Regierungen sozusagen herbeibeschließen.
Umgekehrt aber ist auch richtig, dass dort, wo es nötig
ist, Initiativen zur Stärkung der Zivilgesellschaft - übrigens auch materiell - verstärkt gefördert werden müssen.
Ich freue mich, dass die Bundesregierung noch im Sommer durch entsprechende Beschlüsse die Weichen in diese
Richtung gestellt hat.
Zum anderen - das will ich hier aber auch sagen - sollten und müssen wir als Demokraten im Alltagsgeschäft
bei aller bisweilen zugespitzten Auseinandersetzung, von
der die Demokratie ein Stück weit ja auch lebt, darauf achten, politische Diskussionen so zu führen, dass niemand
Gefahr läuft oder gar in Kauf nimmt, zum Stichwortgeber für Gegner der Demokratie zu werden.
({4})
Meine Damen und Herren, es gibt leider nicht nur
geworfene Brandsätze, es gibt auch gesprochene Brandsätze. So sollte meines Erachtens für Demokraten die Zugehörigkeit von Minderheiten zu unserem Gemeinwesen
völlig unstrittig sein. Es wäre gut, wenn wir aus der aktuellen Debatte heraus vielleicht doch gemeinsam zu der
Übereinkunft finden könnten, dass in Zukunft in Deutschland eben keine Wahlkämpfe - jedenfalls nicht seitens demokratischer Parteien - auf dem Rücken von Minderheiten geführt werden.
({5})
Wer um eines parteipolitischen Vorteils willen in dieser Hinsicht polarisiert, der muss prüfen, ob er wirklich
des kurzfristigen Gewinns der einen oder anderen Stimme
wegen die damit verbundene Beschädigung des inneren
Friedens verantworten kann. Wenn ein Satz aus der Wissenschaft richtig ist, dann glaube ich, dass es der Satz ist,
die Botschaft des Rechtsextremismus gewinne nur dann
an Bedeutung und Zuspruch, wenn sie durch den Konservatismus mittelbar popularisiert werde.
({6})
In diesem Zusammenhang will ich doch noch ein Wort
zu Herrn Beckstein sagen, der meinte, man müsse in einer
Demokratie über alles sprechen können. Das ist wohl
wahr; aber die Frage ist, wie man über alles spricht
({7})
und ob man Minderheiten instrumentalisiert oder dann,
wenn die Gefahr besteht, sie zu instrumentalisieren, eher
darauf verzichtet. Ich glaube, im Umgang mit Minderheiten zeigt sich die wahre Qualität einer Demokratie.
({8})
Ich möchte dem Bundestagspräsidenten ausdrücklich dafür danken, dass er - übrigens nicht erst seit diesem
Sommer - mit klaren Worten auf das Problem des Rechtsextremismus hinweist und die Dinge beim Namen nennt.
Viel zu lange ist in dieser Hinsicht beschönigt und verdrängt worden. Ich habe heute mit einigem Unverständnis
in den Zeitungen gelesen, dass Wolfgang Thierse seitens
prominenter Vertreter der Unionsfraktion vorgeworfen
wird, er sei parteilich. Dieser Vorwurf der Parteilichkeit
ist insofern richtig, als der Bundestagspräsident - heute
hat er es wieder deutlich gemacht - engagiert für unsere
Verfassung Partei ergreift. Damit nimmt er die Aufgabe
wahr, die er als Präsident dieses Hauses hat.
({9})
Dem Bundestag liegen mittlerweile Anträge aller Fraktionen vor, die sich mit Wegen zur Bekämpfung des
Rechtsextremismus befassen. Ende Oktober wird es eine
gemeinsame öffentliche Anhörung des Innenausschusses und des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend geben. Danach werden wir die Vorlagen abschließend beraten. Ich hoffe, es wird uns gelingen, im
Zuge dieser Beratungen zu einer fraktionsübergreifenden
Position zu gelangen, die dann zu konkreten Folgen führt.
Es reicht nicht, Rechtsextremismus zu analysieren.
Man muss ihn auch bekämpfen. Täuschen wir uns nicht:
Das ist keine kurzfristig zu erledigende Aufgabe. Das ist
eine langfristige Aufgabe. Und das ist nicht die Aufgabe
eines Teiles dieses Hauses. Das ist eine Aufgabe, der wir
uns als Demokraten alle gemeinsam stellen müssen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Ich gebe dem Kollegen Hartmut Büttner für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
Ungeister von gestern scheinen tatsächlich wieder auferstanden zu sein. Rechtsextremisten in Uniform und Knobelbechern marschierten durch das Brandenburger Tor.
Ausländer und fremdartig erscheinende Menschen in unserem Land haben zunehmend Angst. Einige von ihnen
- das wurde hier schon deutlich dargelegt - wurden bedrängt, gejagt und sogar getötet. Deutschland im Herbst
2000 scheint ein Land geworden zu sein, das seine
Weltoffenheit als Kultur-, Import- und Gastland einer
großen Prüfung unterzieht.
Die Zahlen des Bundesamtes für Verfassungsschutz
belegen, dass die Demokraten in Deutschland die Entwicklung des rechten Extremismus genau beobachten und
ihm klar entgegentreten müssen. Ende des letzten Jahres
gab es immerhin 134 rechtsextremistische Organisationen
und Zusammenschlüsse. 10 037 Straftaten wurden von
Rechtsextremisten verübt, davon 746 Gewalttaten. Im
ersten Halbjahr dieses Jahres scheint die Zahl der Gewalttaten etwas rückläufig gewesen zu sein. Gegenüber
402 im Vorjahr reduzierte sie sich auf 330 Straftaten. Es
wäre sehr schön, wenn sich die Tendenz einer abnehmenden Gewaltanwendung auch in diesem zweiten Halbjahr
fortsetzen würde. Es gibt aber keinerlei Anlass zu einer
vorschnellen Entwarnung.
Es wurde schon angesprochen: Fast drei Viertel der
rechtsextremen Gewalttäter sind Jugendliche. Gerade in
diesem Bereich ist es ganz entscheidend, dass die staatliche Reaktion möglichst rasch erfolgt. Eine schnelle, konsequente und spürbare Ahndung der Straftat mit einer raschen Aburteilung beeindruckt die jugendlichen Täter
zumeist mehr als eine Strafe, die erst nach vielen Monaten oder sogar Jahren verhängt wird.
({0})
Deswegen sollten wir alle gemeinsam möglichst
schnelle Gerichtsverfahren einfordern. Je schneller die
Strafe der Tat tatsächlich auf dem Fuße folgt, umso eher
wirkt die Strafe präventiv. Dabei sollten Deutschlands
Richter gerade auch gegenüber den jugendlichen Tätern
das Instrumentarium um so genannte pädagogische Strafen erweitern können. So fordern wir - wir haben das in
unserem Antrag deutlich gemacht - die Einführung eines
Warnarrestes. Die zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe wird von vielen Jugendlichen als Sanktion kaum
wahrgenommen. Die gleichzeitige Anordnung eines
Jugendarrestes würde dem jungen Menschen nachdrücklich den Ernst der Lage vor Augen führen. Sollten hierzu
gesetzliche Ergänzungen notwendig sein, ist meine Fraktion dazu gern bereit.
Natürlich muss der rechtsextremen Szene auch die
Möglichkeit zu medienwirksamen Aufmärschen und
Veranstaltungen genommen werden. Es wurde hier schon
dargestellt, dass die Bilder des 29. Januar, als Neonazis
mit schwarz-weiß-roten Fahnen durch das Brandenburger
Tor marschiert sind, einfach unerträglich sind. Diese Bilder, in der ganzen Weltöffentlichkeit übertragen, beschädigen das Ansehen unseres Landes.
({1})
Diese öffentlichen Ereignisse und die zahlreichen Gewalttaten lassen selbst bei Politikern des linken politischen Lagers zunehmend nach einer stärkeren Rolle von
Polizei und Justiz rufen. Viele von Ihnen haben sich in der
Vergangenheit sehr zurückhaltend oder ablehnend gegenüber polizeilichem Handeln gezeigt und allein sozialpädagogischen Konzepten den Vorrang gegeben.
({2})
Auch die Rolle des Verfassungsschutzes wurde aus
diesen Kreisen mehr als eine Gefahr für die innere Liberalität denn als ein Eckstein der wehrhaften Demokratie
angesehen. Traurigstes Beispiel ist mein Heimatland
Sachsen-Anhalt. Die frühere bürgerliche Koalition aus
CDU und F.D.P. hatte den Verfassungsschutz behutsam
aufgebaut. Circa 120 Mitarbeiter zählte der Verfassungsschutz beim Regierungswechsel 1994; er sollte mittelfristig auf 150 Mitarbeiter ausgebaut werden. Seit dem
Regierungswechsel zu einer PDS-gestützten Minderheitsregierung gab es hier einen totalen Kurswechsel. Unter
dem Druck der PDS wurde der Verfassungsschutz auf
80 Personen reduziert. Mit der Hälfte der ursprünglich
vorgesehenen Mitarbeiter soll eine deutlich gestiegene
Bedrohungslage beobachtet werden.
Dass das so nicht geht, zeigt die Tatsache, dass sich
mein Heimatland leider zu einem Schwerpunktland
rechtsextremistisch motivierter Straftaten entwickelt hat.
Bezogen auf die Einwohnerzahl hatten wir sowohl in
1998 als auch in 1999 die meisten Gewalttaten mit rechtsextremem Hintergrund aller 16 deutschen Bundesländer.
Auf dem Altar des unsäglichen Magdeburger Modells
wurden die Sicherheitsinteressen unserer Mitbürger geopfert. Das finde ich besonders skandalös.
({3})
Aber auch einige wenige andere Länder - Herr
Bartling, ich muss hier Niedersachsen ansprechen - haben
nicht anders gehandelt. Niedersachsen reduzierte seinen
Verfassungsschutz während der Amtszeit des Ministerpräsidenten Gerhard Schröder um nahezu die Hälfte. Damit wurden dem Rechtsstaat die Mittel genommen, die
Feinde unseres Gemeinwesens von rechts und links zumindest wirkungsvoll beobachten zu können.
In einem Expertengespräch des Innenausschusses im
März 1998 zum Thema Rechtsextremismus in Deutschland stellten wir bereits große Unterschiede auch zwischen den verschiedenen ostdeutschen Bundesländern bei
Maßnahmen gegen den rechten Extremismus fest. Es war
das christlich-demokratisch regierte Sachsen, welches mit
der Sonderkommission Rechtsextremismus konsequent
gegen die Gefahren von rechts außen vorging.
Auch im CDU-regierten Thüringen wird die gleiche
Entschlossenheit gegen den Extremismus praktiziert. Gerade die schnelle Aufklärung des verbrecherischen Brandanschlages auf die Erfurter Synagoge im April dieses Jahres ist ein weiteres positives Beispiel aus Ostdeutschland.
Nicht zuletzt die rasche Verurteilung und Bestrafung der
Täter hat die rechtsradikale Szene deutlich beeindruckt.
Der Inspekteur der sächsischen Polizei hat in unserer Anhörung damals deutlich dargestellt, dass nur eine unnachsichtige Verfolgung die einzige Sprache sei, die Rechtsextremisten tatsächlich verstehen würden. Lange, fast zu
lange hat es gedauert, bis diese Auffassung auch im linken
und grünen Lager langsam an Boden gewinnt.
({4})
- Lange, fast zu lange.
Die besondere Anfälligkeit von Menschen aus den
neuen Bundesländern für den rechten Ungeist ist heute
bereits mannigfaltig analysiert worden. Dr. Rainer Erb
Hartmut Büttner ({5})
vom Zentrum für Antisemitismusforschung sieht die
Wurzeln in der mangelhaften Auseinandersetzung mit
dem Rechtsextremismus in der DDR. Die DDR hatte
sich selbst einen Persilschein ausgestellt, garantiert faschismusfrei zu sein. Trotzdem gab es auch in der DDR
rechtsextremistische Tendenzen, die natürlich alle unter
der Decke gehalten worden sind.
Gewalttätiger Höhepunkt war ein Skinheadüberfall auf
die Ostberliner Zionskirche 1987. Die Haltung von
Skinheadgruppen, die in Cottbus, Dresden, Halle, Magdeburg, Erfurt und Leipzig auffällig geworden waren,
charakterisierte die FDJ damals als durch Brutalität, Gewalt, Neofaschismus, Antisemitismus und Ausländerhass
gekennzeichnet. Dokumente über diese Vorfälle kann
man in der Gauck-Behörde umfassend nachlesen.
Frau Kahane von der Arbeitsstelle für Ausländerfragen
sieht in einem Mix aus fehlenden demokratischen Erfahrungen, Unkenntnis im Zusammenleben mit Ausländern,
einer Ablehnung des Schutzes von Minderheiten und sozialer Unsicherheit die Hauptursachen für die stärkere Bedeutung des Rechtsextremismus in den neuen Ländern.
Aber ich möchte davor warnen, dass das Thema Rechtsextremismus einfach als ostdeutsche Besonderheit dargestellt wird. Ich danke den Vorrednern, ich danke vor allen Dingen auch dem Vizepräsidenten des Zentralrates der
Juden in Deutschland, Michel Friedman, der ganz klar
gestellt hat, man dürfe das Thema Rechtsextremismus
nicht in Ostdeutschland entsorgen. Wir haben in ganz
Deutschland mit diesem Problem zu tun.
({6})
Meine Damen und Herren, wir müssen aber auch zugestehen, dass bei uns in den neuen Ländern der Rechtsextremismus eine ganz besondere Dimension hat. Die
Rechtsextremisten setzen dabei neuerdings auch auf ein
„Erbe des wahrhaften nationalen Sozialismus“. Das ist
hier auch angesprochen worden. Die NPD selbst präsentiert sich klar als Partei mit sozialistisch-antikapitalistischen Inhalten. Chefideologe des sächsischen Landesverbandes der NPD ist Professor Dr. Nier, ein ehemaliger
Professor für dialektischen und historischen Materialismus. Im Mai vergangenen Jahres wurde in der Partei eine
Arbeitsgruppe „Sozialisten in der NPD“ gegründet.
Das verlangt von uns allen große Aufmerksamkeit,
denn - da darf ich besonders die Damen und Herren der
PDS ansprechen - das Interessante ist: Bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt kandidierte aus dem ganzen
rechtsextremistischen Spektrum nur die DVU mit einer
Landesliste. Keine andere rechtsextremistische Partei war
im Angebot im Wettbewerb um die Erststimme. Die meisten Erststimmen der DVU-Wähler erhielt mit 23 Prozent
die PDS. Dieses Wahlergebnis wird auch durch eine im
„Spiegel“ veröffentlichte neuere Umfrage gestützt.
17 Prozent der PDS-Wähler könnten sich vorstellen, auch
eine rechte Partei zu wählen. So viel rechtsradikales Potenzial zählen Meinungsforscher bei keiner Anhängerschaft einer anderen Partei. Ihr Vordenker André Brie sagt
auch, warum: Im Staat des real existierenden Sozialismus
seien die Menschen zu Autoritätshörigkeit, Hierarchiedenken und Harmoniesucht erzogen worden, die „einen
Nährboden für die Neonazis bilden“.
({7})
Wie sich überhaupt die extremistischen Ideologien von
rechts und links im Kampf gegen unsere Grundordnung
häufig einig sind. Die Grenzlinien zwischen rechts und
links verschwimmen besonders bei Gruppen wie den
Nationalrevolutionären von rechts und Nationalkommunisten von links immer mehr. Für uns als Demokraten
sollte deshalb die ideologische Ausrichtung der Extremisten völlig ohne Belang sein. Vielmehr sollte allein ihr
Kampf gegen unser demokratisches Gemeinwesen eine
Bedeutung haben. Denn bei den Gewalttaten liegen rechts
und links nicht weit auseinander. Das ist in diese Debatte
noch nicht eingeführt worden. 1990 standen 746 rechtsextremen Gewalttaten 711 linksextreme Gewalttaten
gegenüber. Hier aufrechnen zu wollen wäre falsch. Wir
sollten versuchen, den Weg, den wir als frühere Regierungskoalition eingeschlagen hatten, fortzusetzen. Zur
Erinnerung: Wir haben damals 13 Verbotsverfügungen
gegen rechtsextremistische Vereinigungen in Bund und
Ländern erlassen. Wir hatten eine personelle Verstärkung
der Abteilung Rechtsextremismus im Bundesamt für Verfassungsschutz erreicht. Wir hatten die Verwendung auch
von verfremdeten oder verzerrten Symbolen nationalsozialistischer oder anderer verbotener Organisationen unter
Strafe gestellt. Schließlich enthielt das Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 einen ganzen Katalog von
Maßnahmen, um den Rechtsextremismus einzudämmen.
In unserem heute vorliegenden Antrag versuchen wir,
genau diesen Weg konsequent fortzusetzen. Neben Maßnahmen der Polizei und der Justiz muss vor allem eine
umfassende Präventionsarbeit vor Ort dem Extremismus
jeglicher Couleur das Wasser abgraben.
({8})
Wir haben eine ganze Reihe von Vorschlägen erarbeitet,
wie die Erziehungskraft der Familien gefördert, die Schulen bei ihrer Erziehungsaufgabe unterstützt und letztendlich die Bürgergesellschaft hierbei gestärkt werden können.
Wir wollen eine nachhaltige Bekämpfung des Extremismus aller Schattierungen. Parteien, die durch mangelnde Trennschärfe selbst Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes geworden sind, fallen für uns dabei als
Bündnispartner völlig aus.
({9})
Nach dem Verfassungsschutzbericht von Baden-Württemberg haben sich so besonders die westlichen Landesverbände der PDS „zum Tummelplatz von Linksextremisten verschiedener Herkunft“ entwickelt.
Deswegen, meine Damen und Herren, schauen wir geschärft auf die gesamte extreme Szene; denn die Union ist
nicht auf einem Auge blind. Ich würde mir wünschen,
dass wir nach zehn Jahren deutscher Einheit in diesem
Bundestag damit nicht allein bleiben.
Herzlichen Dank.
({10})
Hartmut Büttner ({11})
Für die Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN spricht nun die Kollegin
Annelie Buntenbach.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Nach der Sommerdebatte über Rechtsextremismus sind
praktische Konsequenzen überfällig. Wir brauchen Maßnahmen, die der Stärkung der demokratischen Zivilgesellschaft und der Förderung von Zivilcourage dienen.
Dabei sind Vorstöße zur Einschränkung allgemeiner Bürgerrechte - gerade des Versammlungsrechts - Schritte in
die falsche Richtung. Es geht im Übrigen auch nicht um
eine Ausweitung der Sicherheitsapparate, es geht im Gegenteil um eine Umorientierung, um die Überwindung
von bestehenden Strategie- und Ausbildungsdefiziten.
Der Bundesgrenzschutz, Herr Büttner, ist ja jetzt schon
für die Sicherheit auf den Bahnhöfen zuständig, er ist aber
vielfach mit verdachtsunabhängigen Kontrollen gegen
Immigranten beschäftigt. Die Orientierung muss aber
ganz klar darauf gerichtet sein, Neonazis, die dunkelhäutige Reisende anpöbeln, gerade von den Bahnsteigen in
Ostdeutschland zu verdrängen. Es geht also um eine Umorientierung der Sicherheitskräfte und nicht um eine Ausweitung.
({0})
Eine Einschränkung allgemeiner Bürgerrechte geht in
die falsche Richtung, wenn wir Demokratie stärken wollen, zu Zivilcourage und Einmischung anregen wollen
und dem Rechtsextremismus eine lebendige und selbstbewusste Demokratie entgegenstellen wollen. Im Antrag
der Regierungsfraktionen sind eine Reihe konkreter Maßnahmen, die in diese Richtung gehen. Sie wurden hier teilweise schon vorgestellt und ich möchte sie nicht wiederholen.
Stattdessen möchte ich einen wichtigen Punkt herausgreifen: den Opferschutz. Ich möchte dabei beispielhaft
auf die Arbeit einer gesellschaftlichen Initiative, der „Opferperspektive“ in Brandenburg, hinweisen. Das sind
Menschen, die sich um diejenigen kümmern, die in diesen
Debatten viel zu selten zur Sprache kommen, nämlich um
die Opfer rechtsextremer Gewalt: Flüchtlinge, Obdachlose, Behinderte, Homosexuelle oder alternative Jugendliche. Diese Menschen unterstützt die „Opferperspektive“
dabei, Perspektiven für die Zeit nach dem Angriff zu entwickeln, begleitet und unterstützt sie bei Behördengängen, Antragstellungen, bei Gerichtsverfahren und vermittelt gegebenenfalls auch psychotherapeutische Hilfe.
Dabei versucht sie, die Isolierung der Opfer zu durchbrechen, die zumeist zu Minderheiten gehören, die auch von
der Gesellschaft ausgegrenzt werden.
Die Widerstände, mit denen sie sich dabei herumschlagen muss, sind kaum vorstellbar: wenn zum Beispiel eine
Behörde die psychologische Betreuung der Opfer ablehnt,
weil das Asylbewerberleistungsgesetz sie angeblich nicht
vorsieht oder wenn schlicht abgelehnt wird, Flüchtlinge,
die Opfer rechtsextremer Gewalt geworden sind, in einer
anderen Unterkunft unterzubringen als an dem Ort, wo sie
die Gewalt erfahren haben. Ich möchte der „Opferperspektive“ stellvertretend für die vielen Initiativen, die sich
mit Rechtsextremismus auseinander setzen, an dieser
Stelle Anerkennung für ihre Arbeit aussprechen.
({1})
Diese Initiativen brauchen aber nicht nur ideelle, sondern auch finanzielle Unterstützung. Ich hoffe, dass wir
bei den Haushaltsberatungen einen Weg finden werden,
diese Unterstützung unbürokratisch zu leisten.
({2})
Eine Frage dürfen wir gerade in dieser Debatte nicht
aussparen: Was können wir selbst - jenseits der Appelle
an die Zivilgesellschaft - zur Minderung des Problems
Rechtsextremismus beitragen? Rechtsextreme sehen sich
dann zur Gewalt ermutigt, wenn sie glauben, sich in
Übereinstimmung mit den Einstellungen von Teilen der
Gesellschaft zu befinden. Ich kann hier nicht auf die verschiedenen Ursachen von Fremdenfeindlichkeit eingehen. Aber eine der Hauptursachen für fremdenfeindliche
Einstellungen und rechtsextreme Gewalt ist die Art und
Weise des Umgangs der Politik mit Minderheiten sowie
Fragen der Asyl- und Migrationspolitik.
({3})
Dieser Zusammenhang, auf den seit der Asyldebatte
der 90er-Jahre zahlreiche Wissenschaftler hinweisen, darf
nicht länger tabuisiert werden.Ich finde, es ist an der Zeit,
dass wir uns diesem Problem offen und selbstkritisch stellen.
Leider ist gerade das nicht gemeint, wenn in letzter Zeit
vielfach von einer Enttabuisierung der Asylpolitik die
Rede war. Tabus bestehen da, wo ein humanitärer Umgang mit Menschen aufhört. Es ist richtig und in einer
Demokratie unverzichtbar, an diesem Punkt weiter Tabus
zu setzen.
({4})
Die Frage ist nicht, ob wir über Asyl- und Einwanderungspolitik reden, sondern wie wir darüber reden. Hier
ist ein Paradigmenwechsel überfällig: weg von der Abwehr- und Abschottungsperspektive hin zu der Perspektive einer offenen Einwanderungsgesellschaft, zu Aufnahme, Integration und Schutz von Flüchtlingen und
Minderheiten.
({5})
Dieser Perspektivwechsel muss sich auch in der Arbeit
des Parlaments wiederfinden. Die Schaffung eines modernen Staatsbürgerschaftsrechts und die Neuregelung
des Arbeitserlaubnisrechts für Flüchtlinge waren erste
Schritte in diese Richtung. Sie reichen aber bei weitem
nicht aus. Abschiebehaft, Flughafenverfahren und die Unterbringungssituation von Flüchtlingen sind keine Beispiele für einen humanitären Umgang mit Menschen.
Populistische Debatten und eine Zuwanderungsdiskussion nach reinen Nützlichkeitskriterien schwächen die humanitäre Orientierung der Gesellschaft. Ich hoffe - mehrere Redner haben das schon angesprochen -, dass die
heutige Debatte zumindest ein konkretes, greifbares Ergebnis für die Zukunft hat, nämlich eine ethische Selbstverpflichtung aller hier im Hause, politische Auseinandersetzungen und Wahlkämpfe nicht mehr auf Kosten
von Minderheiten zu führen.
({6})
Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Hans-Peter Kemper.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Drei Monate ist es her, dass wir unseren Antrag gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt in erster Lesung hier
beraten wollten. Herr Westerwelle hat es eben schon angesprochen: Wir waren ein wenig erstaunt, dass dieses
wichtige Thema zu nachtschlafender Zeit auf die Tagesordnung gesetzt wurde und die Redner dann auch noch
ihre Reden zu Protokoll gegeben haben. Mich hat das damals sehr geärgert.
({0})
Denn wir hatten kurz vorher ein Bündnis für Demokratie
und Toleranz, gegen Extremismus und Gewalt begründet
und das wichtigste Gremium, der Deutsche Bundestag,
beschäftigte sich mit diesem Thema nachts. Es ist traurig,
dass uns die Medien während des Sommers durch ihre
tägliche Berichterstattung über die Straftaten brauner
Horden erst dazu bringen mussten, dass das Thema heute
da diskutiert wird, wo es hingehört: in der Kernzeit des
Deutschen Bundestages.
({1})
Die F.D.P. und die PDS hatten damals ebenfalls Anträge eingebracht. Diese Anträge enthielten wichtige Teilaspekte zum Rechtsradikalismus. Die CDU/CSU hat vor
einigen Tagen einen eigenen Antrag eingebracht. Positiv
ist, dass alle Fraktionen bereit sind, sich ernsthaft mit diesem Thema auseinander zu setzen. Es geht heute darum,
bei diesem Thema mehr das Verbindende als das Trennende zu sehen.
({2})
Rechtsextremismus ist mehr als nur dumpfe Ausländerfeindlichkeit. Er ist viel umfassender. Er zielt auf die
Würde des Menschen, auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Er zielt auf Artikel 1 unserer Verfassung und auf
die weiteren wichtigen Artikel. Jede Art von rechtsextremer Gewalt ist zutiefst verabscheuungswürdig und muss
mit aller Konsequenz bekämpft werden. Aber auch die latente Ablehnung von Minderheiten und Menschen anderer Herkunft und anderen Aussehens stellt eine Gefahr für
friedliches Miteinander dar und bietet erst den Nährboden, auf dem rechtsextremistische Gewalt gedeiht.
Dabei sind es oft die Signale, die von Politikern und
anderen Personen des öffentlichen Lebens ausgesandt
werden, die eine verheerende, aber auch eine stabilisierende Wirkung auf gefährdete junge Menschen haben
können. Ich erinnere mich noch genau: Am so genannten
Herrentag 1994 hatten in Magdeburg betrunkene Radikale Ausländer durch die Stadt gehetzt. Letztere mussten
damals um ihr Leben laufen. Der damalige Polizeipräsident hatte eine wohlfeile Erklärung zur Hand: zu viel
Sonne und zu viel Bier. Ich denke, das war eine Verniedlichung und eine Verharmlosung von verabscheuungswürdigen Taten, wie sie schlimmer nicht sein können. Der
Polizeipräsident war - Gott sei Dank - dann nicht mehr
sehr lange im Amt.
({3})
Herr Koch hat in Hessen mit seiner Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft eines Wahlerfolgs wegen das Risiko in Kauf genommen, den
falschen Leuten die falschen Signale zu geben. Und Herr
Rüttgers hat in Nordrhein-Westfalen mit seiner unseligen
Kampagne „Kinder statt Inder“ nicht nur den Republikanern den Wahlslogan geliefert, sondern sie haben sich
ausdrücklich auch noch bei ihm bedankt; denn er hat ihnen das Thema geliefert. Das, denke ich, war verantwortungslos. Ich bin den Kolleginnen und Kollegen dieses
Hauses, auch den Kolleginnen und Kollegen der CDU,
dankbar, dass sie teilweise deutlich dagegengehalten und
sich von diesen Aktionen und Aktivitäten distanziert haben.
({4})
Auch gedankenlose Verwaltungsakte gehören dazu.
Ich denke an den Ägypter Salah al-Namr, der im brandenburgischen Elsterwerda eine florierende Pizzeria betrieb. Die wurde von Radikalen in Brand gesetzt, brannte
ab, und das brandenburgische Innenministerium unter
Leitung von Herrn Schönbohm hatte nichts Besseres zu
tun, als den nun erwerbslosen Ägypter auszuweisen.
({5})
Es sind die täglichen, oft gedankenlosen Signale, die
unsere Gesellschaft mit prägen. Ich weiß genau, wovon
ich rede, werde ich doch häufig im eigenen Umfeld bis hinein in meine Familie damit konfrontiert. Es tut schon
weh, wenn mein Sohn nach Hause kommt und sagt:
„Papa, mich haben sie wegen meines ausländischen Aussehens nicht in die Diskothek gelassen.“ Dann erfasst
mich eine kalte Wut auf die Politiker Koch und Rüttgers,
die mit ihren Aktionen genau dieser Richtung die Stichworte geben haben.
({6})
- Sie brauchen sich nicht aufzuregen; Sie sollten sich an
Herrn Rüttgers und Herrn Koch wenden, um diesen unsensiblen Umgang mit diesem Thema zu vermeiden.
({7})
Es sind verheerende Signale, die wir unseren Jugendlichen geben, wenn wir sagen: Die mit den blonden Haaren
und den blauen Augen dürfen rein, die mit den dunklen
Augen und den schwarzen Haaren müssen draußen bleiben. Wir sollten uns auch davor hüten, einer Argumentation auf den Leim zu gehen, die da lautet: Es sind zu viele
Ausländer hier. Das klang heute einige Male an. Das fördert den Rechtsradikalismus.
Ich will ja die Integrationsprobleme und auch die Ausländerstraftaten gar nicht klein reden. Die sind vorhanden;
das weiß jeder von uns. Aber klar muss auch sein: Nicht
die Ausländer sind für den Rechtsradikalismus verantwortlich, sondern sie sind deren Opfer.
({8})
Außerdem stimmen diese Argumente auch nicht; denn
erstens ist der Rechtsradikalismus dort am größten, wo es
die wenigsten Ausländer gibt, und zweitens würde eine
solche Argumentation zudem den rechten Dummköpfen
eine Rechtfertigungsgrundlage bieten nach dem Motto:
Ihr seht es ja, alle sind sauer darüber, aber wir tun was. Ich
glaube, es wäre verheerend, wenn wir solche Signale aussenden würden.
({9})
Wir wollen erreichen, dass Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus entschlossen entgegengetreten wird durch mehr Zivilcourage in der Bevölkerung, durch Schaffung von Rahmenbedingungen,
die das Aufkeimen rechtsextremistischer Gewalt verhindern, und durch entschlossenes Handeln der Strafverfolgungsbehörden. Herr Bosbach hat völlig Recht, wenn er
sagt: Wir brauchen Repression und Prävention gleichermaßen. Viele junge Menschen können an einem Abgleiten in den Rechtsradikalismus gehindert werden bzw. sie
können zurückgeholt werden. Und da ist Vorbeugen immer noch deutlich besser als Heilen. Im Übrigen ist es
auch eine Ecke billiger; das sollte man nicht vergessen.
Wir müssen den jungen Menschen Angebote machen,
aber wir müssen auch darauf bestehen, dass diese Angebote angenommen werden. Wer trotz aller Bemühungen
und Angebote nicht hören will, der muss die Härte des Gesetzes spüren - ich sage das auch deutlich - bis hin zum
Polizeiknüppel.
Wir müssen uns um die Opfer kümmern. Das ist mehrfach angesprochen worden. Die Opfer sind die eigentlichen Leidtragenden. Wenn solche Straftaten passieren,
neigen wir ja gelegentlich dazu, sofort in der Vergangenheit der Täter zu forschen. Hatte der Junge eine schwere
Jugend? Was hatte er sonst für Gründe, rechtsradikal zu
werden? Was hatte er sonst für Gründe, Straftäter zu werden? Ich sage: Wir müssen uns um Opfer und Täter gleichermaßen kümmern, aber im Zweifelsfall ist mir die Zukunft der Opfer wichtiger als die Vergangenheit der Täter.
Ich denke, das sollte unsere Handlungsmaxime hier sein.
({10})
Die Gesetze reichen aus. Der Ruf nach Verschärfung
der Strafen ist überflüssig. Gerade jetzt haben wir erlebt,
dass die brutale Ermordung Alberto Adrianos vor dem
Oberlandesgericht in Naumburg gesühnt wurde. Die Täter sind fast zu Höchststrafen verurteilt worden. Der Strafrahmen reicht also aus. Er muss nur ausgeschöpft werden.
Das hat unsere Justiz lange Zeit nicht begriffen.
({11})
Zur Bekämpfung gewalttätiger Angriffe auf Menschen, Gedenkstätten und Synagogen ist auch ein deutliches Zeichen der gesamten Gesellschaft geboten. Solchen
Gewalttaten müssen der vermeintlich und zum Teil leider
auch tatsächlich vorhandene Boden und die Unterstützung aus der Gesellschaft entzogen werden. Hier setzt unser Bündnis für Demokratie und Toleranz auch an. Wir
brauchen Menschen, die vorangehen. Wir brauchen Menschen, die Zivilcourage zeigen. Wir brauchen Menschen
aus Politik und Sport, die mutig vorangehen und Flagge
zeigen. Wenn heute von hier aus das Signal ausgeht, dass
die öffentliche Ächtung von Extremismus jeder Art ein
Anliegen aller Politiker ist und dass alle Politiker sich aufgemacht haben, den Anfängen zu wehren, dann war das
heute Morgen eine gute Veranstaltung.
Ich bedanke mich.
({12})
Für die PDS-Fraktion spricht die Kollegin Angela Marquardt.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich werde am 7. Oktober an einer antifaschistischen Demonstration, die hier in
Berlin stattfindet, teilnehmen. Sie richtet sich nicht nur
gegen die in Berlin-Köpenick ansässige NPD-Zentrale,
sondern auch gegen das in der Nachbarschaft liegende
Abschiebegefängnis Grünau. Wir werden dort vor allem
auf den Zusammenhang von neonazistischer Gewalt und
staatlicher Abschiebepolitik hinweisen und klarmachen,
dass es beim Thema Rechtsextremismus vor allem um
Rassismus geht und dass genau dieser nicht nur unter
Neonazis existiert, sondern überall in der Gesellschaft,
wie heute schon mehrfach betont wurde. Deswegen finde
ich es schlimm und möchte darauf hinweisen, dass es
natürlich auch rassistische Elemente in der zurzeit betriebenen Asylpolitik gibt.
Ich nehme an, dass nur wenige von Ihnen in diesem
Hause an dieser Demonstration teilnehmen werden, vor
allem auch deshalb, weil sie von der „Antifaschistischen
Aktion Berlin“ organisiert wird. Das ist nur eine von vielen kriminalisierten antifaschistischen Gruppierungen,
die sich seit Jahren aktiv gegen neofaschistische Strukturen in dieser Gesellschaft eingesetzt haben.
({0})
Es ist eine gesellschaftliche Erfahrung, dass das Engagement gegen Rechts inzwischen nicht nur Zivilcourage
hinsichtlich Rassismus und Nazis erfordert, sondern auch
hinsichtlich staatlicher Repression und staatlichem Rassismus, die es in den Ausländerbehörden, auch in der Polizei und sogar in den Sozialämtern gibt. Deswegen lässt
sich Rechtsextremismus eben nicht mit ein paar zentral
gesteuerten Plakataktionen bekämpfen. Dieser Kampf erfordert vielmehr eine langwierige Kleinarbeit vor Ort, so
wie sie Antifa-Gruppen über Jahrzehnte hinweg betrieben haben.
({1})
Sie haben recherchiert, haben rechte Strukturen offen
gelegt, haben darüber gesprochen und haben vor allen
Dingen - das wurde hier schon angesprochen - Opfern
rechter Gewalt beigestanden. Sie haben lautstark protestiert. Sie kämpfen bis heute für eine Gesellschaft, die Rassismus und Diskriminierung von Minderheiten ausschließt. Nicht selten werden sie dafür als Chaoten
beschimpft. Das haben sie in meinen Augen nicht verdient.
({2})
Natürlich müssen wir über Parteigrenzen hinweg gegen Rechtsextremismus auftreten. Ich bin die Letzte, die
nicht bereit wäre, dies in diesem Haus auch gemeinsam zu
tun. Aber Sie werden verstehen, dass ich angesichts der
Realität und der hier gemachten Äußerungen zumindest
manches als halbherzig bezeichnen möchte, vor allem
dann, wenn ich mir vor Augen führe, wie darüber diskutiert wird; denn natürlich werden wir alle einer Meinung
sein, dass Ausländer hier in Frieden leben müssen und vor
Naziübergriffen geschützt sein müssen. Aber stehen wir
noch auf einer Seite, wenn es darum geht, die Angst von
Ausländerinnen und Ausländern vor Abschiebung zu
bekämpfen? Ist nicht manchem hier das eigene Hemd
näher als die Menschenwürde?
Wenn auch heute wieder das Problem Rechtsextremismus zu einem Jugendproblem erklärt wird, dann kann ich
das wirklich nicht mehr verstehen; denn gerade rechte Jugendliche, die auf Rassismus, autoritäres Denken und Militarismus setzen, wissen oft, dass sie diese Vorstellungen
mit vielen Erwachsenen, Erziehern und Sozialarbeitern
teilen. Das muss genauso thematisiert werden wie das
Problem des Rechtsextremismus unter Jugendlichen.
({3})
Hierbei sind alle gefragt. Natürlich, Kollege Thierse, gilt
dies in ganz besonderer Weise für die PDS. Ich werde
mich gegen solche Tendenzen auch in meiner Partei immer einsetzen.
Angesprochen sind darüber hinaus diejenigen, die das
Thema Rechtsextremismus erst interessant fanden, als es
zum Füller des Sommerlochs wurde. Angesichts der Tatsache, dass ich selbst schon häufiger bedroht wurde, angesichts der Tatsache, dass in diesem Land Menschen totgeschlagen werden, halte ich es für eine Farce, dies mit
Castor-Transporten zu vergleichen. Dafür sollte man sich
wirklich schämen.
Sollte doch jemand zu dieser Demo gehen wollen: Sie
findet am 7. Oktober um 13 Uhr am S-Bahnhof Spindlersfeld in Berlin-Köpenick statt.
({4})
Zum Abschluss dieser Debatte gebe ich nunmehr dem Bundesminister des
Innern, Otto Schily, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es stimmt mich zuversichtlich, dass in der heutigen Debatte alle im Bundestag
vertretenen Parteien, wenn auch mit unterschiedlichen
Akzenten, eine offensive Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und Gewalt angemahnt haben. Demokratie
darf nicht gleichgültig bleiben, wenn Menschen in unserer Mitte zu Tode gehetzt, wenn Ausländerunterkünfte in
Brand gesetzt, wenn jüdische Friedhöfe geschändet, wenn
Obdachlose erschlagen und wenn andere Gewalttaten verübt werden.
({0})
Demokratie muss sich aktiv zur Wehr setzen. Wir alle, zuallererst der demokratische Rechtsstaat, sind dafür verantwortlich, dass das geschieht.
Rechtsextremismus und Gewalt lassen sich gewiss
nicht nur durch gutes Zureden und freundliche Ermahnungen überwinden. Der demokratische Staat muss auch
seine Stärke beweisen. Deshalb muss der Staat seine
Machtmittel entschlossen und mit der gebotenen Härte
einsetzen. Wir dulden keine rechtsfreien Räume, keine so
genannten national befreiten Zonen.
({1})
Das Gewaltmonopol des Staates gilt in Deutschland
überall und uneingeschränkt. Wir werden davon keinen
Millimeter abdrücken.
({2})
In der alltäglichen Arbeit - lassen Sie mich das an dieser Stelle sagen - ist die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols zuallererst die Aufgabe von Polizei und
Bundesgrenzschutz. Sie erfüllen diese Aufgabe oft unter
äußerst schwierigen und gefahrvollen Bedingungen. Ich
spreche allen Angehörigen der Polizeien der Länder und
des Bundesgrenzschutzes meinen ausdrücklichen Dank
für ihre Arbeit aus. Sie müssen wissen, dass wir sie gemeinsam unterstützen.
({3})
Wir müssen uns auch darüber einig sein, dass wir dort,
wo es erforderlich und aussichtsreich ist, ohne Zögern von
Möglichkeiten des Vereinsverbots bis hin zum Parteienverbot Gebrauch machen. Es ist gut, dass das Verbot der
neonazistischen Organisation „Blood and Honour“ allgemeine Zustimmung gefunden hat. Ich danke in diesem
Zusammenhang den Länderinnenministern für die enge
und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Diese wird sich
auch bei der Prüfung, ob ein Verbotsverfahren gegen die
NDP eingeleitet werden soll, bewähren.
Wir müssen auch prüfen, wie wir künftig provokante
Aufzüge der NPD und anderer neonazistischer Organisationen vor symbolträchtigen Orten und vor exponierten
Stellen wie dem künftigen Holocaust-Mahnmal und der
Neuen Wache unterbinden.
({4})
Das müssen wir sorgfältig prüfen. Ich befinde mich im
Gespräch darüber mit den Länderinnenministern.
Wir alle wissen, dass Verbote Rechtsextremismus und
Gewaltbereitschaft nicht über Nacht zum Verschwinden
bringen. Was sich an neonazistischem, antisemitischem
und rassistischem Unrat in den Köpfen eingenistet hat,
was an Gewaltbereitschaft und Brutalität die Herzen junger Menschen vergiftet, das lässt sich nicht einfach durch
Verbote beseitigen. Dazu bedarf es langfristiger und zielgenauer Strategien, für die wir präventive Konzepte entwickeln müssen. Die Bundesregierung setzt in diesem
Sinne in den verschiedenen Ressorts auf umfassende Projekte und Programme. Sie stellt dafür erhebliche finanzielle Mittel bereit, allen voran das Bundesministerium für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend und das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. Zu nennen ist
auch das Projekt „Die soziale Stadt“ aus dem Bundesbauministerium. Man sollte so etwas nicht unterschätzen.
({5})
Auch das soziale Umfeld in der Stadt ist bedeutsam für
das Thema, das wir heute diskutieren.
Viele dieser Programme sollen den Prozess der Integration direkt oder indirekt fördern. Mit einer verbesserten Integrationspolitik strebt die Bundesregierung den
Abbau von Diskriminierung und die Schaffung von Chancengleichheit und gegenseitiger Toleranz an. Eine gelungene Integration ist ein wesentliches Element, um
Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit entgegenzuwirken.
Sicherlich - das will ich hier nicht verschweigen müssen diese Programme immer wieder auf ihre Zielgenauigkeit und Effizienz hin überprüft werden. Dabei
kommt es darauf an, dass wir uns ein genaues Bild über
die tatsächlichen Geschehnisse verschaffen. Wenn es Ungenauigkeiten bei Statistiken gegeben haben sollte, werden wir sie bereinigen. Ich warne allerdings davor, alles,
was in der Zeitung steht, schon von vornherein für allgemein gültig zu halten. Wir müssen genau hinsehen, ob all
das, was da geschrieben steht, stimmt. Ich habe dafür eine
Projektgruppe eingerichtet. Wir werden das in aller Ruhe
und Sorgfalt prüfen. Wir lassen ferner einen periodischen
Sicherheitsbericht erarbeiten, der über die Kriminalstatistik hinaus ein genaueres Bild des tatsächlichen Geschehens vermitteln wird. Dabei muss auch untersucht
werden - das haben heute viele gesagt -, wie Fremdenfeindlichkeit entsteht oder gefördert wird.
Meine Damen und Herren, an der Stelle muss ich etwas
einfügen. Hier ist kritisiert worden, dass ich in bestimmten Politikfeldern - das wiederhole ich ausdrücklich eine tabufreie Diskussion anmahne. Das aber ist meine
Überzeugung. Wer die Argumente auf seiner Seite weiß,
braucht auch kein Tabu. Er kann seine Argumente offen
vortragen, und wenn er die besseren hat, wird er in der
Diskussion obsiegen. Es muss möglich sein zu sagen:
Das Zusammenleben mit Ausländern ist auch
schwierig und anstrengend. Wer das leugnet oder
nicht wahrhaben will, ist mit allen Appellen zu mehr
Toleranz, Freundlichkeit und Aufnahmebereitschaft
unglaubwürdig. Es hilft nicht, vor Problemen die Augen zu verschließen oder allein schon ihre Beschreibung als Ausländerfeindlichkeit hinzustellen.
({6})
Ich vermisse den Beifall der Grünen; das sind nämlich
Worte aus der Rede des Bundespräsidenten. Das, was der
Bundespräsident erklärt hat, ist eine richtige Einsicht: Es
hat keinen Zweck, die Augen vor Problemen zu verschließen.
({7})
Dann nämlich überlassen wir die Diskussion den Rattenfängern auf der rechtsextremistischen Seite.
({8})
Wir müssen die Probleme offen diskutieren. Es hat keinen
Zweck, dabei die Pose der moralischen Überheblichkeit
einzunehmen. Die besseren Argumente sollen zählen.
Es ist übrigens durchaus zulässig und in einer freien
Demokratie auch angemessen, dass jemand den Standpunkt vertritt, die generelle Einführung der doppelten
Staatsbürgerschaft sei nicht wünschenswert. Das ist zulässig, das ist noch keine Förderung von Rassismus oder
Fremdenfeindlichkeit. Mein Freund Professor Dan Diner
hat diese Auffassung - ich teile sie nicht, wie Sie wissen in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mit guten
Gründen vertreten. Wer diesen Mann mit seinem Familienhintergrund des Rassismus zeihen will, der unterliegt
dabei einem schwerwiegenden Irrtum.
({9})
Deshalb lassen wir uns nicht auf eine solch verkürzte
Sprechweise ein. Jeder soll seine Worte wägen. Gerade
diejenigen, die meinen, die Sorgfalt der Wortwahl anmahnen zu müssen, sollten einmal überprüfen, ob sie selber ihren Mahnungen eigentlich immer entsprechen.
Ich will an der Stelle noch etwas sagen: Innenminister
Beckstein, der Kollege aus Bayern, hat sehr profilierte
Auffassungen, die sicherlich in vielen Dingen meinen eigenen Auffassungen konträr widersprechen.
({10})
Ich werde ihn aber immer in Schutz nehmen, wenn auch
nur der leiseste Versuch gemacht wird, ihn in die Nähe
von Rassisten zu bringen.
({11})
Er ist ein bekennender Christ, er ist aktiver Synodaler. Gegen den Vorwurf des Rassismus werde ich ihn immer in
Schutz nehmen.
Meine Damen und Herren, in meinem Verantwortungsbereich bildet die Bekämpfung von Rechtsextremismus und Gewalt einen deutlichen Schwerpunkt. Unter anderem beweist das der in diesem Jahr vorgelegte
Verfassungsschutzbericht. Auch den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern des Bundesamtes für Verfassungsschutz, insbesondere dem früheren Präsidenten Dr. Frisch
und dem neuen Präsidenten Dr. Fromm, gebühren Dank
und Anerkennung für ihre Leistungen. Wenn wir dieses
Amt nicht hätten, müssten wir es einrichten. Wir brauchen
es gerade dafür, um die Erkenntnisse über verfassungsfeindliche Aktivitäten an die Öffentlichkeit zu bringen. Im
jüngsten Verfassungsschutzbericht befindet sich ein Kapitel mit der Überschrift „Verfassungsschutz durch Aufklärung“. Das ist gewissermaßen Programm. Deshalb
verdient das Bundesamt für Verfassungsschutz in diesem
Hause Unterstützung. Ich hoffe, ihm wird auch künftig
diese Unterstützung gewährt werden.
({12})
Wir haben ferner die Arbeitsschwerpunkte in der Bundeszentrale für politische Bildung umfassend reformiert
und sie auf eine verstärkte Auseinandersetzung mit
Rechtsextremismus und Gewalt ausgerichtet. Der
Bundesgrenzschutz beteiligt sich ebenfalls aktiv am
Kampf gegen Rechtsextremismus und Gewalt. Unter anderem hat er eine Hotline eingerichtet, die wir durch eine
bundesweite Plakataktion noch weiter bekannt machen
werden. Wir sollten das, was der Bundesgrenzschutz in
diesem Zusammenhang aktiv gegen rechtsextremistische
Schläger auf Bahngeländen oder in den Verkehrsmitteln
tut, nicht gegen andere Aufgabenbereiche, die ebenso
wichtig sind, ausspielen. Wenn der Bundesgrenzschutz
bei lagebildabhängigen Kontrollen dafür sorgt, dass
Schleuserkriminalität und organisierte Kriminalität
bekämpft werden, ist das ebenso notwendig. Das darf man
hier nicht irgendwie als Alternative darstellen.
({13})
Wir starten das Projekt „Sport gegen Gewalt“. Ich
stimme allen zu, die gesagt haben, gerade die Vereinstätigkeit und sportliche Aktivitäten sind ein wichtiges
Mittel gegen Gewalt. Wir beobachten übrigens, dass gerade die sportbetonten Schulen stärkere Abwehrkräfte gegenüber Gewalt bei den Jugendlichen entfalten, als es bei
anderen der Fall ist. Deshalb müssen wir die Länder ermahnen, den Sportunterricht bitte nicht zu vernachlässigen oder etwa einzuschränken.
({14})
Auch Sport ist ein wichtiges Mittel, um Jugendliche von
solchen Fehlentwicklungen abzuhalten.
Wir werden alle Möglichkeiten ausschöpfen, um die
Verbreitung neonazistischer, rassistischer, ausländerfeindlicher und antisemitischer Propaganda über das Internet zu unterbinden, und zwar national und international.
({15})
Wir haben das „Bündnis für Demokratie und Toleranz - gegen Extremismus und Gewalt“ gegründet. Anfangs hat es einige Stimmen gegeben, die meinten, das sei
ein ziemlich ohnmächtiges Unterfangen. Die Erfahrung
belehrt uns eines Besseren. Ich lade alle ein, sich an diesem Bündnis zu beteiligen. Das Bündnis erfährt in der
Zwischenzeit große Anerkennung und großen Zuspruch
aus allen Teilen der Gesellschaft. Es bilden sich lokale
und regionale Bündnisse. Es wird angefragt, wie man mitarbeiten kann. Ein Beispiel möchte ich erwähnen, das
ich in jüngster Zeit bekannt machen durfte: die Stiftung
eines hoch dotierten Jugendwettbewerbes, des VictorKlemperer-Preises, in Zusammenarbeit zwischen Dresdner Bank, dem Aufbau-Verlag und dem Bundesinnenministerium. Das ist ein gutes Beispiel für eine
Initiative im Sinne des Bündnisses für Demokratie und
Toleranz.
Es gibt viele andere positive Beispiele. Viele Menschen, Organisationen und Institutionen engagieren sich:
Wirtschaft und Gewerkschaften, der Bundesverband der
Deutschen Industrie ebenso wie die Gewerkschaft ÖTV,
die Kirchen, die Religionsgemeinschaften und zahlreiche
humanitäre Organisationen, private Stiftungen. Lokale
und regionale Bündnisse gegen Rechtsextremismus und
Gewalt haben sich gebildet. Auch die jetzt von UweKarsten Heye und Paul Spiegel in Gang gebrachte Initiative „Gesicht zeigen“ gehört in diesen Bereich. Diese und
alle anderen Initiativen sind ein ermutigendes Zeichen,
dass die Gesellschaft in Bewegung ist, nicht in Gleichgültigkeit verharrt, sondern, wie ich eingangs sagte, sich
offensiv mit Rechtsextremismus und Gewalt auseinander
setzt und für Demokratie und Toleranz einsetzt.
({16})
Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich habe
mich darüber gefreut, dass heute in vielen Reden Art. 1
des Grundgesetzes angesprochen worden ist. Es ist wahr:
Zentraler Orientierungspunkt für alle unsere gemeinsamen Bemühungen und Anstrengungen sollte Art. 1 des
Grundgesetzes sein.
({17})
Uns allen ist der Schutz der Würde des Menschen anvertraut. Die Würde des Menschen ist mehr als eine plakative Formel; auch darüber darf man nachdenken. Sie
verweist auf ein Menschenbild, sie verweist auf die geistig-seelische Konstitution des Menschen vor dem Angesicht einer höheren Ordnung, wie immer man sie sich in
der jeweiligen Anschauung vorstellt. Das Wissen um die
geistig-seelische Konstitution des Menschen, die über unser eigenes Leben hinausweist, bildet die Grundlage unseres Gewissens und damit zugleich für das friedliche und
gedeihliche Zusammenleben der Menschen. Diese, wie
ich finde, insgesamt eindrucksvolle Debatte heute wird
hoffentlich dazu beitragen, dass Gewissen und Gesellschaft sich festigen.
Vielen Dank.
({18})
Damit schließe ich
die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung
der Vorlagen auf den Drucksachen 14/4067 und 14/4145
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor-
geschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 14/4145 soll zu-
sätzlich an den Haushaltsausschuss, nicht jedoch an den
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das
ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a bis 23 d und
23 f bis 23 l sowie die Zusatzpunkte 2 a und b auf:
23.a) Überweisungen im vereinfachten Verfahren
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Dienstleistungsstatistik und zur
Änderung statistischer Rechtsvorschriften
- Drucksache 14/4049 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch
({1})
- Drucksache 14/4053 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({2})
Ausschuss für Gesundheit
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes und
anderer Gesetze
- Drucksache 14/4054 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
gemäß § 96 GO
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Än-
derungsurkunden vom 6. November 1998 zur
Konstitution und zur Konvention der Interna-
tionalen Fernmeldeunion vom 22. Dezember
- Drucksache 14/3952 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der
Strafprozessordnung ({4}) und an-
derer Gesetze
- Drucksache 14/3205 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
g) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zu Änderungen im
Gerichtsverfassungsrecht ({5})
- Drucksache 14/3831 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({6})
Innenausschuss
h) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Be-
griffs „Erziehungsurlaub“
- Drucksache 14/4133 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Hildebrecht
Braun ({7}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der F.D.P.
Kinderhandel in Afrika verhindern
- Drucksache 14/2705 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({8})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Kutzmutz, Gerhard Jüttemann, Dr. Christa Luft,
Dr. Dietmar Bartsch und der Fraktion der PDS
Fertigung des Airbus A3XX struktur- und
umweltpolitisch sinnvoll organisieren
- Drucksache 14/3677 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({9})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Haushaltsausschuss
k) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Neue nukleare Abrüstungsinitiativen statt
neuer Raketenabwehrprojekte
- Drucksache 14/3875 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({10})
Verteidigungsausschuss
l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maritta
Böttcher, Rolf Kutzmutz, Ursula Lötzer und der
Fraktion der PDS
Keine Fusion des GMD-Forschungszentrums
für Informationstechnik und der FraunhoferGesellschaft ({11}) zulasten der IuK-Grundlagenforschung
- Drucksache 14/4037 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({12})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
a) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Einsetzung eines Untersuchungsausschusses
- Drucksache 14/3822 Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({13})
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Winfried Wolf, Eva Bulling-Schröter, Uwe
Hiksch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der PDS
Bürgerbahn statt Börsenbahn
- Drucksache 14/3784 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({14})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/4054 soll zusätzlich an den Rechtsausschuss und an den Ausschuss für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend überwiesen werden. - Das Haus ist damit einverstanden. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 24 a bis
24 j auf. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 a auf:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. März
1998 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Südafrika über die Seeschifffahrt
- Drucksache 14/3091 ({15})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({16})
- Drucksache 14/3846 Berichterstattung:
Abgeordneter Hans-Michael Goldmann
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
auf Drucksache 14/3091. Der Ausschuss für Verkehr,
Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 14/3846, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 b:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Personenbeförderungsgesetzes
({17})
- Drucksache 14/2995 ({18})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({19})
- Drucksache 14/3843 Berichterstattung:
Abgeordneter Hans-Günter Bruckmann
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
zur Änderung des Personenbeförderungsgesetzes auf
Drucksachen 14/2995 und 14/3843. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist auch in dritter Beratung einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts
des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({20}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Paul Laufs, Dr. Christian Ruck, Dr. Klaus
W. Lippold ({21}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Vizepräsident Rudolf Seiters
Reaktor-Sicherheitskommission mit unabhängigen, fachlich hoch qualifizierten Experten besetzen
- Drucksachen 14/1010, 14/2112 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Axel Berg
Dr. Paul Laufs
Birgit Homburger
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1010 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der SPDFraktion, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
PDS-Fraktion gegen die Stimmen von CDU/CSU und
F.D.P. angenommen.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 24 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({22})
Sammelübersicht 187 zu Petitionen
- Drucksache 14/4078 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 187 ist mit den Stimmen
des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({23})
Sammelübersicht 188 zu Petitionen
- Drucksache 14/4079 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 188 ist mit den Stimmen
des Hauses bei Enthaltung der PDS angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 189 zu Petitionen
- Drucksache 14/4080 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 189 ist mit dem gleichen
Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 190 zu Petitionen
- Drucksache 14/4081 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 190 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 191 zu Petitionen
- Drucksache 14/4082 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 191 ist mit den Stimmen
von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der PDS gegen die
Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 192 zu Petitionen
- Drucksache 14/4083 Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Sammelübersicht 192 ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und der PDS gegen die Stimmen
von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Tagesordnungspunkt 24 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 193 zu Petitionen
- Drucksache 14/4084 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 193 ist mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({29})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Christel
Humme, Dr. Hans-Peter Bartels, Anni BrandtElsweier, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Marieluise
Beck ({30}), Ekin Deligöz, Kristin Heyne,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Neue Initiativen zur Frauenbeschäftigung
- zu dem Antrag der Abgeordneten Petra Bläss,
Maritta Böttcher, Dr. Ruth Fuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Gleichstellung von Frauen und Männern im
Erwerbsleben
- zu dem Antrag der Abgeordneten Maria
Eichhorn, Hannelore Rönsch ({31}),
Wolfgang Dehnel, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Bekämpfung der Frauenarbeitslosigkeit in
Deutschland
- zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung des Europäischen Parlaments zu
den besonderen Auswirkungen der Frauenarbeitslosigkeit
Vizepräsident Rudolf Seiters
- Drucksachen 14/1195, 14/1529, 14/1549,
14/155 ({32}) Nr. 1.1, 14/2746 Berichterstattung:
Abgeordnete Christel Humme
Dorothea Störr-Ritter
Monika Balt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Zeit von anderthalb Stunden vorgesehen.
- Ich höre keinen Widerspruch. Das Haus ist also damit
einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst der Parlamentarischen Staatssekretärin bei der Bundesministerin
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Edith Niehuis,
das Wort.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir debattieren heute über einige Anträge zur Frauenbeschäftigung. Frauenbeschäftigung ist natürlich Teil der gesamten
Beschäftigungslage. Das heißt: Wer Arbeitslosigkeit erfolgreich bekämpft, wie wir es tun, hat eine erfolgreiche
Gleichstellungspolitik gemacht.
({0})
Anders herum: Eine katastrophale Lage auf dem Arbeitsmarkt, wie wir sie aus der letzten Legislaturperiode mit
4,5 Millionen Arbeitslosen kennen, gefährdet auch die
Gleichstellung von Frauen und Männern erheblich. Wir
hatten uns doch schon daran gewöhnt, immer wieder festzustellen: Frauen sind die Ersten, die entlassen, und die
Letzten, die wieder eingestellt werden. Darum ist es so
wichtig, dass wir eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt
eingeläutet haben.
({1})
Diese Trendwende bezieht sich auch auf den Unterschied zwischen den Arbeitslosenquoten von Frauen und
Männern, insbesondere was den Osten anbetrifft. War die
Arbeitslosenquote der Frauen im Osten im August 1998
noch um 5 Prozentpunkte höher als die der Männer, waren es im August 2000 bei insgesamt niedrigerem Niveau
nur noch 3 Prozentpunkte. Das sagt mir: Wir haben zwar
noch viel zu tun, aber wir sind mit unserer Beschäftigungspolitik auf dem richtigen Weg.
({2})
- Nein, sie ist nicht gestiegen.
({3})
- Der Unterschied zwischen den Arbeitslosenquoten von
Frauen und Männern betrug 5 Prozentpunkte. Innerhalb
von zwei Jahren ist dieser Unterschied auf 3 Prozentpunkte gesunken. Das verdeutlicht die Richtigkeit unseres Ansatzes.
Wir können erkennen, dass in der Beschäftigungspolitik in der Tat ein Wechsel stattgefunden hat. Erinnern wir
uns: Wie war das denn auf dem EU-Beschäftigungsgipfel
1997 in Luxemburg, auf dem die damalige Bundesregierung unter Kanzler Kohl als Bremser in Sachen europäischer Beschäftigungspolitik auftrat, weil sie im europäischen Vergleich nur wenig vorzuweisen hatte? Diese
Situation hat sich erheblich verändert. Heute versteht sich
die Bundesregierung mit ihren nationalen Aktionsplänen,
({4})
in denen die Verwirklichung der Chancengleichheit von
Mann und Frau eine selbstverständliche und wesentliche Querschnittsaufgabe ist, als aktiver Teil europäischer
Beschäftigungspolitik mit ihren beschäftigungspolitischen Zeitlinien.
({5})
Rat und Kommission werden demnächst den gemeinsamen Beschäftigungsbericht vorlegen. In diesem Bericht
werden einige Maßnahmen dieser Bundesregierung positiv hervorgehoben werden.
({6})
Dazu gehören das Programm „Frau und Beruf“
({7})
und die dadurch eingeleiteten gesetzgeberischen Maßnahmen sowie andere politische Initiativen. Auch dieses
Programm zeigt, dass wir, was die Beschäftigungspolitik
anbetrifft, ein anderes Verständnis haben als unsere Vorgängerregierung.
({8})
Sehen wir uns doch den Antrag der CDU/CSU an, der
heute debattiert wird! Sie haben in diesem Antrag Forderungen gestellt, die wir befürworten. Wenn ich dann aber
in den Bericht über die Ausschussberatungen schaue,
dann stelle ich fest, dass Sie von gesetzlichen Maßnahmen
absehen wollen.
({9})
Meine Damen und Herren, was ist das für eine Politik, Appelle und Ziele zu formulieren, dann aber darauf zu verzichten, wirksame Maßnahmen zu ergreifen?
({10})
Das ist doch die Form von Politik, die Sie gemacht haben,
als Sie die Bundesregierung gestellt haben. Für diese Art
von Politik ist dann das Wort „Reformstau“ geprägt worden.
Vizepräsident Rudolf Seiters
Wir sind mit Ihnen einer Meinung, dass Teilzeitarbeit
gefördert werden muss. Aber dazu bedarf es gesetzlicher
Maßnahmen. Das ist der Grund, warum wir das Erziehungsurlaubsgesetz - demnächst wird es Elternzeitgesetz
heißen - verändert haben. Wir werden den jungen Vätern
und Müttern vom 1. Januar 2001 an die Gelegenheit geben, dass sie mehr wählen können, wenn sie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie anstreben.
({11})
Vater und Mutter können demnächst gleichzeitig Teilzeitarbeit als Elternzeit anmelden und haben dann einen Anspruch, nach der Erziehungszeit auf ihren Vollzeitarbeitsplatz zurückzukehren.
({12})
Das ist doch etwas, was wir brauchen. Die Menschen
müssen auf Gesetze zurückgreifen können, damit sie einen Anspruch haben, ihre individuellen Bedürfnisse umsetzen zu können.
({13})
Wenn wir Teilzeitarbeit zur Vereinbarkeit von Beruf
und Familie fördern, dann müssen wir auch das Ende mitbedenken. Das Ende ist in diesem Fall die Rente. Darum
wird im Moment ein, wie ich finde, hervorragendes Paket
aus guter Beschäftigungspolitik, guter Familienpolitik
und guter Rentenpolitik geschnürt.
({14})
Sie wissen, dass demnächst die Rentenreform ansteht.
Danach werden gerade diejenigen, die aufgrund von
Kindererziehung in den ersten zehn Lebensjahren ihres
Kindes ihre Arbeit auf Teilzeit reduziert haben, höhere
Rentenanwartschaften bekommen. Insofern wird die diskontinuierliche Erwerbsbiografie, die Frauen sehr häufig
aufwiesen und die für die Rente sehr schädlich war, irgendwann endlich der Vergangenheit angehören.
({15})
Aber wir dürfen nicht den Fehler machen, Gleichstellungspolitik und Beschäftigungspolitik mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie gleichzusetzen. Das ist auch
eine originär frauenpolitische Aufgabe. Ich glaube, wir
haben in unserem Industrieland Bundesrepublik Deutschland noch Erhebliches zu tun, um diskriminierende
Rahmenbedingungen abzuschaffen. Wie ist es sonst zu
erklären, dass Deutschland hinsichtlich der Zahl von
Frauen in Führungspositionen mit 11 Prozent im europäischen Vergleich weit hinten liegt? Wie ist zu erklären,
dass in den USA der Frauenanteil im Management bei
46 Prozent, in Kanada bei 42 Prozent, bei uns aber bei um
11 Prozent liegt? Und das ist so, obwohl Frauen in
Deutschland hervorragende Bildungsabschlüsse haben.
Hier ist die Wirtschaft in Deutschland gefordert, ernsthafte Schritte zur Verbesserung der Situation von Frauen
im Erwerbsleben zu unternehmen.
({16})
Mit unserem Programm „Frau und Beruf“ wollen wir
die Zeit beenden, in der nur fruchtlose Appelle erfolgten.
Wir sind vielmehr für ein effektives Gleichstellungsgesetz
auch für die Privatwirtschaft.
({17})
Das wollen wir um der Frauen willen, aber gerade auch
um des Wirtschaftsstandortes Deutschland willen. Es
wird höchste Zeit, dass die Politik nicht weiter tatenlos
zusieht, wie Verkrustungen aufgrund geschlechtsspezifischer Vorurteile und der Verhaltensstarre der Verantwortlichen in der Wirtschaft sowohl auf Unternehmer- wie
auch auf Gewerkschaftsseite dazu führen, dass vorhandene Qualifikationen, nämlich die der Frauen, für den
Wirtschaftsprozess nicht angemessen abgerufen werden.
({18})
Wir haben in den letzten Monaten hochrangige Gespräche mit Vertreterinnen und Vertretern der Wirtschaft
und der Wissenschaft geführt. Wir waren alle der Meinung, dass in der Bundesrepublik Deutschland die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft
vorangetrieben werden muss. Die Tarifvertragsparteien,
die Betriebsparteien erwarten von uns als Bundesregierung, dass wir ihnen angesichts der guten Beispiele,
die es in vielen Unternehmen durchaus gibt, die Chance
eröffnen, Maßnahmen zur Gleichstellung in ihren Firmen
autonom umzusetzen. Ich finde, das ist in Ordnung.
Ich sage aber genauso deutlich: Wir werden ein Gesetz
vorlegen, das die Wirtschaft verpflichtet, die Gleichstellung von Frauen und Männern in den Betrieben aktiv umzusetzen.
({19})
Dieses Gesetz wird den Verantwortlichen in der Branche,
den Verantwortlichen in den Unternehmen zunächst eine
Frist einräumen, in der sie Maßnahmen zur Umsetzung
der Gleichstellung von Frauen und Männern gemäß vorgegebenen Mindeststandards autonom umsetzen können.
Für denjenigen aber, der diese im Gesetz vorgegebene Frist
verstreichen lässt, werden per Gesetz gleichstellungspolitische Instrumentarien vorgeschrieben.
Sicher lohnt es sich dabei, über den nationalen Tellerrand hinauszuschauen. Von den wirtschaftlich erfolgreichen USA können wir lernen, was die Berücksichtigung
von frauenfördernden Maßnahmen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge bewirkt. Von der Schweiz können wir
sehr gut lernen, was in diesem Zusammenhang mit dem
Verbandsklagerecht möglich ist; denn in der Schweiz,
einem ebenfalls erfolgreichen Land, hat das Verbandsklagerecht zum Erfolg geführt.
Ein bedrückendes Kapitel hinsichtlich der Frauenbeschäftigung sind die nach wie vor bestehenden erheblichen Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen.
Dieses geschlechtsspezifische Lohngefälle zulasten der
Frauen muss beseitigt werden. Das ist der Grund dafür,
dass wir einen umfassenden Lohn- und EinkommensbeParl. Staatssekretärin Dr. Edith Niehuis
richt erstellen lassen, dessen Ergebnisse Ende 2001 vorliegen werden.
Nun ist es leider nicht Sache der Bundesregierung, Tarifverhandlungen zu führen; das machen andere. Ich erwarte aber, dass sich dann, wenn der Bericht vorliegt und
Handlungsbedarf aufgezeigt worden ist, die Tarifvertragsparteien aufgefordert fühlen, endlich zu handeln.
({20})
Wir müssen auch bezüglich des Berufsspektrums von
Frauen mehr tun. Leider wählen die jungen Frauen immer
noch Berufe in einem viel zu kleinen Bereich für sich aus.
Darum gibt es neben den von mir genannten gesetzgeberischen Maßnahmen eine Reihe von Initiativen, die hier
Abhilfe schaffen sollen. Eine Maßnahme ist die D-21Initiative, in der wir mit der Wirtschaft zusammen daran
arbeiten, dass der Frauenanteil auch in den IT-Ausbildungsberufen steigt.
Wir müssen mehr tun, um die Lücke bei den Existenzgründungen durch Frauen zu schließen. Oft mangelt es
Frauen, die in der Regel kleine Existenzen gründen wollen, am unbürokratischen Zugang zu Gründungsdarlehen.
Das war der Grund dafür, dass wir im Mai 1999 das Kreditprogramm Startgeld aufgelegt haben. Dieses Kreditprogramm ist auf kleinere Existenzgründungen ausgerichtet, was dem Gründungsverhalten von Frauen sehr
entgegenkommt.
Die Bilanz des Startgeld-Kreditprogramms, das genau
auf weibliche Existenzgründungen zugeschnitten wurde,
sieht so aus, dass 37 Prozent derjenigen, die Kredite über
das Startgeld in Anspruch nehmen, Frauen sind. Das sind
10 Prozent mehr als der Anteil selbstständiger Frauen in
dieser Republik derzeit ausmacht. Die Zahl der Frauen,
die in diesem Land demnächst einen Betrieb leiten werden, wird also steigen.
In diesem Zusammenhang erinnere ich gern an eine
französische Studie aus dem Jahr 1996, in der 22 000 Unternehmen untersucht wurden. Das Ergebnis: Die von
Frauen geleiteten Unternehmen erwirtschaften überdurchschnittliche Erträge und sind doppelt so rentabel wie
die Betriebe, die von Männern geleitet werden.
({21})
Es lohnt sich also, in Frauenbeschäftigung zu investieren und diese zu fördern. Vieles von dem, was in den heute
vorliegenden Anträgen steht, ist Inhalt der Politik der
Bundesregierung. Wir werden in diesem Sinne auch weitermachen.
Danke schön.
({22})
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht nunmehr die Kollegin Dorothea StörrRitter.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn das Europäische Parlament feststellt, dass die Arbeitslosigkeit
der Frauen in der Mehrheit der Mitgliedstaaten höher ist
als die der Männer, dann meine ich, hat das damit zu tun,
dass wir zum einen zu wenig Arbeitsplätze haben und dass
zum anderen die Chancen von Frauen, am Erwerbsleben
teilzunehmen, wesentlich geringer sind. Natürlich reizt es
mich, Ausführungen zur Wirtschaftspolitik zu machen,
die für die Arbeitsplätze ja verantwortlich ist; ich möchte
mich hier aber auf die Frage der Chancengleichheit der
Frauen konzentrieren.
Es ist sicher sinnvoll, die Frage zu stellen, wie die
Frauen selbst ihre Chancengleichheit sehen. Die Befragung von 1 113 Frauen und 1 000 Männern durch das Institut für Demoskopie in Allensbach im Auftrag der
Bundesregierung, die durch die Frau Ministerin hier leider nicht mehr vertreten ist, brachte Folgendes zutage:
Die Frauen in Deutschland sind mit ihrer Gleichberechtigung so zufrieden wie vor 25 Jahren. Daraus können wir,
so denke ich, natürlich nicht den Schluss ziehen, dass die
Frauen damals zufrieden waren.
({0})
Die Studie ergab aber auch, dass Männer viele Themen
deutlich anders beurteilen als Frauen: 45 Prozent der
Männer und nur 16 Prozent der Frauen denken, die
Gleichberechtigung sei weitgehend verwirklicht. Allerdings müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass 20 Prozent
der Befragten auf die ihnen gestellten Fragen keine Antwort geben wollten oder konnten. Auch das sollte uns zu
denken geben.
Im Ergebnis zeigten die Antworten, dass die Frage
nach Erziehungsurlaub für Männer bei den Frauen keine
große Rolle spielt. Auch die Einrichtung von Teilzeitarbeitsplätzen hat für sie nicht das Gewicht, wie wir manchmal vielleicht meinen. Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub oder - besser gesagt - Erziehungszeit sind zwar
Maßnahmen, um etwas in den Griff zu bekommen, können aber die Ursachen nicht beseitigen. So wird das von
Frauen gesehen.
Ganz oben auf der Wunschliste der Frauen steht, beruflich weiterzukommen, Karriere zu machen und so viel
zu verdienen wie männliche Kollegen.
({1})
Ebenso wichtig ist eine gute Altersversorgung trotz mehrjähriger Babypause.
Neun von zehn Frauen sehen laut dieser Studie die
Herstellung von Chancengleichheit im Beruf und die damit verbundene finanzielle Unabhängigkeit als Aufgabe
der Politik für Frauen. Deshalb müssen wir uns natürlich
fragen: Wie ist es möglich, für Frauen eine Chancengleichheit am Arbeitsmarkt zu erreichen? Wenn man den
Vorstellungen der Familienministerin folgt - die Staatssekretärin hat das eben angesprochen -, dann soll dies durch
Zwang geschehen. Hier unterscheiden wir uns, wie ich
meine, sehr deutlich im Ansatz. Im Folgenden möchte ich
darauf eingehen.
({2})
Weil man die Unternehmen offensichtlich für besonders naiv hält, spricht man nicht von Zwang, sondern verwendet - da lässt der Kindergarten grüßen - einen
pädagogischen Trick: In der ersten Stufe sollen die Unternehmen selbst ihren Weg zur Chancengleichheit definieren, Vorhaben umsetzen und Vereinbarungen treffen. Die
Mindeststandards werden natürlich vorgegeben, wie
zum Beispiel Erhöhung des Frauenanteils, Lohngleichheit und Maßnahmen gegen sexuelle Diskriminierung.
Den Unternehmen wird eine weitestgehende Gestaltungsfreiheit vorgegaukelt.
({3})
Sofern sich die Unternehmen diesem Auftrag verweigern, kommen gesetzliche Regelungen zum Zuge,
({4})
die nach einer gewissen Frist von zwei bis drei Jahren
übernommen werden müssen; das wurde uns schon bestätigt. Andernfalls - man höre - drohen den Unternehmen Sanktionen. Im Übrigen sollen Betriebe ohne erfüllte
Mindeststandards zur Chancengleichheit künftig von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen werden. Mit diesen
Vorstellungen soll die Wirtschaft einmal mehr Daumenschrauben erhalten, die Bürokratie soll aufgebaut werden.
({5})
Diese Maßnahmen sollen auferlegt werden, obwohl die
Ministerin als Ergebnis ihrer Dialogforen, die durchgeführt wurden, selbst einräumt, dass sich bereits viele Betriebe Chancengleichheit und Frauenförderung auf ihre
Fahnen geschrieben haben.
({6})
Die Auswertungen haben ergeben, dass beispielsweise
Daimler-Chrysler den Frauenanteil bei Führungsnachwuchs seit 1995 um 50 Prozent gesteigert hat. Die Lufthansa hat ihren Frauenanteil im Management in acht Jahren auf 10 Prozent vervierfacht. Bei der Deutschen Post
sind 48 Prozent der Beschäftigten Frauen.
Wir können sagen: Dieses Glas ist halb voll. Wir können aber auch sagen: Dieses Glas ist halb leer. Sie gehen
nur davon aus, dass es halb leer sei. Ich denke, wir sollten
auch einmal den halb vollen Teil betrachten.
({7})
Bei der Commerzbank liegt der Anteil der Mitarbeiterinnen bei 50 Prozent. 20 Prozent der Frauen arbeiten im
außertarifvertraglichen Bereich. Der Anteil der Frauen im
Tarifbereich mit Handlungsvollmacht - auch das ist
etwas - hat sich von 18 Prozent im Jahre 1980 auf knapp
55 Prozent im Jahr 2000 gesteigert.
Aber das Fazit des Familienministeriums: Die Ergebnisse sind teilweise mühsam und langwierig und es besteht die Gefahr - man höre! - dass sie vom Erfolg des
Unternehmens am Markt abhängig gemacht werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren der Regierungskoalition, ich frage Sie: Was glauben Sie, wie viele Frauenarbeitsplätze ein Unternehmen bieten kann, das, weil es
am Markt nicht erfolgreich sein kann, von der Bildfläche
verschwunden ist?
Wenn sich nach 20 Jahren Förderungspraktiken in der
Wirtschaft bundesweit nur knapp 100 Unternehmen nachweislich um Prädikate für Chancengleichheit bemühen,
dann - so folgert das Familienministerium - kann angesichts der anderen zwei Millionen Betriebe nicht länger
auf Freiwilligkeit gesetzt werden. Diese Schlussfolgerung, meine ich, ist sehr abenteuerlich. Weil nur 100 Unternehmen Geld und Zeit für eine Auszeichnung investieren können, sind die restlichen 2,5 Millionen
Unternehmen familien- und frauenfeindlich?
Diese Anmaßung muss den vielen Selbstständigen im
Mittelstand, die seit Jahren in ihren Betrieben Frauen und
Mütter fördern und unterstützen, die Sprache verschlagen. Solche Äußerungen zeugen von Nichtwissen, von
Ignoranz und von einer Einstellung, die Unternehmerinnen und Unternehmer immer noch als ausschließlich
geldgierige Kapitalisten sieht. Der Sozialismus lässt
grüßen.
({8})
In der Bundesrepublik arbeiten mehr als die Hälfte
aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in meist
inhabergeführten Betrieben mit ungefähr 100 Mitarbeitern. Diese Betriebe mit weiteren Belastungen und staatlichen Eingriffen zu überziehen hieße, dem Mittelstand
eine weitere Zwangsmaßnahme aufzubürden. Kleine und
mittlere Betriebe bis zu zehn Mitarbeitern bezahlen bereits jetzt im Jahr bis zu 60 000 DM für vom Staat aufgezwungene Verwaltungsaufgaben. Mittelständische Betriebe sind bereits heute in erster Linie Buchhalter des
Staates, Statistiker und Belegsammler, die einen Großteil
ihrer Zeit damit verbringen müssen, die Bürokratie des
Staates zu befriedigen.
Ein Gesetzeschaos, ein durch Ökosteuer und Steuerreform, durch Rot-Grün nochmals aufgeblähtes Steuerchaos, ein nicht geregeltes Sozialchaos sowie ein Verordnungschaos nehmen den Betrieben jegliche
Handlungsfreiheit. Diese Betriebe nun auch noch mit
Zwangsmaßnahmen zur Frauenförderung zu überziehen
hieße, diejenigen noch mehr einzuschränken, die noch
immer gewillt sind, an Aufbau und Umsetzung einer Kultur der Selbstständigkeit in unserem Land mitzuwirken.
Kleine und mittlere Unternehmen haben entscheidende
Vorteile, flexible Lösungen hinsichtlich der Gleichstellung von Mann und Frau umzusetzen. Sie haben per se
flache Hierarchien, besitzen überschaubare Ablaufstrukturen und verfügen über kurze, formelle Kommunikations- und Entscheidungswege. Im Übrigen haben in
der Mehrzahl dieser Betriebe mitarbeitende Ehefrauen
entscheidenden Einfluss auf die Zusammensetzung des
Personals. Ich weiß, dass diese Ehefrauen aus ihrer eigenen Erfahrung sehr gewillt sind, Frauen in ihren Betrieben
unterzubringen und zu stärken.
({9})
Bereits jedes vierte Unternehmen in Deutschland wird
von einer Frau geführt. Es ist eine Tatsache, dass die
Mehrzahl der selbstständig tätigen Unternehmerinnen mit
Frauen zusammenarbeiten und Frauenbeschäftigung den
betrieblichen Umständen entsprechend zu fördern gewillt
sind. Aber sie möchten und müssen dies frei entscheiden
können.
Hier hilft nicht Zwang, sondern Beratung. Entsprechende Beratungsstellen können wichtige Informationsund Überzeugungsarbeit leisten. Allerdings müssen diese
Beratungen mehr als Fachwissen für Frauenbelange und
-interessen bieten. Berater oder Beraterinnen müssen die
Belange der Betriebe kennen und wissen, wie Betriebe erfolgreich auf dynamische Märkte reagieren können. Beratung muss Hand in Hand mit den Betrieben erfolgen und
darf nicht bevormundend sein. Arroganz ist fehl am Platz.
Völlig daneben sind Konzepte vom grünen Tisch und das
Anbieten theoretisch besserwissender Patentlösungen
durch die realitätsferne Politik. Zielführend ist nur die Arbeit vor Ort mit einem Eingehen auf die spezifischen Belange der Betriebe.
Um Chancengleichheit zu verwirklichen, brauchen
Mädchen und Frauen einen ganzheitlichen Beratungsansatz; denn Fragen der Partnerschaft oder Familiengründung nehmen bei der Lebensplanung von Frauen zum
Glück immer noch viel Raum ein. Diesen Frauen ist mitnichten geholfen, wenn sie durch Quoten einen Arbeitsplatz erhalten. Verschiedene Lebensläufe brauchen individuelle Lösungen. Frauen müssen ihrem Lebensweg
entsprechend in den Arbeitsmarkt - es ist völlig egal, auf
welcher Ebene der Hierarchie - eingegliedert werden.
Quotenarbeitsplätze lösen die Probleme der Frauen ganz
sicher nicht.
Weil Unternehmerinnen und Unternehmer nicht per se
schlecht sind und eine neue Generation von Selbstständigen heranwächst, besteht in vielen Unternehmen auf der
Leitungsebene sehr wohl der Wunsch, Fähigkeiten und
Qualifikationen von Frauen verstärkt zu nutzen. Deshalb
müssen Unternehmen bei der Gestaltung von Weiterbildungskonzepten sowie bei der Konzeption und Durchführung von Qualifikationsmaßnahmen unterstützt werden und sie müssen Arbeitskreise mit Personalverantwortlichen erhalten.
({10})
Deshalb müssen Frauen angeregt werden, eigene
Ideen umzusetzen und beruflich unabhängig zu sein. Sie
müssen unterstützt werden, eigene Unternehmen zu gründen und erfolgreich zu führen, um auch Frauen einzustellen. Aber das, meine sehr verehrten Damen und Herren
der Regierungskoalition, wird nur gelingen, wenn diese
Frauen spüren, dass man ihnen als Unternehmerinnen
Handlungsfreiheiten lässt,
({11})
wenn man ihnen das Gefühl vermittelt, dass es etwas Respektables ist, ein Unternehmen zu führen, dass es etwas
Anständiges ist, Gewinne zu machen, und dass Selbstständige in unserem Land mit ihren Leistungen anerkannt
({12})
und nicht ausschließlich von der Arroganz der politischen
Macht gemolken und immer mehr in Zwangsjacken gesteckt werden.
Vergessen Sie nie, Frau Staatssekretärin:
({13})
Mit den Armen in einer Zwangsjacke kann weder ein Unternehmer noch eine Unternehmerin Arbeitsverträge unterschreiben oder am Ende des Monats die Gehälter für
die Arbeitnehmerinnen ausbezahlen.
Danke.
({14})
Ich gebe das Wort der
Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Störr-Ritter, darin, dass eine gute Wirtschaftspolitik Voraussetzung für eine gute Arbeitsmarktpolitik
ist, da gebe ich Ihnen Recht. Aber dann hört es mit den
Gemeinsamkeiten auch schon auf. Ich habe mich die
ganze Zeit gefragt, mit wem Sie eigentlich gesprochen haben. Glauben Sie, bei der rot-grünen Regierung sei der
Sozialismus ausgebrochen? Die Vorwürfe, die Sie hier erhoben haben, treffen uns in keiner Weise. Wenn Sie die
Wirtschaftsunternehmen fragen, dann hören Sie, dass wir
auf einem guten Weg sind.
({0})
Ich möchte einmal mit einem Zitat der Präsidentin des
Bundesverfassungsgerichtes, Jutta Limbach, beginnen.
Sie sagte kürzlich bei der Eröffnung der Europäischen
Führungsakademie für Frauen in Berlin:
In Zeiten dynamischer Veränderung ist die Visionärin Realistin.
Sie zeichnete ein sehr hoffnungsfrohes Bild für das
21. Jahrhundert. Danach werden - nach ihren Worten - in
Parlamenten zukünftig gleich viel Frauen wie Männer sitzen; heute haben die Frauen hier ja bereits eine Übermacht, sehe ich gerade. - Das Lachen und der Ärger von
Frauen werden uns aus allen Sitzungszimmern und Ämtern entgegenschallen. An den Schultoren werden genauso viele Väter wie Mütter auf ihre Sprösslinge warten.
Frauen und Männer werden also in etwa das Gleiche tun.
In ihrer Art, sich zu verhalten, werden sie aber auch
weiterhin Unterschiede aufweisen. Vielleicht werden wir
nach wie vor weniger Frauen auf Fußballplätzen sehen;
vielleicht wird die Bundeswehr nach wie vor stärker von
Männern dominiert sein;
({1})
vielleicht werden auch vorzugsweise Frauen kleine Kinder betreuen - dieses aber aufgrund von freien Entscheidungen und nicht wie bisher aufgrund von Rollenzuweisungen oder infolge sozialer und wirtschaftlicher
Zwänge.
({2})
Dass Frauen selbstbestimmt über ihr Leben entscheiden können, ist Ziel rot-grüner Gesellschaftspolitik und
nicht nur rot-grüner Frauenpolitik. Dies setzt aber eine gerechte Verteilung der Erwerbs- und Familienarbeit zwischen den Geschlechtern, eine Chancengleichheit im
Erwerbsleben und den Abbau der Arbeitslosigkeit voraus.
Kommen wir einmal zur Standortfrage: Wo also ist der
Standort der Erwerbsarbeit der Frauen von heute? Was ist
erreicht? Wo bestehen weiterhin Nachteile? Ich möchte
zunächst auf die positiven Entwicklungen eingehen:
Frauen haben in der Bildung aufgeholt, haben die Männer
zum Teil überholt. Erwerbstätigkeit ist für Frauen eine
Selbstverständlichkeit geworden und Unternehmen beginnen, das Potenzial von Frauen gerade in Zeiten tief
greifender Veränderungen - das Stichwort „Globalisierung“ ist gefallen - zu schätzen. Frau Störr-Ritter, es sind
einige, aber es sind nur sehr wenige Unternehmen, die den
Auftrag des Art. 3 des Grundgesetzes ernst nehmen und
ihn auch umsetzen.
({3})
Für Frauen bestehen nach wie vor enorme Wettbewerbsnachteile. Es ist für sie schwerer, einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu finden. Frauen beschränken
sich auch deshalb auf nur wenige, kaum zukunftsträchtige
Berufe. Sie sind häufiger und länger arbeitslos und öfter
unter ihrer Qualifikation beschäftigt als Männer. Dass sie
weniger verdienen, ist hier im Hause schon mehrfach erwähnt worden. Aber auch der Wiedereinstieg in den Beruf im Anschluss an die Familienphase ist eines der
großen Probleme.
Lassen Sie mich nun die Arbeitsmarktsituation der
Frauen schildern: Nach zwei Jahren rot-grüner Regierung
schlägt sich der wirtschaftliche Aufschwung in Deutschland allmählich auch auf den Arbeitsmarkt nieder. Die
Zunahme der Beschäftigung insgesamt geht einher zu
großen Teilen mit einer Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit.
Auch in Zukunft wird der Strukturwandel hin zu den
Dienstleistungen die Beschäftigung von Frauen begünstigen. Gewinnerinnen der Beschäftigungsentwicklung sind
die hoch qualifizierten Frauen. Frauen ohne Qualifikation
oder mit geringer Qualifikation müssen hingegen deutlich
geringere Chancen, eine Beschäftigung zu finden, in Kauf
nehmen. Die Zahl der für sie geeigneten Arbeitsplätze
ging in der letzten Zeit um die Hälfte zurück und die Arbeitslosenquote für diese Frauen verdoppelte sich auf
über 21 Prozent. Hier müssen wir handeln und das müssen wir ändern.
Jedoch sieht es auch bei den qualifizierten Frauen
nicht rosig aus. Trotz des Beschäftigungsanstiegs finden
sie nicht in ausreichendem Maße Arbeitsplätze. Viele von
ihnen müssen sich noch immer, vor allem beim Berufseinstieg, mit einem Job begnügen, der nicht ihrer Qualifikation entspricht. Dass Hochschulabsolventinnen an den
Universitäten nicht als Wissenschaftlerinnen, sondern als
Sekretärinnen arbeiten, ist leider keine Seltenheit.
Beschäftigungszuwächse für Frauen haben vor allem
durch mehr Teilzeitbeschäftigung stattgefunden. Nun sind
endlich auch die Männer gefragt, Arbeit zu teilen. Ich
finde, es ist ein Hohn, dass im letzten Jahr die Anzahl der
Überstunden erneut zugenommen hat und jetzt bei nahezu
1,8 Millionen liegt, während noch immer fast 4 Millionen
Menschen erwerbslos gemeldet sind, von der „stillen Reserve der Frauen“ ganz zu schweigen.
Mit dem neuen Gesetz für mehr Teilzeitarbeit, das Arbeitsminister Riester kürzlich vorstellte, können Frauen
und Männer grundsätzlich ihre Wünsche auf Arbeitszeitverkürzung durchsetzen, wenn betriebliche Gründe dem
nicht entgegenstehen, Frau Störr-Ritter. Wir nehmen also
auf die Betriebe hier Rücksicht.
Zukünftig dürfen Teilzeitbeschäftigte gegenüber Vollzeitbeschäftigten nicht mehr schlechter gestellt werden.
Allerdings soll das - für mich bedauerlicherweise - nur
für Beschäftigte gelten, die in Betrieben mit mehr als
15 Beschäftigten arbeiten. Unser Nachbarland Niederlande hat es mit der Umsetzung der europäischen Richtlinie zur Teilzeitbeschäftigung für alle Arbeitnehmer zu einem wahren Jobwunder gebracht. Wenn auch bei uns
mehr Männer von der Möglichkeit zur Teilzeitarbeit Gebrauch machen, kommen wir der wirklichen Chancengleichheit von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt
entscheidend näher.
({4})
Aber auch der Dienstleistungssektor bietet Frauen
große Chancen. Schon heute arbeiten viele Frauen in
diesem Bereich und der Trend zur Dienstleistungsgesellschaft kommt ihnen zugute. Gerade die neuen Informationstechnologien treiben den Prozess der Dienstleistungsgesellschaft voran. Wenn wir also Frauenerwerbslosigkeit
abbauen und das Spektrum für die Berufswahl von Frauen
erweitern wollen, müssen wir Frauen im IT-Bereich
qualifizieren. Mit der Initiative „D 21 - Aufbruch in das
Informationszeitalter“ - die Frau Staatssekretärin hat darauf hingewiesen - hat die Bundesregierung hier bereits
reagiert.
Existenzgründungen sind bei dynamischen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt ein wichtiges weiteres
Stichwort. In einer flexibilisierten Arbeitswelt gewinnt
Selbstständigkeit zunehmend an Bedeutung. Der Anteil
von Frauen bei den Existenzgründungen ist immer noch
sehr gering; er liegt bei gut einem Viertel aller Selbstständigen. Das resultiert unter anderem daraus, dass ihnen
deutlich weniger Startkapital für die Umsetzung ihrer Unternehmensideen zur Verfügung steht und die Banken
noch immer sehr zurückhaltend auf die meist niedrigeren
Kreditwünsche reagieren. Sie sprechen dann von „peanuts“ und meinen, solche Dinge sollte man besser lassen,
weil sie zu viel Aufwand für die Bank bedeuten. Auch darum begrüße ich ausdrücklich das von der Bundesregierung aufgelegte Darlehensprogramm Startgeld, das sich
besonders für Frauen und kleine Gründungen eignet.
Voraussetzung für eine Existenzgründung ist Qualifikation und Spezialisierung. Daran hapert es bei Frauen
überhaupt nicht, denn wir hatten noch nie eine so gut ausgebildete Frauengeneration wie jetzt. Dieser positive
Trend setzt sich aber leider nicht im Berufsleben fort.
Die berühmte gläserne Decke setzt hier an. Frauen
werden im Berufsleben immer noch abqualifiziert und
sind im oberen Management so gut wie gar nicht anzutreffen. Ein Vergleich mit unseren europäischen Nachbarstaaten zeigt: Deutschland bildet mit Italien das europäische Schlusslicht bei den Führungspositionen; von
100 Führungskräften sind gerade einmal vier Frauen. Darum sollten wir die Erfolgsstory der USA als Vorbild nehmen, da dort bereits die Hälfte der Stellen im Management
mit Frauen besetzt ist. Wenn vorhin gesagt wurde, die
USA tauge nicht als Vorbild, muss ich entgegnen: Die positiven Dinge wollen wir natürlich gerne übernehmen,
Frau Störr-Ritter, die negativen lassen wir aber dort.
({5})
Wir müssen aber auch die bestehenden Instrumente
ausbauen und neue Gesetze verabschieden. Zu den Instrumenten: Die aktive Arbeitsmarktpolitik ist entscheidend für die Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt,
ob als Berufsrückkehrerinnen, als Teilnehmerinnen an einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme oder einer Weiterbildungsmaßnahme. Die 1996 von der alten Bundesregierung eingeleitete Reform des Arbeitsförderungsgesetzes,
die eine Verschlechterung bedeutet hat, hat zu einer massiven Diskriminierung der Frauen geführt. Daher ist eine
echte Reform des Arbeitsförderungsrechts ein zentrales frauenpolitisches Vorhaben der rot-grünen Bundesregierung.
Durch die Neuregelung muss erreicht werden, dass
Frauen tatsächlich gemäß ihrem Anteil den Arbeitslosen
an allen Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik beteiligt werden, auch dann, wenn sie aufgrund des Einkommens ihres Ehemannes keine Leistungen beziehen.
Dies betrifft immer noch jede zweite arbeitslose Frau. Es
ist auch nicht einzusehen, warum Frauen erst langzeitarbeitslos werden müssen, um an Eingliederungsmaßnahmen beteiligt zu werden. Die alte Bundesregierung hatte
mit der Abschaffung des Berufs-, Einkommens- und Qualifikationsschutzes Frauen auf die Qualifikationsrutsche
nach unten gesetzt. Durch ihr sowieso schon niedrigeres
Lohnniveau sind sie häufiger in die Sozialhilfeabhängigkeit geraten. Diesen abgeschafften Schutz werden wir
wieder herstellen.
({6})
Außerdem müssen Erziehungszeiten als Beitragszeiten
anerkannt werden. Dies gilt generell für Zeiten, in denen
Kinder erzogen bzw. Angehörige gepflegt werden. Nur so
steht Berufsrückkehrerinnen der Leistungsbezug oder die
Möglichkeit zur Teilnahme an einer Maßnahme der aktiven Arbeitsmarktpolitik im Anschluss an Erziehungsbzw. Pflegearbeit überhaupt offen. Wenn der Wehrdienst
für den Erwerb einer Anwartschaft ausreicht, steht doch
außer Frage, dass auch die Erziehungsarbeit entsprechend
anerkannt werden muss. Für mich ist das eine Frage der
Gerechtigkeit.
({7})
Der gleichzeitige Bezug von Erziehungsgeld und Arbeitslosengeld war bislang dank der alten Bundesregierung nicht möglich. Mit dem neuen Erziehungsgeldgesetz haben wir diese Schieflage wieder zurechtgerückt.
({8})
Zukünftig haben auch Personen, die aufgrund einer früheren Beschäftigung von bis zu 30 Wochenstunden Arbeitslosengeld erhalten, Anspruch auf Erziehungsgeld.
Ich komme nun zu den Regelungen für diejenigen, die
bereits eine Beschäftigung haben. Bis jetzt können wir mit
den Ergebnissen und den Bemühungen der Betriebe für
die Gleichstellung von Frauen nicht zufrieden sein. Nur
wenige Unternehmen in Deutschland haben bis heute verstanden, dass Frauenförderung ein wichtiger Baustein eines erfolgreichen Personalmanagements ist. Um diesen
positiven Prozess, den einige wenige Unternehmen bereits begonnen haben, nicht ins Leere laufen zu lassen,
brauchen wir ein effektives Gleichberechtigungsgesetz.
({9})
Dieses muss der Unterschiedlichkeit der Betriebe in Art
und Größe natürlich Rechnung tragen.
Kreativität und Fantasie der Unternehmen lassen sich
aber auch dadurch anregen, dass diejenigen Betriebe öffentliche Aufträge erhalten, die auf Frauenförderung setzen. Für die anderen bedeutet der Verzicht auf Frauenförderung, einen Wettbewerbsnachteil in Kauf nehmen zu
müssen. Das ist doch ein echtes Anreizsystem.
Neben einem effektiven gesetzlichen Diskriminierungsschutz - das betrifft die unmittelbare wie die
mittelbare Diskriminierung - brauchen wir aber auch ein
Verbandsklagerecht für Frauenverbände und Gewerkschaften, wie es im Umweltbereich schon Gesetz ist.
({10})
Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit - das ist eine
Uraltforderung, die man gar nicht mehr aussprechen mag.
Sie ist aber bis heute nicht umgesetzt.
({11})
Es gibt eine Reihe von Berufen, in denen überwiegend
Frauen beschäftigt sind, deren Bezahlung jedoch nicht geschlechtergerecht ist. Deshalb müssen die Tarifpartner die
Vorgaben des Europäischen Gerichtshofes für eine gleiche Entlohnung beherzigen.
({12})
Ein weiteres Mittel zur Umsetzung der Gleichstellung in den Betrieben bietet das Betriebsverfassungsgesetz. Konkretisierungen sind hier dringend erforderlich. Quotierte Wahllisten könnten eine gleichberechtigte
Besetzung der Betriebsräte ermöglichen. Eine Mitbestimmungspflicht des Betriebsrates in Sachen Chancengleichheit und die Verpflichtung der Arbeitgeber zur
Zusammenarbeit in Sachen Gleichstellung könnten nicht
nur die Rechte der Betriebsräte, sondern auch die
Rechte der Frauen stärken.
({13})
Dies sind nur einige Anmerkungen zu den gesetzgeberischen Maßnahmen, die noch vor uns liegen.
Der Handlungsbedarf ist noch immer groß. Zu lange
galt das ideologische Bild von Frauen, die für Haushalt
und Kinder verantwortlich zu sein hatten und allenfalls als
Zuverdienerinnen fungierten. Darum freue ich mich - ich
sehe, Herr Dehnel ist da -, dass wir gestern einen Erkenntniszugewinn bei der CDU zur Kenntnis nehmen konnten.
Denn inzwischen hat auch die CDU erkannt, dass eine
Förderung der Erwerbsarbeit das Beste für die Familien ist. Das haben Sie hervorragend ausgedrückt, da zu
den Familien auch die Frauen und die Mütter gehören.
Bisher hatten Sie die Ministerin Bergmann immer dafür
gescholten, dass sie sich für verbesserte Erwerbsmöglichkeiten von Frauen mit Kindern eingesetzt hat. Ich bin
froh, dass Sie endlich in eine andere Richtung gehen.
Herzlichen Glückwunsch dazu!
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist höchste Zeit,
dass Wirtschaft und Gesellschaft die Mehrheit der Bevölkerung nicht länger benachteiligen. Die in dem Antrag
vorgeschlagenen Maßnahmen werden dazu einen großen
Beitrag leisten. Da wir uns inhaltlich offensichtlich in vielen Punkten einig sind, bitte ich Sie, diesem Antrag zuzustimmen.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat nun die
Kollegin Ina Lenke, F.D.P.-Fraktion.
Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ausgangspunkt
der heutigen Beratung ist die Entschließung des Europäischen Parlamentes zu den besonderen Auswirkungen
der Frauenarbeitslosigkeit. Das Europäische Parlament
stellt fest, dass „alle jungen Frauen nach Abschluss ihrer
Ausbildung ... in das Erwerbsleben“ wollen. Immer mehr
Frauen sehen die Notwendigkeit einer dauerhaften Berufstätigkeit.
Wir haben gerade von unseren Kolleginnen gehört,
dass trotz der qualifizierten Ausbildung die Arbeitslosenquote bei Frauen in Europa höher als die der Männer und
die Bezahlung 20 bis 30 Prozent niedriger ist. Dieses Bild
zeigt sich auch in der Bundesrepublik.
In der Entschließung des Europäischen Parlamentes
werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, die Teilzeitbeschäftigung auf Männer ebenso wie auf Frauen
auszudehnen, den Mangel an guten und preiswerten
Kinderbetreuungseinrichtungen zu beheben und der Forderung nach einem attraktiven Elternurlaub für Väter und
Mütter nachzukommen. Diese Ziele unterstützen wir als
F.D.P. natürlich.
({0})
Ich will auch gleich sagen: Wir sind in diesem Parlament nicht untätig gewesen. Wir haben unsere Vorstellungen zur Familienförderung, zur Erziehungszeit und zum
Erziehungsgeld vorgebracht. Unser Konzept ist anders als
das von Rot-Grün. Unser Konzept gibt Arbeitnehmerinnen und Arbeitgeberinnen einen breiten Freiraum, die Berufstätigkeit während einer Erziehungsphase individuell
zu bestimmen. Das vermissen wir in Ihrem Konzept.
Die Forderung des Europäischen Parlaments nach flexibleren Kinderbetreuungsmöglichkeiten unterstützen
wir alle, natürlich auch die Männer. Aber der schwarze
Peter wird hier immer zwischen Bund, Ländern und Kommunen hin und her geschoben. Die Dummen sind die Familien, die bei beidseitiger Berufstätigkeit keinen entsprechenden Kindergartenplatz bekommen. Wir müssen
sehen, dass die Bevölkerung mit uns auf allen Ebenen unzufrieden ist, und sie hat Recht. Die Bundesregierung
sollte das, was sie versprochen hat, auch tun. Sie hat nämlich zu Anfang der Legislaturperiode versprochen, die
Länder bei der Schaffung zusätzlicher Kinderbetreuungsmöglichkeiten zu unterstützen.
Liebe Frau Staatssekretärin Niehuis, davon habe ich in
den letzten zwei Jahren nichts gehört.
({1})
Sie haben im Ausschuss gesagt, Sie würden mit den Ländern sprechen. Das ist schon ein Tick weniger, als den
Ländern Geld zu geben. Ich denke, hier sollte wirklich etwas getan werden, und Sie sollten Ihre Versprechungen,
die Sie zu Anfang der Legislaturperiode in Ihren Programmen stehen hatten, endlich auch einhalten. So geht es
nicht: Erst die Wähler fangen und nachher vergessen, das
Geld zu geben. Das wollen wir nicht machen.
({2})
Heute geht es in dieser Diskussion um die wichtigen
Themen Frauenarbeitslosigkeit und Stärkung der Frauenerwerbstätigkeit. Meine lieben Kollegen und Kolleginnen
von SPD und Grünen, ich arbeite wirklich gerne mit Ihnen zusammen und viele Dinge machen wir ja auch gemeinsam. Aber diese Regierungskoalition hat Konzepte, die nach Überzeugung der F.D.P. und auch nach
meiner Überzeugung nicht zum Erfolg führen werden.
({3})
Ich werde jetzt Beispiele nennen, über die wir uns
gerne noch unterhalten können. Die rot-grüne Regierung
setzt einseitig auf Gesetze mit engen Vorgaben und
Zwang. In den zwei Jahren rot-grüner Herrschaft sind Gesetze verabschiedet worden und werden Gesetze angedacht, die eindeutig negative Wirkung auf die Erwerbstätigkeit von Frauen und Männern haben werden. Ich
zähle sie auf:
Erstens das Gesetz gegen Scheinselbstständigkeit.
Frau Schewe-Gerigk, Ziel des Gesetzes war Beschäftigungsförderung. Was ist im Ergebnis daraus geworden? Viele Frauen haben ihre kleinen Existenzen aufgegeben.
Ich kenne Fälle aus meinem Wahlkreis. Damit müssen Sie
sich auch auseinander setzen.
Dann will ich, zweitens, zu diesem viel gescholtenen fangen Sie ruhig jetzt schon an zu lachen - 630-MarkGesetz kommen.
({4})
Die Frauen, die vor der Gesetzesänderung neben ihrem
Hauptjob zusätzlich gearbeitet haben, haben aufgrund der
neuen Regelung ihren Job aufgegeben,
({5})
weil einfach die Sozialabgaben und die Steuern zu hoch
sind. Ich sage: Wir sollten auch für die Frauen da sein, die
noch neben ihrem Job mal zwei Stunden in der Woche
oder zwei Stunden am Tag arbeiten wollen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Bitte sehr, Frau Kollegin.
Einen Moment bitte, ich muss erst schlucken.
Darf ich meine Frage später stellen?
Ich werde zunächst die anderen
Punkte aufführen. Dann kannst du vielleicht auch dazu
noch etwas sagen.
Ich war bei zweitens, beim 630-Mark-Gesetz. Jetzt
komme ich zu drittens, dem neu eingeführten Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit im Betrieb während der Erziehungszeit. Meine Damen und Herren, Sie belasten
zukünftig die Arbeitgeber, die viele Frauen eingestellt haben, neben der betrieblichen Belastung durch die Schwangerschaft auch noch mit diesem Rechtsanspruch. Da stellt
sich wirklich die Frage, ob das Frauenbeschäftigungsförderung ist. Ich habe da meine Zweifel. Da gehen unsere
parteipolitischen Meinungen wirklich stark auseinander.
Ich meine, dass das nicht der Fall ist. Ich meine, dass gerade der Betrieb, der viele Frauen einstellt, nicht Belastungen, sondern Entlastungen haben soll. Sie aber belasten die Betriebe und entlasten sie nicht.
({0})
Viertens nenne ich die Neugestaltung des Kündigungsschutzes. Da ist es auch so. Der Schwellenwert für die Anwendung der besseren Kündigungsschutzregelungen lag
bei zehn Mitarbeitern. Jetzt haben Sie ihn auf fünf zurückgefahren. Ich frage Sie: Glauben Sie, dass der Betrieb die
sechste oder siebte Mitarbeiterin einstellt, wenn er dadurch den Schwellenwert überschreitet und höheren
Kündigungsschutz in Kauf nehmen muss? Ich sage Ihnen:
Diese Dinge können Sie zwar in politischen Veranstaltungen sehr schön erklären, aber die Folgewirkungen Ihrer
Gesetze werden bei Ihnen nicht eingeplant.
({1})
Es wurde hier auch schon gesagt, dass das Betriebsverfassungsgesetz bald geändert werden soll und auch
kleine Betriebe damit belastet werden sollen. Das ist auch
so etwas.
Wollen Sie jetzt die
Zwischenfrage zulassen?
Lass mich doch bitte noch Gleichberechtigungsgesetz nennen. Das soll wie folgt aussehen: In der ersten Stufe erhalten die Betriebe einen Katalog mit Frauenfördermaßnahmen, aus dem sie Maßnahmen übernehmen müssen. Das nennt die rot-grüne Regierung große Gestaltungsfreiheit, man höre und staune.
Wenn sie das nicht machen, dann zündet die zweite Stufe,
und die heißt: Zwang und Sanktionen.
Meine Damen und Herren, wo werden Arbeitsplätze
geschaffen? - In der Wirtschaft. Wo sollen Frauen mehr
Chancen auf Einstellung haben?
({0})
- In der Wirtschaft. Ich sage Ihnen: Diese Auflagen von
Rot-Grün werden dazu führen, dass in Deutschland keine
neuen Arbeitsplätze, jedenfalls nicht für Frauen, geschaffen werden.
Jetzt bitte deine Frage.
Vielen Dank, dass auf meinen Hustenanfall
Rücksicht genommen wurde.
Frau Kollegin Lenke,
an sich erteile ich das Wort; das tue ich aber hiermit. Bitte
sehr.
Entschuldigung, Frau Präsidentin.
Frau Kollegin Lenke, finden Sie es gerecht,
dass Frauen, aber auch Männer, die in einem Betrieb
Überstunden machen, dafür Steuern und Versicherung
zahlen sollen, dass sie aber, wenn sie in einem anderen
Betrieb einen so genannten 630-Mark-Job ausüben, dieses nicht machen sollten? Entspricht das Ihrem Gefühl
von Gerechtigkeit?
Also, mein Gefühl für Gerechtigkeit ist auch befriedigt, wenn ein Zweitjob steuerlich begünstigt wird. Vor der Reform der 630-Mark-Arbeitsverhältnisse hat ja der Arbeitgeber die gesamten Steuern
gezahlt, waren also die aus diesen Arbeitsverhältnissen erzielten Einnahmen steuerfrei. Die darauf entrichteten
Steuern sind damals den Frauen und Männern zugute gekommen.
Ich bin der Meinung, dass das System, das wir hatten
- Hauptjobs sind sozialversicherungspflichtig und Einnahmen bis 630 DM bleiben für die Arbeitnehmer steuerfrei -, denjenigen, die zu wenig in ihrem Hauptjob verdienten, eine gute Möglichkeit geboten hat, zusätzliches
Geld zu verdienen, das nicht mit hohen Abgaben und
Steuern belastet wurde.
({0})
Ich sage Ihnen eines: Wer für 630 DM arbeitet, der hat
einen Stundenlohn von 15 DM bis 18 DM. Ob dessen Einkommen in Steuerklasse V oder VI dann noch mit Abgaben von 40 oder 50 Prozent belastet werden soll, ist eine
Frage, die wir uns wirklich stellen müssen. Es ist mir jedenfalls angesichts der Zahl derjenigen, die für 630 DM
in der Bundesrepublik Deutschland arbeiten wollen, wert,
für die Wiedereinführung der alten Regelung einzutreten.
({1})
Einig sind wir uns natürlich darüber, dass die Weichen
für eine langfristige erfolgreiche Berufstätigkeit von
Frauen schon in der Jugend gestellt werden. 1997 konzentrierten sich 55 Prozent der weiblichen Azubis auf
zehn Ausbildungsberufe. Aber diese Ausbildungsberufe
bieten nur eine eingeschränkte Erwerbsperspektive. Darüber müssen wir nicht reden. Darüber sind wir uns alle
einig. Auch an den Hochschulen fehlen Frauen in den Bereichen Naturwissenschaften, Informatik sowie Wirtschafts- und Betriebswissenschaften.
Ich meine, dass es auch im Eigeninteresse und in der
Eigenverantwortung von Frauen liegt, sich nicht nur über
die private, sondern auch über die berufliche Lebensplanung im Klaren zu sein. Das ist bei Männern anders, weil
in unserer Gesellschaft noch immer davon ausgegangen
wird, dass der Mann der Haupternährer ist. Wir alle sind
da natürlich anderer Meinung. Es ist also wichtig, dass
auch Frauen eine berufliche Lebensplanung vornehmen.
Hier lässt sich mit einer guten Bildungspolitik, die schon
in der Schule ansetzt, sicherlich etwas machen. Bund und
Länder müssen zusammen für eine gute Kombination von
Anreizen in der Bildungspolitik sorgen.
Ich möchte auch ganz deutlich sagen, dass die Wirtschaft ihren Verpflichtungen nachkommen muss. Ich bin
zwar der Meinung, dass die in unserer Verfassung verankerte aktive Gestaltung der Gleichberechtigung von
Mann und Frau auch von den Betriebsinhabern umgesetzt
werden muss. Aber ich bin auch der Meinung, dass die
kleinen Betriebe nicht so handeln können wie die großen.
Große Betriebe wie Siemens und Lufthansa haben schon
aus wohlverstandenem Eigeninteresse Frauenförderung
betrieben. Frauen üben dort schon Leitungsfunktionen
aus. Hier hat sich einiges verändert.
Ich möchte aber auch noch um Verständnis für die
kleinen und mittelständischen Betriebe werben. Was geschieht dort? 80 Prozent aller Ausbildungsplätze werden
von mittelständischen Betrieben geschaffen. Fragen Sie
doch einmal die großen Unternehmen, wie viele Ausbildungsplätze sie zur Verfügung stellen! Daher muss in eine
Plus-Minus-Rechnung auch das einbezogen werden, was
der Arbeitsmarkt erfordert und was wir von den Betrieben
verlangen.
Ich möchte jetzt zum Schluss kommen. Die F.D.P. unterstützt natürlich alle Maßnahmen, mit denen dafür gesorgt werden soll, dass sich Frauen für zukunftsträchtige
Berufe interessieren. Ich kann die Bundesregierung nur
dafür loben - das finde ich sehr vernünftig -, dass sie mit
der Wirtschaft die D-21-Initiative ins Leben gerufen hat.
Solche Aktionen unterstützen wir. Das ist gar keine Frage!
Wir unterstützen auch „total equality“. Es ist auch die
Aufgabe der zuständigen Staatssekretärin und Ministerin,
dafür zu sorgen, dass sich mehr Betriebe daran beteiligen;
denn das Interesse an der Auszeichnung für Frauen fördernde Betriebe hat etwas nachgelassen.
Auch über die Förderung der Existenzgründungen - das ist gar keine Frage - sind wir uns alle einig, egal,
ob Sie das 101. oder das 102. Existenzförderungsprogramm auflegen. Aber ich muss darauf hinweisen, dass
eine immer größer werdende Vielzahl an Förderprogrammen eher negativ zu sehen ist; denn je mehr Programme
es gibt, desto verwirrender wird es für die Frauen. Wir
müssen vielleicht die Masse der Existenzförderungsmöglichkeiten eher eindämmen und vielmehr dafür sorgen,
dass sich viele, die einen Betrieb neu gründen wollen, den
staatlichen Förderprogrammen zuwenden und verstehen,
welches das Ziel der einzelnen Förderprogramme ist, und
dass sie sich nicht von Banken Förderprogramme verkaufen lassen die vielleicht teurer als die staatlichen sind.
Ich will einmal die Frage stellen, ob es richtig ist, dass
die Kosten, die durch eine Schwangerschaft einer Mitarbeiterin anfallen, den Betrieben individuell zugeordnet
sind. Mit diesem Problem sollte sich auch der Frauen- und
Familienausschuss befassen. Wir sollten uns den Lösungsmöglichkeiten für dieses Problem widmen. Wenn
ich mit Vertretern kleiner Betriebe spreche, die sehr viele
Frauen eingestellt haben, dann erfahre ich immer wieder,
dass das auch mit finanziellen Belastungen verbunden ist.
({2})
Viele Inhaber von Betrieben verdienen weniger als
200 000 DM. Wenn von ihren 20 Mitarbeiterinnen zehn
schwanger sind, dann haben sie Schwierigkeiten, weil sie
Ersatz finden müssen. Schwierigkeiten entstehen erst
recht, wenn es den Rechtsanspruch gibt. Es wäre wichtig,
Lösungsmöglichkeiten für die gesellschaftspolitischen
Belastungen, für die durch die Schwangerschaft und die
Erziehungszeit verbundenen Probleme zu finden, die wir
einzelnen Betrieben auferlegen.
({3})
Frau Kollegin, Sie haben die Redezeit weit überschritten.
Ich komme zum Schluss.
In unserer globalisierten Wirtschaft darf wirtschaftliches Handeln nicht eingeengt werden, sondern es muss erweitert werden. Das kann zu mehr Frauenerwerbstätigkeit
führen. Meines Erachtens zeigen Ihre Gesetze nicht, ob
Sie das in den vier Jahren Ihrer Regierungszeit erreichen.
Ich glaube, Sie gehen weiterhin den Weg von Zwangsgesetzen und Zwangsregelungen. Es wäre sehr traurig, wenn
Frauenbeschäftigung damit verhindert würde und wenn
sich die Lage der Frauen auf dem Arbeitsmarkt nicht verbessert.
({0})
Das Wort hat nun die
Kollegin Petra Bläss, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Mitgliedstaaten der Europäischen
Union haben sich mit dem Amsterdamer Vertrag bekanntlich zur Durchsetzung von Chancengleichheit und
zur Gleichberechtigung der Geschlechter verpflichtet.
Angesichts der Defizite bei der Umsetzung auf nationaler Ebene kommt immer wieder - ich denke, zu Recht Druck vonseiten der EU. Das Europäische Parlament hat
in der heute zur Debatte stehenden Entschließung sehr
klare Worte gefunden, was Chancengleichheit von Frauen
und Männern auf dem Arbeitsmarkt bedeutet. Der politische Handlungsbedarf ist groß; doch nach wie vor fehlt
es auch in der Bundesrepublik an konkreten und nachhaltigen Lösungsansätzen, wie der Diskriminierung von
Frauen auf dem Arbeitsmarkt zu begegnen ist.
Dabei sind die Trends besorgniserregend. Das Wissenschaftszentrum Berlin hat jüngst alarmierende Zahlen
veröffentlicht. Demnach hat allein in der Stadt Berlin nur
noch jede bzw. jeder dritte Erwerbstätige ein so genanntes
Normalarbeitsverhältnis, das heißt eine unbefristete Vollzeitstelle mit normaler sozialer Absicherung. 1991 waren
das immerhin noch 45 Prozent. „Berlin wird zur Hauptstadt der Mc-Jobs“, hat die „taz“ unlängst getitelt. Der
Dienstleistungssektor expandiert und dabei entstehen
überwiegend ungesicherte Arbeitsplätze. Es sind häufig
Frauen, die mangels Alternative auf diese Jobs zurückgreifen müssen.
Wenn wir über bessere Erwerbschancen für Frauen reden, dann können wir diese Entwicklungen nicht außer
Acht lassen. Es ist unübersehbar, dass die Flexibilisierung
der Beschäftigungsverhältnisse für die allermeisten Menschen erhebliche Nachteile und nicht etwa, wie immer
wieder behauptet, größere Freiheiten gebracht hat. Der
Ausbau von Niedriglohnbereichen wird fälschlicherweise
auch von vielen Politikerinnen und Politikern der rot-grünen Regierungskoalition als Königsweg aus der Arbeitslosigkeit propagiert.
Das bestehende Arbeitsförderungsrecht begünstigt
diese Entwicklungen noch, weil es - Frau Schewe-Gerigk
hat darauf bereits verwiesen - zum Beispiel keinen Schutz
der beruflichen Qualifikation mehr gibt, weil berufliche
Kenntnisse und Erfahrungen ihren Wert innerhalb weniger Monate verlieren. Da Arbeitslose gezwungen werden,
Jobs anzunehmen, die weit unter ihrer Qualifikation liegen, wird dieser Trend anhalten. Ich habe mit großer
Freude zur Kenntnis genommen, dass auch Sie an genau
dieser Stelle politischen Handlungsbedarf, das heißt gesetzlichen Regelungsbedarf, sehen.
Bei der Arbeitsförderung gibt es ebenfalls zahlreiche
Regelungen, die Frauen benachteiligen. Ich nenne Ihnen
nur die Zugangsbarrieren bei Maßnahmen der aktiven Arbeitsförderung, die angeblich zumutbare Pendelzeit von
drei Stunden täglich, die besonders Frauen trifft und sie
oft zwingt, gleich ganz zu Hause zu bleiben, sowie die
nicht mehr gewährte Anrechnung von Mutterschafts- und
Erziehungsurlaub als beitragspflichtig gleichgestellte
Zeit.
Wenn Sie an der Diskriminierung von Frauen bei der
Arbeitsförderung etwas ändern wollen, dann müssen
zahlreiche Regelungen im SGB III verändert werden. Die
geschlechtsspezifische Entdiskriminierung muss ein zentraler Maßstab für die angekündigte Reform des Arbeitsförderungsrechts sein.
({0})
Die Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt können wir
nur erfolgreich bekämpfen, wenn wir endlich auch die Arbeitszeitgesetzgebung angehen. Wir brauchen - das ist
hier vielfach gesagt worden - verbindliche Regelungen
für die Privatwirtschaft.
Auch im Beschäftigungspolitischen Aktionsplan
- immerhin ein Dokument, mit dem die Bundesregierung
ihre Aktivitäten gegenüber der Europäischen Union rechtfertigt - setzt sich leider der Stil durch, der uns in den
vergangenen Monaten immer wieder begegnet ist. Statt
gesetzlicher Vorhaben erwähnen Sie lieber Konferenzen,
die Sie veranstalten, und Berichte, die Sie schreiben wollen. Ein Beispiel: Um die Einkommensunterschiede bei
Männern und Frauen zu verringern, wollen Sie bis Ende
des Jahres 2001 - die Kollegin Niehuis hat darauf noch
einmal verwiesen - einen Bericht zur Einkommens- und
Berufssituation erstellen. Nichts gegen eine solche sicherlich notwendige Berichterstattung, aber wo bleiben
die konkreten Maßnahmen? Wir wissen, dass gerade bei
den Erwerbseinkommen massenhaft mittelbare Diskriminierung von Frauen vorkommt. Handeln Sie hier endlich
und vertrösten Sie uns bitte nicht, wie gestern in der Ausschusssitzung, immer darauf, dass wir erst Halbzeit haben
und die Legislaturperiode noch zwei Jahre dauert.
({1})
Ich denke, die Frauen warten darauf, dass etwas getan
wird.
({2})
Wir müssen darüber nachdenken, wie wir die Tarifparteien dazu bringen, endlich mit den frauendiskriminierenden Tarifabschlüssen Schluss zu machen - notfalls durch
gesetzliche Maßnahmen. Ich weiß, dass das nicht ganz
einfach ist, weil selbstverständlich die Tarifautonomie
nicht angetastet werden darf, wofür auch und gerade die
PDS steht.
Sie wollen die hohe Frauenarbeitslosigkeit abbauen.
Aber auch hier fehlen konkrete Zielsetzungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, Sie fordern in Ihrem Antrag die Regierung dazu
auf, sich bei der Kommission dafür einzusetzen, dass Referenzziele für die Mitgliedstaaten verbindlich festgelegt werden. Das begrüße ich ausdrücklich. Aber warum
haben Sie diese nicht im nationalen Aktionsplan festgelegt? Genau da hätten sie nämlich hineingepasst. Die Idee
ist ausgezeichnet: Für die Referenzziele sollen die mittleren Werte der jeweils drei erfolgreichsten Mitgliedstaaten
der Europäischen Union Maßstab sein. Wer erfolgreich
Diskriminierung bekämpft, wird zum Maßstab für die
anderen. Ich denke, die Bundesrepublik könnte hier mit
gutem Beispiel vorangehen und klare Ziele mit Zeitvorgaben für den Abbau der Diskriminierung von Frauen auf
dem Arbeitsmarkt festlegen. Im Übrigen würden Sie dafür
sofort Unterstützung von der PDS bekommen.
({3})
Derzeit wird sehr viel Bilanz über zehn Jahre deutsche
Einheit gezogen. Es lohnt sich, ausdrücklich und dezidiert
die Situation von Ostfrauen zu betrachten. Denn eines
steht fest: Der Transformationsprozess war und ist gerade
für sie ein Prozess voller Gewinne und Verluste. Was sie
an politischer Partizipation gewonnen haben, haben sie an
ökonomischer und sozialer Unabhängigkeit verloren. Die
Erwerbstätigenquote der Frauen im Osten ist rapide gesunken. Sie beträgt inzwischen nur noch gut 56 Prozent;
im Westen sind es 55 Prozent. Wir haben es hier mit einer
Angleichung zu tun, die nicht gewollt war - vor allem
nicht von den Frauen im Osten. Die Zahlen zeigen, in
welch gigantischem Ausmaß Frauen im Osten in den vergangenen zehn Jahren Arbeitsplätze verloren haben. Allerdings - das ist bemerkenswert - lassen sich die Frauen
in den neuen Ländern nach wie vor nicht vom Arbeitsmarkt verdrängen. Sie haben sich eben nicht, wie viele
- vor allem Herren in abgewählten Regierungskreisen wollten, in die stille Reserve zurückgezogen. Sie behaupten ihren Anspruch auf Berufstätigkeit, indem sie sich
nach wie vor bei den Arbeitsämtern arbeitslos melden.
Zu oft mussten wir uns in den vergangenen Jahren und
erst letzte Woche vom Präsidenten der Bundesanstalt für
Arbeit in der „Super Illu“ sagen lassen, die Probleme auf
dem ostdeutschen Arbeitsmarkt hätten mit der so genannten ungebrochenen Erwerbsneigung von Frauen zu tun.
Mit solchen Argumentationen muss jetzt wirklich Schluss
sein.
({4})
Wir sehen, es ist nach wie vor eine große Herausforderung, jede Form von Diskriminierung aufgrund des
Geschlechts wirksam zu bekämpfen. Soziale Gerechtigkeit - das sei in aller Deutlichkeit gesagt - gibt es nur mit
und durch Chancengleichheit der Geschlechter.
({5})
Das Wort hat nun die
Kollegin Christel Humme, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Zunächst einmal ein Wort an Frau
Lenke, die es nicht geschafft hat - das tut mir sehr Leid -,
sich über die Lebenswirklichkeit des letzten Jahres zu
informieren. Ich hätte nicht damit gerechnet - das muss
ich wirklich sagen -, dass Sie nach einem Jahr immer
noch die 630-Mark-Jobs anführen, wo wir genau wissen,
dass mittlerweile 4 Millionen geringfügig Beschäftigte
gemeldet sind. Das heißt also, dass kein Arbeitsplatz
wirklich weggefallen ist.
({0})
Hinzu kommt, dass diese Frauen endlich einmal abgesichert beschäftigt sind. Das ist das eine.
Es ist schon interessant, Frau Störr-Ritter, welche Ergebnisse dabei herauskommen, wenn sich zwei Personen
eine Statistik ansehen. Sie stellen fest, dass 25 Prozent der
Frauen zufrieden sind. Ich allerdings stelle fest, dass
78 Prozent der Frauen wollen, dass mehr für Gleichstellung getan wird.
({1})
- Das haben Sie so nicht zitiert, Sie haben es nicht wahrgenommen, sondern einfach beiseite gedrängt.
Ganz wichtig dabei ist, dass die Frauen dabei die Chancengleichheit im Arbeitsleben als erstes und wichtigstes
Kriterium nennen. All diesen Frauen kann ich heute sagen: Diese Forderung war in den zurückliegenden Monaten Motor für die Politik der Regierungskoalition und ich
garantiere: Das bleibt auch so.
({2})
Liebe Kollegen und Kolleginnen, wir, die Fraktionen
von SPD und Bündnis 90/Die Grünen, haben gemeinsam
Mitte Juni 1999 neue Initiativen zur Frauenbeschäftigung
gefordert. Die Bundesregierung hat im gleichen Monat ihr
Programm „Frau und Beruf“ verabschiedet und damit einen Neuaufbruch bei der Gleichstellungspolitik eingeleitet. Seit Juni 1999 sind nur 16 Monate - ich betone das vergangen, in denen wir mehr in Sachen Gleichstellung
von Frauen und Männern auf den Weg gebracht haben als
die alte Regierung in 16 Jahren.
({3})
Unsere Politik bringt endlich den entscheidenden Fortschritt. Künftig werden im Erwerbsleben die Chancen
nicht mehr nach dem Geschlecht, sondern nach Fähigkeiten und Leistung vergeben. Ich will Ihnen das aus
Zeitgründen nur anhand einiger Projekte nachweisen.
Frau Staatssekretärin Niehuis wie Frau Schewe-Gerigk
haben auch schon einige Projekte genannt. Entscheidend
ist, dass das Projekte sind, die bereits beschlossen wurden
und die die Forderung nach Chancengleichheit von
Frauen und Männern im Erwerbsleben praktisch umsetzen.
Wir bringen mehr Frauen in IT-Berufe - das wurde
auch schon gesagt - durch Förderprogramme wie D 21
und „Frauen ans Netz“. Wir fördern Frauen in Forschung
und Wissenschaft mit dem Hochschulsonderprogramm III
und ermöglichen Teilzeit beschäftigten Arbeitnehmerinnen durch die Neuregelung des Altersteilzeitgesetzes, Altersteilzeit in Anspruch zu nehmen. Außerdem geben wir
jungen Männern, wie hier schon mehrfach gesagt wurde,
durch die Neuregelungen von Bundeserziehungsgeldgesetz und Elternzeitgesetz eine realistische Chance, die
Entwicklung ihrer Kinder von Anfang an intensiv mitzuerleben. Wir machen endlich wieder eine familien- und
kinderfreundliche Politik. Dafür stehen Kindergelderhöhung und Steuerreform.
Ganz entscheidend ist aber: Wir haben die Gleichstellung zum Leitbild unserer Politik gemacht. Der Fachbegriff hierfür lautet - ich bitte Sie auf der rechten Seite, gut
zuzuhören - „gender mainstreaming“. Das heißt, bei jeder
politischen Entscheidung, bei jedem Konzept wird mit zu
beachten sein, welche Auswirkungen dies für Männer und
Frauen hat.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schwaetzer?
Ja, bitte.
Frau Schwaetzer,
bitte sehr.
Frau Kollegin,
auch Sie erwähnen jetzt die Initiative D 21. Wenn ich es
richtig sehe, ist das eine Initiative der Wirtschaft, in die
Wege geleitet von den großen IT-Firmen wie zum Beispiel IBM und Alcatel. Deswegen interessiert es mich
sehr, welche speziellen Förderprogramme die Bundesregierung anbietet, was hierbei vereinbart wurde und wo
sich das im Haushalt wiederfindet.
Die Initiative D 21 geht vom
Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
aus, das auch Geldgeber ist und diese Initiative begleitet.
Ich meine, das reicht als Auskunft. Ich kann jetzt spontan
die Haushaltsstelle nicht nennen, aber kann sagen: Das
Ministerium ist Initiator.
({0})
Sie gestatten keine
weitere Zwischenfrage, wenn ich es richtig verstanden
habe. - Danke schön.
({0})
Die Frau Kollegin gestattet keine weitere Zwischenfrage. Deswegen hat sie
weiter das Wort.
Wenn sich Unternehmen in
vorbildlicher Weise daran beteiligen, können wir das nur
begrüßen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Sachen Gleichstellung werden die öffentlichen Arbeitgeber - das ist
wichtig - mit gutem Beispiel vorangehen. Dazu schaffen
wir das Gleichstellungsgesetz für die Bundesverwaltung.
Es ist auch höchste Zeit; denn das alte Frauenfördergesetz
für die Bundesverwaltung, das wir Ihnen, meine Herren
und Damen von der CDU/CSU und F.D.P., verdanken, hat
leider keine durchgreifenden Erfolge erzielt. Mit Ihrem
Antrag kritisieren Sie von der CDU/CSU sogar die Ergebnisse Ihrer eigenen Politik in der Vergangenheit.
Gleichstellung im öffentlichen Dienst allein reicht
nicht aus. Erreichen wir dort nur 3,7 Millionen der beschäftigten Frauen, sind es in der Privatwirtschaft 12 Millionen. Deshalb werden wir in den kommenden Monaten
ein Gleichstellungsgesetz auch für die Privatwirtschaft
vorlegen. Denn wir wissen, Frauen ziehen auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor den Kürzeren: bei der Ausbildungsplatz- wie bei der Arbeitsplatzsuche, bei den beruflichen Aufstiegschancen, bei der Bezahlung. Selbst wenn
sich Frauen tatsächlich dazu entscheiden, einen so genannten Männerberuf - zum Beispiel im Ingenieurbereich - zu ergreifen, schützt sie das häufig nicht vor Arbeitslosigkeit. Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarktund Berufsforschung belegt, dass in diesen Berufsfeldern
nach wie vor Männer bevorzugt werden.
Damit ist klar: Unsere größte Herausforderung ist der
Kampf gegen die Vorurteile und Stereotype in den Köpfen. Sie halten sich hartnäckig bei Entscheidungsträgern
und leider auch bei Entscheidungsträgerinnen. Das macht
Ihr Antrag, meine Herren und Damen von der CDU/CSU,
ganz besonders deutlich. Ihr zentraler Vorschlag, explizit
mehr Frauenarbeitsplätze im Telebereich zu schaffen,
zeigt das Rollenverständnis, das Sie nach wie vor pflegen:
Die Frau soll Heimarbeit leisten und so wiederum Familien- und Erwerbsarbeit allein schultern. Das entspricht
nicht unseren Vorstellungen.
Bei vielen herrscht immer noch die irrige Annahme
vor, Gleichstellung sei eine kostspielige Angelegenheit
und nicht finanzierbar. Dabei ist es im Interesse der Wirtschaft, die Qualifikation und das Leistungspotenzial der
Frauen besser zu nutzen. Alles andere ist skandalöse VerChristel Humme
schwendung von Ressourcen, eine Verschwendung von
Wissen, Bildung und Erfahrung.
({1})
Das erkennen immer mehr Betriebe. Wenn Sie, Frau
Störr-Ritter, an den fünf Dialogforen teilgenommen hätten - Sie hätten diese Möglichkeit gehabt -, hätten Sie sicherlich auch erfahren, welche Möglichkeiten gerade in
den Betrieben und den Unternehmen, die Sie immer so
gern unterstützen, gegeben sind. Ich möchte Ihnen nur ein
Beispiel nennen, und das stammt aus einem mittelständischen Unternehmen, nicht aus einem großen Konzern.
Ein mittelständisches Unternehmen aus dem Schwäbischen hat einen Betriebskindergarten errichtet, Kosten:
140 000 DM pro Jahr. Auf die Frage aus einem anderen
Unternehmen „Wie könnt ihr euch das nur leisten?“ folgte
die Gegenfrage: Wie hoch ist euer Krankenstand? - Der
Kollege: Ganz normal, er liegt bei 5 bis 6 Prozent. - Das
können wir uns nicht leisten, so der schwäbische Mittelständler. Der Krankenstand seines Unternehmens liegt bei
nur 2 bis 3 Prozent. Jeder Prozentpunkt Krankenstand weniger bedeutet für das Unternehmen Einsparungen von
mehreren hunderttausend Mark.
Sie sehen, meine Herren und Damen von der
CDU/CSU und der F.D.P.: Es geht.
({2})
Maßnahmen zur Gleichstellung von Männern und Frauen
führen nicht zwangsläufig, wie Sie beschreiben, in den
Ruin, sondern erhöhen im Gegenteil den Profit, womit
auch Ihre These widerlegt ist. Wir finden, es ist etwas Anständiges, Frau Störr-Ritter, Gewinn zu machen, und das
auch mit den Frauen. Denn Frauen sind nicht unbedingt
ein Verlustfaktor, wie Sie unterstellen.
({3})
Frau Lenke, Sie haben darauf verwiesen, dass Sie gerade für die kleinen und mittelständischen Unternehmen
Verständnis wecken wollen. Auch Ihnen hätte ich geraten,
an diesen Dialogforen teilzunehmen; denn dort wurde
deutlich, dass gerade die kleinen und mittelständischen
Unternehmen hervorragende, kreative Lösungen zur
Gleichstellung von Frauen und Männern entwickelt haben und mit Erfolg praktizieren. Das gilt für Traditionsunternehmen genauso wie für Unternehmen im Bereich
der New Economy.
Frau Störr-Ritter, wir freuen uns natürlich genauso wie
Sie, dass es viele gute Beispiele unter den Unternehmen
gibt, die wir selbstverständlich unterstützen wollen. Dennoch müssen wir sagen, dass die Zahl der Betriebe in der
Bundesrepublik, die ihren Blick auf die Gleichstellung
richten, angesichts der Gesamtzahl von 2 Millionen Betrieben bedauerlicherweise noch zu gering ist.
({4})
Darüber täuscht Ihre positive Darstellung nicht hinweg.
({5})
Darum werden wir noch etwas nachhelfen.
({6})
- Das werde ich Ihnen jetzt erklären. Sie hätten im letzten
Jahr eine Eigenschaft mehr pflegen müssen, nämlich das
Zuhören. Das wäre nicht schlecht gewesen.
({7})
- Das „nachhelfen“ erkläre ich Ihnen jetzt, Frau Lenke,
ganz persönlich, wenn Sie so wollen.
Wir werden das mit unserem Gleichstellungsgesetz für
die Privatwirtschaft tun.
({8})
- Hören Sie doch einmal zu! - Unser Gesetz wird die Unternehmen verpflichten, Maßnahmen zur Chancengleichheit zu verwirklichen. Aber jedes Unternehmen soll
zunächst selbst entscheiden können - das finde ich ganz
wichtig -, welche Maßnahmen geeignet sind. Das ist gut
so; denn jeder Betrieb kennt seine Voraussetzungen am
besten und kann so individuell reagieren.
Deshalb sieht unser Gesetz zwei Stufen vor.
Nun möchte die Kollegin Lenke Sie etwas fragen.
Ja, wenn es sein muss.
Bitte sehr.
Frau Kollegin, Sie haben eben
wörtlich gesagt, dass dieses Gleichstellungsgesetz für jedes Unternehmen gelte. Ich möchte gerne nachfragen, ob
das auch in Ihrem Gesetzentwurf enthalten ist. Ich habe
nämlich beim Ministerium angefragt. Zu diesem Zeitpunkt stand die Anzahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ab der das Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft gelten soll, noch nicht fest. Ich bedanke mich
herzlich dafür, dass Sie hier gesagt haben: jedes Unternehmen.
({0})
Es war mehr eine
Kurzintervention. Aber das ist in Ordnung. - Frau Kollegin, Sie haben das Wort.
Selbstverständlich würden
wir uns freuen, wenn jedes Unternehmen unser Ziel der
Gleichstellung verwirklichen würde. Das ist gar keine
Frage.
Zurück zu dem Gesetz, das wir verabschieden wollen.
In der ersten Stufe werden wir Mindeststandards festlegen. Diesen Punkt hat die Frau Staatssekretärin bereits erwähnt. Es ist dann die Aufgabe der Betriebs- und Tarifpartner, diese Mindeststandards zu erfüllen.
Allerdings sind die Maßnahmen nicht beliebig, sondern müssen überprüfbar sein. Sie müssen Kernbereiche
der betrieblichen Gleichstellung erreichen. Dazu gehören
unter anderem die Verankerung des „gender mainstreaming“ als unternehmerisches Leitbild, die betriebliche
Umsetzung des Lohngleichheitsgebots, die Erhöhung des
Frauenanteils in Führungspositionen, die Einführung familiengerechter Arbeitszeiten sowie die Qualifizierung
der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter während der Unterbrechung der Erwerbsarbeit. Die Unternehmen erhalten
eine angemessene Frist, die ihnen die Erfüllung der Mindeststandards ermöglicht.
({0})
Führen die freiwilligen Vereinbarungen nicht zu einem
überprüfbaren Ergebnis, greifen die gesetzlichen Vorschriften. Unser Gesetz setzt also in der ersten Stufe ganz
und gar auf Freiwilligkeit. In der zweiten Stufe werden
bei Nichterfüllung Sanktionen greifen.
({1})
Wir werden uns im Rahmen der politischen Debatte
noch Gedanken darüber machen müssen, wie diese Sanktionen aussehen könnten. Ganz nach dem Vorbild der
USA könnten die Unternehmen, die sich der Gleichstellung verweigern, von der öffentlichen Auftragsvergabe
ausgeschlossen werden. In den USA wird eine solche Politik äußerst erfolgreich betrieben, und das schon seit Jahrzehnten.
({2})
Im Übrigen, Frau Lenke: Deutsche Unternehmen, die
in den USA tätig sind, erfüllen die dortigen strengen
gleichstellungsrechtlichen Auflagen widerspruchslos.
Das geht dann plötzlich.
({3})
Das Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft ist
das Herzstück unserer Frauen- und Familienpolitik. Für
die Durchsetzung von Gleichstellung werden wir weitere
gesetzliche Regelwerke nutzen. Das gilt für die anstehende Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes genauso wie für die Überprüfung der Einführung eines Verbandsklagerechts.
Die Schweiz hat das Verbandsklagerecht mit Erfolg
eingeführt. Dort kommt es in der Regel überhaupt nicht
mehr zu Klagen; denn aus Furcht vor der Klage vermeiden die Arbeitgeber Diskriminierung schon im Vorhinein.
Das Verbandsklagerecht hat also eine große präventive
Wirkung.
({4})
Liebe Kollegen und Kolleginnen, mit unserem Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft machen wir genau
das, was die Bevölkerung von uns erwartet; denn die
Mehrheit der Deutschen begrüßt eine aktive Gleichstellungspolitik, besonders zur Herbeiführung gleicher Aufstiegschancen und gleicher Bezahlung für Frauen und
Männer. Auch das ist das Ergebnis der anfangs schon erwähnten Umfrage. Diese Erwartung der Bevölkerung erfüllen wir natürlich gern. Dafür haben wir die ersten
16 Monate seit der Verabschiedung des Programms „Frau
und Beruf“ hervorragend genutzt.
Ich betone noch einmal: Wir haben diese 16 Monate
besser genutzt als Sie, meine Herren und Damen von der
CDU/CSU und F.D.P., die 16 Jahre Ihrer Regierungsverantwortung. Deshalb bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen; denn, Frau Bläss, ich bin sicher, dass die nächsten 24 Monate so genutzt werden, dass wir hinterher
gemeinsam sagen können: Beim Thema Frau und Beruf
ist nicht nur ein Aufbruch gemacht, da ist endlich ein
Durchbruch geschafft.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Nun hat die Kollegin
Ingrid Fischbach, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Liebe Frau Humme, Sie sagen, wir hätten nicht wahrgenommen; Frau Kollegin
Störr-Ritter hätte nicht wahrgenommen, die CDU hätte
nicht wahrgenommen. Wir nehmen wahr, dass die Frau
Staatssekretärin ganz einsam und verlassen auf der Regierungsbank sitzt.
({0})
Das ist eine Aussage, die wir festigen können. Ist Frauenarbeitslosigkeit, Frauenförderung kein Thema mehr für
uns? Es scheint ja so zu sein. Dann wundere ich mich allerdings, dass Sie Anträge stellen.
({1})
Wenn man über Anträge spricht, dann muss auch die Regierung vertreten sein; denn sie muss die Anträge umsetzen.
({2})
Ich mahne eine bessere Besetzung der Regierungsbank
an und danke Ihnen, Frau Staatssekretärin, dass Sie da
sind.
Frauenarbeitslosigkeit und Frauenförderung ist immer noch ein Thema in Deutschland und in Europa. Wir
alle wissen um die Probleme. Aber die Realität zeigt, dass
sich nicht viel geändert hat. Sowohl in der EU als auch in
der Bundesrepublik ist die Arbeitslosenquote bei den
Frauen höher als die entsprechende Quote der Männer.
In der Lebensplanung von Frauen nimmt die Erwerbstätigkeit einen wesentlichen Platz ein. Veränderte Gesellschaftsstrukturen tragen dazu bei. Aber trotz hoher
Motivation und ausgezeichneter Qualifikation der Frauen
ist ihre Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt noch
nicht erreicht. Wir haben keine Gleichstellung der Geschlechter. 1999 verdienten die Frauen in den alten Bundesländern im Durchschnitt 23 Prozent weniger als ihre
männlichen Kollegen; in den neuen Ländern waren es
10 Prozent. Ich denke, das ist aussagekräftig.
Obwohl Frauenbeauftragte und Frauenförderung in
vielen Betrieben und auch bei öffentlichen Dienstleistern
zum festen Bestandteil gehören, sind lediglich 3 Prozent
der Führungspositionen in der Wirtschaft mit Frauen besetzt. Wir haben in den letzten Jahren immer wieder an
Unternehmen und Betriebe appelliert, Frauen in die Chefetagen zu lassen.
({3})
Jetzt fassen wir uns einmal an die eigene Nase, Frau
Kollegin: Wie sieht das hier im Parlament, in der Politik
aus? Wir haben drei hohe Staatsämter. Die alte Bundesregierung hat es zumindest geschafft, eine Position mit einer Frau zu besetzen. Sie haben keine davon mit einer
Frau besetzt.
({4})
Ich setze noch eins drauf. Ich weiß, dass Ihnen das
wehtut, gerade Ihnen, werte Kolleginnen von der SPD
und den Grünen.
({5})
- Wenn es Ihnen nicht wehtäte, würden Sie jetzt nicht reagieren. - Selbst in der Partei haben wir eine Frau an der
Spitze. Davon sind Sie noch weit entfernt. Ich weiß, dass
Ihnen das wehtut und dass Sie das nicht gerne hören. Aber
ich sage Ihnen: Gehen Sie mit gutem Beispiel voran und
wählen auch Sie Frauen in hohe Parteiämter
({6})
und Staatsämter; denn nur wenn mehr Frauen verantwortungsvollere Positionen einnehmen und dabei das gleiche
Gehalt wie die männlichen Kollegen bekommen, wird
sich das neue Frauenbild in den Köpfen leichter verwirklichen lassen. Doch davon sind wir noch weit entfernt.
Weibliche Führungskräfte bleiben bei den meisten Unternehmen, in Wissenschaft, in Forschung, in den Parteien
und in der Politik weiterhin die Ausnahme.
Eine der Ursachen dafür ist sicherlich die starke Konzentration der Frauen auf traditionelle Frauenberufe. Der
Strukturwandel innerhalb der Gesellschaft hin zu einer Informationsgesellschaft erfordert den Erwerb neuer
Schlüsselqualifikationen. Leider befindet sich momentan
nur ein geringer Teil von Frauen in fachspezifischen Ausbildungen und Berufen der Informations-, Medien- und
Technologiebranche. Daher ist hier eine gezielte Frauenförderung nötig.
Die Zahl der erwerbstätigen Frauen, die ein Unternehmen gründen und sich selbstständig machen, ist ebenfalls
sehr gering. Lediglich 6 Prozent wagen diesen Schritt.
Warum tun sich Frauen so schwer? Wir haben einige
Begründungen gehört, aber ich meine, das Hauptproblem
ist und bleibt die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Oft scheitern die Erwerbstätigkeit und der berufliche Aufstieg von Frauen an der Nichtvereinbarkeit von Familie
und Beruf.
({7})
Job und Familie müssen zusammenpassen.
({8})
- Ich sage Ihnen gleich, was wir gemacht haben. Darauf
können Sie aufbauen.
({9})
Für 77 Prozent der Frauen ist die Vereinbarkeit von Familienleben und Beruf das Allerwichtigste. Wer je einen
Haushalt organisiert hat, weiß, welchen Spagat man dabei
leisten muss.
({10})
Berufstätigkeit und Elternschaft miteinander zu vereinbaren darf in einer modernen Gesellschaft nicht das ausschließliche Problem von Frauen sein. Hier ist echte Partnerschaft gefragt, Partnerschaft in der Familie und
Partnerschaft in der Arbeitswelt.
Moderne Arbeitszeitmodelle, die Platz für ein Leben
mit Kindern in einer partnerschaftlichen Aufgabenteilung
lassen, müssen entwickelt werden. Kindererziehung darf
sich nicht nachteilig auf das Erwerbsleben auswirken. Es
gilt, familienfreundliche Unternehmensstrukturen zu
schaffen. Familien müssen eine deutliche Unterstützung
vonseiten der Unternehmer erhalten.
Die bestehende Förderung von Teilzeitarbeit auch für
Fach- und Führungskräfte muss ausgebaut werden. Meine
Damen und Herren der Koalition, setzen Sie die gute Arbeit der alten Regierung fort, dann sind Sie auf dem richtigen Wege.
({11})
Politik muss angemessene Rahmenbedingungen zur
besseren Vereinbarkeit schaffen, insbesondere im Bereich
der Kindererziehung. Gefragt ist hier ein bedarfsgerechtes Angebot. Aufgrund unterschiedlicher persönlicher
Wünsche, verschiedener Familienphasen und sich ändernder Lebenssituationen muss das bestehende Betreuungsangebot flexibel ausgebaut und weiterentwickelt
werden.
({12})
Liebe Frau Staatssekretärin, Sie stehen hier im Wort.
Lassen Sie uns gemeinsam in Zusammenarbeit mit Ländern und Kommunen für eine Weiterentwicklung des Betreuungsangebots sorgen. Maßnahmen für Krippen- und
Hortplätze, Tagespflege und Schulbetreuung dürfen nicht
- wie zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen - auf der
Stelle treten oder dem Rotstift zum Opfer fallen.
({13})
Neue eindrucksvolle Ideen sind gefragt. Nehmen Sie
das Beispiel Saarland. Hier wird die Finanzierung im Kindergartenbereich neu überdacht, und zwar zugunsten der
Familien. Das ist die richtige Politik. Es ist eine Politik für
Familien, für Frauen. Davon können Sie noch lernen, da
bin ich sicher.
({14})
Denn Ihre augenblickliche Politik belastet Familien und
Frauen und entlastet sie nicht. Frauen sind in Ihrer Politik
sowieso die großen Verliererinnen.
({15})
- Ihnen wird das Lachen noch vergehen.
Ich habe hier im letzten Jahr zu den 630-Mark-Jobs geredet. Jetzt bleiben wir einmal bei der aktuellen Rentenpolitik. Hier haben Sie sich als Frauenförderer auf die
Fahne geschrieben, dass Sie etwas für die Frauen tun.
Kommen deshalb die eigenständige Alterssicherung und
die Rente in Ihrem Antrag überhaupt nicht vor? Haben Sie
letztes Jahr schon gewusst, dass die Frauen wieder auf der
Strecke bleiben?
({16})
Wo war denn die Frau Ministerin bei der Beratung der
Rentenreform? Wenn das das Ergebnis Ihrer Frauenpolitik ist, dann muss ich sagen: Ausnahmsweise schließe
ich mich dem „Stern“ an, Frau Ministerin: Note: mangelhaft!
({17})
Im Januar haben Sie im Ausschuss noch großmütig auf
die Rentenkonsensgespräche verwiesen und gesagt, es
gebe eine große Übereinstimmung über die verstärkte Anerkennung von Kindererziehungszeiten. Frau ScheweGerigk, Sie haben das gerade noch einmal deutlich gemacht. Allerdings steht jetzt im fünften Entwurf - ob es
der fünfte Entwurf oder schon der sechste ist, ich bin mir
nicht mehr sicher - von Riester, dass nur Teilzeitbeschäftigte einen sozialen Ausgleich erhalten. Die Kindererziehungsleistungen von Vollerwerbstätigen werden nicht
besser anerkannt.
({18})
Ist das gerechte Frauenpolitik?
Sie bewerten Kindererziehung unterschiedlich, nämlich in Abhängigkeit von Kinderzahl, von Erwerbstätigkeit und von dem damit verbundenen Verdienst.
Ich möchte folgenden Punkt in Erinnerung rufen,
meine Damen und Herren der Koalition: Sie schreiben
sich die Anrechnung der Kindererziehungszeiten auf
Ihre Fahne. Es war die alte Bundesregierung aus
CDU/CSU und F.D.P., die es möglich gemacht hat, dass
Kindererziehungszeiten überhaupt angerechnet werden.
Es war die alte Bundesregierung, die die additive Anrechenbarkeit ermöglicht hat. Es war die alte Bundesregierung, die den entsprechenden Betrag auf 100 Prozent des
Durchschnittlohns angehoben hat. Das waren nicht Sie.
({19})
Wo bleibt bei Ihnen überhaupt die Mutter mit einem
Kind, die nicht erwerbstätig ist? Die kommt bei Ihnen
überhaupt nicht vor. Das ist für mich reine ideologische
Frauenpolitik und nichts anderes.
({20})
Bei der Anerkennung von Kindererziehungszeiten
sollten kindererziehungsbedingte Nachteile, unabhängig
von der Erwerbstätigkeit, in stärkerem Maße als bisher
ausgeglichen werden.
Die Frauen, die Kinder vor 1992 geboren haben, kommen bei Ihnen überhaupt nicht vor. Auf diesen Punkt gehe
ich nun nicht näher ein.
({21})
Auch bei dem Ausgleichsfaktor sind die Frauen stärker
betroffen als die Männer. Maßstab Ihrer Berechnungen ist
der „Eckrentner“ mit 45 Versicherungsjahren. Sie selber
wissen, dass Frauen viel weniger Versicherungsjahre haben. Die tatsächliche Rente einer Frau läge in Zukunft
also deutlich unter 61 Prozent. Ist das Ihre Antwort auf die
Vermeidung von Altersarmut? Ist das Ihre Antwort auf
eine eigenständige Alterssicherung der Frau? Wir sagen
dazu: nein.
({22})
Lassen Sie Ihren großen Sprüchen auch Taten folgen.
Lassen Sie die Frauen nicht wieder im Regen stehen! Lassen Sie Frauen zu Gewinnerinnen werden. Wir helfen Ihnen dabei. Stimmen Sie unserem Antrag zu.
({23})
Jetzt hat die Kollegin
Andrea Nahles, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich mir die Redebeiträge
der CDU/CSU-Fraktion vor Augen führe, dann muss ich
feststellen, liebe Frau Fischbach, dass eine Frau an der
Spitze einer Partei leider noch nicht zu einer guten Gleichstellungs- und Frauenpolitik führt.
({0})
Wir Frauen in der SPD machen mit Gerhard Schröder lieber konkrete Gesetze zur Gleichstellung der Frau, als uns
nur in allgemeinen Appellen zu ergehen.
({1})
Das möchte ich an einem konkreten Beispiel deutlich machen: Wenn ich mir die Ausführungen Ihrer Parteivorsitzenden Frau Merkel - sie war doch einmal
Frauenministerin - zu diesem Thema ansehe, dann ist da
außer allgemeinen Appellen nichts zu finden. Ich darf sie
zitieren: „Wir wollen auch Vätern Mut machen, sich stärker in der Familienarbeit und in der Erziehung zu engagieren.“ Wo war Ihr Mut, als es darum ging, hier die Reform des Bundeserziehungsgeldes zu verabschieden? Da
haben Sie versagt und haben abgelehnt.
({2})
Bei allgemeinen Appellen sind Sie also stark. Wenn es
aber konkret wird, dann kneifen Sie, meine Damen und
Herren von der CDU/CSU.
Kommen wir zu der Situation in den Ländern und sehen wir uns einmal an, was Sie machen, wenn Sie an die
Macht kommen. In Hessen hatten wir beispielsweise ein
sehr gutes Modell von Grundschulen mit festen Öffnungszeiten. Das haben die Kollegen von der CDU in
Hessen durch ein billiges Betreuungsangebot ersetzt,
({3})
das vielen Frauen nicht einmal ermöglicht, auch nur eine
Halbtagsstelle anzunehmen. Da kann ich als RheinlandPfälzerin mit Stolz auf die volle Halbtagsschule in Rheinland-Pfalz verweisen. Dort sind Sozialdemokraten in Regierungsverantwortung. Das negative Beispiel haben wir
in Hessen.
({4})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Annette
Widmann-Mauz? - Bitte sehr, Frau Kollegin, Sie haben
das Wort.
Frau Kollegin Nahles, stimmen Sie mir zu und ist es richtig, dass das
Land Rheinland-Pfalz, das Sie gerade erwähnt haben, das
Landeserziehungsgeld für Mütter im dritten Erziehungsjahr nach der Regierungsübernahme der Sozialdemokraten abgeschafft hat? Stimmen Sie mir außerdem zu und ist
es richtig, dass das Land Baden-Württemberg, das von der
CDU regiert wird, das Landeserziehungsgeld nach wie
vor bezahlt und die Einkommensgrenzen angehoben hat?
Ich stimme Ihnen nicht zu,
und zwar aus dem einfachen Grund, weil wir die durch
diese Kürzungen freigewordenen Mittel in eine aktive
Frauenförderpolitik umgeleitet haben.
({0})
Ich kann Ihnen auch ein Beispiel nennen. Wir haben in
Rheinland-Pfalz ein Programm aufgelegt, das es jungen
Müttern, die Sozialhilfeempfängerinnen sind, durch verschiedene Modellvorhaben ermöglicht, wieder erwerbstätig zu sein, indem wir ihnen einen Zuschlag auf das Kindergeld zahlen. Hier tun wir konkret etwas für Frauen.
Dorthin sind die Mittel in Rheinland-Pfalz geflossen. Genauso ist es uns durch die betreute volle Halbtagsschule,
wie ich es schon ausgeführt habe, gelungen, die Startchancen zu verbessern.
({1})
Frau Lenke möchte
eine Zwischenfrage stellen, Frau Kollegin.
Nein, ich glaube nicht, dass
dies noch etwas zur allgemeinen Erhellung beiträgt. Deswegen lehne ich es ab.
({0})
Der zentrale Punkt beim Programm „Frau und Beruf“
der Sozialdemokraten ist, dass wir von vornherein Frauenpolitik als Querschnittsaufgabe betreiben. Ich bin im
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung. Als wir das
JUMP-Programm aufgelegt haben, war es für uns von Anfang an selbstverständlich, dass wir die jungen Frauen
gemäß ihrem Anteil an der Arbeitslosigkeit in dieses Förderprogramm mit integrieren. Wir haben 38 Prozent junge
Frauen, die unter 25 Jahre alt und arbeitslos sind. Es ist
uns sogar gelungen, 43 Prozent junge Frauen in dieses
Programm zu integrieren und ihnen auf diesem Wege einen Start ins Erwerbsleben zu verschaffen. Daran können
Sie ganz konkret sehen, was wir tun.
Zum Zweiten wird auch das, liebe Frau Bläss, in die
SGB-III-Reform Einzug halten. Wir werden auch dafür
sorgen, dass die Arbeitsförderung von Frauen gemäß
ihrem Anteil an der Arbeitslosigkeit ins Arbeitsförderungsgesetz aufgenommen wird. Das können Sie von uns
erwarten. Auf diesem Auge sind wir nicht blind, wie es die
alte Regierung gewesen ist.
({1})
Ich möchte noch als Letztes hinzufügen: Trotz aller
Punkte, die Sie hier genannt haben - ich bin besonders
über die Frauen in Ihrer Fraktion enttäuscht -, schaffen
Sie es nicht, über allgemeine Willenserklärungen hinauszukommen und mit uns zusammen wirklich konkrete
Schritte zu unternehmen. Das ist für die Frauen sehr bedauerlich.
Aber nehmen Sie zur Kenntnis: Wir werden uns nicht
abhalten lassen. Wir werden die Erwerbsbeteiligung von
Frauen, die zurzeit in Westdeutschland bei 61 Prozent und
in Ostdeutschland bei 73 Prozent liegt, konsequent fördern. Unser Ziel ist es, dass sich am Ende unserer Regierung dieser Anteil von Frauen an der Erwerbstätigkeit
deutlich gesteigert haben wird. Daran können Sie uns
messen. Wir werden dann Bilanz ziehen. Darauf freue ich
mich schon.
Vielen Dank.
({2})
Nun hat die Kollegin
Dr. Martina Krogmann, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
Bekämpfung der Frauenarbeitslosigkeit ist natürlich vor
allem auch eine Frage der richtigen Wirtschaftspolitik. Ich
finde es schon sehr bedauerlich, dass der Bundeswirtschaftsminister bei dieser Debatte nicht anwesend ist.
Dies zeigt die gesamte Ignoranz und das Desinteresse der
Bundesregierung an der Frauenpolitik.
({0})
Frau Nahles, das Einzige, was ich von Ihnen an Konkretem zur Bekämpfung der Frauenarbeitslosigkeit gehört
habe, sind neue Leitlinien, gesetzliche Regelungen und
Zwangsquoten.
({1})
Aber mit noch mehr Regulierung und vor allem noch
mehr Bürokratie werden Sie die Beschäftigung von
Frauen nicht fördern, sondern im Gegenteil: Sie werden
sie behindern.
({2})
Wir haben doch parteiübergreifend alle ein Ziel, nämlich wirkliche Chancengleichheit für Frauen auf dem Arbeitsmarkt herzustellen. Aber die Frage ist doch, wie und
mit welchen Mitteln wir das erreichen wollen. Darin
unterscheiden wir uns völlig. Ihre Ansätze mit Zwangsquoten und Regulierung sind einfach nicht mehr zeitgemäß.
({3})
Sie müssen doch zur Kenntnis nehmen, dass wir uns gerade jetzt in einem enormen Wandel befinden: von der alten Industriegesellschaft zur modernen Wissens- und Informationsgesellschaft.
Was heißt das denn? Das heißt, dass sich nicht nur unsere Wirtschaft enorm und immer schneller verändert,
sondern auch die Arbeitswelt, die Arbeitszeit, die Arbeitsorganisation und damit natürlich auch unsere gesellschaftlichen Strukturen und - was entscheidend ist - unsere gesellschaftlichen Leitbilder.
Frau Kollegin, ich
darf Sie eben unterbrechen. Frau Schwaetzer, ich finde es
ein bisschen unfair, wenn man der Kollegin Rednerin den
Rücken zukehrt, um sich mit Kolleginnen und Kollegen
- zumal aus der eigenen Fraktion; wie soll ich denn das
verstehen? - zu unterhalten.
Frau
Schwaetzer, ich nehme es Ihnen nicht übel, weil ich ja
weiß, dass Sie zugehört haben.
In der alten Industriegesellschaft war der typische,
klassische Arbeitnehmer männlich, vollzeitbeschäftigt,
hatte einen Achtstundentag und eine Vierzigstundenwoche bei durchschnittlich 45 Jahren Erwerbsarbeit - meist
auch noch in der gleichen Firma - bis zur Rente und an
seiner Seite waren Frau und Familie. Diese Rollenverteilung war früher vorgegeben. Natürlich hat sich hier in den
letzten 50 Jahren vieles geändert - das möchte ich einmal
positiv hervorheben -, aber immer noch nicht genug.
Wie sieht es denn heute aus? Auf dem Weg in die Informationsgesellschaft wird es entscheidend darauf ankommen, flexibel zu sein. Die Zukunft der Arbeitswelt
liegt in flexiblen Arbeitsverhältnissen: Projektarbeit, Teilzeitarbeit, verschiedene Formen der Telearbeit. Es wird
mehr Formen der Bildung, Ausbildung und Weiterbildung
geben, Phasen der Selbstständigkeit und wieder Phasen
der Erwerbsarbeit.
Dieser fundamentale Wandel, diese neue Dynamik bieten gerade jetzt entscheidende Chancen für uns Frauen,
substanziell etwas zu verändern. Wir haben die große
Chance, alte Strukturen wirklich aufzubrechen und wirkliche Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt zu erreichen. Aber dazu brauchen wir in allererster Linie positive
Rahmenbedingungen. Wir brauchen nicht mehr die starren Strukturen von gestern, sondern wir brauchen weniger
Regulierung, mehr Dynamik und mehr Flexibilität.
({0})
Sie machen mit Ihrer Politik genau das Gegenteil. Sie
versuchen gerade jetzt, unsere Arbeitsmärkte in das starre
Korsett der alten Industriegesellschaft der 70er-Jahre
zurückzupressen.
({1})
Man denke an die schlimmen Neuregelungen bei den 630Mark-Jobs, beim Kündigungsschutz, beim Gesetz zur
Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit - die Beispiele
sind ja vorhin schon mehrfach genannt worden. Es kommt
jetzt noch schlimmer, mit dem Gesetz zur Teilzeitarbeit
und den befristeten Arbeitsverträgen. Damit würgen Sie
die dynamische Entwicklung der Informationswirtschaft
ab und verhindern neue Chancen gerade für uns Frauen.
({2})
Wo entstehen denn die neuen Arbeitsplätze, Herr Kollege?
({3})
Sie entstehen doch nicht mehr vorrangig im produzierenden Gewerbe und in der Industrie, sondern im Dienstleistungsbereich - hier vor allem im Bereich der neuen Medien und der modernen Informationstechnologien.
Schätzungen zufolge könnten hier in den nächsten Jahren
rund 500 000 neue Arbeitsplätze entstehen.
Das heißt doch für uns Frauen: Die Chancen sind jetzt
da, die Karten werden nun neu gemischt. Wir wollen hier
nicht noch in zehn Jahren stehen und über die spezifischen
Probleme von Frauen auf dem Arbeitsmarkt sprechen.
Wir wollen nicht, dass Frauen in der Internetwirtschaft
immer wieder nur die schlecht bezahlten Jobs abkriegen,
sondern wir wollen mehr Frauen in Führungspositionen
und wirkliche Chancengleichheit auf dem Weg in die Wissens- und Informationsgesellschaft.
({4})
Aber gerade im Bereich der neuen Technologien müssen wir Frauen noch aufholen; das ist die Wahrheit. In den
neuen Medienberufen haben wir nur einen Frauenanteil
von 25 Prozent.Von allen Internetnutzern in Deutschland
sind nur ein Drittel Frauen - damit liegen wir in Europa
unter dem Schnitt. Deshalb ist es extrem wichtig, heute
vor allem den Zugang von jungen Frauen und Mädchen
zu den neuen Technologien zu fördern. Wir müssen ihnen
Chancen bieten und ihr Interesse wecken - und das muss
in der Schule anfangen.
Ich unterstütze die Initiative „Frauen ans Netz“ ausdrücklich - das ist natürlich eine gute Sache -, aber sie alleine reicht noch nicht aus.
Das Wichtigste ist doch, dass Sie den Frauen nach dieser
guten Ausbildung auch eine Berufsperspektive geben,
dass gerade in den neuen Technologien Arbeitsplätze entstehen. Hier höre ich von Ihnen auch wieder nur: EU,
quantifizierbare Ziele, neue Aktionspläne, Programme,
Sofortprogramme. Aber das ändert doch nicht wirklich etwas an den Strukturen.
({5})
Wir müssen dazu kommen, dass wir unsere Strukturen
gerade jetzt ändern.
({6})
Wir brauchen eine moderne Wirtschaftspolitik, damit
neue Arbeitsplätze in den Zukunftsbranchen entstehen,
gerade für uns Frauen.
Vielen Dank.
({7})
Jetzt hat die Kollegin
Ulla Schmidt, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Krogmann, es
wäre für mich ganz interessant gewesen, von Ihnen zu erfahren, welche Strukturen wir denn brauchen und wie eine
moderne Unternehmenspolitik aussehen soll.
({0})
Ich möchte hier die verschiedenen Positionen gegenüberstellen, ohne noch einmal auf alles einzugehen. Frau
Kollegin Fischbach hat gesagt, wir müssten Teilzeitarbeit
fördern und man müsse fortführen, was die alte Bundesregierung begonnen hat. Wir legen einen Gesetzentwurf
vor, der einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit beinhaltet, sofern dem keine betrieblichen Gründe entgegenstehen. Dazu wird von Ihrer Seite gesagt, damit würden
wir wieder neue Strukturen schaffen, die das Wirtschaftswachstum behindern.
({1})
Ganz im Gegenteil, meine liebe Kolleginnen und Kollegen: Das behindert nicht das Wirtschaftswachstum.
Jene, die Sie uns immer als die so genannten großen Wirtschaftsfreunde vorstellen, nämlich meine Nachbarn, die
Niederländer, haben einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit für Männer und Frauen, und zwar einen generellen.
Wir gehen die Aufgabe an, wirklich familienfreundliche Strukturen in Betrieben zu ermöglichen. Mit dem
Elternzeitgesetz haben wir den ersten Schritt gemacht,
weil wir es für richtig halten, dass sich junge Eltern für
ihre Kinder Zeit nehmen und dass es eine Chance gibt,
Beruf und Familie miteinander vereinbaren zu können.
Wir machen in der Arbeitsmarktpolitik den zweiten
Schritt, indem wir sagen: Wir wollen überall da, wo es
der Betrieb ermöglicht, einen Anspruch der Menschen
auf Teilzeitarbeit verankern. Dies ist auch deshalb notwendig, weil jeder weiß, dass Arbeitszeitpolitik ein
Instrument der Beschäftigungsförderung, aber auch ein
Instrument moderner Unternehmenspolitik ist.
({2})
Das Denken, dass der teilzeitbeschäftigte Vater nur etwas lethargisch und zu faul zum Arbeiten ist, haben zwar
viele Unternehmensleitungen noch in ihrem Kopf, aber
das ist nicht gerade das, was man unter „just in time“ versteht, wenn es um die Unternehmensführung geht. Was
heute von den Kollegen und Kolleginnen der beiden Koalitionsfraktionen vorgestellt worden ist, sollte uns also
zumindest Anlass geben, einmal darüber nachzudenken.
Ich bin davon überzeugt, dass uns starre Gesetze nichts
helfen. Wir können vieles beschließen, aber damit haben
wir noch nicht die Unternehmenspolitik verändert. Wenn
wir aber jetzt den vorgeschlagenen Weg gehen, legen wir
es in die Verantwortung der Sozialpartner, dafür zu sorgen, dass das, was wir im Grundgesetz gemeinsam verabschiedet haben, umgesetzt wird, nämlich dass Männer
und Frauen in diesem Land gleichberechtigt sind. Es ist
daher auch Aufgabe des Staates, bestehende Ungleichheiten abzubauen. Dies ist ein Weg, der auf Verantwortung
setzt, der darauf setzt - wie hier gesagt wurde -, dass jede
Branche, vielleicht auch jeder Betrieb anders ist.
Lassen Sie uns doch diesen Weg gehen! Wir brauchen
uns hier ja nicht zu erzählen, dass neue Arbeitsplätze geschaffen werden müssen. Das wissen wir doch. Wir haben
eine Unternehmensteuerreform gemacht, die in diesem
Lande erst einmal wieder ein positives Investitionsklima
erzeugt.
({3})
- Das mag an Baden-Württemberg vorbeigehen - das
kann ich nicht so ganz beurteilen -, aber wir versuchen
wirklich, mit einer vernünftigen Arbeitszeitpolitik, mit einem vernünftigen Beschäftigungsförderungsgesetz all
das zu ermöglichen, was wir an Flexibilität brauchen.
Aber ich sage Ihnen auch ganz klar: Flexibilität bedeutet nicht Schutzlosigkeit. Schutzlosigkeit der ArbeitnehDr. Martina Krogmann
merinnen und der Arbeitnehmer wird es mit uns nicht
geben.
({4})
Deshalb wird die Frage der Frauenbeschäftigung sehr
eng damit zusammenhängen, inwieweit es gelingt, Beschäftigung zu organisieren. Jetzt ein kurzes Wort zur
Kollegin Fischbach: Frau Kollegin Fischbach, ich kann
Ihnen hier nicht alles erklären, was wir in der Frage der
Rentenreform diskutiert haben;
({5})
Frau Kollegin Schwaetzer wird mir Recht geben. Es ist
zwar etwas kompliziert, ich will dennoch versuchen, es in
einer Minute zu erläutern: Mit dem vorliegenden Referentenentwurf des Arbeitsministers wird für die Frauen
tatsächlich ein enormer Ausbau der eigenständigen Anwartschaften gewährleistet.
({6})
Es ist einfach unrichtig - Sie sollten es nachlesen, wenn
Sie mir nicht glauben -, dass nur Teilzeit beschäftigte
Frauen gefördert werden. Durch eine Veränderung der
Rente nach Mindesteinkommen schaffen wir es mit diesem Referentenentwurf zum ersten Mal, dass auch die Anwartschaften der unterdurchschnittlich bezahlten, Vollzeit
beschäftigten Frauen aufgewertet werden, und zwar in der
Erziehungszeit bis zum zehnten Lebensjahr des jüngsten
Kindes.
({7})
Es ist nicht nur so, dass Frauen Teilzeit arbeiten, wenn
sie Kinder erziehen, sondern es ist eine Tatsache, dass
Frauen unterhalb ihrer Qualifikation eingesetzt sind und
unterdurchschnittlich verdienen, weil sie Kinder haben
und Familienarbeit leisten. Das ist doch der Punkt.
({8})
Damit, liebe Frau Kollegin, machen wir jetzt Schluss. Wir
werten das auf.
Wir berücksichtigen mit diesem Entwurf auch Folgendes: Es gibt viele Frauen, die nicht erwerbstätig sein können, weil sie ein schwerst pflegebedürftiges Kind haben.
Für diese Frauen wollen wir die Anwartschaft, die sich auf
der Einzahlung in die Pflegeversicherung gründet, bis
zum 18. Lebensjahr des Kindes aufwerten, damit diejenigen, die diese Aufgabe wahrnehmen, nicht im Alter dafür
bestraft werden, dass sie sich Zeit genommen haben und
sich positiv zu einem pflegebedürftigen, behinderten
Kind bekannt haben. Wir wollen versuchen, das mit der
Rentenreform etwas auszugleichen.
Frau Kollegin, denken Sie an Ihre Redezeit!
Ich könnte Ihnen hier
noch einige andere Veränderungen aufzählen, die alle eines anerkennen: Es sind vor allem die Frauen, die die Familienarbeit und die gesellschaftlich notwendige Kindererziehung leisten und sie sind es eben auch, die Kinder in
die Welt setzen. Das ist einfach so. Wir versuchen, mit unseren Gesetzen zur Vereinbarkeit von Kindererziehung
und Beruf, zur Unterstützung der Arbeitsmarktpolitik und
mit der Rentenreform dafür zu sorgen, dass die Frauen,
die alles miteinander vereinbaren wollen, nicht noch bestraft werden.
Vielen Dank.
({0})
Ich gebe Frau Kollegin Fischbach das Wort zu einer Kurzintervention. Sie
müssen mir zugeben, dass ich eine Zwischenfrage nicht
mehr zulassen konnte. Ich wusste nicht, wo ich einhaken
sollte.
({0})
Insofern bitte ich um Nachsicht. Frau Kollegin Schmidt
darf darauf dann selbstverständlich auch antworten.
Frau Kollegin, ich
kann mich kürzer fassen. Sie haben sich so in Rage geredet, Sie waren ja gar nicht mehr zu unterbrechen. Ich finde
das gut, weil ich insofern mit meiner Äußerung wahrscheinlich den Nagel auf den Kopf getroffen habe.
Sie haben auf meine Frage, wo die nicht erwerbstätige
Frau mit einem Kind in Ihrem Rentenkonzept bleibt, nicht
geantwortet. Ich sage ganz deutlich: Sie gewichten hier
unterschiedlich. Was Sie bei der Teilzeitarbeit machen, ist
ja positiv zu bewerten, aber Sie vergessen einen Teil der
Frauen. Wenn wir von „Wahlmöglichkeiten“ sprechen,
heißt das für mich, dass ich als Frau die Entscheidung selber treffen möchte, wie ich mein Kind erziehe, das heißt,
ob ich zu Hause bleibe oder erwerbstätig bin.
({0})
Und es heißt für mich auch, dass ich dann für die Kindererziehung den gleichen sozialen Ausgleich bekomme wie
die anderen Frauen. Darauf sind Sie nicht eingegangen.
({1})
Darauf kann nun die
Frau Kollegin Schmidt eingehen. Bitte sehr.
Frau Kollegin
Fischbach, bei dem von Ihnen angesprochenen Problem
muss man die Frage stellen: Wofür kann die Solidargemeinschaft der Beitragszahlerinnen und Beitragszahler
aufkommen? Wir haben in der Frage, was die Gesellschaft
tun muss, eine ganze Menge geregelt. Wir haben nämlich
die Anrechnung der Kindererziehungszeiten, die ja richtigerweise schon 1992 in einem Umfang von drei Jahren
beschlossen worden war, zu eigenständigen Beitragsleistungen gemacht. Das heißt: In diesem Jahr zahlt der Staat
22 Milliarden DM in die Rentenkasse, und zwar etwas
Ulla Schmidt ({0})
über 800 DM pro Kind und Monat für einen Zeitraum von
insgesamt drei Jahren, damit eigenständige Beitragsleistungen, die grundgesetzlich geschützt sind, gezahlt werden. Damit ist zum ersten Mal Kindererziehung eine Renten begründende Maßnahme.
({1})
- Weil sie eigene Beitragsleistungen haben.
({2})
- Nein, Herr Kollege, das war vorher nicht. Kindererziehungszeiten galten nicht als eigene Beitragszeiten. Das ist
das Erste.
Das Zweite. Beitragsleistungen von Frauen und Männern, die nach dem dritten Lebensjahr ihres Kindes Teilzeit arbeiten oder unterdurchschnittlich verdienen, werten
wir um 50 Prozent, maximal bis zum Durchschnittseinkommen, auf. Das gilt für Frauen, die ein Kind haben, bis
es zehn Jahre alt ist. Bei Frauen, die mindestens zwei Kinder unter zehn Jahren haben, nehmen wir auch eine entsprechende Höherbewertung vor. Wir gehen davon aus,
dass die jungen Frauen heute, wenn sie nur ein Kind haben, das mindestens drei Jahre alt ist, in der Regel zumindest teilzeitbeschäftigt sind und sein wollen. Dann kommen sie in den Genuss der Höherbewertung.
Wenn sich eine Frau mit einem Kind entscheidet, zu
Hause zu bleiben,
({3})
dann kann - bei aller Frauenfreundlichkeit - nicht mehr
die Solidargemeinschaft dafür aufkommen. Das geht nur
dann, wenn Beiträge gezahlt werden. Das ist unser Standpunkt von Solidarität. Sie können nicht auf der einen Seite
immer davon reden, dass wir die Rentenversicherung in
Ordnung bringen müssen, und auf der anderen Seite nur
Vorschläge machen, die die Ausgaben steigern. Im Übrigen, Frau Kollegin Fischbach, hat von den Herren aus Ihrer Fraktion, die in der Kommission sitzen, wo wir darüber gesprochen haben, bisher niemand diesen Vorschlag
gemacht. Vielleicht sollten Sie das in Ihrer Fraktion einmal klären.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf
Drucksache 14/2746, und zwar zunächst zu dem Antrag
der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen zu
neuen Initiativen zur Frauenbeschäftigung. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 14/1195 anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Gegenstimmen
und Stimmenthaltungen ist so beschlossen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der PDS mit
dem Titel „Gleichstellung von Frauen und Männern im
Erwerbsleben“ auf Drucksache 14/1529 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Bei Gegenstimmen der PDS angenommen.
Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss, den Antrag der CDU/CSU mit dem
Titel „Bekämpfung der Frauenarbeitslosigkeit in
Deutschland“ auf Drucksache 14/1549 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Was macht die
F.D.P.? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die F.D.P. hat
sich mit denen zusammengetan, die für den Antrag stimmen wollten. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d
seiner Beschlussempfehlung, die Unterrichtung durch das
Europäische Parlament zu den besonderen Auswirkungen
der Frauenarbeitslosigkeit zur Kenntnis zu nehmen. Wer
folgt dieser Beschlussempfehlung? - Ich glaube, es kann
sich keiner gegen eine Empfehlung aussprechen, etwas
zur Kenntnis zu nehmen. Dann haben wir das zur Kenntnis genommen.
Ich danke den kämpfenden Damen für die interessante
Debatte.
({0})
Nun rufe ich den Zusatzpunkt 3 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({1})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Georg
Brunnhuber, Dirk Fischer ({2}), Dr.-Ing.
Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Transrapidprojekt zügig realisieren
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Winfried
Wolf, Eva Bulling-Schröter, Rolf Kutzmutz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Gesetzliche Verpflichtung zum Bau der
Transrapidstrecke Berlin - Hamburg aufheben
- zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang
Börnsen ({3}), Rudolf Seiters, Dirk
Fischer ({4}), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Ausbau und Modernisierung der Transrapid-Versuchsanlage Emsland und Fortsetzung der Planfeststellungsverfahren für die
Magnetschwebebahn-Referenzstrecke
Hamburg-Berlin
- Drucksachen 14/2359, 14/2524, 14/3183,
14/4135 Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Mertens
Ulla Schmidt ({5})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Fischer für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der
Transrapid ist eine hochmoderne und umweltfreundliche
Technologie. Er ist sprichwörtlich deutsche Wertarbeit.
(Beifall der Abg. Renate Blank ({0})
Die Bundesregierung ist leider dabei, diese hoffnungsvolle Technologie zu zerstören.
({1})
Sie gefährdet dadurch den Hochtechnologiestandort
Deutschland mit unabsehbaren Folgen für unsere Industrie und unsere Wirtschaft.
({2})
Nach dem völlig inakzeptablen Bauverzicht auf der
Strecke Hamburg-Berlin ist es daher jetzt umso wichtiger, die Magnetschwebebahntechnologie für unser Land
zu sichern. Um es unmissverständlich zu sagen: Innovative Politik erfordert auch die Bereitschaft zur Umsetzung, und das heißt: zur Anwendung.
({3})
Daher unsere klare Forderung, die Versuchsanlage im
Emsland als Referenz- und Demonstrationsstrecke zu
modernisieren und auszubauen und die Option für die
Transrapidstrecke Hamburg-Berlin aufrechtzuerhalten.
Nach unserer Überzeugung ist die Strecke Hamburg-Berlin unverändert wirtschaftlich, konstruktions- und sicherheitstechnisch möglich, und es war eben ein schlimmer
Fehler, dieses Projekt, in das viel Geld investiert worden
ist, zu zerstören.
({4})
Es ist für uns ganz klar, dass eine maximale Kostenobergrenze bei 6,1 Milliarden DM - „und keine Mark
mehr“, wie es immer hieß - nicht hätte eingezogen werden dürfen. Die Preisentwicklung und die Kostensteigerung durch Planungsverbesserungen, auch ökologischer
Art - insbesondere auch, um für die Bevölkerung Planungsverbesserungen zu realisieren - hätten wie bei sämtlichen anderen Infrastrukturprojekten in unserem Lande
berücksichtigt werden müssen. Wenn Sie zu gleichen Bedingungen eine Rad/Schiene-Strecke - nehmen Sie das
ganz prominente Projekt Köln-Frankfurt ({5})
oder eine Autobahn bauen wollten und diese Messlatte anlegten, wenn also die Rahmenbedingungen lauten, es darf
von der ersten Kostenfestsetzung bis zur Realisierung
keine inflationserzeugte Kostensteigerung geben und Planungsverbesserungen müssen im Projekt aufgefangen
werden, dann gäbe es in unserem Lande überhaupt kein
einziges Infrastrukturprojekt mehr. Das sind völlig irreale
Bedingungen, die Sie hier angewandt haben, nur um diese
Anwendungsstrecke zu zerstören. Das ist ein schlimmer
Fehler, den wir kritisieren.
({6})
Der Bauverzicht hat neue Impulse für den Arbeitsmarkt im Keim erstickt. Tausende neuer Arbeitsplätze im
Hochtechnologiesektor werden leichtfertig ins Ausland
verschenkt, bereits vorhandene in Deutschland verantwortungslos vernichtet.
Die Absage an die Magnetschwebebahn schadet Hamburg und auch dem Aufbau Ost. Es gibt eben nicht den erwünschten Schub an Zukunftstechnologie für die Region
Berlin-Brandenburg und den norddeutschen Raum, eine
Region, in der wir dringend solche Technologieschübe
und Struktureffekte benötigten. Hier entsteht eben nicht
die Entwicklungsdynamik, wie sie in anderen Regionen,
auch in Skandinavien, zum Beispiel am Großen Belt, am
Öresund, durch sehr teure aufwendige Großprojekte der
Infrastruktur zu verzeichnen ist.
Auch umweltpolitisch war dies eine haarsträubende
Fehlentscheidung. Einem ökologischen Spitzenprodukt
wird der Durchbruch versagt, obwohl geringe Lärmemission, ein hohes Maß an Energiesparsamkeit, ein sehr geringes Maß an Landverbrauch und andere Vorteile unbestritten für diese Technologie und ihre Anwendung
gesprochen hätten.
Die Bundesregierung hätte das Planfeststellungsverfahren auf der Strecke Hamburg-Berlin erfolgreich abschließen müssen.
Wenn das geschehen wäre, dann wäre der Transrapid-Verkehrstechnik die künftige Anwendung gesichert worden.
Aber die abrupte Beendigung der Planfeststellungsverfahren durch vorschnelle Rücknahme der Anträge, und
zwar kurz vor deren Abschluss, also kurz bevor man die
rechtskräftigen Beschlüsse hätte entgegennehmen können, hat mehrere Jahre Planungsarbeit zerstört und hat
dazu geführt, dass Gelder des Industriekonsortiums und
der Steuerzahler in einer Größenordnung von 350 Millionen DM weggeworfen wurden, ohne den dadurch erzielten Effekt zu sichern. Wenn man nicht so übereilt gehandelt hätte, dann hätte man die Option des Baurechts für
bis zu zehn Jahre aufrechterhalten können. Es ist
schlimm, wie hier mit dem Geld leichtfertig umgegangen
worden ist.
({7})
Mehdorns Ankündigung, ein ICE-Hochgeschwindigkeitsverkehr zwischen Hamburg und Berlin, der die Reisezeit auf 90 Minuten verkürzen sollte, sei auf einer für
350 Millionen DM ertüchtigten Strecke in nur anderthalb
Jahren möglich, war nur ein Dumpingangebot, um das
Transrapidprojekt Hamburg-Berlin kaputtzumachen.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Hinterher wurden alle - völlig unrealistischen - Ankündigungen peu à peu wieder zurückgenommen.
({8})
Es sind viele Kollegen hier anwesend, die seine damaligen Worte noch im Ohr haben: Ich will diese Technologie
in meinem System nicht haben; in Deutschland und in Europa ist das Rad-/Schienen-Netz zu eng, als dass dort eine
solche Technologie hineinpassen würde; am Ende verkaufen alle ihre Patente ins Ausland, dann gibt es für
meine Bestellungen ausländische Auftragnehmer - so
Mehdorn im Ausschuss.
Was mutet uns dieser Herr zu, wenn er jetzt eine Vereinbarung unterschreibt, in der es heißt: „In einer Grundsatzvereinbarung zum Transrapid“ wird „festgestellt, dass
deutsche Magnetschwebetechnik und insbesondere ihre
Realisierung in Deutschland von herausragender Bedeutung für den Industriestandort Deutschland ist“ - so Mehdorn, vorher und nachher. Dieser Mann hat in puncto
Transrapid bei mir und meinen Kollegen in der Fraktion
jegliche Glaubwürdigkeit verloren.
({9})
Herr Mehdorn hat die von mir gerade aufgeführten Argumente in der Ausschusssitzung vom 26. Januar 2000
nur benutzt, um den Transrapid sterben zu lassen. Seine
Zusagen sind inzwischen wie Seifenblasen geplatzt. So
enthielt eine Antwort der Bundesregierung auf eine
Kleine Anfrage vom 14. April keine Angaben zu den Kosten und zum Realisierungszeitraum. Mehdorn spricht
heute von einer Realisierung nicht vor 2005. Die unvermeidbare Folge ist im Vergleich zu dem Nahverkehrszeitmaß und -zeittakt des Transrapid eine 40 bis 50 Minuten
längere Fahrzeit auf viele Jahre hinaus.
Damit der ICE zwischen Hamburg und Berlin mit mehr
als 250 Kilometern in der Stunde fahren kann - das hat
uns Mehdorn damals als seine Zielvorstellung angekündigt -, sind Investitionen von mindestens 11 Milliarden DM in eine Neubaustrecke notwendig.
({10})
Eisenbahn-Bundesamt und Bundesregierung haben gesagt: Mehdorn bekommt die für diese Geschwindigkeit
notwendige Ausnahmegenehmigung nicht. Die Bahn
plant jetzt eine Ausbaustrecke, auf der eine Streckenhöchstgeschwindigkeit von nur noch 230 km/h möglich
ist. Es gibt in ganz Deutschland keine Ausbaustrecke, auf
der 230 Kilometer in der Stunde gefahren werden können.
Die erlaubte Höchstgeschwindigkeit liegt bei 200 km/h.
Mehr als 50 beschrankte Bahnübergänge müssen durch
Brücken und Unterführungen ersetzt werden. Die Installation einer hochgeschwindigkeitstauglichen Signaltechnik ist erforderlich. Trotz Ausbau muss der ICE alle Bahnhöfe durchfahren, das heißt, Bahnsteige müssen gesichert
und das Tempo gedrosselt werden. Die Unglücke von
Eschede und Brühl sollten uns Warnung genug sein.
Hochgeschwindigkeitsfahrten durch Ortschaften sind ein
zusätzliches Sicherheitsrisiko und bedeuten zudem Lärmbelästigung und beträchtlichen Mehrverkehr auf der
Strecke. Ein ICE ist bereits bei Tempo 200 so laut wie der
Transrapid bei Tempo 400. Das heißt also, ein abseits der
Ortschaften geführter Transrapid hätte für die Bevölkerung eine wesentliche Entlastung gebracht.
Die Bundesregierung baut potemkinsche Dörfer auf,
bei der ICE-Strecke Hamburg-Berlin genauso wie beim
Metrorapid in Nordrhein-Westfalen. Vor der Wahl dort
wurde versprochen: Die Strecke zwischen Köln und Dortmund wird geplant. Man tat so, als sei sie nahezu im Bau.
Nach der Wahl und den Koalitionsverhandlungen sagt die
nordrhein-westfälische Landesregierung: Wir zahlen
nicht; der Bund kann ja machen, was er will!
Das heißt, die Leute werden an der Nase herumgeführt
und das Land will keine investiven Mittel zur Verfügung
stellen.
({11})
Herr Kollege, denken
Sie bitte an die Redezeit.
Ich will, Frau
Präsidentin, am Ende sagen: Die Modernisierung im Emsland bietet immerhin die Möglichkeit, den exportträchtigen Transrapid als Hightechprodukt aus Deutschland einer interessierten Weltöffentlichkeit vorzuführen und den
eigenen Standort zu präsentieren. 28 Millionen DM netto
als maximale Aufwendung pro Jahr bis 2002 sind viel zu
wenig.
({0})
Wir brauchen eine Weiterentwicklung und keine bloße
Vorhaltung auf heutigem Niveau.
({1})
Die Teststrecke ist von enormer Wichtigkeit.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. Sie haben Ihre Zeit weit
überzogen.
Es könnte passieren, Frau Präsidentin, dass der chinesische Premierminister einmal mit dem Transrapid fährt und entscheidet, ihn in Schanghai bauen zu lassen. Wenn am Ende
herauskommt, dass die Chinesen uns in der Realisierung
in den Schatten stellen und blamieren, weil sie den Mut
zur Anwendung haben, dann wird sich diese Bundesregierung - auch international - endgültig öffentlich lächerlich gemacht haben.
({0})
Wir sind nicht überzeugt, dass diese Bundesregierung
die Anwendung des Transrapids in unserem Land zustande bringt. Es wird nur nach dem Prinzip Hoffnung die
Dirk Fischer ({1})
Fantasie der Menschen bewegt. In Wirklichkeit geschieht
bis zur nächsten Bundestagswahl überhaupt nichts.
({2})
Ich begrüße alle unsere Besucherinnen und Besucher herzlich, vor allen Dingen diejenigen, die tief und fest schlafen.
({0})
Nun hat der Kollege Reinhard Weis, SPD-Fraktion, das
Wort.
Frau Präsidentin!
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! In der Debatte
heute Vormittag über die Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus hat unser Kollege
Westerwelle berechtigterweise sein Befremden darüber
ausgedrückt, mit welchem Zeitaufwand und zu welchen
Tageszeiten manche Themen von uns behandelt werden.
Ich wundere mich darüber - meine Verwunderung
schließt daran direkt an -, dass wir die Debatte über die
von der Realität überholten Anträge der CDU/CSU-Fraktion und der PDS heute zu dieser Tageszeit führen. Ich bin
auch darüber erstaunt, dass die CDU/CSU ihr Recht zur
Aufsetzung eines Tagesordnungspunktes dafür genutzt
hat, dieses ausgelutschte Thema - Entschuldigung, wenn
ich diesen Begriff benutze - und kein aktuelleres, kein
wichtigeres Thema mit uns heute zu debattieren.
({0})
Selbst wenn die CDU/CSU-Fraktion meinte, dass wegen der aktuellen Entwicklung des Transrapidprojektes in
China eine weitere Transrapiddebatte sinnvoll wäre, dann
hätte sie, um der Bedeutung gerecht zu werden, nicht ihre
veralteten Anträge als Aufhänger für diese Debatte nehmen sollen.
Ich will noch einmal den Sachstand darstellen, der
deutlich macht, warum wir guten Gewissens die Anträge
der CDU/CSU-Fraktion und auch den der PDS-Fraktion
im federführenden Ausschuss ablehnen konnten und
mussten. Ich gehe auf das Datum 25. April 1997 zurück.
Da wurde die Eckpunktevereinbarung zwischen dem
Industriekonsortium, der Bahn AG und dem Bund über
die finanzielle Abhängigkeit der Realisierung des Projektes von der Entwicklung der Investitionssumme beschlossen.
Vergessen Sie bitte nicht: Für den Bund hat damals Ihr
Verkehrsminister, Herr Wissmann, unterschrieben. Er hat
den Ausgang mit dieser Eckpunktevereinbarung offen gehalten. Er war es, der die Möglichkeit zur Unterzeichnung
der Finanzierungsvereinbarung 1998 nicht wahrgenommen hat, weil er wegen der finanziellen Entwicklung
dieses Vorhabens kalte Füße bekommen hatte. Was ihn
leitete, war die Unwägbarkeit, mit der Betriebsführung
Gewinn und damit einen ordentlichen Werbeeffekt für die
Technologie zu erzielen.
So ist es dann dazu gekommen, dass am 5. Februar dieses Jahres bei einem Spitzentreffen der Partner der oben
genannten Vereinbarung die Feststellung getroffen wurde,
dass weder auf der Basis des Eckpunktepapieres noch
nach Prüfung alternativer Szenarien das Public-privatePartnership-Modell für die Transrapidstrecke Hamburg-Berlin realisierbar sei.
Die logische Folge ist die Einstellung des Planfeststellungsverfahrens durch die Planfeststellungsbehörde
EBA auf Antrag der Bahn AG. Im Februar 2000 wurde beschlossen, dass die Strecke Hamburg-Berlin nicht zu
bauen ist, dass aber wegen der anwendungsreif entwickelten, herausragenden innovativen Magnetschwebebahntechnologie eine andere Anwendungsstrecke in
Deutschland zu suchen sei. Deshalb sollte die Versuchsanlage in Lathen befristet erhalten werden: erst bis zum
Ende der EXPO und danach zur Sicherung des Knowhows bis zur Entscheidung über eine Alternativstrecke
oder bis zur Auslotung der Exportchancen nach China
oder in die USA.
Ebenfalls am 28. Februar trifft sich die Bundesregierung mit den Ministerpräsidenten der Länder und beredet,
dass bis Ende März dieses Jahres Vorschläge für Alternativstrecken von den Ländern eingereicht werden sollen. Fünf Projekte, die ich jetzt nicht benennen will, liegen für eine Machbarkeitsstudie auf dem Tisch. Die
abschließende Vereinbarung soll spätestens Mitte 2002
fallen. Es sind konkrete Verfahrensschritte zwischen der
Bundesregierung, dem Industriekonsortium und der Bahn
AG beschlossen worden, die ich jetzt auch nicht im Einzelnen aufzählen möchte.
({1})
Wichtig ist - um Sie zu widerlegen, Herr Fischer -,
dass am 23. August dieses Jahres der Beschluss über ein
Technologiesicherungsprogramm für die Magnetschwebebahntechnologie in Deutschland gefasst wurde, mit den
Komponenten des Erhaltes und der Ertüchtigung der Versuchsanlage im Emsland für den Zeitraum vom 1. Oktober dieses Jahres bis zum 30. Juni 2002 und der Erweiterung des Entwicklungszieles für den Transrapid in Bezug
auf die Eignung für ein Schnellbahnsystem im öffentlichen Verkehr. Träger des Programms sind der Bund, die
beteiligten Industrieunternehmen und die DB AG. Die Finanzsumme, die für die Ertüchtigung und den Erhalt der
Transrapidstrecke im Emsland in diesem Technologiesicherungsprogramm vereinbart wurde, ist nicht nur eine
Alibisumme, sondern sie ist auch nach Abschätzung der
Notwendigkeiten mit der Industrie zustande gekommen.
Sie können hier nicht sagen, dass diese 28 Millionen DM
zu wenig für die Aufgaben, die zu leisten sind, wären.
Wir haben allerdings auch als Bundestag eine Verantwortung, wenn die Zeitspanne bis 2002 für den Anteil, für
den die Bundesregierung die Verantwortung übernommen
hat, wirksam werden soll; denn diese Beschlüsse sind
natürlich haushaltsrelevant. Ich bin gespannt, ob wir die
Transrapidbefürworter der Opposition auf unserer Seite
haben werden.
({2})
Nach der Entscheidung gegen die Transrapidstrecke
Hamburg-Berlin hat unser Kanzler, Gerhard Schröder,
Dirk Fischer ({3})
gesagt, dass er und die Bundesregierung alle Bemühungen um einen Export des Transrapid unterstützen wollen.
({4})
Dies ist nicht nur als Trostpflaster dahingesagt worden;
denn wir erleben in diesen Tagen, dass eine Entscheidung
über die Erstanwendung in Schanghai unmittelbar bevorsteht. Ich persönlich habe den Eindruck, dass durch eine
Entscheidung für den Bau in China - erst einmal auf einer
Zubringerstrecke für den Flughafen Pudong, mit der Option auf Erweiterung für die Fernstrecken - die Frage der
Anwendung des Transrapid einen neuen Drive bekommen wird, und zwar in Deutschland und auch in Bezug auf
die Verhandlungen in den USA, die Minister Klimmt auf
seiner Reise vom 8. bis 12. Oktober dort führen wird. Wir
wünschen ihm viel Erfolg bei diesen Verhandlungen.
({5})
Ich glaube, dass ich mit diesem Überblick über den aktuellen Sachstand deutlich machen konnte, warum wir in
der SPD-Fraktion die inhaltlich überholten Anträge abgelehnt haben und der Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses zustimmen werden.
Danke.
({6})
Das Wort hat nun der
Kollege Hans-Michael Goldmann, F.D.P.-Fraktion.
Sehr verehrte
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich in Antwort zu der Rede von Ihnen, Herr Kollege Weis, sagen: Da unterscheiden wir uns. Ich halte das
überhaupt nicht für ein ausgelutschtes Thema, sondern ich
halte das für ein außerordentlich wichtiges Zukunftsthema, ein Technologiethema.
({0})
Herr Kollege, Sie müssen sich da schon ein bisschen systematischer vorbereiten. Wir reden nicht nur über Anträge, sondern auch über eine Große Anfrage der F.D.P.
Das müsste man Ihnen eigentlich auch gesagt oder aufgeschrieben haben.
({1})
Ich denke, dass sich aus der Antwort der Bundesregierung Diskussionsnotwendigkeiten ergeben. Ich bin schon
ein bisschen erstaunt, wie Sie damit umgehen. Es ist ja interessant, wie Sie Ihre ganze Redezeit auf eine Person
fixieren und dass anscheinend Ihrer Meinung nach alle
anderen nichts dazu zu sagen haben.
({2})
Herr Kollege Weis, es ist ja auch nicht ganz uninteressant,
mit welcher Macht sich die Regierung und die Regierungsvertreter jetzt in dieses Thema einbringen, obwohl
das Haus ja breit besetzt ist - fünf Staatssekretäre und ein
Minister. Ich finde es gut, dass der Minister nach Amerika
fährt und dort für den Transrapid kämpft. Ich fände es
noch besser, wenn wir ihm vielleicht auch aus dieser
Runde das eine oder andere Argument mit auf den Weg
geben könnten.
({3})
Das Thema ist also nicht ausgelutscht, sondern vielmehr
hochaktuell. Das Thema ist auch nicht abgearbeitet. Auch
das wollen wir sehr deutlich festhalten.
({4})
- Die neuen Erkenntnisse sind durchaus in der Antwort
auf die Große Anfrage nachzulesen. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir die Große Anfrage gestellt hatten, war
eben nicht klar, wie es mit der Versuchsanlage in Lathen
weitergeht. Es war nicht klar, welche Koordinationen es
zwischen der Referenzstrecke und einer Anwendungsstrecke geben sollte. Ich finde es schon höchst spaßig,
dass Sie das fragen. Sie haben doch alle Anstrengungen
unternommen, um den Transrapid zu beerdigen.
({5})
Sie haben doch bis jetzt noch nicht verstanden, welche
ökologischen Chancen der Transrapid bietet.
({6})
Ich finde es höchst interessant, wie sich die Waage angesichts der aktuellen Diskussion um Mineralölpreise und
-besteuerung zugunsten des Transrapid verändert. Das
wird eine hochspannende Diskussion werden, die wir hier
zu führen haben.
({7})
Es ist deswegen gut, dass das Thema hier heute behandelt
wird.
Ich glaube, es ist völlig klar, dass die F.D.P. immer für
den Transrapid war. Wir möchten, dass er endlich schwebt
und die Transrapid-Technologie wirklich zu einer Erfolgsstory in Deutschland wird. Ich gebe Herrn Fischer
Recht, denn auch ich halte es nach wie vor für eine Fehlentscheidung, die Planung für die Transrapidstrecke
Hamburg-Berlin einzustellen. Der Transrapid ist in besonderer Weise geeignet, Großraumvernetzung sicher
zu stellen. Für eine Anwendung in diesen Bereichen ist er
in höchstem Maße qualifiziert.
Ich finde es auch gut, Herr Kollege Weis - das haben
Sie ja auch angesprochen -, dass jetzt auf der TransrapidVersuchsstrecke im Emsland zukünftige Möglichkeiten
der Anwendung, zum Beispiel intelligente Anwendung in
regionaleren Verkehren, erprobt werden. Nur mit
28 Millionen DM ist das mit der derzeitigen Strecke, so
Reinhard Weis ({8})
wie sie dort besteht, überhaupt nicht machbar. Sie müssten aus der Antwort der Bundesregierung auf unsere
Große Anfrage Ableitungen herstellen. Sie müssten sich
dafür engagieren, dass die Strecke im Emsland besser
wird. Ich war ja nun dabei, als die chinesischen Vertreter
dort herumfuhren. Wenn ein Chinese hinterher keine
Miene verzieht, aber sagt, er habe Kopfschmerzen, dann
weiß ich ziemlich genau, was er sagen wollte.
({9})
Die Strecke ist im Moment in keinem verkaufsfähigen
Zustand. Das muss man ganz klar sagen.
({10})
Die Technologie, die dort erprobt wird, muss sich durch
den schlechten Zustand der Strecke unter Wert verkaufen.
Das müssen und wollen wir doch auch gemeinsam ändern, wenn ich die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage richtig verstanden habe.
Ich habe mich gefreut, als ich die Antworten las, es gibt
nun nämlich für zwei Jahre Klarheit für Anwendungen in
Lathen und intensive Bemühungen, eine Strecke in
Deutschland zu finden, wo diese Technologie zur Anwendung kommt. Oder sind die Antworten, die dort stehen,
alle gelogen? Sind wir uns da einig?
({11})
Wir tun jetzt alles, damit die Situation in Lathen besser
wird und dort vernünftige Erprobungen stattfinden können. Parallel tun wir alles, damit eine Anwendung in
Deutschland möglich wird. Oder ist das alles dummes
Zeug, wenn dort niedergeschrieben steht, dass man diese
fünf Strecken erproben, untersuchen und für diese fünf
Strecken Machbarkeitsstudien erstellen will? Wollen Sie
wirklich, dass das gemacht wird? Wollen Sie wirklich,
dass es zu einer Anwendung in Deutschland kommt?
Dann müssen Sie das auch ausführen, was in guten Worten in der Antwort geschrieben steht.
({12})
Dann müssen Sie zum Beispiel deutlich machen, was das
heißt: Ressourcen bringen, um im Rahmen eines Technologiesicherungsprogramms die Weichen zu stellen, damit
es zur Anwendung in Deutschland kommt.
({13})
Dafür ist sicherlich viel mehr nötig als nur Geld bereitstellen. Vielmehr müssen alle Beteiligten intensiv auf eine
Anwendung hin arbeiten. Insofern ist die Große Anfrage,
die wir gestellt haben, und die Antworten, die wir bekommen haben, ein Beitrag dazu, dass der Transrapid - ich
sage das einmal so - wieder richtig ins Leben kommen
kann.
Wir waren in Sorge - das waren Sie doch auch, lassen
Sie uns doch nicht die Gemeinsamkeiten zerreden -, dass Arbeitsplätze in Kassel verloren gehen oder
dass die Ingenieure die Versuchsanlage in Lathen verlassen könnten, weil sie nicht wussten, wie es mit dieser
Technologie weitergehen sollte. Lassen Sie uns doch die
Gemeinsamkeiten herausstellen. Lassen Sie uns alles tun,
um eine vernünftige zukunftsfähige Versuchsanlage gemeinsam auf den Weg zu bringen, auf der wir das erproben können, was den Transrapid noch intelligenter, noch
besser und noch ökologischer macht. Ich bin hundertprozentig dafür, dass wir Begegnungsverkehre erproben
und dass wir Nahverkehre erproben.
({14})
- Nein, dafür ist das Geld eben nicht da. Schauen Sie in
den Haushalt hinein!
({15})
- Natürlich, er ist im Fernstreckenbereich erprobt. Herr
Hasenfratz, was soll das? Fragen Sie mich oder fragen Sie
in den Raum? Dann erbitte ich auch, dass Sie meiner Antwort zuhören. Er ist in dem Bereich anwendungsreif, in
dem er bis jetzt erprobt worden ist. Er ist als Nahverkehrsmittel nicht in dem Maße erprobt, das wissen Sie
doch auch. Wenn Sie Strecken aufzeigen, die Nahverkehrscharakter haben, müssen Sie auch zur Erprobung
von Nahverkehrsnotwendigkeiten Ja sagen. Das ist zwingend, das ergibt sich. Dafür müssen Sie die Weichen stellen.
({16})
- Vielleicht bin ich sogar ein Stück naiv. Ich glaube Ihnen
von den Sozialdemokraten, dass Sie eine vernünftige Versuchsanlage und dass Sie eine Anwendung in Deutschland wollen. Ich hoffe, dass Ihr Minister nicht nur hilft den
Transrapid nach Amerika und nach China zu verkaufen,
sondern dass wir diese Technologie, die für unser Land
besonders wichtig ist, auch hier zur Anwendung bringen.
Ich vertraue nach wie vor darauf, dass Sie die Grünen, die
in dieser Frage eine andere Position haben, dazu bewegen,
endlich eine gute Technologie in Deutschland zur Anwendung zu bringen. Wir könnten schon viel weiter sein.
({17})
Noch haben wir Vorsprung gegenüber den Japanern.
Die Japaner schauen nach wie vor neidisch zu uns herüber. In einer Technologie tun sie das noch und das ist diese
Technologie.
({18})
Deswegen bitte ich Sie sehr herzlich: Lassen Sie uns die
Gemeinsamkeit untermauern! Erproben jetzt, anwenden
später - lassen Sie uns diesen doppelten Schritt gemeinsam tun, damit dies endlich zur Anwendung in Deutschland kommt.
Herzlichen Dank.
({19})
Jetzt hat das Wort die
Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich begrüße Sie zu unserer monatlichen Transrapidstunde. Ich freue mich auch auf den nächsten Antrag,
den wir bald bekommen werden, damit wir uns über dieses Thema weiter regelmäßig austauschen und uns die
neuen Erkenntnisse gegenseitig an den Kopf werfen können.
({0})
Als Zweites begrüße ich uns wieder zu einer F.D.P.Stunde,
({1})
in der unsere maximale Steuersenkungspartei maximale
Subventionen anfordert. Das finde ich immer wieder eine
erfreuliche Diskussion, die die Widersprüche des Lebens
so richtig real zeigt.
({2})
Als Drittes kommen wir zur Sache. Herr Fischer, Sie
schlagen mit Ihrem Antrag wieder einmal Schlachten von
gestern, die Sie schon sehr oft geschlagen haben.
({3})
Sie beide fordern immer wieder, dass wir mit einer planwirtschaftlichen Methode die Bahn, die unter Ihrer Regierung privatisiert worden ist, nach einer Regierungspfeife tanzen lassen, was so nicht funktioniert.
({4})
Denn das Planfeststellungsverfahren ist auf Antrag der
Bahn AG eingestellt worden. Sie sollten endlich zur
Kenntnis nehmen, dass unter Rot-Grün die Bahn ein privatisiertes Unternehmen ist, das auf eigene Verantwortung wirtschaftlich agiert und entscheiden muss, wie viel
es in die Schiene und wie viel es in einen Transrapid investieren will und wie es ihn betreiben kann.
({5})
- Nein, danke, ich nehme keine weiteren Anregungen an.
Ich freue mich, wenn wir das Thema in einem Monat neu
aufrufen. Ich meine, Herr Fischer, dazu sollten Sie noch
einen neuen Antrag stellen, der Ihnen sicherlich einfällt.
Mit der Politik der Regierung, die das Zukunftspaket
Schiene auf den Weg gebracht hat, die mit den Investitionsmitteln für die Bahn an die Investitionsmittel für das
Auto angeschlossen hat, sodass wir auf diesem Gebiet
deutlich aufholen, die sich auf das Bestandsnetz konzentriert, die die LKW-Maut einführt und die Ökosteuer eingeführt hat, haben wir ein richtungweisendes Paket für die
Stärkung der Schiene bekommen. Es ist, glaube ich, sehr
viel wichtiger, dass wir die Konkurrenz zwischen Transrapid und Schiene - denn das ist die eigentliche Konkurrenz, um die es in unserem Lande geht ({6})
eindeutig zugunsten der Schiene entschieden haben. Es
geht nicht um die Konkurrenz Transrapid/Auto. Das ist
vielleicht Ihr Problem, das können Sie mit dem nächsten
Antrag zur Diskussion stellen.
({7})
Insofern geht es darum, dass sich in einer gemeinsamen
Entscheidung die Industrie, die Bahn und die Bundesregierung gegen die Referenzstrecke ausgesprochen haben.
Sie haben das deswegen getan - jetzt hören Sie genau
zu -, weil damals von Ihnen die Investitionskosten und
die Betriebskosten viel zu niedrig kalkuliert wurden und
weil die Zahl der Fahrgäste utopisch hoch geschätzt
wurde. Es hätten Beschäftigungsprojekte in Berlin und
Hamburg gegründet werden müssen, die täglich nichts anderes getan hätten, als zwischen Hamburg und Berlin hinund herzufahren.
({8})
Es waren völlig absurde Zahlen, die Sie präsentiert haben.
({9})
Der Transrapid ist nicht - in diesem Punkt gebe ich Ihnen Recht - an der zugrunde liegenden Technologie gescheitert,
({10})
sondern daran, dass Sie die falsche Strecke unter falsch
kalkulierten Konditionen bauen wollten. So kann man
nicht verfahren.
({11})
Wer Marktwirtschaft ernst nimmt, muss ein solches Projekt seriös durchkalkulieren, wenn er es erfolgreich auf
den Weg bringen will. Sonst besteht die Gefahr, dass der
Steuerzahler hinterhersubventioniert, ohne dass irgendwann ein Ende in Sicht ist. Dafür steht unsere Politik eindeutig nicht.
({12})
Es ist ein ganz wesentlicher Schritt nach vorne, dass
die Bundesregierung nun die Strecke zwischen Hamburg
und Berlin völlig unbürokratisch ausbauen will - das haben Sie über Jahre verhindert -, damit man schneller von
Hamburg nach Berlin und umgekehrt fahren kann. Damit
wird zu sehr günstigen Bedingungen die Fahrtzeit
verkürzt. Das Gerücht, dass der Ausbau der Strecke
Hamburg-Berlin 10 Milliarden DM kosten würde, müssen Sie uns sozusagen einmal aufdröseln.
({13})
Mit Kosten von 1,2 bis 1,5 Milliarden DM schaffen wir
es, dass die Fahrzeit enorm verkürzt wird, sodass man
zum Beispiel auch zum Bundestag schneller fahren kann.
Ein nächster Punkt. Der Transrapid hätte bei der Bahn
ein jährliches Defizit von 125 Millionen DM verursacht.
({14})
Unsere Bemühungen, die Bahn bei der Sanierung zu unterstützen, nutzen dem ganzen Land und sind viel wichtiger, als eine Spielzeugstrecke zu betreiben, wodurch das
Defizit der Bahn noch weiter anwachsen würde.
({15})
Ich bleibe also bei unserer Kritik.
Wenn es den Unternehmen gelingt, Aufträge aus dem
Ausland an Land zu ziehen, dann begrüßen wir dies und
unterstützen sie darin auch. Niemand spricht dagegen.
Herr Weis hat sich zu diesem Punkt schon eindeutig
geäußert. Das ist also kein Problem. Es geht aber nicht,
dass der Steuerzahler ständig weiter für ein Projekt zur
Kasse gebeten wird, das in den letzten acht Jahren nicht
bewiesen hat, dass es in der Form lebensfähig ist, in der
Sie es konzipiert hatten. Das sollten Sie endlich einsehen.
({16})
Ich bin überrascht,
dass die Redezeit nicht ausgeschöpft wird. Das liegt wohl
daran, dass schon bekannte Argumente zu diesem Thema
ausgetauscht werden.
Als Nächster spricht der Kollege Dr. Winfried Wolf,
PDS-Fraktion.
Werte Frau Präsidentin!
Sehr geehrte Damen und Herren! Wir erleben beim Thema
Transrapid, wie es die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig
schon gesagt hat, immer wieder alte Schlachten von vorgestern. Das wird auch durch den Schlingerkurs deutlich,
den die SPD und die Grünen steuern.
Wir hatten in den Jahren 1998/99 eine Wackelpartie. In
diesen Jahren hieß es, die Strecke werde doch gebaut. Damals wurde gesagt, dass eingleisig gebaut wird, um den
Kostenrahmen einzuhalten. Aber seit Anfang 2000 haben
wir die lobenswerte Situation, dass die Transrapidverbindung Berlin-Hamburg nicht gebaut werden soll. Dafür ist
der Koalition und auch Herrn Mehdorn Respekt zu zollen.
Dennoch läuft die Förderung des Transrapids weiter.
Eigentlich müsste die CDU/CSU und auch die F.D.P. dem
Beifall klatschen. Allein im Haushalt 2001 sollen noch
einmal 87 Millionen DM für den Transrapid ausgegeben
werden.
({0})
Wie Sie wissen, Herr Goldmann: 20 Millionen DM für die
Versuchsanlage im Emsland, 50 Millionen DM für die
Weiterentwicklung und 10 Millionen DM für die Beplanung, wie es so schön heißt.
Das bedeutet aber unserer Ansicht nach, dass man
schlechtes Geld noch einmal schlechtem Geld hinterherwirft. Wenn man sich anschaut, dass sich SPD und Grüne
rühmen, im Rahmen des Solardächerprogramms 33 Millionen DM auszugeben, und behaupten, dass das wirken
würde, dann muss ich sagen: Mehr als doppelt so viel wird
für die Technik Transrapid weiter ausgegeben.
({1})
Herr Goldmann, es geht nicht um die Frage: Technikfeindlichkeit - ja oder nein? Es geht auch nicht darum,
dass wir alten Ressentiments frönen würden. Es geht
vielmehr darum, dass der Transrapid seit 20 Jahren entwickelt wird und über 3 Milliarden DM ausgegeben wurden. Es geht auch darum, dass im Emsland jämmerliche
Resultate erzielt wurden und dass selbst die Industrie, die
der F.D.P. so nahe steht, vom Transrapid Abstand nimmt.
Gestern hat laut „Financial Times Deutschland“ Adtranz,
der Fahrzeugbauer des Transrapids, erklärt, dass sie wahrscheinlich nach Übernahme durch Bombardier ganz aus
diesem Projekt aussteigen werden.
Jetzt heißt es im CDU-Antrag, dass die Strecke im
Emsland endlich zweigleisig gebaut werden soll, „um so
praxisgerecht wie möglich sowohl den Gegenverkehr als
auch den Halt des Transrapid zu demonstrieren.“ Nach einem Vierteljahrhundert will man den Transrapid endlich
praxisgerecht konzipieren. Während uns bisher immer
gesagt wurde, man bräuchte keinen Gegenverkehr, das sei
kein Problem, man habe alles im Simulator, heißt es jetzt,
dass man unbedingt Gegenverkehr - es heißt richtig: Begegnungsverkehr - braucht, um dies demonstrieren zu
können.
({2})
Jetzt sprießen die Konkretisierungen aus dem Boden:
Schanghai. Ich hätte nicht gedacht, dass der alte Satz von
Kurt Georg Kiesinger, den er 1969 im Bundestag gesagt
hat: „Ich sage nur: China, China, China“, so aktualisiert
werden könnte. Sie haben richtig berichtet, Herr Goldmann,
dass der chinesische Ministerpräsident
({3})
- ich habe es gehört - nach der Fahrt im Emsland - wie
Sie sagten - keine Miene verzogen und gesagt hat, er
habe Kopfschmerzen. Warum aber gibt man ihm
kein Aspirin, statt ihm neues Geld für den Transrapid
hinterherzuwerfen?
({4})
Konkrete Projekte sprießen auch aus dem Boden, wenn
gesagt wird, man müsse jetzt Metrorapid machen, also
eine Turbostraßenbahn bauen. Ein Projekt, von dem es
hieß, es müsse im Fernbereich angewandt werden - da haben Sie Recht -, es solle 500 Kilometer pro Stunde fahren, jetzt bei Entfernungen von 30, 40 oder 50 Kilometern einzusetzen, ist einfach völliger Blödsinn.
({5})
Ich erlebe es auch in meinem Bundesland Baden-Württemberg. Jetzt wird darüber diskutiert, Tübingen und
Stuttgart mit dem Metrorapid zu verbinden. Es gibt eine
Bahnstrecke. Man könnte eine kürzere bauen. Aber nein,
jetzt soll es plötzlich einen Metrorapid geben. Selbst die
Grünen werden da weich. Der Landtagskandidat Palmer
hat gemeint, er müsse sich das Projekt konkret anschauen;
er würde es gerne begrüßen.
Wir, die PDS, haben in unserem Antrag nochmals ins
Bewusstsein gerufen, dass es ein Magnetschwebebahnbedarfsgesetz gibt. Das ist sehr kurz und präzise.
({6})
- Ja, da habe ich Recht. - Darin steht - ich zitiere -:
Es besteht Bedarf für den Neubau einer Magnetschwebebahnbedarfsstrecke von Berlin nach Hamburg über Schwerin. Die Feststellung des Bedarfs ist
für die Planfeststellung nach § 2 des Magnetschwebebahnplanungsgesetzes verbindlich.
Also, es besteht Bedarf und zweitens ist die Feststellung verbindlich. - Beifall und Nicken bei den Parteien
der alten Koalition. Das heißt aber doch: Wenn man das
Gesetz nicht aufhebt, dann bleibt es bei dieser gesetzlichen Verbindlichkeit. Deswegen sagen wir: Auf ein kurzes, knackiges Gesetz bedarf es eines kurzen Antrages,
der quadratisch, praktisch, gut ist.
({7})
Meiner Meinung nach lässt derjenige, der unserem Antrag nicht zustimmt und es bei der gesetzlichen Verpflichtung belässt, die Strecke Hamburg-Berlin zu bauen, entsprechende Hintertürchen offen; er rechnet damit, dass
Folgekosten in Form von Schadenersatzansprüchen auf
die Steuerzahler zukommen können. Dem wollen wir einen Riegel vorschieben.
({8})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Hermann Kues.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es tauchte eben die
Frage auf, ob die Argumente zu dem Thema eigentlich
nicht alle ausgetauscht seien, sodass man deswegen die
Redezeit nicht voll beanspruchen müsse. Ich will Ihnen
ein aktuelles Beispiel - ich habe es mitgebracht - dafür
nennen, weshalb eine Diskussion darüber in Deutschland
dringend notwendig ist. Ich habe die Vereinbarung zur
weiteren Behandlung der deutschen Magnetschwebebahntechnik dabei. Dabei handelt es sich um eine Grundsatzvereinbarung zwischen Bahn AG, Daimler-Chrysler,
Siemens und Thyssen. Sie haben festgestellt, dass die
deutsche Magnetschwebebahntechnik, insbesondere ihre
Realisierung in Deutschland, Herr Kollege Weis, von
herausragender Bedeutung für den Industriestandort
Deutschland ist. Diese Vereinbarung ist am 23. August 2000 unterzeichnet worden.
({0})
Jetzt haben wir Ende September. Frau EichstädtBohlig hat hier vor zehn Minuten erklärt, der eigentliche
Gegensatz sei die Konkurrenz zwischen Schiene und
Transrapid. Ich frage mich, was bei Ihnen eigentlich gilt.
Bei Ihnen weiß die Rechte nicht, was die Linke tut. Deswegen kommen wir bei dem Thema auch nicht voran.
({1})
Ich kann mir auch sehr gut erklären, weshalb sich die
Bundesregierung zu diesem Thema bislang überhaupt
noch nicht geäußert hat; denn wenn sie dies täte, müsste
sie den Widerspruch, der dort besteht, aufklären.
Herr Kollege Weis - ich schätze Sie persönlich; das
will ich Ihnen ausdrücklich attestieren -, es ist sehr nett,
dass Sie auf die Exportmöglichkeiten verweisen und sagen, der Bundeskanzler - zum Thema Bundeskanzler und
Transrapid sage ich gleich noch einen Satz - werde diesbezüglich kräftig verhandeln.
Wenn Sie es mit dem Export ernst meinen, müssen Sie alles daransetzen, dass wir eine Versuchsstrecke erhalten,
die geeignet ist, den Transrapid exportfähig zu machen.
Genau das tun Sie eben nicht.
({2})
Der Kollege Goldmann hat eben ganz richtig gesagt:
Mit der Summe, die Sie vorgesehen haben, können Sie
zwar den Betrieb am Laufen halten, Sie sind aber nicht in
der Lage, zusätzliche Versuche zu fahren, damit der
Transrapid exportfähig wird. Das ist ein Widerspruch.
Lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit etwas zum
Herrn Bundeskanzler sagen. Ich habe ihn acht Jahre lang
als Ministerpräsident in Niedersachsen erlebt. Ich erinnere mich sehr genau - das ist vielleicht bezeichnend für
sein Verhältnis zum Transrapid; jetzt werde ich vielleicht
einigen von Ihnen in der Argumentation entgegenkommen -, dass er sich erst im Vorfeld der Landtagswahl 1998
und der Bundestagswahl 1998, also nach acht Jahren
Amtszeit als Ministerpräsident, das erste Mal den Transrapid angesehen hat. Das ist sein Interesse an der neuen
Verkehrstechnologie. Was hat er damals gesagt? Er sagte:
Das ist eine faszinierende Technik, ich bin beeindruckt.
Wie jetzt in seiner Regierung mit dem Transrapid in der
Praxis umgegangen wird, erleben wir bis zum heutigen
Tag. Deswegen muss das Ganze hier erörtert werden.
({3})
Ich sehe den Parlamentarischen Staatssekretär
Scheffler auf der Regierungsbank. Ich erinnere mich an
seine Antwort auf die Anfrage der Kollegin Voßhoff vom
vergangenen Jahr, in der er auf die Arbeitsplatzeffekte der
konkreten Strecke Hamburg-Berlin hingewiesen hat.
Ich freue mich auch, dass der Kollege Robbe hier ist,
weil ich seine Einstellung zum Transrapid kenne. Deswegen habe ich auch die Hoffnung noch nicht völlig aufgegeben, dass es irgendwann wieder Bewegung im Regierungslager geben wird. Dazu müsste es eigentlich jetzt
schon kommen.
Was wollen Sie den Menschen, die an der Erprobungsstrecke im Emsland leben, sagen? Worauf sollen sie sich
einstellen? Sie haben jetzt eine Summe bereitgestellt,
die - ich will das ausdrücklich anerkennen - mehr als gar
nichts ist, die aber so angesetzt ist, dass daraus keine wirklichen Zukunftschancen abgeleitet werden können. Deswegen behaupte ich noch einmal - wir werden darüber
häufig diskutieren müssen -, dass Ihre Politik bezüglich
der modernen Verkehrstechnologie des Transrapids voller
Widersprüche und scheinheilig ist.
({4})
Das ist für den Wirtschafts- und Arbeitsplatzstandort Bundesrepublik Deutschland verheerend.
({5})
Die Anlage in Lathen - das wissen Sie, Frau Mertens,
ganz genau - muss nicht nur gesichert, sondern fortentwickelt werden. Sie muss in der Lage sein, das, was am
Computer simuliert wird, auch in der Praxis zu beweisen.
Eine scheintote, gerade am Leben erhaltene Versuchsstrecke nützt im Grunde genommen niemandem so richtig.
({6})
Im Übrigen geht von diesem Verhalten auch das Signal
an die anderen Industrieländer - wir scheinen es bei modernen Technologien so zu handhaben; ich denke beispielsweise an Ihre Ausstiegsvereinbarung zur Nutzung
der Kernenergie -, die möglicherweise importieren wollen, aus, dass wir es mit dieser modernen Verkehrstechnik
nicht ganz so ernst meinen; denn sonst würden wir andere
Schwerpunkte setzen.
Ich will gern noch einmal unterstreichen, was gerade
vom Kollegen Goldmann gesagt worden ist. Entscheidend ist eigentlich nicht, welche Summen Sie jetzt konkret zur Verfügung stellen. Entscheidend ist - das muss
vom Bundeskanzler und den Regierungsfraktionen geklärt werden -, dass wir den Transrapid tatsächlich wollen. Dieses Signal muss von Ihrer Politik ausgehen und
das fehlt.
({7})
Die Äußerungen der Bundesregierung sind bis in die
letzte Zeit hinein sehr unverbindlich. Am 13. Juni 2000
wurde gesagt, die Mittel für die Weiterentwicklung der
Magnetschwebetechnik und ihre Anwendung in Deutschland - nicht für die Aufrechterhaltung der Versuchsstrecke sind eingeplant. Am 27. Juni 2000 hieß es, es werde mit
der Industrie und der Bahn verhandelt. Am 4. Juli 2000
hieß es, die Finanzierung bis Oktober 2000 sei gesichert.
Das ist das Ende der EXPO, auf der wir diese Technik als
ein beispielhaftes deutsches Projekt vorstellen. Jetzt,
Ende August 2000, heißt es, der Weiterbetrieb der Anlage
- der für das, was offenkundig auch Sie wollen, nicht ausreicht - sei bis zum 30. Juni 2002 gesichert.
({8})
Ich sage ausdrücklich: Das alles sind Weicheiformulierungen.
({9})
Sie lassen erkennen, dass die Bremser im Regierungslager offenkundig die Hebel in der Hand halten. Die Bremser wissen ganz genau, dass eine andere Referenzstrecke
nicht unter zehn Jahren zu verwirklichen ist; man müsste
eher zwölf oder fünfzehn Jahre einplanen.
Deswegen überrascht mich sehr, was zu diesem Thema
im Moment in Nordrhein-Westfalen zum Besten gegeben
wird. In langen Interviews erklärt der dortige Wirtschaftsund Verkehrsminister, was er alles vorhabe. Wenn man
aber nachfragt, wie das konkret umgesetzt werden soll
und ob dafür irgendwo ein kleiner Haushaltstitel zur Verfügung gestellt wird, dann ist darüber nichts zu erfahren.
Sie nehmen die Menschen auf den Arm und machen ihnen
etwas vor, weil Sie sich nicht trauen, das zu sagen, was Sie
wirklich denken, nämlich dass Sie die neue Technik nicht
einsetzen wollen.
({10})
Wir sind der festen Überzeugung, dass die Magnetschwebetechnik auf dem Weltmarkt eine reale Chance
hat. Wichtig aber ist, dass wir uns als Deutsche klar positionieren. Auch die Bundesregierung sollte sich über
Lippenbekenntnisse hinaus grundsätzlich klar positionieren, wie sie das in der Vereinbarung mit der Deutschen
Bahn AG getan hat. Alle anderen Studien sind verschwendete Zeit und sind verschwendetes Geld. Deswegen fordere ich Sie auf: Springen Sie über Ihren Schatten!
Wenn Sie etwas Gutes tun wollen, dann stimmen Sie unserem Antrag zu.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Georg Brunnhuber
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorhin wurde gesagt,
dies sei die letzte Schlacht oder die Schlacht von gestern,
die wir hier schlagen würden. Ich kann Ihnen von der Regierungskoalition versprechen: Wir werden über dieses
Thema Monat für Monat diskutieren,
({0})
damit Sie einmal die Wahrheit sagen müssen. Mit Ihren
Argumenten, die sie hier vorbringen, drücken Sie sich leider Gottes um die Wahrheit herum.
Die Grünen wollten den Transrapid wirklich nie; das
muss man fairerweise sagen. Aber ich muss bekennen,
dass ich nicht mehr weiß, was die SPD wirklich will. Sie
erklären, Sie unterstützen den Export des Transrapids
nach China. Glaubt in diesem Raum irgendjemand, dass
die Chinesen den Transrapid bauen, wenn sie von uns
nicht mindestens einen Zuschuss in der Höhe bekommen,
den wir in Deutschland gebraucht hätten? 6 oder 7, 8 oder
10 Milliarden DM! Wir geben das Geld nach China und
die Arbeitsplätze sind auch dort. Das kann doch niemand
begreifen. Kann das die Politik von Rot-Grün sein? Ich
habe echte Zweifel, ob das der Sinn dessen ist, was Sie
hier vortragen.
({1})
Es wird hier der Eindruck erweckt, als wäre die
Strecke Hamburg-Berlin so schlecht und so falsch berechnet worden, dass man jetzt froh ist, dass sie aufgegeben wird. Sie tun so, als gäbe es „Geheimstrecken“ in
Nordrhein-Westfalen, wo schon jetzt Millionen Passagiere am Fahrbahnrand stehen und nur darauf warten, bis
sie mitfahren dürfen. Sie alle, die Sie hier sitzen, wissen
doch genau, dass in ganz Deutschland alle Strecken genau
untersucht wurden. Man ist zum Ergebnis gekommen,
dass auf der Strecke zwischen Hamburg und Berlin die
meisten Fahrgäste wirtschaftlich befördert werden können:
({2})
Zwischen Düsseldorf und Köln kostet die Strecke 14 Milliarden DM, zwischen Hamburg und Berlin hätten wir sie
für etwa 6,5 Milliarden DM bekommen. Sie waren bereit,
6,1 Milliarden DM zu zahlen. Wegen 400 Millionen DM
haben Sie diese Strecke sterben lassen.
({3})
Im gleichen Zeitraum haben Sie permanent genehmigt:
Der Bau der normalen Schienenstrecke zwischen Köln
und Frankfurt wurde mit 5 Milliarden DM beschlossen,
wurde auf 7 Milliarden DM erhöht, kostete 9 Milliarden
DM und liegt nun bei 11 Milliarden DM.
({4})
Hätten Sie im Haushalt 2000 bei der modernen Technik
Transrapid für 400 Millionen DM mehr Mut gehabt, dann
hätten wir diese Transrapidstrecke zwischen Hamburg
und Berlin.
({5})
Wir von der CDU/CSU haben noch immer die Hoffnung, dass wenigstens die Kolleginnen und Kollegen in
der SPD so fair sind, das anzuerkennen, was der Transrapid wirklich bewirken kann: Er ist das umweltfreundlichste Transportmittel, das auf der Welt technisch derzeit
möglich wäre. Er fährt doppelt so schnell, braucht die
Hälfte Energie und ist halb so laut wie jeder ICE. Man
müsste die Grünen, die den Transrapid nicht wollen, geradezu bremsen; denn er ist gerade das, was sie uns immer
wieder vorschlagen: ein umweltfreundliches Verkehrsmittel. Hier hätten Sie eins und Sie greifen nicht zu. Es ist
unverantwortlich, was Sie hier für eine Politik betreiben.
({6})
Deshalb werden wir als Unionsfraktion nicht lockerlassen. Wir werden darauf bestehen, dass das Planfeststellungsverfahren für die Strecke zwischen Hamburg und
Berlin weitergeführt wird; denn wenn Sie das nicht wollen, dann werden wir in zehn Jahren immer noch bei der
Diskussion sein. Es gibt in Deutschland keine Strecke, die
schneller als die Strecke Hamburg-Berlin gebaut werden
kann. Wir stehen zu dieser Strecke. Wir fordern Sie auf:
Handeln Sie!
Wir erwarten auf jeden Fall von der Regierung - die
heute leider zu diesem Thema noch nicht einmal gesprochen hat, auch das muss man einmal festhalten: wie wenig wichtig es den Damen und Herren der Regierung ist -,
dass sie hier Farbe bekennt.
({7})
Wenn Sie wirklich den Transrapid wollen, dann führen
Sie das Planfeststellungsverfahren weiter. Machen Sie
dazu einen Haushaltsansatz, damit wir im nächsten Jahr
mit dem Bau der Strecke Hamburg-Berlin beginnen können. Das ist die einzige Möglichkeit, damit der Transrapid
in Deutschland noch in diesem Jahrzehnt gebaut wird.
({8})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen! Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen auf Drucksache 14/4135 zu dem Antrag der
Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel: „Transrapid-Projekt zügig realisieren“. Der Ausschuss empfiehlt unter
Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 14/2359 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der
CDU/CSU bei Enthaltung der F.D.P. angenommen worden.
Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der
Ausschuss, den Antrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/2524 mit dem Titel: „Gesetzliche Verpflichtung
zum Bau der Transrapid-Strecke Berlin-Hamburg aufheben“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen worden.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/3183 mit dem Titel „Ausbau und Modernisierung der Transrapidversuchsanlage
Emsland und Fortsetzung der Planfeststellungsverfahren
für die Magnetschwebebahn - Referenzstrecke Hamburg-Berlin“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden.
Damit sind wir am Ende der Abstimmungen.
Ich rufe Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.
Haltung der Bundesregierung zur Fortgeltung
des Ladenschlussgesetzes nach den Sanktionen
gegen eine thüringische Friseurin
- Der Kollege Koppelin möchte
({0})
zur Geschäftsordnung sprechen.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Wir fragen nach der Haltung
der Bundesregierung in dieser Aktuellen Stunde. Ich sehe
kein Mitglied der Bundesregierung im Parlament. Ich beantrage, dass die Sitzung so lange unterbrochen wird, bis
Mitglieder der entsprechenden Ressorts anwesend sind
und sich zu diesem Punkt äußern.
({0})
Möchte noch jemand zur Geschäftsordnung reden? ({0})
Das ist nicht der Fall.
({1})
Dann lasse ich jetzt abstimmen.
({2})
- Es ist vonseiten der F.D.P. beantragt worden, ein Mitglied der Bundesregierung herbeizuzitieren. Es gibt keine
weiteren Wortmeldungen zur Geschäftsordnung. Über
den Antrag muss ich jetzt abstimmen lassen. Wer stimmt
für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt.
({3})
- Wir sind uns hier oben alle einig. Sie haben gesehen,
dass ich extra noch einmal nachgefragt habe.
Wir beginnen jetzt also mit der Aktuellen Stunde. Als
erste Rednerin rufe ich die Abgeordnete Gudrun Kopp
auf.
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Herren und Damen! Ich möchte vorweg noch
einmal meinen persönlichen Unmut darüber zum Ausdruck bringen, dass wir über einen wichtigen Fall, nämlich über die Kriminalisierung einer Person, die heute hier
anwesend ist, sprechen müssen. Das Thema Ladenschluss - das beweist die leere Regierungsbank - interessiert die Regierung offensichtlich überhaupt nicht.
({0})
Ich begrüße an dieser Stelle ganz besonders die betroffene Person, wegen derer wir heute diese Aktuelle Stunde
beantragt haben: Frau Ilka Brückner, eine mutige Friseurin aus dem thüringischen Suhl.
({1})
Sie hat - das sage ich mit Bewusstsein - illegale Mondscheingeister geweckt. Wie das, werden Sie fragen, weil
viele den Vorgang wahrscheinlich überhaupt nicht mitbekommen haben.
Frau Brückner hat um Mitternacht Personen die Haare
frisiert, und zwar für einen guten Zweck. Sie ist dafür wegen angeblichen Verstoßes gegen das Ladenschlussgesetz
zu einer Geldbuße verdonnert worden. Sie weigerte sich,
sie zu zahlen, weil sie nach wie vor davon ausgeht, das es
eine Spendenaktion gewesen ist. Sie ist nach langem Hin
und Her doch tatsächlich inhaftiert worden und hat zwei
Tage lang im Gefängnis gesessen.
({2})
Dieser Vorgang beinhaltet eine Kriminalisierung Frau
Brückners. Es zeigt aber auch in eklatanter Weise, wie
diese Regierung mit Gesetzen wie dem Ladenschlussgesetz umgeht, an das sie selber längst nicht mehr glaubt
({3})
und das längst abgeschafft sein könnte. Dass sie daran
nicht mehr glaubt, möchte ich an zwei Beispielen belegen;
denn das Gesetz wird scheibchenweise aufgelöst.
Man bedenke, dass der Bundeskanzler erst vor kurzem
im Zusammenhang mit dem Rentenkompromiss jede Bewegung und jedes Zugeständnis in Richtung Liberalisierung des Ladenschlussgesetzes zugunsten des Stillstandes
aufgegeben hat. Man bedenke ebenso, dass unser Bundeswirtschaftsminister laut dpa kürzlich zum Thema Ladenschluss gesagt hat - Zitat -:
Beim Ladenschluss wird es wie beim Rabattgesetz
kommen, das binnen der nächsten 12 Monate weg
sein wird. Es gibt Zeitabläufe, innerhalb derer so
etwas selbstverständlich wird. Dann werden die
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Gewerkschaften sagen, die Zustände hätten sich eben
geändert, deswegen werde man nicht mehr in den
Krieg ziehen.
Das heißt also - darin steckt eine große Brisanz -, ein
Gesetz, an das hochrangige Regierungsvertreter selbst
nicht mehr glauben, das sie vielmehr für ihre jeweiligen
politisch-taktischen Spielchen instrumentalisieren, halten
sie aufrecht und lassen es zu, dass, wie gesagt, in Thüringen eine rechtschaffene Mittelständlerin ins Gefängnis
gesteckt wird. Das ist unglaublich und auch nicht mehr
lustig.
({4})
Es ist eine Schande für das Rechtsverständnis, das wir
Bürgern auf diese Weise vermitteln. Es wirft ebenfalls ein
Licht der Verhöhnung auf alle Politiker, die hier Verantwortung tragen.
({5})
Ich richte in diesem Zusammenhang drei Appelle an
verschiedene Gruppierungen, die ich nenne. Den ersten
Appell richte ich an den Bundesrat, der morgen über eine
mögliche Liberalisierung entscheiden wird. Ich bitte den
Bundesrat, Eigenständigkeit zu beweisen und sich nicht
von Herrn Bundeskanzler Schröder einlullen zu lassen,
sondern zu sagen: Jawohl, wir wollen wenigstens die Liberalisierung voranbringen, wenn auch noch nicht die Abschaffung des Gesetzes.
Mein zweiter Appell - man scheint hier ja nur mit Aktionen Bewusstsein schaffen zu können - richtet sich an
die Buchhändler, in der Nacht von Freitag, den 13. Oktober 2000, auf Samstag, den 14. Oktober 2000, eine so genannte Mitternachtsparty zum Auftakt des Verkaufes des
Harry-Potter-Buches zu feiern. Das ist ein Bestseller, ein
fantastisches Kinderbuch, das dann erstmals in Deutschland vorgestellt werden wird. Dies soll übrigens im Rahmen von legalen Gesetzen geschehen. Damit sind Auflagen verbunden, die eingehalten werden. Ich bitte die
Buchhändler, hier mitzuhelfen, uns Modernisierung zu
lehren und die Liberalisierung auf diesem Gebiet in
Schwung zu bringen.
({6})
Zum Dritten bitte ich die Öffentlichkeit, Protest-Mails
an die Bundestagsfraktion der F.D.P. oder an mich zu richten, die wir dann an den Bundeskanzler weitergeben. Damit wollen wir gegen Stillstand und gegen die Kriminalisierung von Menschen in unserem Land wegen einer
wirklichen Nichtigkeit vorgehen.
Ich möchte hinzufügen: Ich finde es bemerkenswert,
dass alle Liberalisierungsbestrebungen - bis hin zur Abschaffung des Gesetzes, was die F.D.P.-Bundestagsfraktion seit langem will - in erster Linie aus den neuen
Bundesländern kommen.
Frau Kollegin,
ich darf Sie auf das Ende Ihrer Redezeit hinweisen.
Ich komme zum Schluss.
Wir sagen noch einmal herzlichen Dank an Frau
Brückner. Auch das ist für uns hier in Berlin ein Zeichen
von Modernisierung, von Aufgeschlossenheit. Sie aus den
neuen Bundesländern machen uns Mut, auf diesem Weg
weiter voranzugehen.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gilges.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren von der F.D.P., ich gestehe, dass ich hier
meinen Zorn unterdrücken muss;
({0})
denn es ist in diesem Hause ein einmaliger Vorgang - ich
bin seit 20 Jahren Mitglied des Deutschen Bundestages -,
dass Sie uns eine Rechtsbrecherin hier auf der Tribüne
präsentieren.
({1})
- Eindeutig. - Das Oberlandesgericht Thüringen hat ein
rechtskräftiges Urteil gefällt. Diese Dame ist eine Rechtsbrecherin.
({2})
Wollen Sie uns demnächst alle Rechtsbrecherinnen in der
Bundesrepublik Deutschland hier auf die Tribüne setzen?
({3})
- Ich verstehe ja, dass Sie als F.D.P. mittlerweile Schwierigkeiten mit Recht und Ordnung in unserem Land haben.
({4})
Aber solange es Gesetze gibt - unabhängig davon, wie
ich persönlich zu diesen Gesetzen stehe und ob ich die Gesetze für richtig oder falsch halte -, habe ich diese Gesetze
zu achten. Jeder Arbeitnehmer und jeder Arbeitgeber hat
sie zu achten. Keiner darf sich das persönliche Recht herausnehmen, das Gesetz so zu interpretieren, wie es ihm
gefällt oder er es sich wünscht. Dazu kann auch kein sozialer Aspekt herangezogen werden.
Jeder, der die Straßenverkehrsordnung nicht beachtet,
wird mit einem Bußgeld bestraft, tagtäglich. Das gilt auch
für das Ladenschlussgesetz.
({5})
- Das wird auch manch einer, der zu schnell gefahren ist
und das Bußgeld nicht bezahlt.
({6})
Ich beteilige mich hier nicht an Richterschelte; die Sozialdemokraten werden sich auch nicht an Richterschelte
beteiligen. Es kann nicht von einer Kriminalisierung gesprochen werden, Frau Kollegin. Wenn ein Richter das
Gesetz durchsetzt,
({7})
handelt er nach Recht und Ordnung. Das, was wir hier beschlossen haben, setzt er durch.
Man kann über die Frage des Ladenschlusses lange diskutieren, aber nicht in diesem Fall. In diesem Fall wollen
Sie die Bevölkerung zum Rechtsbruch auffordern. Wer
dies in diesem Hause tut, handelt gegen Recht und Ordnung.
({8})
Deshalb sage ich zum Schluss - es ist schon ärgerlich
genug, dass wir diese Debatte überhaupt führen -:
({9})
Für uns gibt es keinen Handlungsbedarf. Es gibt insbesondere keinen Handlungsbedarf in Bezug auf ein Gesetz,
wenn ein Rechtsbruch vorliegt. Das gilt für Arbeitgeber
und Arbeitnehmer, für Bürgerinnen und Bürger. Der
Rechtsbruch kann nicht Grundlage von Gesetzesänderungen sein.
({10})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Manfred Grund.
({0})
Frau Präsidentin!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Als ich mich auf
diese Aktuelle Stunde vorbereitet habe, bekam ich ob des
Themas manch unfreundlichen Kommentar zu hören:
Habt ihr im Deutschen Bundestag keine anderen Themen,
als dass ihr euch eine ganze Stunde mit Mondscheinfrisieren beschäftigen müsst?
({0})
Oder etwa: Die gute Frau macht Werbung in eigener Sache und ihr helft noch kräftig mit dabei.
({1})
Wie dem auch sei: Die Fraktion der F.D.P. hat diese Aktuelle Stunde beantragt, um von der Bundesregierung zu
hören, was sie zur Fortgeltung des Ladenschlussgesetzes
nach den Sanktionen gegen eine thüringische Friseurin zu
sagen hat. Der Stoff zu dieser Aktuellen Stunde hat es
in sich, und er ist ausgesprochen haarig und kopflastig.
Aus dem Stoff könnte man einen Wirtschaftskrimi schreiben, einen Justizskandal entwickeln, er könnte einer Operette zur Vorlage dienen - wie „Figaros Hochzeit“ - oder
dem, was er eigentlich ist: einer Provinzposse. Die F.D.P.
hat sich entschlossen, daraus ein Epos zu machen, ein
Heldenepos.
({2})
„Eine Heldin unserer Zeit“ - man spürt förmlich den
Zeitgeist vorüberwehen. Und als gelernter Mitteldeutscher und Thüringer erinnert man sich an das Buch „Ein
Held unserer Zeit“ des russischen Schriftstellers Michail
Lermontow, welches wir pflichtgemäß in der Schule zu
lesen hatten. Bei Lermontow ging es um eine gesellschaftskritische Betrachtung über eine dekadente Gesellschaft, die sich selbst zugrunde richtet.
Der verehrte Kollege Koppelin von der F.D.P. mit einer westdeutschen oder norddeutschen Sozialisation mag
dies nicht bedacht haben, als er aus einer Mondscheinfriseurin eine „Heldin unserer Zeit“ gemacht hat. Er wird
auch nicht an die echten Helden gedacht haben, die aus
dem real existierenden Sozialismus bekannt und erinnerlich sind und tatsächlich auch mit Verdienstorden behängt
wurden: die Helden der Arbeit, die Helden der Landesverteidigung, die Helden der Erntekampagne und die Helden der Landstraße.
Eine heldenhafte Mondscheinfriseurin ist nicht erinnerlich. Und es wurde auch niemand für einen Gesetzesverstoß mit einem Orden behängt. Genau darum geht es,
nämlich um einen Verstoß gegen das Ladenschlussgesetz.
Es ist gegen das Ladenschlussgesetz verstoßen worden;
gegen ein zugegebenermaßen antiquiertes, überholtes,
ungeliebtes und restriktives Gesetz,
({3})
welches nicht mehr in diese Zeit passen will, das aber gültig ist, einzuhalten ist und bei dem Verstöße gegen es mit
Strafe belegt sind.
Auf den Gesetzesverstoß hin haben Ämter und Gerichte das getan, wofür sie da sind - und wofür die dort
tätigen Personen auch bezahlt werden - die Einhaltung
von Gesetzen zu überwachen bzw. Verstöße dagegen zu
ahnden.
({4})
Unverhältnismäßig, kleinkariert, herzlos und bürokratisch nennen das manche. Doch welcher Bußgeldbescheid
wegen Falschparkens wäre für den Betroffenen nicht unverhältnismäßig, nicht kleinkariert, nicht unverständlich
und nicht bürokratisch?
Wir begehen in diesen Tagen den zehnten Jahrestag der
deutschen Einheit und damit auch zehn Jahre rechtsstaatlicher Ordnung in den neuen Bundesländern. Es war nicht
von Anfang an selbstverständlich zu erwarten, dass die
Menschen in den neuen Ländern so schnell die Regularien
rechtsstaatlicher Ordnung akzeptieren und verinnerlichen
würden. Man sollte daher heute jemanden für einen Gesetzesverstoß, und sei es gegen das Ladenschlussgesetz,
nicht loben.
An diesem Thema wird deutlich: Nicht alles, was aus
den alten Bundesländern auf die neuen Bundesländer
übertragen wurde, weil es sich im Westen lange Zeit gut
bewährt hatte, war per se geeignet, unbesehen auf die
neuen Bundesländer übertragen zu werden. Wie beim Ladenschlussgesetz war auch mancher Ladenhüter dabei.
({5})
Übrigens stand das Thema Änderung des Ladenschlussgesetzes in diesem Sommer nur für kurze Zeit auf
der politischen Tagesordnung. Dann wurde es von
Gerhard Schröder schnell weggeräumt. Dies geschah im
Zuge der Verständigung - besser: des Kuhhandels - zwischen Teilen der Gewerkschaften und Gerhard Schröder.
Und dieser Kuhhandel lautet: Ihr stört mich nicht bei meinen Rentenkürzungen und ich lasse euch euer
Ladenschlussgesetz. Damit wird es auf absehbare Zeit
- Sie werden es morgen erleben, Frau Kollegin Kopp,
auch im Bundesrat - keine Veränderung des gültigen
Ladenschlussgesetzes geben.
Daher ist das geltende Ladenschlussgesetz anzuwenden. Auch ein vermeintlich edles, soziales Motiv ist keine
Begründung für einen Gesetzesverstoß. Wer Gutes tun
will, sollte dies innerhalb unserer Rechtsordnung tun.
({6})
Und dass sich die Einhaltung des Ladenschlussgesetzes und Mondscheinfrisieren gegenseitig nicht ausschließen, beweist ein Blick in den Kalender: So ging am
17. Januar 2000 in Suhl die Sonne um 16.15 Uhr unter und
der Mond auf ({7})
also beste Zeit für Mondscheinfriseure bei dann hoffentlich auch Mondscheintarifen.
({8})
Das Wort hat die
Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! So ganz habe ich nicht verstanden, ob die
F.D.P. eine Aktuelle Stunde zum Ladenschluss oder zu
Sanktionen gegen eine thüringische Friseurin beantragt
hat. Ich glaube, sie weiß es selber nicht so ganz. Ich jedenfalls habe überhaupt keine Lust, hier im Bundestag darüber zu diskutieren, ob in Suhl in diesem Fall die Verhältnismäßigkeit der Mittel gewahrt worden ist oder nicht.
Das soll vor Ort diskutiert werden; das gehört nicht in den
Bundestag.
({0})
Vielleicht ist es das Problem der F.D.P., dass sie die Diskussion in Thüringen nicht führen kann. Aber dann soll sie
sich um mehr Wählerstimmen bemühen.
({1})
Ich möchte hier lieber etwas zum Ladenschluss sagen.
Angesichts der Diskussion, die in diesem Sommer auch
von den Wirtschaftsministern der Länder eröffnet worden
ist, ist es mir wichtig - das gilt gerade im Hinblick auf
Ostdeutschland -, dass wir die Diskussion nicht nur eindimensional führen und uns darauf beschränken, die Ansprüche von Großunternehmen gegen die Ansprüche von
Gewerkschaften abzuwägen, sondern dass wir auch die
städtebauliche Dimension und die Probleme der Innenstädte in die Debatte einführen. Dies ist dem Deutschen
Städtetag und dem Gemeindebund ebenfalls sehr wichtig.
Von daher werde ich die wenigen Minuten Redezeit
nutzen, um dafür zu werben, dass wir uns engagiert über
das Thema City-Privilegien im Ladenschluss auseinander
setzen. Das heißt, wir sollten nicht über eine weitere
flächendeckende Freigabe von Ladenöffnungszeiten
streiten, sondern sehr genau überlegen, was wir tun können, um die Innenstädte zu stärken und ihnen gerade am
Abend und am Samstag mehr Besucherströme zuzuführen. Ich sehe nämlich die große Gefahr einer flächendeckenden Freigabe darin, dass der Einzelhandel auf der
grünen Wiese, also an den nicht integrierten Standorten,
weiter gestärkt wird und dass die Konkurrenz im Einzelhandel insgesamt zu weiterem Dumping führen wird. Wir
müssen schon ernst nehmen, dass der Einzelhandel unter
einer sehr harten Konkurrenzsituation leidet, die insbesondere den kleinen Unternehmen enorm zu schaffen
macht.
({2})
- Das können wir noch genau diskutieren. Das sind die
Kernbereiche nach Flächennutzungsplan. Das erforderliche rechtliche Instrumentarium gibt es. Falls Sie sich im
Städtebaurecht nicht auskennen, kann ich Ihnen gerne
Nachhilfeunterricht geben.
Ich würde es begrüßen, wenn wir eine solche Diskussion führten, und ich freue mich, dass gerade heute der
Deutsche Städtetag und der Deutsche Städte- und Gemeindebund die von mir erhobene Forderung in einer gemeinsamen Erklärung in die Öffentlichkeit gebracht und
den Bundesrat aufgefordert haben, längere Ladenöffnungszeiten nur auf die Geschäfte in den Innenstädten zu
beschränken. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittelund Großbetriebe unterstützt diese Forderung ebenfalls.
Indem wir dieser Forderung nachkommen, werden wir
beiden Beteiligten an der heutigen Auseinandersetzung
Recht tun: Einerseits werden wir die Ausweitung der Ladenöffnungszeiten auf bestimmte Standorte begrenzen, an
denen es sinnvoll und wichtig ist, und andererseits werden
wir die Konkurrenz in diesem Bereich etwas strukturieren. Dies täte unseren Städten wirklich gut.
({3})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Heidi Knake-Werner.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nicht nur der Kollege
Möllemann, nein, die ganze F.D.P.-Fraktion ist für Überraschungen gut. Erstens ruft sie in diesem Hause erstmals
zu außerparlamentarischen Aktionen auf und zweitens
empfinde zumindest ich es als überraschend, dass Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen, den Einsatz für die
thüringische Mondscheinfriseurin offensichtlich dazu genutzt haben, Ihre Vorliebe für ein Leben nach dem Mondkalender zu entdecken. Ich darf Ihnen sagen, was er Ihnen
für heute empfiehlt. Im Mondkalender steht für heute,
dass Sie auf Ihre Blase und Ihre Nieren achten müssen
({0})
und sich nicht ins Gras oder auf Steine setzen sollen.
({1})
Zu spät, kann ich nur sagen. Weder Gras noch Steine. Mit dieser Aktuellen Stunde haben Sie sich kräftig in die
Nesseln gesetzt.
({2})
Jetzt zum Ernst der Sache. Die Aktion von Frau
Brückner hat, wie ich finde - ich denke, meine Fraktion
unterstützt das -, einen zutiefst menschlichen und anrührenden Hintergrund. Dieses soziale Engagement verdient unsere Anerkennung.
({3})
Vielleicht ist die Methode ein bisschen versponnen; dazu
kann man stehen, wie man will. Ein Geschäft jedenfalls
war es nicht.
({4})
Die Reaktionen der Behörden stehen dazu in der Tat in
überhaupt keinem Verhältnis und sind völlig unakzeptabel.
({5})
Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., dies
nun zu missbrauchen, um Ihr Lieblingsthema Ladenschlussgesetz wieder aus dem Hut zu zaubern, finde ich
wirklich mehr als peinlich.
({6})
Da wir das Thema nun aber auf dem Tisch haben, möchte
ich einige Argumente anführen, warum wir von der PDS
der Auffassung sind - diesmal sogar in Übereinstimmung
mit der Regierung -, dass es hinsichtlich des Ladenschlusses keinen Handlungsbedarf gibt.
Natürlich wäre es angenehm - das wissen wir aufgrund
der Form unserer Arbeit alle -, rund um die Uhr einkaufen zu können.
({7})
Auch ich stelle fest, dass die Konsummeilen in den
großen Städten zunehmend an Attraktivität für Freizeitund Familienvergnügen gewinnen. Das will ich auch niemandem verwehren. Aber ich frage Sie: Geht es Ihnen
denn wirklich um Verbraucherinnen und Verbraucher?
Die haben in der Woche 80 Stunden Zeit, ihren Bedarf zu
decken. Mehr Geld wollen Sie ihnen ja auch nicht geben,
wenn Sie die Ladenschlusszeiten aufheben. Ich glaube, es
geht Ihnen in der Tat um etwas ganz anderes,
({8})
nämlich um die Fortführung von Deregulierung.
({9})
Mir und der PDS geht es um die Menschen, die in diesem Bereich arbeiten. Alle Veränderungen bei den Ladenöffnungszeiten - das hat auch die letzte Veränderung
gezeigt - gehen zulasten der in diesem Bereich arbeitenden Menschen, insbesondere zulasten der Frauen.
({10})
Ihre Bedingungen verschlechtern sich massiv. Die Arbeitsplätze werden aufgelöst, aus Vollzeit- werden Teilzeitjobs.
Wir kennen ja die Argumente; wir haben sie hier schon
vielfach ausgetauscht. Die Konkurrenz der kleinen Unternehmen gegenüber der grünen Wiese nähme unerträglich
zu. Das Familienleben spielte sich dort dann nur noch hinter dem Ladentisch ab. Es gäbe einen enormen Verlust an
sozialen Beziehungen; das wissen Sie ganz genau. - Ich
denke, es gibt eine Reihe guter Gründe zu sagen: Die Ausweitung der Ladenöffnungszeiten ist völlig überflüssig.
Und die Regelung der Öffnungszeiten allein den Kommunen zu überlassen, halten wir auch für völlig daneben.
({11})
Nun noch ein Wort an die F.D.P.: Wenn Sie diese Aktuelle Stunde als Zeichen dafür nehmen, dass Sie zukünftig unterstützen, dass Dienstleistungen nach dem Mondkalender erbracht werden, dann können wir ja auf einiges
gefasst sein. Zeiten für Restaurantbesuche werden dann
ausgependelt,
({12})
Wäsche wird bei abnehmendem Mond gewaschen, weil
man so Waschpulver sparen kann. Wann Fliesen verlegt
werden, bestimmen zukünftig Tarotkarten, und die Inhalte
von parlamentarischen Initiativen werden mit der Wünschelrute gesucht.
({13})
Ich habe den Eindruck, damit haben Sie heute bereits begonnen.
Noch ein letzter Tipp ganz speziell an Sie: Stiertage im
zunehmenden Mond sind gut für Bankgeschäfte, Kaufverträge und Geldanlagen.
({14})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Margrit Wetzel.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich denke auch, dass diese
Aktuelle Stunde eigentlich nur peinlich,
({0})
absurd und des Parlamentes nicht würdig ist.
({1})
Das müssen Sie als F.D.P. einfach begreifen. Wir wollen
mit Ihnen nicht über esoterische Mondscheinsperenzchen
reden. Wir wollen mit Ihnen genauso wenig über den
Werbegag einer Unternehmerin oder darüber reden, wer
hier eigentlich wen instrumentalisiert. Die Frage ist doch,
ob die F.D.P. die Unternehmerin instrumentalisiert, damit
sie uns hier eine Ladenschlussdiskussion aufzwängen
kann, oder ob die Unternehmerin möglicherweise die
F.D.P. instrumentalisiert; denn sie hat ihre Werbung bundesweit so hervorragend organisiert, dass auch diese Aktuelle Stunde de facto nichts weiter ist als eine Werbeveranstaltung für ihre Dienstleistung. Das muss man schlicht
und einfach feststellen.
({2})
Der Zweck heiligt auch nicht die Mittel. Ihrer absurden
Logik können wir wirklich nicht folgen.
({3})
Wenn jemand spendet, muss er nicht gegen Gesetze verstoßen. Dass es hier im Haus einige gibt, die mit Spenden
gewisse Probleme haben, wissen wir. Aber darüber sollten wir besser an anderer Stelle diskutieren. Das müssen
wir nicht in einen Zusammenhang bringen.
({4})
Wenn jemand ein Bußgeld nicht bezahlt und der
Rechtsstaat daraufhin seine Mittel einsetzt, dann ist dies
überhaupt keine Diskussion in diesem Parlament wert;
denn dies ist nichts weiter als die Ausübung dessen, was
die Gerichte machen müssen.
Sie behaupten nun, das Ladenschlussgesetz sei nicht
mehr zeitgemäß.
({5})
Ich frage: Wie sieht es denn bei den Geschwindigkeitsüberschreitungen aus, die schon mehrfach erwähnt wurden? Schaffen wir etwa die Straßenverkehrsordnung ab,
weil sie nicht mehr zeitgemäß ist? Denken wir an andere
Bereiche. Bedauerlicherweise sind die Kirchen meistens
leer.
({6})
Die Leute gehen nicht mehr regelmäßig in den Gottesdienst. Ist es deshalb nicht mehr zeitgemäß zu glauben?
Viel zu viele Ehen, behaupte ich, werden geschieden. Ist
es deshalb nicht mehr zeitgemäß, Ehe und Familie unter
den Schutz des Gesetzes zu stellen? Nach Ihrer Logik
wäre das nicht mehr zeitgemäß. Dieser Logik wollen wir
nicht folgen. Über sie können wir nicht diskutieren.
({7})
Das, was im Moment nicht zeitgemäß ist, ist der Populismus, den Sie mit dem Thema des Ladenschlusses betreiben. Das ist peinlich und dem Diskussionsniveau in
diesem Parlament nicht angemessen.
({8})
Ich möchte Ihnen auch sagen - ich habe noch zwei Minuten Redezeit -, worüber wir gerne reden wollen. Das
hängt schon ein bisschen mit der Ernsthaftigkeit der Diskussion über den Ladenschluss zusammen, weil es hier
absolut unterschiedliche, aber durchaus berechtigte Interessen gibt, die gegeneinander stehen. Es gibt auf der einen Seite die kleinen Unternehmer, die mehr Umsatz in
den Innenstädten haben wollen. Es gibt auf der anderen
Seite die großen Konzerne, die ihren Gewinn optimieren
wollen. Es gibt auch noch die Verbraucher, von denen laut
Umfragen mehr als die Hälfte keine verlängerten Ladenschlusszeiten braucht.
({9})
Es stellt sich des Weiteren die Frage, warum denn eigentlich die geltende Regelung der Ladenöffnungszeiten
bei weitem nicht ausgeschöpft wird. Es stellt sich auch die
Frage, warum uns reihenweise die Untergliederungen und
die Regionalverbände - nicht zuletzt die kleinen und mittelständischen Einzelhändler aus Berlin, einer Großstadt,
der ich Weltstadtcharakter und damit ein Recht auf Liberalisierung zugestehe - trotz entsprechender Beschlüsse
der Bundesverbände in Briefen inständig darum bitten,
ihre Interessen hier entsprechend zu vertreten.
({10})
Schauen wir uns auch einmal die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Einzelhandel an.
Wie sollen die denn angesichts ständig wechselnder Arbeitszeiten ihre Kinder betreuen? Auch darüber müssen
wir uns Gedanken machen. Wie sollen die noch genügend
gemeinsame Freizeit haben, sodass sie miteinander Aktivitäten entfalten und miteinander reden können,
({11})
ein Ehrenamt ausüben können und in Vereinen und Verbänden aktiv werden können? Alle diese Dinge müssen
geklärt werden. Wir wollen, verehrte Frau Kopp, mit all
diesen Betroffenen in Ruhe reden, um zu zeigen, dass wir
ihre Wünsche und Forderungen ernst nehmen.
({12})
- Nein, Sie reden nicht seit zehn Jahren darüber. - Wir
nehmen die Betroffenheiten ernst. Wir werden uns in aller
Ruhe damit auseinander setzen; denn wenn das Ladenschlussgesetz geändert wird, soll es vernünftig geändert
werden, sodass es den unterschiedlichen Interessen der
Betroffenen auch tatsächlich entspricht, und zwar auf längere Zeit.
({13})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Meckelburg.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema
Mondscheinhaarschneiden halte ich in der Tat für ein bisschen abstrus und nicht wert, hier debattiert zu werden.
Nachdem die F.D.P. das Bußgeld übernommen hat, sollten Sie von der F.D.P., um das Thema in der Diskussion
zu halten, vielleicht darüber nachdenken, ob Sie in der
F.D.P.-Geschäftsstelle das „Nachthaarschneideasyl“ garantieren. Damit kommen dann auch Sie einmal in die
Zeitung.
Ich sage Ihnen deutlich - darin besteht mein Vorwurf
an Sie -: Sie haben dem Thema Ladenschluss durch diese
Diskussion nicht geholfen; vielmehr haben Sie es lächerlich gemacht und ihm geschadet,
({0})
weil Sie es den Koalitionsfraktionen erlauben, sich hinter
bösartigen Behauptungen zu verstecken, ohne etwas zum
Thema zu sagen. Das ist leider das Ergebnis.
Ich möchte den Versuch unternehmen, dieses Thema
anzugehen. Ich halte gerade die letzte Machtentscheidung
des Kanzlers für falsch.
({1})
Der Kanzler hat im Wahlkampf entschieden: Innovation,
mehr Flexibilität, Vorbereitung auf die Zukunft. Beim
Thema Ladenschluss ist er als mutiger Tiger gesprungen,
aber als Bettvorleger gelandet. Unter dem Bettvorleger
hat er den Ladenschluss erst einmal weggekehrt. Ich
finde, das ist falsch, vor allem deswegen, weil diese Entscheidung in Hinterzimmern getroffen worden ist. Es gab
Verabredungen mit Gewerkschaften und keiner weiß so
genau, was da verhandelt worden ist.
({2})
Das Thema ist erst einmal vom Tisch. Ich halte das für
falsch, weil ich finde, dass wir darüber reden müssen. Wir
können darüber heute offener reden als vor etwa vier Jahren, als wir die Entscheidung getroffen haben, zu einer
Flexibilisierung zu kommen. Ich erinnere mich an unsere
Anhörung im Ausschuss. Es war eine der interessantesten,
weil es mindestens 30 oder 35 Verbände gab, die zwar alle
eine unterschiedliche Meinung hatten, aber keiner in der
Lage war zu sagen, warum der Ladenschluss ausgerechnet bei 18.30 Uhr statt bei 19 Uhr oder bei 18 Uhr liegen
soll, warum der optimale Effekt hinsichtlich der Gewinnerzielung und der Einkaufsmöglichkeiten der Verbraucher
gerade bei dieser Uhrzeit liegt.
({3})
Die Grenzziehung ist sehr schwierig. Deswegen bin
ich persönlich für eine Entwicklung hin zu ein bisschen
mehr Öffnung und zu mehr Flexibilität bei den Öffnungszeiten in der Woche. Wir sollten über den Samstag ruhig
noch einmal in aller Breite diskutieren und wir sollten
vielleicht auch darüber nachdenken, wie man Arbeitnehmerrechte sichern kann. Gleichzeitig müssen wir uns darüber Gedanken machen, wie wir dafür sorgen können,
dass wir den Sonntag wirklich wieder zum Sonntag machen.
({4})
Auch das muss ein Ziel dieser Debatte sein.
In der Realität gibt es heute überall Entwicklungen, die
die Ladenschlussgesetzgebung durchbrechen. Das fängt
damit an, dass ganze Branchen - Feuerwehr usw. - auch
nach dem Ladenschluss arbeiten müssen, weil das unerlässlich ist. Diese Entwicklung findet auch in anderen Bereichen statt. Ich komme aus dem Ruhrgebiet. Dort gibt
es, um den Bedarf nach Gütern, die man nach der Ladenschlusszeit erwerben möchte, zu befriedigen, ein ganzes
System von Kiosken - wir nennen sie im Ruhrgebiet Buden -, wo man alles kaufen kann. Das ist die Realität. Sie
alle kennen es, dass man schnell zu Fuß zur Tankstelle
geht, um dort etwas zu kaufen, was man vergessen hat.
Das heißt, die Entwicklung in der Realität ist längst weiter. Gerade eine Politik, die sich vorgenommen hat, Innovationen vorzunehmen, muss da ein Stückchen weitergehen.
Offensichtlich scheuen dieser Bundeskanzler und diese
Bundesregierung an allen Stellen, wo es ein bisschen
eckig und kantig wird, die Auseinandersetzung, die Diskussion der Frage, was passieren muss.
({5})
Es wäre schön, wenn die Bundesregierung selber in dieser Debatte einmal ihre Position zum Ladenschluss deutlich darstellen würde. Im letzten Jahr wurde gesagt: Wir
warten den Bericht ab.
({6})
- Auch Frau Mascher ist entschwunden. Na gut, ich werte
das einmal als Zeichen dafür, dass es sich um Themen
handelt, bei denen der Regierung wirklich der Mut fehlt. Ich bin dafür, hier eine Debatte zu führen, in der wir in der
Sache weiterkommen. Es ist schade, dass die Bundesregierung in dieser Aktuellen Stunde gar nichts sagt und
ihren Hinterzimmerbeschluss, den Schröder mit den Gewerkschaften gefasst hat, nicht öffentlich erläutert, damit
wir wissen, wie ihre Position aussieht. Das würde uns sicherlich viel helfen, doch dazu kommt es nicht. Aber die
Zeit schreitet voran und wir werden sachlich miteinander
darüber reden, wie wir das Problem lösen.
Ein Letztes. Ich glaube, dass es ganz egal ist, ob wir sagen: Die Geschäfte können bis 20 Uhr, bis 22 Uhr oder bis
24 Uhr geöffnet sein. Die Realität hat uns überholt - darauf habe ich hingewiesen - und, ganz egal, was wir beschließen, die weitere Entwicklung wird vor Ort entschieden. Vor Ort wird entschieden, wie lange und in
welchen Bereichen die Läden geöffnet sind. Die Menschen in den Städten wissen das. Wir müssen das Problem
lösen, wie die Öffnungszeiten in Großstädten und auf dem
Lande, in den Zentren und den Außenbereichen geregelt
werden. Es erfordert ein bisschen Mut und Realitätssinn,
diese Fragen anzugehen. Doch daran fehlt es der Bundesregierung.
Ich sage es zum Schluss noch einmal: Es ist schade,
dass Sie von der F.D.P. dieses eigentlich wichtige Thema
mit dem Mondscheinhaarschneiden ein bisschen ins
Lächerliche gezogen haben.
({7})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Kolb.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Meckelburg,
wir haben das Thema nicht mit dem Mondscheinhaarschneiden ins Lächerliche gezogen. Vielmehr zeigt das
wieder einmal sehr deutlich, dass es einen Unterschied
ausmacht, ob man nur in Sonntagsreden das Hohelied auf
den Mittelstand singt oder ob man sich auch konkret in
Notsituationen um kleine Handwerksunternehmen vor Ort
kümmert.
({0})
Genau das tun wir hier und das lassen wir uns von niemandem verbieten.
({1})
- Das will ich Ihnen gerade erklären.
Herr Kollege Gilges, was Sie gesagt haben, war vollkommen daneben.
({2})
Ich will Ihnen den Fall noch einmal schildern. Diese mutige Frau - ich muss das hier sagen - ist in Handschellen
aus ihrem Geschäft geführt worden, weil sie sich geweigert hat, einen Offenbarungseid zu leisten, der ihr abverlangt wurde. Das ist der Kern der Dinge.
({3})
Dafür ist sie zwei Tage in den Knast gegangen.
({4})
Hier werden, Herr Gilges, Ihre alten Feindbilder wieder
wach. Wenn das Gleiche einem Arbeitnehmer passiert
wäre, wären Sie auf die Barrikaden gegangen. Aber wenn
es eine Unternehmerin ist, dann haben Sie nichts dagegen.
({5})
Hier ging es aber eben nicht um Profitgier, sondern um
eine gute Sache. Das ist ein wesentlicher Unterschied.
Wenn es Sie beruhigt, Herr Kollege Gilges:
({6})
Die Staatsanwaltschaft hat in der Hauptverhandlung die
Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit beantragt.
({7})
Dann aber hat ein Richter durch eine absolut unverhältnismäßige Entscheidung dazu beigetragen, dass das geschehen ist, was ich geschildert habe, nämlich dass die
Unternehmerin in Handschellen aus ihrem Unternehmen
herausgeführt wurde. Es muss uns allen doch ein Anliegen sein, dass so etwas nicht passiert.
({8})
- Davon habe ich sicherlich schon gehört. Ich habe aber
auch schon etwas vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
gehört.
Ich will es allen Vertretern der anderen Fraktionen hier
im Hause deutlich sagen: Das hätte nicht passieren
müssen, wenn Sie vor wenigen Wochen unserem Gesetzentwurf zugestimmt hätten, das Ladenschlussgesetz weitgehend zu liberalisieren. Dann nämlich hätte diese Frau
auch bei Mondschein Haare schneiden können, ohne mit
der Keule des Gesetzes bedroht zu werden.
({9})
Herr Gilges, hören Sie einmal zu, hier können Sie etwas
lernen.
({10})
Das zeigt auch den ganzen Widersinn Ihrer Politik. Sie
glauben, gegen eine sich wandelnde Umwelt, gegen sich
verändernde wirtschaftliche Bedingungen ein Gesetz aufrechterhalten zu müssen, das niemand mehr will:
({11})
das der Einzelhandel nicht mehr will, das die Verbraucher
nicht wollen und das die Mehrheit des Bundesrates nicht
mehr will. Nur Sie halten krampfhaft an diesem Gesetz
fest.
({12})
Dann lassen Sie uns das Gesetz doch ändern!
({13})
- Aber sicher!
({14})
- Nein, wir wollen das nicht. Sie wollen das vielleicht.
({15})
- Herr Gilges, ich weiß ja nicht, auf welchem Stern Sie leben. Ich habe aber sehr wohl mitbekommen, dass in den
letzten zwei oder drei Jahren ein dramatischer Bewusstseinswandel bei allen Betroffenen stattgefunden
hat. Auch der Hauptverband des Deutschen Einzelhandels, der sich noch vor drei Jahren entschieden gegen eine
Änderung des Ladenschlussgesetzes ausgesprochen hat,
ist plötzlich dafür. Das kommt nicht von ungefähr, sondern hat Gründe. Warum ist das so? Zur gleichen Zeit, als
Frau Brückner bei Mondschein Haare geschnitten hat, haben sich Hunderttausende in Deutschland vor ihren Computer gesetzt und ihre Kreditkarte belastet, um Shampoo,
Bier oder was oder auch immer zu bestellen.
({16})
Von der Bundesregierung - die Frau Staatssekretärin
ist Gott sei Dank wieder da - hört man weiter nichts, als
dass der Bundeskanzler auf allen Kanälen nach einer
Kiste Bier schicken lässt. Da kann man nur hoffen, dass
der Getränkeladen schon geschlossen ist. Aber wahrscheinlich wird das unserem Bundeskanzler, Gerhard
Schröder, auch nichts ausmachen, weil er dann seinen
Fahrer an die Tankstelle schickt, um ein Six-Pack zu
holen.
({17})
Nur, das sind doch keine Rahmenbedingungen für eine
gesunde Entwicklung der Wirtschaft und insbesondere
des Mittelstandes in unserem Lande. Deswegen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, müssen Sie verstehen, dass
ich mich hier ein bisschen ereifere. Ich bin selbst von
Haus aus Unternehmer. Daher finde ich es unerträglich,
wie hier gegen eine wirklich mutige, entschlossene und
ein Stück weit auch unbeugsame Unternehmerin aus Thüringen vorgegangen worden ist. Ist denn das etwas
Schlechtes?
({18})
Ich hätte mir gewünscht, dass von der Landesregierung in
Thüringen heute jemand hier gewesen wäre
({19})
und erklärt hätte, wie es dazu kommen konnte. Dem Justizminister des Landes würde ich nahe legen, die offensichtlich vorhandenen Kapazitäten auf andere Dinge zu
konzentrieren - vielleicht auf die Bekämpfung des
Extremismus oder auf die Aufklärung von Affären, die es
innerhalb der Landesregierung gegeben hat.
({20})
Das wäre sicherlich auch eine lohnenswerte Aufgabe.
({21})
Aber bitte nicht mit dem Vorschlaghammer und in Form
eines Rundumschlags gegen eine unbescholtene Unternehmerin vorgehen! Ich wünsche niemandem, dass er das
erlebt, aber ich glaube, es wäre für den einen oder anderen einmal heilsam, zwei Tage und zwei Nächte im Knast
zu verbringen. Dann würde er über die Sache vielleicht
anders denken.
Vielen Dank.
({22})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Brigitte Baumeister.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Manchmal
habe ich geschmunzelt, manchmal habe ich gestaunt und
in mich hineingehört. Dass das Thema Ladenschluss eine
solche Facette hat, war mir neu. Aber wir haben ja schon
sehr viele Diskussionen in diesem Hohen Hause erlebt.
Das Thema Ladenschluss beschäftigt uns seit vielen
Jahren. Es ist kein einfaches Thema, sondern ein ungemein schwieriges Thema, weil im Zusammenhang mit
dem Ladenschluss Regelungen getroffen werden, die für
manche gut und für manche schlecht sind, die die Interessen des Einzelhandels wie die der Verbraucher und der
Arbeitnehmer berühren, aber auch die der Kommunen.
Weil dieses Thema so vielschichtig ist, ist es auch so
schwierig zu entscheiden.
Konfliktreich war dieses Thema schon immer. Ich
erinnere mich noch sehr gut an das Jahr 1996, als die damalige Regierungskoalition eine Änderung des Ladenschlussgesetzes beschlossen hat. Es gab ewig lange Diskussionen. Es gab, Herr Gilges, ein vehementes Nein aus
Ihrer Fraktion.
({0})
Es gab seitens der F.D.P. die Forderung nach einer noch
stärkeren Liberalisierung des Ladenschlussgesetzes. Es
gab die Haltung des Einzelhandels, der überhaupt nichts
verändern wollte. Es gab unterschiedliche Auffassungen
bezüglich der Regelung in Innenstädten und ländlichen
Bereichen. Es gab auch die Diskussion, ob man die Ladenschlusszeit um eine Stunde verlängern sollte. Ich habe
damals gesagt, wir könnten vielleicht mit fünf Minuten
anfangen. Wir haben das Gesetz dann geändert. Zumindest hat das heute in gewissen Bereichen zu einer Beruhigung beigetragen. Es wurde gerungen und argumentiert
und bis zur heutigen Stunde ist dieses Thema emotional
belastet. Die grundsätzliche Frage, ob man den Ladenschluss vollkommen liberalisieren und freigeben soll,
wird uns mit Sicherheit noch eine ganze Weile beschäftigen.
Es liegt ja ein Antrag vonseiten der F.D.P. auf vollkommene Freigabe vor.
({1})
- Mein Abstimmungsverhalten gebe ich jetzt noch nicht
preis. Darüber sprechen wir dann später im Ausschuss.
Ich stimme Ihnen aber dahin gehend zu, dass all dies
äußerst schwierig ist.
Auf der einen Seite erleben wir zum Beispiel im
Einzelhandel eine starke Konzentration. Diese stimmt
mich nicht froh; das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen.
Ich hätte gerne noch das kleine Geschäft an der Ecke, bei
dem man unterschiedliche Waren bei kompetenter Bedienung kaufen kann und nicht nur ein Standardsortiment,
wie es heute in vielen Städten tatsächlich angeboten wird.
Ich sehe aber auf der anderen Seite auch ganz klar, dass
wir durch E-Commerce, modernen Handel usw. in die
Lage versetzt werden, über Zeiträume hinweg einzukaufen, die wir uns früher noch gar nicht vorstellen
konnten.
({2})
- Das weniger. Ich gehe normalerweise, sehr verehrter
Herr Koppelin, morgens oder abends zum Friseur, allerdings nicht zu so später Stunde. Da bin ich zu müde und
kann das Werk nicht so gut begutachten. Deswegen lege
ich Wert darauf, etwas früher zu gehen.
Die Union erkennt deshalb durchaus an, dass Handlungsbedarf besteht und wir darüber diskutieren müssen.
An der Stelle möchte ich aber klarstellen, dass wir zu dem,
was die F.D.P. hier vorhat, nämlich die Regelungen den
Ländern zu übertragen, vehement Nein sagen.
({3})
- Was Herr Kollege Meckelburg schon für die Union gesagt hat, möchte auch ich noch einmal betonen: Der Sonntag ist mir und uns heilig. Ich glaube, dass wir für den
Sonntag eine bundeseinheitliche Regelung brauchen. Das
ist wichtig und dafür wird sich die Union vehement einsetzen.
({4})
Mich wundert allerdings, dass die Bundesregierung auf
der einen Seite gerne die Ladenschlusszeiten ändern
möchte - Herr Müller hat dies ja angedeutet -, auf der anderen Seite aber Angst hat, dass die Gewerkschaften
gegen eine Neuregelung ihre Basis mobilisieren könnten.
Die Bundesregierung hat auch Angst, dass dann ihre
Rentenpläne möglicherweise nicht mehr von den Gewerkschaften unterstützt würden.
({5})
Um die Gewerkschaften zu besänftigen, sagt der Herr
Schröder: Ladenschluss ist derzeit kein Thema.
Schade, sage ich. Vielleicht wiederum ein wenig Taktik; denn der nordrhein-westfälische Wirtschaftsminister
Schwanhold hat ja bewusst einen Vorstoß unternommen.
({6})
- Ja, er selbst auch. - Der Bundesrat hat ebenfalls signalisiert, dass dieses Thema nicht abschließend einseitig besprochen worden ist, sondern durchaus noch offen ist.
Die „Berliner Zeitung“ schrieb am 15. September, dass
in Kreisen der SPD-Landesregierungen bestätigt worden
sei, alle Ministerpräsidenten hätten eingesehen, dass ein
Konsens mit den Gewerkschaften zur Rentenreform jetzt
Vorrang habe und die Liberalisierung des Ladenschlussgesetzes warten müsse. - Ich glaube, so geht es
nicht. Die Menschen hier im Hause, aber auch draußen,
der Mittelstand, der Einzelhandel, die großen Geschäfte,
die Verbraucher haben ein Recht darauf, zu erfahren, was
die Bundesregierung zu diesem Thema sagt. Sie wollen
nicht Opfer taktischer Spielchen werden, sondern sie
wollen eine berechenbare Politik, die sich am Gemeinwohl orientiert. Wir fordern Sie auf, einen Gesetzentwurf
dazu einzubringen.
({7})
Diese Regelung soll ausgewogen sein, Herr Gilges. Es
wäre an der Zeit, dass Sie noch einmal darüber nachdenken.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Siegfried Helias, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich das
erste Mal von dieser haarsträubenden Geschichte hörte,
habe ich an einen gelungenen Werbegag des Zentralverbandes des deutschen Friseurhandwerks im Vorfeld der
jetzt in Berlin beginnenden Friseurweltmeisterschaft
„Hair World“ gedacht. Aber eine solche Geschichte kann
man offensichtlich nicht erfinden,
({0})
die schreibt das Leben selbst.
Nach dem, was Frau Brückner widerfahren ist, oute
auch ich mich als Täter, mehr noch: als Serientäter. Ich
habe an den vergangenen Wochenenden ebenfalls Haare
für wohltätige Zwecke geschnitten und den Betrag einer
Kita zur Verfügung gestellt, die aidskranke und HIV-infizierte Kinder betreut. Das habe ich in den Vorjahren
auch schon so gemacht.
({1})
- Wir kommen gleich zu den Kunden. Lieber Herr Gilges,
die damalige Arbeitssenatorin Christine Bergmann hat
sich ebenfalls schon in meine Obhut begeben.
({2})
Da ich dies bereits in den Vorjahren so gehandhabt habe,
bin ich wohl als Wiederholungstäter einzustufen, gemeinsam mit dem Obermeister der Friseurinnung Berlin, Hans
Buschmann, und mit weiteren über 100 Innungskolleginnen und -kollegen.
Auch heute habe ich wieder zum Tatwerkzeug, zur
Schere, gegriffen, und zwar gemeinsam mit Ilka Brückner,
noch dazu im Bundestag. Mit vielen Friseurinnen und
Friseuren ging es mir um drei Dinge: Kollegialität mit Ilka
Brückner zu beweisen,
({3})
gesellschaftliches Engagement zu zeigen und gegen unsinnige Gesetze zu demonstrieren.
({4})
Um ein solches unsinniges Gesetz handelt es sich beim
so genannten Ladenschlussgesetz. Deshalb unterstütze
ich die vom Land Berlin ausgehende Bundesratsinitiative,
die morgen auf der Tagesordnung des Bundesrates steht.
Ein Kernpunkt dabei ist, dass Ladenöffnungszeiten jetzt
montags bis freitags bis 22 Uhr möglich sein sollen.
Damit erhalten Geschäfte erstmals die Möglichkeit, ihre
Öffnungszeiten montags bis freitags weitgehend dem tatsächlichen Bedarf der Kunden anzupassen. Dabei ist klar,
dass nur, wenn Kundenströme und Umsatzentwicklung es
erlauben, also in den seltensten Fällen, Geschäfte volle
16 Stunden am Tag geöffnet sein werden. Kein Händler ist
verpflichtet, sein Geschäft den ganzen Tag offen zu halten. Es soll lediglich erreicht werden, dass die Öffnungszeiten variabler und flexibler gehandhabt werden
können, als es gegenwärtig der Fall ist.
({5})
Eine weitere Änderung betrifft die Ladenöffnungszeiten an Samstagen. Die Ladenöffnung wird bis 20 Uhr
gestattet sein.
({6})
Damit erhalten die Einzelhändler erstmals die Möglichkeit, ihre Öffnungszeiten auch an Samstagen dem tatsächlichen Bedarf der Kunden anzunähern. Auch hier gilt:
Niemand ist verpflichtet, sein Geschäft während des ganzen Tages offen zu halten. Aber gerade für die Samstage
haben viele Geschäftsinhaber eine Verlängerung der Ladenöffnungszeit gefordert, um den Wünschen der Verbraucher besser gerecht werden zu können.
Die Aktuelle Stunde hat sich aus den Sanktionen gegen
Frau Brückner ergeben. Ich habe in dieser Angelegenheit
an den Ministerpräsidenten des Freistaates Thüringen
geschrieben und ihn gebeten, sich ein Beispiel an Berlins
Landesvater Eberhard Diepgen zu nehmen. Der Regierende
Bürgermeister hat im Rahmen ähnlicher Aktionen bei mir
schon Haare für einen guten Zweck gelassen.
({7})
Auch heute waren eine ganze Reihe von Kollegen bei mir
- beispielsweise Kollege Koppelin, Angela Merkel und
Peter Weiß - und haben Haare für einen guten Zweck gelassen.
({8})
Ich rufe Dr. Vogel aus dem Bundestag zu: Lassen Sie
in Ihrem Bundesland keine Haarspaltereien zu! Beweisen
Sie Köpfchen! Vor allem: Lassen Sie Frau Brückner
Gerechtigkeit nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit widerfahren!
({9})
Es gibt Gott sei Dank auch Engagement nach Ladenschluss.
({10})
Danke schön.
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands 1999 und Stellungnahme
der Bundesregierung
- Drucksache 14/2957 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Parlamentarische Staatssekretär Catenhusen.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Mitdiskutantinnen und Mitdiskutanten, soweit sie schon im Saal
anwesend sind! Den Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands, den wir heute beraten, legt
die Bundesregierung schon im zweiten Jahr dem Parlament direkt zur Beratung vor. Schon nach dieser kurzen
Zeit hat der Bericht einen festen Platz in der parlamentarischen Beratung gewonnen. Er füllt einen wichtigen
Raum zwischen einer rein ökonomischen und einer nur
auf technologische Sicht begrenzten Betrachtung der Position Deutschlands in der Welt aus. Im Rückblick auf unsere Debatte zum letztjährigen Bericht im Januar freue ich
mich über die große überparteiliche Akzeptanz und Resonanz, die der Bericht schon damals gefunden hat.
Wir waren und sind uns hoffentlich darüber einig - zumindest im Grundsatz -, dass Investitionen in Bildung
und Forschung die entscheidenden Triebkräfte für wirtschaftliches Wachstum und für neue Arbeitsplätze sind.
Das ist auch die zentrale Botschaft des heute zu beratenden Berichts. Er zeigt: Länder, die vermehrt in Forschung
und Entwicklung investieren, legen damit den Grundstein
für ein höheres Wirtschaftswachstum. Andere Länder, die
in ihren F-und-E-Anstrengungen eher zögerlich sind,
finden sich dagegen am unteren Ende der Wachstumshierarchie wieder. Beispielsweise Finnland hat
diesen Zusammenhang erkannt; denn sowohl bei der Intensität der Anstrengungen im F-und-E-Bereich als auch
beim Wirtschaftswachstum liegt Finnland heute in Europa
an der Spitze.
Ein so hohes Wirtschaftswachstum hatten wir in
Deutschland in den 90er-Jahren - zumindest bis 1998 nicht zu verzeichnen. Ein Grund dafür ist auch, dass bei
uns in den 90er-Jahren die Aufwendungen für Forschung
und Entwicklung von knapp 3 Prozent auf 2,3 Prozent des
Bruttosozialproduktes zurückgegangen waren. Verantwortlich dafür war vor allem der Rückgang der Innovationsanstrengungen der Wirtschaft. Aber auch die alte
Bundesregierung hat mit ihrer Kürzung der Ausgaben für
Bildung und Forschung um 700 Millionen DM ihren
Beitrag zu dieser falschen Entwicklung geleistet.
Wir haben diese falsche, verfehlte Politik korrigiert.
Bereits mit unseren beiden ersten Bundeshaushalten 1999
und 2000 haben wir gezeigt, dass Bildung und Forschung
in Deutschland wieder Priorität haben. Vor knapp zwei
Wochen hat Bundesministerin Bulmahn an dieser Stelle
unseren Bundeshaushalt für das kommende Jahr
vorgestellt. Mit 15,37 Milliarden DM stellen wir so viel
Geld für Bildung und Forschung bereit wie nie zuvor in
der Geschichte Deutschlands. Dabei habe ich eine mögliche Verwendung von Zinserlösen infolge der Versteigerung der UMTS-Lizenzen noch nicht berücksichtigt.
Wir haben damit die Trendwende geschafft. Aber es
gibt keinen Anlass zur Selbstzufriedenheit angesichts der
Tatsache, dass auch andere wichtige europäische und
außereuropäische Länder dabei sind, ihre Anstrengungen
im Bereich Bildung und Forschung deutlich zu verstärken.
Wenn wir unter den OECD-Ländern auch längerfristig
wieder einen vorderen Platz belegen wollen, müssen wir
diese Trendwende im Bereich Forschung und Entwicklung fortsetzen. Es ist gut, dass die Wirtschaft mittlerweile
mitzieht. Der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft meldet, dass die F-und-E-Aufwendungen der
Wirtschaft Ende der 90er-Jahre wieder kräftig zugelegt
haben. Das ist eine erfreuliche Botschaft.
Der Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit
unterstreicht übrigens auch, dass die zum 1. Januar nächsten Jahres in Kraft tretende Steuerreform mit ihren finanziellen Entlastungen für die Unternehmen gerade auch
den finanziellen Spielraum der Wirtschaft für Forschung
und Entwicklung weiter erhöhen wird.
({0})
Das trifft übrigens auch für die Personengesellschaften
zu.
({1})
- Herr Rachel, es wäre nicht nur schön, sondern es ist
schön. Lesen Sie es im Bericht nach.
Der Bericht lobt dieses Konzept ausdrücklich - ich zitiere - „als entscheidenden Schritt in die richtige Richtung“. Es ist jetzt Sache der Wirtschaft, den zusätzlich
gewonnenen Spielraum in den nächsten Jahren entschlossen zu nutzen.
Meine Damen und Herren, Deutschland ist Technologieführer in Europa bei Patenten, Innovationen und Weltmarktanteilen an forschungsintensiven Gütern. Bei all
diesen wichtigen Indikatoren sind wir in Europa ganz
vorne dabei.
Doch das Gutachten warnt auch. Wir stehen jetzt am
Scheideweg; denn die gleichen Indikatoren, die Deutschland heute eine Spitzenposition bescheinigen, zeigen,
dass sich die internationalen Gewichte auf Zukunftsfeldern und Zukunftsmärkten in den 90er-Jahren verschoben haben, und zwar weg von Deutschland hin zu
einigen kleineren europäischen Ländern, hin zu den USA
und in Richtung Asien.
Lassen Sie mich an zwei Beispielen verdeutlichen, wie
die Bundesregierung auf diese Entwicklung, auch ermutigt durch die Aussagen dieses Berichts, reagieren
wird. Es geht zum einen um die Beschleunigung und das
energische In-Angriff-Nehmen von strukturellen Reformen, die das deutsche Innovationssystem insgesamt leistungsfähiger machen. Es geht um strukturelle Reformen,
die zu mehr Effizienz und Flexibilität an unseren
Hochschulen und Forschungseinrichtungen führen. Ich
nenne die Stichworte Dienstrechtsreform, Programmsteuerung, Budgetierung. Wir wollen damit die Kreativitätspotenziale in den Forschungseinrichtungen und
Hochschulen stärken. Wir wollen etwa auch die Internationalisierung unseres Hochschul- und Forschungssystems vorantreiben.
Hinzu kommt natürlich, dass wir im Bereich Innovation, im Bereich Wissens- und Technologietransfer neue
Anstrengungen unternehmen müssen. Die Wissensbasiertheit von Erfindungen hat deutlich zugenommen. Es
ist gut, dass in deutschen Patentschriften heute rund sechs
Mal so viele wissenschaftliche Veröffentlichungen zitiert
werden wie noch vor 20 Jahren. Aber wir müssen die
Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft
weiter verbessern.
In wenigen Wochen wird das Bundesministerium für
Bildung und Forschung zusammen mit der OECD hier in
Berlin eine internationale Konferenz zu Fragen des Wissens- und Technologietransfers organisieren, die weltweit
„best practice“ in der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft herausarbeiten wird.
Auch der Kanzler selbst wird sich dieser Frage in den
nächsten Wochen und Monaten annehmen. Mitte November wird er mit ausgewählten Experten aus Wissenschaft
und Wirtschaft zusammentreffen, um Ansatzpunkte zur
Verbesserung des Wissens- und Technologietransfers in
Deutschland zu diskutieren.
({2})
Auch in seiner Aufgeschlossenheit für dieses wichtige,
zukunftsweisende Thema für Deutschland hebt sich der
jetzige Bundeskanzler wohltuend von seinem Vorgänger
ab.
Herr Rachel, Sie machen immer sehr nette Zwischenrufe. Aber darauf kann ich Ihnen nur antworten: Ich freue
mich sehr, dass unser Bundeskanzler nie Probleme damit
hatte, zu verstehen, was eine Datenautobahn ist.
Die Umsetzung von Forschungsergebnissen in neue
Produkte und Dienstleistungen können wir durch mehr
Anreize für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
deutlich steigern. Ich denke, es ist vor allem wichtig, dass
der Bericht eine anhaltend steigende Dynamik bei Unternehmensneugründungen aus dem Bereich Wissenschaft und Forschung feststellt. Es ist wichtig, dass
Deutschland heute der größte europäische Markt für Unternehmensfinanzierungen in der Gründungsphase ist.
Mit Programmen wie Exist geben wir Hochschulabsolventen und -absolventinnen die notwendige Unterstützung für erfolgreiche Unternehmensgründungen.
Als letztes Beispiel: Sie wissen, dass wir gerade energische Anstrengungen unternehmen, um aus der Biotechnologie die Potenziale für neue Innovationsdynamik nicht
nur im Pharmabereich zu gewinnen. Ich denke, gerade unsere Pharmaindustrie braucht eine neue, starke Technologiebasis am Standort Deutschland. Auf diesem Gebiet hat
die Vorgängerregierung sehr viel versäumt. Wir sorgen
mit kräftigen Zuwachsraten dafür, dass wir unsere Stellung in der Welt, nämlich Nummer zwei hinter den Vereinigten Staaten, auf diesem Zukunftsfeld endlich wiedergewinnen.
({3})
Eine letzte Bemerkung: In einigen Zweigen der IuKTechnologien hinkt Deutschland hinterher. Ein Grund
dafür ist der akute IT-Fachkräftemangel. Mit der GreenCard-Initiative haben wir versucht, diesem Mangel zu
begegnen.
({4})
Das bedeutet aber auch, dass wir fortlaufende Anstrengungen unternehmen müssen, um die technologische Basis und die wissenschaftliche Infrastruktur im Bereich der
Informations- und Kommunikationstechnik stärker auf
die Zukunft vorzubereiten.
Meine Damen und Herren, der Bericht führt Stärken
und Schwächen des deutschen Innovationssystems deutlich vor Augen. Er enthält wertvolle Empfehlungen, wie
Wege eines erfolgreichen Innovationsmanagements in
Deutschland gegangen werden können. Die rot-grüne
Bundesregierung fühlt sich durch den Bericht durchaus
darin bestätigt, auf dem richtigen Wege zu sein.
Danke schön.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Axel Fischer.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Deutschland ist in Europa Technologieführer, doch
um diese Position zu halten, muss es sich stärker
anstrengen.
Dieses Fazit zog die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“
am 18. Januar dieses Jahres anlässlich der Pressekonferenz der Bundesforschungsministerin zur technologischen
Leistungsfähigkeit Deutschlands. Mit anderen Worten,
Herr Catenhusen: Die Vorgängerregierung hat ein gut bestelltes Feld überlassen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Hans-Josef Fell ({0})
Nichts anderes ergibt sich aus diesem Technologiebericht.
({1})
Die Analyse ist hervorragend und das Lob berechtigt.
Was fehlt, sind die richtigen Schlussfolgerungen der Bundesregierung. Wie immer, wenn es zu konkreten Umsetzungen kommt, hält sich das Bundesforschungsministerium zurück. Frau Bulmahn müsste man fragen: Wie
lange wollen Sie sich eigentlich darauf beschränken, vieles anzukündigen und wenig durchzusetzen?
({2})
Sie werden als Ankündigungsministerin in die Geschichte eingehen. Bei der Umsetzung herrscht jedoch
- wie immer - ein bulmahnsches Bildungs- und Forschungsvakuum. Erst vor kurzem, bei den Beratungen des
Haushaltsplans 2001, wurden wir enttäuscht. Die Investitionen in Bildung und Forschung gingen gegenüber 1998
um 500 Millionen DM zurück. Damit sichern Sie nicht
den Technologiestandort Deutschland; Sie senden negative Signale aus, insbesondere in Richtung Wirtschaft,
auf deren Investitionen wir bei der technologischen Entwicklung Deutschlands angewiesen sind.
Wie sieht der Technologiebericht aus? Die Analyse ist
punktgenau, die Zielbeschreibung der Bundesregierung
jedoch nur vage. Heute wäre eigentlich der Anlass, dem
Vorgänger Jürgen Rüttgers für die glänzende Arbeit zu
danken.
({3})
Ich beziehe mich auf das Projekt „Schulen ans Netz“, darauf, dass allein zwischen 1995 und 1997 56 Ausbildungsberufe modernisiert und 23 neue geschaffen wurden, auf die Einführung des Meister-BAföG und des
Wettbewerbs Bio-Regio und auf die Verabschiedung des
IuKD-Gesetzes.
({4})
- So ist es.
Man darf aber auch die Wirtschaft nicht vergessen. Sie
ist ihrer Verantwortung nachgekommen und hat einen erheblichen Anteil an der technologischen Spitzenstellung
unseres Landes. Unternehmen haben den Anspruch, dass
ihnen seitens der Politik die notwendigen Freiräume gelassen werden. Nur wenn sie in die Lage versetzt werden,
in Forschung und Entwicklung zu investieren, kann die
Sicherung unserer technologischen Zukunft gelingen.
Daher ist es ein Irrweg, dass die Bundesregierung
durch die Steuerreform die Kapitalgesellschaften bereits
2001 entlastet, die Personengesellschaften jedoch, die
90 Prozent der Unternehmen ausmachen, erst 2005.
({5})
Dies trifft insbesondere den Mittelstand, der auf dem Gebiet von Forschung und Entwicklung einen Nachholbedarf hat. Es ist zu befürchten, dass auf dem Technologiesektor die Kluft zwischen Großbetrieben und mittelständischen Unternehmen breiter wird.
Meine Damen und Herren von der Koalition, die Bundesregierung stellt zu Recht fest, dass die Bundesrepublik
Deutschland ihren Spitzenplatz nur durch technologischen Vorsprung und Spezialisierung halten kann.
Warum setzen Sie diese Erkenntnisse nicht in die Tat um,
Herr Fell?
({6})
In den Vorbemerkungen zum Technologiebericht weht
der Geist der 60er-Jahre. Das Ziel, das Abitur für möglichst viele einzuführen, führt nicht zwangsläufig zur Ausweitung der Bildungsgesellschaft. Eine allgemeine Absenkung des Niveaus schafft keine Spitzenposition. Jeder,
der dazu befähigt ist, soll das Abitur machen können. Eine
soziale Auswahl aufgrund eines finanzschwachen Elternhauses darf es nicht geben.
({7})
Das heißt aber nicht, dass die Zahl der Abiturienten unendlich gesteigert werden soll. Unser Bildungssystem
braucht beides: den Studenten und den Lehrling.
Dank der rot-grünen Politik in den Ländern werden die
Hauptschule und ihr Abschluss jedoch infrage gestellt.
Auf der Strecke bleiben diejenigen, die in dem verschulten Ausbildungssystem nicht mithalten können, für die
aber auch keine Alternative geschaffen wurde. Nicht alle
jungen Menschen sind der modernen Leistungsgesellschaft gewachsen. Auch um sie müssen wir uns kümmern.
Die Stellungnahme der Bundesregierung macht deutlich: Sie will die Fragen des 21. Jahrhunderts mit Bildungsansätzen der Vergangenheit lösen. Das Pflänzchen
der 68er-Generation ist längst verblüht. Wir brauchen
Lösungen, die in der heutigen modernen Technologieund Kommunikationsgesellschaft Bestand haben. Was
wir heute brauchen, ist eine Qualifizierungsoffensive für
Deutschland. Ein Spitzenplatz für die Bundesrepublik ist
nur mit einer Förderung von Eliten und Spitzen zu erreichen.
({8})
Auch dies wird im Technologiebericht hervorgehoben,
ohne dass die Bundesregierung die nötigen Konsequenzen daraus ziehen will.
Rot-Grün setzt weiter auf das Massenstudium, obwohl
die positiven Effekte ausgeblieben sind. Der Anteil der
Hochschulabsolventen eines Jahrgangs hat sich in den
letzten 20 Jahren kaum verändert. Das Abitur bedeutet
nicht zwangsläufig den Hochschulabschluss. Von diesem
Gedanken sollte sich Rot-Grün verabschieden.
Besorgnis erregend ist auch die Zahl der Studienabbrüche. Fast 40 Prozent der Studienanfänger beenden ihr
Studium nicht. Vor allem Fachbereiche, deren Abschlüsse
wir für die technologischen Entwicklung in Deutschland
dringend brauchen, sind betroffen: Elektrotechnik mit
50 Prozent, Physik mit 50 Prozent, Informatik mit 60 Prozent und Mathematik mit 70 Prozent.
({9})
Das ist verschleudertes Humankapital. Die Schüler müssen für die Hochschulen besser vorbereitet werden.
({10})
In den Bundesländern gibt es hinsichtlich des Abiturs
große Unterschiede; auch das muss man hier einmal sagen.
Die Bundesregierung behauptet, sie fühle sich durch
die Analysen und Handlungsempfehlungen bestätigt.
({11})
Es ist kühn, von Bestätigen zu sprechen, wenn die Fakten
etwas anderes aussagen. Einige Beispiele: Sie stellen die
Patentanmeldungen in den Vordergrund und sehen darin
eine positive Leistungsbilanz der Bundesregierung. Die
jetzige Bundesregierung hat die Patentanmeldungen jedoch erschwert, indem sie die Gebühren um ein Drittel
angehoben hat. Dass sich seit 1993 die Zahl der Patentanmeldungen außeruniversitärer Forschungseinrichtungen
mehr als verdoppelt hat, ist kein Verdienst Ihrer Koalition.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Höhe der Aufwendungen für Forschung und Entwicklung. Gerade in diesem Bereich ist der internationale Markt in Bewegung geraten. Der Technologiebericht stellt fest, dass die Hälfte
der Investitionen ausländischer Tochterunternehmen aus
den USA stammt, dass sich diese aber zunehmend in
Richtung Asien und Südamerika orientieren. Die Lösung
ist die Schaffung attraktiver Rahmenbedingungen. Das
stellt die Bundesregierung fest. Aber was will sie tun? Der
Bericht betont, dass Wettbewerbspolitik Innovationspolitik sei. Je offener und liberaler der Markt, desto besser die
Nutzungspotenziale und Chancen. Bestes Beispiel ist der
Telekommunikationsmarkt. Frau Bulmahn war es, die
Axel E. Fischer ({12})
als eine der SPD-Bundestagsabgeordneten 1994 gegen
die Privatisierung der Post gestimmt hat. Nun schöpfen
Sie dank der innovativen Politik unserer Regierung den
Rahm ab, kassieren das Geld ein und geben es entsprechend wieder aus.
Es stellt sich die Frage, welche Schritte die Bundesregierung ergreifen will, um den Wettbewerb zu erleichtern.
({13})
Im Technologiebericht gibt es auch dazu wieder einmal
keine Antwort. Der Bericht hebt hervor, dass für die technologische Entwicklung Deutschlands den Hochschulen
eine Schlüsselrolle zukommt. Folgende Reformansätze
werden genannt: stärkerer Wettbewerb der Hochschulen
untereinander, Anreize für Studenten zu effizienterem und
praxisorientiertem Studium, Anpassung der Studiengänge
an international übliche Standards, flexiblere Studiengänge mit verschiedenen Spezialisierungsgraden.
Hierzu gab es kein Wort von Frau Bulmahn. Ich schließe
daraus, dass sie diese Punkte nicht umsetzen und damit
auch einer der zentralen Forderungen des Technologieberichts nicht folgen will.
Dabei gibt es Handlungsbedarf, zum Beispiel bei der
Studiendauer. Laut Zahlenwerk aus dem BMWF wird die
Studienzeit innerhalb der EU nur noch von Griechenland
und Österreich übertroffen. Man kann heftig darüber
streiten, ob die Einführung von Studiengebühren für
Langzeitstudenten in Baden-Württemberg der richtige
Weg war. Fakt ist aber, dass seit Einführung der Studiengebühren die Zahl der Studenten, die 14 Semester und länger studiert haben, um über 40 Prozent zurückgegangen
ist. Frau Bulmahn ist zwar gegen Studiengebühren. Doch
sie erscheint als einsame Ruferin in der Wüste. Noch nicht
einmal die niedersächsische Landesregierung folgt ihr,
obwohl sie dort SPD-Vorsitzende ist.
Nicht nur in Forschung und Lehre haben CDU/CSU
Akzente gesetzt. Gleiches gilt für die berufliche Bildung.
Wir waren es, die das Meister-BAföG auf den Weg gebracht haben.
({14})
Dies war eine weitreichende Entscheidung. Meine Fraktion hat im vergangenen Jahr einen Antrag zur Verbesserung des Meister-BAföGs im Bundestag eingebracht. Die
Koalition lehnt den Antrag ab, sagt aber eigene Maßnahmen zu. Darauf, Herr Catenhusen, warten wir noch
heute.
Sie wissen, dass zusätzliche Qualifikationen auch bessere Berufschancen und einen positiven Effekt für unsere
Volkswirtschaft mit sich bringen. Sie sind jedoch nicht bereit, unser Modell des Meister-BAföGs fortzuentwickeln.
Konsequenz: Die Haushaltsmittel für das Meister-BAföG
sind von ursprünglich 167 Millionen DM auf nunmehr
70 Millionen DM gesunken. Das ist die Qualifikationsförderung von Rot-Grün!
({15})
Das muss man sich einmal genau vornehmen.
({16})
Es ist dringend Handlungsbedarf geboten. Daher hat
die CDU die Stiftung Bildungstest vorgeschlagen, um
die Weiterbildungsangebote zu überprüfen. Dabei soll es
nicht bleiben. Vielmehr sollen alle Bildungsangebote und
-einrichtungen auf Qualität überprüft werden.
({17})
Wenn wir die Bildung in Deutschland voranbringen wollen, müssen wir die Stärken und Schwächen vorbehaltlos
aufklären. Dafür brauchen wir eine unabhängige Einrichtung, die Stiftung Bildungstest.
({18})
Frau Bulmahn, Sie haben den CDU-Vorschlag trotzig
als „olle Kamelle“ bezeichnet und angekündigt, Weiterbildungsangebote durch die Stiftung Warentest überprüfen zu lassen.
({19})
Dieser Vorschlag war weder fantasievoll noch ausreichend. Es hat keinen Sinn, zwischen Waschmitteln und
Windeln Weiterbildungsangebote zu überprüfen.
Herr Kollege,
denken Sie daran, dass Ihre Redezeit abläuft.
Ich
komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Damit müssen
sich Spezialisten beschäftigen, die etwas von der Materie
verstehen.
Der Technologiebericht enthält zahlreiche Ansätze, deren Umsetzung die technologische Leistungsfähigkeit
Deutschlands stärken könnte. Die Koalition sollte ihn als
Richtschnur dafür nehmen, die eigene Politik zu überprüfen. Das ist dringend notwendig. Sie können sich darauf
verlassen: Meine Fraktion wird Sie sehr genau beobachten und dabei kritisch begleiten.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Hans-Josef Fell.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr
Kollege Fischer, ich glaube, Sie haben einen anderen Bericht gelesen als den, der heute als Grundlage für die Debatte dient.
({0})
Axel E. Fischer ({1})
Zumindest will ich Sie auf die Seite 1 dieses Berichtes
deutlich hinweisen. Dort steht eine etwas andere Bewertung.
({2})
- Nein, auf der Seite 1 stehen sehr deutlich die Kernsätze.
Dort heißt es beispielsweise: Auf einer Rangliste der
Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes lag Deutschland in den 90er-Jahren an 16. Stelle unter den 20 größten
Industrienationen.
({3})
Es steht dort aber auch, wie es überhaupt dazu kommen
konnte. Der Bericht gibt eine eindeutige Antwort, denn:
Die Investitionen in die Zukunft ... ließen in den
Neunzigerjahren zu wünschen übrig.
Weiter heißt es im Bericht:
In der Rangliste der Länder mit den höchsten Zukunftsinvestitionen ist Deutschland zurückgefallen.
Ich denke, das spricht für sich. Deutlicher kann das
Versagen der kohlschen Technologiepolitik nicht dokumentiert werden.
({4})
Aber ganz anders sieht es bei den momentanen Verhältnissen aus.
({5})
- Lesen Sie es doch in diesem Bericht nach, Herr
Friedrich. Dort können Sie es wirklich erfahren.
({6})
- Ich zitiere nur die entscheidenden Phasen des Berichtes,
die zusammenfassend alles darstellen. Lesen Sie doch auf
Seite 1 mit:
In der kurzfristigen Perspektive zeigt sich für die Zukunft ein tendenziell positives Bild. Die Zahl der Anmeldungen von weltmarktrelevanten Patenten steigt
steil an, die Zahl der innovativen Unternehmen
nimmt zu, die Produktivität der Wirtschaft steigt, der
Umsatz mit neuen Produkten wächst und die Exporte
in FuE-intensive Wirtschaftszweige nehmen kräftig
zu.
Welch besseres Lob kann es für die Kehrtwende dieser
Bundesregierung im Technologiebereich geben?
({7})
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Union
und der F.D.P., diese Zahlen zu Ihrer Regierungszeit auf
dem Tisch gehabt hätten, hätten Sie das als großes Glück
für dieses Land bezeichnet. Ich möchte sogar sagen, Sie
hätten vor Freude auf den Tischen getanzt.
Lassen Sie mich weiter aus dem Bericht zitieren. Vor
allem mit Blick auf den Umweltschutz betonen die Gutachter, dass Deutschland gerade in den Bereichen, in denen es seine spezifischen Stärken ausspielen kann, einen
Platz an der Spitze, eine Technologieführerschaft anstreben sollte. Wie wahr! Das haben Bündnis 90/Die Grünen
immer gesagt.
Aber, ich erinnere mich an den Anfang dieses Jahres,
als ein Herr Rühe gesagt hat: zehn Jahre Innovationspause
im Umweltschutz. Wie verträgt sich das mit den Aussagen
dieses Berichtes, nach denen gerade im Umweltschutz Innovationen besonders wichtig sind, um die Technologieführerschaft nicht nur zu halten, sondern auch auszubauen?
Ich zitiere weiter:
Die Gesetzgebung ist eine der wichtigsten Triebfedern für Umweltinnovationen. Eine Stimulierung der
Innovationsaktivität im Umweltbereich bringt doppelte Früchte - zum einen für die Umwelt und zum
anderen für die technologische Leistungsfähigkeit.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir kommen
nicht aus der Ölkrise heraus, indem wir den Erdölverbrauch subventionieren wollen,
({8})
indem wir - wie von Ihnen gefordert - Steuersenkungen
vornehmen und das Erdöl billiger machen. Dann fließen
die Milliarden weiterhin in die Hände der OPEC.
({9})
Herr Möllemann soll bei den Scheichs gute Freunde
haben. Vielleicht setzt er sich deswegen so sehr für den
Bau neuer Autobahnen ein. Nein, wir werden die globale
Ölkrise nur dann meistern, wenn wir ganz auf Energiespartechnologien und erneuerbare Energien setzen und
das heißt: Stärkung des Technologiestandortes Deutschland.
({10})
Weder aus den Reihen der CDU/CSU noch der F.D.P. sind
mir in diesem Zusammenhang entsprechende Vorschläge
zu Ohren gekommen.
({11})
Auch hier muss wieder gesagt werden: Der Regierungswechsel vor zwei Jahren kam keine Sekunde zu
früh. Wir haben mittlerweile das Erneuerbare-EnergienGesetz eingeführt und die Mittel im Marktanreizprogramm für erneuerbare Energien verzehnfacht. Wir haben
das 100 000-Dächer-Programm und das Programm für
biogene Treibstoffe ins Leben gerufen. Wenn die Bauern
demnächst mit Pflanzenöl-Traktoren fahren, dann zeigen
sie der OPEC die rot-grüne Karte.
Die CDU/CSU will hingegen den Diesel über eine
Gasölverbilligung für Traktoren weiterhin subventionieren. Würden wir diesem Unsinn nachkommen, blieben die
Bauern weiterhin vom Erdöl der OPEC abhängig, das immer teurer wird. Dann ginge auch die gerade errungene
technologische Führerschaft bei Traktormotoren mit modernster Direkteinspritztechnologie in Deutschland verloren.
All denjenigen unter Ihnen, die das Kapital aus
Deutschland zur OPEC transferieren wollen, sei Folgendes aus dem Gutachten noch einmal ans Herz legt:
Gerade wegen der starken externen Effekte im Bereich umweltorientierter Innovationspolitik darf die
Politik es nicht vernachlässigen, auch eine entsprechende Akzeptanz für die politischen Instrumente zu
befördern. Die über die individuellen Effekte hinausgehenden Verbesserungen müssen im Wesentlichen
politisch vermittelt werden.
Genau das tun wir, meine Damen und Herren von der
Union. Ich möchte zum Schluss meiner Rede feststellen,
dass Sie mit populistischen Ökosteuerkampagnen auch
den Technologiestandort in Deutschland gefährden.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Ulrike Flach.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Herr Fell, es ist immer einfach, alles hochzuloben, wenn man von den neuen regenerativen Energien
redet. Aber den Standort Deutschland kann man nicht
einfach gesundreden. Da machen Sie es sich ein bisschen
leicht. Dann versuchen Sie auch noch, die Ökosteuer so
hinzustellen, als führe dies zu einer Standortverbesserung.
({0})
- Ich bezweifele, dass Sie das ganze Konzept verinnerlicht haben.
({1})
Meine Damen und Herren, Deutschlands technologischer Schwerpunkt liegt bei der höherwertigen Technik.
Trotz jüngster Erfolge hinken wir aber bei den Spitzentechnologien hinterher. Das ist eine der Kernaussagen des
Berichts, der uns heute vorliegt.
Unser Forschungs-, Innovations- und Technologiepotenzial ist beachtlich, aber - das sagt sogar die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zum Bericht - „deutsche
Unternehmen haben in den vergangenen Jahren an Boden
verloren. Andere Länder holen auf.“ Daran - da stimme
ich der Opposition zu - ist nichts herumzudeuteln. Lassen
Sie es mich in einem Bild beschreiben: Unser Zug fährt
zwar vorwärts, aber auf den Nebengleisen sind andere
Züge offensichtlich deutlich schneller und überholen uns.
Herr Catenhusen, das ist leider immer noch so. Es hat
sich also in den zwei Jahren Rot-Grün ausgesprochen wenig verändert. Man kann versuchen, das mit Zahlen
schönzureden,
({2})
aber an einer Verbesserung dieser Entwicklung, die für
uns wirklich bedenklich ist, sollten wir alle zusammen arbeiten und nicht versuchen, uns gegenseitig die Schuld
zuzuschieben.
({3})
Die Voraussetzungen, die der Standort Deutschland mit
seinen unterschiedlichen Industriezweigen, einer breit gefächerten Forschungslandschaft und einem wissensorientierten Bildungssystem bietet, sind gut, aber sie könnten
deutlich besser sein.
Wie erst gestern - das treibt mich sehr um, Herr
Fischer - die „Berliner Zeitung“ meldete, nimmt die Zahl
der Hochschulabsolventen in den naturwissenschaftlichen Fächern, im Maschinenbau und in Informatik ab.
Das passiert in der Zeit Ihrer Zuständigkeit, Herr
Catenhusen.
({4})
In Chemie machten 1999 13,5 Prozent weniger Studenten ihren Abschluss als 1998, in Physik 13 Prozent und
in der Informatik haben wir einen Rückgang von 3,5 Prozent.
({5})
- Die Anmeldezahlen sind nicht besser geworden, Herr
Catenhusen. Das ist doch die Relation. Da nützt es nichts,
auf die alte Regierung zu verweisen.
({6})
Eine der Kernaufgaben ist in diesem Zusammenhang
eine echte Hochschulstrukturreform. „Zügig vorantreiben“ sagt der Bericht zu Recht. Der Weg in den Wettbewerb ist nicht nur - das bitte ich der Frau Ministerin deutlich zu übermitteln - über Globalhaushalte zu erreichen.
Wir brauchen auch die autonome, auf Personal- und Tarifautonomie ausgerichtete Hochschule. Hier war Ihr Herr
Rüttgers zu zögerlich, meine Damen und Herren von der
CDU,
({7})
aber Sie sind es nicht weniger, Herr Catenhusen. Ihre
Hochschuldienstrechtsreform ist dafür ein gutes Beispiel.
Es sind gute Ansätze da, aber angesichts der Herausforderungen müssten wir wesentlich radikaler sein und viel
schneller reformieren. Ich stimme in diesem Punkt Professor Landfried zu, der sagt, wir haben bisher nur die
„Kragenregion“ erreicht, nämlich den Oberbau. Wir müssen aber zu tief greifenden Strukturreformen kommen.
Der Bericht fordert eine Verkürzung der Berufsausbildungszeiten, die Flexibilisierung von Berufsbildern und
eine Verstärkung der Berufsschulausbildung. Das sind alles Sachen, die die F.D.P. angegangen hat, und wir werden
mit großem Interesse beobachten, wie sich das bei Ihnen
in der Gesetzgebung niederschlägt.
({8})
Meine Damen und Herren, die Förderung von kleineren und mittleren Unternehmen und die Schaffung von
Anreizen für Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten
hängen entscheidend von der weiteren Liberalisierung
und Deregulierung der Wirtschaft ab. Das sagt dieser
Bericht sehr deutlich. Sie waren immer dagegen, Herr
Catenhusen.
({9})
Ich erinnere mich noch gut an die Diskussionen zur Telekommunikation. Bei Post und Banken haben Sie ein Feld,
auf dem Sie beweisen können, dass Sie genau wie die alte
Regierung etwas vorantreiben wollen.
Sorgen machen uns nach wie vor die KMUs. Gerade
für sie brauchen wir Anreize und Wettbewerbe. Ich
möchte einmal ganz bescheiden auf Bio-Regio hinweisen,
Herr Catenhusen. Das war eine gute Sache der alten Regierung. Ich bin sehr froh, dass Sie mit Inno-Regio jetzt
etwas Ähnliches weitermachen.
({10})
Es wäre manchmal ganz gut, wenn man über die Vorgänger auch einmal etwas Gutes sagen würde.
({11})
- Herr Tauss, wollen Sie mit mir darüber streiten, ob BioRegio etwas Gutes ist?
Meine Damen und Herren, dieser Bericht ist ein Leitfaden für sinnvolle Forschungs- und Technologiepolitik.
Er setzt genau auf die Prinzipien, die auch wir vertreten
und die Sie in unseren Anträgen immer ablehnen. Ich habe
den Eindruck, dass Frau Bulmahn etwas in diesen Bericht
hineingeschrieben hat, was sie sonst im Kabinett nicht
so richtig vermitteln kann. Ich wünsche Ihnen, Herr
Catenhusen und Frau Bulmahn, dass es einmal im Kabinett Gehör findet. Machen Sie den Bericht zur Pflichtlektüre. Dann kommen wir vielleicht alle gemeinsam voran.
({12})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Maritta Böttcher.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung hatte sehr
ehrgeizige Ziele in den Bereichen Forschung und Technologie. Sicher, einige Einschätzungen im Bericht und gegenwärtige Entwicklungen sind Folgen der waigelschen
Sparpolitik. Ich nenne als Beispiel die Überrundung bei
den Umwelttechnologien.
({0})
- Klatschen Sie nicht zu früh.
Aber auch die neue Regierung hat sich hinsichtlich der
Durchsetzungsgeschwindigkeit ihrer Ziele, Weltspitzenpositionen auf verschiedenen Technologiefeldern zu erreichen, zum Beispiel auf dem Spitzentechnologiesektor
oder bei der FuE-Intensität, offenbar verschätzt. Außerdem setzt Rot-Grün die Verwaltung des Mangels im Technologiebereich eigentlich fort, auch wenn dies auf den
ersten Blick nicht so aussieht. Ich nenne hier nur die virtuelle Forschungsmilliarde, die indirekten Einsparungen
im Haushalt für Bildung und Forschung 2001, den Rückgang der Mittel für die Energieforschung und eine vielfache Deckungsfähigkeit von Technologieförderungstiteln
im Wirtschaftshaushalt.
Doch es gibt auch neue Weichenstellungen, zum Beispiel die Aufteilung der Kompetenzen in die Haushalte
des BMWi und des BMBF, eine strengere Ausrichtung der
Forschungsfelder, die Prioritätensetzung in der Forschung
auf IuK- sowie Bio- und Gentechnologien oder die Ansätze der Strukturreformen bei den Großforschungseinrichtungen, Blaue-Liste-Instituten und Hochschulen. Leider vermitteln diese Wege weniger den Eindruck einer
zukunftsweisenden FuT-Politik, als dass sie den schalen
Geschmack hinterlassen, dass für Forschung und Entwicklung die letzten Reserven mobilisiert werden, um den
Forderungen der Wirtschaft buchstabengetreu nachzukommen.
Statt zum Beispiel die Einnahmen aus einer neuen Vermögensteuer in Aus- und Weiterbildung zu investieren,
setzen Sie auf Synergieeffekte aus dem Zusammenpressen vorhandener Forschungskapazitäten und auf schlanke
Forschung. Dies führte zu einer Verengung der Prioritäten
auf wenige Technologiefelder, zur Vernachlässigung anderer Forschungsbereiche, zum Beispiel einer umweltorientierten Gesundheitsforschung und zum kläglichen
Dahindümpeln der Finanzierung der geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung.
({1})
Eine Ausweitung der Technikfolgenabschätzung und der
Gutachtertätigkeit trotz umstrittener und hoch geförderter
Bio-, Gen- und IuK-Technologien sowie der Weltraumforschung fällt unter den Tisch.
Im Gegensatz zu Absichtserklärungen lässt sich die
Bundesregierung von der Wirtschaft den Weg einer marktorientierten Forschung zulasten einer gemeinwohlorientierten Forschung diktieren. Diese Entwicklung erweckt
den Anschein, als ob staatliche Forschungsanstalten in
Forschungsunternehmen verwandelt werden.
Die PDS ist gegen eine noch umfangreichere Subventionierung der Industrie durch FuE-Förderung aus
Steuergeldern. Steuergelder für die Forschung sollten
überwiegend in gemeinwohlorientierte Forschungseinrichtungen zum Beispiel für die Förderung der menschlichen Gesundheit oder auch die Zukunftsorientierung der
Gesellschaft auf Grundlage einer breiten sozialwissenschaftlichen Forschung fließen.
Dazu gehören auch die Einführung einer Mitbestimmung Dritter bei der Initiierung, bei Tests oder bei Diagnoseansätzen im Bereich von Bio- und Gentechnologien, eine umfassendere, finanzielle Verantwortung der
Industrie bei der Weltraumforschung oder die Ausweitung
der Technikfolgenabschätzung bei der Erforschung neuer
Technologien. Dafür wird die Fraktion der PDS weiterhin
streiten.
Jetzt hat der
Kollege Tauss das Wort.
({0})
Nicht so laut. - Sehr verehrte Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bericht ist von einer Übergangsphase aus der Stagnation der
Politik der 90er-Jahre, insbesondere der Forschungspolitik und dem Politikfeld, über das wir heute reden, hin zu
einer Aufbruchstimmung, die wir in diesem Lande erreicht haben und die Sie nicht leugnen können, gekennzeichnet. Herr Kollege Fischer, wenn Sie gestern Abend
bei Helmholtz gewesen wären, hätten Sie etwas von dieser Aufbruchstimmung mitbekommen. Ich glaube aber,
Sie haben gestern mehr ins Dessert geschaut.
({0})
Ich will zu zwei Punkten Stellung nehmen. Herr
Fischer, Sie haben uns empfohlen, wir sollten die Position, die Sie uns hinterlassen haben, halten und haben
auch noch einen Dank an Herrn Rüttgers ausgesprochen.
Sie sollten den Bericht wirklich lesen. Darin ist nicht davon die Rede, die Position zu halten, man hat uns vielmehr
ins Stammbuch geschrieben, es seien tief greifende strukturelle Reformen notwendig, um nicht weiter an Boden zu
verlieren. Das ist der Boden, den Sie verloren haben und
den wieder zu bereiten wir versucht haben.
({1})
- So ein Quatsch? Das Problem ist, Herr Fischer, dass Sie
sich auch die Zahlen nicht angucken. In Ihrer Regierungszeit sind die Ausgaben für Bildung und Forschung auf 8,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zurückgegangen. Dieser Stand wurde zum Teil schon von
Schwellenländern erreicht. In der OECD betrug
der durchschnittliche Anteil am Bruttoinlandsprodukt
12,5 Prozent. Hier holen wir im Moment auf.
Ich hätte also die herzliche Bitte, nicht Zahlen in den
Raum zu stellen, von denen die Menschen auf den Tribünen annehmen müssen, dass sie richtig seien. Jede Zahl,
die Sie hier vorgetragen haben, ist falsch und das ist das
Ärgerliche an Ihrer Politik.
({2})
Hier sitzen Haushälter - auch bei Ihnen sitzen Menschen,
die rechnen und denken können -, die die richtigen Zahlen kennen. Sie stellen einfach so in den Raum, wir würden 500 Millionen DM weniger für Bildung und Forschung ausgeben. Gucken Sie sich bitte die Zahlen an:
Allein beim BAföG mobilisieren wir 1 Milliarde DM
mehr. Das sind nicht 500 Millionen DM weniger, sondern
in einem einzigen Feld 1 000 Millionen DM mehr.
Dann reden Sie über Kürzungen im Forschungshaushalt. Gelegentlich habe ich den Eindruck, dass wir auf unterschiedlichen Veranstaltungen sind. Natürlich hoffen
wir - auch das richte ich an die Haushälter aller Fraktionen -, dass wir die Zahlen noch verbessern können. Aber
allein in diesem Haushaltsentwurf haben wir den Etat für
Bildung und Forschung um knapp 6 Prozent erhöht,
während Sie bei Herrn Waigel immer mit glühenden Ohren herauskamen, weil er Sie abgewatscht hat. Sie haben
nicht mehr, sondern weniger bekommen. Das war der Erfolg Ihrer Arbeit.
({3})
Hören Sie also bitte auf, uns aufgrund falscher Zahlen
Vorwürfe zu machen.
Der Bericht benennt auch weitere Probleme, die Sie
uns hinterlassen haben. Wir sind stark
({4})
in den klassischen Bereichen; das ist gut so. Wir sind stark
im Maschinenbau, wir sind stark im Automobilbau. Das
sind die Bereiche, die auch den Schwerpunkt unseres Exportes ausmachen. Dagegen haben wir große Defizite bei
den IuK-Technologien. Auch dies ist im Bericht enthalten
und es gehörte zur Ehrlichkeit, Kollege Fischer, dass Sie
deutlich machen, dass Deutschland in diesen zukunftsträchtigen Spitzentechnologien nicht nur Boden verloren
hat, sondern einfach keine Rolle spielte. Das müssen wir
jetzt mühsam aufarbeiten.
Wir haben aber, Frau Kollegin Flach, in einem Bereich
die Spitzenstellung gehabt, nämlich in der Umwelttechnologie. Diesen Bereich wollen wir weiter ausbauen. Hier
bestehen natürlich auch Zusammenhänge mit hohen Energiepreisen. Hohe Energiepreise werden in der Tat dazu
führen, dass wir einen Schub hin zu verbrauchsärmeren
Autos, hin zum Dreiliterauto haben. Sie haben die „drei
Liter“ immer auf den Hubraum bezogen. Nein, wir meinen den Verbrauch. Heute redet Herr Piëch schon vom
Einliterauto. Das ist moderne Technologie. Damit können
wir auf die Märkte gehen, das können wir exportieren.
Wir betreiben also die richtige Politik.
({5})
- Fragen Sie doch einfach noch ein bisschen dazwischen.
Ich habe eine begrenzte Redezeit. Die Regierung hat so
überzeugend vorgetragen, dass mir dadurch ein paar Minuten geklaut worden sind.
Es sind strukturelle Reformen unseres Bildungs- und
Ausbildungssystems, der Steuer- und Wirtschaftspolitik,
bei der Bewältigung des Strukturwandels in wissens- und
forschungsintensiven Sektoren angemahnt worden.
({6})
- Wir haben das angepackt. Das ist nicht angekündigt,
sondern angepackt worden.
Wichtig sind unsere Forschungseinrichtungen. Der
Bericht bestätigt durchaus die Effektivität und Leistungsfähigkeit unserer Forschungseinrichtungen. Insbesondere
in den neuen Bundesländern - auch das ist eine wichtige
Aussage dieses Berichts - wurde aufgeholt. In einzelnen
Unternehmen in den neuen Bundesländern übertreffen die
Aufwendungen für Innovationen, bezogen auf den Umsatz, die der Unternehmen in den alten Bundesländern.
Das ist ein toller Erfolg, zu dem Inno-Regio beigetragen
hatte. Auf diesem richtigen Weg werden wir in den neuen
Bundesländern weitergehen.
({7})
Die Folgen sind schon klar, Kollege Fischer. Zahlen
können Sie hier manipulieren, aber Sie können sie nicht
wegdiskutieren. Bei Ihnen gab es einen Anstieg des Anteils der FuE-intensiven Güter an den Gesamtexporten um
8 Prozent. Bei uns beträgt deren Anteil 50 Prozent. Das ist
sicherlich durch den Dollarkurs ein bisschen erleichtert
worden; grundsätzlich zeigt dies aber auch hier die Tendenzwende.
({8})
- Fragen Sie doch einfach, wenn Sie etwas wissen wollen;
Sie können nur lernen.
({9})
Schrittmacher sind bei uns - ich wiederhole es - Automobilbau, Maschinenbau und Pharmaindustrie, während
moderne Industrien ein Problem hatten. Die schnelle Umsetzung neuer Ideen in marktfähige Produkte - auch dies
bestätigt der Bericht - ist kein so großes Problem, wie es
immer dargestellt wird. Die schnelle Umsetzung neuer
Ideen in marktfähige Produkte ist auf den Weg gebracht.
Auch dies haben wir immer gefordert. Wir sollten wir aufhören, darüber zu jammern, dass dies nicht stattfindet. Es
findet zwischenzeitlich statt. Ich glaube, auch das ist ein
wichtiger Erfolg.
Herr Kollege
Tauss, Sie sehen, ich war hinsichtlich der Einhaltung Ihrer Redezeit schon großzügig.
({0})
Frau Präsidentin, ich sehe, Sie
leuchten, zumindest hier vorn. Ich bitte um Entschuldigung.
Ich wünsche Ihnen, meine sehr verehrten Damen und
Herren, dass Sie sich den Bericht einfach nochmals
gründlich ansehen, dass Sie sich ansehen, was wir auf den
Weg gebracht haben. Dann werden Sie diese Regierung
loben und aufhören, sie mit falschen Zahlen zu beschimpfen. Das sind der Wunsch und die Bitte, die wir an
Sie heute Abend richten wollten.
({0})
Vielen Dank.
Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/2957 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernd
Neumann ({0}), Dr. Norbert Lammert, Renate
Blank, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Verbesserung der Rahmenbedingungen für den
deutschen Film
- Drucksache 14/3375 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({1})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Interfraktionell ist eine Aussprache von einer Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Abgeordneten Bernd Neumann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir können in
Deutschland auf eine erfolgreiche Filmtradition zurückblicken. Das Berliner Filmmuseum im Filmhaus am
Potsdamer Platz, das vorgestern eröffnet wurde, dokumentiert dies eindrucksvoll.
Der deutsche Film hat im 20. Jahrhundert einmal Weltgeltung besessen. Das wird einem wieder bewusst, wenn
man durch die Ausstellung im neuen Filmmuseum wandert. In den 20er-Jahren war Deutschland neben den Vereinigten Staaten die wichtigste Filmnation. Deshalb ist die
Präsentation im Filmmuseum in ihrem ersten Teil ziemlich eindrucksvoll. Am Schluss, bei der Darstellung des
deutschen Nachkriegsfilms, fällt das Niveau der Schau
allerdings ziemlich ab. Und damit sind wir beim Kern des
Problems.
Der Marktanteil deutscher Filme in unseren Kinos,
der seit Jahren immer nur zwischen 9 und 17 Prozent liegt,
ist unbefriedigend. Deshalb gibt es das Klagelied über die
kritische Situation des deutschen Films nunmehr seit
Jahrzehnten. Immer wieder, wenn die Zahl der Besucher
deutscher Filme sinkt, immer, wenn wieder einmal kein
deutscher Film bei den Festspielen in Cannes oder Venedig gezeigt wird, stellen die deutschen Publizisten die
bohrende Frage: Warum können es die Amerikaner, und
warum können es die Deutschen nicht? Die Antworten
wiederholen sich wie die Anlässe: der zu kleine Markt,
das Sprachenproblem, die angeblich kargen Budgets, die
regionale Filmförderung usw. usf.
Das alles ist sicherlich bedenkenswert und auch in Teilen zutreffend. Vor allem steht fest, dass man zumindest
die Marktgröße und das Sprachenproblem kaum ändern
kann; da hilft alles Lamentieren nicht. Die Höhe der öffentlichen Fördermittel von jährlich 350 Millionen DM
- dazu kommen noch etwa 20 Millionen DM aus den
Media-Programmen der EU -, von denen die Länder
220 Millionen DM, die Filmförderungsanstalt aufgrund
von Abgaben der Film- und Fernsehwirtschaft 99 Millionen DM und der Bund allerdings nur 30,6 Millionen DM
tragen, halte ich für beträchtlich, aber auch nötig.
Man muss wissen: Ohne diese Filmförderung, die von
der EU genehmigt ist und auch in anderen europäischen
Ländern praktiziert wird, gäbe es den deutschen Film
praktisch nicht. Auf keinen Fall könnte der Marktanteil,
der sich inzwischen erfreulicherweise bei etwa 15 Prozent
stabilisiert hat, auch nur annähernd gehalten werden.
Deshalb ist es auch zu begrüßen, dass der Etat für die
kulturelle Filmförderung im Bundeshaushalt 2000 um
2,5 Millionen DM erhöht wurde. Umso weniger verstehe
ich die Schlagzeile aus dem „Tagesspiegel“ im Frühjahr
dieses Jahres „Michael Naumann: Filmförderung muss
reduziert werden“.
Natürlich muss man immer wieder über die Strukturen
der Filmförderung nachdenken. Noch mehr Wirtschaftlichkeit und Risikobereitschaft und weniger Gießkannenprinzip sind die Themen. Aber Filmförderung als solche
und auch in etwa in der jetzigen Größenordnung ist zur
Erhaltung des deutschen Kinofilms unverzichtbar.
Mit einem muss man sich wohl abfinden: Der deutsche
Film erfüllt im Hinblick auf den Marktanteil in den Kinos
eher eine Nischenfunktion.
({0})
Aber diese ist unverzichtbar für unsere Kultur, für unsere
Künstler, für unsere Filmwirtschaft. Der Film - hiermit
meine ich insbesondere den Kinofilm - ist für uns ein
wichtiges Kulturgut, aber auch ein bemerkenswertes
Wirtschaftsgut. Deutschland braucht eine wettbewerbsfähige Filmwirtschaft, um Filmproduktionsstandort zu
bleiben.
Primär sind natürlich die Kulturschaffenden und die
Filmwirtschaft selbst für den Film verantwortlich. Wir,
die Politiker, der Staat, können und sollten nur Einfluss
auf die Rahmenbedingungen nehmen. Das ist der
Grund, weshalb die CDU/CSU-Fraktion einen Antrag zur
Verbesserung der Rahmenbedingungen für den deutschen
Film in den Deutschen Bundestag eingebracht hat. Wir
haben durch diesen Antrag nach langer Zeit hier im Bundestag wieder eine Debatte über die Lage des deutschen
Films.
Es hat sich inzwischen herumgesprochen, dass man die
vielfältigen Äußerungen unseres Staatsministers für Kultur und Medien nicht unbedingt auf die Goldwaage legen
sollte.
({1})
Dies trifft auch auf seine jüngste Äußerung zu, das von
ihm angeregte Bündnis für den Film sei „mehr als ein unverbindliches Forum für den Austausch von Positionen“.
So sei man bei den Themen Filmförderung, Filmexport
und Rechteauswertung bereits gut vorangekommen.
Unbestritten war die Aktion Bündnis für den Film
eine gute Idee. Das haben wir auch immer gesagt. Deshalb
habe ich für die CDU/CSU-Fraktion an den beiden Tagungen des Bündnisses für den Film im April und Oktober 1999 teilgenommen. Durch diese Aktion und verschiedene öffentliche Erklärungen von Herrn Naumann
sind bei den Beteiligten aus der Filmwirtschaft beträchtliche Erwartungen geweckt worden. Allerdings konkrete,
verwertbare Ergebnisse lassen in fast allen Punkten auf
sich warten, obwohl inzwischen wieder ein ganzes Jahr
vergangen ist.
Ich hatte bereits darauf hingewiesen, Herr Naumann,
dass die Mittel des Bundes für kulturelle Filmförderung
leicht erhöht wurden und damit Verbesserungen in Bereichen wie Drehbuchförderung, Absatz- und Kopienförderung erfreulicherweise möglich waren. Doch dazu hätte es
nicht eines Bündnisses für den Film bedurft. Das konnte
der BKM ohnehin allein veranlassen. Viel wichtiger sind
dagegen grundsätzliche und strukturelle Fragen.
In einem Interview von „Pro-Media“ vom Februar dieses Jahres kündigten Sie, Herr Naumann, für April ein erneutes Treffen des Bündnisses für den Film mit der Aussage an:
Das Hauptanliegen
- die Verbesserung der Produzentenrechte wird gelöst werden, so oder so!
Bis heute gab es kein Treffen und eine Lösung des Problems ist nicht in Sicht. Im selben Interview versprachen
Sie, also im Februar dieses Jahres, dass die negativen Auswirkungen für die deutsche Filmwirtschaft infolge einer
Neuregelung für die steuerliche Erfassung von Risikofonds - das ist § 2 b des Einkommensteuergesetzes - beseitigt werden. Von einem speziellen Medienerlass war
die Rede. Heute muss man feststellen: Das Ergebnis ist
gleich Null. Der Finanzminister hat Sie nicht erhört.
Eine wichtige Frage der zwei Bündnisrunden war der
Filmexport. Dazu Michael Naumann im selben Interview
- wie gesagt: Februar dieses Jahres -:
Konkrete Vorschläge werden voraussichtlich bis
Ende März vorgelegt werden.
Bis heute gibt es keinen ausgereiften, konkreten und konsensfähigen Vorschlag - mit dem Ergebnis, dass die zuständige Export-Union unter dem Damoklesschwert der
Ungewissheit arbeiten muss. Aus diesen Gründen ist es
verständlich, dass in den Gremien, die den deutschen Film
betreffen, Aussagen wie „Das Bündnis für den Film
lahmt. Es tritt auf der Stelle“ die Runde machen.
Ich sage nicht, dass der Staatsminister persönlich oder
die Bundesregierung an all dem Schuld haben.
({2})
Viele der im Bündnis für den Film besprochenen Probleme können nur durch die Filmwirtschaft selbst und
nicht durch den Staat gelöst werden. Gerade deshalb sollte
Bernd Neumann ({3})
die Lehre daraus sein: den Mund nicht so voll nehmen;
weniger Sprüche, mehr Seriosität; vor allem auf die
Punkte konzentrieren, die die Bundesregierung tatsächlich in eigener Verantwortung regeln kann. Davon gibt es
eine Menge!
({4})
Auf zwei wichtige Punkte, in denen die Bundesregierung im Rahmen ihres eigenen Verantwortungsbereichs
Positionen für den Film beziehen könnte, in denen sie allerdings das Gegenteil tut, möchte ich noch eingehen.
({5})
Der von der Bundesregierung zur Diskussion gestellte
Gesetzentwurf zur Novellierung des Urheberrechts
konterkariert alle hehren Absichten des Bündnisses für
den Film. Er ist ein Schlag ins Gesicht der deutschen
Filmwirtschaft, weil er in keiner Weise der besonderen Situation der Filmherstellung und der Filmauswertung
Rechnung trägt.
Mit § 39 - Ausübung von Urheberpersönlichkeitsrechten - wird die Fertigstellung eines Filmwerkes de
facto unmöglich, da verschiedene Urheber und Künstler
betroffen sind, also Autoren, Regisseure und Produzenten, deren Urheberpersönlichkeitsrechten im Einzelnen
Genüge getan werden müsste, um ein Filmwerk überhaupt fertig stellen zu können. Der Filmhersteller würde
zukünftig also für jede Übertragung eines Nutzungsrechtes die gemeinsame Zustimmung aller Miturheber benötigen.
({6})
Bekannte Finanzierungsmodalitäten - sprich: Verwertungskette - fielen aus. Der Entwurf begünstigt einseitig
die Interessen der Urheber und übersieht, dass auch die
Produktionswirtschaft im Verhältnis zu bestimmten Auswertern schutzbedürftig ist. Dies ist nicht berücksichtigt
worden, ebenso wie die Vermarktbarkeit der Produktion
im Ausland und der Aufbau eines Zweitverwertungsmarktes.
Der Bundesverband Deutscher Fernsehproduzenten
stellt mit Recht fest:
Diese Gesetzesvorschläge würden zu einer Verlagerung von Produktionen ins Ausland und zu einer Ausdünnung der Kulturlandschaft in der Bundesrepublik
Deutschland führen. Von einer Stärkung der Urheberseite, wie der Gesetzentwurf es will, könne dann
keine Rede mehr sein. Folge werde eine kulturelle
Verarmung im Bereich des deutschen Films sein.
Das Engagement im Bündnis für den Film und auch Ihr
persönliches Engagement, Herr Naumann, das insbesondere die Stärkung der Film- und Fernsehproduzenten vorsah, würden, falls man diese Novellierungsvorschläge so
realisiert, völlig konterkariert. Die Ausweitung des Zweitverwertungsmarktes von Filmen, an dem wir die Produzenten verstärkt beteiligen wollen, würde durch solche
Regelungen blockiert. Deshalb erwarten wir von Ihnen,
Herr Staatsminister, dass Sie sich bei der Erarbeitung eines endgültigen Gesetzentwurfes der Bundesregierung
zum wirklichen Anwalt des deutschen Films machen und
die vorgeschlagenen Regelungen verhindern.
({7})
Im Übrigen bitte ich Sie, in dieser Debatte Ihre Position in
dieser Frage zu markieren.
Ich sage für die CDU/CSU-Fraktion: Regelungen zum
Schutz des geistigen Eigentums auf europäischer und internationaler Ebene über die Nutzung in digitalen Netzen
sind nötig, um zum Beispiel Internetpiraterie zu vermeiden. Diese müssen jedoch die Interessen der Urheber wie
die der verwertenden Filmindustrie gleichermaßen berücksichtigen; sie dürfen nicht ausschließlich im Interesse
der Urheber sein.
Ich möchte einen zweiten wichtigen Punkt aus dem
Verantwortungsbereich der Bundesregierung nennen. Die
von Ihnen, Herr Naumann, seit langem gegebene Zusage,
bei § 2b Einkommensteuergesetz für eine Auslegung
zu sorgen, die der besonderen Rolle der Film- und Fernsehwirtschaft in Deutschland Rechnung trägt, ist nicht erfüllt. Die vom Finanzministerium veröffentlichten Auslegungsbestimmungen sind unpraktikabel und, so sagen es
die Leute aus der Branche, in hohem Maße bürokratisch.
Die Folge ist, dass weiterhin mehr als drei Viertel des privaten Kapitals, also etwa 2 bis 3 Milliarden DM, in
US-Produktionen investiert werden und nicht, wie wir uns
das wünschten, in Filmfonds, die deutsche Produktionen
finanzieren.
Kürzlich sagte Herr Schlauch in einer Verwaltungsratssitzung der FFA, dass eine Sonderregelung für Filmund Fernsehfonds, zum Beispiel in der Form eines Medienerlasses, aus rechtlichen Gründen nicht möglich sei.
Das mag sein. Umso richtiger ist es, dass meine Fraktion
insgesamt nach wie vor die völlige Abschaffung von § 2b
Einkommensteuergesetz fordert, um zu verhindern, dass
Investitionen zunehmend ins Ausland fließen und wir dadurch Arbeitsplätze gerade in der Filmwirtschaft verlieren.
({8})
Sie, verehrter Herr Naumann, sollten uns als so genannter
Filmminister dabei unterstützen.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch zwei Punkte ansprechen, die im Gegensatz zu den eben zitierten nicht
dem unmittelbaren Einfluss der Bundesregierung und der
Politik unterliegen, die aber für den deutschen Film und
seine Beteiligten wichtig sind. Eine strukturelle Verbesserung der Außenvertretung des deutschen Films, so wie sie
der Deutsche Bundestag in seinem Beschluss vom 2. Januar 1998 anlässlich der Verabschiedung des FFG gefordert hat, ist nach wie vor unerlässlich und muss möglichst
im Konsens mit allen Beteiligten alsbald vollzogen werden. Dabei sollte die Export-Union als solche nicht mehr
infrage gestellt werden. Der bereits eingeleitete Reformprozess sollte mit dem Ziel zügig fortgesetzt werden, audiovisuelle Produkte deutschen Ursprungs im Ausland
besser zu bewerben und deren Vermarktungsmöglichkeiten ebenfalls zu verbessern. Für diese Aufgabe - das ist
für uns ein Essential - muss die Wirtschaft, nicht der
Staat, die Hauptverantwortung tragen. Der Staat kann
Bernd Neumann ({9})
diese Aufgabe bestenfalls auf repräsentativer Ebene begleiten.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist für die CDU/CSU die
Stärkung der Rechte von unabhängigen Film- und Fernsehproduzenten. Dazu gehört der Ausbau des Zweitverwertungsmarktes; darauf habe ich bereits in Verbindung
mit dem Urheberrecht hingewiesen. Hier müssen entsprechende Regelungen im Urheberrecht erfolgen, und nicht,
wie vorgesehen, solche, die den Vorgang behindern.
Darüber hinaus muss die Fernsehbindung der von
ARD/ZDF bzw. den privaten Fernsehveranstaltern für die
Projektförderung zur Verfügung gestellten Mittel entfallen. Diese Fernsehbindung beeinträchtigt die Produzenten. Immer, wenn sie einen Antrag auf Projektförderung
stellen, müssen sie den Nachweis erbringen, dass das
Fernsehen dabei mitmacht. Das heißt, dass die Förderung
nur dann gewährt wird, wenn Fernsehverträge vorliegen.
Dies beeinträchtigt insbesondere junge und unabhängige
Produzenten bei der Finanzierung der Filme in hohem
Maße und verbürokratisiert das Verfahren.
Diejenigen, die vom Kulturgut Film profitieren, können auch eine angemessene Leistung zur Förderung einbringen. Für die Kino- und Video-Programmanbieter ist
dies gesetzlich geregelt. Die öffentlich-rechtlichen und
privaten Fernsehanstalten zahlen aufgrund eines Abkommens nur je 11 Millionen DM pro Jahr zur Filmförderung,
und das bei 12 Milliarden DM Gebühreneinnahmen zum
Beispiel im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Auch die
privaten Fernsehanbieter brüsten sich ja mit ihren riesigen
Milliardeneinnahmen. Wenn dies so ist, dann sollte es
selbstverständlich sein, bei der Vergabe dieser relativ
geringen Summe - wie gesagt, je 11 Millionen DM pro
Jahr - nicht noch auf einer Fernsehbindung der Projekte
zu bestehen. Man kann erwarten, dass die Fernsehanstalten Filmförderung um der Filmförderung willen betreiben
und nicht noch bei dieser geringen Summe davon profitieren wollen.
({10})
Wie man hört, soll in diese Frage Bewegung gekommen
sein.
Bei der konkreten Diskussion zur Nivellierung des
FFG werden wir uns im Übrigen entscheiden müssen, ob
wir eine Neuregelung des Rechterückfalls vornehmen
- zurzeit sind im Filmförderungsgesetz sieben Jahre vorgesehen - oder anderen Alternativen den Vorzug geben.
Herr Kollege
Neumann, Sie müssen bitte an Ihre Redezeit denken.
Ich komme
zum Schluss.
Unser Antrag soll und wird sicherlich - einmal abgesehen von der Kritik hinsichtlich der Konkretisierung Ihres Wollens und Ihrer Vorschläge - keine großen sachlichen Kontroversen auslösen; ich nehme an, dass wir uns
in den meisten Zielrichtungen einig sind. Der Antrag dient
vielmehr ausschließlich dem Ziel, die Verbesserung der
Rahmenbedingungen für den deutschen Film voranzutreiben.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort für die SPDFraktion hat die Kollegin Gisela Schröter.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Neumann, lieber
Kollege Lammert, wir haben uns im deutschen Bundestag
das letzte Mal vor zweieinhalb Jahren mit dem Film befasst; das war bei der Verabschiedung der dritten Novelle
zum Filmfördergesetz. Es ist also längst fällig, dass wir
uns hier im Parlament einmal wieder mit dem deutschen
Film, mit dem Film an sich befassen.
({0})
Nur - das wissen Sie auch -, diese Debatte kommt ganz
einfach zu früh, um konkrete Ergebnisse, die Sie ja angemahnt haben, von uns zu fordern. Sie fordern die Bundesregierung auf, einen Bericht über die Lage des deutschen Films sowie Verbesserungsvorschläge vorzulegen.
Die Bundesregierung selber hat einen solchen Bericht angekündigt. Auch unsere Fraktion erwartet ihn mit Spannung. Dass er noch nicht vorliegt - das möchte ich hier betonen -, ist nicht der Untätigkeit der Verantwortlichen
geschuldet. Wir alle wissen: Durch Staatsminister
Naumann ist in diesen Bereich wieder Bewegung gekommen.
({1})
Er hat es erreicht, dass sich erstmals alle Film- und Fernsehschaffenden an einen Tisch gesetzt haben.
Mit seinem Bündnis für den Film hat der Staatsminister Autoren, Regisseure, Schauspieler, Produzenten,
die Filmwirtschaft, öffentlich-rechtliche und private
Fernsehanstalten sowie den Länderfilmausschuss zusammengebracht.
({2})
Natürlich waren auch Sie, Herr Neumann, mit dabei.
Hier sollen Strategien zur Förderung des deutschen Films
im In- und Ausland entwickelt werden. Der Themenkatalog reicht von der Stärkung der kulturellen Filmförderung
über die Koordinierung der Förderung von Bund und Ländern, die Stärkung der Rechte der freien Produzenten gegenüber dem Fernsehen - Sie haben das alles ja auch schon
aufgezählt -, die Verbesserung der Außenvertretung des
deutschen Films bis hin zur europäischen Filmförderpolitik. Das sind alles Themen, Kollege Neumann, die Sie in
dem vorliegenden Antrag erwähnt haben.
Allen war von Anfang an klar, dass es sehr schwierig
werden wird, die unterschiedlichen Interessen zusammenzubringen. Sehen wir uns doch einmal an, wie es
Bernd Neumann ({3})
aussieht. Die Gespräche brauchen mehr Zeit, als uns lieb
ist. Fakt aber ist: Das Bündnis für den Film ist keine einmalige Veranstaltung. Es handelt sich um einen kontinuierlichen Prozess, der viel Beharrlichkeit und viel Geduld
erfordert. Ganz besonders wichtig ist es, dass alle Beteiligten endlich in den Diskussionsprozess eingebunden
werden.
({4})
Hierin liegt nach meinem Dafürhalten die größte Schwierigkeit - das wissen wir -, aber auch die größte Chance,
das Bündnis zum Erfolg zu führen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen jetzt
zunächst die Ergebnisse der im Rahmen des Bündnisses
gebildeten Arbeitsgruppen abwarten, bevor wir von der
Bundesregierung weitere Verbesserungsvorschläge erwarten können. Das ist eigentlich logisch.
({5})
Anfang November - der Termin steht ja schon fest - findet das nächste Treffen statt. Dann werden wir sicherlich
auch wieder mit dabei sein.
Dass der deutsche Film einmal andere Zeiten kannte,
ist mir bei der Eröffnung des Filmmuseums noch einmal
deutlich geworden. In den 20er-Jahren war Berlin das
Weltzentrum der Filmschaffenden und Hollywood hat
von den besten Talenten profitiert. Ich denke an Ernst
Lubitsch, Fritz Lang, Billy Wilder, um nur ein paar Namen zu nennen. Natürlich wissen wir alle, dass wir diese
Zeiten nicht zurückholen können.
({6})
Sie geben uns aber doch eine Ahnung davon, dass für den
deutschen Film noch mehr möglich ist. Ich rate allerdings
zu einem gesunden Realismus, wenn wir die Ziele der
Filmförderung neu abstecken wollen.
Wie kein anderes Medium prägt der Film in seiner
ganzen Vielfalt gesellschaftliche Lebensstile und Werthaltungen. Auch deshalb sollten wir unsere Anstrengungen für den Ausbau der europäischen Filmförderung
verstärken. Dazu besteht demnächst Gelegenheit: Am
23. November kommt der Kulturministerrat zusammen,
um über das Nachfolgeprogramm von Media II zu entscheiden. Bis dahin sollte klar sein, dass von deutscher
Seite einer Erhöhung der bisher veranschlagten Mittel
von 350 Millionen Euro zugestimmt wird. Ich könnte mir
400 Millionen Euro ganz gut vorstellen. Das würde vor allen Dingen dazu führen, dass die sich immer noch sperrenden Briten und insbesondere die Niederländer mitziehen würden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen wir zurück
zum deutschen Film. Herr Neumann ist darauf ja auch
schon eingegangen. Wir hatten in den ersten sechs Monaten dieses Jahres immerhin vier Filme, die über 1 Million
Zuschauer sahen. Ich nenne nur „Anatomie“, „Erkan und
Stefan“, um nicht alle aufzuführen. Über die Inhalte sollten wir hier besser nicht sprechen, aber ich halte das zumindest für sehr erfreulich. Hierzu gehören auch solche
Filme, an die ich sehr gerne erinnere, wie zum Beispiel
„Buena Vista Social Club“ und „Sonnenallee“.
({7})
Das hat uns etwas weitergebracht, da wir so die Zuschauerzahlen ein wenig anheben konnten. Das ist natürlich nicht ausreichend. Darin sind wir uns einig.
Ich gebe dem deutschen Film gute Chancen. Wir haben
gute Produzenten, gute Regisseure, Schauspielerinnen
und Schauspieler. Am Stoff hapert es mitunter. Ich weiß,
wovon ich spreche. Als Mitglied der Vergabekommission
der Filmförderanstalt stapeln sich bei mir die Drehbücher.
Wenn ich sie lese, kann ich Ihnen als Ergebnis nur mitteilen, dass nicht alle vergnügungssteuerpflichtig sind. Wir
müssen Wege finden, um kreative Potenziale bei den
Drehbuchautoren zu erschließen. Wir brauchen einfach
bessere Stoffe. Wir haben in Deutschland ein Filmförderungssystem auf Bundes- und Landesebene, um das uns
viele andere Länder beneiden. Sicherlich ist die Filmförderung nicht so gut, als dass sie nicht noch verbessert
werden könnte. Das gilt schon allein deshalb, weil wir das
Gesetz spätestens dann, wenn es abgelaufen ist, im Jahr
2003, sowieso wieder neu beraten und diskutieren müssen.
Ein ganz zentraler Punkt - darin sind sich alle Beteiligten einig - ist die Stärkung der freien Film- und
Fernsehproduzenten gegenüber den Fernsehsendern;
Sie haben es angesprochen. Auch im Bündnis für den
Film werden exakt die Maßnahmen diskutiert, die Sie in
diesem Zusammenhang in Ihrem Antrag ansprechen. Ich
nenne die Stichworte noch einmal: Lockerung und Wegfall der Mittelbindung für Leistungen der öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehsender, Aufbau eines Zweitverwertungsmarktes für die Produzenten. Das erfordert
eine entsprechende Anpassung des Urheberrechts.
Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang die
Verwertungsrechte bzw. Fristverkürzungen. Auch darin
sind wir uns einig. Die Verwertungsrechte müssen deutlich früher - zurzeit sind es sieben Jahre - an die Produzenten zurückfallen. Nur so können sie einen Rechtestock
aufbauen und nur so kann eine mit Eigenkapital ausgestattete mittelständische Filmwirtschaft entstehen. Im Gespräch sind fünf Jahre. Besser wären aus meiner Sicht drei
Jahre. Auf jeden Fall brauchen wir hier eine Flexibilisierung.
In der letzten Sitzung des Bündnisses in Hof hat man
sich darauf verständigt, dass zunächst einmal die Produzenten mit den Fernsehanstalten sprechen sollten. Das ist
inzwischen geschehen. Ich bin gespannt, zu welchen Ergebnissen wir diesbezüglich bei dem Treffen Anfang November kommen werden. Sollte es zu keiner einvernehmlichen Lösung zwischen Filmwirtschaft und Sendern
kommen, werden wir zusammen mit der Bundesregierung, wie angekündigt, prüfen, ob ein Vorschlag für eine
gesetzliche Änderung vorgelegt werden soll.
Zu den Rahmenbedingungen des deutschen Films
gehören natürlich die urheberrechtlichen Regelungen.
Wir hatten gestern dazu eine interessante Expertenanhörung. Zurzeit ist es erst einmal ein Professorenentwurf,
also kein Gesetzentwurf der Bundesregierung. Es wurde
uns allen deutlich, wie viel Klärungsbedarf noch besteht.
({8})
Ich möchte an dieser Stelle deutlich sagen: Die SPDFraktion ist für eine angemessene Vergütung der kreativen
Leistungen. Das Urheberrecht muss aber nach unserer
Überzeugung auch den ganz spezifischen Gegebenheiten
der Produktion von Filmen Rechnung tragen.
({9})
Das betrifft vor allem die Verwertungsrechte am Film.
Hier sind wir uns doch, denke ich, einig. Sie müssen so
gestaltet werden, dass sie die Einwerbung von privat finanziertem Risikokapital ermöglichen. Nach meinem
Dafürhalten müssen die filmischen Belange auf jeden Fall
noch stärker berücksichtigt werden. Sie können sicher
sein, dass wir bei der Gesetzesdiskussion sehr aufmerksam sein und unsere Vorschläge einbringen werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind uns einig,
dass wir privates Kapital für die Film- und Fernsehproduktion brauchen. Jetzt komme ich auf Ihre Forderung
nach Streichung des § 2b Einkommensteuergesetz.
({10})
Dazu sage ich Ihnen mit aller Deutlichkeit: Das macht unsere Fraktion nicht mit.
({11})
Wir müssen allerdings sicherstellen, dass die Bildung von
Medien- und Filmfonds nicht behindert wird.
({12})
Das ist der Punkt: Im Kern geht es bei Ihnen um die Frage,
wann ein Fonds - das müssen wir gemeinsam klären - als
Abschreibungsmodell zu werten ist und wann nicht. Es
gibt Bemühungen um einen Erlass. Die Spitzenverbände
der Filmwirtschaft wurden im Rahmen einer Verbandsanhörung mit eingebunden. So viel lässt sich sagen: Es gibt
einen Entwurf, der den Interessen der Filmwirtschaft
weitgehend Rechnung trägt. Er befindet sich allerdings
noch in der Abstimmung mit den Ländern. Ich meine,
Ende Oktober wird der Medienerlass vorliegen.
Die Debatten zur Filmförderung sind im Bundestag
immer mit großem Einvernehmen geführt worden. Wir
begegnen uns ja nicht nur hier, sondern fraktionsübergreifend auch außerhalb dieses Hauses in diversen Gremien der Filmförderung. Lieber Kollege Neumann, Sie
werden mir bestätigen, dass wir dabei in aller Regel konstruktiv und ergebnisorientiert arbeiten und uns auch unterstützen.
Ich wünsche mir, dass die Beratungen im Ausschuss
zum vorliegenden Antrag von dem gleichen Geist geprägt
sein werden. Möglicherweise kann man sich einigen. Ich
bin sicher: Der deutsche Film kann davon nur profitieren.
Ich danke Ihnen.
({13})
Nächster Redner ist
der Kollege Hans-Joachim Otto von der F.D.P.-Fraktion.
Danke
schön, Frau Präsidentin. - Frau Kollegin Schröter, Sie
sprachen eben von neuen Zielen in der Filmförderung.
Mir geht es, ehrlich gesagt, eher um die neuen Instrumente. In den Zielen sind wir uns doch alle einig. Alle
Gutmenschen dieser Republik wollen den deutschen und
den europäischen Film fördern. Mich befällt aber angesichts der bisher erzielten Ergebnisse eine wachsende
Skepsis hinsichtlich der Wirksamkeit und der Sinnhaftigkeit der bisherigen Instrumente der kulturellen und
wirtschaftlichen Filmförderung.
Ich konstatiere eine schon deprimierende Bilanz. Jedes
Jahr wenden Bund und Länder rund 350 Millionen DM
für die Filmförderung auf - Tendenz steigend. Es gibt
weitere Förderprogramme, auf der europäischen Ebene
beispielsweise Media Plus. Dennoch ist festzuhalten - an
diesem Punkt kommt niemand vorbei -: Es gibt noch
keine messbaren Erfolge. Der Anteil deutscher Filme in
den Kinos dümpelt bei rund 14 Prozent - Tendenz jedenfalls nicht steigend, eher sinkend.
({0})
- Nein, Frau Kollegin. Als Vorbereitung auf die heutige
Rede habe ich mir die entsprechenden Zahlen der letzten
Jahre herausgesucht. Ich muss eindeutig feststellen: Tendenz in keiner Weise steigend. Trotz des viel beschworenen Bündnisses für den Film gibt es Strukturprobleme.
Ich darf an dieser Stelle einmal einen Kundigen zitieren - er ist jedenfalls kompetenter als ich -, der schon
lange in diesem Bereich arbeitet, nämlich den früheren
Chef der Filmförderung NRW und den künftigen Berlinale-Chef Dieter Kosslick. Er sagt:
Die deutsche Filmförderung ist eine komplett konservative Schnarchabteilung, weil jeder Angst hat,
etwas zu verlieren, wenn er etwas verändert. Ich kann
nur sagen: Wenn nichts verändert wird, verlieren wir
alles.
({1})
Ich kann nur sagen: Gut gebrüllt, Löwe. Aber ich muss
schon fragen: Gehört Dieter Kosslick nicht selbst zu dieser Schnarchabteilung?
({2})
Kosslick spricht in diesem Zitat den Förderungswirrwarr öffentlicher Institutionen an. Es ist tatsächlich
skurril: Es gibt in Deutschland beispielsweise Fördermittel aus Schleswig-Holstein, wenn dort nur ein Teil eines
Filmes gedreht wird. Es gibt Fördermittel aus Bayern,
wenn dort der Cut erfolgt. Es gibt Fördermittel aus
Thüringen, wenn dort das Drehbuch geschrieben wurde.
Es entsteht der fatale Eindruck, dass sich manche deutschen Regisseure und Produzenten sehr gut in der Filmförderung auskennen und sich mehr um die Erschließung
öffentlicher Fördertöpfe als um das Produzieren marktfähiger Filme kümmern.
Es gibt erfolgreiche deutsche Produzenten und Regisseure - und natürlich auch Schauspieler -, die international anerkannt sind. Aber leider zieht es immer mehr von
ihnen nach Hollywood. Die erfolgreichsten „deutschen“
Filme der letzten Monate sind die Hollywood-Produktionen „Der Sturm“ von Wolfgang Petersen und „Der Patriot“ von Roland Emmerich.
Ich konnte mich vor einigen Monaten mit einigen Vertretern der deutschen Filmkolonie in Hollywood unterhalten, übrigens, Herr Naumann, in der von Ihnen geförderten - das begrüße ich sehr - Villa Aurora. Einheitlicher
Tenor aller dort Anwesenden war, die finanzielle Filmförderung durch öffentliche Institutionen schade dem
deutschen Film mehr, als sie ihm nütze. Es sei das süße
Gift der Subvention, das den Blick auf die Vermarktbarkeit trübe.
({3})
- Ich komme noch dazu, Herr Tauss. - Der Ratschlag lautet: Geht mittelfristig heraus aus der finanziellen Filmförderung! Setzt auf privates Geld und eigene Verantwortung!
Ähnlich sieht das auch der Staatsminister Michael
Naumann. Dem „Spiegel“ erklärt er jüngst auf die Frage
„Wird der deutsche Film sich je ohne Fördergelder rechnen?“:
Warum nicht? Es gibt in Europa ein deutschsprachiges Einzugsgebiet von mehr als 90 Millionen Menschen
- übrigens gibt es auch Übersetzungsmöglichkeiten, lieber Herr Naumann ({4})
und es sollte möglich sein, dieses Publikum zu gewinnen. Diesen Kampf sollte man nicht verloren geben.
({5})
Jawohl, er hat Recht: Diesen Kampf sollte man nicht verloren geben. An dieser Stelle kämpfen wir mit Ihnen. Wir
verstehen aber nicht so recht, warum Sie trotz dieser richtigen Erkenntnis ständig in die entgegengesetzte Richtung
marschieren und in Ihrem eigenen Etat - auch in diesem
Jahr wieder - die Mittel für die kulturelle Filmförderung
erhöhen wollen.
Was wir in jedem Fall brauchen - darauf hat der Kollege Neumann zu Recht hingewiesen -, ist mehr privates
Risikokapital.
({6})
Liebe Frau Kollegin Schröter, ich weiß nicht, was Ihre
persönliche Meinung dazu ist. Sie haben uns gesagt, in Ihrer Fraktion sei das nicht durchsetzbar. Ich bitte Sie darum - auch das ist ein Bündnis für den deutschen Film -,
die sozialistischen Neidkomplexe in Ihrer Fraktion zu
bekämpfen
({7})
und dafür zu sorgen, dass § 2b Einkommensteuergesetz
jedenfalls in diesem Bereich verändert wird, sodass wieder mehr deutsches Risikokapital in diesen Bereich gehen
kann.
Die Redezeit erlaubt es mir leider nicht, zu der Vielzahl
von Vorschlägen in dem CDU-Antrag im Einzelnen Stellung zu nehmen. Wir werden uns als F.D.P.-Fraktion sehr
eifrig und konstruktiv - wie es unsere Art ist - an der Beratung in den Ausschüssen beteiligen. Ich möchte hier abschließend nur die Richtung aufzeigen.
Die Richtung lautet: Weniger Subventionen, mittelfristig heraus aus den Subventionen, stattdessen effektivere,
marktwirtschaftlichere Rahmenbedingungen für den
deutschen Film.
({8})
Herr Dr. Naumann, wir versichern Ihnen: Wir Liberalen geben mit Ihnen zusammen den Kampf um den deutschen und europäischen Film nicht verloren, ganz im Gegenteil. Aber wir appellieren auch an einige Filmschaffende in Deutschland und in Europa - ich sage bewusst: einige -, Abstand davon zu nehmen, sich auf öffentlich-rechtlichen Sänften zum Erfolg tragen zu lassen.
({9})
Ich weiß, dass Ihre Meinung auch in diese Richtung
zielt. In diesem Bemühen unterstützen wir Sie, fordern
Sie aber auch auf: Setzen Sie ein Zeichen und machen Sie
der deutschen Filmindustrie klar, dass sie sich nicht auf
Dauer auf Subventionen verlassen kann. Wir werden uns
gemeinsam mit Ihnen dafür einsetzen - das ist unser
Bündnis für Film -, effektivere, marktwirtschaftlichere
Rahmenbedingungen für den deutschen Film zu schaffen.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Grietje
Bettin.
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen oder darüber
ärgern soll, dass der deutsche Film in regelmäßigen Abständen Gegenstand parlamentarischer Debatten ist. Einerseits freue ich mich darüber, weil der deutsche Film für
mich eine sehr große Bedeutung hat. Andererseits ärgere
ich mich darüber, weil die Debatten beweisen, dass es
beim deutschen Film immer noch einiges gibt, das im Argen liegt.
Hans-Joachim Otto ({0})
Wie alle an dem Thema Interessierten weiß ich, dass
nicht alle Probleme von heute auf morgen behoben werden können. Möglich ist nur eine Politik der kleinen
Schritte, und diese hat die Bundesregierung mit ihrem Beauftragten für Kultur und Medien bislang erfolgreich betrieben.
({1})
So hat sie bei der kulturellen Filmförderung nicht nur
eine Erhöhung der Fördersumme insgesamt durchgesetzt,
sondern durch die nachhaltige Verbesserung der Drehbuchförderung und der Stoffentwicklung auch genau an
den wundesten und unzureichendsten Punkten des Filmschaffens in Deutschland angesetzt.
Schwieriger ist das mit den ehrgeizigen Zielen, die mit
dem Bündnis für den Film erreicht werden sollen. Es ist
viel Kritik dahin gehend geäußert worden, dass das Bündnis nichts bewirken würde. Das ist so nicht richtig.
({2})
Das kontroverseste Thema bei den Bündnistreffen war
die Stärkung der unabhängigen Produzenten, wie es in
dem vorliegenden Antrag zu Recht gefordert wird. Auch
wenn noch kein Durchbruch erzielt wurde, hat das Bündnis für den Film weiteren Druck auf die Verhandlungspartner Fernsehsender und Produzenten ausgeübt, der zu
den aktuellen Verhandlungen um fairere und ausgewogenere Regelungen beigetragen hat. Der Ausgang dieser
Verhandlungen wird zeigen, ob und wie der Bundestag
mit einer Novellierung des Filmförderungsgesetzes die
Stärkung unabhängiger Produzenten vorantreiben muss.
Ich bin zuversichtlich, dass uns dies gelingen wird, da
keine der Fraktionen bei diesem Thema ideologische
Scheuklappen trägt, sondern alle pragmatisch an der Sache orientiert sind. Das zeigt auch der vorliegende Antrag
der CDU/CSU-Fraktion.
Eine Novellierung des Filmförderungsgesetzes wird
vor allem Instrumente entwickeln müssen, durch die die
wenigen noch verbliebenen unabhängigen Produzenten
gestärkt werden können. Wenn wir das nicht schaffen,
werden darunter die inhaltliche und kulturelle Vielfalt genauso wie der wirtschaftliche Wettbewerb leiden. Eine
Neuregelung des Rechterückfalls an die Produzenten zugunsten von ihnen - da stimme ich mit dem Antrag der
CDU/CSU überein -, wird unumgänglich sein, wenn die
Fernsehsender und Produzenten das nicht untereinander
bewältigen.
Ich hoffe allerdings, dass es in diesem Fall nicht bei
vollmundigen Ankündigungen vonseiten der Politik
bleibt, wie es bei den letzten Novellierungen der Fall war,
sondern alle Parteien zusammen mit Bündnis 90/Die Grünen wirkliche Verbesserungen für die Produzenten im
FFG festschreiben.
Darüber hinaus brauchen wir als Parlament den Mut,
jetzt über eine grundsätzliche Reform der Bundesfilmförderung nachzudenken. Wir müssen abwägen, ob sich die
Filmförderung nicht vorrangig und schwerpunktmäßig
um die Nachwuchsförderung und die Unterstützung von
jungen Autoren, Regisseuren und Produzenten bemühen
muss. Die bereits Erfolgreichen und Etablierten - das sehe
ich zu meiner Freude immer öfter - sind zwar nicht immer, aber immer öfter in der Lage, ihre Filme weitgehend
durch privates Kapital zu finanzieren.
Deutsche Fernsehfilme und vor allem Serien verkaufen
sich relativ erfolgreich im Ausland. Bei den deutschen Kinofilmen ist das leider, von wenigen Ausnahmen abgesehen, noch nicht der Fall. Sie lassen sich noch nicht einmal
an unsere europäischen Nachbarländer verkaufen.
Daher spielt nicht nur die Förderung europäischer Kooperationen wie der Deutsch-Französischen Filmakademie, sondern auch die Auslandsvertretung des deutschen
Films eine bedeutende Rolle, die die jetzige Export-Union
allerdings weder organisatorisch noch finanziell ausfüllen
kann. Die Auslandsvertretung des Films neu zu organisieren und mit ausreichenden Mitteln auszustatten wird eine
der nächsten großen Aufgaben von Filmwirtschaft und
Politik sein.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Nächster Redner ist
der Kollege Dr. Heinrich Fink, PDS-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin!
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Dass am Dienstag der vergangenen Woche hier in Berlin das erste umfassende Filmmuseum in Deutschland eingeweiht worden ist, möchte ich an dieser Stelle als wichtiges
kulturelles Ereignis würdigen. Die Filmgeschichte hat
also ihren archivarischen Ort gefunden, die Großen haben
Platz genommen. Dem gegenwärtigen deutschen Filmschaffen müssen wir allerdings mit sorgfältigen politischen Entscheidungen endlich den angemessenen Platz
einräumen.
Mit dem Antrag der CDU/CSU wird erfreulicherweise
nach langer Zeit wieder eine parlamentarische Debatte
zur intensiven Beschäftigung mit den Rahmenbedingungen des deutschen Films angeregt. Das wird von meiner
Fraktion ausdrücklich begrüßt.
Dass die Rahmenbedingungen des Films dringend der
Verbesserung bedürfen, steht für mich - nach Rücksprache mit verschiedenen im Film engagierten Akteuren und
Verbänden - außer Zweifel. Einem großen Teil der im Antrag vorgebrachten Forderungen und Vorschläge kann ich
zustimmen. Die Bundesregierung sollte noch in diesem
Herbst einen Bericht über die Lage des deutschen Films
mit konkreten Maßnahmevorschlägen vorlegen.
Ich möchte ausdrücklich würdigen, dass sich die Bundesregierung im Bereich der Filmförderung durchaus engagiert und versucht, neben der wirtschaftlichen auch der
kulturellen Filmförderung einen angemessenen Platz
einzuräumen.
Die Gespräche im Rahmen des Bündnisses für den
Film halten wir für außerordentlich wichtig. Es muss ein
Konsens zwischen den verschiedenen Interessengruppen
zur dauerhaften Stärkung des Films in Deutschland und
Europa ermöglicht werden. Die Verhandlungen sollten
unbedingt fortgesetzt werden. Zugleich ist die Bundesregierung in der Pflicht, ihre Ankündigungen einzulösen.
Beispielhaft nenne ich: Aufstockung der Mittel für die
kulturelle Filmförderung in den nächsten Jahren, Förderung der Programmkinos, Verbesserung der Präsentation
der deutschen Filmkultur und -wirtschaft im Ausland sowie die Stärkung der Rechte der unabhängigen Film- und
Fernsehproduzenten.
({0})
„Der Film ist ein wichtiges Kultur- und Wirtschaftsgut“, heißt es im Antrag. Dem kann ich nur zustimmen.
Wir finden es bemerkenswert und richtig, dass die Kultur
hierbei an erster Stelle genannt wird; denn der Film ist
zweifellos weit mehr als ein Wirtschaftsfaktor, was seine
volkswirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Bedeutung keineswegs in Abrede stellt.
Als eine der wenigen Wachstumsbranchen verdient die
Filmwirtschaft auch die besondere Aufmerksamkeit und
Unterstützung durch die Politik. Wenn die Rahmenbedingungen für den deutschen Film diskutiert werden, müssen
aber sowohl die wirtschaftlichen als auch die kulturellen
Aspekte bedacht werden. Dabei müssen dann die Belange
aller kulturellen Akteure im Blick sein. Hier finden wir
den vorliegenden Antrag unbedingt ergänzungsbedürftig.
Die Rechte der unabhängigen Film- und Fernsehproduzenten zu stärken, das halten wir für notwendig, aber
unserer Auffassung nach sollte es zugleich um die Sicherung der Rechte aller Urheber gehen, also aller an der
Produktion von Filmen schöpferisch Beteiligten, wie Regisseuren und Regisseurinnen, Buchautoren und Buchautorinnen und ausübenden Künstlern und Künstlerinnen,
nicht nur um die Rechte der Produzenten. Wenn es uns um
Qualität des deutschen Films geht, müssen wir alle beteiligten Urheber stärken und fördern.
Die im Antrag benannten Regelungen zum Schutz des
geistigen Eigentums finden unsere Zustimmung. Für problematisch halten wir allerdings den Vorschlag, eine verstärkte Beteiligung privaten Kapitals - Frau Schröter hat
das auch schon gesagt - durch Streichung von § 2b Einkommensteuergesetz zu erreichen.
Herr Kollege Fink, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
Auch wenn wir der Forderung in dieser Globalität nicht zustimmen können, sind
wir daran interessiert, dass spezifische Lösungen für den
Filmbereich schnell gefunden werden.
Ein Satz sei mir noch erlaubt.
Aber kein ThomasMann-Satz, bitte!
({0})
Aus Sicht der PDS sind
viele Forderungen im Antrag zu unterstützen, aber mit der
Stärkung der Rechte der Filmproduzenten muss es zugleich um die Sicherung der Urheberrechte aller Beteiligten gehen. Zur Gesamtheit der Rahmenbedingungen
gehören auch die besonderen Probleme, die im Einigungsprozess bei der Frage des Urheberrechts in den
neuen Bundesländern entstanden sind.
({0})
Herr Kollege Fink, Sie
bringen mich jetzt wirklich in eine schwierige Situation.
Ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.
Ich erkläre hier ausdrücklich die Bereitschaft der Fraktion der PDS, an einem fraktionsübergreifenden, sachdienlichen Antrag mitzuwirken.
({0})
Ich muss der Klarheit
halber als Literaturwissenschaftlerin feststellen: Ich habe
nichts gegen den Autoren Thomas Mann, sondern habe
das nur auf die Länge des Satzes bezogen. Das wissen
alle, glaube ich.
Das Wort hat jetzt Herr Staatsminister Dr. Michael
Naumann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Herr Abgeordneter Neumann, dieser Antrag ist zweifellos
der merkwürdigste Abspann zu einem sehr lange dauernden, 16-jährigen Film, den ich je gelesen habe. Was Sie in
Wirklichkeit hier vorgelegt haben, womit ich cum grano
salis übereinstimme, ist die Reparaturanleitung zu der
vergangenen Filmförderungspolitik Ihrer Legislaturperioden.
({0})
- Das kommt ja, wenn Sie mir die Minuten geben.
Sie verlangen von dieser Regierung im Grunde genommen, dieses von Ihnen, Herr Otto, als Förderungswirrwarr bezeichnete Labyrinth der Filmförderungsmaßnahmen mit all den inhärenten Ungerechtigkeiten und
Absurditäten innerhalb von zwei Jahren zu verändern.
({1})
Diese legislativen Veränderungen, Herr Neumann, mögen in der Vergangenheit in der Tat sehr klandestin
- heimlich vor allem im Kanzleramt, unter Mitsprache der
privaten Fernsehanstalten auch bei der Filmförderungsgesetzgebung, wie Sie und ich ganz genau wissen - stattgefunden haben. Dass Veränderungen jetzt öffentlich stattfinden, im Bündnis für den Film, wird von der gesamten
Filmindustrie ausgesprochen begrüßt und sollte nun nicht
zu einer Art Ankündigungspolitik umdefiniert werden.
Denn wir beide wollen, wie alle im Haus, in der Tat prozessuale Veränderungen, aber auch legislative Veränderungen für eine Wirtschaft bewerkstelligen, die vielleicht
nicht finanziell, wohl aber, mit wenigen Ausnahmen,
ästhetisch, aber vor allem hinsichtlich der Akzeptanz
durch das deutsche Publikum zwar nicht am Boden liegt,
aber doch weiterhin vor sich hin darbt.
Ich will angesichts der kurzen Redezeit, die ich habe,
eigentlich nur wenige Punkte schnell ansprechen.
Erstens. Sie haben Kosslick zitiert, zu Recht. Was sich
in der Filmförderung entwickelt hat, ist in der Tat eine Art
weiches Prokrustesbett: Wer einmal darin liegt, kommt da
nicht mehr heraus, aber liegt bequem.
({2})
Dies ist nicht richtig, dies wollen wir nicht, und dies will,
wie man sieht, auch der Markt nicht. Der Markt wird
unter anderem von den Produzenten neu definiert, die an
die Börse gegangen sind und sich damit eigentlich von
diesem 350-Millionen-Mark-Topf verabschieden, der in
ganz Deutschland zur Verfügung steht.
({3})
Diese Fördermittel stehen in einem höchst komplexen
System zur Verfügung, von dem vor allem die öffentlichrechtlichen und die privaten Fernsehanstalten profitieren.
({4})
Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob das das richtige
System ist. Wir wollen das ändern. Zweitens. Vor allem
Sie, Herr Neumann, fragen, wo denn nun die Veränderungen bezüglich der von mir angekündigten Maßnahmen
sind. Ich habe diese Maßnahmen doch nicht nur angekündigt, ich will sie im Gespräch mit den Partnern der Filmindustrie erreichen. Sie also fragen, wo denn die angekündigten Verbesserungen der Situation der Produzenten sind. Die Produzenten sind offenkundig nicht
dumm; sie sind an den Markt gegangen und verabschieden sich damit tendenziell von diesem System.
({5})
- Ich erhöhe die Mittel im kulturellen Bereich. Wollen Sie
das nicht?
({6})
Ich stelle fest: Die F.D.P. kritisiert die Erhöhung der Fördergelder im kulturellen Bereich, die vor allem Kinderund Dokumentationsfilmen zugute kommt. Das kann ich
mir eigentlich nicht vorstellen, dass Sie das wollen. Herr
Otto, ich weiß, Sie sind kinderlieb.
({7})
Drittens. Es ist in den Gesprächen mit den öffentlichrechtlichen Fernsehanstalten und den Produzenten - auch
durch meine Vermittlung - inzwischen so, dass sich die
sehr starre Haltung der Fernsehanstalten aufzulösen beginnt. Das heißt, die sehr differenzierten Rechterückfallregelungen im Filmförderungsgesetz, aber auch in der
Praxis werden zur Disposition gestellt, wenn auch nicht in
dem Maße, in dem Sie und ich uns das eigentlich vorstellen und wie sich das vor allen Dingen die Produzenten
wünschen.
Schließlich schnell zu den Medienfonds. Die Medienfonds, die auch in Ihrer Zeit - das darf ich doch sagen existierten, haben dazu geführt, dass einem Ondit zufolge
20 Prozent aller Hollywoodfilme, die dann wieder in
den mit Steuergeldern subventionierten deutschen Markt
zurückströmen, mit ebenfalls aus deutschen Steuergeldern subsidierten Medienfonds aus Deutschland finanziert worden sind. 20 Prozent aller Hollywoodfilme sind
mit steuerbegünstigten deutschen Geldern produziert
worden, drängen auf den Markt zurück und erzielen hier
ungefähr 85 Prozent des Filmumsatzes. Hier ist irgendetwas nicht in Ordnung.
({8})
Wissen Sie, wie dieses Geld in Hollywood heißt? „Stupid
Money!“ Aber: Who is stupid? Wenn ich das einmal synchronisieren darf: Wer ist hier dumm?
Wenn der Finanzminister hier einige Bedenken hat,
dann werden auch Sie sie teilen müssen - und teilen wollen. Mit anderen Worten: Der § 2b des Einkommensteuergesetzes wird nicht in dem Sinne gestrichen, dass jetzt
keine Medienfonds mehr aufgelegt werden. Aber es muss
ganz klar und deutlich werden, dass bei den Fonds eine
eindeutige Gewinnerzielungsabsicht vorliegt. Dazu muss
man sagen: Viele der Filme, die in Hollywood produziert
werden, werden in der Tat nicht mit einer Gewinnerzielungsabsicht produziert. Schätzungsweise die Hälfte
dieser Filme erscheint überhaupt niemals auf einer amerikanischen Leinwand. Warum sollen wir diese Studioarbeiten von Hollywood finanzieren, selbst wenn dort Leute
wie Emmerich und Petersen arbeiten?
Schließlich noch ein Punkt: Die deutschen Filmkünstler, die jetzt in den USA sitzen und die wohlfeilen Ratschläge geben, wie wir hier Tabula rasa machen sollen,
sitzen - ich möchte es einmal so formulieren - auf einem
teuren Ross und sagen damit indirekt: Ich habe mit „Das
Boot“ nichts mehr zu tun. Aber das war eine subventionierte Fernsehproduktion. Leute wie Emmerich sagen:
Ich habe eigentlich mit meiner Ausbildung in Stuttgart
nichts mehr zu tun. Aber das war steuersubventionierte
Filmförderungspolitik. - Also: Gänzlich den Ratschlägen
dieser erfolgreichen Regisseure zu folgen wäre sicherlich
nicht allein selig wachend.
({9})
Aber ich hätte sie gerne hier in Deutschland, damit sie
mit deutschen Geldern deutsche Filme für die gesamte
Welt produzieren. Warum das nicht klappen soll, ist mir
immer noch nicht klar. Damit kommen wir auf die von IhStaatsminister Dr. Michael Naumann
nen zu Recht kritisierte Form der Filmförderung zurück.
Sie ist in dieser Situation - im Übrigen auch angesichts
der Tatsache, dass viele Produzenten an den Markt gehen - nicht mehr komplett vermittelbar. Die Frage stellt
sich uns allen: Warum sollen wir mit Steuergeldern Firmen subsidieren, die in diesen Tagen mit enormen Gewinnen an die Börse gegangen sind?
({10})
Das ist eine legitime Frage. Ich beantworte sie zur Hälfte.
Wir subventionieren die gesamte deutsche Industrie mit
unendlich vielen Maßnahmen. Aber es müssen - ganz
klar - neue und präzisere Regeln aufgestellt werden, wer
in welchem Umfang gefördert wird.
Dies alles sind Themen, die Sie nicht in einer Woche
und auch nicht in einem Jahr lösen können. Wir lösen sie
gemeinsam im Gespräch mit Ihnen - im Bündnis für den
Film, aber auch in unserem Kulturausschuss. Ich glaube,
die Gemeinsamkeit unserer politischen Arbeit in dieser
Angelegenheit ist ganz klar: Wir wollen Regelungen vorlegen, von denen man nicht nach 16 Jahren, auch nicht
nach drei oder fünf Jahren sagen muss: Vom Winde verweht.
Danke schön.
({11})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3375 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({0})
- zu dem Antrag des Bundesministeriums der
Finanzen
Entlastung der Bundesregierung für das
Haushaltsjahr 1998 - Vorlage der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes ({1}) - zu der Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof
Bemerkungen des Bundesrechnungshofes
1999 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung
({2})
- Drucksachen 14/737, 14/1667, 14/3869 Berichterstattung:
Abgeordnete Uta Titze-Stecher
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die SPDFraktion hat die Kollegin Siegrun Klemmer.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine Parlamentsdebatte über die Entlastung der Bundesregierung
für das vorvergangene Jahr entzieht sich den üblichen interfraktionellen Beißreflexen jedes Jahr erneut auf eigentümliche Weise: Stets herrscht Einigkeit darüber, die
Entlastung zu erteilen, und die mahnenden Ratschläge in
der Beschlussvorlage, die das Parlament zur Erhöhung
der Wirtschaftlichkeit der Mittelverwendung seiner Exekutive mit auf den Weg gibt, sind manchmal über Jahre
hinweg identisch.
Daraus ziehen manche den Schluss, bei der abschließenden Behandlung einer Jahresrechnung im Plenum handele es sich um eine nachrangige Parlamentsroutine. Dem muss ich entgegenhalten: Die Beschlussvorlage
zur Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr
1998 und zu den Bemerkungen des Bundesrechnungshofes 1999 ist das Ergebnis monatelanger intensiver Beratungen im Rechnungsprüfungsausschuss, wo keineswegs
immer ausgemacht war, dass seine Mitglieder der Regierung jede überplanmäßige Ausgabe, jede fehlende Ausschreibung und jede übertarifliche Eingruppierung würden durchgehen lassen.
Manchmal herrschte indes - dem Gerücht von der besonderen Persönlichkeitsstruktur eines Rechnungsprüfers
zum Trotz - eine erfrischende Unübersichtlichkeit im
Ausschuss. Immer dann, wenn knackige Verstöße gegen
das Haushaltsrecht und brüllend komische Arabesken
dicht nebeneinander lagen, resultierten daraus entsprechende Fragen: Wie bitte ist der Diensthund zu behandeln,
den ein Zuwendungsempfänger entgegen den Richtlinien
aus Bundesmitteln angeschafft hat?
Für die Mühe, den Mitgliedern des Rechnungsprüfungsausschusses den Weg durch Probleme wie dieses
und einen Berg von Berichten und Beschlussvorlagen zu
bahnen, habe ich dem Sekretariat des Rechnungsprüfungsausschusses herzlich zu danken.
({0})
Aber auch ohne die ständige, manchmal insistierende
Zuarbeit, die kompetente, unbestechliche Prüfung und lösungsorientierte Beratung durch den Bundesrechnungshof wäre ein wirksames Controlling des Bundeshaushalts durch ein Gremium des Parlaments nicht möglich.
Mein Eindruck ist, dass diese Arbeit durch Privatisierungen, Überschuldung und nicht zuletzt durch die ersten
Schritte zur Loslösung von der starren Kameralistik nicht
nur immer komplexer, sondern auch schwerer vermittelbar wird. Anregungen des Bundesrechnungshofes zur effizienteren Mittelverwendung laufen Gefahr, als Spielwiese von Krämerseelen abgetan zu werden. Höchstens
interessiert das abschließende Testat, und das schallt seit
Jahren am Tage der Vorlage des Bundesrechnungshofsberichtes so durchs Land: Politik und Verwaltung verschwenden Steuergelder in Höhe von X Milliarden. Dann
ist das Urteil schnell bei der Hand: In der Privatwirtschaft
wäre das nicht passiert.
Wir sollten uns hüten, den Kritikern der Staatsquote
bei ihrer Delegitimierung der Staatsaufgaben zu schnell
auf den Leim zu gehen. Es gibt keine Naturgesetzlichkeit,
nach der der Staat seinen Aufgaben ineffizient und nur unter erheblicher Mittelverdunstung nachkommt.
({1})
Der hier zur Entlastung anstehende Haushalt 1998 eignet sich für einen interfraktionellen Schlagabtausch besonders wenig, da seine Aufstellung und Bewirtschaftung
in den ersten Monaten noch in die Verantwortung der
Kohl-Regierung fiel, die Bewirtschaftung im letzten
Quartal und der Jahresabschluss aber bereits von der
neuen Bundesregierung geleistet wurden.
Der Bundesrechnungshof hat festgestellt, das die Jahresrechnung des Bundes und seiner Sondervermögen ordnungsgemäß war. Fehler in der Belegführung und bei der
Anwendung des Haushaltsrechts wurden vom Rechnungshof selbst als Einzelfälle charakterisiert.
Die Ausgaben betrugen 456,9 Milliarden DM und lagen damit in Höhe von 100 Millionen DM geringfügig
über dem Soll-Ansatz. Die Unterdeckung, gleichbedeutend mit der Neuverschuldung, belief sich auf 56,6 Milliarden DM. Für das Jahr 1998 wurden mit 11,4 Milliarden DM erhebliche Ausgabereste gebildet, die gemäß § 19
und § 45 der Bundeshaushaltsordnung eine zusätzliche
Belastung für den Haushalt darstellen. Ende 1998 belief
sich der Ausgaberest auf 13,7 Milliarden DM. Als Folge
der Flexibilisierung werden diese Ausgabereste auch in
den kommenden Jahren vermutlich weiter ansteigen.
Die Neuverschuldung blieb mit 56,6 Milliarden DM
um 0,7 Milliarden DM unter der Summe der Investitionsausgaben. Damit wurde die Kreditobergrenze des Art. 115
Grundgesetz auch im Vollzug eingehalten.
Am Ende des Jahres 1998 verfügte das BMF über eine
Restkreditermächtigung von 10,2 Milliarden DM. Deren
Bildung und Inanspruchnahme ist bis heute haushaltsrechtlich umstritten. Dies gab die Behandlung dieses Aspekts im Rechnungsprüfungsausschuss deutlich wieder.
§ 18 Bundeshaushaltsführung regelt, dass Kreditermächtigungen bis zum Ende des folgenden Haushaltsjahres in Anspruch genommen werden dürfen. Die darauf
aufbauende Position des Rechnungshofes lautet, die Praxis des Finanzministeriums, bei der Kreditbewirtschaftung innerhalb eines Haushaltsjahres zuerst immer die
Restkreditermächtigung und erst danach die Kreditermächtigung des laufenden Jahres in Anspruch zu nehmen,
ermögliche einen in der Höhe nicht begrenzten Aufbau
der Restkreditermächtigung über mehrere Jahre hinweg.
Zwar sei mit dem Haushaltsgesetz 1999 die Inanspruchnahme von Restkreditermächtigungen in Höhe
von 0,5 Prozent der Gesamtausgaben begrenzt worden,
die Möglichkeit des Haushaltsausschusses, die darüber
hinausgehende Restkreditermächtigung ohne erneute
Parlamentsbeteiligung oder Nachtragshaushalt freizugeben, sei jedoch hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem
Geist der Bundeshaushaltsordnung nicht unproblematisch.
Daher sei zu thematisieren, ob nicht auch eine Regelung einzuziehen sei, die das BMF verpflichte, Restkreditermächtigungen gegenüber der laufenden Kreditermächtigung nur nachrangig in Anspruch zu nehmen. Das BMF
hielt dagegen, mit der Neuregelung im Haushaltsgesetz
1999 sei eine substanzielle und ausreichende Begrenzung
der Inanspruchnahme von Restkreditermächtigungen erfolgt.
Die Gesamtverschuldung des Bundes einschließlich
seiner Sondervermögen betrug zum 31. Dezember 1998
1,454 Milliarden DM. Auch für 1998 war die übermäßige
Bindung von Einnahmen durch den Schuldendienst charakteristisch. Mit 56,6 Milliarden DM lag die Nettoneuverschuldung unter der Vorgängerregierung deutlich über
der des heutigen Konsolidierungshaushalts.
({2})
Der Schuldenstand hatte sich 1998 gegenüber den letzten
zehn Vorjahren etwa verdreifacht und betrug Ende 1998
fast 1,5 Billionen DM.
Der Rechnungshof merkt an, die Einbeziehung des
Wertverlustes bei der Ermittlung der Höhe der Investitionen hätte diese unter die Neuverschuldung gedrückt und
damit einen verfassungswidrigen Haushalt ergeben,
({3})
es sei denn, das Parlament hätte eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts festgestellt. Gleichzeitig
sei zu überlegen, ob mittelfristig nicht auch der Veräußerungserlös aus Bundeseigentum, das im Jahr der Anschaffung als Investition die Höhe der Kreditobergrenze
mitbestimmt, im Veräußerungsjahr die Kreditobergrenze
in gleicher Höhe mindere.
In formaler Hinsicht ist diese Argumentation bestechend. Die Unterdeckung des Bundeshaushalts und die
der meisten Länder hat jedoch Größenordnungen angenommen, die, will man nicht massiv Ausgaben kürzen,
diese Haushalte bei strenger Auslegung des Investitionsbegriffs und der Saldierung von Abschreibungen und Veräußerungserlösen geradewegs in die Verfassungswidrigkeit führen würden. Die sinkenden Neuverschuldungen
in der Finanzplanung werden den darin liegenden Sprengstoff jedoch zumindest für den Bund tendenziell entschärfen.
({4})
Mit der Euro-Einführung wurden die Mitgliedstaaten
der Währungsunion verpflichtet, die Maastricht-Kriterien zur Verschuldungsbegrenzung auch weiterhin einzuhalten. Verstöße werden mit einem Sanktionskatalog der
EU geahndet. Da bei der Ermittlung der Kennzahlen die
öffentlichen Haushalte aller Gebietskörperschaften zugrunde gelegt werden, der Bund jedoch im Rahmen des
Föderalismus über keine Eingriffsrechte in die Haushalte
der unteren Gebietskörperschaften verfügt, bedarf es
- will der Bund keine Sanktionen zu tragen haben, für die
er nicht verantwortlich ist - einer innerstaatlichen Differenzierung des Sanktionssystems durch einen nationalen
Stabilitätspakt. Dies verlangen auch die EU-Vorgaben; für
Deutschland steht das allerdings noch aus.
({5})
Der Rechnungsprüfungsausschuss hat die Bundesregierung gebeten, die Verhandlungen mit den Ländern zu
einer innerstaatlichen Regelung eines Stabilitätspakts zügig voranzutreiben. Dem hat die Bundesregierung entgegnet, aufgrund der positiven Entwicklungen der Kennzahlen und der fehlenden Sanktionsbefürchtungen sei
keine akute Regelungsnotwendigkeit erkennbar. Es sei
hingegen angezeigt, diese Frage im Zusammenhang mit
der anstehenden Regelung des bundesstaatlichen Finanzausgleichs zu verhandeln.
({6})
Da langfristig nicht zwingend davon auszugehen ist,
dass die Kennzahlen des Maastricht-Kriteriums unverändert günstig bleiben, eine Verhandlungslösung mit den
Ländern zu einem späteren Zeitpunkt und eventuell im
Angesicht einer akuten Sanktionsandrohung sehr viel unwahrscheinlicher ist als heute, haben wir im Rechnungsprüfungsausschuss verabredet, dieses Thema nicht aufgrund der momentanen Wachstumsaussichten aus dem
Blickfeld zu verlieren. Zusätzlich haben wir das BMF
aufgefordert, die Verhandlungen mit den Ländern voranzutreiben, um möglichst parallel zur Umsetzung der Vorgaben durch das Bundesverfassungsgericht zum bundesstaatlichen Finanzausgleich eine abschließende Regelung
zu erreichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bedeutung einer
schlagkräftigen Kontrollinstanz für die öffentlichen Finanzen wird sicherlich zunehmen. Ich bitte Sie daher
recht herzlich, die Arbeit der Rechnungsprüfer und des
korrespondierenden Ausschusses weiterhin mit Interesse
und Wohlwollen zu begleiten.
({7})
Bitte folgen Sie der Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses und erteilen Sie der Bundesregierung für das
Jahr 1998 die Entlastung.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, bevor ich die Aussprache fortsetze, begrüße ich auf der Tribüne den Vizepräsidenten des Bundesrechnungshofes, Herrn Dr. Engels, ganz herzlich.
({0})
Ich freue mich - und denke, dabei im Namen aller anwesenden Kolleginnen und Kollegen zu sprechen -, dass Sie
an unseren Beratungen teilnehmen.
Der erste Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist der
Kollege Josef Hollerith.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Tagesordnung stehen die
Bemerkungen des Bundesrechnungshofes für das Jahr
1999 und der Antrag des Bundesministeriums der Finanzen auf Drucksache 14/737, die Regierung für das Haushaltsjahr 1998 zu entlasten.
Ich schließe mich ausdrücklich der Empfehlung der
verehrten Kollegin Klemmer an, diese Entlastung durch
das Parlament zu erteilen. Ich nutze sehr gerne die heutige
Gelegenheit, um den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
des Bundesrechnungshofes für ihre hervorragend qualifizierte, engagierte und für uns sehr effiziente Arbeit herzlich zu danken.
({0})
Ich richte meinen Dank namentlich an die Frau Präsidentin von Wedel und Herrn Vizepräsidenten Dr. Engels,
die schwierige Aufgaben zu bewältigen haben. Ich erinnere an den Umzug des Rechnungshofes von Frankfurt
nach Bonn mit der schwierigen Aufgabe, weiter qualifiziertes Personal zu rekrutieren. Ich erinnere an den erfolgreichen Aufbau der Prüfungsämter und ich erinnere an die
fachlich effiziente Schwerpunktbildung in Fachgebieten,
die die Prüfungstätigkeit wesentlich effizienter gestalten.
Dafür sage ich ganz ausdrücklich herzlichen Dank vonseiten des Parlamentes, insbesondere der Mitglieder des
Rechnungsprüfungsausschusses.
Ich danke ebenso herzlich den Kolleginnen und Kollegen, die Mitglied im Ausschuss sind. Wir haben ein hervorragendes Arbeitsklima. Der Rechnungsprüfungsausschuss ist - ich erinnere daran - der einzige Ausschuss im
Deutschen Bundestag, in dem nicht für jede Fraktion ein
Berichterstatter für ein Thema bestellt ist, sondern wo ein
Berichterstatter für alle Fraktionen die Controlling-Funktion wahrnimmt. Ich möchte in besonderer Weise der Vorsitzenden, Uta Titze-Stecher, für ihre menschlich und
fachlich herausragende und in der Sache zielführende
Vorsitzendentätigkeit danken.
({1})
Es gehört auch zu einem Parlament, dass es öffentlich gesagt werden kann, wenn über die Fraktionen hinweg gut
zusammengearbeitet wird. Es tut auch gut, über den Tagesstreit hinaus Umstände zu nennen, die konstruktiv zu
einem erfolgreichen Controlling der Regierung beitragen.
Ich möchte ausdrücklich auch den Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern des Ausschusssekretariats danken, besonders der Ausschusssekretärin, Frau Dr. Pendzich von
Winter.
({2})
Gemeinhin wird gesagt, wer für die Arbeit bezahlt wird,
hat sie auch gut zu machen. Das stimmt. Aber wenn, wie
bei Frau Dr. Pendzich von Winter der Fall, diese Arbeit
überdurchschnittlich, tatkräftig und fachlich hervorragend erledigt wird, dann verdient das nach meiner Meinung eine besondere Nennung und einen besonderen
Dank vonseiten derer, die davon profitieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben im
Rechnungsprüfungsausschuss sehr intensiv gearbeitet
und werden von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
des Rechnungshofes sehr gut beraten. Daher erspare ich
mir an dieser Stelle eine detaillierte Aufzählung der einzelnen Prüfungsthemen. Vielmehr möchte ich die Gelegenheit nutzen, eine politische Bewertung der Haushaltsführung der alten Bundesregierung von CDU/CSU
und F.D.P. in ihrem letzten Jahr vorzunehmen und sie mit
den Haushaltszahlen zu vergleichen, die die neue, von
SPD und Grünen gestützte Regierung vorlegt.
Die Eckwerte: Die Gesamtausgaben lagen 1998 mit
456,9 Milliarden DM gegenüber 1993 mit 457,5 Milliarden DM niedriger. Diese Verringerung der Ausgaben
stellte also einen Kurs der Konsolidierung dar. Die Nettokreditaufnahme war 1998 mit 56,4 Milliarden DM um
7,3 Milliarden DM niedriger als 1997. Die gesamten Rentenausgaben des Bundes beliefen sich 1998 auf 100 Milliarden DM; das waren 22 Prozent der Gesamtausgaben.
Die investiven Ausgaben des Bundes betrugen 57,1 Milliarden DM. Die Investitionsquote lag damit bei 12,5 Prozent.
Vergleichen wir diese Eckwerte des letzten Haushalts
der alten Bundesregierung mit denen im rot-grünen Haushaltsentwurf 2001, so stellen wir fest: Die Gesamtausgaben werden um 22 Milliarden DM höher als 1998 liegen
und am Ende der Finanzplanung im Jahr 2004 um 46 Milliarden DM oder um 10 Prozent über dem Niveau von
1998. Das ist keine Konsolidierung, auch wenn es von der
rot-grünen Seite als solche bezeichnet wird. Es ist das Gegenteil von Konsolidierung.
({3})
Die vom Bundesrechnungshof zu Recht beklagte Verschlechterung der Haushaltsstruktur wird durch die rotgrüne Haushaltspolitik vorangetrieben. Die Ausgaben
werden deutlich zugunsten des Konsums und zulasten
der Investitionen ausgeweitet.
({4})
Die Gesamtausgaben steigen 2001 gegenüber 1998 um
21,8 Milliarden DM, in der Finanzplanung 2004 gegenüber 1998 um 45,6 Milliarden DM.
({5})
Die konsumtiven Ausgaben steigen 2001 gegenüber 1998
um 24,3 Milliarden DM, die investiven Ausgaben sinken
dagegen um 2,5 Milliarden DM. Das ist Gift für die Konjunktur und für die Arbeitsplätze. Vergleichen wir die
Jahre 2004 und 1998, so sind es bei den konsumtiven Ausgaben plus 50,7 Milliarden DM und bei den investiven
Ausgaben minus 5,0 Milliarden DM.
Die gesamten Rentenausgaben des Bundes explodieren von 100 Milliarden DM im Jahr 1998 über 137 Milliarden DM im Jahr 2001 auf 156 Milliarden DM im Jahr
2004. Der Anteil der Rentenausgaben an den Gesamtausgaben, der 1998 bei 21,9 Prozent lag, wird 2001 auf
28,6 Prozent steigen und 2004 die 30-Prozent-Marke
übersteigen. Sowohl die Größenordnung als auch die
Dynamik des Anstiegs machen deutlich, dass hier ein
Sprengsatz für den Bundeshaushalt liegt.
({6})
- Ich nehme eine politische Bewertung vor. Das ist die
Aufgabe eines Parlaments. Wir brauchen hier nicht die
Aufgaben des Rechnungshofes und des Rechnungsprüfungsausschusses nachzuvollziehen. Hier im Parlament
haben wir die Aufgabe, politisch zu diskutieren und die
politischen Unterschiede in der Einschätzung herauszuarbeiten.
({7})
Stiefmütterlich behandelt wird von Rot-Grün der Mittelstand, und zwar sowohl in der Steuer- als auch in der
Haushaltspolitik. Während wir im Jahr 1998 zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit kleiner und mittlerer
Unternehmen noch 1,34 Milliarden DM im Haushalt ansetzten, streicht Rot-Grün diese Mittel auf lediglich noch
508 Millionen DM drastisch zusammen. Das ist ein Minus von 62 Prozent.
Für die Gemeinschaftsaufgabe „Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur ({8})“ hat die frühere
Koalition im Jahr 1998 insgesamt 3,45 Milliarden DM
aufgewendet. Für 2001 sind es lediglich noch 1,99 Milliarden DM. Das ist ein Minus von 42 Prozent.
Diese Liste verfehlter Politik von Rot-Grün lässt sich
beliebig fortsetzen. Ich wollte an diesen wenigen Beispielen deutlich machen, dass der Grundansatz der neuen
Haushaltsführung von Rot-Grün falsch ist, nämlich die
konsumtiven Ausgaben aufzublähen und gleichzeitig die
investiven Ausgaben zu kürzen, mit der Folge, dass notwendige, existenziell wichtige Infrastrukturvorhaben wie
etwa die A 94 oder andere Autobahnen nicht vorankommen oder zu langsam vorankommen, mit dem Ergebnis,
dass notwendige Infrastrukturinvestitionen in Eisenbahnen, in die Beseitigung von Langsamstrecken, in den
Ausbau von Zweigleisigkeit, um die Kapazität der
Schiene zu erhöhen, nicht stattfinden oder nur zeitlich wesentlich verschoben stattfinden können.
({9})
Die Folge ist, dass wir im europäischen Standortwettbewerb zunehmend Probleme bekommen, weil diese investiven Ausgaben unterbleiben.
({10})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wünsche
mir, dass die Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün aus
diesen fachlichen und sachlichen Erkenntnissen in der
laufenden Haushaltsberatung, die jetzt ansteht - wir beginnen mit der parlamentarischen Beratung des Bundeshaushaltes für das Jahr 2001 in diesen Wochen -, mehr
sind als Abnicker des Regierungsentwurfes, dass sie ihre
parlamentarischen Rechte und Pflichten annehmen
({11})
und diesen Haushalt verändern, dass sie neue Schwerpunkte zugunsten von Investionen und Arbeitsplätzen
setzen.
Herzlichen Dank.
({12})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Oswald
Metzger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mich hat
schon gewundert, dass der Kollege Hollerith am Anfang
- fünf Minuten - zu Recht Loblieder sang für den Rechnungshof und die Arbeit im Ausschuss. Dass er aber am
Schluss einen Knüppel aus der Tasche holt, ist hier überhaupt nicht angebracht. Sie sitzen im Glashaus, Kollege
Hollerith,
({0})
und zwar aus einem ganz einfachen Grund. Eine der
Hauptbemerkungen des Rechnungshofes zum Jahr 1998
- von dem reden wir - war beispielsweise, dass Sie im
Jahr 1998, wenn Sie nicht 19,8 Milliarden DM Privatisierungserlöse im Haushalt als Ist-Ergebnis vereinnahmt
hätten, im Abschluss einen verfassungswidrigen Haushalt
gehabt hätten.
({1})
Diese Bemerkung ist berechtigt, und insofern möchte
ich auch davon die Frage nach dem Investitionsbegriff
ableiten. Wenn wir in unserer Gesellschaft dauerhaft
glauben, die Investitionen seien der Gradmesser für die
Verschuldungsobergrenze nach dem Grundgesetz, dann
lügen wir uns alle in die Tasche. Wir haben den Werteverzehr, den Substanzverlust nicht eingerechnet. Kollege
Hollerith, Sie haben gerade am Schluss die Bahn AG genannt. Heute Mittag hatten wir, die grüne Fraktions- und
Parteispitze, ein Gespräch mit dem Bahnvorstand. Ich selber war dabei. Der Bahnchef selber sagt: Seit zehn Jahren
wird in der Netzinfrastruktur nichts mehr gemacht.
Wir sind zurzeit dabei, eine Bahnoffensive zu starten,
im Haushaltsausschuss auch die entsprechenden Beschlüsse zu fassen und im Etat des Jahres 2001 die Investitionen ganz gewaltig zu erhöhen. Da wird praktisch ein
Stück weit Nachholbedarf abgetragen aus der Zeit, in der
Sie Privatisierungserlöse gebraucht haben, um überhaupt
nach dem Buchstaben des Grundgesetzes halbwegs verfassungsgemäß zu bleiben.
Stichwort Konsolidierung: Kollege Hollerith, Sie
wissen ganz genau, dass nach wie vor der strategische Angriff der Opposition daran zerschellt. So solide wie wir in
den letzten anderthalb Jahren, also spätestens seit Eichel
Finanzminister ist,
({2})
agieren, und zwar auch im Bereich der Ausgabenpolitik,
waren Sie einfach, zumindest seit der Wiedervereinigung,
nicht. Sie können vielleicht für sich in Anspruch nehmen,
während der Zeit Stoltenbergs - um mal korrekt zu sein,
drei Jahre lang - Konsolidierung gemacht zu haben, aber
nicht die letzten zehn Jahre. Das muss wahr bleiben.
({3})
Ein weiterer Gesichtspunkt: Sie haben darauf hingewiesen, dass das Ausgabevolumen gestiegen ist, und haben die Nominalwerte des Jahres 1998 verglichen mit den
Folgejahren 1999, 2000 und 2001. Da unterschlagen Sie
schlicht und einfach ein paar Fakten, die aber wichtig
sind.
Schattenhaushalte wie die Postunterstützungskasse,
die 1998 noch separat waren, haben wir bereits 1999 unter Lafontaine als Finanzminister im Bundeshaushalt offen etatisiert, was zu entsprechenden Zinsausgaben und
zum Anstieg der Verschuldung geführt hat. Wir haben die
Zuschüsse an die Rentenversicherung erhöht, was einem
Beschluss des gesamten Parlaments entsprach: Kindererziehungszeiten sollten fairer berücksichtigt werden. Wir
haben die Mehrwertsteuererhöhung von 1998 - ich hatte
etatisiert, die SPD als große Oppositionspartei zugestimmt - 1999 erstmals ein komplettes Jahr lang aber in
die Rentenkasse fließen lassen - so wird es auch in den
Folgejahren sein -, um die Beiträge zur Rentenversicherung nicht auf 21 Prozent ansteigen zu lassen. Wir haben
auch das Aufkommen aus der ersten Stufe der Ökosteuer
1999 und 2000 in die Rentenversicherung fließen lassen.
Wenn man den Haushalt um diese Effekte bereinigt und
berücksichtigt, dass der Entwurf des Jahres 2001 im Vergleich zu dem des laufenden Jahres überhaupt nicht aufwächst, sondern stabil bleibt, dann muss man feststellen,
dass die Ausgaben - über drei bzw. vier Jahre gerechnet um etwa 4,5 Prozent wachsen. Wenn das expansive Haushaltspolitik sein soll, dann frage ich Sie, wie Sie das erklären wollen.
Wir haben das vor allem nicht durch einen Anstieg der
Nettoneuverschuldung erreicht, sondern durch ihre Stabilisierung und Rückführung. 1998 lag die Nettoneuverschuldung des Bundes bei 56,4 Milliarden DM. In den
zwei Monaten nach der Bundestagswahl, also im Jahr
1998, konnten wir zwar - bei Gott - noch nicht viel umswitchen. In diesem Jahr waren Sie noch überwiegend für
den Etat verantwortlich. Aber bereits 1999 betrug die Nettokreditaufnahme nur noch rund 51 Milliarden DM. In
diesem Jahr wird sie bei 49,5 Milliarden DM liegen. Diese
sinkende Tendenz werden wir fortsetzen. Im nächsten
Jahr soll die Nettoneuverschuldung unter 45 Milliarden DM liegen. Das ist die Absicht der Koalitionsfraktionen. Insgesamt entspricht das einer Senkung der Nettoneuverschuldung um 11 Milliarden DM.
Vor allem - das ist noch viel wichtiger - haben wir
nicht wie Sie 19,8 Milliarden DM an Einnahmen aus dem
Verkauf von Tafelsilber, also aus Privatisierungen, eingestellt; wir hoffen vielmehr, dass mit den 3,5 Milliarden DM, die wir aufgrund der günstigen Entwicklung der
Konjunktur und der Steuereinnahmen etatisiert haben, die
früher eingestellten Privatisierungseinnahmen dieses Jahr
durch reguläre Einnahmen ersetzt werden können und
dass der Privatisierungserlös in die Tilgung fließt. Auch
im nächsten Jahr wollen wir versuchen, die Privatisierungseinnahmen durch konjunkturbedingte Steuermehreinnahmen möglichst auf Null zu fahren. Damit hätten
wir einem Prinzip zum Durchbruch verholfen, das lautet:
Wenn der Bund Eigentum verkauft und gleichzeitig neue
Schulden macht, dann muss er die Erlöse aus der Eigentumsveräußerung zur Schuldentilgung nutzen. Das ist
die einzige sinnvolle und zulässige Verwendung von Privatisierungseinnahmen.
({4})
Diese Solidität wollen wir in den Folgejahren auf jeden
Fall beibehalten.
({5})
Insofern, Kollege Hollerith, verehrte Damen und Herren von der Opposition, müssen Sie sich warm anziehen,
wenn Sie den Konsolidierungskurs dieser Koalition ernsthaft angreifen wollen.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Kollege Jürgen Koppelin für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Auch ich habe recht herzlich
zu danken, einmal unserer Vorsitzenden, der Kollegin
Titze-Stecher, die den Rechnungsprüfungsausschuss hervorragend und sehr fair leitet, aber natürlich auch allen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die für den Rechnungsprüfungsausschuss und - ich denke, das kann man
an dieser Stelle auch sagen - für den Haushaltsausschuss
arbeiten, und natürlich den Angehörigen des Bundesrechnungshofes, auch wenn wir mit diesen nicht immer einer
Meinung sind und von deren Empfehlungen abweichende
Entscheidungen treffen. Aber ich glaube, dass deren Zuarbeit unglaublich nützlich für unsere Arbeit ist.
({0})
Mein Kollege Kinkel hatte nach der Rede der Kollegin
Klemmer gesagt: Ihr umarmt euch im Rechnungsprüfungsausschuss scheinbar ständig, weil alles so einheitlich zu sein scheint. So ist es zwar nicht. Aber man darf an
dieser Stelle sagen, dass es dort eine ausgesprochen faire
und sachliche Zusammenarbeit gibt. Insofern bedauere
ich Ihren Ton, Herr Kollege Hollerith, ein bisschen. Ich
könnte jetzt natürlich auch etwas über die Steuerreform
sagen und darstellen, wie schwer das Jahr 1998 gewesen
ist,
({1})
und könnte alles noch einmal herunterbeten, was wir in
- ich weiß nicht, wie vielen - Haushaltsdebatten schon
besprochen haben. Unsere Aufgabe ist es doch in erster
Linie zu prüfen: Wie arbeitet die Regierung, gemessen an
den Vorgaben? Gibt sie das Geld vernünftig aus?
Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch sagen, dass es
mich ein bisschen ärgert - man sieht es auch an der jetzigen Besetzung; ich werfe es ja keinem vor; wir werden
das auch in den morgigen Berichten der Medien wiederfinden -, wenn der Bund der Steuerzahler sein Büchlein
herausgibt und seitenlang Verfehlungen ausbreitet. Dabei
leisten wir vielleicht eine viel bessere und härtere Arbeit
als dieser Bund.
({2})
In unserem dicken Buch lässt sich alles Mögliche finden.
Das ist zum Teil erbarmungslos. Mein Wunsch ist daher,
dass die Bundesregierung, egal, wer sie gerade stellt,
schneller zuliefert, wenn wir unsere Wünsche äußern, und
dass sich die Zeiträume verkürzen, in denen wir beraten
und eine Sache zum Abschluss bringen. Insofern möchte
ich der Kollegin Klemmer ausdrücklich für ihre Rede
danken, weil sie die Stimmung im Rechnungsprüfungs-
ausschuss genau wiedergegeben hat.
Herr Staatssekretär, es wäre vielleicht gut gewesen,
wenn Sie schon anwesend gewesen wären und die gute
Rede der Kollegin Klemmer hätten hören können. Die Re-
gierungsbank war allerdings noch leer, als die Kollegin
ihre Rede hielt. Bei meiner Rede kommen Sie gleich mit
zwei Staatssekretären. Dafür habe ich Verständnis.
Lachen bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN - Oswald Metzger [BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer sich selbst erhöht,
wird erniedrigt werden! - Dietmar Schütz [Ol-
denburg] [SPD]: Ehre, wem Ehre gebührt!)
Lassen Sie mich abschließend zwei Dinge sagen, über
die man sich freuen kann. Lieber Oswald Metzger, so
schlecht kann die Haushaltspolitik der alten Koalition
nicht gewesen sein, wenn - ich habe es bereits bei anderer Gelegenheit gesagt - noch immer derselbe beamtete
Staatssekretär für die Bundesregierung den Haushalt aufstellt, der schon damals für Herrn Waigel tätig war. So
schlimm kann das alles also nicht gewesen sein.
({3})
Das ist die eine Freude, die ich mitzuteilen habe.
Die andere Freude - über sie zu sprechen kann ich mir
wirklich nicht verkneifen - sieht folgendermaßen aus: Mit
welcher Vehemenz hat unser Kollege Diller früher im
Haushaltsausschuss die Bundesregierung angegriffen!
Jetzt muss der gleiche Kollege hier die Bundesregierung
vertreten und die Entlastung der alten Regierung beantragen. Das zu sehen ist auch für mich ein Vergnügen.
Vielen Dank.
({4})
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Heidemarie Ehlert für die
PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die Zustimmung zur Entlastung der
Regierung für ein Haushaltsjahr ist fast schon ein Ritual.
Während der Haushalt 1998 schon längst Geschichte ist,
müssen wir seine Folgen noch heute tragen.
({0})
Da der Bundesrechnungshof keine wesentlichen Abweichungen hinsichtlich der kassenmäßigen Ergebnisse festgestellt hat, stimmt die PDS-Fraktion einer Entlastung zu.
({1})
Trotzdem lesen sich die Bemerkungen des Rechnungshofes - dafür möchte ich mich bei seiner Präsidentin und
ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern recht herzlich bedanken - wie ein Krimi.
({2})
Abgesehen davon gilt die Verletzung des Haushaltsrechts auch nach dem Regierungswechsel noch immer als
Kavaliersdelikt und bleibt ungeahndet.
({3})
- Oh doch, gerne. - Es ist schon erstaunlich, wie großzügig in einigen Bereichen mit Steuergeldern umgegangen
wird. Hierzu möchte ich nur kurz einige Beispiele nennen.
Erstens. Nicht zum ersten Mal wurde festgestellt, dass
das Finanzministerium seiner Fachaufsicht gegenüber
den Oberfinanzdirektionen nicht nachgekommen ist. So
beauftragte das Ministerium eine Zoll- und Verbrauchsteuerabteilung einer Oberfinanzdirektion mit der Errichtung von fünf Gebäuden. Die Oberfinanzdirektion vergab
insgesamt Bauaufträge in Höhe von 23 Millionen DM
ohne Ausschreibung.
Zweitens. Obwohl bereits 1996 den Rentenversicherungsträgern die gesetzliche Aufgabe der Prüfung auf
die Richtigkeit der Beitragszahlungen der Arbeitgeber übertragen wurde, sind, bedingt durch unzureichende Prüfungen, Beitragsansprüche verjährt. Der finanzielle Schaden für den gesamten Bereich der
Rentenversicherung wird allein für das Jahr 1996 auf
circa 85 Millionen DM geschätzt. Damit wäre ich wieder
beim Thema Betriebsprüfer, Stichwort „leere Rentenkassen“.
Drittens. Der Umgang mit Geldern im Bundesministerium der Verteidigung ist eigentlich schon kriminell.
({4})
Ich nenne zur Illustration ein Beispiel: Die Ersatzteilbestände des abgelösten Waffensystems F-104 Starfighter
sollten verwertet werden. Durch vermeidbare Zeitverzögerungen, mangelhafte Bestandsführungen sowie Fehler
und Versäumnisse bei der Umsetzung der vertraglichen
Vereinbarungen mit der Verwertungsfirma wurde für die
beiden letzten Lose der überschüssigen Ersatzteilbestände
mit einem ursprünglichen Beschaffungswert von rund
1,3 Milliarden DM nicht einmal der vereinbarte Garantieerlös von 5 Millionen DM erzielt. Falls das natürlich eine
Form des heimlichen Widerstandes gegen Rüstungsexporte sein sollte, würde ich meine Kritik zurücknehmen.
({5})
Fazit: Die Prüfung der Haushaltsrechnung 1998 macht
erneut deutlich, dass durch die Verschwendung öffentlicher Gelder und auch durch Misswirtschaft von Bundesbehörden dem Staat jährlich Milliarden DM verloren gehen. Daran hat sich bis heute trotz des Regierungswechsels - das zeigen jüngste Prüfberichte - nichts grundlegend geändert.
({6})
Herr Finanzminister, warum nutzen Sie nicht erst einmal
diese Reserven, anstatt Ausgabenkürzungen vorzunehmen? Dabei würden wir Sie gern unterstützen.
({7})
Ich schließe die
Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem An-
trag des Bundesministeriums der Finanzen zur Entlastung
der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1998 und zu
den Bemerkungen des Bundesrechnungshofes 1999,
Drucksachen 14/737, 14/1667 und 14/3869. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal-
tungen? - Diese Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer
Brüderle, Gudrun Kopp, Dr. Hermann
Otto Solms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Für eine mutige Reform des InternationalenWährungsfonds ({0})
- Drucksache 14/3861 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula
Lötzer, Dr. Barbara Höll, Rolf Kutzmutz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Reform der internationalen Finanzarchitektur
- Drucksache 14/4069 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die F.D.P.Fraktion hat die Kollegin Gudrun Kopp.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! Um es vorweg zu sagen: Der Internationale Währungsfonds und die Weltbank sind zwei
- so empfinden wir es - wirklich unverzichtbare Institutionen, die, wenn sie zukunftsfähig sein wollen, dringend
reformiert werden müssen. Sie haben das verfolgt: Die
Jahrestagung, die gerade zu Ende gegangen ist, wurde
wiederum von großen Protesten begleitet. Insbesondere
wurde bemängelt, dass den ärmeren und ärmsten Ländern dieser Welt zu wenig Beachtung geschenkt werde.
Ich finde es bemerkenswert, dass sich Herr Köhler - er hat
das sehr glaubwürdig dargestellt - insbesondere diesem
Problem widmen will.
({0})
Wir hoffen, dass es in diesem Bereich eine umfassende
Reform hin zu mehr Effizienz geben wird.
({1})
Im Zusammenhang mit der Jahrestagung ist anzumerken, dass uns auch jetzt noch kein schlüssiges Konzept
der Bundesregierung darüber vorliegt, wie sie sich denn
eine solche Modernisierung, ein Reformwerk von IWF
und Weltbank, vorstellt. Vielleicht hören wir das aber
gleich.
Wir, die F.D.P.-Bundestagsfraktion, haben Ihnen deshalb ein Acht-Punkte-Papier vorgelegt, in dem Sie acht
mutige Reformschritte zur Modernisierung, zur Reformierung und zur Effizienzsteigerung des IWF finden. Ich
spreche dazu nur kurz einige Schlüsselbegriffe an.
Wir brauchen funktionierende Finanzmärkte. Das ist
wichtig, und zwar zur Krisenprävention und zum
Krisenmanagement. Zur Krisenprävention sind alle Reformschritte zu begrüßen, die zu mehr Transparenz der
Kapitalmärkte und damit zu einer präziseren Bewertung
der Risiken durch die Kapitalgeber beitragen.
({2})
Hier sind zunächst die nationalen Regierungen und auch
der IWF gefordert. Das wird eine große Aufgabe sein. Der
IWF muss sich nach unseren Vorstellungen verstärkt als
Krisenmanager einbringen.
({3})
Das setzt natürlich voraus, dass sich der IWF als universelle Institution der Zahlungsbilanz-, Währungs- und
Geldpolitik darauf konzentriert. Aktuelle Kompetenzüberschreitungen von IWF und Weltbank - wir kennen
das zur Genüge - sind im Rahmen dieses Reformwerkes
dringend zu beseitigen.
({4})
Bundesbank und F.D.P. sind sich beispielsweise völlig
einig - wir lasen kürzlich auch in der Presse, dass die Bundesbank dazu Stellung genommen hat - in der Forderung
nach verstärktem Engagement des IWF insbesondere für
kurzfristige Zahlungsbilanzhilfen und Zinsstaffelungen.
In einem Punkt - der ist uns ganz besonders wichtig besteht kein Konsens. Man muss sich vor Augen führen,
dass die Bundesbank eine Reserveposition des IWF im
Umfang von circa 16 Milliarden DM hält. Dies sind öffentliche Mittel; daher halten wir von der F.D.P.-Fraktion
es einfach für natürlich, den Mitwirkungsanspruch des
Deutschen Bundestages zu reklamieren.
({5})
Wir fordern also mehr Offenheit und rechtzeitige Informationen, wenn grundlegende Veränderungen im IWF
anstehen.
({6})
Ich glaube und hoffe, dass hier ein Konsens herzustellen
ist.
Ich hoffe, dass im Rahmen dieser Debatte über unseren
Antrag eine fruchtbare Diskussion erfolgen wird und dass
dies im Sinne aller - der ärmeren Länder, der Schwellenländer und auch der reichen Länder - sein wird. Ich hoffe
auf eine sehr effiziente Reform des IWF zum Nutzen aller.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort für die SPDFraktion hat der Kollege Bernd Scheelen.
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Im Antrag der F.D.P.-Fraktion gibt es zumindest zwei richtige Sätze, auf die ich kurz
eingehen möchte. Über den Rest würde ich gerne den
Mantel des Schweigens decken, aber ich muss im Laufe
der Rede noch auf einen anderen Satz zurückkommen.
Der erste Satz, Frau Kollegin Kopp, in Ihrem Antrag, den
ich unterstreiche, lautet:
Die Berufung Horst Köhlers an die Spitze des
Internationalen Währungsfonds ({0}) ist ein großer
Erfolg für deutsche Bewerbungen um Spitzenposten
bei internationalen Organisationen.
({1})
Das ist völlig richtig. Das ist ein großer Erfolg, nicht nur
für eine deutsche Bewerbung, sondern auch ein großer
Erfolg für die Bundesregierung. Die Bundesregierung
hat nämlich durchgesetzt, dass erstmalig ein Deutscher an
der Spitze einer internationalen Organisation steht.
({2})
Vizepräsidentin Petra Bläss
- Wissen Sie, was Profis im Fußball auszeichnet, Herr
Hirche? Wenn die einen Ball verloren haben, setzen sie
nach und machen daraus ein Tor. Das sind Profis.
({3})
- Soll ich das dem Herrn Köhler gegenüber zitieren, Herr
Dautzenberg, dass Sie seine Ernennung als Eigentor bezeichnet haben? Ich glaube nicht, dass Sie das wollen.
Der zweite Satz aus dem F.D.P.-Antrag lautet:
Oberstes Ziel der Bundesregierung muss es sein, stabile und nachhaltig funktionierende Finanzmärkte
als Motor für Wachstum und Beschäftigung zu sichern.
Das ist richtig. Warum ist dieser Satz richtig? Weil Sie ihn
aus unserem Entschließungsantrag „Frieden braucht Entwicklung“ vom 17. Mai 2000 abgeschrieben haben. Das
ist fast ein wörtliches Zitat.
({4})
Der Satz ist auch deshalb richtig, weil er eben beschreibt,
dass die internationale Sicherung stabiler und nachhaltig
funktionierender Finanzmärkte zentrale Bedeutung hat,
damit diese tatsächlich als Motor für Wachstum und
Beschäftigung dienen können. Deswegen ist er richtig. Er
war auch schon richtig, als wir ihn in unseren Antrag hereingeschrieben haben. Aus dieser Erkenntnis definieren
sich auch die Ziele für den IWF.
Erstens. Der IWF muss seine Rolle als zentrale internationale Institution auf dem Gebiet der Wirtschafts- und
Währungspolitik bewahren.
({5})
Das heißt - da müssen Sie jetzt gut zuhören, weil Sie das
offensichtlich nicht wollen -, der IWF muss für alle seine
Mitgliedsländer bei allen makroökonomischen Problemen tätig werden können. In diesem Zusammenhang
überrascht Ihr Antrag doch, denn Sie fordern ja im Grunde
den Ausstieg aus der langfristigen, zinssubventionierten
Kreditfinanzierung. Ähnliches fordert ja auch die PDS,
indem sie sich für die Abschaffung der Strukturanpassungsprogramme einsetzt. Damit fordern Sie gemeinsam
- eine merkwürdige Koalition - den Rückzug des IWF
aus der Armutsbekämpfung. Das werden wir nicht mitmachen.
({6})
Es ist schon eine merkwürdige Allianz zwischen PDS,
F.D.P. und auch den Republikanern in Amerika, die dem
Meltzer-Vorschlag folgen, der darauf abzielt, dass die
freien Kräfte des Marktes auch für die Entwicklungsfinanzierung gelten sollen.
({7})
Es befremdet mich ganz besonders, dass die PDS diese
Auffassung vertritt. Bei der F.D.P. kann man das ja noch
nachvollziehen. Wir lehnen die Forderungen des MeltzerReports nach Ausstieg aus der Armutsbekämpfung
durch den IWF ab.
({8})
Nach unserer Auffassung muss der IWF auch in den
ärmsten Ländern mit seinen wirtschaftspolitischen Empfehlungen präsent sein. Mit dieser Meinung befinden wir
uns in völliger Übereinstimmung mit der amerikanischen
Regierung. Der IWF ist ja so eine Art Feuerversicherung
auf Gegenseitigkeit. Ihre Vorschläge laufen aber darauf
hinaus, dass letztlich die Feuerwehr, wenn irgendwo etwas brennt, nur noch in den Ländern zum Löschen kommt
und löschen darf, die vorher als die schönsten und besten
bestimmt wurden. So kann es nicht gehen.
Zweitens. Der Schwerpunkt der Aufgaben des IWF
soll in Zukunft bei der Krisenvorbeugung liegen. Da
sind wir ja, wie ich denke, einer Meinung. Das heißt, mehr
Prävention statt Intervention. Dazu braucht der IWF eine
deutlich verbesserte Daten- und Informationsbasis. Daran
muss gearbeitet werden und daran wird auch gearbeitet.
Er muss sich in seiner Analyse- und Beratungstätigkeit im
Hinblick auf Krisenprävention vermehrt auch dem Gesichtspunkt ökonomischer und finanzieller Anfälligkeit
widmen.
({9})
Das heißt, er muss sich auch diesen hochspekulativen
Fonds, den so genannten Hedge Funds und den Offshorezentren widmen. Dazu braucht er auch die Umsetzung international vereinbarter Transparenz- und Aufsichtsstandards in den Industrie- und Schwellenländern. Die
Bundesregierung hat entsprechende Initiativen im Rahmen der G 20 ergriffen. Das begrüßen wir sehr.
({10})
Drittens. Der IWF muss in der Lage sein, sowohl kurzals auch mittelfristige Kredite zur Überwindung vorübergehender Finanzierungsprobleme zur Verfügung zu
stellen. Das ist besonders für die Ostblockländer, die so
genannten Transformationsländer, und deren makroökonomische Stabilität wichtig. Dabei muss der IWF die
marktwirtschaftlichen Kräfte stärken und Anreize für die
Umsetzung Krisen vorbeugender Maßnahmen setzen. Die
Preisstruktur muss stimmen, denn sie muss zu einem effizienten Einsatz der IWF-Mittel beitragen. Das heißt, unangemessen lange Inanspruchnahmen von IWF-Mitteln
oder auch ein unangemessen schwieriger Zugang zu IWFMitteln muss verhindert werden.
Viertens. Bei der Bewältigung von Krisen soll die Hilfe
durch den IWF von dem Grundsatz der Einbeziehung des
Privatsektors ausgehen. Eine Politik großer öffentlicher
Krisenpakete, wie sie in der Vergangenheit betrieben
wurde, darf in Zukunft nicht mehr Richtschnur sein. Denn
es kann nicht sein, dass bei Finanzkrisen privates Geld,
das durch Spekulation verloren gegangen ist, letztlich
durch IWF-Mittel ersetzt wird. IWF-Mittel sind Steuermittel, also Gelder der Steuerzahler, und es kann nicht
sein, dass der Steuerzahler den Spekulanten Sicherheiten
gibt.
Fünftens. Ein stabiler wirtschaftlicher Rahmen ist eine
zentrale Voraussetzung für ein dauerhaftes Wachstum
auch in den ärmsten Mitgliedsländern. Deshalb muss der
IWF auch dort engagiert bleiben, und zwar als Berater und
als Finanzier. Dabei spielt das im Herbst letzten Jahres
aufgelegte Programm zur Armutsreduzierung und Wachstumsförderung eine wichtige Rolle. Wer wie F.D.P., PDS
und die amerikanischen Republikaner - ich habe es gerade schon erwähnt - daraus aussteigen will, ist national
und international dialogunfähig. Das hat die Jahrestagung
in Prag auch eindrucksvoll gezeigt.
Sechstens. Bei der Armutsbekämpfung muss das unterschiedliche Mandat von IWF und Weltbank respektiert werden und eine klare Aufgabenteilung sichergestellt sein.
({11})
Während der IWF für die Formulierung der makroökonomischen und der damit verbundenen strukturellen Reformpolitik zuständig ist, liegt die Zuständigkeit der Weltbank bei Fragen der Entwicklung, insbesondere bei der
Strategie zur Armutsbekämpfung. Dort, wo sich Ausgaben überschneiden, muss eine Zusammenarbeit klar geregelt sein.
({12})
Fortschritte in diese Richtung sind gemacht, so die beginnende stärkere Betonung der Krisenvorbeugung. Es gibt
neue Formen der Kreditausgestaltung, es gibt eine Intensivierung der Kontakte des IWF zu den Finanzmärkten
und es gibt die Einrichtung eines unabhängigen Evaluierungsbüros, das die Arbeit des IWF noch transparenter macht.
Meine Damen und Herren, Horst Köhler hat vorgestern
seine Vision über die zukünftige Rolle des IWF vorgestellt. Danach soll der IWF erstens eher Partner als Erzieher der Mitgliedsländer sein.
({13})
Er soll zweitens eine stärkere Fokussierung auf seine
monetäre Rolle vornehmen und unter Beibehaltung seiner
eigenen Rolle bei der Armutsbekämpfung eine klare Abgrenzung zur Weltbank vornehmen.
({14})
Drittens wird der IWF seine Krisenvorbeugungsfunktion in den Mittelpunkt stellen.
Viertens. Der IWF wird sich - auch schon wegen seiner begrenzten Finanzmittel - auf seine katalytische Rolle
bei Krisenlösungen zurückbesinnen.
Wir stellen als SPD-Fraktion mit Zufriedenheit fest,
dass die Bundesregierung und mit ihr die Mitgliedsländer
des IWF dafür eine breite Zustimmung gegeben haben.
Herzlichen Dank.
({15})
Nächster Redner für
die CDU/CSU-Fraktion ist der Kollege Leo Dautzenberg.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Mit dem Antrag der Fraktion
der F.D.P. „Für eine mutige Reform des Internationalen
Währungsfonds ({0})“ und dem Antrag der Fraktion der
PDS „Reform der internationalen Finanzarchitektur“
liegen uns zwei Anträge vor, die auch vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion auf der Jahrestagung von
IWF und Weltbank in Prag zu sehen sind.
Mit der Berufung von Horst Köhler zum Exekutivdirektor des IWF vor einigen Monaten wurde die Reform
des IWF bereits eingeleitet. Mit seiner hervorragenden
Rede zur offiziellen Eröffnung der Weltwährungskonferenz in dieser Woche in Prag dürfte auch dem Letzten klar
geworden sein, dass der IWF mit ihm einen ausgezeichneten Generaldirektor bekommen hat.
({1})
Vielen hier im Hause ist das laienhafte und unprofessionelle Schauspiel dieser Bundesregierung mit anderen Personen vor der Berufung von Horst Köhler vielleicht noch
in Erinnerung.
({2})
Die gesamten aktuellen Diskussionen zum IWF, zur
Weltbank und zur internationalen Finanzarchitektur haben einen Vorlauf, der auch in beiden vorliegenden Anträgen zum Ausdruck kommt, nämlich den so genannten
Meltzer-Bericht. Das ist der Bericht einer Sonderkommission unter Wirtschaftsprofessor Allan Meltzer, die
vom US-amerikanischen Kongress eingesetzt wurde.
Herr Scheelen, von Herrn Köhler sind wesentliche
Schwerpunkte aufgenommen worden, die nicht im Gegensatz dazu stehen. Sie haben auch betont, dass es auf
eine klare Aufgabenteilung beider Institute ankomme.
Nach diesen Empfehlungen solle sich der IWF aus der
langfristigen Entwicklungs- und Strukturanpassungsfinanzierung zurückziehen
({3})
und diese Bereiche im Interesse einer vernünftigen Arbeitsteilung ausschließlich der Weltbank und den regionalen Entwicklungsbanken überlassen.
({4})
Der IWF solle sich konzentrieren auf die Absicherung
globaler makroökonomischer Stabilität durch Beratung
und Bereitstellung kurzfristiger Liquiditätshilfen für in
Finanzkrisen geratene Länder.
IWF-Chef Köhler hatte kurz nach seinem Amtsantritt
erklärt, wesentliche Elemente der Meltzer-Vorschläge
übernehmen zu wollen, darunter insbesondere die Konzentration auf die Vermeidung von Finanzkrisen unter
Nutzung kurzfristiger Kredite und - das habe ich schon
betont - der Ausstieg aus der langfristigen Entwicklungsfinanzierung.
Auch der private Sektor muss stärker eingebunden
werden. Er darf sich nicht mehr darauf verlassen können,
dass bei risikoreichen Kreditgewährungen der IWF zu
guter Letzt einspringt und eine so genannte Bail-out-Rolle
übernimmt.
({5})
Dies ist auch die Auffassung der CDU/CSU-Fraktion.
Mein Kollege Hedrich hatte seinerzeit zu Recht die Entwicklungshilfeministerin Frau Wieczorek-Zeul dafür kritisiert, dass sie mit der Analyse der Reformbedürftigkeit
und -bereitschaft vor Monaten voll daneben lag. Mittlerweile wird der vorgeschlagene Weg auch von Frau
Wieczorek-Zeul - so das Kommuniqué des Entwicklungsausschusses von Prag - nicht mehr infrage gestellt.
In der Vergangenheit haben sich vor allem die Vereinigten Staaten von Amerika beim IWF aufgrund seiner
guten Finanzlage als Reservekasse für Entwicklungshilfeprojekte bedient. Daraus ist die Vermischung der Aufgaben beider Institute entstanden. Das heißt, auch aufgrund dieser Sachlage sind die Aufgabenstellungen von
IWF und Weltbank vermischt worden. Die BrettonWoods-Institutionen wurden 1944/1945 mit einer klaren
Aufgabenabgrenzung gegründet. Sie müssen zu ihren
Kernaufgaben zurückfinden und in ihrer gemeinsamen ergänzenden Aufgabenstellung die Bekämpfung der Armut
als Hauptziel haben.
({6})
In seiner Rede in Prag betonte Köhler zudem, dass
viele Industrieländer noch nicht erkannt hätten, dass auch
sie einen Beitrag zu globalen Strukturveränderungen leisten müssten. Dazu gehöre auch der bessere Zugang der
Entwicklungs- und Transformationsländer zu den industriellen Absatzmärkten. Hier liegt auch der Schlüssel für
den Kampf gegen die Armut. Positiv zu bewerten ist, dass
die USA 70 Ländern und die EU-Staaten 48 Ländern ihre
Märkte öffneten. Es muss aber noch mehr getan werden.
Zitat Köhler:
Wohlfahrtsgewinne von mehr als 100 Milliarden USDollar im Jahr stünden in Aussicht, wenn die Handelsbarrieren weltweit um 50 Prozent gesenkt würden.
({7})
Dies ist deutlich mehr als der Gesamtschuldenabbau, der im Rahmen der Schuldeninitiative für die
36 ärmsten, hoch verschuldeten Entwicklungsländer
während der beiden nächsten Jahre vorgesehen ist.
Alle würden gewinnen, wenn man die Kräfte bündele
und energisch Reformen angehe. Dann werde man es
vielleicht auch schaffen, bis zum Jahr 2015 die Hälfte
der Menschen, die jetzt noch in Armut lebten, aus ihrer schlimmen Not zu befreien.
({8})
Eine weitere Schwerpunktaufgabe ist die Überwachung und Einhaltung international vereinbarter Verhaltensregeln insbesondere im Geld- und Kreditsektor.
Im Antrag der PDS sind einige Punkte enthalten, die
sowohl mit unserer Auffassung als auch mit dem F.D.P.Antrag in Einklang stehen. Doch im Forderungs- und Begründungsteil sind Vorstellungen und Punkte enthalten wie Kapitalsteuer und -kontrolle, Verbot bestimmter Derivatgeschäfte, die altbekannte Tobinsteuer, Transaktionsteuer und damit ein gesellschaftspolitisch grundsätzlich anders ausgerichteter Ansatz -, die die Chance für
eine ernsthafte politische Auseinandersetzung gegen Null
tendieren lassen. Sie führen mit diesen Vorschlägen aus
der sozialistischen Steinzeit Ihren Antrag selbst ad absurdum.
({9})
Der F.D.P.-Antrag beinhaltet in fast allen Punkten auch
die Auffassung der CDU/CSU-Fraktion. Klärungsbedürftig ist jedoch die Ausgestaltung der formellen Beteiligung
des Parlaments in Ziffer 8 des Antrages. Der Anteilseigner Bundesbank stimmt im Benehmen mit der Bundesregierung in den IWF-Gremien ab. Die Unabhängigkeit der
Bundesbank darf in keiner Weise tangiert werden, auch
wenn ihr eigener Präsident Welteke sie durch politisch
wertende Aussagen in letzter Zeit selbst ins Gerede gebracht hat.
({10})
Wenn unter dem Petitum „Für mehr Transparenz und
Aufklärungsarbeit“ die parlamentarische Befassung gewünscht ist, dann wäre nach unserer Auffassung eine stärkere Beteiligung auf Initiative der Bundesbank als Anteilseignerin sinnvoll. Vergleichbare Initiativen haben wir
gemeinsam zu den Baseler Vereinbarungen ergriffen.
Meine Damen und Herren, in Prag wurden die Demonstrationen zur IWF- und Weltbanktagung leider von
gewaltbereiten Chaoten überschattet. Die Konferenz
wurde aus meiner Sicht exzellent und professionell vorbereitet und durchgeführt. Viele Demonstranten und einige Organisationen verlangten die Abschaffung von IWF
und Weltbank. Unserer Auffassung nach benötigen wir
dringender denn je sowohl den IWF als auch die Weltbank
in neuen Strukturen,
({11})
und zwar den IWF mit den Kernaufgaben Wachstumsförderung, makroökonomische Stabilität, stabile globale
Finanzmärkte mit dem entsprechenden Instrumentarium, wirtschaftspolitische Überwachung auch für die
Offshore-Gebiete und stärkere Einbindung des Privatsektors in die Verhinderung und Lösung von Währungs- und
Finanzkrisen, die Weltbank für langfristig angelegte
Strukturanpassung und Entwicklungshilfe in den einzelnen Ländern. Die Bundesregierung ist aufgefordert, diese
Reformanstrengungen aufzugreifen und engagiert zu unterstützen.
({12})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Christine Scheel für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Dautzenberg, Sie können sicher sein, dass
wir uns gemeinsam mit der Bundesregierung aktiv darum
bemühen werden, den Prozess, der sich gerade im letzten
Jahr sehr positiv entwickelt hat, in Ihrem Sinne zu gestalten.
Wir haben - auch das muss man sehen - in der internationalen Staatengemeinschaft funktionierende globale
Institutionen, die wir auch in der Zukunft brauchen werden. Wir erleben rasante Veränderungen in der Weltwirtschaft. Wir haben einen dramatischen Anstieg beim internationalen Handel und bei den grenzüberschreitenden
Dienstleistungen sowie eine starke Liberalisierung der Finanzmärkte zu verzeichnen. Man darf auch nicht vergessen, dass es eine wachsende Ungleichheit zwischen, aber
auch innerhalb von Staaten und Kontinenten gibt.
Es ist bedrückend, wenn man weiß und - vor allem in
den Berichten der beiden großen Kirchen - liest, dass
3 Milliarden Menschen von weniger als 2 US-Dollar am
Tag leben, dass davon 1,2 Milliarden in absoluter Armut
leben müssen und weniger als 1 Dollar pro Tag zum Überleben haben. IWF und Weltbank müssen sich daran messen lassen, ob sie mit ihren Programmen dazu beitragen,
diese Armut zu verringern.
({0})
Ich erwarte von der Weltbank, dass sie ihren Anteil zur
Bekämpfung der Armut und zur Überwindung der
Schuldenkrise leistet. Wir erwarten vom Währungsfonds, dass er zur Stabilisierung des internationalen
Finanzsystems beiträgt. Wir erwarten von beiden Institutionen, dass sie die Entschuldung der ärmsten Entwicklungsländer schneller realisieren, und zwar für mehr Länder, als zunächst vorgesehen;
({1})
denn jeder Dollar, der in den Schuldendienst fließt, ist angesichts der enormen Herausforderungen, vor denen diese
Länder stehen, ein Dollar zu viel.
Wir erwarten von den Finanzinstitutionen nicht, dass sie
alle Probleme der Entwicklungsländer lösen. Diese Länder stehen - das muss man ganz klar sagen - auch selbst
in der Verantwortung. Aber wir können und wir müssen
auch mehr tun. Ich denke zum Beispiel an einen besseren
Marktzugang, zumindest für die ärmsten Entwicklungsländer, in die EU. Die Mehreinnahmen könnten, wenn
man die Entwicklungsländer insgesamt betrachtet, jährlich bis zu 100 Milliarden US-Dollar betragen.Wir denken
auch an höhere Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit. Denn der weltweite Rückgang der öffentlichen Entwicklungsgelder ist politisch ein unverantwortbarer
Trend, der sich so nicht fortsetzen darf.
Doch zurück zu den internationalen Finanzinstitutionen! Wenn sie sich nicht wandeln, verlieren sie ihre Akzeptanz sowohl in den Industrie- als auch in den Entwicklungsländern. Der neue IWF-Chef, Herr Köhler, hat
das erkannt. Er hat in Prag von der Notwendigkeit gesprochen, den Fonds zu reformieren. Die nächsten Jahre
werden zeigen, ob in der Praxis eine Neuausrichtung der
Programme des Fonds erfolgt. Denn darauf kommt es
letztendlich an.
({2})
Die Kernfragen der Reform wurden in Prag sehr intensiv diskutiert. Der IWF muss besser in der Lage sein,
krisenpräventiv zu arbeiten. Er muss rechtzeitig, vor dem
Ausbrechen einer Finanzkrise, Alarm schlagen und nicht
erst dann, wenn es bereits zu spät ist, wie wir es in Südostasien und ebenso in Lateinamerika, zum Beispiel in
Brasilien, erlebt haben.
({3})
Damit müssen seine Fähigkeiten, die Finanzströme zu
überwachen und entsprechende Daten zeitnah zu veröffentlichen, gestärkt werden.
Wir müssen auch zu einer klaren Abgrenzung der
Aufgaben von IWF und Weltbank kommen. Diese Institutionen haben eine unterschiedliche institutionelle Kultur. Sie haben unterschiedliche Schwächen und Stärken.
Dies ist in Prag als Problem benannt worden. Eine Lösung
dieses Problems ist auf dem Weg. Genau daran muss man
arbeiten.
Der IWF darf sich auch nicht aus den ärmsten Ländern
zurückziehen. Dies scheint bei aller Kritik an den Strukturanpassungsprogrammen der Vergangenheit nicht das
Ziel dieser Länder zu sein. Die Armutsbekämpfung sollte
jedoch in erster Linie die Aufgabe der Weltbank sein. Der
IWF sollte auf eine entsprechende makroökonomische
Stabilisierung hinarbeiten. Die detaillierten Konditionen
für Kredite des IWF sind in der Vergangenheit häufig gescheitert. Als Konsequenz sollten die Bedingungen deswegen auf einige Kernbereiche beschränkt werden. Der
IWF muss zudem im Rahmen der Programme zur
Bekämpfung der Armut die sozialen und ökologischen
Auswirkungen von vornherein berücksichtigen.
Ich möchte auch noch den Privatsektor ansprechen.
Der Privatsektor muss im Fall von Finanzkrisen stärker
beteiligt werden. Mit Recht ist der Währungsfonds in der
Vergangenheit wegen seiner immer größeren Rettungsaktionen kritisiert worden. Dabei wurden eher die Privatbanken und die Investoren, nicht aber die betroffenen
Menschen in diesen Ländern gerettet. Wir haben uns von
grüner Seite immer dafür ausgesprochen, die privaten Akteure stärker in die Krisenbewältigung einzubeziehen.
Denn wer hohe Renditen erzielen will, soll auch entsprechende Risiken tragen.
({4})
Unser Ziel ist es, die Kapitalflüsse in Schwellen- und
Entwicklungsländern auf eine solidere Basis zu stellen.
Dies ist auch im Interesse dieser Länder. Die Asienkrise
hat ja gezeigt, dass gerade kurzfristig angelegtes Kapital
schnell abgezogen wird - mit zum Teil katastrophalen
Konsequenzen für die Entwicklung der betroffenen Länder. Deswegen muss die Einbeziehung des Privatsektors
in die Kosten der Krise zur Regel werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, solange wir in diesen
Fragen international keine wirklichen Fortschritte machen, werden die Proteste gegen IWF und Weltbank weitergehen. Die Staaten haben es selbst in der Hand, auf entschiedene Reformen der Bretton-Woods-Institutionen zu
drängen. Wir leisten von deutscher Seite - ich denke, man
kann auch sagen: von europäischer Seite - unseren Beitrag. Im März des nächsten Jahres werden drei Ausschüsse eine Anhörung veranstalten, zu der wir den Weltbankchef, Herrn Köhler und viele andere einladen
werden. Ich denke, dies wird ein guter deutscher Beitrag
sein, um diese Entwicklung, die auf einem guten Weg ist,
positiv zu begleiten.
Danke schön.
({5})
Es spricht jetzt die
Kollegin Ursula Lötzer für die PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen
und Kollegen! Nach 50 Jahren IWF und Weltbank hat das
obere Fünftel der Weltbevölkerung 74-mal mehr Vermögen als das untere. In der Geburtsstunde dieser beiden
Zwillinge betrug das Verhältnis 10:1. Jens Ziegler, Sonderberichterstatter der UNO, fordert zu Recht eine radikale Änderung der Politik des IWF. Das Hungerproblem,
so Ziegler, sei ausschließlich ein Verteilungsproblem. Im
Unterschied zu früheren Zeiten sei Hunger heute ein von
Menschen gemachter Völkermord, ein globalisierter
Raubtierkapitalismus der Weißen.
Die geforderte Wende blieb in Prag aus. Mit der Verkündung von Appellen zu mehr Solidarität, mit Aufforderungen an die Industrieländer, ihre Zusagen gegenüber
den Entwicklungsländern und zur Öffnung der Märkte
einzuhalten, ist es nicht getan.
({0})
Weder vom IWF noch von den Industrieländern werden
die notwendigen Schritte unternommen. Oder wird die
Bundesregierung aufgrund des Appells von Herrn Köhler
die Mittel im Bundeshaushalt jetzt vielleicht im entsprechenden Umfang erhöhen?
Herr Köhler kündigt in seiner Rede an, dass die Zinsen
für die Kredite mit langer Laufzeit steigen sollen - eine
merkwürdige Vorstellung von Entschuldung der Ärmsten,
sie für Kredite mehr zahlen zu lassen, sodass sie noch tiefer in die Schuldenfalle geraten.
({1})
Deshalb treten wir in unserem Antrag für die Abschaffung
der Strukturanpassungsprogramme sowie für dringend
benötigte Schritte zur Entschuldung ein. Wir fordern das,
weil der IWF mit den Strukturanpassungsprogrammen die
Entwicklungsländer noch weiter in die Armut getrieben
hat, statt einen Beitrag zur Bekämpfung der Armut zu leisten.
({2})
Auch in Bezug auf die Krisenbekämpfung läuft Prag
ins Leere. Von den Aktivitäten im Gefolge der Asienkrise
ist nur noch wenig übrig geblieben. Die Finanzakteure
sind nach kurzen Einbrüchen ihrer Gewinne weitergezogen und haben ihren Jahresüberschuss jetzt wieder gesteigert. Die Aktivitäten der Regierungen erlahmen inzwischen fast im Gleichklang mit dieser Entwicklung.
Es gibt keine verbindliche Regelung für die Beteiligung der privaten Kreditgeber. Man trifft sich mit ihnen
und will von Fall zu Fall entscheiden, so Köhler in Prag.
Darüber hinaus kündigt er lediglich an, dass der IWF nicht
mehr im starken Umfang selbst in Krisen intervenieren
wird. Ohne eine Regelung für die Einbindung privater
Kreditgeber kann das aber den Dominoeffekt von Krisen
noch intensivieren.
Noch nicht einmal zur Tobinsteuer können Sie sich
aufraffen, obwohl diese längst nicht mehr ausreichen
würde.
({3})
Wollen Sie wirklich erst darauf warten, bis sich diese Versäumnisse in der nächsten Krise rächen, wie es viele jetzt
kommentieren?
Sosehr die Bundesregierung auch beim Haushalt spart,
so gering sind ihre Aktivitäten zur Eindämmung der Steuerflucht und zur Verhinderung der Erpressungsmöglichkeit durch die international agierenden Finanzinstitute
und Konzerne, zum Beispiel durch die Abschaffung der
Offshore-Zentren oder zumindest durch Sanktionen gegenüber denjenigen, die mit ihnen Geschäfte tätigen.
Auch die Demokratisierung bleibt aus. Herr Köhler
feiert in Prag den IWF als kooperativ. Doch Kooperation
setzt Gleichberechtigung voraus und von der kann man im
IWF wahrlich nicht reden.
({4})
Das setzt eine Neuverteilung der Stimmrechte voraus.
Herr Wolfensohn sieht in Prag ohne Politikwende den
Weltfrieden bedroht. Doch Konsequenzen fehlen von ihm
wie von Ihnen, der Bundesregierung.
Vielen Dank.
({5})
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist Kollegin Adelheid Tröscher für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin froh, dass ich hier als Entwicklungspolitikerin reden
kann. Ich sehe nur ein paar auf unserer Seite, sonst aber
keine. - Hier kommt noch einer. Da haben Sie aber Glück
gehabt, Herr Weiß, dass Sie noch gekommen sind, sonst
wären die Schwarzen hier ganz schwarz geworden.
Die Anträge der Oppositionsparteien greifen meines
Erachtens viel zu kurz. Unsere liberalen Kolleginnen und
Kollegen, die sich lediglich als Apologeten des MeltzerReports verstehen, lassen auch bei den Forderungen nach
mehr Transparenz und Offenlegung der Vorhaben und
Projekte von IWF und Weltbank die nötige Aktualität vermissen.
({0})
Selbst die US-Regierung steht nicht hinter dem MeltzerReport.
({1})
Ich hoffe, dass die nächste US-Regierung diese Haltung
beibehält. Deshalb muss ich natürlich auch hoffen, dass
eine gewisse Partei nicht gewinnen wird.
({2})
Die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Frau Heidemarie WieczorekZeul,
({3})
hat am vergangenen Donnerstag eine Halbzeitbilanz der
sehr effizienten rot-grünen Entwicklungspolitik vorgelegt.
({4})
In dieser ist klipp und klar nachzulesen, wie die Bundesregierung die Reformen von IWF, Weltbank und weiteren
Bretton-Woods-Institutionen einschätzt und unterstützt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dautzenberg?
Nein, danke. Herr
Dautzenberg hat lange genug geredet.
({0})
- Das, was Sie hier sagen, ist lächerlich.
IWF und Weltbank befinden sich in einem rasanten Reform- und Veränderungsprozess. Wer hätte denn vor zehn
Jahren gedacht, dass es zu einer Entschuldungsinitiative
kommen und es entsprechende Armutsbekämpfungsstrategien geben würde
({1})
dass die jeweiligen Zivilgesellschaften gerade auch in den
so genannten HIPC-Ländern - falls Sie wissen, was das
ist - an der Gestaltung dieser Strategieprozesse teilnehmen und beteiligt werden würden? Vor zehn Jahren hätte
das niemand von uns gedacht. Deswegen finde ich, dass
hier ein guter Weg beschritten worden ist. Die Entscheidungen auf dem G-7-Gipfel in Köln und in der Folge in
Okinawa belegen, dass wir uns in der Unterstützung der
Reformen in IWF und Weltbank auf einem richtigen Kurs
befinden.
({2})
Ist die Erkenntnis der Notwendigkeit einer mittelfristigen Entschuldungsinitiative des IWF erst einmal gewonnen, kann man sich anhand konkreter Situationen ein Bild
machen, etwa in Kolumbien. Hier spreche ich als Entwicklungspolitikerin. Dort klafft die Schere zwischen lukrativem, aber illegalem Kokaanbau und mühevollem,
wenig Gewinn versprechendem, konventionellem Agraranbau immer weiter auseinander. Zudem muss der kolumbianische Bauer den Anbau von Nutzpflanzen auf völlig verseuchtem Boden bewerkstelligen, der durch die
Besprühung mit Pestiziden, Herbiziden und Fungiziden
auf Jahre hinaus vergiftet ist. Diese Ausgangssituation,
die sich in den meisten der circa 130 armen Länder der
Erde auf erschreckende Weise widerspiegelt, wird allzu
gern von Finanztechnokraten vergessen.
Entschuldung kommt den Menschen zugute. Es ist
nicht alles planbar: Öl-, Flut- und Erdbebenkatastrophen
werfen die Länder in ihren Entschuldungsplänen um
Jahre zurück. Wer fragt denn nach den ersten schnellen
Hilfen nach den weiteren Folgen dieser Katastrophen?
Auf Jahre hinaus sind solche Länder nicht in der Lage,
ihre Schulden zu bezahlen.
Wer wie die F.D.P. aufgrund der Bundesbankeinlage
von circa 8 Milliarden Euro Möglichkeiten eines parlamentarischen Eingriffs in die Entscheidungsfindungsprozesse des IWF fordert, der muss die eigene Verantwortung
schon viel früher erkennen und wahrnehmen, der muss die
umwelttechnische Verwüstung, die katastrophalen Infrastrukturen der ärmsten Länder der Welt verhindern, bevor
er sich ziert, die Entschuldungsstrategien zu vereinfachen
und Kredite zu gewähren, die sinnvoll in bestehende Programme zur Armutsbekämpfung integriert werden können.
Überhaupt scheint mir unsere heutige Diskussion über
die IWF-Reform zu kurz gefasst, wenn wir in einem
Atemzug mit der Entschuldungskampagne nicht immer
wieder die Auswirkungen namenloser Armut wie Kinderarbeit, Kinderprostitution und Kindersoldaten in Guerillakriegen überall auf der Welt beim Namen nennen.
({3})
Diese Kinder sollen dann die gut ausgebildeten IT-Fachleute werden, die ihr Land aus der Misere holen können?
Lassen Sie uns doch gemeinsam die Voraussetzungen
dafür schaffen, dass diese Kinder nicht mehr als Prostituierte, Soldaten oder in 16-Stunden-Schichten im Straßenbau arbeiten müssen. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass die jetzt Verantwortlichen in diesen Ländern
den Wert einer schulischen Ausbildung unbestreitbar als
eine mittel- und langfristig Gewinn bringende Investition
erkennen und diese Ausbildung auf den Weg bringen.
Horst Köhler selbst hat diese Problematik in den Mittelpunkt seiner Reformüberlegungen gestellt. Vorgestern
sagte er in Prag: „Das Bedrückendste unter den ungelösten Problemen ist die Armut, die zur größten Bedrohung
für die politische Stabilität der Welt wird.“ Die Reformbereitschaft gerade der multinationalen Institutionen wie
IWF und Weltbank und die durch deutsche Initiative angestoßenen Kooperationsabkommen sprechen doch
schon jetzt für sich. IWF-Chef Köhler hat in Prag weiterhin betont, dass der IWF die Prävention im Zusammenhang von Finanzkrisen sowie die Armutsbekämpfung an
oberste Stelle auf seine Agenda gesetzt hat. Unter Camdessus kam das kaum vor.
Wenn die einzelnen Staats- und Regierungschefs auf
dem Millenniumsgipfel in New York die Verpflichtung
ausgesprochen haben, bis zum Jahr 2015 den Anteil der
armen Weltbevölkerung zu halbieren, so ergibt sich daraus, dass dieses hehre Ziel nur - ich betone: nur - mit
starken Mandaten von IWF und Weltbank als multilateralen Institutionen umzusetzen ist.
({4})
Es gilt jedoch inzwischen eine neue Sichtweise, die
den Akzent mehr auf Partnerschaft - auch das wurde
schon gesagt - als auf erzieherische Funktionen setzt. Die
Chance zur verbesserten Kooperation mit den wirklich
Mächtigen der Finanzmärkte kann nur so gelingen. Erst
dann kann man effizienter gegen die inneren Feinde der
Entschuldung, wie Korruption, Geldwäsche, Steuerparadiese im Nachbarland, Drogenproblematik und ausufernde Megastädte, vorgehen.
Wie Sie ebenfalls aus Pressemitteilungen der letzten
Tage ersehen können, setzt sich die Bundesministerin
ganz aktuell für die Entlastung bzw. mindestens den Preisschwankungsausgleich in den ärmsten Ländern der erweiterten Entschuldungsinitiative ein.
({5})
Frau Kollegin, denken
Sie bitte an Ihre Redezeit.
Ich bin gleich fertig. So
werden die Rohstoffpreisschwankungen, verbunden mit
geringeren Einnahmen aus zum Beispiel Kakao- und Kaffeeexporten, wenigstens nicht zu einer zerstörerischen
Bedrohung für die ärmsten Länder. Dazu wird insbesondere der IWF Mittel bereitstellen.
Sie sehen und hören also, dass sozialdemokratische
entwicklungspolitische Ansätze die Neuorientierung der
inneren Strukturen von IWF und Weltbank im besten
Sinne beeinflussen. Die Diskrepanz zwischen Wort und
Tat muss jedoch überwunden werden. Die USA müssen
hier ihrer Verpflichtung nachkommen. Wir brauchen bald
vorzeigbare Ergebnisse. Die Entschuldungsinitiative ist
flexibel genug gestaltet, um den einzelnen Ländern gerecht zu werden. Armutsbekämpfung bedeutet Wirtschaftswachstum. Dazu gehören unsere umweltpolitischen, bildungspolitischen und sozialpolitischen Ziele.
Ich danke Ihnen.
({0})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf Drucksachen 14/3861 und 14/4069 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Federführung zu der Vorlage auf Drucksache 14/4069
soll abweichend von der Tagesordnung ebenfalls beim Finanzausschuss liegen. Sind Sie damit einverstanden? Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Zusammenarbeit von Arbeitsämtern
und Trägern der Sozialhilfe
- Drucksache 14/3765 ({0})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({1})
- Drucksache 14/4163 Berichterstattung:
Abgeordnete Brigitte Lange
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
Kollegin Brigitte Lange für die SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute beschließen wir
- hoffentlich gemeinsam - ein Gesetz, auf das die Arbeitsund Sozialämter in den Kommunen warten, damit sie endlich ihre Modellvorhaben starten können, für die sie sich
in großer Zahl angemeldet haben.
({0})
Beschäftigungsförderung als kommunale Aufgabe beginnt langsam ihren Schrecken zu verlieren, obwohl die
Kommunen noch immer die Folgelasten der Beschäftigungsmisere tragen, die sich über Jahre aufgebaut hat.
Ihre Abwehrhaltung besonders in den letzten Jahren, charakterisiert mit dem Begriff „Kommunalisierung der Arbeitslosigkeit“, war verständlich; denn die Beschäftigungspolitik der vorherigen Bundesregierung versprach
keine Besserung. Sie vermied dringend notwendige
Reformen, besonders bei der Steuerpolitik und bei den sozialen Sicherungssystemen.
({1})
Die Kaufkraft sank, die Sozialversicherungsbeiträge stiegen und die Zahl der Arbeitslosen nahm zu, insbesondere
die der Langzeitarbeitslosen, die den Kommunen dann
auf die Tasche fallen.
Von 1992 bis 1998 hatte sich die Zahl derjenigen, die
ein Jahr und länger arbeitslos waren, verdoppelt. Es ist
uns gelungen, den Trend zu brechen. 1999 ging die Zahl
der Arbeitslosen um 100 000 zurück. Das ist nicht nur
- das ist klar - ein Ergebnis unserer Beschäftigungspolitik. Aber die Bundesregierung hat mit den Reformen die
Rahmenbedingungen gesetzt und die sind gut und beginnen zu greifen.
({2})
Dazu gehört unsere aktive Arbeitsmarktpolitik. Im
Jahre 2000 werden durchschnittlich rund 1,5 Millionen
Personen an Maßnahmen der Arbeitsförderung teilgenommen haben. Ich meinte, gestern im Ausschuss bei einigen Beiträgen aufseiten der Opposition Überraschung
angesichts unserer erfolgreichen Bemühungen herausgehört zu haben. Dabei haben wir unsere Programme eigentlich nicht verheimlicht.
Zu Ihrer Erinnerung seien noch einmal einige wichtige
Programme stichwortartig genannt: JUMP für junge
Leute, das SGB-III-Vorschaltgesetz insbesondere für Ältere und Langzeitarbeitslose und jetzt - das ist neu - die
Modellvorhaben, um Beschäftigungschancen von Geringqualifizierten und Langzeitarbeitslosen auszuloten
und zu erproben.
Heute beschließen wir einen weiteren Baustein der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Er soll dazu beitragen, Langzeitarbeitslose, die Sozial- oder Arbeitslosenhilfe oder
auch beide Leistungen ergänzend beziehen, schneller, effizienter und möglichst dauerhaft in den regulären Arbeitsmarkt einzugliedern. Dazu sollen die vielfältigen positiven Erfahrungen aus der bisher mehr freiwilligen
Zusammenarbeit von Sozialämtern und Arbeitsämtern genutzt werden.
Die neue Regelung, die Zusammenarbeit, die bereits
bisher im BSHG und im SGB III als Auftrag formuliert
war, nun verbindlich zu machen, kommt aus der Praxis,
wird von den Ländern positiv gewertet und findet die Zustimmung der kommunalen Spitzenverbände. Das Gleiche gilt für die im Gesetz verankerten Modellvorhaben.
Mit diesen, vom Bund finanziell geförderten Modellen
sollen neue Wege der Integration in den regulären Arbeitsmarkt erprobt werden, die schnell, wirksam und unbürokratisch für die Betroffenen gestaltet werden.
In einem Kooperationsvertrag vereinbaren Arbeitsund Sozialämter aus den regionalen Möglichkeiten heraus, wer die schwerpunktmäßige Betreuung übernimmt.
Dazu gehören zum Beispiel Beratung, Vermittlung, Erarbeitung von Eingliederungsplänen, Vorbereitung und Organisation von Eingliederungsmaßnahmen, Auszahlung
von Leistungen, also Arbeitslosenhilfe und Hilfe zum Lebensunterhalt. Dieser gebündelte Service für Arbeitslose,
Sozialhilfe- und Arbeitslosenhilfebezieher zusammen
kann entweder vom Sozialamt oder vom Arbeitsamt oder
auch an einer Stelle gemeinsam oder von einer gemeinsam beauftragten Stelle wahrgenommen werden.
In den Modellvorhaben sollen nicht nur die tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten der Zusammenarbeit
ausgeschöpft werden, sondern die in das Gesetz aufgenommene Experimentierklausel ermöglicht darüber hinaus - Herr Weiß, das sage ich noch einmal, weil Sie gestern gemeint haben, das sei nur ein bisschen
Organisation -, dass man gemeinsam Zugriff auf die Instrumentenkästen aus beiden Gesetzen hat, um auf die jeweilige Person und Situation bezogen maßgeschneiderte
Eingliederungsschritte zu kombinieren.
Auch auf das Modell begrenzte datenschutzrechtliche
Änderungen und die geregelte Möglichkeit, von Verfahrensvorschriften abzuweichen, erleichtern das Vorhaben.
Unabdingbar ist für uns, dass den Arbeitslosen durch
die Einbeziehung in das Modell keine rechtlichen und finanziellen Nachteile entstehen. Mit unserem Änderungsantrag haben wir diese Feststellung aus der Begründung
heraus- und direkt in das Gesetz aufgenommen. Die
CDU/CSU-Anträge würden diesen Grundsatz aufheben
und deshalb lehnen wir sie ab. An dieser Stelle sage ich
noch einmal: Was wir gestern aufgenommen haben, die
Anlaufstelle, gehört natürlich in beide Gesetze; das war
ein Fehler von mir.
Modellvorhaben, liebe Kolleginnen und Kollegen, machen nur Sinn, wenn sie wissenschaftlich begleitet und
ausgewertet werden. Das ist vorgesehen. Mit unserem
Änderungsantrag beziehen wir aber auch Modelle ein, die
nicht mehr finanziell gefördert werden können. Deswegen erhoffen wir uns eine breitere Bewertungsgrundlage.
Aus der bundesweiten Bewertung werden wir Aufschluss darüber bekommen, ob und welche gesetzgeberischen Konsequenzen zu ziehen sind. Erst dann - das sage
ich hier zur rechten Seite hin - können wir gesichert feststellen, wie man mit beiden Systemen umgehen kann, ob
und welche Änderungen überhaupt nötig sind.
Ich denke, dass es an dieser Stelle angebracht ist, den
Kommunen für ihre Kooperationsbereitschaft zu danken.
Wir brauchen sie, sonst geht es gar nicht.
({3})
Den Arbeits- und Sozialämtern wünsche ich viel Erfolg
und den auf diese Weise geförderten Arbeitslosen den erhofften Arbeitsplatz.
({4})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Peter Weiß.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe
Frau Kollegin Lange, ich verstehe ja, dass Reden von
Vertretern der Regierungsfraktionen mit der Belobigung
eigenen Tuns beginnen müssen.
({0})
Aber wenn ich an das mittlerweile sehr differenzierte und
sehr wirkungsvolle Instrumentarium der Hilfen zur Arbeit
in unserem Bundessozialhilfegesetz denke, stelle ich fest,
dass bis zum heutigen Tag dieses Instrumentarium dasjenige ist, das zu Zeiten unserer Regierungsverantwortung
beschlossen worden ist.
({1})
Nur ist und bleibt es bis zum heutigen Tag dabei, dass
für Langzeitarbeitslose - das sind Menschen, die in der
Sozialhilfe und/oder in der Arbeitslosenhilfe sind - unterschiedliche Systeme unseres Sozialstaates zuständig sind.
Dazu gehören unterschiedliche Verwaltungsstrukturen,
unterschiedliche Kostenträgerschaften und unterschiedliche Hilfesysteme, was die Leistungen und was die Maßnahmen anbelangt.
Nun haben die Koalitionsfraktionen einen Gesetzentwurf vorgelegt, der den anspruchsvollen Titel „Verbesserung der Zusammenarbeit von Arbeitsämtern und Trägern
der Sozialhilfe“ trägt.
({2})
Die entscheidende Frage ist nicht, ob sich organisatorisch
etwas ändern kann, sondern, ob sich für den Hilfeempfänger etwas ändert. Diese Frage muss man mit Nein beantworten.
({3})
Verehrte Frau Kollegin Lange, Sie haben die Instrumentarien angesprochen. Die Instrumentarien konnten für
die beiden Arten von Hilfeempfängern schon bisher gemeinsam angewendet werden, wenn sich zum Beispiel
Arbeits- und Sozialamt darauf verständigt haben, sich
durch eine beiderseits verantwortete Arbeitsförderungsgesellschaft um beide Personenkreise speziell zu kümmern.
Die Modellversuche sehen nunmehr vor, dass es in einem Landkreis das Modell Arbeitsamt geben kann, wonach das Arbeitsamt auch für die arbeitsfähigen Sozialhilfeempfänger zuständig ist. Im nächsten Landkreis kann
es das Modell Sozialamt geben, wodurch das Sozialamt
auch für die arbeitslosen Hilfebezieher zuständig ist. Als
dritte Variante gibt es die Möglichkeit, dass eine beauftragte Stelle sowohl für Bezieher von Arbeitslosenhilfe als
auch für Sozialhilfeempfänger zuständig ist. An der Ausgestaltung der Hilfeangebote ändert sich aber nichts.
Die Kernfrage, die sich uns politisch stellt, ist: Gibt es
für langzeitarbeitslose Menschen durch ein neues Gesetz
mehr Beschäftigungsmöglichkeiten und mehr Chancen
für eine Rückkehr in die Arbeit?
Herr Kollege Weiß,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schuster?
Ja, bitte
schön.
Bitte sehr, Herr Kollege.
Herr Kollege Weiß,
ich habe zwei kurze Fragen. Erstens: Sind Sie noch als
Kommunalpolitiker tätig? Zweitens: Kennen Sie aus
Ihrem praktischen Erfahrungsschatz den Unterschied für
die Betroffenen zwischen freiwilliger Kooperation und
gesetzlich vorgegebener Kooperation?
Zu Ihrer
ersten Frage. Verehrter Herr Kollege Schuster, ich war
mehrere Jahre Fraktionsvorsitzender - ({0})
- Ich beantworte seine Frage; ich muss sie beantworten
und nicht Sie. - Ich war mehrere Jahre Fraktionsvorsitzender der CDU im Gemeinderat der Stadt Freiburg
({1})
und bin mit meiner Wahl in den Deutschen Bundestag aus
dem Kommunalparlament ausgeschieden.
({2})
Zweitens. Den von Ihnen angesprochenen Unterschied
kenne ich sehr wohl. Ich werde im weiteren Verlauf meiner Ausführungen darauf zu sprechen kommen, was Sie
als Koalition mit dem Gesetzgebungsvorhaben bewirken
wollen und was wir als CDU/CSU-Fraktion gerne noch
zusätzlich in diesem Gesetz geregelt hätten. Dann wird
vielleicht deutlich, was ich meine.
Ich befürchte, dass das Gesetz letztlich nur die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Arbeitsamt und im Sozialamt stärker belasten wird, die sich jeweils in die andere
Gesetzesmaterie werden einarbeiten müssen. Das Gesetz
wird aber letztlich nicht zu mehr Beschäftigung für die
Menschen führen, die als Langzeitarbeitslose dringend
darauf warten, dass ihnen ein Weg zurück in die Arbeit gewiesen und ihnen geholfen wird.
Wir haben bereits seit der Vereinbarung zwischen den
kommunalen Spitzenverbänden und den Arbeitsverwaltungen vom Mai 1998 eine ganze Reihe von erfolgreichen
und praktischen Formen der Zusammenarbeit zwischen
Arbeitsverwaltung und Sozialämtern. Diese intensive Zusammenarbeit hat in vielen Städten und Landkreisen hervorragende Ergebnisse gebracht. Wenn jetzt der Gesetzgeber neue Formen der Zusammenarbeit zwischen
Arbeitsämtern und Sozialämtern ermöglichen will, sollte
er nach unserer Auffassung auch den Mut aufbringen,
weiter zu gehen, als dies der sich rein auf das Organisatorische beschränkende Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen tut. Das Modellvorhaben soll die Chance eröffnen,
tatsächlich etwas an zusätzlichen Erkenntnissen darüber
zu gewinnen, wie wir Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe
besser miteinander verknüpfen und unsere Hilfesysteme
für Langzeitarbeitslose verbessern können.
Die Koalitionsfraktionen begründen ihren Entwurf damit, dass Reibungsverluste, finanzielle Verschiebebahnhöfe und überflüssige Bürokratie vermieden und die Stärken beider Träger gebündelt werden sollten. Dann aber
müssen Sie auch erlauben, dass die Stärken beider Träger
zur Geltung kommen können.
Deswegen haben wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Ausschuss Folgendes beantragt: Erstens. Nicht
nur in den Städten und Kreisen der Modellvorhaben, sondern überall in Deutschland sollen Arbeitsämter und Sozialämter ihre Zusammenarbeit bei der Hilfe für Langzeitarbeitslose dadurch intensivieren, dass sie sowohl für
Arbeitslosenhilfebezieher als auch für Sozialhilfeempfänger gemeinsame Anlaufstellen errichten. Das hat die Koalition übernommen.
Zweitens. Wenn das Sozialamt in einem Modellgebiet
auch die Betreuung der Arbeitslosenhilfebezieher übernimmt, dann sollte es für die Vermittlung beider Personengruppen die gleichen Instrumentarien anwenden können. So soll das Gesetz dem Sozialamt auch die Chance
geben, zu zeigen, ob es mit seinen Möglichkeiten und Instrumentarien sowohl Sozialhilfeempfänger als auch Arbeitslosenhilfebezieher besser und schneller wieder in
neue Arbeit vermitteln kann. Leider haben Sie das abgelehnt.
Drittens. Oftmals ist für eine Vermittlung in eine Tätigkeit entscheidend, ob die Anreizsysteme, auch die finanziellen Anreizsysteme, für Arbeitslose genügend ausgeprägt sind. Im Bereich der Sozialhilfe haben wir das
mittlerweile bis hin zu den Modellversuchen mit einem so
genannten Einstiegsgeld. Wir wollten wenigstens teilweise auch für Arbeitslosenhilfebezieher solche Anreizsysteme schaffen. Auch das haben Sie abgelehnt.
Frau Lange, es geht eben nicht um das Beschneiden
von Rechten, sondern für uns gehört beides zusammen:
Wir wollen die bisherigen Beschränkungen des Sozialamtes etwas einreißen und auf der anderen Seite die Anreizsysteme nach oben führen. Deswegen muss ich mich
entschieden dagegen verwahren, dass wir einen Gesetzentwurf vorgelegt hätten, mit dem etwa die Möglichkeiten und Rechte von Langzeitarbeitslosen abgebaut würden.
Erst mit den Änderungsanträgen unserer Fraktion
macht dieses Gesetz überhaupt Sinn; denn dann können in
den neuen Modellversuchen auch neue Erkenntnisse gewonnen werden. Sie haben dazu erklärt - Sie haben das
auch hier gesagt, Frau Lange -, diese Modellversuche
sollten Grundlagen für eine flächendeckende Regelung
liefern, auf dieses Endziel gingen wir zu. Aber wozu machen wir Modellversuche, meine Damen und Herren,
wenn man nachher in der Auswertung nichts herausfindet, weil man gar nichts ausprobieren konnte, außer dass
bestimmte Verwaltungen organisatorisch zusammengelegt worden sind?
({3})
Modelle müssen Erkenntnisse liefern können und wir
wollen den besten Weg finden, wie arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger und Bezieher von Arbeitslosenhilfe wieder in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis vermittelt
werden können. Wir wollen Modellversuche, in denen
doppelte Arbeit, doppelte Bürokratie und doppelte Zuständigkeiten abgebaut und vermieden werden. Wir wollen mehr Hilfe, mehr Beratung, mehr Effizienz, mehr erfolgreiche Vermittlung von Langzeitarbeitslosen in den
ersten Arbeitsmarkt.
({4})
Wir wollen Modelle, aus denen man wirklich etwas für
die Zukunft lernen kann. Der große Unterschied, der an
diesem zugegebenermaßen kleinen Gesetzeswerk deutlich wird, ist der: Sie von der Sozialdemokratie und von
den Grünen wollen Sozialpolitik immer nur verwalten.
({5})
- So ist es doch! Wir wollen Sozialpolitik gestalten. Das
ist der Unterschied.
({6})
Um Sozialpolitik auch mit zukunftsfähigen Modellen zu
gestalten, bedarf es mehr Mut und mehr Grips, als die Koalition hier aufbringen will.
Vielen Dank.
({7})
Nun hat die Kollegin
Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Alle wissenschaftlichen Institute bestätigen uns die günstigen
Globalprognosen für den Arbeitsmarkt. Aber das verringert nur scheinbar den Handlungsdruck für eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Wir werden auch in Zukunft mit den
Problemen der Langzeitarbeitslosigkeit konfrontiert sein.
So bedauerlich es auch ist: Insbesondere in den neuen
Bundesländern werden wir uns damit auseinander setzen
müssen.
Herr Kollege Weiß, Sie rühmen sich hier mit der Politik Ihrer Regierung in den vergangenen 16 Jahren.
({0})
Sie rühmen sich mit dem, was Sie alles gemacht haben,
und Sie ignorieren dabei - das muss man jetzt der
Fairness halber unterstreichen -, dass gerade in Ihrer
Peter Weiß ({1})
Regierungszeit die Arbeitslosigkeit nicht nur gestiegen,
sondern geradezu explodiert ist.
({2})
Die zukünftige Arbeitsmarktpolitik wird zum Ziel haben müssen, Langzeitarbeitslosigkeit zu verhindern. Sie
wird uns auch Wege aufzeigen müssen, wie wir Langzeitarbeitslose in den Arbeitsmarkt integrieren können.
({3})
Für die Integration der Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt
sind auch die individuellen Fähigkeiten der betroffenen
Personen wichtig. Es geht um eine wirkliche Betreuung,
um individuelle Eingliederungspläne. Diese Eingliederungspläne sollen vor allem regional in den zuständigen
Arbeitsämtern und auch in den Sozialhilfebehörden entwickelt werden, damit auf diese Menschen eingegangen
und nicht über ihre Köpfe hinweg entschieden wird.
({4})
Wir wollen die Maßnahmen bündeln; genau das ist der
Kern unseres Antrags. Es geht darum, auf diese Menschen
einzugehen. Es geht darum, Langzeitarbeitslosigkeit abzubauen. Es geht nicht darum, irgendeine Verwaltung aufzuplustern. - Übrigens verwahre ich mich gegen den Satz,
wir wollten hier nur verwalten, auch wenn ich Verwaltungswissenschaftlerin bin. Auch Verwaltung hat etwas
Gutes.- Es geht darum, problemadäquate Lösungen zu
finden.
({5})
Nach diesem Modellvorhaben kommt es zu einer Veränderung des materiellen Rechts. Durch eine verbesserte
Zusammenarbeit zwischen den Arbeits- und Sozialämtern
sollen die beruflichen Eingliederungschancen von Langzeitarbeitslosen erhöht werden. Mithilfe einer Experimentierklausel möchten wir genau das testen. Wir vereinfachen auch die Verwaltungsverfahren; das ist dringend
notwendig. Wir probieren also nicht nur aus, sondern vereinfachen auch. Besonders wichtig ist dabei, dass Sozialhilfeempfänger in Zukunft Zugang zu den Instrumenten
der aktiven Arbeitsmarktförderung haben. Das ist der
Knackpunkt dieses Gesetzentwurfes und den können Sie
nicht einfach mit Ihrem Verwaltungsargument, das Sie angeführt haben, wegdiskutieren.
({6})
Ein wichtiger Kernpunkt der Modellvorhaben ist also
die Betreuung der Langzeitarbeitslosen. Es geht um
eine gemeinsame Anlaufstelle. Diese Leistung soll entweder vom Arbeitsamt, vom Sozialamt oder von einer
gemeinsam beauftragten Stelle erfüllt werden. Auf regionaler Ebene soll entschieden werden, welcher Ort für eine
gemeinsame Anlaufstelle für Langzeitarbeitslose sinnig
und am erfolgreichsten ist. Welche Lösung am besten ist,
soll in diesem Experiment erkundet werden. Wir wollen
testen, wir wollen ausprobieren, wir wollen neue Wege erforschen. Wir wollen vor allem nicht stehen bleiben.
Zielpersonen dieser Projekte sind Menschen, die entweder ergänzende Sozialhilfe bekommen oder volle Sozialhilfe oder Arbeitslosenhilfe erhalten. Entscheidend
dabei ist die in der Gesetzgebung vorgegebene Zielrichtung. Es geht um die Erleichterung der Vermittlung von
Arbeitslosen. Das haben wir in dem Änderungsantrag
noch einmal unterstrichen. Wir wollen keinerlei Einschränkungen von bestehenden materiellen Ansprüchen.
Genau das ist nämlich der Unterschied zu Ihrem Gesetzentwurf, den wir übrigens ablehnen. Wir wollen keine
Eingriffe in die Zumutbarkeit, sondern wir wollen den Betroffenen eine Hilfestellung geben.
({7})
Ein Kriterium bei der Auswertung der Modellprojekte
wird sein, ob es uns tatsächlich gelingt, Sozialhilfeempfänger durch Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktförderung zu integrieren. Die Integration der Arbeitslosen
in den ersten Arbeitsmarkt ist eines unserer wichtigsten
politischen Ziele.
Der heutige Antrag macht wiederum deutlich: Wir
schreiben diese Menschen nicht ab. Wir wollen diese
Menschen nicht bestrafen oder stigmatisieren. Wir möchten sie vor allem auch nicht in unproduktive Arbeit abdrängen, sondern wir wollen Brücken bauen für Menschen, die von der Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind,
damit sie ein reguläres Beschäftigungsverhältnis aufnehmen können. Das vorliegende Modellvorhaben ist hierfür
ein sehr, sehr wichtiger Baustein. Deshalb verdient es
nicht nur unsere, sondern vor allem auch Ihre Unterstützung.
({8})
Nun hat das Wort der
Kollege Dr. Heinrich Kolb, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der nach wie vor
hohen Arbeitslosigkeit in unserem Lande begrüßen wir
natürlich jeden Schritt, der erwarten lässt, dass mehr Menschen wieder dauerhaft in Arbeit gebracht werden.
({0})
Deswegen werden wir - das möchte ich gleich vorab sagen - dem vorliegenden Entwurf auch zustimmen. Eine
verbesserte Zusammenarbeit zwischen den Arbeitsämtern
und den Trägern der Sozialhilfe kann vermutlich dazu beitragen, die Arbeitslosenzahlen zu senken.
Ich füge aber gleich hinzu: Organisatorische Maßnahmen allein werden wahrscheinlich nicht ausreichen.
Deswegen stelle ich hier fest, dass sich die F.D.P.Bundestagsfraktion noch erheblich mehr vorstellen kann,
was gerade auch im strukturellen und materiellen
Bereich getan werden kann, um die Zahl der arbeitslosen
Sozialhilfeempfänger zu verringern.
({1})
Ich nenne hier beispielhaft die Möglichkeiten der
Arbeitnehmerüberlassungen. In unseren europäischen
Nachbarländern arbeiten die Arbeitsämter sehr erfolgreich mit Zeitarbeitsfirmen zusammen und erzielen dabei
gute Fortschritte. Ich nenne auch die Chancen, die sich für
Arbeitnehmer aus befristeten Arbeitsverhältnissen ergeben können. Herr Riester möchte in Zukunft diese Form
der Beschäftigung erschweren, die gerade für Wiedereinsteiger interessant ist. Das konterkariert natürlich die
Bemühungen des Gesetzentwurfs, über den wir hier debattieren.
Ich möchte hier auch ein Problem ansprechen, das nach
meiner Ansicht nicht unwesentlich dazu beiträgt, dass es
in vielen Fällen Schwierigkeiten gibt, Menschen aus der
Arbeitslosigkeit oder aus der Sozialhilfe herauszubekommen und in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Es ist
- darauf habe ich bereits im Ausschuss hingewiesen - das
Problem des Lohnabstands. Wenn Sozialhilfe unter dem
Strich mehr bringt als Arbeit, dann wird es schwer werden, Sozialhilfeempfänger zur Arbeitsaufnahme zu bewegen. Wenn ein verheirateter Facharbeiter mit zwei Kindern in den meisten Branchen kaum noch das verdienen
kann, was sein Nachbar - ebenfalls verheiratet, zwei Kinder - an Sozialhilfe monatlich bezieht, dann haben wir es
eindeutig mit einem Fehlanreiz in unserem Sozialsystem
zu tun.
Ich möchte damit keinesfalls sagen - um nicht falsch
verstanden zu werden -, dass sich alle Sozialhilfeempfänger aus diesen Gründen nur schwer dazu aufraffen
können, sich eine Arbeitsstelle zu suchen. Ich weiß hier
sehr wohl zu differenzieren. Ich weiß, dass es für die Aufnahme von Arbeit auch andere als nur monetäre Gründe
gibt. Aber wir müssen doch feststellen - dazu rufe ich auf;
das wissen Sie auch aus Gesprächen mit Wählern aus
Ihren Wahlkreisen -, dass viele Menschen ganz nüchtern
und ökonomisch abwägen, angesichts der momentanen
Sachlage morgens lieber ein bisschen länger schlafen und
dann möglicherweise am Nachmittag beim Nachbarn,
zum Beispiel beim viel zitierten Facharbeiter, das Bad
fliesen, der aufgrund der Höhe seines Einkommens möglicherweise auf Schwarzarbeiter angewiesen ist. Damit
möchte ich sagen, dass wir nicht darum herumkommen
werden, die verkrusteten Strukturen im Arbeits- und Sozialversicherungsrecht aufzubrechen und auch an das
Lohnabstandsgebot heranzugehen.
({2})
Wir müssen mutige Reformen in den Sozialversicherungen durchführen, um die Beitragssätze zu senken. Es
müssen auch in Zukunft noch weitere Schritte unternommen werden, um die Steuern zu senken. Wir brauchen einen neuen Ansatz - ich möchte sagen: einen Paradigmenwechsel - hinsichtlich der Bedingungen für das Angebot
von Arbeit.
({3})
Damit meine ich, wir müssen auch unsere Sichtweise im
Arbeitsrecht verändern. Wir müssen weg von der Sicht
der Risiken für die Beschäftigten hin zur Sicht der Chancen für die Arbeitsuchenden. Deswegen haben wir Ihnen
vorgeschlagen - das werden wir in Kürze noch einmal
tun -: erstens ein Aufbrechen des Tarifkartells durch die
Möglichkeit, diejenigen die Tarifverträge aushandeln zu
lassen, die am meisten davon verstehen, nämlich die Beschäftigten in den Betrieben;
({4})
zweitens die Erhöhung der Flexibilisierung durch die
Möglichkeit der Befristung von Arbeitsverträgen; drittens
die Schaffung eines Kündigungsschutzes, mit dem die
Realität vor deutschen Arbeitsgerichten zur Kenntnis genommen wird und mit dem eine Lösung geschaffen wird,
die auf Abfindung statt auf Bestandsschutz setzt.
({5})
Wie gesagt, den vorliegenden Gesetzentwurf werten
wir nur als einen ersten zaghaften Schritt, der aber immerhin in die richtige Richtung geht. Wenn nun auch die
Rahmenbedingungen des materiellen Rechts verändert
werden, kann er auch seine Wirkung entfalten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({6})
Jetzt hat der Kollege
Dr. Klaus Grehn, PDS-Fraktion, das Wort.
Herr Kollege, Ihnen ist heute Morgen in Abwesenheit
zu Ihrem runden Geburtstag gratuliert worden. Da Sie nun
da sind, wiederhole ich das: Herzlichen Glückwunsch!
({0})
Frau Präsidentin, ich bedanke mich herzlich.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Lange, ich möchte mich nachdrücklich
Ihren Wünschen anschließen, dass alle Arbeitslosen einen
Arbeitsplatz bekommen. Angesichts der Rede des Kollegen Kolb möchte ich hinzufügen: einen existenzsichernden Arbeitsplatz.
({0})
Ich sage das im Hinblick auf Ihre Forderung nach Einhaltung des Lohnabstandgebots, die immer in eine bestimmte
Richtung zielt.
Für mich ist der vorgelegte Entwurf ambivalent. Ich
weiß nicht so recht, worin seine Zielstellung besteht: Einerseits geht es um Zusammenarbeit, andererseits um
Modellversuche. In Art. 1 Ziffer 1 wird die Zusammenarbeit festgeschrieben. Die Arbeitsämter sollen Kooperationsvereinbarungen abschließen, was schon im BSHG
festgelegt ist. In Art. 1 Ziffer 2 werden Modellversuche
vorgeschlagen, die zur Verbesserung der Zusammenarbeit
führen sollen. Wollen wir also Zusammenarbeit oder
Verbesserung der Zusammenarbeit? Zusammenarbeit ist
immer gut. Das gilt übrigens auch für die Politik. Vielleicht gibt es auch bei den Parteien einmal Modellversuche, um unsere Zusammenarbeit zu verbessern. Ich halte
das manchmal für notwendig.
({1})
Am Ende wird sich zeigen, was die Modellversuche wert
waren; deshalb kann man das nicht vorwegnehmen.
Nachdrücklich will ich feststellen, dass wir in dem Entwurf durchaus Positives entdeckt haben. Das gilt insbesondere für die Tatsache, dass die Sozialhilfeempfänger
nun in die Arbeitsförderungsmaßnahmen eingegliedert
werden können. Das ist eine alte Forderung der Arbeitslosenbewegung, die durchaus richtig ist.
({2})
Um dieser Forderung nachzukommen, bedurfte es allerdings keines Gesetzes; man hätte diesen Tatbestand auch
im SGB III einordnen können. Ich will ebenfalls Ihren
nachgereichten Änderungsantrag positiv hervorheben. Da
ist zumindest verbal anerkannt, dass für die Arbeitslosen
im Rahmen der Modellversuche, so ist zu lesen, keine
rechtlichen und finanziellen Nachteile entstehen sollen.
Das ist nicht mehr als recht und billig.
Der Rest ist fragwürdig bzw. nicht akzeptabel oder
aber führt zu einem Paradigmenwechsel. Arbeitsämter
sollen die Aufgaben von Sozialämtern und Sozialämter
die von Arbeitsämtern übernehmen. Beide sind überlastet.
Ich will es einmal zugespitzt sagen: Die Arbeitsämter
können null vermitteln. Wenn sie null vermitteln können,
dann können auch die Sozialämter nur null vermitteln.
Daran ist nicht viel Neues; es führt zu nichts.
({3})
Ich sage deutlich: Daneben besteht die Gefahr - die
Betroffenenverbände sehen das -, dass hiermit etwas aufgebaut wird, was der Diskussion über die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe - eine Tendenz dazu besteht und daher sind entsprechende Befürchtungen vorhanden - sehr nahe kommt. Wir können dem
Gesetzentwurf deswegen nicht zustimmen. Ein weiterer
Grund, warum wir ihm nicht zustimmen können, besteht
in der Ausdehnung der Aufgaben auf dritte Einrichtungen,
für die es keine Regelungen gibt und für die hinsichtlich
der Kontrolle - es muss auch eine Kontrolle des Datenschutzes geben - durch andere Stellen kein Zugriff vorhanden ist. Trotz der positiven Aspekte können wir dem
Gesetzentwurf aus den genannten Gründen nicht zustimmen.
({4})
Jetzt hat der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! In der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen
vom 20. Oktober 1998 heißt es:
Um die Vermittlung in Arbeit zu erleichtern und um
überflüssige Bürokratie abzubauen, soll die Zusammenarbeit zwischen Sozialämtern und Arbeitsämtern
nachhaltig verbessert werden.
Diese Aussage ist für die Koalitionsfraktionen nicht nur
ein Lippenbekenntnis. Wir setzen mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf diese Forderung aus dem Koalitionsvertrag Stück für Stück um - übrigens wie vieles andere, das
wir im Koalitionsvertrag festgehalten haben.
({0})
Es gehört sich, dies hier festzustellen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird es uns gelingen, die Zusammenarbeit zwischen Arbeits- und Sozialämtern nachhaltig zu verbessern, überflüssige Bürokratie in den Ämtern abzubauen sowie die Vermittlung
von Arbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt zu erleichtern. Wir wissen, Arbeitslosen- und Sozialhilfe gehören
zwar zu zwei verschiedenen, historisch gewachsenen Leistungssystemen; dennoch überlappen sie sich in einer
Hauptzielrichtung: Beides sind staatliche Fürsorgeleistungen zur Bestreitung des Lebensunterhalts des Einzelnen. Diese Überschneidungen wollen wir uns zunutze
machen und Synergieeffekte aus dem Zusammenwirken
beider Leistungssysteme erzielen.
Nehmen Sie als Beispiel Arbeitslosenhilfeempfänger,
die ergänzend Sozialhilfe bekommen; Ende 1989 waren
das 285 000 Personen. Unser Ziel ist es, dieser Gruppe
von Menschen, die vom Schicksal der Arbeitslosigkeit gebeutelt sind, zumindest ein wenig den Umgang mit den
Behörden zu erleichtern. Wir wollen deshalb unter anderem ausprobieren, ob es den Menschen Vorteile bringt,
wenn die Antragstellung für Leistungen der Arbeitslosenund Sozialhilfe unter einem Dach erfolgt.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll diese Zusammenarbeit für alle Arbeits- und Sozialämter in der
Bundesrepublik verpflichtend werden. Es ist schon gesagt
worden: An manchen Orten funktioniert das, da arbeiten
Arbeits- und Sozialämter schon von sich aus zusammen.
Wir schreiben es jetzt aber vor. Dies soll in Form von Kooperationsvereinbarungen geschehen, in denen sich die
örtlichen Arbeitsämter zur Zusammenarbeit mit den zuständigen Sozialhilfeträgern verpflichten.
Darüber hinaus - das ist schon gesagt worden - fördert
die Bundesregierung Modellvorhaben, für die wir in den
nächsten Jahren jeweils bis zu 30 Millionen DM im Jahr
zur Verfügung stellen. Im Rahmen des geltenden
Rechts - das ist ganz wichtig, Herr Weiß - sind jedoch
wirklich innovativen Modellversuchen zur Verbesserung
der Zusammenarbeit enge Grenzen gesetzt. Deshalb enthält der vorliegende Gesetzentwurf gesetzliche Experimentierklauseln, die das Spektrum der in Betracht kommenden Lösungsansätze deutlich erweitern.
Jetzt will ich sagen, warum es geht: Ziel der Experimentierklauseln ist ein Öffnen der Instrumentenkästen
von SGB III, also der Arbeitsförderung, und dem Bundessozialhilfegesetz für das jeweils andere Leistungssystem. Wir möchten ausprobieren, ob es sinnvoll ist, wenn
Arbeitslosenhilfebezieher an Maßnahmen der „Hilfe zur
Arbeit“ nach dem BSHG teilnehmen. Ebenso interessieren uns Erfahrungen, die Sozialhilfebezieher machen,
wenn sie in Maßnahmen der aktiven Arbeitsförderung integriert werden. Die Experimentierklauseln sollen auch
die Übertragung von Aufgaben der Arbeitsämter und Sozialhilfeträger - etwa die Leistungsgewährung - auf die
jeweils andere Behörde oder eine dafür gemeinsam gebildete Stelle möglich machen. Weiterhin schaffen die Experimentierklauseln die Voraussetzung für den im Rahmen vieler Modellvorhaben erforderlichen Austausch der
Daten von Leistungsbeziehern. Wir erhoffen uns aus den
Modellvorhaben auch Erkenntnisse darüber, wie sich das
Verhältnis der Leistungssysteme Arbeitslosenhilfe und
Sozialhilfe zukünftig ausgestalten wird.
Herr Staatssekretär,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Nein, bitte nicht.
Mittelfristig muss geprüft werden, ob zur Verbesserung
der Integration der arbeitslosen Bezieher von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe in Arbeitsverhältnisse beide Leistungen inhaltlich einander angenähert oder zusammengeführt werden sollen.
({0})
Konkrete Entscheidungen über eine bessere Verzahnung
oder eine Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und
Sozialhilfe sind jedoch erst am Ende eines umfassenden
Diskussionsprozesses möglich, in dem alle konzeptionellen, politischen und finanzverfassungsrechtlichen Fragestellung hinreichend Berücksichtigung finden müssen.
Wichtiger Bestandteil dieses Diskussionsprozesses werden zweifellos die Modellvorhaben und die Erfahrungen
mit den Experimentierklauseln sein.
Ich sage es ganz offen: Wir betreten mit einigen Möglichkeiten, die die Experimentierklauseln bieten, Neuland. Wir betreten dieses Neuland aber ganz bewusst und
mit einer fest umrissenen Zielvorstellung.
Ich freue mich ganz besonders darüber, dass der vorliegende Gesetzentwurf schon im Vorfeld die Zustimmung der von der Arbeits- und Sozialministerkonferenz
eingesetzten Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Arbeitslosenhilfe/Sozialhilfe“ erhalten hat. Ich erwähne das auch deshalb, weil in dieser Arbeitsgruppe sowohl Vertreter der
A- als auch der B-Länder sitzen.
Ich sage ausdrücklich an die Adresse von Herrn Weiß:
Es hilft nicht, dass Ihr Fraktionsvorsitzender hier in globalen Aussprachen immer ankündigt, man müsse dringend etwas tun, Sie sich dann aber verweigern und dagegen stimmen, wenn diese Koalition etwas tut.
({1})
Ich halte das für ein falsches politisches Verhalten.
Ich bin daher zuversichtlich, dass wir sowohl über den
heute zur Abstimmung gestellten Gesetzentwurf als auch
über die in einigen Jahren auf uns zukommende Richtungsentscheidung einen parteiübergreifenden Konsens
zustande bringen werden. Diese Bundesregierung ist angetreten, um den Reformstau in diesem Lande aufzulösen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß?
Nein.
Dieser Gesetzentwurf ist ein weiterer Schritt in diese
Richtung. Darum bitte ich Sie auch herzlich um Zustimmung zu diesem Entwurf.
Schönen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten
Gesetzentwurf zur Verbesserung der Zusammenarbeit
von Arbeitsämtern und Trägern der Sozialhilfe, Drucksachen 14/3765 und 14/4163. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Damit ist der Gesetzentwurf bei mehreren
Gegenstimmen in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen der
Fraktionen von CDU/CSU und PDS ist der Gesetzentwurf
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 sowie Zusatzpunkt 5 auf:
11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Bosbach, Erwin Marschewski ({0}),
Meinrad Belle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
Gleichbehandlung im öffentlichen Dienst Tarifergebnis auf Beamte übertragen
- Drucksache 14/3772 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Finanzausschuss
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss
ZP 5 Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Max
Stadler, Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Jörg van
Essen, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Ländern 2000 ({2})
- Drucksache 14/4134 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Finanzausschuss
Verteidigungsausschuss
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Meinrad Belle, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen! Meine Herren! Glaubwürdigkeit, Verlässlichkeit
und Berechenbarkeit sind die wichtigsten Grundlagen
und Voraussetzungen für eine gute Politik. Das, meine
Damen und Herren, war der Ratschlag eines alten, erfahrenen und angesehenen Bürgermeisters, als ich vor über
30 Jahren in die Politik eingestiegen bin.
Diese Grundsätze verlassen Sie offensichtlich mit Ihrer Beamtenpolitik. Damit verspielen Sie Ansehen und
Vertrauen in der Beamtenschaft und bei den Versorgungsempfängern.
({0})
Meine Fraktion hat daher einen Gesetzentwurf zur Besoldungsanpassung vorbereitet. Wir haben uns aber heute
zunächst für die Beratung unseres Entschließungsantrags
entschieden, der ja offensichtlich auch Wirkung bei Ihnen
gezeigt hat; denn die Bundesregierung hat, von diesem
Entschließungsantrag getrieben, gestern sozusagen die
Katze aus dem Sack gelassen und das Hinausschieben der
Erhöhung der Beamten- und Versorgungsbezüge auf den
1. Januar 2001 beschlossen. Dieser Beschluss wird auch
nicht durch die Sonderzahlung für die unteren Gehaltsgruppen besser.
Mit der geplanten tatsächlichen Nullrunde für das Jahr
2000 verstößt die Bundesregierung in eklatanter Weise
gegen die Fürsorgepflicht für Beamte und Versorgungsempfänger. Sie bestraft die Beamten dafür, dass sie kein
Streikrecht besitzen, und verletzt ihre Verpflichtung nach
§ 14 Bundesbesoldungsgesetz,
die Besoldung ... entsprechend der Entwicklung der
allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse ... regelmäßig
anzupassen.
({1})
Ich will dies gerne begründen: Das Dienstrechtsreformgesetz aus der letzten Legislaturperiode bringt, bezogen auf das Jahr 2008, Einsparungen für Bund, Länder
und Gemeinden in Höhe von 22,8 Milliarden DM. Ab
2008 werden sich dann jährliche Einsparungen in Höhe
von 3,8 Milliarden DM ergeben. Diese Einsparungen, zu
denen wir uns auch heute noch bekennen, schlagen ganz
konkret als Kürzungsmaßnahmen beim Monatsgehalt
fast jedes Beamten durch. Gleichzeitig kürzt das Versorgungsreformgesetz kurzfristig, durch strukturelle Einzelmaßnahmen, die Versorgungsausgaben um jährlich 5 Milliarden DM und führt über die Versorgungsrücklage zu
einer dauerhaften Kürzung der Bezüge der aktiven Beamten und der Versorgungsempfänger um 3 Prozent.
({2})
Ich habe vorhin gesagt: Dazu bekennen wir uns. Wo gibt
es sonst noch durchgängig Gehalts- und Rentenkürzungen? Auch die Fachleute Ihrer Regierungskoalition betonten - Herr Kollege, Sie waren damals noch nicht dabei - bei ihren Reden ganz besonders, dass im Hinblick
auf diese Einsparmaßnahmen für Sonderopfer der Beamten kein Raum mehr gegeben sei, insbesondere nicht
für die Verschiebung der Besoldungsanpassungen.
Nach Ihrer Regierungsübernahme haben Sie unsere
Rentenreform mit dem demographischen Faktor zurückgenommen. Die Versorgungsrechtsreform blieb aber
praktisch unverändert. Insbesondere die dauerhafte Kürzung der Gehälter und Pensionen um 3 Prozent bleibt voll
wirksam.
Ich fasse zusammen: Erstens. Die Dienst- und Versorgungsbezüge sind dauerhaft gekürzt. Zweitens. Die Beamten und Versorgungsempfänger werden von Ihrer so
genannten Ökosteuer zur Finanzierung der Rentenversicherungsbeiträge voll getroffen. Ohne jegliche Entlastung
müssen höhere Heizkosten, Benzin- und Stromkosten getragen werden. Drittens. Zusätzlich sollen sie nun dafür
noch mit einer Nullrunde für das Jahr 2000 „belohnt“ werden. Das kann doch wohl nicht wahr sein!
({3})
Die Beamtenschaft besteht nicht nur aus den besser
verdienenden Regierungsdirektoren und Ministerialräten.
Nur 17,5 Prozent aller Beschäftigten gehören dem höheren Dienst an, knapp 35 Prozent dem gehobenen Dienst
und knapp 48 Prozent dem einfachen und mittleren
Dienst. Die Sonderzahlung in den unteren Gehaltsklassen
bietet zwar - das will ich anerkennen - teilweise einen
Ausgleich, sie bringt aber Nivellierungen und straft alle
Sonntagsreden von Leistungsförderung und Leistungsanreizen Lügen. Insbesondere die 1,3 Millionen Versorgungsempfänger, die ja auch zur Hälfte aus dem einfachen und mittleren Dienst kommen, werden nun von der
Nullrunde voll und eiskalt erwischt.
({4})
Hier gilt immer noch der alte Spruch: Der Beamte erhält zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel.
({5})
Gerade weil die Versorgungsrechtsreform 1998 bei den
Pensionären unverändert wirkt, ist dieses Sonderopfer der
Nullrunde 2000 eine große Ungerechtigkeit.
({6})
Nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes
stieg das Durchschnittseinkommen der unselbstständig
Beschäftigten von 1970 bis 1999 um 248 Prozent. Das
Durchschnittseinkommen der Beamten stieg im gleichen
Zeitraum lediglich um 218 Prozent. Dieser Unterschied
ergibt einen effektiven Rückstand der Beamten und
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Versorgungsempfänger bei der Einkommensentwicklung von 14 Prozent. Das ist ein zusätzlicher Grund, gegen jedes weitere Sonderopfer vorzugehen. Mit Ihrer Besoldungspolitik zerstören Sie auch alle Motivations- und
Leistungsanreize, die wir damals gemeinsam mit dem
Dienstrechtsreformgesetz eingeführt haben.
Ich appelliere daher heute an Sie: Folgen Sie Ihrem Gefühl und Ihrem Verstand und stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu! Kehren Sie zu einer gemeinsamen
gerechten und verlässlichen Besoldungs- und Versorgungspolitik zurück!
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat jetzt der
Kollege Hans-Peter Kemper, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Es ist guter Brauch und entspricht der
langjährigen Tradition und den langjährigen Forderungen
der SPD, die Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst der
Höhe nach auch für die Beamten zu übernehmen. Das tun
wir, aber nicht deshalb, weil Sie, Herr Belle, oder weil die
CDU das gefordert hat. Vielmehr haben wir uns aus eigener Einsicht massiv dafür eingesetzt,
({0})
dass die Beamten gleichgestellt werden. Wir werden die
Tarifabschlüsse exakt übernehmen, also eine Erhöhung
von 2 Prozent im ersten Zug und von 2,4 Prozent im zweiten Zug vornehmen,
({1})
abzüglich 0,2 Prozentpunkte Versorgungsrücklage, die
unter Ihrem Innenminister Kanther, der inzwischen bei Ihnen in Ungnade gefallen ist, beschlossen worden ist.
({2})
Ich habe nichts dagegen - ich trage das ja mit -, dass er in
Ungnade gefallen ist. Er hat mir immer gesagt, dass wir
die Geldwäsche und die organisierte Kriminalität
bekämpfen müssen. Wenn ich aber bedenke, dass er sich
selbst der Geldwäsche schuldig gemacht und sich im
Dunstkreis der organisierten Kriminalität bewegt hat,
während wir im Ausschuss ein halbes Jahr lang gemeinsam über die Bekämpfung der organisierten Kriminalität
und der Geldwäsche geredet haben, dann muss ich sagen,
dass das ein Problem ist.
({3})
- Ich bin nur auf Ihren Zuruf eingegangen.
Es war angesichts Ihrer Hinterlassenschaft der horrenden Schulden nicht ganz einfach, dieses Ergebnis zu erreichen. Unsere Fraktion und insbesondere die Innenpolitiker haben mit dem Finanzminister verhandelt. Wir sind
stolz, dieses Ergebnis erreicht zu haben, was angesichts
der schwierigen Situation nicht einfach war. Wir haben
lange gebraucht, dieses Ergebnis zu erreichen.
Allerdings wird die Übernahme der Tarifabschlüsse
zeitlich hinausgeschoben. In diesem Punkt haben Sie
Recht, Herr Belle. Der Angleichungstermin ist jeweils
der 1. Januar. Aber wichtig und entscheidend ist - ich habe
gestern Abend von vielen Beamtenorganisationen ein Lob
dafür bekommen -: Es hat keine Absenkung des Niveaus
gegeben, die sich in den nächsten Jahren negativ auswirken könnte.
({4})
- Herr Marschewski, Sie waren selbst dabei, als sich die
Beamten des BGS lobend über unsere Entscheidung geäußert haben.
({5})
Natürlich spielt der Sparzwang eine große Rolle. Sie
haben uns eine gigantische Schuldenlast hinterlassen, die
noch unseren Enkeln zu schaffen machen wird. Sie hätten
es fast geschafft, die künftigen Generationen und unseren
Staat handlungsunfähig zu machen. Aber zum Glück hat
der Wähler Sie an der Vollendung dieses Chaos gehindert,
indem er Sie abgewählt hat.
({6})
Die Übernahme des Tarifergebnisses lässt die aktiven
und die Ruhestandsbeamten trotz schwieriger Haushaltsbedingungen an der allgemeinen Einkommensentwicklung teilhaben. Herr Belle, Sie haben die Verlässlichkeit
und die Nullrunden angesprochen. Dazu will ich Ihnen sagen: Was die Beamten jetzt bekommen, ist deutlich mehr
als das, was sie während Ihrer Regierungszeit bekommen
haben. Sie haben viele Jahre lang nicht einmal eine Erhöhung auf dem Niveau der Inflationsrate vorgenommen.
Als Sie die Regierung gestellt haben, hatten die Beamten
Jahr für Jahr immer weniger im Portemonnaie.
({7})
Ich will Ihnen einmal die entsprechenden Zahlen vorhalten. In den Jahren 1989, 1993, 1994, 1996 und 1997
haben die Angehörigen des öffentlichen Dienstes, also
auch die Beamten, jedes Jahr netto weniger im Portemonnaie gehabt. Da Sie die Glaubwürdigkeit angesprochen
haben, muss ich Ihnen sagen: Es ist völlig unglaubwürdig,
wenn die damals für dieses Chaos Verantwortlichen heute
Krokodilstränen weinen und beklagen, dass die jetzige
Regierung zu wenig für die armen Beamten tue.
({8})
Wir hatten im letzten Jahr eine Erhöhung von 3,1 Prozent
bei einer Inflationsrate von 0,6 Prozent. Ich kann mich
nicht erinnern, dass Sie jemals Vergleichbares auf die
Beine gestellt haben.
Die zeitliche Verschiebung - das habe ich deutlich gesagt - erfüllt auch mich nicht mit Freude. Aber ich sage
Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU und F.D.P.: Sie sind diejenigen, die eigentlich an dieser Stelle beschämt schweigen müssten. Ich kann es Ihnen
nicht ersparen, Sie mit einigen Fakten und Taten aus der
Zeit Ihrer Regierung zu konfrontieren. Ich will in diesem
Zusammenhang nur einmal die Verschiebung in den letzten Jahren aufführen. 1991 gab es eine Verschiebung um
zwei Monate, 1993 um vier Monate, 1994 um drei Monate, 1995 um vier Monate,
({9})
1997 um zwei Monate und bei den B-Gruppen um sechs
Monate. Das kann ich verstehen, weil es diesen Gruppen
nicht ganz so schlecht geht.
Ich will noch zur Anhebung der Bemessungsgrenzen
in Ostdeutschland Stellung nehmen. Dies ist sicherlich
eine für die Menschen in Ostdeutschland nur schwer erträgliche Schlechterstellung. Aber auch hier muss ich Ihnen sagen, dass wir das nicht verursacht haben. Diese Ungleichbehandlung haben wir doch von Ihnen geerbt. Sie
haben fast ein Jahrzehnt Zeit gehabt, diese Ungleichheit
zu beseitigen. Aber Sie haben es nicht getan. Wir haben
das Problem in Angriff genommen. Wir steigern die Angleichung in drei Stufen zumindest auf 90 Prozent. Das
hätte ich mir von Ihnen gewünscht. Sie wissen genau, dass
eine sofortige Anhebung unheimlich viel Geld gekostet
hätte, insbesondere für die Länder, nämlich circa 5 Milliarden DM; 4,7 Milliarden DM sind es ganz genau. Das,
meine Damen und Herren von der CDU/CSU und F.D.P.,
wissen Sie genau.
Deshalb ist die Forderung, die Sie hier heute erheben,
mehr als scheinheilig. Sie sollten sich mit einem kräftigen
„mea culpa!“ an die Brust klopfen. Herr Marschewski, Sie
sind Lateiner und alter Messdiener; da wissen Sie, was
das heißt. Sie sollten in sich gehen und uns nicht kritisieren.
Wir haben - das will ich hier öffentlich sagen - einen
engagierten, leistungsstarken öffentlichen Dienst. Der öffentliche Dienst ist nicht, wie man es gelegentlich in der
Presse liest, eine Ansammlung von Faulpelzen der Nation, die in der öffentlichen Hängematte liegen. Der
größte Teil der öffentlich Bediensteten will sich einbringen, ist leistungsfähig und leistungsbereit. Deswegen bin
ich froh, dass wir dieses Ergebnis erreicht haben. Die SPD
lässt den öffentlichen Dienst, lässt die Beamten - wie die
übrigen Arbeitnehmer auch - nicht im Regen stehen. Daran können Sie sich ein Beispiel nehmen.
({10})
Das Wort hat nun der
Kollege Dr. Max Stadler, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Es ist schon eine missliche Situation, wenn man - wie soeben der verehrte Kollege Kemper - hier am Rednerpult etwas vertreten muss,
hinter dem man selbst nicht richtig stehen kann, weil es
im Widerspruch zu dem steht, was man früher in diesem
Hohen Hause vertreten hat.
({0})
Dabei, meine Damen und Herren, ist die Situation doch
relativ einfach: Die Tarifverhandlungen für die Arbeiter
und Angestellten des öffentlichen Dienstes haben ein akzeptables Ergebnis erbracht. Die Tarifvertragsparteien haben Vernunft gezeigt. Jetzt sind wir am Zug, die alte
Richtschnur, die wir in diesem Haus immer gemeinsam
vertreten haben, zu verwirklichen: Die Beamten dürfen
nicht besser, aber sie dürfen auch nicht schlechter gestellt
werden als ihre angestellten Kollegen.
({1})
Von dieser simplen Erkenntnis ausgehend, legt Ihnen
die F.D.P.-Bundestagsfraktion heute einen entsprechenden Gesetzentwurf mit folgender Zielsetzung vor: Wir
wollen die vollständige und zeitgleiche Übertragung des
Tarifergebnisses vom 19. Juni auf die Beamten und Versorgungsempfänger.
({2})
Dies bedeutet im Einzelnen: erstens Einmalzahlung in
Höhe von 400 DM für die Monate April bis Juli 2000 für
alle Beamten und Versorgungsempfänger; zweitens lineare Anhebung der Dienst- und Versorgungsbezüge um
2 Prozent ab 1. August 2000 - darin besteht der Unterschied zu Ihnen - und um weitere 2,4 Prozent ab 1. September 2001; drittens weiterer Aufbau der Versorgungsrücklage durch Zuführung von jeweils 0,2 Prozent der
Anpassungsbeträge zur notwendigen Finanzierung künftiger Versorgungsausgaben; viertens Erhöhung des Familienzuschlags als Folgerung aus der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 24. November 1998 und
fünftens lineare Anhebung der Dienst- und Versorgungsbezüge in den neuen Bundesländern in drei Stufen bis auf
90 Prozent des Westniveaus bis zum Jahr 2002.
All das haben die Tarifvertragsparteien so vereinbart.
Ich sehe überhaupt nicht ein, aus welchem Grund dies
nicht auch sofort für die Beamtinnen und Beamten und die
Versorgungsempfänger gelten sollte.
({3})
Sie sollten daher, liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Regierungsfraktionen, die Besoldungs- und Versorgungsanpassung nicht auf den Beginn des nächsten Jahres verschieben. Da nützt alles Kramen im Archiv überhaupt nichts; denn wir verlangen von Ihnen nicht mehr
und nicht weniger, als dass Sie jetzt genau das machen,
was Sie in der Zeit, als Sie in der Opposition waren, immer gefordert und für den Fall der Regierungsübernahme
versprochen haben. Nicht mehr und nicht weniger sollen
Sie jetzt einlösen.
({4})
Das bedeutet ganz konkret, dass Sie in diesem Fall den
Gesetzentwurf der F.D.P. übernehmen sollten.
({5})
Das Wort hat jetzt der
Kollege Cem Özdemir, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Kollegen
Meinrad Belle und gerade eben Max Stadler haben Oppositionsreden gehalten. Man könnte sagen: Das ist ja auch
ihr Job. Sie stellen die Opposition in diesem Hause dar.
Trotzdem möchte ich daran erinnern, dass auch eine Opposition Verantwortung für das Gesamtwesen Bundesrepublik Deutschland übernehmen sollte.
({0})
Wir können uns noch daran erinnern, wie es damals in
der Opposition war. So lange ist das noch nicht her.
({1})
Als wir in der Opposition waren, war unser Ansatz immer:
Eine gute Opposition regiert immer mit. Ihr Ansatz ist allerdings ein anderer. Eine Opposition sollte sich immer als
eine Regierung im Wartestand verstehen. Was Sie hier gemacht haben, war Populismus pur.
Der Kollege Kemper hat darauf hingewiesen, was wir
von Ihnen übernommen haben. Ich möchte das kurz in
Erinnerung rufen: Gestern vor genau zwei Jahren ist die
alte Bundesregierung abgewählt worden. Bei diesen
zwei Fraktionen haben wir es ja nicht mit Unbekannten zu
tun. Einer der Gründe für die Abwahl der alten Bundesregierung war, dass Sie vollmundig Versprechungen
abgegeben haben, die Sie nachher nicht gehalten haben.
Stattdessen kam es zu ständigen Abgabenerhöhungen und
einer ruinösen Staatsverschuldung.
({2})
Diese Staatsverschuldung - das ist bekannt - hat jeden
Beamten und jede Beamtin mitgetroffen.
({3})
Insofern haben Sie keinerlei Veranlassung, diese
Regierung zu kritisieren. Wir haben von Anfang an klar
auf eine strikte Konsolidierung des Haushalts und eine
sozial ausgewogene Politik gesetzt. Das steht bei uns im
Vordergrund.
({4})
Lassen Sie mich als Schwaben eines sagen: Wir achten
mit Argusaugen darauf, dass die Konsolidierungserfolge
dieser Regierung nicht geschmälert werden. Bei uns wird
nichts „verveschberd“, wie man das bei uns so schön sagt.
Gleichwohl ist klar, dass die Erhöhung der Bezüge von
Beamten und Pensionären angestanden hat. Ich finde, die
Eckpunkte, auf die sich unsere beiden Fraktionen geeinigt
und die wir jetzt durchgesetzt haben, können sich durchaus sehen lassen.
Ich möchte insbesondere auf einen Aspekt hinweisen,
nämlich die Tatsache, dass die unteren Besoldungsgruppen, also A 1 bis A 9, zusätzlich zu der Erhöhung der
Bezüge ab dem 1. Januar 2001 für die Monate September
bis Dezember dieses Jahres eine Einmalzahlung von jeweils 100 DM, insgesamt also 400 DM, bekommen. Das
ist etwas, was sich angesichts der Probleme, die wir gegenwärtig im Haushalt zu beklagen haben, sehen lassen kann.
Herr Kollege Kemper hat auf einen Akzent
hingewiesen, der uns sehr wichtig ist: Wir werden die
Angleichung der Bezüge für die Beamten in den neuen Ländern beschleunigen. Ab dem 1. August 2000 erhöht sich der Bemessungssatz auf 87 Prozent. Am 1. Januar 2001 beträgt er 88,5 Prozent, am 1. Januar 2002
schließlich 90 Prozent. Damit haben wir etwas geschafft,
was im Grunde kaum möglich ist, nämlich die Quadratur
des Kreises: einerseits das berechtigte Interesse der
Beamten an einer Erhöhung ihrer Bezüge zu befriedigen
und andererseits den Konsolidierungskurs einzuhalten.
Zudem gelingt es, sicherzustellen, dass die Pensionen der
Beamten in den Jahren 2000 bis 2002 insgesamt nicht
stärker angehoben werden als die gesetzlichen Renten voraussichtlich angepasst werden.
({5})
Ich glaube, dass wir hier auch in der sozialen Symmetrie
bei der Anpassung der Alterssicherungssysteme eine gute
Lösung erreicht haben.
Lassen Sie mich zum Schluss meiner Rede in Erinnerung rufen: Von den beiden Fraktionen, die jetzt so
spendabel auftreten möchten, haben wir 1,5 Billionen DM
Schulden geerbt.
({6})
- Lieber Eckart von Klaeden, unser Zukunftsprogramm
für die nächsten vier Jahren ist mit dem Ziel, den Schuldenberg um 150 Milliarden DM zu senken, zugegebenermaßen sehr ehrgeizig.
Ich appelliere an die Opposition: Geben Sie Ihren Populismus auf. Helfen Sie uns dabei, das zu tun, was für diese
Republik notwendig ist.
({7})
- Darüber können wir gerne reden. Das ist aber ein anderes Thema. Stellen Sie doch einen entsprechenden Antrag.
Wir lassen uns von der Opposition nicht von unserem
Kurs abbringen und appellieren an die Öffentlichkeit, das
Manöver der CDU/CSU und der F.D.P. zu durchschauen.
({8})
Wir haben gesehen, was Sie während Ihrer Regierungszeit
gemacht haben. Unsere Überschrift heißt: solide Haushaltspolitik ohne soziale Kälte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich danke für Ihre
Aufmerksamkeit.
({9})
Jetzt hat die Kollegin
Petra Pau, PDS-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es kommt nicht oft vor, dass ich mit
Mitgliedern der bayerischen Landesregierung einer Meinung bin. Heute Vormittag haben wir an einem Beispiel
gezeigt, wie es anders sein kann. Als ich aber gestern eine
Agenturmeldung zu den Ergebnissen Ihrer Beratungen
las, kam ich nicht umhin, erst einmal dem bayerischen Finanzminister, Kurt Falthauser, CSU, zuzustimmen.
({0})
- Entschuldigung, Faltlhauser. Ich werde das noch lernen,
wenn wir demnächst öfter übereinstimmen.
({1})
Er meinte - ich darf zitieren -, dass das Trostpflästerchen dieser Regelung, die Einmalzahlung für Geringverdiener, nichts für die Masse der Beamten ändere und
dass Beamte für die Bundesregierung offensichtlich
Staatsdiener zweiter Klasse sind.
Herr Kollege Özdemir, da nutzt es überhaupt nichts,
auf die Politik von CDU/CSU und F.D.P. hinzuweisen.
Wir sollten die derzeitige Bundesregierung beim Wort,
bei ihrem Programm und bei ihrem Eintreten für soziale
Gerechtigkeit vor genau zwei Jahren nehmen; Sie haben
zu Recht an den Wahltag erinnert.
Da wird es dann ganz schwierig, wenn wir einer
Gruppe, nämlich den Beamten, besonders verantwortungsvolle und manchmal auch gefahrvolle Arbeit - völlig zu Recht - abverlangen, - ich komme gerade wie auch
Kollegen Ihrer Fraktion und der CDU/CSU-Fraktion von
einer Veranstaltung mit Kriminalbeamten -, ihnen aber
auch sagen: Dafür, dass ihr gefahrvolle Arbeit leistet, dass
wir von euch erwarten, dass ihr jederzeit auch die hoheitlichen Aufgaben des Staates gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern wahrnehmt, dürft ihr am Ende des Monats aber auch noch etwas abliefern und nicht etwa eine
Anerkennung bekommen, indem einfach die Ergebnisse
der Tarifverhandlungen des öffentlichen Dienstes auf
euch übertragen werden.
Ich finde, dass in den Vorschlägen der F.D.P. ein Lösungsweg aufgezeigt ist. Darüber sollte man ordentlich
reden, auch in Anerkennung der Leistung der Betroffenen.
({2})
Ein weiterer Punkt, der auch nicht berücksichtigt wird,
ist folgender: Es fehlt nicht nur - wie wir aus meiner Sicht
völlig zu Recht kritisiert haben - der Fahrplan für die Anpassung der Vergütung der Angestellten, sondern Sie
gehen gegenüber den Beamten im Ostteil des Landes nun
auch doppelt ungerecht vor.
({3})
Nicht nur der Fahrplan ist nicht absehbar, sondern für sie
werden sich diese Kürzung und diese Verschiebung der
Angleichung bis zu ihrer Pensionierung auswirken. Das
heißt, sie werden, wenn sie ihre Pension empfangen, noch
daran erinnert, welche Tarifabschlüsse im Jahr 2002
durch Sie nicht übertragen wurden. Es hat keinen Sinn,
hier an Ehrlichkeit, an Moral und was weiß ich zu appellieren oder die Geschichte anzuführen, sondern wir sollten uns mit unseren Wahlversprechen, aber auch mit unseren konkreten Politikkonzepten, mit denen wir in den
Wahlkampf gezogen sind, beim Wort nehmen und nach
Lösungen suchen.
({4})
Jetzt hat der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon interessant, hier zuzuhören. Wenn ich mich beispielsweise daran erinnere,
dass es im Jahr 1989 einen Tarifabschluss von 1,4 Prozent
bei einer Inflationsrate von 2,9 Prozent gab, dann frage
ich die Kolleginnen und Kollegen von F.D.P., CDU und
CSU: Wo war denn damals Ihr Aufschrei? Letztendlich ist
es doch wichtig, was die Beamtinnen und Beamten und
die Angestellten im öffentlichen Dienst in der Tasche haben. Damals hatten sie weniger in der Tasche, aber Sie haben keinen Aufschrei getan.
({0})
Ein weiterer Punkt, meine Damen und Herren: Beispielsweise gab es im Jahre 1993
({1})
einen Tarifabschluss, der bei 3 Prozent lag, die Inflationsrate lag aber bei 3,7 Prozent. Merkwürdigerweise ist die
Beamtenbesoldung auch noch erst einige Monate später
erhöht worden.
({2})
Meine Damen und Herren von der Opposition, wo war
denn damals Ihr Aufschrei? Vor allen Dingen: Wo war
Ihre Gesetzesvorlage, dem so nicht zu folgen? Ich kann es
nicht feststellen.
Herr Staatssekretär,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, aber nur, weil es der Kollege
Belle ist.
Der Kollege Belle hat
jetzt das Wort. Bitte sehr.
Lieber Herr Kollege
Körper, ich wollte Sie heute Abend eigentlich nicht
ärgern, aber nach diesem Einstieg muss ich Sie doch fragen, was Sie heute Abend zu Ihrer Aussage in diesem Hohen Hause am 16. Januar 1998 bei der Diskussion über
die Dienstrechts- und Versorgungsrechtsreform sagen.
Ich darf Sie zitieren:
Die Tarifergebnisse im öffentlichen Dienst müssen
künftig wieder inhalts- und zeitgleich auf den Beamtenbereich übertragen werden.
({0})
Wie beurteilen Sie diese Aussage heute Abend in Ihrem
neuen Amt?
Herr Kollege Belle, wenn Sie es
mir nachsehen, will ich noch einen Satz vorweg loswerden. Ich beziehe mich auf das Jahr 1996.
({0})
Damals hatten wir eine Inflationsrate von 1,3 Prozent. Sie
haben den Beschäftigten im öffentlichen Dienst eine einmalige Zahlung von 300 DM zugestanden und somit auch
den Basiseffekt erheblich reduziert.
({1})
Sie sind meilenweit davon entfernt gewesen, das Tarifergebnis zu übertragen. Das war die Wirklichkeit Ihrer Politik.
({2})
Lieber Herr Kollege Belle, ich will jetzt auf Ihre Frage
eingehen. Wir haben uns - vielleicht im Gegensatz zu
Ihnen - in der Oppositionsrolle konstruktiv verhalten,
beispielsweise indem wir der Versorgungsrücklage zugestimmt haben. Sie wissen das. Hier gab es keinen politischen Streit. Man hätte aufgrund so mancher politischer
Effekthascherei im Grunde auch anders entscheiden können. Aber wir haben das, was wir in der Opposition
gemacht haben, fortgesetzt, und zwar unter dem Aspekt
der Glaubwürdigkeit. Ich finde, das ist gut so.
({3})
Dann will ich noch einen Punkt ansprechen. Wir haben
beispielsweise im Jahre 1999 einen Tarifabschluss von
3,1 Prozent bei einer Inflationsrate von 0,6 Prozent erzielt.
Wenn Ihr Innenminister das als Tarifergebnis nach Hause
gebracht hätte, dann hätten Sie ihm meilenweit einen
roten Teppich ausgerollt. Da bin ich ganz sicher. Man
kann Otto Schily für diese gute Verhandlung und dieses
Tarifergebnis nur dankbar sein.
({4})
Das Entscheidende ist, was die Menschen in den
Taschen haben. Das Jahr 1999 war in dieser Hinsicht ganz
entscheidend. Jetzt stehen wir vor der Frage: Was machen
wir in den nachfolgenden Jahren? Wir machen einen
Vorschlag, in dem wir die Jahre 1999 bis 2002 zusammenfassen und insgesamt eine Erhöhung von über
7,5 Prozent haben. Ich bin der Auffassung: Auf die Zeit
verteilt ist dies für die Beamtinnen und Beamten sowie die
Versorgungsempfänger ein stolzes Ergebnis. Das sollten
Sie einmal einräumen.
({5})
Sie wissen ganz genau: Es wäre vieles viel leichter zu
beschließen, wenn sich der Haushalt nicht in einem solch
schlechten Zustand befinden würde,
({6})
den Sie - das kann ich Ihnen leider nicht ersparen - zu verantworten haben.
({7})
Sie können nicht so tun, als ob man bestimmte Bereiche
aus der Konsolidierungspolitik herausnehmen kann.
({8})
Lieber Herr Stadler, mit dem jetzt vorliegenden Ergebnis haben wir nämlich von den Prozentzahlen her exakt
die Übernahme des Tarifergebnisses von 2 und 2,4 Prozent zum 1. Januar 2001 und zum 1. Januar 2002 mit einer
vier- bis fünfmonatigen Verschiebung. Das ist richtig.
Aber eine Verschiebung ist für die Beamtinnen und
Beamten allemal besser, als den Basiseffekt zu senken,
der dann in die Zukunft hineinwirkt.
({9})
Herr Staatssekretär,
gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Dr. Stadler?
Wir Innenpolitiker reden immer
gern miteinander, also ja.
Herr Dr. Stadler, bitte.
({0})
Herr Kollege Körper, würden Sie mir zustimmen, wenn ich feststelle, dass auch zu
dem Zeitpunkt, in dem Sie hier in diesem Hohen Hause
die vollständige und zeitgleiche Übernahme des Tarifergebnisses auf die Beamtenschaft gefordert haben, die
Haushaltslage ohnehin schon schwierig war und Sie dies
nicht davon abgehalten hat, damals die Forderung zu vertreten, von der Sie jetzt selber abrücken?
({0})
Ich habe Ihnen gesagt, dass wir
mit diesem Prozentergebnis die Übernahme des Tarifergebnisses erreicht haben. Ich habe das mit dem Basiseffekt erklärt. Lieber Kollege Stadler, in Anbetracht dieses
schwierigen Haushaltes war dies ein großartiger Erfolg.
Dieses Ergebnis entspricht auch der Leistungsbereitschaft
und der Arbeit unserer Beamtinnen und Beamten. Dafür
kann man nur dankbar sein.
({0})
Wie leichtfertig einige mit diesen Themen umgehen,
wird daraus ersichtlich, wie im Vorfeld dieser Tarifverhandlungen eine Angleichung Ost-West auf einen
Schlag gefordert worden ist, ohne letztendlich zu wissen
und zu erkennen, wie dies die öffentlichen Haushalte belasten würde. Das hätte für Länder und Bund auf einen
Schlag eine Mehrbelastung von 9 Milliarden DM gebracht, wobei der Bund den wesentlich geringeren Teil zu
tragen gehabt hätte. Aber, ich glaube, Herr Kollege Belle,
darin stimmen Sie mir zu: Es ist unseriös, so etwas einfach in den Raum zu stellen, ohne die Belastungen für den
Haushalt aufzuzeigen. Ich denke, das muss man auch immer wieder sehen.
Es war ein sehr guter Zeitpunkt, zu dem wir das Eckpunktepapier vorgelegt haben. Ich will gar nicht verhehlen: Es war für uns wichtig, wie sich die Renten zukünftig entwickeln werden. Wir können natürlich die
Rentenentwicklung nicht getrennt von der Versorgungsentwicklung sehen. Deswegen ist der Zeitpunkt günstig.
Herr Kollege Belle, Sie sagen, wir wären von Ihrem
Entschließungsantrag vorangetrieben worden - das klingt
ja immer ein bisschen nach Jagdgesellschaft. Ich denke,
wenn sich die Jagdgesellschaft so in Grenzen hält, dann
regieren wir noch lange weiter.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage
auf Drucksache 14/3772 zur federführenden Beratung an
den Innenausschuss und zur Mitberatung an den Finanzausschuss, den Haushaltsausschuss und den Verteidigungsausschuss zu überweisen. Der Gesetzentwurf auf
Drucksache 14/4134 soll ebenfalls an diese Ausschüsse
überwiesen werden. Gibt es dazu andere Vorschläge?
- Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang
Dehnel, Günter Nooke, Michael Stübgen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Uranerzbergbau-Schäden beseitigen
- Drucksache 14/3373 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Damit sind
Sie einverstanden. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Wolfgang Dehnel, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren Kollegen! Zu den erfolgreichsten Kapiteln des Aufbaus Ost nach der Wiedervereinigung
unseres deutschen Vaterlandes zähle ich die Sanierung der
Uranerzbergbau-Schäden in den betroffenen Regionen
Sachsens und Thüringens. Ich glaube, dass dieses Thema
morgen in der Debatte zu den zehn Jahren deutsche Einheit wahrscheinlich keine Erwähnung findet. Bei der jetzigen Regierungskoalition wundert mich das nicht; denn
von dieser hat sich auch zwei Jahre nach Regierungsantritt noch kein Minister vor Ort die Sanierungsaufgaben
und -erfolge angeschaut.
Ganz anders die Regierungsvertreter der damaligen Regierungsmannschaft unter Bundeskanzler Kohl.
({0})
- Richtig, das ist einen Beifall wert. - Ich erinnere mich
noch genau: Im Frühjahr 1991 waren wir als CDU-Abgeordnete zum ersten Mal von Bundeskanzler Dr. Helmut
Kohl eingeladen. Wir traten in den NATO-Saal im Bundeskanzleramt ein und waren überrascht, dass wir als ganz
junge, neue Abgeordnete überhaupt in das Kanzleramt
eingeladen worden sind. Dann konnten wir all unsere Probleme, die wir in den neuen Bundesländern hatten, vortragen.
({1})
Ich habe damals diese Wismut-Sanierung angesprochen. Unmittelbar hinterher wurde sie zur Chefsache
erklärt - und nicht nur erklärt: Es wurde eine Tatsache daraus.
({2})
Schon im Sommer 1991 war Bundesumweltminister
Töpfer in den Uranerzbergbau-Gebieten in Schlema im
Erzgebirge. Er hat sich dort ein Bild von den Schäden gemacht. Bereits im Herbst standen umfangreiche Mittel für
die Sanierung bereit.
Dieses Unternehmen, die Wismut GmbH, hatte als
Sowjetische Aktiengesellschaft von 1945 bis 1953 und
von 1954 bis 1991 als Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Wismut 1,5 Milliarden Tonnen Erz und Gestein
gefördert, um aus 200 Millionen Tonnen Erz 231 000 Tonnen Uran, das so genannte Yellow Cake, zu gewinnen.
Dieses wurde vor allem für die sowjetische Atomrüstung
gebraucht. 1954 waren bei der Wismut 120 000 Bergleute
beschäftigt, 1989 noch 42 000, denn zum Glück
hatte die Abrüstungspolitik auch in der DDR ihren
Niederschlag gefunden. Dies ist aber nur der klaren Haltung der damaligen Bundesregierung hinsichtlich des
Doppelnullbeschlusses zuzurechnen. Ich glaube, wir sollten uns wirklich daran erinnern.
({3})
Auch bei uns in der ehemaligen DDR, hinter Mauer
und Stacheldraht, haben wir das so empfunden, denn auch
in unserer Heimat standen SS-20-Raketen. Wir wussten,
dass uns genau dieser Doppelnullbeschluss letzten Endes
die Abrüstung gebracht hat.
({4})
Nach dem Stopp des Uranerzbergbaus bestand die Aufgabe, an den vier Wismut-Standorten Aue und Königstein
in Sachsen sowie Ronneburg und Seeligenstädt in Thüringen fast 3 700 Hektar Betriebsgelände, davon 50 Prozent
Halden, zu sanieren und 1 400 Kilometer horizontale
Grubenbaue zu verwahren. Bildlich gesehen ist das eine
Strecke wie die von Berlin nach Paris. Es war eine
gewaltige Herausforderung, vor der das nunmehrige
Bundesunternehmen Wismut GmbH und ihr Auftraggeber, die Bundesregierung, 1991 standen.
Trotz erheblicher Reduzierung der Arbeitskräfte von
circa 44 000 auf gegenwärtig 3 150 gehört die Wismut
nach wie vor zu den größten Arbeitgebern der Bergbauregion, die zusätzlich an fast 1 000 Fremdfirmen Aufträge
vergibt. Für die Sanierungskonzepte waren rund 3 000
Genehmigungsanträge bei den zuständigen Behörden
eingebracht worden. Auch diese wurden zügig bearbeitet.
Allen diesen Mitarbeitern sollten wir heute aus diesem
Hause einmal für die hervorragende Arbeit und die Ergebnisse, die bereits erbracht wurden, ein herzliches
Dankeschön sagen.
({5})
Das sichtbarste Zeichen dieser Heilung von Wunden in
der Umwelt und der Wunden in den Seelen von Menschen
ist das Wiedererstehen des Kurbades Schlema, welches
förmlich in den Abraumhalden versunken war. Dieser Ort
war vor und unmittelbar nach der Wende ein Symbol für
den Verfall und hatte den Namen „Tal des Todes“ in den
entsprechenden Medien. Heute schreiben sie anders.
Heute schreiben sie: „Die Wismut-Wunden werden
geschlossen“, „Größtes Geheimnis der DDR nun eine
Expo-Attraktion - Kleine Schwester mit grüner Zukunft“,
„Wismut GmbH sanierte Haldenkomplex zwischen Alberoda und Schlema - circa vier Jahre Bauzeit“ und „Aus
Schlema wird ein weltweites Expo-Projekt“.
({6})
Das ist doch eine ganz andere Entwicklung. Wir sind in
unserer Region auch froh, dass diese Negativ-Berichterstattung endlich aufgehört hat.
Heute kann man von der so genannten Herzoghöhe,
nach dem ehemaligen Bundespräsidenten benannt, oder
vom „Biedenkopfblick“
({7})
hinunter auf eine Kurlandschaft schauen, über die selbst
die Curies, die bei uns das Radium für ihre Versuche geholt haben, staunen würden.
Meine Damen und Herren, dieses von Einheimischen
und Besuchern oft als „Wunder der Einheit“ bezeichnete
Erscheinungsbild der Sanierung wurde durch das Bereitstellen von 13 Milliarden DM aus Haushaltsmitteln der alten Bundesregierung über eine Laufzeit von circa
15 Jahren ermöglicht. Wohlweislich hatte die CDU/CSUFraktion dies 1998 noch in ein Gesetz zur Absicherung
einbringen lassen. Damit waren natürlich auch keine
großen Kürzungen mehr möglich.
Ich bin der heutigen Bundesregierung durchaus
dankbar, dass sie nur geringe Kürzungen bei diesem
Sanierungsauftrag vorsieht. Ich würde mich freuen, wenn
das weiterhin so bliebe, auch wenn sich Minister Müller
und Minister Trittin bei bestimmten Terminen vor Ort immer wieder haben entschuldigen lassen. Auch bei
Empfängen waren sie nicht da. Sie haben uns zwar eingeladen, aber sind nie vor Ort erschienen.
Zur Erinnerung muss man natürlich auch sagen, dass
Frau Merkel als damalige Bundesumweltministerin
mehrfach vor Ort war und dort mit Sachkunde geglänzt
und keine Show abgezogen hat, wie das jetzt der Bundeskanzler bei seiner Reise durch die neuen Bundesländer
vorgemacht hat. Es war damals ganz anders, damals war
Sachkunde gefragt und keine Show.
({8})
- Das war auch Chefsache, und zwar echte Chefsache.
Es war richtig, die bisher getätigten Sanierungen so
zügig und konsequent anzupacken und mit hoher Priorität
durchzuführen. Ein Großteil der Aufgaben ist schon bewältigt. Dies kann man aber leider nicht von den Schäden
des Uranerz-Abbaus sagen, die so genannte Altstandorte
sind. Diese befanden sich 1991 nicht im Eigentum des
Bundes. Das geht aus einem Abkommen zwischen der
DDR und der Sowjetunion von 1962 sowie dem Wismutgesetz von 1991 hervor, welches rein rechtlich nur auf
diesem basieren konnte.
Demnach sind - auch nach gerichtlichen Entscheidungen - die Kommunen und Länder für die Sanierung verantwortlich. Da aber die damalige DDR mit Sanierung
nichts im Sinn hatte und der Bergbau als Raubbau betrieben wurde, sind jetzt die Regionen und Kommunen
einfach überfordert. Davon ist besonders Johanngeorgenstadt betroffen. Diese Stadt im Erzgebirge ist von
diesen Hinterlassenschaften stark belastet; dort stieg die
Anzahl der Bewohner von circa 8 000 im Jahre 1946 auf
sage und schreibe 40 000 im Jahre 1953, von denen die
meisten Flüchtlinge aus Sudetendeutschland und Schlesien waren, die Arbeit und Wohnung suchten. Viele wurden auch zugewiesen und auch zum Bergbau verpflichtet,
ohne je diesen Beruf erlernt zu haben. Das Gute war: Sie
hatten dadurch auch Wohnung und Brot. Die Wismut hat
somit nicht nur Schlechtes gemacht.
Die Altstadt wurde bis auf wenige Häuser und die
Kirche - wegen der Proteste vom 17. Juni 1953 - zugunsten des Bergbaus zwangsgeräumt und abgerissen, Wohnungsbauten im so genannten Sibirienstil sind entstanden
und das urbane Umfeld wurde zerstört. Heute hat Johanngeorgenstadt wieder seine Einwohnerzahl wie vor
50 Jahren. Das hinterließ bzw. hinterlässt sehr tiefe
Spuren. Die so genannten Sibirienbauten stehen leer und
sind - ähnlich den verlassenen Standorten des Kohleabbaus in Nordrhein-Westfalen - verkommen. In Nordrhein-Westfalen gab es aber gewaltige Strukturhilfen. Das
wünschen wir uns natürlich jetzt auch für Johanngeorgenstadt. Die Bürger von Johanngeorgenstadt, die Verantwortungsträger in Kommune und Land und auch die Mandatsträger in Bund und Land haben bisher viel getan, um
diese Last zu schultern. Erste Erfolge sind schon zu sehen:
Die Sanierung des Bahnhofs, der Straßen und der Häuser
kommt voran.
Der Antrag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion möchte
nun bewirken, dass sich Bund und Länder sozusagen
gemeinsam in das Rettungsfahrzeug begeben. Sie sollen
gemeinsam bei der Sanierung der Altstandorte der Uranbergbau-Gebiete in den benachteiligten Regionen einen
Großteil der unverschuldeten Lasten des schweren Rucksackes der Vergangenheit tragen und erleichtern helfen.
Erste Gespräche hat es ja schon zwischen der Bundesregierung - wo ist deren Vertreter jetzt hin?
Er sitzt im Augenblick bei der SPD-Fraktion. Er hört aber ganz genau zu.
- und der sächsischen Landesregierung gegeben. Dies sollte auch weiterhin über Parteigrenzen hinweg möglich sein. Ich fordere
auch die rot-grünen Koalitionsfraktionen auf: Machen Sie
bei unserem Antrag mit, unterstützen Sie uns, ich lade Sie
im Namen meiner Fraktion dazu ein.
Leider ist bei der Behandlung dieses Themas - wenn
ich es richtig sehe - Staatsminister Schwanitz wieder einmal nicht da. Die Problematik betrifft auch die Region,
aus der er kommt.
({0})
Es ist offensichtlich: Bei Wirtschaftsdebatten ist er
nicht da und auch bei dieser Debatte nicht. Dafür ist aber
Staatssekretär Mosdorf anwesend. Ich bin überzeugt davon, dass er, wenn er spricht, irgendwelche Maßnahmemittel ankündigen wird. Wenn das so ist, hat unser Antrag
etwas bewirkt und ich glaube, dann sind die Bürger in
meiner Heimat und ich sehr zufrieden.
Danke schön.
({1})
Jetzt hat der Kollege
Werner Labsch, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Die Sanierung der Bergbaufolgeschäden in den Uranerzbergbauregionen sowie in
den mittel- und ostdeutschen Braunkohlerevieren war
nach der Wende erstens aus bergrechtlichen Gründen
zwingend erforderlich, zweitens aus ökologischen Gründen notwendig und drittens aus arbeitsmarktpolitischen
Gründen wegen des Niedergangs der Industrie in diesen
Regionen hilfreich. Diese Sanierung ist auch weiterhin erforderlich. So weit die Vorgeschichte dazu.
({0})
- Der Politik insgesamt und der IG BCE ist hohe Anerkennung geschuldet, nicht aber in erster Linie Herrn Kohl.
({1})
Sie haben doch diese Mega-Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in Ostdeutschland eingeleitet.
Nun zu Ihrem Antrag: Ich erlaube mir, die Frage zu
stellen, was Sie mit diesem Antrag eigentlich erreichen
wollen. Herr Dehnel hat übrigens auch nichts dazu beigetragen, dass ich es begriffen hätte.
({2})
Dass die Sanierung der großflächig radioaktiv verseuchten Wismut-Altlasten eine der großen ökologischen Herausforderungen für Deutschland war, das wissen wir hier alle. Das müssen Sie uns nicht noch einmal
sagen. Dass sich die Sanierungstätigkeit jetzt bereits fast
zehn Jahre hinzieht und dabei große ökologische Erfolge
zu verzeichnen sind, das wissen wir auch alle. Dass dazu
eine Menge Geld notwendig war, wissen wir auch alle.
({3})
- Ich sprach von „wir“, nicht nur von mir.
Ich unterstelle vor allen Dingen Ihnen, Herr Dehnel
- die anderen Kollegen sind davon gar nicht so betroffen -, dass Sie mit Ihrem Antrag bei den Menschen in der
Region, um die es geht, den Eindruck erwecken wollen,
dass Sie die rot-grüne Koalition vor sich her treiben müssen, damit wir begreifen, was dort noch zu tun sei. Wir
wissen das aber.
({4})
Als Robin Hood waren Sie hier zu schwach, Herr Dehnel,
aber als Fensterredner haben Sie eine gute Figur abgegeben.
({5})
Meine Damen und Herren, Sie wissen genau wie wir,
dass nach den erarbeiteten Sanierungskonzepten, die laufend fortgeschrieben werden, gearbeitet wird und dass
dies bereits zu erheblichen Erfolgen geführt hat.
({6})
In Kenntnis des bisherigen Sanierungsfortschritts sowie der Tatsache, dass die Sanierung noch nicht beendet
sein kann, hat sich das BMWi mit Nachsorge- und Langzeitaspekten der Sanierung und mit der Zukunft des Unternehmens Wismut GmbH befasst. Nachsorge- und
Langzeitaufgaben beinhalten sowohl die Wasserbehandlung, die Pflege und Bewirtschaftung von sanierten
Flächen, die Umweltüberwachung und die bergmännische Nachsorge als auch Regelungen zur Abfederung von
sozialen Lasten, Arbeitsplatzgarantien und die Bewertung
des Vermögens.
Die bisher vom Bund zuletzt im April dieses Jahres geführten zwei Gespräche mit den Freistaaten Sachsen und
Thüringen fanden im Hinblick auf eine mögliche vertragliche Regelung statt und werden Ende des Jahres fortgeführt.
({7})
Ein vom Bund in Auftrag gegebenes Gutachten ist den
Ländern Thüringen und Sachsen am 21. August zugestellt
worden. Eine Stellungnahme dieser Länder liegt bis heute
noch nicht vor. Ich stelle das nur fest und will das gar nicht
bewerten.
Unter Berücksichtigung der Bedeutung der Wismut GmbH als Wirtschaftsfaktor und Arbeitgeber für
diese Region - die Firma hat derzeit noch etwa 3 000 Mitarbeiter - sieht der Bund für das Jahr 2010 die Übertragung der Wismut GmbH an die Länder vor. Hier liegt die
Zukunft der Wismut GmbH und der Menschen in der Region - dazu hätten Sie einmal etwas sagen sollen -, und
zwar gerade wegen der Erfolge, wegen des angearbeiteten und erworbenen Know-hows.
({8})
- Genau das. Das habe ich vermisst; dazu haben Sie überhaupt kein Wort gesagt.
({9})
Aus diesem Grunde verdienen die Wismut-Consulting
und die Menschen größte Aufmerksamkeit. Die werden
sie von uns auch erfahren, nicht zuletzt deshalb, weil aus
diesem Know-how und der Erfahrenheit dieser Menschen
nunmehr Kapital und Arbeit erwachsen können.
Sie wissen, dass vor allen Dingen in den mittel- und
osteuropäischen Staaten die EU bereits Mittel für erste
Aufgaben zur Verfügung gestellt hat, in Bulgarien über
eine PHARE-Förderung und in Polen und Tschechien mit
der Inaussichtstellung von Aufträgen. Hier wird das Unternehmen Wismut-Consult sein konzentriertes Wissen
und seine Erfahrung einbringen und damit wird für die
Region das ermöglicht, wofür jahrelang schließlich auch
Geld ausgegeben wurde.
({10})
- Ich weiß ja gar nicht, wo ich zustimmen soll.
({11})
Deutschland war weltweit in der Bergbautechnik und
-technologie Marktführer und hat jetzt die Chance, dies
auch in der Bergbausanierung zu sein.
Erlauben Sie noch ein paar Bemerkungen zum Sonderfall Johanngeorgenstadt.
({12})
Herr Kollege, Sie haben die Redezeit überschritten.
Einen kleinen Moment noch.
Dieser Ort ist einer der am schwersten betroffenen. Sie
haben Recht, Herr Dehnel.
({0})
Mir sind aber verschiedene politische Initiativen bekannt.
Unter anderem gibt es noch einen Antrag Ihrer Fraktion
zur Beteiligung des Bundes an der schnellen Sanierung.
({1})
Jedoch nicht die Kostenbeteiligung des Bundes ist hier die
entscheidende Frage. Fakt ist - das haben Sie vergessen
zu sagen -, dass die laufenden Genehmigungsverfahren
für diese Sanierungsmaßnahmen frühestens Ende 2001
einen Beginn der Maßnahmen zulassen werden. Also können wir darüber weiter reden.
Herr Kollege, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
({0})
Um Gottes willen, zu Ihrem
Antrag, zu dieser Fensterrede: Nein! Herr Dehnel, auch
Sie haben nichts dazu zu melden. Das, was Sie uns gesagt
haben, wissen wir alle seit Jahren.
({0})
- Sie haben keinen Antrag gestellt.
({1})
Die Bürgermeister der Orte um Johanngeorgenstadt
haben ein Grobkonzept erarbeitet. Hätten Sie das
vorgestellt, dann hätten wir vielleicht darüber abstimmen
können.
({2})
- Dem Antrag ist überhaupt nicht zuzustimmen. Das ist
heiße Luft.
({3})
Jetzt hat das Wort die
Kollegin Birgit Homburger, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Zum Bergbaukonzern Wismut ist eine Menge gesagt worden. Ich habe nicht allzu
viel Zeit; deswegen will ich die ganzen Daten nicht
wiederholen.
Nur so viel: Der Bergbaukonzern schürfte Uran zur
Lieferung an die Sowjetunion und war zu DDR-Zeiten
das größte Unternehmen Sachsens. Nach der Wiedervereinigung wurde der Uranbergbau eingestellt. Die Sowjetunion übertrug ihren Anteil an der Wismut auf die Bundesrepublik Deutschland, die sich damit verpflichtete, für
die Sanierung der schwer geschädigten Umwelt nunmehr
allein zuständig aufzukommen. Für Altlasten, die seit
1963 entstanden sind, besteht deshalb auch eine Sanierungsverpflichtung der Wismut GmbH als Unternehmen
des Bundes.
Jetzt ist das Problem aber, Herr Labsch: Offen ist, wer
für die Sanierung der Altlasten gerade steht, die vor 1963
entstanden sind, für die so genannten Wismut-Altstandorte. Um deren Sanierung geht es nämlich im vorliegenden Antrag. Deswegen ist es vollkommen berechtigt,
dass man darüber spricht.
({0})
Wie wir wissen, gibt es eine klare föderale Aufgabenteilung zwischen dem Bund und den Ländern. Der
grundsätzliche Befund ist deshalb klar: Trotz der berechtigten Interessen der Erzgebirgsregion - betroffen ist vor
allem die Gegend um Johanngeorgenstadt - handelt es
sich eindeutig um eine Aufgabe des Landes Sachsen.
Trotz dieser grundsätzlichen Feststellung steht die F.D.P.
der Überlegung, dass sich der Bund an der Beseitigung
der durch den Uranerzbergbau verursachten Entwicklungsnachteile der dortigen Region beteiligen soll, aufgeschlossen gegenüber, und zwar deswegen, weil Land und
Kommune mit den finanziellen Lasten, die für die Sanierung notwendig sind, überfordert wären.
({1})
Dabei darf natürlich - darauf ist völlig zu Recht hingewiesen worden - nicht vergessen werden, dass das bei der
Sanierung gewonnene Know-how ein Gewinn bringender
Exportartikel ist, von dem die Region auch weiterhin
profitiert. Uranerzbergbau wurde und wird in vielen Ländern der Welt betrieben. Insbesondere in Osteuropa und in
den GUS-Staaten wurden gleiche oder ähnliche Technologien angewandt wie im östlichen Teil Deutschlands, mit
vergleichbaren Auswirkungen auf die Umwelt.
({2})
Die Tochterfirma Wismut-Consult hat deswegen im
Auftrag der EU-Kommission und privater Investoren in
den letzten Jahren eine Reihe von Projekten bearbeitet,
bei denen es um die Ausarbeitung von Sanierungslösungen für Uranerzbergbaustandorte in diesen Ländern sowie
um den Transfer von Know-how ging.
Maßgeblich für ein Engagement des Bundes sollte allerdings die besondere Bedeutung einer Sanierung der
Altlasten im Zusammenhang mit der deutschen Einheit
sein. Der Grundsatz, dass die Erfüllung regionaler Aufgaben in den Zuständigkeitsbereich der Länder gehört, muss
trotzdem nicht aufgegeben werden. Es wäre beispielsweise überlegenswert, die Geschäftsanteile an der Wismut GmbH auf Sachsen und gegebenenfalls auf weitere
Länder zu übertragen. Als Gegenleistung für eine solche
Verantwortungsübernahme durch die Länder müsste dann
jedoch auch eine angemessene Beteiligung des Bundes an
der Sanierung der Wismut-Altstandorte in ausreichender
finanzieller Dimension gewährleistet sein.
({3})
Dabei sollten wir - zuständig ist ja der Umweltminister;
er ist federführend - vor allen Dingen auch darauf achten,
dass das hohe Niveau der ökologischen Sanierungsziele
unbedingt aufrechterhalten wird.
Ich finde es bemerkenswert, dass kein Vertreter der
Bundesregierung zu diesem Tagesordnungspunkt redet.
({4})
- Wenn die Bundesregierung handeln würde, dann müsste
sie in der Tat hier nichts erklären.
Wie gesagt, ich finde es bemerkenswert, dass die Bundesregierung zu diesem Tagesordnungspunkt keine Stellung bezieht. Ich fordere Sie auf, dem Bundestag Ihre
Überlegungen zu diesem Sachverhalt darzulegen und uns
auch mitzuteilen, ob es Schätzungen über die mit einer Sanierung verbundenen Kosten gibt. Wir sollten alle miteinander ein Gespräch führen und zu einer Unterstützung
der Region rund um Johanngeorgenstadt kommen.
({5})
Das Wort hat nun die
Kollegin Michaele Hustedt, Bündnis 90/Die Grünen.
Verehrte Präsidentin! Guten Abend, meine Damen und
Herren! Auch in Deutschland kann man die Folgen
von Uranerzbergbau - es sind auch die Folgen des
Betreibens von Atomkraftwerken - besichtigen, nämlich
anhand der Hinterlassenschaft von 40 Jahren Uranbergbau in der Nähe von Gera. Es ist eine verwüstete, verstrahlte und zerstörte Landschaft mit 240 Meter tiefen
Löchern und mit 100 Meter hohen Abraumhalden.
({0})
Nicht anders sieht es - auch das muss man in Erinnerung rufen - übrigens überall dort aus, wo auch heute
noch Uran abgebaut wird, um deutsche Atomkraftwerke
zu betreiben. Dabei ist nicht nur die regionale
Umweltzerstörung vor Ort problematisch; vielmehr ist es
auch problematisch, dass große Mengen strahlenden Materials an die Erdoberfläche geholt werden und dort im
Abraum liegen gelassen werden. In den Halden befinden
sich alle möglichen Schwermetalle, Gifte und strahlende
Stoffe wie Nickel, Arsen, Sulfide, Sulfate und auch Radon.
({1})
- Herr Kollege, wenn alles saniert wäre, dann müssten wir
hier nicht mehr darüber sprechen.
({2})
Es gibt nach wie vor eine Gefährdung vor Ort - deswegen ist die Sanierung notwendig -, und zwar nicht nur
für denjenigen, der sich auf den Halden aufhält; vielmehr
besteht nach wie vor die Möglichkeit, dass kontaminierter Schwebestaub durch Winde in die Umgebung geweht
wird und dass dadurch die Felder mit Schwermetallen radioaktiv belastet werden.
({3})
Deswegen ist eine Sanierung - völlig richtig - absolut
notwendig.
({4})
Die Sanierung ist in vollem Gange. Sie wurde unter anderem von der alten Bundesregierung in Gang gesetzt.
Zurzeit sind 19 Prozent der Flächen der Wismut GmbH
saniert. Allerdings ist die Sanierung des Untertagebaus
schon wesentlich vorangeschritten. Von den 13 Milliarden DM, die dafür bereitgestellt wurden, sind mittlerweile
6,6 Milliarden DM abgeflossen. Es sind also in der Tat erhebliche Fortschritte zu verzeichnen. Man muss auch sagen, dass die Umweltbelastung und die Belastung der
Menschen in dieser Region aufgrund dieser Fortschritte
eindeutig zurückgegangen ist.
({5})
- Warten Sie ab, ich komme schon dazu.
Offen ist aber noch die Frage, wie mit den Altstandorten umgegangen werden muss, die überwiegend bereits
vor 1962 stillgelegt wurden. Die Zuständigkeit liegt bei
den Ländern und bei den Kommunen. Dadurch, dass die
Flächen bis heute nicht saniert worden sind, sind große
Probleme in der Regionalentwicklung entstanden; denn
aus den unsanierten Uranhalden kann man keine Gewerbe-, Naherholungs- oder Naturschutzgebiete machen.
({6})
Der Bund wird seinen Anteil zur Sanierung beitragen.
Wir stehen zu unserer Verantwortung in dieser Frage. Zurzeit finden zwar Gespräche mit den Ländern statt, allerdings ohne Ergebnis, weil die Länder Sachsen und
Thüringen teilweise eine unterschiedliche Position einnehmen.
({7})
Ihr Antrag ist aber absolut scheinheilig. Ich möchte Sie
an dieser Stelle daran erinnern, dass die von Ihnen getragene frühere Bundesregierung die Frage der Sanierungspflicht der Wismut-Altstandorte - es geht um die Rolle,
die die Bundesregierung dabei gespielt hat - kategorisch
verneint hat. Der Bund wollte dafür keinen einzigen Pfennig in die Hand nehmen.
({8})
Mit dem von Ihnen eingebrachten Antrag handeln Sie
nach dem guten alten Adenauer-Prinzip: Was kümmert
mich mein Geschwätz von gestern.
({9})
Im Gegensatz zu Ihnen hat die Bundesregierung das
Problem begriffen. Jetzt laufen die Gespräche. Ich denke,
wir werden sehr bald eine Lösung finden, durch die gemeinsam mit den Ländern Sachsen und Thüringen die
Sanierung der Altstandorte in Angriff genommen wird.
({10})
Anstatt hier so scheinheilige Anträge zu stellen - in
der Regierungsverantwortung haben Sie nichts dafür getan! -, sollten Sie sich als glühende Verfechter der Atomkraft für die Schäden verantwortlich fühlen, die beim Abbau von Uran entstehen, das man benötigt, um in
Deutschland Atomkraftwerke zu betreiben.
({11})
In anderen Ländern, in denen man meistens weniger verantwortlich als in Deutschland vorgeht, wird aufgrund der
Tatsache, dass wir Atomkraftwerke betreiben, Uran abgebaut, mit all den Konsequenzen, die das für die Menschen
in diesen Ländern hat.
({12})
Sie weinen hier Krokodilstränen über den Uranerzbergbau in der ehemaligen DDR,
({13})
um dessen Zustand Sie sich zu Ihrer Regierungszeit nicht
gekümmert haben. Wie gesagt, das nenne ich scheinheilig.
Die Bundesregierung wird sich zusammen mit den
Ländern Sachsen und Thüringen - davon bin ich überzeugt - auch um dieses Problem verantwortungsbewusst
kümmern. Sie sollten lieber die Verantwortung für diejenigen Schäden übernehmen, die in anderen Ländern
durch das Betreiben von deutschen AKWs entstehen.
Danke.
({14})
Jetzt hat der Kollege
Gerhard Jüttemann, PDS-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Namens der PDS-Fraktion möchte
ich den Damen und Herren von der CDU/CSU-Fraktion
zu diesem Antrag aufrichtig gratulieren. Wir unterstützen
ihn vorbehaltlos.
({0})
Sie wissen genau, warum: Vor vier Jahren und drei Monaten haben wir einen gleichartigen Antrag eingebracht.
Damals haben Sie von einer Behandlung nichts wissen
wollen.
({1})
Damals wäre es ein Leichtes gewesen, mit den CDU-regierten Ländern Thüringen und Sachsen eine Einigung zu
erzielen. Was Sie jetzt machen, ist Augenwischerei und
Scheinheiligkeit. Das glaubt Ihnen kein Wähler in Ihrer
Region.
({2})
Die von Ihnen damals getragene Regierung trägt die
Verantwortung dafür, dass die Wismut bis heute bei der
Sanierung kontaminierte Flächen von teilweise wenigen
Quadratkilometern ausklammern muss, weil sie 1962 den
Kommunen übereignet worden waren. Das ist keine Sanierung. Sanieren können Sie nur großflächig und im
Ganzen; sonst sind zukünftige Katastrophen programmiert.
Bei den hier in Rede stehenden, den Kommunen 1962
rückübertragenen und bis heute unsanierten Gebieten
handelt es sich insgesamt um eine Größenordnung von
etwa 1 400 Quadratkilometern. Schätzungen über den Bedarf an finanziellen Mitteln für die Sanierung schwanken
zwischen 750 Millionen und 2 Milliarden DM. Die Kommunen als Eigentümer sind damit natürlich völlig überfordert. Allein in Thüringen haben die Kommunen nächstes Jahr 215 Millionen DM weniger in den Kassen als
noch in diesem Jahr. Da der Bund sich nicht für zuständig
hält, passiert seit zehn Jahren so gut wie nichts, acht Jahre
davon unter der politischen Verantwortung des Antragstellers, der CDU/CSU.
({3})
Leider wird jede weitere Verzögerung aber nicht nur
teuer, was schon schlimm genug wäre. Sie führt gleichzeitig, wie schon in den vergangenen Jahren, in den betroffenen Gegenden zu einem weiteren Abbau Ost.
Natürlich siedeln sich da keine Firmen an. Vorhandene
Firmen verschwinden. Die Bevölkerung zieht weg. Die
Sanierung könnte diesen katastrophalen Prozess mit einem Schlag umkehren. Man würde eine größere Zahl von
zusätzlichen Arbeitsplätzen schaffen und die Gebiete für
Unternehmen und Bevölkerung wieder attraktiv machen.
Nach Lage der Dinge sollte man eigentlich optimistisch sein, dass jetzt von der Regierung die richtige
Richtung eingeschlagen wird. Immerhin haben SPD und
Grüne in vergangenen Oppositionszeiten immer gefordert, was die CDU/CSU als Regierungspartei stets verhindert,
({4})
aber nun plötzlich eingeklagt hat: nämlich den Sanierungsauftrag der Wismut GmbH auf die den Kommunen
zurückgegebenen Flächen auszuweiten. Leider ist es jedoch im Bundestag nicht nur in dieser Frage, sondern
recht oft üblich, das, was man als Opposition fordert, in
der Regierungsverantwortung schnellstens zu vergessen.
So werden ja auch die allgemeinen Mittel für die WismutSanierung von der Regierung Jahr für Jahr gekürzt, obwohl die SPD als Oppositionspartei zu Recht ständig die
Erhöhung dieser Mittel gefordert hat.
Deshalb appelliere ich an Sie: Handeln Sie heute. Finden Sie eine Finanzierungsregelung für die Sanierung der
alten Wismut-Flächen in Sachsen und Thüringen. Werten
Sie damit die mit 13 Milliarden DM finanzierte WismutSanierung zu einer tatsächlichen Rekultivierung der ganzen Region auf. Warten Sie nicht, bis Schäden eingetreten
sind, die später überhaupt nicht mehr repariert werden
können.
({5})
Machen Sie es nicht wie bei den Rentenregelungen für
ostdeutsche Bergleute, auch für diejenigen der Wismut.
Viele von ihnen sind heute stark benachteiligt, weil der
Bundestag den Ausschluss solcher Benachteiligungen
nicht ernst genug genommen hat. Ich erwähne das in diesem Zusammenhang nur, weil ich die Hoffnung nicht aufgeben werde, dass auch in diesem Punkt noch eine
nachträgliche Gerechtigkeit erreicht werden kann.
Herr Kollege, Ihre
Redezeit ist weit überschritten.
Ich komme zum Schluss,
Frau Präsidentin. - Für die Sanierung der alten WismutFlächen gilt immer noch, was schon 1990 galt: Zum
sofortigen Handeln in dieser Sache gibt es keine vernünftige und verantwortbare Alternative. Die CDU/CSU hat es
nun endlich begriffen. Jetzt hoffen wir auf die Koalition.
({0})
- Ich war, behaupte ich, mehr bei der Wismut als Sie, Herr
Kollege Dehnel. Ich würde Ihnen raten: Kommen Sie einmal in meine Region, dann sehen Sie, was Sie verbrochen
haben. Die Schäden sollten Sie einmal reparieren!
Vielen Dank.
({1})
Jetzt hat das Wort die
Kollegin Jelena Hoffmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als ich den Antrag
der CDU/CSU-Fraktion zur Beseitigung der Uranerzbergbau-Schäden gelesen habe, war mein erster Gedanke:
Eigentlich haben wir es nicht nötig, uns von der Opposition belehren zu lassen.
({0})
Oder sind Sie, Herr Dehnel, erst jetzt aufgewacht? Warum
haben Sie Ihre Forderungen nicht an Ihre damalige Regierung gestellt?
({1})
Da haben Sie ein Stückchen von der Entwicklung in
Ihrem eigenen Wahlkreis verschlafen und verpasst.
Zuerst kann ich unsere Einigkeit darin feststellen, dass
es einen Sanierungsbedarf der Altstandorte des Uranbergbaus gibt. Das sind die Flächen, die vor 1962 stillgelegt worden sind und nicht vom Wismut-Vertrag 1991 erfasst sind. Hier besteht natürlich Handlungsbedarf.
Darüber brauchen wir auch nicht zu streiten.
Zweitens dürfte auch klar sein, dass die Wismut GmbH
in Chemnitz am besten geeignet ist, solche Aufgaben zu
übernehmen. Durch die langjährige Erfahrung besitzt sie
heute ein hervorragendes Know-how auf Weltniveau und
ist darüber hinaus eine wichtige Stütze der Region. Das
wissen Sie auch.
({2})
Aufträge im Wert von über 250 Millionen DM werden jedes Jahr von der Wismut GmbH vergeben. Diese bleiben
zum größten Teil in der Region. Damit ist die Wismut
auch ein ganz wichtiger Pfeiler auf dem Arbeitsmarkt.
Mein Kollege Labsch hat schon darauf hingewiesen, dass
über 3 000 Mitarbeiter bei der Wismut unter Vertrag sind.
Dazu kommen über 300 Azubis. Gerade in diesem Jahr
sind noch 100 neue Azubis eingestellt worden.
Über die Problemlage und den Handlungsbedarf sind
wir uns also einig.
({3})
Die Streitfrage ist allein, wer das alles finanzieren soll.
Die Länder sagen, gutachterlich bestätigt: Dafür ist ganz
klar der Bund zuständig. - Der Bund sagt, auch gutachterlich bestätigt: Das ist ganz klar Sache der Länder.
({4})
Was haben Sie, meine lieben Kollegen von der Opposition, in Ihren langen Regierungsjahren zur Lösung dieser
Frage beigetragen?
({5})
Sie haben das Problem meiner Meinung nach schlicht und
einfach ausgesessen und sich mit einem der größten Investitionsrisiken der Region abgefunden.
({6})
Zahlreiche Petitionen und Schreiben an die damalige
Regierung haben Sie nicht bewogen, sich einmal mit dem
Problem der Menschen, die dort arbeiten, leben und wohnen bleiben wollen, auseinander zu setzen.
({7})
Unsere Bundesregierung hat dagegen diese Frage aufgegriffen. Wir führen bereits Gespräche mit den Ländern. Es
ist gut, dass Sie endlich über diese Fragen diskutieren
wollen, aber wir handeln doch schon, meine Damen und
Herren.
Sie wissen doch, dass die eigentlichen Probleme ganz
woanders liegen. Ich wundere mich, dass ausgerechnet
Sie von der CDU Ihre Finger in diese Wunde legen.
({8})
Der überwiegende Teil der Altstandorte liegt in Sachsen,
einige auch in Thüringen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dehnel?
Ja.
Frau Kollegin
Hoffmann, ist Ihnen bekannt, dass eine Untersuchungskommission eines Dresdner Institutes mehrere Jahre vor
Ort gearbeitet hat, um die Altlasten an diesen Altstandorten zu untersuchen, und erst jetzt im Frühjahr einen Bericht vorgelegt hat, auf dessen Basis ich diesen Antrag erarbeitet habe, den ich Ihnen gemeinsam mit meiner
Fraktion vorgelegt habe, damit endlich etwas getan werden kann? Vorher wäre das gar nicht möglich gewesen, da
die Schäden nicht wissenschaftlich belegt waren.
Ja, das ist mir
bekannt. Ich habe mich sogar mit den Resultaten dieses
Berichtes auseinander gesetzt. Die Frage ist, warum das
jetzt erst passiert. Über die Gebiete in Ronneburg haben
wir schon vor vier bis fünf Jahren diskutiert; dort ist die
eine Seite des Baches Sanierungsgebiet, die andere Seite
des Baches aber nicht, da diese Fläche vor 1962 stillgelegt
wurde.
({0})
Jetzt möchte ich fortfahren: Schlema und Johanngeorgenstadt sind zwei Orte in Sachsen, die nicht weit
auseinander liegen. Schlema, von der Wismut saniert, ist
wieder zu einem schönem Kur- und Badeort geworden.
Dagegen ist aber der Sonderfall Johanngeorgenstadt nach
wie vor ungelöst. Hier gerät die Regierung in Sachsen,
wie ich meine, zu Recht unter Druck, denn das Verständnis der ansässigen Bevölkerung dafür, dass bis jetzt
nichts gemacht worden ist, Investoren die Region verlassen und junge Menschen weggehen, ist doch sehr strapaziert. Unsere Regierung war bereit, Johanngeorgenstadt
aus den Verhandlungen zwischen Bund und Ländern herauszunehmen und als Sonderfall zu betrachten. Sachsen
hat das aber abgelehnt.
Noch mehr: Die letzte Runde der Bund-Länder-Verhandlungen hat Sachsen abgesagt. Wissen Sie, warum? Weil der Freistaat Sachsen seine Hausaufgaben nicht erledigt hatte. Es wurden bis jetzt keine vollständige Auflistung der Sanierungsgebiete auf den Tisch gelegt und
noch nicht die anfallenden Kosten ermittelt.
({1})
- Ich habe heute mit Sachsen telefoniert.
({2})
Ich kann ja verstehen, dass die CDU-Regierung in Sachsen den finanziellen Bedarf genau abschätzen muss, aber
damit beschäftigt sie sich jetzt nach Ansicht der Bevölkerung in diesem Gebiete schon zu lange. Ich vermute fast,
Ihren Parteifreunden in Sachsen, die nicht auf bequemen
Oppositionsbänken wie Sie hier sitzen, brennt die ganze
Sache nicht so recht unter den Nägeln, sonst würden sie
doch jetzt handeln.
Liebe Kollegen von der Opposition, ich kann Ihnen nur
empfehlen: Verschwenden Sie Ihre Energie nicht damit,
unnötige Anträge zu schreiben. Machen Sie besser bei
Ihren Parteileuten in Sachsen und vielleicht auch in
Thüringen Druck, damit wir in der Sache endlich vorankommen!
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/3373 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung abweichend von der Tagesordnung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie liegen soll. Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit
({0}) zu der Unterrichtung durch die
Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates zur 22. Änderung der
Richtlinie 76/769/EWG zur Angleichung der
Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für Beschränkungen des Inverkehrsbringens und der Verwendung gewisser
gefährlicher Stoffe und Zubereitungen ({1}) sowie zur Änderung der Richtlinie
88/378/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Sicherheit von Spielzeug
- Drucksachen 14/2747 Nr. 2.32, 14/3710 Berichterstattung:
Abgeordnete Jürgen Wieczorek ({2})
Dr. Paul Laufs
Winfried Hermann
Eva Bulling-Schröter
Soweit ich weiß, wurden alle Reden zu Protokoll ge-
geben.1) Ich eröffne die Aussprache und schließe sie, da
keiner reden möchte, wieder.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf
Drucksache 14/3710. Der Ausschuss empfiehlt die An-
nahme einer Entschließung. Wer stimmt für die Aus-
schussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen?- Bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion ist die
Beschlussempfehlung angenommen worden.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 13 a bis 13 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Balt, Petra Bläss, Dr. Ruth Fuchs, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der PDS
Anerkennung von rentenrechtlichen Zeiten
von Selbstständigen und deren mithelfenden
1) Anlage 2
Familienangehörigen in Land- und Forstwirtschaft und im Handwerk der DDR
- Drucksache 14/4038 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika
Balt, Petra Bläss, Dr. Ruth Fuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Anerkennung der Rentenversicherungszeiten
von Blinden- und Sonderpflegegeldempfängerinnen und Sonderpflegegeldempfängern der
DDR
- Drucksache 14/4041 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({4})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses
({5})
Sammelübersicht 70 zur Petition
({6})
- Drucksache 14/1563 -
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS
vor. Es ist eine Aussprache von einer halben Stunde ver-
einbart worden. Soweit ich weiß, wurden die Reden zu
Protokoll gegeben.2) Sprechen möchte jetzt noch die Vertreterin der PDS. Ich bitte zu beachten, dass ein Vertreter
des zuständigen Bundesministeriums zu dieser Aussprache anwesend ist.
Ich erteile der Kollegin Monika Balt, PDS-Fraktion,
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Mit der Übernahme der Regierungsverantwortung erklärte der Bundeskanzler den
Aufbau Ost zur Chefsache. Hunderttausende Rentnerinnen und Rentner in den neuen Bundesländern verbanden
damit die Hoffnung, dass Überführungslücken in der gesetzlichen Rentenversicherung nun endlich geschlossen
würden. Wir meinen, zehn Jahre nach der deutschen Einheit ist das auch höchste Zeit.
({0})
Was ist der aktuelle Stand? Ein hartnäckiger Irrtum
zum Beispiel ist, dass alle Ansprüche und Anwartschaften aus DDR-Zeiten in das Rentenrecht der BRD
überführt wurden. „Überführung“ bedeutet eben nicht,
dass alle in der DDR rechtmäßig erworbenen Renten- und
Versorgungsansprüche anerkannt wurden und sich jetzt
im Rentenrecht der BRD wiederfinden. „Überführung“
bedeutet vielmehr, dass die in der DDR erworbenen Ansprüche und Anwartschaften auf eine Rente oder eine Versorgung beseitigt und durch Ansprüche und Anwartschaften nach dem SGB VI ersetzt wurden.
({1})
Abgesehen vom befristeten Weitergelten des DDR-Rentenrechts bis zum 31. Dezember 1996 für den Fall, dass
die DDR-Rente im Vergleich zur SGB-VI-Rente die günstigere Leistung war, hat das Rentenrecht der DDR nur
noch bis zum 31. Dezember 1991 gegolten. Mit Wirkung
vom 1. Januar 1992 trat das SGB VI in Kraft. Das
DDR-Recht wurde somit durch das SGB VI ersetzt. Überführt im Sinne von übernommen oder beibehalten wurden
nur solche DDR-Ansprüche und -Anwartschaften, die
auch in der BRD existierten. Dagegen wurden alle
DDR-Ansprüche und -Anwartschaften nicht berücksichtigt, die es in der BRD für gleiche oder für vergleichbare
Sachverhalte nicht gab.
Wenn wir von Überführungslücken reden, sind wir uns
der Tatsache bewusst, dass es sich aus DDR-Sicht und erst
recht aus Sicht der Betroffenen tatsächlich um Lücken
handelt, weil rechtmäßig in der DDR erworbene Ansprüche abgeschafft worden sind und sich im BRD-Recht
nicht mehr wiederfinden.
({2})
Aus BRD-Sicht sind das jedoch keine Lücken. Hier
herrscht bis zum Bundessozialgericht der Gedanke, dass
die BRD über ein modernes und bewährtes Rentenrecht
verfügt, das seit dem 1. Januar 1992 auch im Osten
Deutschlands gilt und dort zum Segen für die Rentnerinnen und Rentner das DDR-Recht abgelöst hat. Aber erklären Sie mir einmal, wie eine Rentnerin oder ein Rentner in der DDR Ansprüche erwerben konnte, die heute
nach BRD-Rentenrecht Bestand hätten.
({3})
- Ich finde das gar nicht lächerlich, weil ziemlich viele
Menschen in unserem Land betroffen sind.
({4})
Unsere Anträge behandeln Überführungslücken, die
für die Betroffenen außerordentliche Härten bedeuten.
Das sind vor allem Rentenansprüche für Blinde und Son-
derpflegegeldempfänger, die nach DDR-Recht trotz Be-
rufstätigkeit nicht beitragspflichtig waren, aber als versi-
cherungspflichtig galten. Dabei wurden die Betriebs-
anteile regelmäßig abgeführt. Darunter fallen freiwillige
Beiträge zur Sozialversicherung, die ab 1. Januar 1962
in Höhe von 3 bis 12 Mark geleistet wurden, sowie
Versicherungszeiten mithelfender Familienangehöriger
- meistens waren es die Ehefrauen - von Landwirten,
Handwerkern und anderen Gewerbetreibenden.
Wir wissen, dass der betroffene Personenkreis noch
viel größer ist. So gilt beispielsweise Gleiches für die
Personen, die Blinde und Menschen mit Behinderungen
Vizepräsidentin Anke Fuchs
2) Anlage 3
gepflegt haben. Um zu verdeutlichen, über was wir hier
reden, möchte ich aus zwei Briefen zitieren. Eine Frau aus
Rostock schreibt mir:
In meiner Rentenangelegenheit fühle ich mich ungerecht behandelt. Die Arbeit bei meinem Vater in der
Landwirtschaft von 1960 bis 1968 wird nicht anerkannt. Meine Mutter starb 1960. ... Ich habe meinen
Beruf aufgegeben, um meinem Vater zu helfen.
Heute bekomme ich eine Rente von 429 DM.
({5})
- Herr Kollege, hören Sie zu: 429 DM. Ich kann nicht verstehen, dass das Gesetz bei mir
keine Anwendung findet. Ich habe von 1960 bis 1996
freiwillige Rentenversicherungsbeiträge gezahlt.Um
beim Bundessozialgericht zu klagen, fehlt mir das
Geld. Was soll ich tun?
Das sind Schicksale von Betroffenen.
({6})
In Bezug auf die Bezieher von Blinden- und Sonderpflegegeld schreibt eine Frau aus Berlin:
So muss ein blinder Physiotherapeut, der in Kureinrichtungen im Schichtbetrieb gearbeitet hat, mit einer
Rente um die 1 000 Mark leben. Aber leider spielen
diese Menschen verachtenden Zustände keine Rolle
in der gegenwärtigen Diskussion um die Rentenreform.
Nur die PDS-Fraktion im Bundestag hat einen Antrag gestellt, in dem sie fordert, diese Zeiten der Berufstätigkeit
in das Sozialgesetzbuch VI aufzunehmen.
({7})
Eigentlich müsste Ihnen doch an dieser Stelle das Wort
von der sozialen Gerechtigkeit im Halse stecken bleiben,
wenn Sie so gravierende Ungerechtigkeiten nicht endlich
beseitigen.
Danke.
({8})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird unter Tagesordnungspunkt
13 a und 13 b die Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 14/4038 und 14/4041 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Da
das Haus damit einverstanden ist, sind die Überweisungen
so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses, Tagesordnungspunkt
13 c. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
PDS vor, über den wir zuerst abstimmen werden. Wer
stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 14/4039? Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist
mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS
abgelehnt.
Wer stimmt für Sammelübersicht 70 in der Ausschussfassung auf Drucksache 14/1563? - Wer stimmt dagegen?
- Enthaltungen? - Sammelübersicht 70 ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der Fraktion der PDS
angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula
Lötzer, Rolf Kutzmutz, Dr. Christa Luft, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Sicherung tariflicher, arbeits- und sozialrechtlicher Standards und Förderung arbeitsmarktpolitischer Zielsetzungen durch ein Vergabegesetz
- Drucksache 14/4036 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Die vorgesehenen Reden der Kollegen Klaus Wiesehügel,
Hartmut Schauerte, Ekin Deligöz, Dr. Heinrich L. Kolb,
Ursula Lötzer und des Parlamentarischen Staatssekretärs
Siegmar Mosdorf werden zu Protokoll genommen.1)
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/4036 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federführung abweichend von der Tagesordnung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie liegen soll. - Das
Haus ist damit einverstanden. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 6 und 7 auf:
ZP 6 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Eigenheimzulagengesetzes und anderer Gesetze
- Drucksache 14/4130 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({1})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
ZP 7 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Dietmar Kansy, Dirk Fischer ({2}), Eduard
Oswald, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Änderung des Eigenheimzulagengesetzes
- Drucksache 14/4131 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({3})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und WohnungswesenAusschuss
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsaus-
schuss
Auch die Reden hierzu werden zu Protokoll genom-
men, und zwar die Reden der Kollegen Horst Schild,
1) Anlage 4
Dr. Michael Meister, Frau Eichstädt-Bohlig, Michael
Goldmann und Christine Ostrowski sowie Wolfgang
Spanier.2)
Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 14/4130 und 14/4131 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Das Haus ist damit einverstanden. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich möchte mich bei den Parlamentarischen Geschäftsführerinnen und Geschäftsführern, sowie bei denjenigen,
die ihre Rede zu Protokoll gegeben haben, auch im
Namen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung für die zügige Beratung heute Abend - es
gab ja ursprünglich eine andere Perspektive - herzlich bedanken.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages ein auf morgen, Freitag, den 29. September 2000, um
9 Uhr.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.