Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Dietrich Austermann, CDU/CSUFraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Der Bundesfinanzminister hat
sich bemüht, einen Eindruck von der Wirklichkeit zu vermitteln, der nicht den Tatsachen entspricht.
({0})
Es begann mit der Beschreibung der Wirkungen der Politik - bei den entsprechenden Haushaltszahlen waren seine
Ausführungen allerdings relativ bescheiden - und gipfelte
in der Feststellung, die er - ich habe genau gezählt - viermal gemacht hat: Wir sind mit unserer Politik vorangekommen, ohne zusätzliche Schulden zu machen. - Dies
war die erste mehrfach wiederholte falsche Behauptung.
Der Bundesfinanzminister hat gesagt, der Schnitt sei
vor einem Jahr gemacht worden und ab dann sei es in die
richtige Richtung gegangen. Was war eigentlich in dem
Jahr davor? Sind Sie nicht schon zwei Jahre an der Regierung? Wer hat eigentlich damals die Politik gestaltet?
Wenn ich Bilanz ziehe, stelle ich fest: Sie haben völlig
zu Recht darauf hingewiesen, dass Sie in den ersten beiden Jahren 100 Milliarden DM - 49 Milliarden DM plus
51 Milliarden DM - neue Schulden gemacht haben. Um
diese Schulden zu tilgen, kann man jetzt möglicherweise
die Erlöse aus der UMTS-Auktion einsetzen. Aber die
Tatsache bleibt, dass Sie bis jetzt nicht ohne neue Schulden ausgekommen sind.
Wenn Sie immer wieder die Formulierung „raus aus
der Schuldenfalle“ gebrauchen, die Ihnen offensichtlich
Herr Schmidt-Deguelle aufgeschrieben hat, dann leugnen
Sie natürlich gegenüber der Öffentlichkeit, dass diese
Schuldenfalle in einem ganz erheblichen Maße von sozialdemokratisch regierten Ländern zu verantworten ist, die
immer mit dabei gewesen sind, wenn es darum ging,
draufzusatteln und Forderungen im Interesse der Länder
und auch außerhalb der Länderinteressen zu erheben.
({1})
Ich will jetzt nicht meine Redezeit darauf verwenden,
das geradezurücken, was Sie falsch dargestellt haben. Ich
könnte über das Thema „größte Steuerreform der Geschichte“ reden. Sie haben offensichtlich die Steuerreformen der Jahre 1986, 1988 und 1990 von Gerhard
Stoltenberg vergessen, die immerhin zu einem Beschäftigungszuwachs von 2 Millionen geführt haben.
({2})
Sie haben gesagt, die Antwort müsse lauten: Wachstum
und Beschäftigung ankurbeln. Weshalb sind wir dann in
Europa - nur Italien liegt hinter uns - Vorletzter, was das
Wirtschaftswachstum betrifft?
Sie haben ferner gesagt, wir hätten nicht genügend im
Bereich der erneuerbaren Energien getan. Ich kann mich
nicht daran erinnern, dass auch nur ein einziges Kernkraftwerk in den 16 Jahren der Regierung Helmut Kohl
gebaut wurde. Sie wurden alle vor dieser Zeit gebaut.
Ich stelle aber fest, dass im Jahre 1998, in dem Jahr
also, in dem Sie die Regierung übernommen haben,
Deutschland Weltmeister im Bereich der erneuerbaren
Energien, der Windenergie und der Solarzellenproduktion, war, dass dies unter der Verantwortung der damaligen Umweltministerin der CDU/CSU gestaltet worden ist
und dass Sie heute bei den Gesetzen, die Sie in diesem Zusammenhang vor wenigen Monaten beschlossen haben,
mit der EU Probleme haben. Dies betrifft unter anderem
die Fragen, ob es Beihilfen gibt oder nicht und ob das Erneuerbare-Energien-Gesetz Bestand haben wird oder
nicht.
Sie haben das Thema Staatsbürgerschaftsrecht angesprochen. Es ist klar, dass Ihnen das nach Ihrer Abwahl als
hessischer Ministerpräsident im Frühjahr 1999 noch in
Erinnerung ist. Ob deswegen die damalige Position wiederholt werden muss, ist die Frage.
Was das Fördern und Unterstützen der Familien betrifft: Ich habe gestern in der Zeitung gelesen, dass Frau
Simonis, Ihre ehemalige Kollegin als Ministerpräsidentin,
gesagt hat, sie lehne die Rentenreform ab, weil sie besonders Familien mit Kindern bestrafe. Ich stelle fest, dass
die Ausgaben für das Erziehungsgeld im kommenden Jahr
verringert werden. Sie aber sprechen von einer Steigerung, von Mehrausgaben usw.
Sie sind inzwischen - das will ich gar nicht bestreiten Meister der Etikette geworden.
({3})
- Ja, Meister des Etiketts. Etikette ist die Mehrzahl von
Etikett.
({4})
Die Flasche aber ist leer. Das, was auf der Flasche steht,
ist nicht drinnen. Das gilt in besonderem Maße für das
Sparen. Und wenn etwas anderes auf der Flasche steht, als
drinnen ist, dann ist das ein Etikettenschwindel. Das ist
doch ganz klar, Herr Poß.
({5})
Herr Eichel, Sie haben sich schließlich auf die Zustimmung der Menschen im Land berufen, indem Sie gesagt
haben: Das verstehen auch die Menschen; sie befürworten den Kurs der Regierung. Sie haben Ihre Rede offensichtlich schon vor zwei, drei Monaten geschrieben. Denn
wenn Sie sich heute auf der Straße umsehen, werden Sie
feststellen: Die Menschen erwarten etwas ganz anderes
als diesen Kurs.
({6})
Sie haben im Zusammenhang mit dem Rohöl von
20 Milliarden DM gesprochen. Meine Rechnung, die, so
glaube ich, jeder nachvollziehen kann,
({7})
lautet: Heute kostet der Liter Sprit 60 Pfennig mehr als vor
einem Jahr. Bei einem Verbrauch von 60 Milliarden
Tonnen Sprit kostet das den Autofahrer 36 Milliarden DM
mehr. Von den 60 Pfennig Mehrkosten haben Sie
- gewissermaßen als Trittbrettfahrer der OPEC - die
Mehrwertsteuer, also 9,8 Pfennig, und 12 Pfennig, die auf
der ersten und zweiten Stufe der Ökosteuer beruhen, zu
verantworten. 22 Pfennig von diesen 60 Pfennig Mehrkosten gehen also auf Ihre Kappe. Dabei habe ich die anderen Energieträger noch gar nicht erwähnt.
({8})
- Wenn sich der Preis erhöht, dann geht auch der Anteil
der Mehrwertsteuer in die Höhe. Das müsste ein Haushälter eigentlich wissen.
({9})
Nun eine Rechnung bezüglich des Heizöls: Wer heute
3 000 Liter Heizöl bunkert, muss dafür doppelt so viel
wie vor einem Jahr bezahlen. Er zahlt 1 500 DM mehr.
Wenn Sie das, gemessen an der Heizölmenge, die in
Deutschland voraussichtlich verbraucht wird, addieren,
dann ergibt dies einen zusätzlichen Betrag von 18 Milliarden DM. In dieser Rechnung sind die Bereiche Strom
und Gas noch nicht einmal berücksichtigt.
Dies bedeutet doch, dass die Kaufkraft abgeschöpft
wird, dass das Realeinkommen der Menschen niedriger
wird. Wenn Sie dem eine Steuerentlastung von in der Tat
rund 40 Milliarden DM im nächsten Jahr
({10})
gegenüberstellen, die Menschen gleichzeitig aber etwa
65 Milliarden DM mehr zahlen müssen, dann ist doch
klar, dass trotz dieser großen Steuerreform bei den Bürgern nichts ankommt und für Investitionen und dafür, dass
die Bevölkerung mehr Geld in der Tasche hat, nichts übrig
bleibt. Dies ist eine relativ einfache Rechnung.
({11})
Nun gibt es eine Reihe von Menschen, die sich - in
Einzelfällen muss man schon sagen: in ihrer Verzweiflung - dazu entschließen zu demonstrieren.
({12})
Dies sind Spediteure, Arbeitnehmer bzw. Menschen, die
sagen: Das kann so nicht weitergehen; die Wirtschaftskraft meines kleinen Unternehmens - ich habe meine
Preise vor einem Jahr festgelegt - leidet darunter. Vor diesem Hintergrund höre ich gestern den Bundeskanzler
ziemlich arrogant sagen: Da rufen ja Menschen zur Nötigung auf. Das ist empörend, was dort geschieht. Man
kann doch keinen Gesetzesbruch zulassen.
Diese Äußerungen wundern mich umso mehr, da ein
Teil der Kabinettsmitglieder, insbesondere die betagteren,
aus einer Zeit stammen, als Demonstrieren, gewaltsames
Demonstrieren und Gewalt gegen Sachen noch absolut in
Mode waren.
({13})
Dass die nun heute hergehen und sagen, es sei eine Zumutung, wenn Menschen für ihr Recht auf der Straße eintreten würden, muss zumindest erstaunen.
Meine Damen und Herren, wenn man die Basis dieses
Haushalts ansehen will, muss man zunächst den Verlauf,
den der Haushalt genommen hat, betrachten. Beim Haushalt für das Jahr 2000 liegt inzwischen kein Stein mehr auf
dem anderen. Ich nenne: Dollarkurs, Zwangsarbeiter,
EXPO, Postunterstützungskasse, Arbeitslosenhilfe, Steuermehreinnahmen, Wohngeld, Privatisierungserlöse und
Zuschüsse an die Bundesanstalt für Arbeit. Ohne die Privatisierungserlöse aus den UMTS-Lizenzen sähe der
Haushalt wesentlich anders aus, als er ursprünglich beschlossen wurde.
Das bedeutet aus der Sicht der Haushälter und aus der
Sicht der Opposition: Wir brauchen einen Nachtragshaushalt. Wir brauchen einen Haushalt, bei dem die Realität
mit den Haushaltszahlen in Einklang steht. Ich sage das
auch bezogen auf die 100 Milliarden DM aus den UMTSLizenzen. Ich möchte gern wissen, wo die im Moment
sind. Sie verweigern dem Parlament die Auskunft darüber.
({14})
- Ich denke, bezüglich des Sparkurses, den Sie einleiten,
wäre das zumindest volkswirtschaftlich dumm, weil Sie
das Geld so lange Gewinn bringend anlegen könnten, bis
Sie die Schulden, die Sie selber in den ersten zwei Jahren
gemacht haben, zurückgeführt haben.
Das Parlament darüber im Unklaren zu lassen, wie und
wo genau die Mittel eingesetzt werden, halte ich für verfassungsrechtlich bedenklich.
({15})
Das Budgetrecht ist das oberste Recht des Parlaments.
({16})
Sie geben den Koalitionsabgeordneten ein wenig Spielmaterial an die Hand. Sie sagen: Über die 5,5 Milliarden DM an Zinserträgen könnt ihr euch unterhalten. Ich
füge hinzu: Vielleicht nicht über den ganzen Betrag, denn
Herr Metzger spricht nur von 4 Milliarden DM und zeigt
damit, dass er eine richtige Alternative in der Koalition, in
der Opposition innerhalb der Koalition, darstellt. Weiter
sagen Sie: Über die 100 Milliarden DM entscheide ich.
Ich verstehe, dass man, wenn man selbst nicht Abgeordneter ist, eine gewisse Distanz hat.
({17})
Es kann aber doch nicht so sein, dass das Parlament bei
wesentlichen Entscheidungen über den Haushalt ausgeklammert wird.
({18})
- Doch, das ist der Bruch der Verfassung.
({19})
Herr Finanzminister, ich vergleiche nun die Realität
mit den Zahlen. Ich verstehe, dass es einen irritiert, wenn
man feststellt - so war es nach den letzten Haushaltsberatungen, insbesondere im Haushaltsausschuss -, dass der
Haushalt hinterher genauso aussieht wie vorher. Man hat
nichts machen können und versteht sich praktisch als
„Fielmann-Koalition“, nach dem Motto: keinen Pfennig
dazu bezahlt und nichts verändert.
({20})
Wir haben ein anderes Verständnis von der Aufgabe
des Parlaments. Wir sagen: Wir wollen die Politik der negativen Rekorde beenden. Nie haben die Menschen mehr
Steuern in Deutschland gezahlt als in diesem Jahr, nie ist
mehr an Ausgaben getätigt worden als in diesem Jahr. Die
Ausgaben - Herr Eichel, Sie haben gesagt: „Wir sparen!“ - steigen gegenüber dem Jahr 1998 um 22 Milliarden DM.
Die Sparschweine auf Ihrem Schreibtisch dürften inzwischen an Magersucht dahingeschieden sein. Sie werden sich kaum noch auf den Beinen halten können, weil
nicht wirklich gespart wird, jedenfalls nicht beim Konsum, sondern nur bei den Investitionen.
({21})
Sie haben einen Rekord an Privatisierungserlösen. Das ist
das, was Sie früher als Verschleuderung von Tafelsilber
bezeichnet haben. Das ist eine gewaltige Bugwelle aus
unserer Regierungszeit; das wird jetzt in großem Stil eingesetzt. Sie haben einen Rekord bei den Energiepreisen in
Deutschland und einen negativen Rekord bei den Investitionen erreicht.
Die Zahlen, die Sie genannt haben - auch auf die Forschung bezogen -, sind eindeutig falsch, und zwar sowohl
die absoluten als auch die relativen Zahlen. Der Bundeskanzler hat vor der Wahl - Sie, Herr Eichel, waren daran
noch nicht beteiligt - versprochen, dass die Investitionsausgaben für die Forschung verdoppelt würden.
({22})
Betrachten wir die heutigen Zahlen - ich nehme dabei
Forschung und Technologie zusammen und ziehe den
Forschungshaushalt und den Haushalt des Wirtschaftsministers heran -: Ich stelle fest, dass im nächsten Jahr
etwa 1,5 Milliarden DM weniger für Forschung und Technologie ausgegeben werden. Das ist Ihre Steigerung von
Zukunftsinvestitionen.
Sie setzen das auch bei den Investitionen im Bau- und
Verkehrsbereich fort. Die Ausgaben betrugen im Jahr
1998 für beide zusammen 54 Milliarden DM, im kommenden Jahr werden es exakt 10 Milliarden DM weniger
sein. Dann reden Sie davon, dass wir eine Steigerung der
Investitionen hätten, die wir ja dringend brauchen, um zu
verhindern, dass die Leute morgens mit Wut mit ihrem
Auto zur Arbeit fahren, weil sie ständig im Stau stehen
und wertvolle Zeit verplempern. Wir könnten uns die
dringend notwendigen Investitionen im Straßenbau leisten. Aber nein, hier geben Sie weniger Geld aus. Das
Geld, das Sie den Autofahrern aus der Tasche ziehen,
geben Sie anderweitig aus. Investitionen werden nicht
getätigt. Dies gilt in gleicher Weise für die Schiene.
Sie reden davon, dass Sie die Einnahmen der Ökosteuer für die Rente verwenden müssten. Ich glaube, es ist
an der Zeit, der Öffentlichkeit einmal deutlich zu machen,
dass in Deutschland - Sie wissen das - das Gesamtdeckungsprinzip gilt. Das heißt, alle Einnahmen kommen in den großen Topf und aus dem großen Topf wird
dann gezahlt. Die Behauptung, es gebe eine Zweckbindung in einem bestimmten Bereich, etwa eine so genannte
Ökosteuer für Energie oder eine andere Steuer, die in einen anderen Bereich geht, ist eindeutig falsch. Es gibt
auch keine Zweckbindung für Tilgungseinnahmen. Das
ist eindeutig falsch. Insofern war die Diskussion um die
Erlöse durch die UMTS-Lizenzen auch ziemlich albern.
({23})
Damit auch Sie das erfahren, will ich Ihnen sagen, wie
wir „UMTS“ übersetzen - die Kollegin kennt das schon,
aber ich sage es trotzdem -: unerwartete Mehreinnahmen
trotz Schröder.
({24})
- Ich gebe zu, das war unvollständig. Es müsste heißen:
unerwartete Mehreinnahmen trotz Schröder und Eichel.
Denn Eichel war 1994 daran beteiligt, die Postreform zu
verhindern. Sie haben also hier Windfall Profits in größtem Stile.
({25})
Wenn im Herbst der Börsengang der Post ansteht, geht
das in genau die gleiche Richtung. Ich hoffe, Sie stehen
ein bisschen beschämt an der Seite, wenn nachher die Erträge einkassiert werden - unerwartete Mehreinnahmen
trotz Schröder und Eichel.
Sie waren gegen jede Privatisierung. Auch haben Sie
im Bundesrat gegen das Haushaltsgrundsätzegesetz gestimmt.
Ich war beim Thema „Zweckbindung von Einnahmen
und Ausgaben“, bei der Ökosteuer. Inzwischen sagt der
Kollege Loske, ein grüner Abgeordneter und umweltpolitischer Sprecher: Sollten sich die Reformvorschläge nicht
den demographischen Realitäten stellen, sehe er keine
Zukunft für die Finanzierung durch die Ökosteuer. Das
Ökosteueraufkommen zur Senkung der Rentenversicherungsbeiträge einzusetzen habe sich als problematisch erwiesen.
In der Tat: Es gibt keinen direkten Zusammenhang
zwischen Einnahmen aus einer bestimmten Quelle und
Ausgaben an einer anderen Stelle. Insofern beschwindeln
Sie die Menschen, wenn Sie sagen, dass die nächsten Stufen - nämlich drei mal sechs, also 18 Pfennig, jeweils zum
1. Januar 2001, 2002 und 2003 -, die bereits beschlossen
sind, notwendig sind. Sie greifen also noch einmal dem
Autofahrer in einer Milliardengrößenordnung in die Tasche.
Auch ohne diese Entscheidung kann eine vernünftige
Rentenreform gemacht werden. Ich betone dies noch einmal, weil wir ganz klar sagen: Diese Ökosteuer muss weg.
({26})
Die Einnahmen, die an anderer Stelle in Rekordhöhe
erzielt werden, dürften ausreichen, um die Ausgaben für
die falschen Strukturen, die Sie bei der Altersversorgung,
bei der Rentensicherung im Bundeshaushalt verankert haben, tätigen zu können.
Ich möchte das sagen, weil Sie das Thema Energie in
besonderer Weise beschäftigt. Ich habe davon gesprochen, dass Deutschland beim Wachstum an vorletzter
Stelle steht. Dies hat natürlich auch Bedeutung für den
Kurs des Euro und damit für die Rohölpreise. Das Rohöl
kommt übrigens wohl nicht aus dem Bereich der OPEC,
sondern aus der Nordsee. Das spielt aber keine Rolle. Der
Preis ist der Gleiche.
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu der Frage
machen, die Sie mit Konsolidierungsverpflichtung und
Altlasten umschrieben haben.
({27})
- Weil von Ihnen versucht wird, in größtem Maße Verwirrung zu stiften.
({28})
Wir haben 1982 350 Milliarden DM Schulden von
Helmut Schmidt übernommen. Alex Möller, bereits 1971,
vor der sozialdemokratischen Haushaltspolitik warnend,
zurückgetreten, hat 1981 ein Buch geschrieben: „Schuld
durch Schulden“.
({29})
Danach wurden in der Tat zusätzliche Schulden gemacht,
im Wesentlichen bedingt durch die Wiedervereinigung.
Wer dies immer wieder uns anlasten will, der muss zugeben, dass er versucht, sich von der Geschichte abzukoppeln, und die Verpflichtung aus der Wiedervereinigung
nicht anerkennt.
({30})
Ich habe darauf hingewiesen, dass die Ausgaben für
Forschung und Entwicklung im Vergleich zum Jahr 1998
zurückgehen. Wie damit eine sinnvolle Mittelstands- und
Technologiepolitik betrieben werden soll, bleibt ein Rätsel.
Im Verkehrs- und Bauetat sieht das ganz genauso aus.
Am dramatischsten ist die Situation in den neuen Bundesländern. Hier kürzen Sie - man muss das im Kontext
des Besuchs, der Besichtigung des Bundeskanzlers der
neuen Bundesländer in den letzten Wochen sehen - um
3 Milliarden DM. Das Institut für Wirtschaftsforschung
Halle stellte vor zwei Tagen fest, dass die Wirtschaftsentwicklung in den neuen Bundesländern zum Stillstand
gekommen ist. Dies alles muss doch ein Grund sein, zu
überlegen, ob nicht andere Schritte als die von Ihnen im
Haushaltsverfahren eingeleiteten vorgenommen werden
sollten.
Deswegen sagen wir: Wir fordern eine Stärkung der Investitionen.
({31})
Wir wollen mehr für Straßenbau und Schiene tun.
({32})
Wir fordern eine Stärkung der Ausgaben für Forschung
und Entwicklung. Auch hier muss man das, was Sie erklärt haben, geraderücken. Sie haben behauptet, das
BAföG sei nun geändert, alles sei prima. Dabei müssen
Sie feststellen, dass die große BAföG-Reform offensichtlich unter den Tisch gefallen ist.
({33})
- Die große BAföG-Reform ist unter den Tisch gefallen.
Was jetzt vorgelegt wird, entspricht dem, was die Union
gesagt hat,
({34})
was die Union vorgeschlagen hat, und kommt im Übrigen
eine Reihe von Jahren später, als es möglich gewesen
wäre.
({35})
Ich könnte das Gleiche auch auf das Thema Städtebauförderung beziehen. Ich könnte Ihnen, Herr Minister,
jetzt vorhalten, was Sie als Ministerpräsident in Hessen
unmittelbar vor der Bundestagswahl gesagt haben.
({36})
Dort haben Sie gesagt - 25. September 1998 -: Im
Städtebau und Wohnungswesen hat sich der Bund fast
vollständig aus der Finanzierung zurückgezogen. Das ist
keine Politik, die Zukunft hat.
({37})
Das hat ja wohl bedeutet, dass Sie sagen, es müsste
mehr Geld bereitgestellt werden.
({38})
Was tun Sie? - Bei der Städtebauförderung im Westen:
mickrige Beträge!
({39})
- Wir wollen hier ganz eindeutig um eine halbe Milliarde DM erhöhen.
Sie sagen weiter: Wenn ich an die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“
denke, sind wir uns im Bundesrat einig, dass im Osten
nicht gekürzt werden darf. Was tun Sie? - 300 Millionen
DM weniger bei der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ in den neuen
Bundesländern.
Herr Finanzminister, Sie sagen, in diesem Haushalt - ({40})
- Ich zitiere Sie jetzt. Sie können nachher nicht sagen: Der
erzählt etwas, was nicht in Ordnung ist.
({41})
- Ja, ist ja gut!
Sie sagen: In diesem Haushalt sind die Investitionen
so weit heruntergefahren worden, wie das früher nie der
Fall war. - Sie bezogen das auf das Jahr 1998. In diesem
Jahr ist das aber der Fall. Die Investitionen gehen deutlich
herunter.
Deswegen sagen wir: Es muss eine Veränderung der
Politik stattfinden, eine Veränderung der Politik weg vom
Konsum hin zu den Investitionen.
({42})
- Die Frage will ich Ihnen ganz klar beantworten, lieber
Herr Kollege. Wenn Sie in den letzten Wochen vor der
Steuerreform, vor der gekauften Steuerreform,
({43})
Zeitung gelesen haben, werden Sie fast jeden Tag eine
ganzseitige Anzeige des Bundesfinanzministers gesehen
haben, die nicht viel Inhalt hatte,
({44})
Sie hatte einfach nur das Ziel, die eigene Politik darzustellen und für sie zu werben, ohne eine inhaltliche Aussage zu treffen.
Addieren Sie die Kosten für diese Anzeigen einmal,
auf das ganze Jahr bezogen. Sie stellen fest: 160 Millionen DM werden in diesem Jahr unter dieser Regierung
für Öffentlichkeitsarbeit ausgegeben. Da kann man nur
sagen: Das Geld ist zum Fenster hinausgeworfen.
({45})
Das Gleiche gilt für die Verfügungsmittel. Kein Minister unter der alten Regierung hatte so viel Geld zur privaten Verfügung wie in dieser Regierung.
({46})
Mit „zur Verfügung“ meine ich, wo er selbst entscheiden
kann, für wen und was er sie verwendet. Nennen Sie das
Sparen?
Sie können die anderen Bereiche, angefangen bei der
Öffentlichkeitsarbeit, den ganzen Haushalt durchforsten.
Dann kommen Milliardenbeträge zusammen, bei denen
Sie feststellen: Der Konsum wird aufgebläht und die Investitionen werden gesenkt.
({47})
Meine Damen und Herren, es muss darum gehen, jetzt
die Steuern wirkungsvoll zu senken, damit die Bürger
etwas von der Steuerreform haben. Es muss darum gehen,
Investitionen zu stärken. Es muss darum gehen, Forschungsausgaben zu steigern. Es muss darum gehen, den
Staatskonsum einzudämmen, die Nettokreditaufnahme zu
verringern und vor allen Dingen die Abgaben zu senken.
Sonst kriegen Sie schon bei der nächsten Wahl eine ziemlich klare Quittung wie bei den Oberbürgermeisterwahlen
in den letzten Wochen in Ihrem Bundesland, Herr Finanzminister.
Herzlichen Dank.
({48})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Joachim Poß, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Lieber Kollege Austermann, ich glaube, dass
wir mit Ihnen in den nächsten Wochen noch manche Diskussion über Käuflichkeit der Politik führen werden.
({0})
Nehmen Sie es nicht als Polemik, aber nach diesem
Beitrag wurde mir und sicherlich auch anderen erst richtig deutlich, warum Herr Rühe darauf verzichtet hat, Sie
als Schattenfinanzminister für Schleswig-Holstein vorzusehen.
({1})
Sie haben zuletzt Steuersenkungen gefordert. Warum
haben Sie heute nicht das wiederholt, was Sie öffentlich
gefordert haben: Steuersenkungen aus den UMTS-Erlösen? Sind Sie da von Herrn Merz zurückgepfiffen worden? Denn er hat doch ganz eindeutig gesagt: So, wie Herr
Eichel es vorgesehen hat, ist es richtig. - Auch diese
Forderung von Ihnen war nicht sehr glaubwürdig, weil
nicht finanzierbar. Herr Austermann, man kann nicht die
Rolle des gestrengen Haushälters annehmen, wenn man
intellektuell und sachlich so unredlich argumentiert, wie
Sie das heute Morgen hier gemacht haben.
({2})
Inzwischen hat es sich in unserer Republik herumgesprochen, dass wir, diese Koalition, mit dem Bundeshaushalt 2001 und dem Finanzplan des Bundes bis 2004
einen weiteren Meilenstein einer erfolgreichen Finanzpolitik setzen. Dazu kommt die endgültige Verabschiedung
des Steuersenkungsgesetzes am 14. Juli. Beide Projekte
zeigen: Die Finanzpolitik der Regierungskoalition ist
verlässlich und verantwortungsbewusst. Die Finanzpolitik der Regierungskoalition ist mutig; denn sie beschränkt
sich nicht auf kleine Korrekturen am Status quo. Die Finanzpolitik der Regierungskoalition ist gestaltend und
vorausschauend. Sie löst die aktuellen Probleme, hat aber
auch die Sicherung der Zukunft und die Interessen nachfolgender Generationen im Blick.
({3})
Die überwiegende Mehrheit der Deutschen sieht das inzwischen ebenso. Damit erkennt sie im Übrigen die überragende Leistung insbesondere unseres Bundesfinanzministers an, für die wir ihm herzlich danken.
({4})
Die Zukunftssicherung ist der entscheidende Punkt.
Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen der
Regierungskoalition und der Opposition. Wir haben das
größte Haushaltssanierungspaket in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland durchgesetzt, das im laufenden Jahr zu Haushaltsentlastungen von fast 30 Milliarden DM führt. In den Folgejahren steigen sie bis auf
50 Milliarden DM an. Das hat uns bei den Betroffenen
viel Ärger eingebracht. Wir mussten im letzten Jahr politisch viel Blutzoll zahlen. Aber wir haben das gemacht,
weil wir das für richtig gehalten haben, und es war auch
richtig.
({5})
Denn der Bund muss seine finanzielle Handlungsfähigkeit bewahren.
Herr Rexrodt, weil Sie dazwischengerufen haben: Sie
hatten dazu nicht den Mut. Jahr für Jahr mussten Sie sogar darum bangen, ob es Ihnen überhaupt gelingt, einen
verfassungsgemäßen Haushalt aufzustellen. Bei Ihnen
wurde nicht gespart, sondern getäuscht und getrickst.
({6})
Sie hatten die finanzielle Handlungsfähigkeit des Bundes im höchsten Maße gefährdet. Wir werden diese finanzielle Handlungsfähigkeit wiederherstellen und erhalten.
Der Unterschied zwischen uns und der CDU/CSU und
auch der F.D.P. ist: Wir setzen auf die Solidarität mit unseren Kindern und Enkeln. Sie setzen des parteitaktischen
Vorteils wegen auf puren Egoismus. Das ist der Unterschied zwischen uns.
({7})
In diesem Zusammenhang muss auch über die Ökosteuer geredet werden, weil auch das viel mit unserer Zukunft zu tun hat. Ist Ihre Ökosteuerkampagne das, was Sie
unter Rückkehr zur sachlichen Auseinandersetzung und
zur Sachpolitik verstehen? Sachliche Auseinandersetzung
setzt zunächst einmal die Kenntnis von Fakten voraus:
Erstens. Die Ökosteuer ist ein unverzichtbarer Faktor
bei der Begrenzung und Zurückführung der Sozialabgaben. Ihr Aufkommen fließt, Herr Austermann, bis auf
200 Millionen DM vollständig in die Rentenkasse,
({8})
sodass die Bürger die Ökosteuereinnahmen über geringere Rentenbeiträge zurückerhalten. Das ist die Wahrheit.
({9})
Zweitens. Die alte Regierung Kohl/Waigel hat die Mineralölsteuer in der ersten Hälfte der 90er-Jahre um mehr
als 50 Pfennig erhöht: am 1. Januar 1989 um 9 Pfennig,
am 1. Januar 1991 um 3 Pfennig, am 1. Juli 1991 um
22 Pfennig - auch Frau Merkel wird sich daran noch erinnern, was sie mit zu verantworten hatte -, am 1. Januar
1994 um 16 Pfennig. Insgesamt sind das 50 Pfennig im
Zeitraum von 1989 bis 1994. Dies geschah nicht, Frau
Merkel, um die Sozialabgaben zu senken - die bei Ihnen
gestiegen sind -, sondern nur, um Haushaltslöcher zu
stopfen. Das war Ihre Politik.
({10})
Wenn das von Ihnen verschwiegen wird, dann ist das
keine sachliche Auseinandersetzung, sondern schlichtweg Verlogenheit. Bei Ihnen ist nicht nur die Mineralölsteuer gestiegen, sondern auch die Sozialversicherungsbeiträge sind gestiegen.
Drittens. Auf die Ökosteuer entfällt nur ein geringer
Teil der Benzinpreissteigerungen dieses Jahres. Der Rest
ist auf die Preispolitik der Förderländer und der Mineralölkonzerne sowie auf die Wechselkursschwankungen
zurückzuführen. Es ist naiv, zu glauben, eine Reduktion
der Ökosteuer würde dazu führen, dass der Benzinpreis
sinkt.
Viertens. Die deutschen Benzinpreise liegen im hinteren europäischen Mittelfeld.
Fünftens. Das von Ihnen geforderte Aussetzen der
nächsten Ökosteuerstufe hätte unweigerlich die Konsequenz, dass der Rentenversicherungsbeitrag - mit allen
negativen Auswirkungen auf Arbeitnehmereinkommen
und Arbeitsplätze - angehoben werden müsste. Das RWI
spricht in diesem Zusammenhang von einem Verlust von
jährlich 100 000 Arbeitsplätzen; das sind 500 000
Arbeitsplätze in fünf Jahren.
({11})
Wollen Sie das mit Ihrer unverantwortlichen Kampagne
wirklich herbeiführen?
({12})
Wer das vermeiden will, müsste das Rentenniveau absenken oder die Nettokreditaufnahme des Bundes entsprechend anheben. Das sind Ihre Alternativen. Sagen Sie
das bei Ihrer Kampagne den Menschen!
Sechstens. Die Lenkungswirkung der Ökosteuer liegt
weniger in der Höhe als vielmehr in der kalkulierbaren,
stetigen und moderaten Anhebung über mehrere Jahre
hinweg. Die Vorteile hat der Bundesfinanzminister hier
vorhin geschildert.
Es gibt niemanden, der diese prinzipielle Vorgehensweise, die auf höhere Energieeffizienz und sparsamen
Ressourcenverbrauch abzielt, ernsthaft kritisiert. So hat
die Parteivorsitzende Angela Merkel, als sie noch Bundesumweltministerin war, eine jährliche Anhebung der
Mineralölsteuer von 5 Pfennig gefordert. Jetzt vertritt sie
mit Vehemenz und großen Plakaten das Gegenteil. Das
befreit Frau Merkel doch nicht von ihren Problemen. Solange Herr Helmut Kohl inmitten Ihrer Fraktion thront,
behält Frau Merkel ihre Probleme. So einfach ist das. Davon kann sie auch nicht mit so billigen Kampagnen ablenken.
({13})
Was ist denn aus den Aufklärern Merkel und Merz geworden, vom „brutalstmöglichen Aufklärer“ Koch ganz
zu schweigen?
({14})
Da die Opposition die genannten Fakten bewusst ignoriert, ist ihre Anti-Ökosteuer-Kampagne nichts anderes
als Stimmungsmache. Ich glaube auch nicht, dass Sie die
Wirkung erzielen werden, die Sie sich erhoffen. Jedenfalls ist dies von verantwortungsbewusster Politik zur
Zukunftssicherung meilenweit entfernt.
({15})
Ihre Kampagne macht wieder einmal deutlich, dass Sie
nur davon ablenken wollen, dass Sie immer noch angeschlagen und ohne eine strategische Ausrichtung Ihrer Politik sind. Der Vorgang dieser demagogischen Kampagne
macht umgekehrt deutlich, warum man froh darüber sein
kann - ich sage das einmal als Sozialdemokrat -, nicht einer Partei anzugehören, die sich solcher Mittel bedient.
({16})
Es gibt durchaus geistig-moralische Zusammenhänge
zwischen dem gesetzeswidrigen - in meinen Augen auch
verfassungswidrigen - Finanzgebaren von Kohl, Kanther
und anderen und der Art und Weise, in der Sie Politik machen.
({17})
Mit Anstand, Ehrlichkeit, christlichen Werten hat das alles nichts zu tun.
({18})
Das werden wir den Leuten auch sagen. Mir kann keiner weismachen, dass man Verlogenheit auf Dauer nicht
auch als Verlogenheit entlarven kann, jedenfalls werden
wir uns alle Mühe geben. Das werden Sie noch zu spüren
bekommen.
({19})
- Peinlich ist die Kampagne, die Sie machen. Sie wissen
es im Übrigen ja besser. Wer so verantwortungslos agiert
wie Sie, der muss sich wirklich härtere Töne gefallen lassen, als es bisher der Fall war.
({20})
Ihre moralische Verantwortung hört nicht bei Herrn
Kohl, bei Herrn Koch und bei Herrn Kanther auf. Sie alle
sind persönlich verantwortlich für die Schweinereien, die
bei Ihnen passiert sind - damit das einmal ganz klar ist.
Das werden wir Ihnen auch nicht durchgehen lassen.
({21})
Mit dieser Aufklärung sind wir noch lange nicht am Ende,
wenn Sie nicht selbst aufklären - damit auch das deutlich
ist.
Nach den Konsolidierungshaushalten 1999 und 2000
hat die Bundesregierung jetzt mit dem Haushaltsentwurf
2001 den dritten Konsolidierungshaushalt in Folge vorgelegt. Weitere Konsolidierungshaushalte werden und müssen folgen. Sie müssen von Sparsamkeit und Zurückhaltung geprägt sein.
Sie kennen die Ziffern. Die Nettokreditaufnahme wird
auf 46,1 Milliarden DM abgesenkt. Die Fraktionen von
Grünen und SPD haben deutlich gemacht: Nein, wir sind
noch ehrgeiziger, wir wollen gemeinsam auf unter 45 Milliarden DM Nettokreditaufnahme kommen. - Auch was
die Haushalte nach 2001 angeht, ist die SPD-Bundestagsfraktion mit Finanzminister Eichel im Bemühen einig, die
Neuverschuldung des Bundes weiter abzubauen.
Genauso stetig und verlässlich, wie die Bundesverschuldung abgebaut wird, senken Bundesregierung und
Regierungskoalition die Steuer- und Abgabenbelastung
der Bürger, die wie die öffentliche Verschuldung unter der
Regierung Kohl/Waigel ein historisches Rekordniveau erreicht hatte.
Im Gegensatz zu Ihnen haben wir gehandelt. Die Bürger werden um insgesamt 93,4 Milliarden DM an Steuern
entlastet, wobei die Reformen wie auch früher in mehreren Stufen und Jahren verwirklicht werden. Die von uns
vorgenommenen Steuerentlastungen sind allerdings - bei
aller Notwendigkeit - nur in einem finanzpolitisch vertretbaren Rahmen möglich. Sie wären undenkbar ohne
unsere konsequent solide Haushaltspolitik. Diese Lektion
wollten Sie nicht lernen und haben Sie bis heute nicht
gelernt.
Man kann Steuerentlastungen nur dann vornehmen,
wenn die öffentlichen Haushalte, insbesondere die von
Ländern und Gemeinden, das tatsächlich und aus Verfassungsgründen zulassen. Wer wie Sie etwas anderes
fordert - Steuersenkung auf Pump -, der zielt wissentlich
entweder auf Sozialabbau oder auf Steuererhöhungen in
der Zukunft. Das ist die Alternative zu unserer Politik.
({22})
Wir machen seriöse und verantwortungsbewusste Finanzpolitik. Die steuerpolitischen Vorschläge von CDU/
CSU dagegen sind unverantwortlich und nicht finanzierbar; die der F.D.P. sollte man gar nicht erwähnen, weil
sich die F.D.P. auf dem Sektor schon lange aus jeder ernsthaften Diskussion verabschiedet hat.
({23})
Sie haben ja jetzt wieder gefordert: Ökosteuer und KfzSteuer gänzlich streichen. - Ich habe gestern Herrn
Westerwelle im Fernsehen gesehen. Ich habe immer gelauscht, wo denn die Finanzierungsvorschläge sind, aber
die hören wir von Ihnen schon seit Jahren nicht mehr.
({24})
Sie wissen übrigens ganz genau, meine Damen und
Herren von der Opposition, dass die Finanzierbarkeit
gegeben sein muss. Deshalb sollten Sie sich nicht wundern, dass selbst CDU-geführte Bundesländer und solche,
in denen die CDU an der Landesregierung beteiligt ist,
Herrn Merz und Frau Merkel im Bundesrat die Gefolgschaft verweigerten.
Mit ihren Käuflichkeitsvorwürfen versucht die Union
krampfhaft, von ihrer Niederlage beim Thema Steuerreform abzulenken. Sie bemüht sich, die unsinnige Strategie ihres Fraktionsvorsitzenden Merz im Vermittlungsausschuss vergessen zu machen. Herr Merz wollte die
Steuerreform, wie er offen gesagt hat, mithilfe des Bundesrats scheitern lassen. Nachdem dies misslungen war,
redet die CDU-Opposition von der „Käuflichkeit der Länder“. Offensichtlich sind Sie davon ausgegangen, dass
sich alle von der CDU regierten oder mitregierten Landesregierungen bei der Abstimmung im Bundesrat bedingungslos Ihren Parteiinteressen unterwerfen würden,
({25})
und haben von diesen Landesregierungen die Missachtung der eigenen Landesinteressen erwartet. Jetzt ziehen Sie mit der Beschimpfung dieser Landesregierungen
die finanzpolitischen Zusammenhänge zwischen der
Höhe der Steuersenkung und der Finanzausstattung einzelner Länder in Zweifel.
Wissen Sie eigentlich nicht mehr - Herr Austermann
und Herr Rexrodt müssten es wissen; sie sind schon sehr
lange im Bundestag -, dass 1988 die Verabschiedung der
stoltenbergschen Steuerreform im Bundesrat über
Monate als unsicher galt, weil eine Mehrheit von acht
Ländern der Auffassung war, ihre Landeshaushalte könnten die Einnahmeausfälle durch die Steuerreform ohne
eine gleichzeitige Verbesserung der Finanzausstattung
nicht verkraften? Haben Sie, meine Damen und Herren
von der Union, völlig vergessen, dass im Jahre 1988 die
Zustimmung der Ländermehrheit im Bundesrat zur stoltenbergschen Steuerreform nur durch die Zusage eines
Strukturhilfegesetzes an den niedersächsischen Ministerpräsidenten Albrecht zustande gekommen war?
({26})
Albrecht, bekanntermaßen CDU - ich sage das für die
Nachgeborenen -, verhalf der Steuerreform erst zur Mehrheit, als ihm bindende Zusagen für Strukturhilfen in Höhe
von 25 Milliarden DM über zehn Jahre gegeben worden
waren. Das geschah unmittelbar vor der Abstimmung im
Bundesrat über die Steuerreform am 8. Juli 1988.
Nein, es war folgerichtig, dass der Bundesrat unserem
Steuersenkungsgesetz zugestimmt hat. Er hat das auf
Wunsch einiger Bundesländer unter der Bedingung getan,
dass in einem Steuersenkungsergänzungsgesetz, das
wir bald beraten werden, noch zwei Änderungen an dem
schon verabschiedeten Steuersenkungsgesetz vorgenommen werden. Das wird geschehen.
Aber auch hier ist eine klare Position der Opposition
nicht erkennbar. Noch immer ist unklar, ob die CDU/CSU
dem Steuersenkungsergänzungsgesetz zustimmen wird
oder nicht. Warum Sie erwägen, diesem Gesetz, das zwei
von Ihnen gewünschte Verbesserungen enthält, nicht zuzustimmen, ist beim besten Willen nicht zu verstehen.
Diese Art von Logik ist nicht mehr nachzuvollziehen,
meine Damen und Herren.
({27})
Oder wartet Herr Merz wieder einmal auf eine Weisung
aus Bayern oder vielleicht sogar von Herrn Koch, wie er
und seine Fraktion in dieser Frage zu verfahren haben?
Unsere Finanzpolitik ist nicht nur verlässlich und verantwortungsbewusst, sondern auch mutig. Sie setzt das
um, was getan werden muss. Bei dem von Ihnen übernommenen Finanzchaos - ich meine damit nicht Ihre Parteikassen - können wir Normalität leider nicht in zwei
oder drei Jahren wieder herstellen. Diese Veränderung der
gesellschaftlichen Wirklichkeit wird noch viele Jahre in
Anspruch nehmen. Die gesellschaftlichen und finanzpolitischen Fehlentwicklungen haben Sie zu verantworten,
meine Damen und Herren.
({28})
Wir packen - die Beispiele sind genannt - die Modernisierung und Umstrukturierung der Bundeswehr und die
Anpassung der bewährten Alterssicherungssysteme an die
uns allen bekannte demographische Entwicklung an. Wir
haben mit dem Steuerentlastungsgesetz 1999 und all unseren anderen Maßnahmen die überfällige steuerpolitische Trendwende für Millionen von Arbeitnehmern und
Familien mit Kindern angepackt. Wir setzen das alles nun
in einem Ausmaß fort, wie es noch nie in der BundesreJoachim Poß
publik Deutschland vorgekommen ist. Das Steuersenkungsgesetz, das wir verabschiedet haben, und das Änderungsgesetz umfassen Entlastungen in Höhe von rund
63 Milliarden DM. Dabei sind die Auswirkungen so verteilt, dass die Steuerausfälle für die Haushalte von Bund,
Ländern und Gemeinden vertretbar sind.
Wir haben also eine Trendwende für Familien, Arbeitnehmer und Mittelstand eingeleitet. Die privaten Haushalte werden um rund 33 Milliarden DM entlastet, der
Mittelstand um gut 23 Milliarden DM. Endlich haben wir
es geschafft, den Mittelstand faktisch von der Gewerbesteuer zu befreien, und sind so einer jahrzehntealten Forderung nachgekommen, meine Damen und Herren.
({29})
Das ist Mittelstandspolitik.
({30})
Sie haben gefordert und nie konkrete Lösungsansätze vorgelegt, wir aber haben das Ganze gelöst, weil wir ein Konzept hatten. Das ist der Unterschied.
({31})
Auch die großen Kapitalgesellschaften können
6,8 Milliarden DM auf ihrer Habenseite verbuchen nachdem ihnen mit dem Steuerentlastungsgesetz ungerechtfertigte Steuervorteile gestrichen worden sind! Ich
sage das hier so deutlich, weil uns ausgerechnet aus den
Reihen der Union manchmal vorgeworfen wird, wir
machten eine sozial ungerechte Politik zugunsten der
Großkonzerne. Das ist blanker Unsinn. Egal, ob es aus
Ihren Reihen oder aus unseren Reihen kommt: Das ist
blanker Unsinn! Richtig ist allerdings, dass wir keine Politik gegen die Wirtschaft und gegen die großen Unternehmen machen wollen.
Die ökonomische Entwicklung in Deutschland ist wieder dynamischer geworden. Im Ausland wird dazu aufgefordert, wieder stärker in Deutschland zu investieren. Das,
was Herr Eichel vorhin sagte, stimmt doch. Schauen Sie
sich doch einmal die Quoten bei den Direktinvestitionen
an. Das, was wir mit unserer Unternehmensteuerreform
wollen, nämlich mehr Investitionen und mehr Beschäftigung, kann gelingen. Das heißt, auch da sind wir
auf dem richtigen Weg.
Die übrigen Leistungen, die zugegebenermaßen noch
nicht im Bewusstsein aller Bürgerinnen und Bürger
- auch nicht im Bewusstsein derjenigen, die uns 1998 gewählt haben; da haben wir noch viel Aufklärungsarbeit zu
leisten - angekommen sind, hat Herr Eichel hier zusammenfassend erwähnt. Ich habe die großen Schritte beim
Kindergeld genannt. Weiter sind das Erziehungsgeld, das
Wohngeld, die Leistungen nach dem BAföG, das Niveau
der aktiven Arbeitsmarktpolitik, das wir beibehalten wollen, die Ausgaben für Forschung und Wissenschaft,
der Bundesverkehrswegeplan und der Verkehrsinvestitionshaushalt, die bei Ihnen hoffnungslos unterfinanziert
waren, zu nennen. Wir nutzen die Zinsausgabenersparnisse durch UMTS in der Tat zu Verbesserungen. Das ist
auch richtig so.
Aus all dem, was wir machen, wird deutlich: Die
Finanzpolitik von Bundesregierung und Regierungskoalition ist auf Nachhaltigkeit und Zukunft ausgerichtet,
weil wir wissen, dass der Bund nur durch stetige Konsolidierungsbemühungen seine finanzielle Handlungsfähigkeit sichern kann. Die vollständige Verwendung der
UMTS-Erlöse zur Schuldentilgung und die Verwendung
der Zinsausgabenersparnisse für Zukunftsinvestitionen
zeigen auch: Sparen ist für uns kein Selbstzweck, ist aber
unabdingbar notwendig, um auch morgen und übermorgen die Dinge tun zu können, die getan werden müssen.
Dazu gehört natürlich auch, dass über das Jahr 2004
hinaus eine ausreichende Finanzausstattung der ostdeutschen Länder und Gemeinden gesichert bleibt. Natürlich
muss und wird der bestehende Solidarpakt zugunsten
Ostdeutschlands fortgesetzt werden.
({32})
Trotz aller unbestreitbaren Fortschritte muss der Aufbau
Ost auch über das Jahr 2004 hinaus vom Bund und den
westdeutschen Ländern solidarisch durch den bundesstaatlichen Finanzausgleich und den Solidarpakt unterstützt werden. Das heißt, die Forderungen aus Bayern,
Baden-Württemberg und Hessen zielen auf Aufkündigung dieser Solidarität. Das machen wir als Sozialdemokraten nicht mit.
({33})
Ich will das den ostdeutschen Bürgerinnen und Bürgern
ganz deutlich sagen: Die Bürger in den neuen Ländern
können sich darauf verlassen, dass Bundesregierung und
Koalition ihre Verantwortung wahrnehmen.
Ich fasse zusammen: Die Haushaltskonsolidierung
wird fortgesetzt und zeitigt bereits erste Früchte. Die
Versäumnisse der Kohl-Ära werden Stück für Stück abgearbeitet, um Deutschland zukunftsfähig zu machen.
Steuer- und Abgabensenkungen werden auch weiterhin
ein Kernpfeiler unserer Politik sein. Dies sind Maßnahmen, die insgesamt mithelfen, das auszufüllen, was wir einerseits Modernisierung und andererseits Erhaltung und
Ausbau der sozialen Gerechtigkeit nennen.
({34})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Günter Rexrodt. Der Kollege Günter
Rexrodt tut sich und uns das Vergnügen an, an seinem Geburtstag in die Debatte einzugreifen. Herzlichen Glückwunsch, lieber Kollege!
({0})
Danke, Herr Präsident.
- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr KolJoachim Poß
lege Poß, es ist an sich nicht meine Art, zu Beginn einer
Rede jemanden persönlich anzusprechen. Aber ich muss
Ihnen als finanzpolitischem Sprecher der größten Regierungsfraktion sagen: Ich finde es nicht in Ordnung, dass
Sie im ersten Teil Ihrer Rede den Kollegen Austermann,
dessen Aussagen Sie inhaltlich gut finden können oder
nicht, persönlich diffamiert haben
({0})
und des Weiteren einen Bogen von der Spendenaffäre der
Union zur persönlichen Verantwortung der hier anwesenden Mitglieder der Oppositionsfraktion geschlagen haben. Das ist unmöglich, Herr Kollege Poß.
({1})
Das ist eines finanzpolitischen Sprechers der SPD-Fraktion eigentlich unwürdig.
({2})
Ich wollte an sich eine sachliche Rede halten, die ich
jetzt mit dem Zugeständnis beginne, dass ich die Richtigkeit des haushaltspolitischen Kurses von Herrn Eichel
hinsichtlich der Rückführung der Schulden nicht in Abrede stelle.
({3})
Die Staatsschulden sind zu hoch. Einnahmen und Ausgaben müssen wieder miteinander in Einklang gebracht
werden, das heißt, die Nettoneuverschuldung muss
schrittweise gesenkt und schließlich auf Null gebracht
werden. Das ist gar keine Frage. So weit, so gut.
({4})
Unredlich ist allerdings, dass Sie mit dieser Politik zwei
Botschaften verbinden - auch Sie, Herr Poß, haben das
eben in aller Deutlichkeit getan -, nämlich erstens eine
perfide und zweitens eine schlicht falsche Botschaft. Perfide und aus der Luft gegriffen sind die Aussagen, in den
90er-Jahren sei man mit den Finanzen geradezu leichtfertig umgegangen, es sei gewissermaßen ein Wesenszug der
alten Koalition gewesen, Schulden zu machen und
Gefälligkeiten zu verteilen, und es habe zu unserem
Handwerkszeug gehört, die Zukunftschancen der jungen
Generation zu verspielen.
({5})
Jeder, der sich ein Stück Fairness bewahrt hat - auch beim
Herrn Bundesfinanzminister war das heute nach langer
Zeit erkennbar -, wird wissen, dass der Zuwachs der Bundesschulden in der Zeit von 1990 bis 1998 in etwa dem
Betrag entsprach, der in dieser Zeit in die neuen Länder
geflossen ist.
({6})
Dazu gab es im Übrigen nie eine Alternative, und zwar
weder zu der Notwendigkeit des Transfers noch zu der
Finanzierung des Transfers.
({7})
Von Ihnen wird in diesem Zusammenhang immer wieder die Behauptung aufgetischt, die Deutschen wären zu
höheren Steuern und Abgaben bereit gewesen, wenn man
solche nur angemahnt hätte. Ich habe diese angebliche
Willfährigkeit der Deutschen, Steuern zu zahlen, nie festgestellt. Die anhaltende Diskussion über die Ökosteuer
und den Solidarzuschlag ist Beweis dessen, dass niemand
höhere Steuern zahlen wollte.
({8})
Es ist unverantwortlich, so zu tun, als ob eine andere
politische Konstellation den Zuwachs der Bundesschuld
in den 90er-Jahren hätte vermeiden können. In sozialdemokratisch regierten Ländern konnte jedenfalls davon
keine Rede sein, im Gegenteil:
({9})
Trotz der Tatsache, dass sich die Bundesländer unterproportional an der Finanzierung des Aufbau Ost beteiligt haben, ist die Verschuldung in Hessen während Ihrer Amtszeit von acht Jahren, Herr Eichel, um sage und schreibe
59 Prozent gestiegen.
({10})
Angesichts einer solchen Entwicklung kann niemand sagen, dass sich Herr Eichel als Ministerpräsident mit Ruhm
bekleckert habe.
({11})
Zur zweiten Botschaft: Sie versuchen, den Eindruck zu
erwecken, als habe der Konsolidierungskurs hinsichtlich
des Bundeshaushalts erst mit Ihrer Regierung begonnen.
({12})
Tatsache ist, dass der sprunghafte Anstieg der Nettoneuverschuldung schon 1994 gebremst worden ist. Vermeidbar war der Anstieg nicht. Auch Sie haben erst im Jahre
2006 eine realistische Chance, die Nettoneuverschuldung
auf Null zu bringen. Das wäre dann 16 Jahre nach der
Wiedervereinigung. Die Haushalte für 2000 und 2001 und
auch die Haushalte für die folgenden Jahre werden durch
eine günstige Konjunktur entlastet, und zwar durch
14 Milliarden DM an Steuermehreinnahmen aufgrund
verstärkter wirtschaftlicher Aktivitäten und der Tatsache,
dass die Arbeitslosigkeit zurückgeht. Diese Entwicklung
ist erfreulich. Ich wünsche uns und unserem Land, dass
sie sich gleichermaßen verstetigt und verstärkt.
({13})
Es gehört zum Repertoire regierungsamtlicher Verlautbarungen, eine gute Konjunktur auf eigenes Handeln
zurückzuführen
({14})
und eine schlechte Konjunktur auf weltwirtschaftliche
Zusammenhänge zurückzuführen. Ich mache gar keinen
Hehl daraus, dass auch mir eine solche Argumentationsweise aus vergangenen Jahren nicht fremd ist. Das muss
man ganz fair sagen. So wie Sie als Oppositionspartei die
Regierung immer zurechtgerückt haben, müssen Sie sich
heute sagen lassen: Die gute Konjunktur des Jahres 2000
ist keinesfalls das Ergebnis einer guten Politik des Jahres
1999. Es war eine Katastrophenpolitik und hat die Investoren verschreckt, meine Damen und Herren.
({15})
Die gute Konjunktur ist Bestandteil einer stabilen Entwicklung in Amerika, in Asien und auch in anderen europäischen Staaten. Ich bin wiederum fair und sage, dass Sie
im letzten halben Jahr im Inneren des Landes durch eine
Steuerreform Rückenwind erhalten haben, die in der
Wirtschaft zumindest in der Zielrichtung begrüßt wird.
({16})
Die Konjunktur wird durch exorbitant steigende Exporte zusätzlich beflügelt. Das ist völlig in Ordnung. Erinnern Sie sich, meine Damen und Herren, dass es erst
drei oder vier Jahre zurückliegt, dass Sie die Stabilisierung der Wirtschaftsentwicklung 1997/98 höhnisch damit
abtaten, das sei nur der Export. Wir alle wissen, dass die
neueren Exporterfolge nicht nur auf einer Wertschätzung
der deutschen Produkte und Dienstleistungen zurückzuführen ist. Die deutsche Wirtschaft hat zwar technologisch und betriebswirtschaftlich enorm zugelegt. Die Exporterfolge haben aber zum großen Teil ihre Ursache in
einer Schwäche des Euro. Diese Schwäche kann nur überwunden werden, indem man einen entschiedenen Reformkurs in ganz Europa einschlägt und nicht dadurch,
dass der Bundeskanzler törichte Bemerkungen über den
Kurs des Euro macht.
({17})
Meine Partei hat diesen Reformkurs in ihrem Programm und in der praktischen Umsetzung immer verfolgt.
Wer etwas anderes sagt, ist unredlich. Geradezu komisch
ist es, wie die Grünen, einst Fundamentalopposition, in
staatstragenden Auftritten liberale Positionen zu übernehmen versuchen. Wir haben in allen wichtigen Bereichen,
ob es Steuerpolitik, Arbeitsmarktpolitik, Deregulierungspolitik, Sozialpolitik oder Gesundheitspolitik ist, in den
90er-Jahren die richtigen inhaltlichen Weichenstellungen
vorgenommen. Wir haben nicht alles durchsetzen können.
Vieles wurde von Ihnen blockiert. Vieles war auch im Inneren schwierig. Aber es waren die Liberalen - das sage
ich mit Stolz und ohne jede Anmaßung, meine Damen und
Herren -, die in den 90er-Jahren die richtigen Weichenstellungen vorgeschlagen haben und dafür eingetreten
sind, dass diese Politik in Deutschland umgesetzt werden
kann. Nichts anderes ist der Fall gewesen.
({18})
Meine Damen und Herren, ein entschiedener Reformkurs ist vor allem bei der Liberalisierung des Arbeitsmarktes notwendig, damit Europa als reformfähige Region anerkannt wird. Das hat Rückwirkungen auf den
Euro. Von einer Liberalisierung des Arbeitsrechtes ist in
Ihrer Politik nichts zu sehen. Herr Riester verschlimmbessert die in diesen Tagen bestehende Regelung und verschreckt gleichermaßen die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer.
({19})
Solange wir mit dem Arbeitsrecht nicht klarkommen,
wird Europa nicht als Wachstumsregion, als attraktive Region wahrgenommen. Das hat in Wirklichkeit Auswirkungen auf den Euro. Mit einem verkrusteten Arbeitsrecht
haben wir in einer Industriegesellschaft vielleicht unter
Knirschen noch leben können. In einer Dienstleistungsgesellschaft können wir das nicht.
({20})
Die Haushalte der vergangenen und kommenden Jahre
werden in ganz erheblichem Umfang durch Privatisierungserlöse entlastet. Zu unserer Zeit hieß das: „Die Bundesregierung verscherbelt das Tafelsilber.“
({21})
Mit dem Regierungswechsel sind diese Stimmen auf Ihrer Seite verstummt.
Tatsache ist, Herr Wagner: Der rot-grünen Koalition
fließen dreistellige Milliardenbeträge aus Reformen, aus
Privatisierungen, zu, die Sie über weite Strecken leidenschaftlich bekämpft haben.
({22})
Was für Widerstände hat es gegen die Liberalisierung auf
den Strommärkten gegeben! Welche Zeit und welche
Mühe hat es gekostet, bis Sozialdemokraten bereit waren,
die Telekommunikation zu privatisieren! Wir haben durch
Ihre Politik sechs Jahre verloren.
({23})
1999 kamen 5,5 Milliarden DM aus der Privatisierung
von Bundesunternehmen. 2000 werden es 3,5 Milliarden DM und 2001 8,8 Milliarden DM sein. Aber das sind
im Vergleich zu den 100 Milliarden DM, die Ihnen aus der
Versteigerung der UMTS-Lizenzen zufließen, kleine Beträge. Diese Versteigerung ist nur möglich geworden, weil
es vorher die Privatisierung der Telekommunikation gab.
({24})
Die haben wir - gegen Ihre Widerstände - durchgeführt.
Die Menschen draußen müssen das wissen.
Herr Eichel, es ist richtig, dass Einmaleinnahmen, wie
die aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen, zum Abbau der Bundesschuld verwandt werden; insofern hat der
Bundesfinanzminister die Unterstützung meiner Fraktion.
Aber es gibt frei werdende Zinsersparnisse. Spätestens bei
denen setzt die hinlänglich bekannte Verteilungsdiskussion ein.
Man kann in diesem Zusammenhang sicherlich über
den einen oder anderen Akzent in der Bildungs- oder Verkehrspolitik sprechen. Ich vertrete die Auffassung, dass
dieses Geld am besten angelegt ist, wenn es zum größeren
Teil in eine glaubwürdige Steuerentlastung des Mittelstands fließt. Die Steuerreform ist an dieser wichtigen
Flanke - ich werde das noch ansprechen - zu halbherzig.
Zur Privatisierungspolitik noch zwei Bemerkungen:
Erstens. Eine der großen ausstehenden Reformen ist
die Bahnreform. Dazu höre ich von der Bundesregierung
und von der Bahn selbst, Netz und Betrieb müssten unbedingt zusammenbleiben.
({25})
Die Argumente dafür werden entweder nicht vorgetragen
oder sie sind über alle Maßen dürftig. Ich bin fest davon
überzeugt, dass nur Wettbewerb die Misere beim Schienenverkehr aufheben kann und dass Deutschland ein modernes Schienentransportsystem erhalten kann.
({26})
Die Trennung von Fahrweg und Betrieb ist dafür Voraussetzung, im Interesse der Kunden und der Steuerzahler.
Mit der Bahn können Sie an der Börse nur etwas werden,
wenn Sie diese Trennung vorgenommen haben.
({27})
Oder liefern Sie die Argumente, warum Sie das nicht tun?
- Nichts ist zu hören!
Meine zweite Bemerkung betrifft die Kreditanstalt
für Wiederaufbau, die eine große Förderbank, und die
Deutsche Ausgleichsbank, die andere Förderbank. Der
Bund hat Kasse gemacht, indem er die Anteile des Bundes an der Deutschen Ausgleichsbank an die KfW verkauft hat. Das Für und Wider einer solchen Zusammenlegung ist lange erörtert worden. Ich will das hier nicht
wiederholen. Aber mir liegt aus mittelstandspolitischer
Überzeugung - es geht um ein großes Anliegen auf diesem Gebiet - an einer Feststellung sehr viel: Beide Banken haben ihre Kernkompetenzen. Es wäre töricht und
gegen den Mittelstand gerichtet, wenn man diese Kernkompetenzen auflöste. Machen Sie aus der Deutschen
Ausgleichsbank eine Gründungs- und Mittelstandsbank!
Verschaffen Sie ihr die notwendigen Freiheiten in der Geschäftspolitik, auch in der Personalpolitik und der Refinanzierung. Lassen Sie die KfW das machen, was sie gut
kann, das sind - das ist international anerkannt - die Entwicklungshilfe und die großen, weltweiten Finanzierungen! Sie haben Kasse gemacht. Machen Sie das Richtige
mit dem Geld!
({28})
Um die Einnahmeseite des Haushalts abzuschließen,
möchte ich noch einige, ganz wenige Bemerkungen zur
Steuerreform machen. Zunächst ist es gut, dass es eine
Reform gibt, die eine Steuersenkung über den gesamten
Tarif vorsieht. Das ist im Übrigen im Ursprung von einer
sozialdemokratischen Grundhaltung und von sozialdemokratischem Gedankengut weit entfernt. Herr Poß, Sie
selbst haben das eben zugegeben.
Was zählt, ist das Ergebnis. Ich gebe zu: Sie haben
beim Ergebnis Punkte gemacht. Über den Poker, den Sie
mit den Ländern betrieben haben, habe ich meine eigene
Meinung. Dies, meine Damen und Herren, darf aber nicht
dazu benutzt werden, den Mittelstand, der im Tarif ohnehin weniger entlastet wird als angebracht und notwendig, bei der Besteuerung der Veräußerungsgewinne
im Nachhinein über den Tisch zu ziehen.
({29})
Unternehmer, die ihre Betriebe in den Jahren 1999 oder
2000 veräußern, gehen leer aus. Danach gelten Einschränkungen; das bestätigt den Vorbehalt mittelständischer Unternehmen gegen diese Reform. Der Spitzensteuersatz geht spürbar erst 2005 herunter. Das ist Gift für
Investitionen und Arbeitsplätze in diesem wichtigen Bereich unserer Wirtschaft.
({30})
Nicht nur der Mittelstand, sondern vor allem die kleinen Leute leiden derzeit unter den enormen Belastungen
des steigenden Ölpreises. Mit dem, was von Ihnen als
Ökosteuer bezeichnet wird, setzen Sie immer wieder noch
eins drauf. Sie haben das von Anfang an gewollt. Sie haben das ja gesagt. Insbesondere die Grünen haben ja von
einem Benzinpreis von 5 DM gesprochen. Die OPEC ist
eine Einrichtung, die Ihre Politik macht. Sie wollten den
hohen Benzinpreis. Nun sagt Herr Eichel: Wir brauchen
über die Abschaffung oder die Senkung der Ökosteuer
nicht zu sprechen, wir machen ja eine fundamentale Steuerentlastung. Herr Eichel, machen wir denn eine Steuerentlastung, um Deutschland wieder für Investoren attraktiv zu machen? Machen wir eine Steuerentlastung, damit
Arbeitsplätze geschaffen werden? Oder machen wir sie,
damit die Bürger das Geld, das sie auf der einen Seite bekommen, auf der anderen Seite an der Tankstelle wieder
abgeben müssen? Das kann es doch wohl nicht sein.
({31})
- Wenn Sie schreien, erinnern Sie mich nur daran, dass
das Geld nicht nur an der Tankstelle, sondern auch beim
Heizölhändler abgeführt werden muss. Anders ist dieses
nicht zu beschreiben.
Meine Damen und Herren, Sie wollen den Leuten ans
Portemonnaie.
({32})
Sie werden Ihr Waterloo erleben. Ich sage das mit großer
Lässigkeit. Wenn Sie im Januar noch einmal 7 Pfennig
draufpacken, wird Ihnen das übel bekommen.
({33})
Das geschieht Ihnen zu Recht, denn diese Politik, die auf
eine Verteuerung der Energie hinausläuft, wirkt sich
schädlich auf die Arbeitsplatzentwicklung in unserem
Land aus.
({34})
Nun zur Ausgabenseite: Es wird gespart, sagt der Finanzminister. Konsolidieren und gestalten heißt das dann
amtlich. Das haben im Übrigen alle Finanzminister gesagt. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich Folgendes:
Während die Ausgaben des Bundes unter Theo Waigel
schon in der Zeit von 1995 bis 1998 um rund 30 Milliarden DM gesenkt wurden, bleibt das Ausgabevolumen in
den Jahren 2000 und 2001 quasi konstant, in den Jahren
2002 bis 2004 wird das Ausgabevolumen wieder kräftig
ansteigen. Das sind Ihre eigenen Zahlen und Prognosen,
Herr Eichel, da brauchen Sie nicht den Kopf zu schütteln.
Schlagen Sie Ihr Buch auf. Da steht das so drin. Der eigentliche Kraftakt in Bezug auf die Ausgaben wurde nämlich in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre - das lag näher
an der Wiedervereinigung - vollzogen.
Die Konsolidierung der Haushalte in den nächsten Jahren, über die wir uns alle freuen, erfolgt also nicht primär
auf der Ausgabenseite, sondern vor allem durch eine
günstige Entwicklung der Steuereinnahmen. Real zahlten
die Bürger und Unternehmen im Jahre 1999 376 Milliarden DM an den Bund, im Jahre 2004 werden es 474 Milliarden DM sein. Das ist eine Steigerung um 16 Prozent.
22 Milliarden DM davon entfallen allein auf die unselige
Ökosteuer, auf die Benzin- und die Stromsteuer.
({35})
Die Zuschüsse zur Rentenversicherung erreichen ein
historisches Hoch, ohne dass es zu einer durchgreifenden
Senkung der Rentenbeiträge kommt.
({36})
Sie bleiben stabil. Sie gehen damit zwar ständig hausieren, aber Sie können sie gerade einmal stabil halten, obwohl sie immer stärker steuerfinanziert werden.
({37})
Verheerend ist die Verschiebung bei konsumtiven und
investiven Ausgaben. Wurden 1998 noch 12,5 Prozent des
Haushalts für Inves-titionen ausgegeben, werden es 2001
nur 11,4 Prozent und 2004 nur 10,3 Prozent sein. Das ist
ein historisches Tief. Die Konsumausgaben steigen permanent. Wir sind mit dieser Verschiebung, der Steigerung
der Konsumausgaben und der Senkung der Investitionsausgaben, wieder so richtig in sozialdemokratischer Tradition.
({38})
Darüber können Sie nicht hinwegtäuschen.
Leidtragender dieser verfehlten Politik auf der Ausgabenseite ist der Verkehrs- und Bauminister, dem allein in
2001 4,9 Milliarden DM weniger zur Verfügung stehen.
Die Investitionen werden um 1,7 Milliarden DM gekürzt.
Das setzt sich fort im Bildungsbereich. Die Parteien, die
die Bundesregierung tragen, hatten im Wahlkampf 1998
großspurig angekündigt, die Investitionen im Bildungsbereich zu verdoppeln. Lesen Sie das nach. Tatsache ist,
dass die Ausgaben für Bildung im Jahre 2001 unter denen
des Jahres 1998 liegen.
({39})
Das ist ein Faktum. Schauen Sie nach! Das ist großspurige Ankündigung, das ist ein Asset, ein besonderer Wert
Ihrer Politik.
({40})
In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall.
Ein Drama besonderer Art - damit möchte ich meine
Ausführungen zu den Einzelhaushalten abschließen; sie
werden ja Gegenstand der Debatte in den nächsten Tagen
und Wochen sein - ist die Wirtschaftsförderung. Der
Rückgang der Etatansätze von 16,8 Milliarden DM in
1998 auf 10,8 in 2001 hat sicherlich etwas mit der Reduzierung der Kohlesubvention zu tun. Da haben Sie auch
unsere Unterstützung. Herr Minister Müller ist nicht mehr
da. Wenn er seine globale Minderausgabe auf die Kohleförderung umlegt, hat er unsere Unterstützung. Das ist
okay.
Was aber bei diesem geplünderten Haushalt ins Auge
fällt, sind die schrumpfenden Ansätze für die Mittelstandsförderung, die zwischen 1998 und 2001 um sage
und schreibe 40 Prozent gekürzt worden sind - das alles
in einer Zeit, in der die notwendige Entlastung bei den Ertragsteuern ausblieb und bei der Ökosteuer, wie wir alle
wissen, kräftig draufgesattelt wurde. Und dann schmälern
Sie auch noch den Mittelstandsförderungsrahmen der
KfW dadurch, dass der Bund abkassiert und die Refinanzierung der KfW 250 Millionen DM kostet.
Dies alles muss erwähnt werden, wenn Sie sich hier
hinstellen und plakativ sagen: Wir haben jetzt alles gemacht und ihr wart damals so schlimm. Was haben Sie
denn in Reihe gebracht, Herr Poß? Bei der Ausgabenentwicklung haben Sie gar nichts in Reihe gebracht und
wenn Sie gekürzt haben, haben Sie oft an der falschen
Stelle gekürzt,
({41})
weil Sie sich nämlich an Leistungsgesetze nicht herantrauen. Das ist die alte Tradition.
Ich will jetzt gar nicht vom Verteidigungsbereich sprechen. Ich will nur eines sagen: Ich verkenne nicht, dass im
Haushalt an der einen oder anderen Stelle richtig gekürzt
und richtig umgeschichtet worden ist. Der Finanzminister
befindet sich da in der Kontinuität seiner Vorgänger. Dass
die Haushalte 2001 und fortfolgende allerdings ein finanzpolitischer Knüller seien, kann niemand ernsthaft
behaupten.
({42})
Im Gegenteil: Auf der Ausgabenseite macht Herr Eichel
alles andere als eine gute Figur. Die Ausgaben steigen. Seine
Chance liegt auf der Einnahmeseite, auf der es kräftige
Zuflüsse gibt, im Grunde ein Windfall Profit aus Reformen, die wir angeleiert und die Sie bekämpft haben.
({43})
Eine langfristige Strategie - weil Sie von „Blick“ sprechen - zur Rückführung der Ausgaben gibt es in diesem
Bundeshaushalt und diesem Finanzplanungszeitraum
nicht.
({44})
Herr Kollege Rexrodt, ich habe Ihnen einen Geburtstags-Zeitbonus gegeben, aber jetzt bitte ich Sie, zum Schluss zu kommen.
Dafür bedanke ich
mich, Herr Präsident.
Ich möchte nur noch den Damen und Herren von der
Opposition mitgeben:
({0})
Sie haben Glück gehabt, Herr Eichel hat - wir alle wissen
das - Glück gehabt, und zwar bei den Steuern und durch
Reformen, die wir angeleiert haben. Gemessen werden
muss er daran, ob er in der Lage und willens ist, die Ausgaben des Bundeshaushalts zu beschränken. Da hat er
seine Schularbeiten nicht gemacht und daran werden wir
ihn messen.
Schönen Dank.
({1})
Als
nächster Redner hat der Kollege Oswald Metzger vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn diese
Woche die größte Oppositionsfraktion eine Kampagne
unter dem Motto „Ökosteuer k.o.“ startet, dann muss ich
sagen: Dem Kollegen Austermann und zum Teil auch dem
Kollegen Rexrodt gehen die Argumente aus. Die Argumente der Opposition gehen angesichts der soliden Finanzpolitik k.o.
({0})
Das ist die Wahrheit.
({1})
Herr Kollege Rexrodt, ich fange mit Ihnen an. Mit
vollen Hosen ist gut stinken. Wer als Partei 30 Jahre in der
Regierung war - der Finanzminister hat daran erinnert, in
den 70er-Jahren mit den Sozialdemokraten und in den
90er-Jahren mit der CDU; beides waren Phasen, in denen
die Verschuldung in diesem Land in Bezug auf die wirtschaftliche Leistungskraft am stärksten explodierte -, hat
keinen Grund, von solider Finanzpolitik und auch davon
zu reden, dass die Finanzpolitik nur durch die Wiedervereinigung bestimmt wurde.
Dieses Land hat auf Kosten zukünftiger Generationen
gelebt. Diesen Schuh müssen sich alle Parteien anziehen.
Deshalb ist es richtig, wenn jetzt eine Idee aus der ökologischen Bewegung - nämlich die Idee der Nachhaltigkeit, die besagt, dass man auf diesem Planeten so lebt,
dass unsere Kinder und Enkel Luft zum Atmen haben auf die Finanzpolitik des Staates und auf die Reform der
Systeme der sozialen Sicherung übertragen wird. Dazu
gehören Schlagworte wie Generationengerechtigkeit,
Nachhaltigkeit in der Finanzpolitik, Abbau der Staatsschulden, ausgeglichene Haushalte und Gestaltungsspielräume für die Jungen in diesem Land, die in der Zukunft
die Generation bilden, die gestaltet.
({2})
Dieses Grundprinzip aus der Ökologie möchte ich jetzt
herunterbrechen auf Argumente, die Sie, Kollege Rexrodt
und Kollege Austermann, in die Debatte eingeführt
haben. Sie sagen, es seien Windfall Profits, wenn jetzt
100 Milliarden DM aus der Frequenz-Versteigerung eingenommen werden, weil die Sozialdemokratie die
Privatisierung der Telekom und der Post schließlich
bekämpft habe. Das stimmt.
({3})
Aber Sie vergessen, dass diese Privatisierung den öffentlichen Haushalten auch Lasten zuschiebt, die wir alle
die nächsten 45 Jahre tragen müssen.
({4})
- Kollegin Wegner, das ist richtig. - Wir müssen 820 Milliarden DM Lasten aufgrund der Pensionen an frühere
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Postunternehmen
zahlen. Wenn Sie diese Lasten versicherungsmathematisch korrekt auf Barwert abzinsen, dann errechnet sich
eine Last von 200 Milliarden DM. Wenn Sie ehrlich sind,
müssen Sie zugeben, dass diese Last spürbar ist.
({5})
- Die Lasten verteilen sich. Aber die Barwertmethode
zeigt uns, dass diese Lasten in Zukunft bestehen und dass
normale Steuermittel fällig sind, wenn das Eigentum des
Bundes durch Privatisierungen für Pensionszahlungen sozusagen verbraucht ist.
Allein zwischen 2000 und 2004 steigen die Ausgaben
für die Postunterstützungskassen um etwa 2,5 Milliarden DM auf rund 11 Milliarden DM. Angesichts dieser
Zahlen wäre ich an Ihrer Stelle mit der Aussage höllisch
vorsichtig: Ihr habt die Privatisierung bekämpft und jetzt
macht Ihr Windfall Profits. - Wir sorgen für das einzig
Richtige, nämlich dass diese Sondereinnahmen in die Tilgung fließen und somit nicht vervespert werden, damit
wir künftig Mittel haben, um diese Last abzufedern. So
sehen die Fakten aus.
Kollege Austermann, Sie erklären zum wiederholten
Male - durch Wiederholung wird es aber nicht wahr -,
dass die Ausgaben des Bundes zwischen 1998 und 2002
in Wirklichkeit massiv gestiegen seien. Was Sie unterschlagen, ist, dass Sie mit Ihrer Finanzpolitik Schattenhaushalte wie zum Beispiel für Postunterstützungskassen
unterhalten haben. Ich war bei den entsprechenden Verhandlungen dabei. Die Postunterstützungskassen mit einem Volumen von rund 10 Milliarden DM waren bis zu
unserem ersten Etat außerhalb des Bundeshaushaltes angesiedelt, was bereinigt werden musste. Sie unterschlagen
ferner Kosten für Kindererziehungszeiten in Höhe von
über 23 Milliarden DM, die es zu Ihrer Zeit noch nicht in
Form eines Bundeszuschusses an die Rentenkasse gab.
Das sind Ausgaben, die wir etatisieren mussten.
Was Sie auch vergessen, ist, dass wir die Einnahmen
aus der von Ihnen kritisierten Ökosteuer als Bundeszuschuss an die Rentenversicherung verwenden. Das
führt dazu, dass die Beiträge anstatt bei annähernd 21 Prozent heute bei 19,3 Prozent liegen. Das ist die Wahrheit;
sie tut weh. Man muss sie zur Kenntnis nehmen und kann
nicht einfach nur grölen.
({6})
Genauso ist es, wenn die Ausgaben nach verschiedenen Fachbereichen bereinigt werden. Das möchte ich
heute nicht tun, weil es mir mehr um die Generallinie
geht.
Nur wir in der Koalition haben eine Spardebatte geführt. Die Opposition war ja abgetaucht, weil Kochs
Schatten verhinderte, dass sich die zwischen Merz,
Merkel und Austermann bestehenden unterschiedlichen
Meinungen über die Verwendung der UMTS-Erlöse öffentlich niederschlagen konnten. Eine entsprechende Diskussion gab es nur zwischen den Haushaltspolitikern der
Koalition bzw. zwischen ihren beiden Fraktionen. Wir
Haushaltspolitiker haben natürlich die Aufgabe, darauf
hinzuweisen, dass es, wenn man konsolidiert, nötig ist, zu
bestimmten Forderungen Nein zu sagen. Wir sagen aber
nicht nur Nein; wir wollen nicht nur sparen, sondern auch
Spielräume mobilisieren, damit investiert werden kann.
Ihre Hauptangriffsfläche, Kollege Austermann, und die
des Kollegen Rexrodt war festzustellen, dass die Investitionen im Vergleich zu den Ausgaben des Bundes relativ
gesehen sinken.
({7})
Dazu kann ich Folgendes festhalten: Nachdem wir wissen, wie hoch die UMTS-Erlöse sein werden, werden wir
anlässlich der Haushaltsberatungen im zuständigen Ausschuss in den nächsten Monaten und spätestens in der
Bereinigungssitzung dafür Sorge tragen, dass die Investitionsausgaben im Vergleich zum Regierungsentwurf um
annähernd 4 Milliarden DM erhöht werden. Sie werden
dann feststellen: Die Investitionen werden höher liegen
als im laufenden Jahr. Wir werden den Haushalt in seinen
Eckpunkten, also beim Ausgabevolumen, so wie im Entwurf der Regierung vorgesehen, bestehen lassen. Wir
werden die Ausgaben nicht steigern. Dadurch verbessert
sich also relativ gesehen die Situation bei den Investitionen.
({8})
Wir werden nur in den Bereichen Investitionen etatisieren, die im nächsten Jahr nach Menschenmöglichkeit
auch tatsächlich abfließen. Es kommt also nicht zu
Scheinbuchungen, sondern zu Investitionen in die Zukunftsbereiche unserer Volkswirtschaft.
Die ganze Welt regt sich doch zurzeit über höhere
Energiekosten auf. Natürlich muss angesichts des bestehenden Massenverkehrs das öffentliche Verkehrssystem
in Deutschland attraktiver bzw. pünktlicher werden. Dass
der Schwerpunkt der Koalition auf der Bahn liegt, ist absolut in Ordnung. Angesichts dessen, dass in den letzten
Jahren die Zahl der Langsamfahrstrecken von 200 auf
1 000 explodiert ist und sich Fahrgäste aufregen, dass die
Fahrpläne nicht eingehalten werden, ist es nötig, diese
Defizite der Bahn zu beseitigen. Dafür werden wir die entsprechenden Mittel zur Verfügung stellen.
({9})
Sie sagten, dass, wenn man seine Heizkostenrechnung
anschaut, vor allem im Altbaubestand dieser Republik die
Wärmedämmung extrem zu wünschen übrig lässt. - Das
ist richtig; das merken ja auch wir. - Unter der Regierung
Kohl - das war 1990 - hatten Sie sich verpflichtet, bis
2005 eine Minderung des CO2-Ausstoßes um 25 Prozent zu erreichen. Kanzler Schröder hat sich verpflichtet,
an diesem Ziel festzuhalten. Angesichts all dieser Punkte
müssen wir für die Menschen, die mit Altbauten zu tun haben, das heißt für Vermieter, Hauseigentümer und Mieter,
etwas tun, indem der Staat in diesem Bereich den Klimaschutz ernst nimmt und über entsprechende Anreize, über
die Staatsbank KfW, Einsparmaßnahmen im Energiebereich finanziert.
({10})
Das ist absolut richtig, ist eine Zukunftsinvestition und
verhindert, dass die Menschen, vor allem sozial schwächere Schichten, durch hohe Energiepreise stranguliert
werden. Das ist ein Angebot an die Bevölkerung. Auch
das sollte man zur Kenntnis nehmen.
Im Bildungs- und Forschungsbereich ist es ähnlich.
Natürlich werden wir die aus Zinsersparnissen entstehenden Spielräume nutzen, indem wir in diesem Bereich die
Mittel erhöhen. Zu Ihrem platten Zahlenvergleich, Herr
Kollege Rexrodt, den Sie in Bezug auf die Jahre 1998 und
2001 angestellt haben: Sie sollten sich den Aufwuchs im
Bildungs- und Forschungsbereich auch in Relation zu den
anderen Ressorts ansehen.
({11})
- Seien Sie ganz friedlich. Wir erhöhen die Mittel für den
Hochschulbereich im nächsten Jahr um 200 bzw. 300 Millionen DM. Dies ist ein schlechtes Beispiel, das Sie hier
angeführt haben, denn in diesem Bereich wird wirklich erhöht. Auch beim BAföG wird erhöht. Der Finanzminister
hat die entsprechenden Zahlen genannt. Ich wäre sehr
vorsichtig. Denn wenn wir in medias res gehen, werden
Sie sofort merken, dass es zu vielen plausibel klingenden
Einwänden von Ihnen Gegenargumente gibt, angesichts
der Sie nicht so gut aussehen wie in einer oberflächlich
geführten, polemischen Debatte.
Die Grundauseinandersetzung in der Finanzpolitik
in unserer Gesellschaft muss man auf ein ordnungspolitisches Fundament stellen; das wissen Sie. Wenn wir wollen, dass die - dies sage ich bewusst - durch die politischen Parteien dieser Republik seit Jahrzehnten verursachte Verschuldung auf Bundes-, Landes- und selbst auf
kommunaler Ebene ein Ende hat, muss man ein Konzept
verfolgen, das lautet: Rückführung der Verschuldung
über die Ausgabenseite; das tun wir. Man muss zudem
Steuern senken; das tun wir. Zu Ihrem Leidwesen haben
wir vor der Sommerpause eine der größten Steuerreformen der Geschichte beschlossen und auch durchgesetzt,
die auch den Mittelstand entlastet, Kollege Rexrodt.
({12})
Sie unterschlagen das komplett. Lassen Sie das die Steuerberater durchrechnen. Die entscheidende Entlastung ist
der faktische Verzicht auf die Gewerbeertragsteuer. Das
werden die Unternehmen im nächsten Jahr merken.
({13})
Es ist zwar richtig, dass der Grenzsteuersatz erst im
Jahre 2005 auf 42 Prozent sinkt. Das stimmt, aber die Gewerbeertragsteuerverrechnung greift schon im nächsten
Jahr, und das ist faktisch die Entlastung der mittelständischen Unternehmen. Das können Sie nachrechnen.
Wir haben Steuerentlastungen durchgesetzt. Das ist ein
Teil der Konsolidierungsrendite, wir führen die Schulden
des Staates stetig und verlässlich zurück und lassen die
Bevölkerung an der Konsolidierung partizipieren, indem
wir die Steuern senken.
Wir setzen darüber hinaus eine neue Konzeption im
Bereich der Systeme der sozialen Sicherung um. Die Rentenreform, über die derzeit debattiert wird, hat doch
über alle parteipolitischen Auseinandersetzungen hinweg
einen entscheidenden konsensualen Ansatz: Wir müssen
uns ein Stück weit von der reinen Umlagefinanzierung
verabschieden, weil wir sonst der Alterspyramide unserer
Gesellschaft nicht vernünftig begegnen können und die
Kinder und Enkel zu den Verlierern des Umlagesystems
machen, die, wenn sie selbst ins Alter gekommen sind,
von geringen Rentenansprüchen leben müssen, während
sie in ihrer aktiven Zeit hohe Steuern und Abgaben für die
alte Generation bezahlen mussten. Deshalb ist der Einstieg in die private Vorsorge absolut richtig.
Wenn wir diese Reform in den nächsten Monaten
durchsetzen, und zwar möglichst im Konsens mit der gesamten Gesellschaft - das wurde heute schon angesprochen -, dann ist ein weiterer ordnungspolitisch wichtiger
Schritt auf dem Weg zur nachhaltigen Konsolidierung der
Staatsfinanzen und zur Reform der Systeme der sozialen
Sicherung getan worden. Das nennt man Generationengerechtigkeit.
Betrachten wir nun den Bereich der ökologischen Modernisierung der Volkswirtschaft, von dem schon die
Rede war. Dazu gehört als Mosaiksteinchen die Effizienzsteigerung im Energiesektor, und das weiß jeder von
uns. Ich komme jetzt zu der vordergründigen Attacke der
Opposition, die von der Gesellschaft als Resonanzkörper
verstärkt wird. Wenn ich in den Zeitungen lese, was manche Journalisten darüber schreiben, dann muss ich den
Kopf schütteln und zweifle, ob diese Journalisten überhaupt noch wissen, was in diesem Land gespielt wird.
Die Koalition hat zwölf Pfennig Ökosteuer und darauf
zwei Pfennig Mehrwertsteuer erhoben. Dieses Geld floss
bis auf 200 Millionen DM, die für die Förderung regenerativer Energien ausgegeben wurden, komplett in die Senkung des Rentenversicherungsbeitrags. Das heißt nichts
anderes, als dass der Durchschnittsarbeitnehmer mit einem Vollarbeitsplatz in der gewerblichen Wirtschaft in
Deutschland, der brutto rund 5 000 DM monatlich verdient, seit dem Ende Ihrer Regierungszeit einen halben
Prozentpunkt weniger Rentenversicherungsbeitrag bezahlt und damit 25 DM mehr netto im Monat hat. Das ist
die Gegenrechnung.
Wenn Sie, die Union oder die F.D.P., den Menschen
verkaufen wollen, wir sollten die Ökosteuer aussetzen,
dann müssen Sie ihnen auch sagen, dass sie dann 25 DM
netto im Monat weniger in der Tasche haben werden, weil
der Rentenversicherungsbeitrag auf 20,3 Prozent respektive eher auf 21 Prozent steigen wird.
({14})
- Kollege Hinsken, diese einfache Wahrheit stimmt. Sie
als Selbstständiger sollten wissen, dass gerade der personalintensive Mittelstand von der Senkung der Arbeitskosten profitiert hat, weil der Arbeitgeber pro Arbeitnehmer
ebenfalls einen halben Prozentpunkt weniger zahlen
musste.
({15})
- Die Sozialversicherungsbeiträge sinken und sie werden
weiter sinken.
({16})
Wenn Sie dem Finanzminister heute aufmerksam zugehört haben, wird Ihnen klar geworden sein, dass wir,
wenn es die Konjunktursituation zulässt - aus heutiger
Sicht lässt sie es zu und meine Fraktion hat dazu gestern
einen Beschluss gefasst -, im Jahre 2002 bei der Arbeitslosenversicherung die Chance haben werden, den Beitragssatz zu senken und das in der Koalitionsvereinbarung
angestrebte Ziel, in dieser Legislaturperiode mit den Sozialversicherungsbeiträgen unter 40 Prozent zu kommen,
erreichen. Sie werden sich noch wundern.
({17})
Wir verfolgen das Ziel der Senkung von Steuern und Abgaben. Das ist ordnungspolitisch vernünftig.
Ich habe versucht, die Zusammenhänge bei der Ökologisierung der Volkswirtschaft von einer anderen Seite her
zu erläutern.
Was mich aber am meisten ärgert, ist Folgendes: Die Unionsfraktion hat ein Rentenkonzept - Ihre Experten auf der
Fachebene sind Horst Seehofer von der CSU- und
Andreas Storm von der CDU-Fraktion, also Kollegen, die
ich schätze -,
({18})
bei dem die Einnahmen aus der Ökosteuer quasi vereinnahmt werden. Wenn Sie diese unterschlagen würden,
müssten Sie sofort eine Mehrwertsteuererhöhung um 1
bis 1,5 Prozentpunkte in die Debatte bringen. Dann
sind Sie bei dem, was in Ihrer Koalitionszeit, nämlich 1998, beschlossen wurde: Mehrwertsteuererhöhung
am 1. April 1998 um 1 Prozent, damit damals der Rentenversicherungsbeitrag nicht auf 21 Prozent anstieg.
Da frage ich jetzt Sie hier und auch die Öffentlichkeit:
Ist es Ihnen lieber, eine Mehrwertsteuer, eine Verbrauchsteuer, als Umfinanzierungsinstrument zu bezahlen oder
eine Steuer, auf die ich über den Verbrauch - beim Auto
über den Gasfuß, bei meiner Wohnung über entsprechendes Heizen - Einfluss nehmen kann?
({19})
Diese Alternative haben Sie. Oder wollen Sie diese unglaubwürdige Strategie mitmachen, dass man die Ökosteuer zum Sündenfall der gesamten Gesellschaft erklärt?
Wenn Sie sich die solide Grundstruktur unserer Politik
noch einmal ansehen - Senkung der Steuern und Abgaben
als Konsolidierungsrendite aus Rückführung der Staatsverschuldung, also überwiegend auf der Ausgabenseite,
und Reform der Systeme der sozialen Sicherung sowie
Senkung bei der Arbeitslosenversicherung, wenn die
Konjunktur es zulässt -, stellen Sie fest: Dies ist eine
stringente Strategie, von der Sie immer geredet haben, die
Sie aber während Ihrer letzten vier Regierungsjahre überhaupt nicht praktizieren konnten. Dies ist für mich der
Punkt, an dem Sie unredlich werden.
Es wird plötzlich behauptet, diese Koalition, dieser Finanzminister würde Privatisierungserlöse für den laufenden Haushalt verwenden.
({20})
Wir haben in diesem Jahr praktisch keine Privatisierungserlöse mehr in den öffentlichen Haushalt eingestellt. Im
nächsten Jahr, im Jahre 2001, haben wir 8 Milliarden DM
in den öffentlichen Haushalt eingestellt. Wenn Sie lesen,
was in der letzten Woche in der SPD-Fraktion und bei uns
Grünen beschlossen wurde, werden Sie feststellen: Steuerbedingte Mehreinnahmen werden auch dazu herangezogen, die Privatisierungseinnahmen durch reguläre Einnahmen zu ersetzen. Privatisierungserlöse - das ist
erklärtes Ziel dieser Koalition - werden künftig in die Tilgung fließen.
Im Herbst werden wir ein Haushaltsgesetz mit einer
Regelung bekommen, in der genau diese Ermächtigung
für den Finanzminister enthalten ist. Dies ist die gleiche
Ermächtigungsnorm, die jetzt auch für die UMTS-Zinserlöse gilt, die dazu führt, dass wir keinen Nachtragshaushalt brauchen. Es ist absurd: Ein Nachtragshaushalt
wäre ja nur für Sie, die Union, ein willkommener Anlass,
um Ihre Ausgabenprogramme auszubreiten und das Geld
nicht für die Schuldentilgung, sondern als Volksbeglückungsinstrument zu verwenden. Dies kann man einer
unredlichen und unseriösen Opposition ja durchgehen
lassen, aber einer soliden, seriösen Regierungskoalition
mitnichten.
({21})
Wenn ich über das, was wir heute gehört haben, Bilanz
ziehe - morgen wird die Auseinandersetzung hoffentlich
qualitativ ein bisschen ansprechender, weniger polemisch
und weniger aus der unteren Schublade geführt -,
({22})
stelle ich fest: Wir werden den Bundeshaushalt von den
Eckpunkten her so halten, wie ihn die Bundesregierung
eingebracht hat. Aber, Kollege Austermann, der Haushaltsausschuss wird diesen Etat natürlich verändern, weil
das Budgetrecht das vornehmste Recht des Parlaments ist.
Wir werden die Investitionen um die Spielräume erhöhen,
die Zinsersparnisse auf der Aufgabenseite möglich machen. Wir werden gleichzeitig die Nettoneuverschuldung
auf unter 45 Milliarden DM reduzieren. Dies ist erklärtes
Ziel beider Bundestagsfraktionen der Regierungskoalition. Mit diesem Kurs können wir die öffentliche Auseinandersetzung in den nächsten Wochen gut überstehen
und auch vor Bürgerinnen und Bürgern in aufgeheizter
Atmosphäre bestehen, wenn Ölpreise, Heizölpreise, Benzinpreise steigen. Dies sind Segmente, in denen diese Koalitionen für die von ihr verantwortete Erhöhung eine Entlastung für die Bevölkerung nachweisen kann.
({23})
Hier werden wir bestehen. Es wird Ihnen nicht gelingen,
die Performance dieser Regierung mit einer Debatte, die
heute in der „Süddeutschen Zeitung“ in einem Leitkommentar als „Krampfdebatte“ bezeichnet wurde, zu unterlaufen. Ich wünsche Ihnen dabei viel Vergnügen.
Sie werden sehen: Ihre Fraktion, Kollege Merz, die
früher einen intellektuell redlichen Fraktionsvorsitzenden
hatte, der von diesem Pult aus erklärt hat, dass Energie ein
knappes Gut sei, das deshalb teurer werden müsse, und
Arbeit ein Überflussgut, das deshalb billiger werden
müsse, wird mit dieser populistischen Kampagne auflaufen.
Vielen Dank.
({24})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Barbara Höll von
der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Regierung hat ihren Haushaltsentwurf für das Jahr 2001 in erster Linie mit dem Konsolidierungskurs begründet. Nun muss man ja konstatieren,
dass die Politik des Schuldenabbaus zum Teil Resonanz
in der Bevölkerung findet. Auch die PDS hat entgegen
allen Vorurteilen nichts gegen eine sparsame Haushaltspolitik und gegen den Abbau von Staatsschulden einzuwenden.
Ich kann Ihnen versichern: Eine Vielzahl demokratischer Sozialistinnen und Sozialisten agiert in kommunalpolitischer und landespolitischer Verantwortung genauso.
Wir unterscheiden uns jedoch in einem Punkt wesentlich.
Für uns mutiert die sparsame Haushaltspolitik nicht zum
alleinigen Selbstzweck von Politik.
({0})
Es kann nicht darum gehen, den Schuldenabbau um
jeden Preis zu erreichen. Sicher kann man nur das ausgeben, was man hat, und nicht zweifach oder dreifach, privat und als Staat. Wenn man aber an der falschen Stelle
spart, muss man es später doppelt, dreifach, vierfach
draufzahlen. Auf diesem Weg befinden Sie sich.
({1})
In der Politik sollte es doch darum gehen, zu diskutieren, wie man tatsächlich effektiv wirtschaften kann, wo
man einsparen kann, aber auch darüber zu diskutieren, wo
die drängendsten Probleme unseres Gemeinwesens liegen
und wie wir unsere Steuergroschen dort tatsächlich Mark
für Mark sinnvoll einsetzen.
Herr Eichels Vergleich mit dem schuldenfreien Erbe
hinkt sehr. Ich möchte kein hoch verschuldetes Haus erben. Ich möchte aber auch kein Haus erben, welches marode ist. Gleichzeitig wünsche ich keine Situation, in der
meine Mithausbewohner vielleicht eine so schlechte Ausbildung mit auf den Weg bekommen haben, dass sie nicht
einmal mehr in der Lage sind, das Haus richtig instand zu
halten.
({2})
Wenn wir uns diesen Aufgaben und Problemen heute
nicht stellen, beschneiden wir die Zukunftschancen unserer Kinder und Enkel genauso.
({3})
Ist nicht hier ein grundsätzliches Umdenken erforderlich?
Stimmt die enge haushaltspolitische Sicht denn noch, dass
die Ausgaben für Kinderbetreuung, Jugend, Sport, Bildung einfach als konsumtive Ausgaben diskreditiert werden?
({4})
Oder sind nicht genau diese Ausgaben höchst profitable
Anlagen in unsere gemeinsame Zukunft?
Wenn Sie in Ihrem Haushaltsentwurf vorschlagen, zum
Beispiel die Bundeszuschüsse für die Bundesanstalt für
Arbeit zu streichen, so ist das nichts anderes als der Einstieg in den Abschied von einer aktiven Arbeitsmarktpolitik.
({5})
Politikerinnen und Politiker, die sich in ihrem Handeln
nur noch von den so genannten objektiven Haushaltszwängen leiten lassen, machen sich tendenziell überflüssig, weil sie überhaupt keinen Gestaltungsanspruch mehr
haben.
({6})
Herr Eichel, aber auch Herr Metzger hat noch einmal
betont, dass diese straffe Haushaltsdisziplin alternativlos
von einer nachhaltigen Entlastung aller Steuerzahler und
Unternehmen begleitet werden muss. Schaut man sich
aber die Inhalte dieser beiden Stränge genauer an, so wird
offensichtlich, wie sozial ungerecht Sie agieren. Die
Haushaltssanierung lief - Stichwort: Haushaltssanierungsgesetz - eindeutig auf Kosten von Rentnerinnen und
Rentnern, auf Kosten zukünftiger Rentenansprüche von
Arbeitslosen, auf Kosten von sozial schwachen Menschen.
Diese Menschen sind zusätzlich betroffen von den
Einsparungen, die an die anderen Ebenen der öffentlichen
Hand, an die Länder, an die Kommunen, weiter gereicht
werden. Die Schließung von Bibliotheken stört einen Millionär überhaupt nicht, sehr wohl aber einen Studenten,
weil er sich nicht einfach jedes Buch von dem nicht vorhandenen BAföG kaufen kann.
({7})
Das heißt, hier haben wir bereits eine doppelte Belastung. Sie haben eine Steuerbelastung eingeführt, die Ökosteuer. Sie haben uns erst verkündet, es gebe als Ausgleich die Senkung der Rentenbeiträge. Nun frage ich
Sie: Wo haben Rentner und Rentnerinnen den Ausgleich
für die Ökosteuer? Weder durch die Senkung der Rentenbeiträge noch - wie Herr Eichel ja heute verkündet hat durch die Senkung im Einkommensteuerbereich. Hier
funktioniert Ihre Argumentation doch nicht!
Sie können reden, wie Sie wollen: Die Ökosteuerbelastung wird ohne jeglichen Ausgleich sozial völlig ungerecht an Millionen von Menschen in diesem Land weiter
gereicht,
({8})
die keine Möglichkeiten haben, bei ihrem Energieverbrauch zu sparen oder sich vielleicht ein sparsameres
Auto zu kaufen.
({9})
Wir waren deshalb von Anfang an für eine Verteuerung
des Umweltverbrauchs, aber auf eine andere Art und
Weise. Das wissen Sie. Wir können nicht einfach den Umweltverbrauch verteuern, ohne Alternativen anzubieten.
Dazu müssen wir jetzt handeln.
Herr Eichel hatte übrigens vorhin nicht Recht, als er
sagte, die Regierung habe mit der Erhöhung der Rohölpreise nichts zu tun. Wenn ich nicht ganz falsch liege, haben Sie immerhin mächtig viel mit den Mehreinnahmen
bei der Mehrwertsteuer zu tun. Denn wenn der Preis
steigt, steigen die Einnahmen bei der Mehrwertsteuer.
Natürlich erhöht sich auch auf diesem Wege Ihr Steueraufkommen.
({10})
Sie haben keine Alternativen angeboten. Sie haben
das nicht verwirklicht, was Sie noch in der letzten Legislaturperiode gefordert haben: die Umwandlung der Kilometerpauschale in eine verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale. Machen Sie das jetzt endlich und
erhöhen Sie sie von 70 Pfennig auf 1 DM, sodass tatsächlich Alternativen geboten werden, aber auch Autofahrer
und Autofahrerinnen eine unmittelbare Hilfe erhalten.
({11})
Ihre Arbeitsplätze hängen oftmals von diesem Verkehrsmittel ab, da andererseits auch Strecken der Bahn geschlossen werden und die Bahn oft unpünktlich und sehr
teuer ist.
Betrachten wir dann noch Ihre scheinbar unabweisbare
Politik der Steuersenkungen. Herr Eichel hat vorhin die
Fachverkäuferin locker mit 40 000 DM Bruttojahresverdienst angesetzt. Das stimmt nicht ganz; der Durchschnitt
bei den Fachverkäufern ist 35 000 DM pro Jahr. Ein allein
stehender Arbeitnehmer mit einem Jahresbruttolohn von
20 000 DM wird im nächsten Jahr um immerhin 99 DM
entlastet. 100 DM haben oder nicht haben - das sind
schon fast 200 DM.
({12})
Der allein stehende Arbeitnehmer ohne Kinder mit einem Jahresbruttoeinkommen von 140 000 DM wird um
2 187 DM entlastet. Das ist doch schon ein beträchtlicher
Unterschied.
Zusammenfassend kann man feststellen, dass Arbeitnehmer im nächsten Jahr 10 Milliarden DM Lohnsteuer
weniger abführen müssen. Das entspricht einer Steuerentlastung von 3 Prozent - gut. Bei Kapitalgesellschaften beträgt die steuerliche Entlastung allerdings 40 Prozent. Die
Überschrift „Über Großverdiener ergießt sich Eichels
Füllhorn“ stammt nicht von mir, sondern aus der - wie
man sagt - bürgerlichen Presse. Sie haben mit Ihrem
Steuergesetz einen massiven Rückzug insbesondere der
Großverdiener und Großunternehmen aus der Finanzierung des Gemeinwesens verankert. Dies geht wiederum
zulasten von sozial Schwächeren, die auf das öffentliche
Schulsystem angewiesen sind. Dies geht aber auch zulasten von kleinen und mittelständischen Unternehmen, die
sich nicht mit sehr viel Geld die Absolventen der
Hochschulen einkaufen können oder sie vorfinanziert auf
private Unis schicken können. Das ist eine sozial zutiefst
ungerechte Politik.
Sie können keine solide, zukunftsorientierte Haushaltspolitik machen, wenn Sie nicht sinnvoll sparen. Erst
einmal müsste man gegen Verschwendungen ordentlich
vorgehen. Wir müssten zum Beispiel darauf hinwirken,
dass die Zahl der Betriebsprüfer massiv erhöht wird, dass
Finanzämter ordentlich ausgestattet werden und nicht
wie in Berlin-Charlottenburg bei der Zusammenlegung
zweier Finanzämter das zweite Faxgerät gestrichen wird,
sodass sie fast nicht mehr arbeitsfähig sind, dass das, was
die Landesrechnungshöfe und der Bundesrechnungshof
anmahnen, tatsächlich verwirklicht wird. Wir müssen uns
hier auch über eine sozial gerechte Einnahmengestaltung
unterhalten.
Ein letztes Wort, da ich die einzige Frau bin, die in der
ersten Runde spricht, und Frauen meistens mit Kindern
verbunden werden:
({13})
Herr Eichel hat ja Recht, dass die schwarz-gelbe Koalition
sehr wenig für Kinder getan hat. Aber das, was wir jetzt
verwirklicht haben, war zum großen Teil nicht freiwillig,
sondern Auflage des Bundesverfassungsgerichtes. So,
wie es umgesetzt wurde, ist es wieder sozial ungerecht,
weil die Großverdiener eine Steuerersparnis von 423 DM
pro Monat haben und die normale Arbeitnehmerin ein erhöhtes Kindergeld von jetzt 270 DM bekommt. Das ist
nicht das, was wir von der PDS uns vorstellen. Unsere
Vorschläge hören Sie in der nächsten Rede.
({14})
Als
nächster Redner hat der Kollege Hans Georg Wagner von
der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin
Dr. Höll, vielleicht können Sie sich in Mecklenburg-Vorpommern, wo Sie an der Regierung beteiligt sind, darum
kümmern, dass dort mehr Finanzbeamte eingestellt werden; denn es ist Sache der Länder, dafür zu sorgen, dass
die Steuereinnahmen fließen. Der Kollege Urbaniak wird
nachher noch darauf hinweisen, wo in den Ländern durch
Steuerersparnisse und durch Steuerhinterziehungsmöglichkeiten Standortvorteile gegenüber anderen Ländern
erzielt werden sollen. Ich meine, dies sollte man auf die
Ebene schieben, wo es hingehört.
Wenn ich die Debatte jetzt etwas Revue passieren
lasse, dann stelle ich fest, dass bis jetzt von der Opposition nichts Neues gekommen ist. Es ist immer das Alte,
was man schon kennt und längst weiß.
({0})
Man kann sich gar nicht mehr überraschen lassen, etwa
wenn der Kollege Austermann einen Nachtragshaushalt
fordert. Das fordert er schon seit Monaten. Auch weiß er
seit Monaten, dass das unsinnig ist; denn die Ausgaben für
die Zwangsarbeiterregelung stehen als Leertitel im Haushalt. Das kann man also ausfüllen. Auch die Einnahmen
sind geregelt.
Dann kommt ein Punkt, Herr Kollege Austermann, zu
dem ich Ihnen sagen muss: Das verstehe ich nicht ganz.
Sie fordern offen - Herr Merz hat das wieder eingesammelt -, dass wir von dem Ertrag aus dem Verkauf der
Handylizenzen, die wir erzielt haben, 80 Milliarden DM
für die Schuldentilgung und 20 Milliarden DM für irgendwelche Investitionsmaßnahmen vorsehen sollten.
({1})
Das ist ein Aufruf zum Gesetzesbruch; denn im Gesetz
steht, dass alle Einnahmen des Bundes, die über diesen
Weg hereinkommen, zur Schuldentilgung verwendet werden müssen. Das gilt gemäß Koalitionsbeschluss auch für
die Steuermehreinnahmen, Herr Kollege Austermann.
({2})
Wenn Sie die Koalition zum Gesetzesbruch aufrufen,
dann sage ich Ihnen: Wir werden kein Gesetz brechen. Sie
haben auf dem Gebiet des Gesetzesbrechens mehr Erfahrung als wir. Wir werden Ihnen da nicht folgen.
({3})
Herr Merz hat sich heute Morgen im Frühstücksfernsehen über die Ökosteuer ausgelassen. Nun hat hierbei
Herr Merz einschlägige Erfahrungen.
({4})
- Herr Kollege Hinsken, Sie sind immer ein lebhafter
Zwischenrufer. Ich empfehle Ihnen, vor Zwischenrufen,
und zwar im Psalm 141 Vers 3. einmal zu lesen. Wissen Sie
warum? Sie können es dort nachlesen. Es heißt dort:
„Herr, stell eine Wache vor meinen Mund, eine Wehr vor
das Tor meiner Lippen!“ Ich empfehle Ihnen wirklich, den
Psalm 141 Vers 3 einmal einzuhalten. Dann werden Ihre
Zwischenrufe qualifizierter sein, als sie es bisher gewesen
sind.
({5})
Der Kollege Friedrich Merz hat heute Morgen gesagt,
dass die Ökosteuereinnahmen nur zum geringsten Teil
in die Sozialversicherung gehen würden. Das ist schlichtweg falsch. Er ist jetzt nicht da. Aber ich bedaure außerordentlich, dass Herr Merz schon wieder einmal bei einer
Haushaltsberatung auf seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder auf die Einflüsterungen des Herrn Austermann
hereingefallen ist.
({6})
Wenn man sich die Zahlen zur Ökosteuer genau ansieht,
bemerkt man, dass im Jahre 2000 mit 17,4 Milliarden DM
gerechnet wird. Für die Sozialversicherung werden
16,8 Milliarden DM ausgegeben. Für das Jahr 2001 gibt
es die Prognose, dass 22,2 Milliarden DM hereinkommen.
Ausgegeben werden 22,4 Milliarden DM. Das alles sind
Einnahmen aus der Ökosteuer, die in die Sozialversicherung fließen.
(Zuruf des Abg. Walter Hirche [F.D.P.]
- Herr Hirche, es ist egal, ob es Ihnen gefällt oder nicht.
Das heißt also, 95 Prozent der Einnahmen aus der Ökosteuer gehen im Jahre 2000 in die Sozialversicherung,
101 Prozent im Jahre 2001 und 99 Prozent im Jahre 2002.
Wie können Sie da sagen, es sei ein geringfügiger Betrag,
der für die Sozialversicherung ausgegeben werde? Sagen
Sie einmal Herrn Merz, er möge sich darüber besser informieren. Ich unterstelle, dass er gar keine Zeit hat, sich
alles genau anzusehen. Aber er muss langsam merken,
dass alles, was ihm an Haushaltszahlen eingeflüstert wird,
bisher nicht gestimmt hat. Deshalb sollte er sich einmal
selber um die Zahlen kümmern.
Nun zur Ökosteuer selber. Auch dabei geht es rund. Da
sagte Herr Merz im November 1998 - ich zitiere -:
Durch die Ökosteuer sollen Steuern erzielt werden,
um auf der anderen Seite Sozialabgaben zu reduzieren. Über ein solches Konzept kann man reden.
Das machen wir doch. Dabei kann er mitmachen. Er kann
sagen: Was die Koalition macht, ist genau richtig.
Es ist wichtig, bei den Forderungen und der Preisgestaltung im Ölbereich nicht einzuknicken. Hier wird immer wieder die OPEC genannt. Wer ist denn für Deutschland der Hauptlieferant für Erdöl? Russland, England,
Norwegen. Das sind keine OPEC-Staaten.
({7})
Wenn man sagt, man müsse jetzt mit der Ökosteuer
heruntergehen, dann erscheint mir das makaber! Sie fordern beständig, die Subventionen - Herr Rexrodt, das
geht auch an Sie - für den Steinkohlenbergbau herunterzufahren, egal ob Arbeitsplätze vernichtet werden oder
nicht. Subventionsabbau muss sein. Im Zusammenhang
mit der Ökosteuer und den Ölpreisgestaltungen fordern
Sie jetzt Subventionen für die Erdöl produzierenden Länder und für die multinationalen Konzerne. Das ist doch
falsch. Eine solche Politik machen wir nicht mit.
({8})
- Herr Rexrodt, warten Sie einmal; ich komme auf Sie
noch gerne zurück.
Frau Merkel, die sich ja gestern auch nicht schämte,
hinsichtlich der Ökosteuer so zu argumentieren, hat noch
als Ministerin am 28. Oktober 1997 gesagt - man höre
bitte zu -:
Bundesumweltministerin Angela Merkel ({9}) hält
eine jährliche Anhebung der Mineralölsteuer von
etwa fünf Pfennig für angemessen. Auf dem umweltpolitischen Forum der Thüringer CDU „Bewahrung
der Schöpfung - Chancen und Grenzen der ökologischen Steuerreform“ trat die Ministerin gestern
Abend für eine Besteuerung des Energieverbrauches
„mit Augenmaß“ und damit eine Entlastung des Faktors Arbeit ein.
({10})
Das ist genau richtig. Ich habe ja überhaupt nichts dagegen. Nur, Frau Merkel muss dann bitte bei ihrer eigenen
Politik das machen, was sie dort gesagt hat.
({11})
Das, was 1997 richtig war, kann doch nicht im Jahre 2000
plötzlich falsch und dann noch Grund und Anlass sein,
eine Kampagne gegen die Koalition zu machen.
Herr Kollege Wagner, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken?
Herr Präsident, ich bin
natürlich einverstanden. Herrn Hinsken, bitte.
Das Wort
erteilt der Präsident und nicht der Redner.
Herr Hinsken, bitte schön.
Herr Kollege Wagner,
Sie haben vorhin aus der Bibel zitiert und einige Äußerungen von sich gegeben, die ich nicht teilen kann. Deshalb frage ich Sie, ob Sie wissen, dass in Matthäus 12,36
steht: Über jedes unnütz und falsch gesprochene Wort auf
dieser Welt hast du Zeugnis abzulegen am Jüngsten Tag.
({0})
Das stimmt. Deshalb
gilt ja auch für Sie das achte Gebot, in dem es heißt, du
sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
Sie haben Recht, Herr Kollege. Das gilt auch für Sie.
Ich sage noch einmal zu dieser Diskussion über die
Ökosteuer: Herr Martin Hübner - das ist der Wirtschaftsfachmann der Bayerischen Hypo-Vereinsbank;
Herr Hinsken, vielleicht kennen Sie ihn persönlich, ich
kenne ihn nicht - sprach sich für die Beibehaltung der
Ökosteuer im ZDF am vergangenen Freitag aus und sagte:
Wer jetzt die Ökosteuer aussetzen will, subventioniert die
multinationalen Konzerne. Recht hat der Mann. Er
kommt aus Bayern. Es gibt also auch in Bayern noch vernünftige Stimmen, wie man an diesem Herrn Hübner
sieht.
Wenn eben Herr Rexrodt oder die Frau Kollegin
Dr. Höll im Zusammenhang mit dem Heizöl die arme
Oma genannt haben, die jetzt mehr Heizölkosten hat,
dann muss man darauf hinweisen: Das Heizöl ist bei der
Ökosteuer völlig ausgenommen, es wird nicht mit der
Ökosteuer belastet. Also hier sind es allein Ihre Freunde,
die multinationalen Ölkonzerne, und ist es nicht die Ökosteuer. Da muss man der Bevölkerung auch wieder sagen:
Das ist etwas anderes.
Ich führe die Diskussion in Bezug auf die Zinsersparnisse einmal auf die Frage zurück, was wir machen wollen. In der Tat, Herr Kollege Rexrodt, in einem Punkt gebe
ich Ihnen völlig Recht: Auch mich bedrückt es, dass es die
Bahn entgegen dem erklärten Willen des gesamten Bundestages - wenn ich mich recht erinnere, beim Eisenbahnneuordnungsgesetz - trotz Privatisierung nicht geschafft hat, mit anderen Anbietern auf der Schiene in
Wettbewerb zu treten. Vielmehr hat die Verknüpfung des
Schienennetzes mit der Bahn auch einen Nachteil. Darüber muss man reden. Ich bin der Meinung, dass die Tarifgestaltung der Deutschen Bahn im Vergleich zu den anderen Anbietern - ich sage einmal ganz vorsichtig - zu
wünschen übrig lässt.
({0})
Man kann nicht durch künstliche Erhöhung der Tarife auf
dem Schienennetz potenzielle Mitanbieter davon abhalten, einen Wettbewerb herzustellen. Das kann nicht sein.
Deshalb bin ich der Meinung, dass wir dies machen sollten.
({1})
Es ist erfreulich - der Minister hat es gesagt -, dass wir
die Arbeitslosigkeit in diesem Jahr um 250 000 abbauen
werden, und zwar auch durch die Schaffung von 170 000
neuen Arbeitsplätzen.
Frau Kollegin Dr. Höll, die beste Sozialpolitik, die wir
machen, ist doch der Abbau der Arbeitslosigkeit. Nur dadurch werden die Chancen des Staates erweitert. Wenn
wir die Arbeitslosigkeit im nächsten Jahr - der Minister
hat es gesagt, um 270 000 - weiter abbauen, dann ist das
genau der richtige Weg, den wir gehen müssen. Es ist die
beste Sozialpolitik, die Menschen in Arbeit bringen, wie
wir das mit den Jugendlichen mithilfe des JUMP-Programms gemacht haben. Das ist die richtige Politik.
({2})
Mir fällt gerade noch zur Ökosteuer ein, wo das Oktoberfest ja, Kollege Hinsken, heute Abend feierlich hier in
Berlin voreröffnet und dann diese Woche in München
eröffnet wird: Wenn die Bierpreise auf dem Oktoberfest
steigen - sie steigen ja, das wissen Sie -, habe ich noch
nicht die Forderung des bayerischen Ministerpräsidenten,
Ihres Oberbefehlshabers, gehört, der gesagt hat: Man
muss die Biersteuer abschaffen. Er nimmt die Erhöhung
hin.
({3})
- Der Vergleich ist nicht zynisch,
({4})
sondern er entspricht absolut der Wahrheit.
({5})
Meine Damen und Herren, wenn von der Opposition
gesagt worden ist, die Ausgaben für Bildung, Forschung
und neue Technologien würden gekürzt, dann bitte ich
herzlich darum, einmal in den Haushaltsplan hineinzugucken. Ich kann natürlich auch eine Rede zum Haushalt
halten, ohne in den Plan hineinzugucken; aber dann muss
ich damit rechnen, dass man mir nachweist, dass ich
falsch liege. Was die Bildungsausgaben angeht, liegen
Sie absolut falsch; denn wir haben im Jahre 2000 einen
Anteil am Gesamthaushalt von 3,05 Prozent, in 2001 von
3,21 Prozent, in 2002 von 3,24 Prozent und im Jahre 2004
von 3,28 Prozent. Jetzt vergleichen wir einmal diese Zahlen mit dem, was Sie vorgesehen hatten, als Sie an der Regierung waren: In der mittelfristigen Finanzplanung sahen Sie einen Anteil im Jahre 2000 von 3,10 Prozent vor,
im Jahre 2001 von 3,03 Prozent, also von 0,18 Prozent
weniger, als es die rot-grüne Koalition vorsieht, und im
Jahre 2002 - Herr Kollege Rexrodt, Sie hatten in der damaligen Bundesregierung mitgestimmt - von 2,97 Prozent, also fast 0,3 Prozent weniger als bei der jetzigen Koalition. Jetzt davon zu reden, wir würden die Ausgaben
senken, ist entweder völlig falsch oder Sie haben in der
Mengenlehre nicht aufgepasst bzw. das Einmaleins nicht
begriffen. Wir machen jedenfalls mehr, meine Damen und
Herren, als von Ihnen bisher vorgesehen war.
({6})
Dann wurde hier gesagt, man müsse die Mittel für die
Städtebauförderung und für die Gemeinschaftsaufgabe
„Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ erhöhen. Dazu sage ich Folgendes: Wir stabilisieren im
Osten die Gemeinschaftsaufgabe zur wirtschaftlichen
Strukturveränderung. Aber reden Sie doch bitte einmal
mit den Ihnen verbliebenen Finanzministern - zugegebenermaßen sind es nur noch wenige, aber immerhin stellen
Sie noch welche - ganz offen und ehrlich darüber, wie sie
über die Gemeinschaftsaufgabe denken. Sie werden Ihnen
dann sagen: Lasst um Gottes Willen die Finger von der
Erhöhung der Gemeinschaftsaufgabe, wir bringen ja gar
nicht die Komplementärmittel auf.
({7})
Aufgrund der Steuerreform, die jetzt verabschiedet worden ist, sind auch die Haushalte der Länder eingeengt, sodass die Komplementärmittel von ihnen nur sehr schwer
aufzubringen sind.
({8})
- Gut, die Bayern können vielleicht mithalten; sie haben
ja jahrelang von den anderen so viel Geld abgesaugt, wie
es nur möglich war. Aber alle anderen Bundesländer können diese Mittel nicht aufbringen, meine Damen und
Herren.
Das gilt auch für die Gemeinden. Wir haben 520 Millionen DM Städtebauförderungsmittel für die östlichen
Länder im Haushalt. Das bleibt stabil wie in all den Jahren. Ihre Koalition hat die Förderungsmittel für die westlichen Länder seit 1990 von 1 Milliarde DM auf 80 Millionen DM abgesenkt. Hier wollen wir im Zuge der
Verhandlungen etwas tun.
Auch bei der Energieeinsparung, die Kollege Metzger
schon genannt hat, wollen wir etwas tun; denn in der
jetzigen Situation darf man nicht darüber nachdenken, die
Ökosteuer oder irgendwelche anderen steuerlichen Regeln zu verändern. Vielmehr muss man jetzt die Energieeinsparung stärker fördern, um dadurch zu Minderausgaben zu kommen.
({9})
Ich will jetzt nicht mehr viel zum Nachtragshaushalt
sagen, weil vorhin bereits deutlich gemacht worden ist,
dass er nicht notwendig ist. Wir gehen jetzt in die Beratung des neuen Haushalts für 2001. Über einen Nachtragshaushalt für 2000 nachzudenken ist eigentlich überflüssig, weil alle gesetzlichen Voraussetzungen bereits
geschaffen sind. Die Beratung eines Nachtragshaushalts
wäre für Sie allenfalls mit der Hoffnung verbunden, wahrgenommen zu werden, nachdem das eine oder andere bei
Ihnen in den letzten Monaten falsch gelaufen ist.
Herr Kollege Wagner, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Koppelin?
Beim Kollegen
Koppelin mache ich das immer gern.
({0})
Bitte
schön, Herr Koppelin.
Vielen Dank, Herr Kollege
Wagner, Sie haben die Ökosteuer angesprochen. Wir haben ja vorhin einige Zitate zum Thema Ökosteuer gehört.
Was sagen Sie denn zu folgendem Zitat des früheren niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder?
In einem Interview mit „dpa“ sagte er 1997 zur Ökosteuer:
Die erhoffte Lenkungswirkung zum Wohl der Umwelt wird nur gering sein. Für die Bürger in Flächenstaaten wie Bayern ist ein höherer Benzinpreis aber
eine empfindliche Mehrausgabe. Die SPD muss dann
in Kauf nehmen, dass die Leute die Schnauze voll
von uns haben.
({0})
Ich kann gar nicht bestreiten, dass die Äußerungen von Herrn Schröder immer
bedenkenswert sind. Alles, was er sagt, muss aufmerksam
verfolgt werden. Das ist auch in diesem Fall ganz selbstverständlich.
({0})
Im Gegensatz dazu haben Sie ja Pech: Man kann Ihre
Worte nicht nachvollziehen. Sie müssen ja immer überlegen, was gerade gesagt worden ist.
Meine Damen und Herren, noch ein paar Sätze zum
BAföG. Was wir hier tun, wird von Ihnen gar nicht genug
gewürdigt. Ich kann ja verstehen, dass Sie als Opposition
das nicht wollen. Sie haben es in den 16 Jahren, in denen
Sie an der Regierung waren, geschafft, die ehemals von
der sozialliberalen Koalition - auch mithilfe der F.D.P.,
Herr Kollege Rexrodt - erreichte hohe Quote von Studierenden, die aus einkommensschwächeren Familien kamen - was dazu führte, dass nicht nur Professorenkinder,
sondern auch Arbeiterkinder die Chance hatten, Professoren zu werden und nicht mehr Arbeiter bleiben mussten -,
drastisch zu senken. Jetzt sind wir auf dem Weg, das wieder zugunsten der einkommensschwachen Familien umzudrehen. Die Kinder der einkommensschwachen Familien sind ja nicht dümmer als die Kinder der Familien, die
Geld haben. Deshalb muss das geändert werden und das
machen wir. Wenn Sie wollen, können Sie da beim Haushalt 2001 auch mitmachen.
({1})
Vorhin ist die Quote angesprochen worden, die Art. 115
des Grundgesetzes uns vorgibt, nämlich die Forderung,
dass die Nettokreditaufnahme die Investitionen nicht
überschreiten darf. Das Wort Nettokreditaufnahme ist
heute zu Recht schon als Ausweitung der Schulden bezeichnet worden. Wir reden darüber, als sei dies ein schöner Ausdruck, der eigentlich nichts sagt, aber jede
Ausweitung der Nettokreditaufnahme bedeutet mehr
Schulden. Deshalb, Herr Kollege Austermann, steigen die
Schulden ja auch an. Wir senken nur die Nettokreditaufnahme auf Null im Jahre 2006 ab. Sie haben sie immer nur
ansteigen lassen. Deshalb ist da ein Unterschied zwischen
Ihnen und uns.
Unterstellt, die Nettokreditaufnahme bliebe bei
46,1 Milliarden DM - Herr Kollege Metzger hat gesagt,
die Koalition wolle unter 45 Milliarden DM gehen -, betrüge der prozentuale Unterschied zwischen den Investitionen und der Nettokreditaufnahme 25 Prozent. Das
heißt, die Investitionen wären um 25 Prozent höher als die
Nettokreditaufnahme. Im Jahre 2002 wären es - bei Kontinuität in der mittelfristigen Finanzplanung - 23 Prozent,
im Jahre 2003 wären es bei ständiger Rückführung der
Nettokreditaufnahme, also neuer Schulden, 42 Prozent
und im Jahr 2004 bei einer geplanten Nettokreditaufnahme von noch 20 Milliarden DM sogar 62 Prozent.
Ich erinnere an einen Haushalt der Vorgängerregierung, nämlich den Haushalt 1996, der schlichtweg verfassungswidrig war. Sie haben es damals geschafft, dass die
Nettokreditaufnahme deutlich höher war als die Investitionsausgaben. Wir haben das massiv umgedreht. Ich
finde, das ist eine erfolgreiche Bilanz in der Steuerpolitik,
eine Politik, die auf Solidität aufgebaut ist und in die Zukunft hineinreicht.
({2})
Der Minister hat Recht gehabt: Die Schulden in Höhe
von 1,4 Billionen DM, also 1 400 Milliarden DM, die
nach der Tilgung mithilfe der UMTS-Erlöse übrig bleiben, sind doch Ihre Schulden. Da können Sie reden, was
Sie wollen. Sie haben mit den Schulden die Kinder und
Enkelkinder belastet, die diese Schulden abbauen müssen. Wir versuchen, den Kindern und Enkelkindern zu
helfen, indem wir die Schulden schrittweise abbauen.
Herr Kollege Austermann, Sie sollten doch nicht so tun,
als wäre das alles nichts. Sie nehmen die Schulden, die Sie
Deutschland eingebrockt haben, einfach nicht zur Kenntnis. Sie müssen sich daran gewöhnen: Sie waren die
Schuldenmacher der Nation und Sie bleiben es auch.
({3})
Herr Kollege Rexrodt - er ist im Augenblick nicht da,
aber Herr Kollege Gerhardt hat ihn ja ersetzt -, ich habe
es schon gesagt: Wir werden das diskutieren.
({4})
- Bei der F.D.P. ist ein ständiger Wechsel, zumindest in
der Diskussion.
({5})
Ich mache es dem Kollegen Rexrodt nicht zum Vorwurf,
dass er nicht da ist.
Kreditanstalt für Wiederaufbau und Deutsche Ausgleichsbank sind Themenbereiche, über die man reden
muss. Ich finde, die Lösung, die die Bundesregierung einvernehmlich gefunden hat, ist in Ordnung. Deshalb sollte
man in diesem Sinne fortfahren.
Der Haushalt des Jahres 2001 ist eine konsequente
Fortsetzung der finanziellen Solidität und Haushaltskonsolidierung dieser Koalition. Die jetzige Politik - das
können Sie sehen, wie Sie wollen - hebt sich wohltuend
von dem ab, was früher war. Deshalb bin ich auch sicher,
dass die Bevölkerung das wahrnimmt. Auf die aktuellen
Umfrageergebnisse gebe ich überhaupt nichts, denn das
kann sich morgen wieder ändern. Ich weiß aber eines ganz
genau: Solidität und Normalität im Haushaltsgebaren
werden von der Bevölkerung anerkannt.
({6})
- Bei 1 400 Milliarden DM Schulden müssten Sie, Herr
Kollege, eigentlich republikflüchtig werden, sich einen
Wohnwagen kaufen und außerhalb des Landes gehen, anstatt hier immer noch die Regierung zu stellen.
({7})
Dass wir auf dem besten Wege sind, belegt nicht nur
unser Optimismus und das, was die Regierung sagt. Das
Weltwirtschaftsforum in Genf, WEF, hat vor kurzem eine
Studie veröffentlicht, nämlich die internationale Wettbewerbsstudie 2000. Diese ist am 7. September in der „Süddeutschen Zeitung“ veröffentlicht worden. Nach dieser
Studie belegt der Wirtschaftsstandort Deutschland hinsichtlich seiner Attraktivität Platz drei, hinter Finnland
und den USA.
Damit konnte sich der „Standort D“
- so wird Deutschland in der Studie genannt innerhalb eines Jahres um drei Plätze verbessern.
Innerhalb eines Jahres! Vor einem Jahr waren nicht mehr
Sie, sondern wir an der Regierung.
({8})
Wir freuen uns über diese Feststellung der Studie.
Deutschland belegt bezüglich des Internets Platz fünf. Wir
sind überall an der Spitze oder zumindest auf dem Weg
zur Spitze. Eichel hat also Recht gehabt, als er sagte: Wir
sind auf dem Weg zur Spitze.
Spitze sind wir beispielsweise schon in diesem Jahr bei
({9})
- nein! - im Bereich der Biotechnologie. Ihr Zwischenruf
macht deutlich, dass Sie davon offenbar keine Ahnung haben. Deutschland ist in Europa der neue Spitzenreiter im
Bereich der Biotechnologie, heißt es im Zweiten Biotechnologiereport, den die Stuttgarter Unternehmensberatung
Ernst & Young vorgestellt hat. Das heißt also im Klartext:
Wir sind auf dem richtigen Wege - dort wollen wir auch
hin -, ein modernes Deutschland mit soliden Finanzen zu
schaffen und dafür zu sorgen, dass Deutschland auch eine
Zukunft in Europa hat.
Ich möchte auf die Erdölkonzerne zurückkommen. Sie
sollten nicht jeder veröffentlichten populistischen Forderung nachgehen. Wir sehen die Probleme des Kfz-Gewerbes. Auch in unseren Wahlkreisen fahren die Leute Auto.
({10})
Sie gehen nicht nur zu Fuß oder fahren nur Fahrrad. Trotzdem dürfen wir nicht einknicken, wenn die Konzerne
plötzlich beginnen, Preise zu erheben, die durch nichts
gerechtfertigt sind. Höhere Preise können bestenfalls
durch die Feststellung gerechtfertigt werden, dass die
Erdölressourcen endlich sind und dass mit diesen Ressourcen nicht so umgegangen werden kann wie bisher.
Wir sollten darauf vertrauen, dass die Bundesregierung
ihre Politik fortsetzt. Auch diesmal kämpft Rot-Grün leider Gottes - alleine für die Millionen und gegen die
Millionäre. Sie machen es genau umgekehrt.
Vielen Dank.
({11})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Peter Rauen
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde es gut, dass
wir hier in aller Ruhe und ohne große Aufgeregtheiten
über den Haushalt 2001 diskutieren, wenn ich von dem
Ausfall von Herrn Poß einmal absehe. Dazu hat der Kollege Rexrodt bereits das Nötige gesagt.
Herr Finanzminister Eichel, Sie haben in einer zentralen Aussage Ihrer Rede festgestellt, dass wir aus der
Schuldenfalle raus müssten. Da haben Sie die Union voll
und ganz auf Ihrer Seite, auch aus guter Tradition: Sie
wissen selbst - Finanzpolitik steht in der Kontinuität der
Regierungen -, dass es auch der damaligen CDU/CSUF.D.P.-Regierung von 1983 bis 1990 gelungen ist, die Nettoneuverschuldung in Höhe von etwa 50 Milliarden DM
1983 auf fast 14 Milliarden DM 1989 zurückzuführen.
Ohne deutsche Einheit hätten wir es damals auch geschafft, die Nettoneuverschuldung auf Null zurückzuführen. Das gehört einfach zur historischen Wahrheit. Wir
sollten auch nicht verschweigen, dass ein Teil unserer
Schulden mit dem Sonderfall der Geschichte zu tun hat,
nämlich dass wir wieder ein Land sind und in einem Land
leben können. Das muss man sehr deutlich sagen.
Sie haben uns auch auf Ihrer Seite, wenn Sie - zu
Recht - fordern: Die Sondereinnahmen aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen sollen zur Schuldentilgung
verwandt werden. Sie haben uns auch auf Ihrer Seite,
wenn die durch die Schuldentilgung gesparten Zinsausgaben für Investitionen genutzt werden. Auch Kollege
Austermann hat nichts anderes gesagt. Diese finanzpolitische Ausrichtung findet unsere ausdrückliche Zustimmung.
Sie haben von konjunkturbedingten Mehreinnahmen
gesprochen. Ich fürchte, wir müssen allmählich von inflationsbedingten Mehreinnahmen sprechen, Herr Finanzminister. Sie wissen selbst so gut wie ich und alle
anderen hier: Die Steuerschätzer gingen noch im Mai
dieses Jahres, also vor gerade einmal vier Monaten, davon aus, dass die Inflationsrate bei 0,7 Prozent liegen
würde. 0,7 Prozent, so die Schätzung vor vier Monaten!
Die Inflationsrate wird wahrscheinlich am Ende dieses Jahres über 1 Prozent höher sein. Bereits die Höhe
der Isteinnahmen bis zum 30. Juni 2000 macht deutlich,
dass rund 9 Milliarden DM von den zu erwartenden
rund 18 Milliarden DM an Steuermehreinnahmen am
Ende dieses Jahres inflationsbedingte Steuermehreinnahmen sind; denn eine um 1 Prozent höhere Inflationsrate
bringt den Gebietskörperschaften etwa 9 bis 10 Milliarden DM an Steuermehreinnahmen ein. Wenn ich diese
Basis sehe, dann wissen Sie sehr genau, dass die Steuerschätzung vom Mai Makulatur ist. Auf der Basis des Jahres 2000, die sich ja fortsetzt, werden wir - unterstellt, die
realen Wachstumsgrößen bleiben so wie bei der Steuerschätzung angenommen - im Jahr 2003/04 30 bis 40 Milliarden DM mehr Steuereinnahmen gegenüber den Annahmen vom Mai dieses Jahres haben.
Ich will auf einen anderen Punkt zu sprechen kommen,
der mir viel mehr Sorgen bereitet. Es handelt sich um die
Bemerkung unseres Kanzlers vor kurzem in New York,
dass er die Schwäche des Euro sehr gelassen sehe. Mich
erschreckt das. Gut, jeder Mensch wird durch seinen Umgang geprägt. Wenn er das aus der Sicht der exportierenden Wirtschaft sieht - als ehemaliges Mitglied im Aufsichtsrat von VW - dann mag er Recht haben. Das ist aber
nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist, dass
wir natürlich Inflation importieren.
Wenn wir heute über die Ökosteuer reden, die uns beschwert, dann ist es ja wahr: Der Ökosteueranteil, die sieben Pfennig inklusive Mehrwertsteuer, ist der eine Gesichtspunkt. Wir haben aber zwei weitere Elemente:
Das ist zum einen die Erhöhung der Rohölpreise, rund
7 Pfennig pro Liter bei einem Anstieg von 25 auf
32 Dollar pro Barrel, und das andere Argument bezieht
sich auf die Schwäche unserer Währung: Bei einer
Entwicklung des Wertes des Dollars von 1,85 auf
2,22 DM von heute zahlen wir 7 Pfennig mehr, weil Öl in
Dollar fakturiert wird.
Jetzt möchte ich von den makroökonomischen Zahlen
wegkommen und betrachte den Zusammenhang einmal
mikroökonomisch. Dann bin ich bei der Argumentation
des Herrn Wagner. Er redet von den kleinen Leuten. Das
mache ich auch. Wer in diesen Monaten seinen Heizöltank
füllt und 4 000 Liter tankt, bezahlt 50 Pfennig pro Liter
mehr als vor einem Jahr. Damit sind 2 000 DM weg, Herr
Finanzminister. Die Beträge, die Sie aufgrund der Entlastung durch die Steuerreform genannt haben, hat man also
bereits im August oder September 2000 ausgegeben. Der
Betreffende hat davon nichts. Wenn er auch noch ein Auto
benötigt, um zur Arbeit zu fahren, und eine Strecke von
20 Kilometern zurücklegen muss, dann fährt er 800 Kilometer im Monat. Bei einem Verbrauch von 10 Litern pro
100 Kilometer benötigt er 80 Liter. Für einen Liter Benzin bezahlt er 60 Pfennig mehr als im letzten Jahr. Er zahlt
also rund 50 DM im Monat mehr als vor einem Jahr. Auch
der Kollege Metzger, der jetzt nicht anwesend ist, kann
ihm nicht erzählen, dass er bei der Rentenversicherung
eine Erleichterung von 20 DM hat. Er hat einfach eine
Mehrbelastung!
({0})
- Rechnen Sie bitte nach! Herr Metzger hat eben das Beispiel gebracht, dass man bei einem Bruttogehalt von
5 000 DM 1 Prozent Erleichterung bei den Rentenversicherungsbeiträgen hat. Das ist nicht ganz richtig. Es
sind nur 0,8 Prozent, 0,4 Prozent beim Arbeitnehmer. Das
sind bei 5 000 DM genau 20 DM. Demjenigen, der die
Mehrkosten hat, weil er mit dem Auto zur Arbeit fährt,
können Sie nicht erzählen, dass er eine tolle Entlastung
hat. Im Kern hat er nur Mehrbelastungen.
({1})
Es wird wirklich Zeit, dass wir mit den Märchen aufhören. Ich habe mich über den Kollegen Klimmt, den ich
persönlich sehr mag, weil wir seit vielen Jahren durch den
Fußball verbunden sind, maßlos geärgert, als er am Sonntag bei „Christiansen“ wieder verkauft hat, dass die Ökosteuererhöhung zu einer Beitragssenkung führen wird.
({2})
Wir haben fünf Erhöhungen von je 6 Pfennig plus Mehrwertsteuer, das sind jeweils 7 Pfennig. Im Jahre 2003 werden Sie aus diesen Mineralölsteuererhöhungen 37 Milliarden DM einschließlich Mehrwertsteuer einnehmen. Wir
haben bei den 630-DM-Jobs eine Umwälzung von der
Steuer zu den Rentenversicherungsbeiträgen. Zum anderen haben wir eine Anpassung der Renten an die Inflationsrate, nicht an die Nettolohnentwicklung. Das sind rund
9 Milliarden DM. Hier werden also insgesamt fast 48 Milliarden DM bewegt, das heißt, den Leuten aus der Tasche
gezogen, umstrukturiert oder ihnen nicht gegeben. Ausweislich der Zahlen Ihres Kollegen Riester - ich empfehle
Ihnen, sie sich anzuschauen - wird der Rentenversicherungsbeitrag im Jahr 2003, am Ende der dritten Stufe, um
lediglich 1,2 Prozentpunkte niedriger liegen als im Jahr
1998. 1,2 Prozentpunkte entsprechen 19 Milliarden DM.
Das heißt, Sie bewegen das Zweieinhalbfache dessen,
was Sie an Rentenversicherungsbeiträgen senken.
({3})
Es ist einfach notwendig, dass man dies wirklich darlegt, denn ich habe schon die Befürchtung, dass wir uns
mit der importierten Inflation eine ganze Menge Probleme einhandeln, die wir noch nicht gelöst haben. Herr
Finanzminister, Sie werden sich damit beschäftigen müssen, dass wir darüber reden, wie diese inflationsbedingten
Mehreinnahmen bei den Steuern den Menschen viel
schneller zurückgegeben werden müssen, als es bei der
ganzen jetzigen Steuerreform geplant ist.
Es ist gerade einmal neun Wochen her, dass Sie machtpolitisch einen Erfolg hatten. Über die Methode, wie das
im Bundesrat gelaufen ist, wie mit einem Verfassungsorgan umgegangen worden ist, will ich jetzt gar nicht reden. Ich fürchte nur, die Freude von Ihnen und vom Bundeskanzler über diesen machtpolitischen Erfolg wird
relativ schnell verfliegen. Manche Wirtschaftsverbände,
die die Verabschiedung noch erleichtert begrüßt hatten,
weil sie meinten, der Spatz in der Hand sei ihnen lieber als
die Taube auf dem Dach, merken allmählich, dass das
Ganze wirklich nur ein Spatz ist und dass sie die Taube
noch bis 2005 im Käfig betrachten müssen; denn in Wahrheit entlasten Sie erst dann die Arbeitnehmer und die Unternehmer.
Das, was wir immer gesagt haben, beginnt allmählich
zur allgemeinen Einsicht zu werden: Die Steuerentlastung durch das Steuerreformgesetz ist sozial und wirtschaftspolitisch unausgewogen: Sie bevorzugt die großen
Kapitalgesellschaften zulasten des Mittelstandes und der
Arbeitnehmer; die einseitige Bevorzugung des thesaurierten Gewinns ist wirtschaftspolitisch verfehlt und führt zu
neuen steuerrechtlichen Verwerfungen. Sie ist nicht nachhaltig, weil durch das Vorziehen der oberen Proportionalzone bereits ein immer größerer Teil von Durchschnittsverdienern den Spitzensteuersatz zahlen muss. Sie kommt
zu spät, weil der größte Teil der Tarifsenkungen für die
Einkommensteuerzahler erst am Sankt-Nimmerleins-Tag
im Jahr 2005 kommt, und zwar bei all den anderen Belastungen, die die Menschen, wie eben geschildert, ganz elementar und ganz zeitnah belasten.
({4})
Ich möchte einen anderen Punkt ansprechen, bei dem
ich Gefahren für unsere Konjunktur und für unsere
Unternehmenskultur sehe. Kernstück der von Ihnen
durchgepeitschten Reform ist eine Neuregelung der
Unternehmensbesteuerung, von der alle Sachkenner sagen - ich wiederhole mich -, dass sie eine Reform
zugunsten der Kapitalgesellschaften ist. Für die Kapitalgesellschaften sinkt die Belastung des einbehaltenen Gewinns um 13 Prozentpunkte, Herr Poß. Für die Personengesellschaften sinkt die Grenzbelastung um lediglich drei
Prozentpunkte. Selbst wenn man die Gewerbeertragsteueranrechnung einkalkuliert, bleibt auf lange Sicht eine
große Spreizung zwischen der Durchschnittsbesteuerung
der Kapitalgesellschaften und der Personengesellschaften.
({5})
- Herr Eichel, Sie haben doch gewusst, warum Sie
zunächst das Optionsmodell wollten: Sie wollten die Personengesellschaften mit den Kapitalgesellschaften in
etwa gleichstellen. Weil das Ganze ohnehin eine Krücke
war, haben Sie den Plan fallen lassen, aber mit dem Ergebnis, dass die Personengesellschaften bis 2004 zunächst enorm mehr belastet werden. Das ist im Vermittlungsausschuss unbestritten so gesagt worden.
({6})
Ich komme zu einem anderen Punkt. Ein weiterer Geburtsfehler der Reform ist die Privilegierung des einbehaltenen Gewinns. Dafür gibt es keine sachliche, sondern
nur eine politisch-ideologische Rechtfertigung, und zwar
den auf Lafontaine zurückgehenden, aber vom Bundeskanzler und von Ihnen ausdrücklich übernommenen
Wunsch, nur die Unternehmen, nicht aber die Unternehmer zu entlasten.
Daraus ergeben sich einige Verwerfungen, über die wir
sprechen müssen. In der Folge dieser Umstellung ist zum
Beispiel die Mindestbeteiligung, die früher einmal bei
25 Prozent lag, auf 1 Prozent reduziert worden. Ich sage
Ihnen voraus: Das ist ein Anschlag auf Neugründungen
von Firmen, ein Anschlag auf die Notwendigkeit, dass
sich viele neue Firmen mithilfe anderer entsprechend
strukturieren.
({7})
- Moment mal: Es hat sich eine Kultur herausgebildet,
die ganz gut angelaufen ist, nämlich die Kultur der
Business Angels. Es handelt sich um Persönlichkeiten, die
mit ihrer Erfahrung jungen Unternehmern nicht nur materiell, sondern auch ideell helfen. Ich frage mich nur,
warum diese Menschen in Zukunft noch Geld dort hineinstecken sollten. Am Anfang können sie kein Geld herausholen, weil die Firmen erst einmal wachsen müssen.
Sie können nur Beteiligungen bekommen, die sie aber,
wenn sie über der Beteiligungsgrenze liegen, hoch versteuern müssen. Sie werden doch dann lieber gleich Aktien von großen Kapitalgesellschaften kaufen, wodurch
sie unter der Grenze für wesentliche Beteiligungen, also
1 Prozent, bleiben und die Kapitalerträge nach einem Jahr
steuerfrei kassieren können. Über dieses Problem müssen
wir in der Tat nachdenken, weil hierdurch die Kultur, den
Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen, in hohem Grade
gefährdet wird.
Als Folge des Halbeinkünfteverfahrens haben Sie,
meine Damen und Herren, Veräußerungsgewinne für Kapitalgesellschaften von der Körperschaftsteuer befreit.
Demgegenüber wurden die Möglichkeiten zur steuerneutralen Umstrukturierung von Personengesellschaften bereits 1999 massiv beschnitten. Ich habe dazu bei der
dritten Lesung gesagt, dass es richtig ist, die Veräußerungsgewinne bei Kapitalgesellschaften steuerfrei zu
stellen, damit Umstrukturierungen möglich sind, Konzernteile an andere verkauft werden und Unternehmen
effektiver arbeiten können, also die „Deutschland AG“
aufgelöst wird. Wenn das aber, Herr Eichel, für Kapitalgesellschaften zutrifft, dann trifft das natürlich auch für
Personengesellschaften zu. Auch diese müssen in einer
Zeit umstrukturieren, wo sich Wissen alle fünf Jahre verdoppelt und Schnelligkeit darüber entscheidet, wer seinen
Weg gehen kann.
Ich nenne Ihnen als Beispiel einen Sachverhalt, den
Lafontaine kassiert hat, was Sie nicht zurücknehmen wollen. Es handelt sich um die Realteilung, die wir bei Personengesellschaften kannten. Ich will es einmal einfach
ausdrücken: Wenn zwei Personengesellschafter auseinander gehen und das, was sie real im Betrieb haben, teilen
wollen, konnten sie bisher die stillen Reserven mitnehmen. Diese müssen neuerdings aufgedeckt und versteuert
werden. Lassen Sie sich das doch noch einmal durch den
Kopf gehen, ansonsten wirkt sich das verheerend auf die
notwendigen Umstrukturierungen bei Personengesellschaften aus.
Ich nenne noch einen zweiten Fall, der auch mit Umstrukturierungen zu tun hat: Für Erlöse aus Anteilsveräußerungen, die wiederum zur Umstrukturierung einer
Firma stattfinden, brauchen wir weiterhin die Möglichkeit, sie einer Reinvestitionsrücklage zufließen zu lassen,
die zu 100 Prozent steuerfrei gestellt wird, wenn sie in die
Umstrukturierung der Firma fließt. Diese Möglichkeit
wurde durch die Änderung von § 6b des Einkommensteuergesetzes völlig kassiert. Das hat aus meiner Sicht
ebenfalls ziemlich verheerende Folgen für die notwendigen Umstrukturierungen bei Personengesellschaften.
Ich komme zu einem weiteren Punkt, den ich noch einmal sehr ausdrücklich anspreche, weil er mir als einem am
Herzen liegt, der seit 34 Jahren selbstständig ist und immer darauf bedacht war, dass es den Leuten, die bei ihm
arbeiten, auch gut geht. Die Entlastung für die Arbeitnehmer ist völlig unzureichend. Ich sage es hier zum wiederholten Male. Trotz der Absenkung des Spitzensteuersatzes auf 42 Prozent verläuft der Tarif relativ steil,
wodurch der Durchschnittsfacharbeiter in den Spitzensteuersatz hereinkommt und - das ist ein Faktum - im
Jahre 2005 prozentual genau so viel Steuern zahlt wie im
Jahre 2000.
({8})
Das hat mit dem langen Zeithorizont zu tun und damit,
dass die kalte Progression - das Zusammenwirken von Inflation und Progression - diesen Mehrlohn bei den Arbeitnehmern auffrisst. Es wird auf Dauer nicht gelingen,
so die Binnenkonjunktur wirklich anzuheizen und auf
dem Arbeitsmarkt Entscheidendes zu erreichen. Damit
wird das Reformziel, die Voraussetzungen für Wachstum
und Beschäftigung dauerhaft zu verbessern, zwangsläufig
verfehlt.
Wie die Erfahrungen mit durchgreifenden Steuerreformen in anderen Ländern zeigen, sind die von ihnen ausgehenden Wachstums- und Beschäftigungsimpulse dann
am stärksten, wenn die Steuersenkungen von einer zurückhaltenden Lohn- und Tarifpolitik begleitet werden.
Ein solcher Effekt ist aber nur von einer fühlbaren, einPeter Rauen
schneidenden Senkung der Steuerlast zu erwarten, damit
die Tarifpartner auch Spielräume haben und nicht 70 Prozent einer Lohnerhöhung in Form von Steuern und Abgaben wieder abgeführt werden müssen. Das ist insbesondere bei einer zeitlich lang gestreckten Reform der Fall,
bei der sich der Entlastungseffekt der einen Stufe verzehrt
hat, bevor die nächste Stufe erreicht ist.
Zur Mehrwertsteuer möchte ich jetzt keine Ausführungen machen. - Eines in Ihrem Haushalt, Herr Eichel, gefällt mir überhaupt nicht. Überlegen Sie einmal: Obwohl
die Steuereinnahmen von 1995 bis 1997 sogar nominal
zurückgegangen sind - das hat auch mit den Sonderabschreibungen für Wohnungsbau, Bürobauten und dergleichen mehr im Rahmen der deutschen Einheit zu tun -, lag
die Investitionsquote von 1992 bis 1997 im Schnitt bei
13,6 Prozent. Sie senken diese Investitionsquote jetzt auf
11,4 Prozent. Ich kann nur hundertprozentig den Kollegen
Austermann unterstützen, der für unsere Fraktion massiv
fordert, dass die Investitionen deutlich ausgeweitet werden.
({9})
Ich will das an einem Beispiel deutlich machen.
Schade, dass der Kollege Metzger weg ist. Ich respektiere
ja, wenn er sagt, man müsse mehr auf die Schiene umsteigen. Ich bin sehr dafür. Aber wir müssen eines wissen:
Wenn ich 10 Prozent des Verkehrs von der Straße auf die
Schiene bringen will, dann muss ich den Schienenverkehr verdoppeln. Wenn Sie sich die Zugverdichtungen
anschauen, merken Sie, dass es ohne Schienenneubaustrecken nicht geht. Ich möchte dann sehen, wie bei
den Grünen das Geschrei losgeht, wenn wir diese Neubaustrecken schaffen müssen.
({10})
Aber unabhängig davon haben wir überhaupt keine Alternative dazu, auch im Straßenbau massiv weiterzukommen.
({11})
Gerade in den neuen Bundesländern muss viel geschehen,
aber zum Beispiel auch noch in der Eifel, wo ich herkomme. Dort sind für eine prosperierende Wirtschaft auch
Straßenbauten dringend notwendig. Karl Diller weiß ganz
genau, wovon ich rede.
Aber Sie führen die Investitionen für den Straßenbau
im Bundesverkehrswegeplan nominal zurück. Das kann
einfach nicht gut gehen. Wir kassieren die Autofahrer ab
und lassen sie gleichzeitig im Stau stehen. Das kann nicht
aufgehen, Herr Eichel!
({12})
Ich möchte Sie noch auf eine Besonderheit aufmerksam machen, die mit den Konzessionsmodellen zu tun
hat. Ich habe in Ihrem Haushaltsentwurf Rückzahlungen
gesehen, die der Bund aufgrund der umgesetzten Konzessionsmodelle leistet und die im Prinzip Projekte betreffen,
die bereits gebaut sind. Aber im Haushaltsentwurf stehen
diese Mittel so, als würden sie gerade erst investiert. Das
summiert sich bald auf 1 Milliarde DM. Herr Klimmt
weiß das ganz genau.
({13})
- Nein, wir mussten damals bei der deutschen Wiedervereinigung Zeit einkaufen und haben gesagt: Es ist rechtens,
dass man privates Kapital in den Bau von wichtigen Straßenverkehrsmaßnahmen steckt. Das war 1990 eine völlig
richtige Entscheidung.
({14})
Aber dass jetzt die Rückzahlungen wie Investitionen behandelt werden, ist mit Blick darauf, dass ein wichtiger
Konjunkturträger, die Bauwirtschaft, nach wie vor am
Stock geht, nicht zu respektieren.
Ich kann abschließend nur eines sagen: Herr Eichel,
schaffen Sie die dritte, vierte und fünfte Stufe der Ökosteuer ab!
({15})
Ziehen Sie die Steuerentlastungsschritte bei der Einkommensteuer deutlich vor, und zwar im Einklang mit den
Bundesländern. Sie können das bezahlen, weil wir durch
die Inflationsrate wesentlich höhere Steuereinnahmen haben. Beseitigen Sie die Nachteile, die Personengesellschaften bei Umstrukturierungsmaßnahmen im Vergleich
zu Kapitalgesellschaften nach wie vor haben. Denken Sie
nicht zuletzt daran, eine Unternehmensgründungskultur
nicht durch eine Mindestbeteiligungsregelung kaputtzumachen, die es nicht mehr ratsam erscheinen lässt, jungen
Unternehmen sein Kapital zu geben.
Schönen Dank.
({16})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Antje Hermenau vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sie haben es
jetzt relativ leicht, meine Damen und Herren von der Opposition, weil Sie doch noch einen Punkt gefunden haben,
den Sie in dieser Haushaltsdebatte strittig zu stellen versuchen: Das ist die Sache mit der Ökosteuer. Aber vergessen Sie nicht, dass auch Sie in der Verantwortung sind.
Der Spritpreis ist natürlich präsenter als die Summen
aus der Einkommensteuererklärung. Da geht es mir genauso wie vielen Millionen anderen Menschen in diesem
Land. Kein Mensch weiß wirklich ganz genau, was er
eigentlich in den letzten Jahren an Steuern gezahlt hat; das
hat keiner im Kopf.
({0})
Den Spritpreis kennt man; den sieht man jeden Tag an der
Tankstelle.
Das enthebt uns aber nicht der Verantwortung, gemeinsam darüber nachzudenken, wie gewisse Verhaltensänderungen möglich werden. Die ganze Debatte, die
jetzt auch medial aufgeheizt und durch Sie unterstützt
wird, fußt eigentlich nur darauf, dass alle zu bequem und
zu faul sind, ihr Verhalten zu ändern und zum Beispiel
spritgünstiger zu fahren.
({1})
Der ADAC hat Kurse angeboten, in denen man lernen
kann, wie man Sprit sparend Auto fahren kann. Diese
Kurse hat niemand besucht. Das heißt, niemand hat Lust,
sein Verhalten zu ändern. Lieber wird versucht, die Regierung mit dieser Frage in die Enge zu treiben, um seine
bequeme Lebensweise fortführen zu können. Ich will den
Leuten ja nicht sagen, dass sie nicht bequem leben dürfen,
aber so sehr auf Kosten der Natur und der Zukunft der
Kinder sollte man es vielleicht nicht machen. Sie entziehen sich dieser Verantwortung!
({2})
Was ich einigermaßen amüsant finde, ist, dass das der
einzige Punkt ist, bei dem Sie heute irgendetwas zu
meckern haben. Ansonsten haben Sie bis jetzt während
der gesamten Haushaltsdebatte noch keinen Punkt gefunden, an dem Sie irgendetwas wirklich substanziell kritisieren könnten. Das heißt: Unsere Politik ist offensichtlich sehr gut.
({3})
Ich möchte einen Punkt herausarbeiten, der mir besonders am Herzen liegt, nämlich den Aufbau Ost. Es gab
hier und da einzelne verhaltene Stimmen, die meinen, wir
würden in diesem Bereich unglaublich dramatische Kürzungen vornehmen. Dem kann man entgegenhalten, dass
es sich prozentual nur um eine kleine Summe handelt, die
in 2001 weniger als in 2000 ausgegeben wird.
Aber wer dieses Minus von 3 Milliarden DM bejammert, der muss sich an seinen Taten und Worten messen
lassen, wenn es um den Länderfinanzausgleich geht.
Dieser Punkt sollte nämlich in die Debatte einbezogen
werden. Es wird immer behauptet, dass die Finanzausstattung der ostdeutschen Länder auf 92 Prozent des
durchschnittlichen Länderniveaus angehoben werde. Das
ist aber nicht der Fall. Das wäre der Fall, wenn man nur
die Ländersteuern berücksichtigen und die kommunalen
Gelder herausrechnen würde. Die Kommunen im Osten
sind aber deutlich finanzschwächer als die im Westen.
Wenn die kommunalen Gelder eingerechnet werden würden, dann käme je nach Bundesland im Osten ein Niveau
von 66 bis 72 Prozent zustande. Ich bin der Meinung, dass
wir bei der Diskussion um die Neuregelung des Länderfinanzausgleichs deutliche Fakten sprechen lassen müssen.
Ich komme jetzt zu den einzigen Maßnahmen, die die
Finanzkraft der ostdeutschen Länder etwas stärken, nämlich den Maßnahmen des Bundes. Der Bund stärkt ihre
Finanzkraft durch die Bundesergänzungszuweisungen,
insbesondere durch die Sonderbedarfsergänzungszuweisungen. Das heißt, der Bund tritt dort ein, wo die Länder
gar nicht umschichten wollen. Gerade Länder wie Bayern, Baden-Württemberg, auch Hessen und NordrheinWestfalen, die jetzt am lautesten das Wort führen und am
meisten herumstreiten, indem sie sagen, sie müssten zu
viel Geld für die ostdeutschen Länder ausgeben, sind die
Länder, die durch andere Bundesergänzungszuweisungen
wieder begünstigt werden, weil sie ja als „arme Länder“
nicht die Kraft haben, die Umstellung des Länderfinanzausgleichs im Hinblick auf die Unterstützung der ostdeutschen Länder durchzuhalten.
Die westdeutschen Länder bekommen also eine besondere Bundesergänzungszuweisung dafür, dass sie an den
Osten Geld abgeben müssen. Es gibt also eine Kompensation. Die ostdeutschen Länder bekommen eine Bundesergänzungszuweisung, weil sie zu schwache Kommunalfinanzen haben. Zwar ist dieses System in gewisser Weise
marode, aber eines wird klar: Die Länder selbst speisen
nicht die Finanzkraft der ostdeutschen Länder. Es ist vielmehr der Bund, der die ostdeutschen Länder stabilisiert.
Damit bin ich beim Schuldenberg und beim Gegenstand
der heutigen Debatte.
Der Schuldenberg, von dem hier dauernd gesprochen
wird, setzt sich nicht einmal zur Hälfe aus den notwendigen Transfers in die ostdeutschen Länder zusammen. Um
es einmal klar zu sagen: Man kann zwar behaupten, dass
die ostdeutschen Länder daran schuld seien, dass die
Bundesrepublik Deutschland so stark verschuldet ist, aber
das stimmt einfach nicht. Ein großer Teil des Schuldenberges beruht auf dem Konsum der vergangenen Jahre
und Jahrzehnte, der vor der Einheit stattgefunden hat.
Diesen Konsum können Sie uns wirklich nicht anlasten;
denn die paar Westfresspakete können es nicht gewesen
sein.
({4})
Ich möchte gerne darüber sprechen, was wir versuchen
zu unternehmen, um die Situation der ostdeutschen
Länder zu verbessern, damit ihre Steuerkraft und Finanzkraft durch ihre wirtschaftliche Stärkung gestärkt
wird. Wir im Osten sollen in die Lage versetzt werden, unseren eigenen Steueranteil zu erhöhen, der jetzt nur bei
ungefähr einem Drittel liegt, was natürlich nicht sehr viel
ist.
Es gibt zum Beispiel hinsichtlich der Bahn eine Vereinbarung mit den Ministerpräsidenten der ostdeutschen
Länder, dass die Investitionen in die Schienenwege, die
nachzuholen sind, nicht mit dem Ablauf der gesetzlichen
Verpflichtung in 2003 eingestellt werden, sondern dass
die gesamte vereinbarte Summe in Höhe von 33 Milliarden DM bis zum Jahre 2007 auszufinanzieren ist. Das
heißt: Es wird kein Geld eingespart. Die Verausgabung
der Mittel wird vielmehr zeitlich gestreckt.
Neben diesen Mitteln, die alle ausgegeben werden
können, stehen noch die Extramittel aus der Zinsersparnis
aufgrund der Versteigerung der UMTS-Frequenzen zur
Verfügung, die wir ebenfalls in die Bahn stecken können.
Das sind Maßnahmen, mit denen wir sofort im nächsten
Jahr beginnen können und mit denen wir im Bereich der
Bahn Erfolge erzielen werden, die jeder spüren kann.
Unser Problem ist doch, dass die meisten Maßnahmen
viel zu lange dauern, meistens länger als eine Legislaturperiode. Die Menschen fragen dann immer: Wann geschieht etwas? Wann wird etwas gemacht? Bei der Bahn
werden wir schon im nächsten Jahr spürbare Erleichterungen haben, wenn die Langsam-Fahrstrecken ausgebaut und ausgebessert werden und damit die Pünktlichkeit
der Bahn deutlich gesteigert wird, was ich für einen wichtigen Punkt halte.
({5})
Das Gleiche gilt zum Beispiel für die Straße. Es gibt
das Bundesprogramm Verkehrsinfrastruktur, das bis zum
Jahr 2002 laufen soll. Ohne zusätzliche Gelder aus der
UMTS-Versteigerung sind schon 67 Milliarden DM vorgesehen. Von diesen 67 Milliarden DM gehen 32 Milliarden DM in die fünf neuen Länder. Bei dieser anteilsmäßig
hohen Summe kann keiner sagen, dass die ostdeutschen
Länder damit ihren Nachholbedarf im Bereich des
Straßenbaus nicht decken könnten.
Das trifft genauso auf die Bereiche Bildung, Hochschulbau und Forschung zu. Auch dort liegt der Anteil der
fünf neuen Länder über ihrem Bevölkerungsanteil. Man
kann also nicht behaupten, dass die ostdeutschen Länder
nur das bekommen, was jedem Bundesland normalerweise prozentual zustünde. Sie werden vielmehr bevorzugt - und das zu Recht. Das ist völlig korrekt und soll
auch so sein.
Aber auf der anderen Seite bei irgendwelchen auslaufenden Programmen von Kürzungen zu sprechen, das
halte ich für einigermaßen perfide, wenn man überlegt,
dass die ostdeutschen Länder im Rahmen bundesweiter
Programme sehr oft einen besonderen Bonus bekommen
und besonders bedacht werden. Das betrifft zum Beispiel
die Bereiche Innovationen und Forschung.
Lassen Sie mich noch zur Gemeinschaftsaufgabe Ost,
zu den Geldern kommen, die wir benutzen, um eine ganze
Reihe von Infrastrukturmaßnahmen zu finanzieren. Es
ist richtig: Dieser Betrag wird im nächsten Jahr leicht
abgesenkt. Das ist ja auch ein schwieriges Haushaltsjahr.
Er wird aber bei weitem nicht in der Stärke abgesenkt, wie
man es, wenn man an die allgemeine Ausgabenreduzierung denkt, prozentual gesehen in diesem Bereich tun
müsste. Außerdem bestehen jede Menge Möglichkeiten,
neue Projekte anzuschieben. Wenn man die Kofinanzierung der Länder und auch die EFRE-Mittel, das heißt die
in diesem Zusammenhang gewährten europäischen Mittel, mit einbezieht, können bei der Gemeinschaftsaufgabe
Ost bzw. bei den Infrastrukturmaßnahmen neue Verpflichtungen in Höhe von 3,5 Milliarden DM eingegangen werden. Das halte ich für ein außerordentliches Bewilligungsvolumen. Damit können wir uns sehen lassen. Dass
natürlich die Anzahl der Anträge, etwas neu zu bauen,
höher ist, als es die Möglichkeiten unseres Bewilligungsvolumens zulassen, ist nichts Neues und betrifft jeden Politikbereich.
({6})
Frau Kollegin Hermenau, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Koppelin?
Aber sicher.
Bitte
schön, Herr Koppelin.
Frau Kollegin Hermenau,
ich habe Ihnen zwar mit großem Interesse zugehört,
möchte jetzt aber eine konkrete Frage stellen. Zu meiner
großen Überraschung las ich in der „Sächsischen Zeitung“, dass Sie dem Sportbereich Mittel in Höhe von
400 Millionen DM versprochen haben. Es mag sein, dass
man einer Regionalzeitung so etwas verkünden kann. Sie
haben erklärt, dass dieses Programm mit einem Teil der
Zinsersparnisse, die sich durch die Erlöse der Vergabe der
UMTS-Lizenzen ergeben, finanziert werden soll und dass
Sie dazu die Zustimmung der Koalitionsfraktionen hätten.
Könnten Sie mir einmal erklären, wie das ablaufen soll,
damit dies hier gleich zu Protokoll gebracht wird und wir
Sie daran erinnern können?
Herr Koppelin, Sie haben sich leider vertan. Ich wollte sofort zum Sportstättenbau kommen. Können Sie sich noch
einen Moment gedulden?
({0})
Denn ich würde gerne vorher noch auf zwei andere
Punkte eingehen.
Es wurde oft die Frage aufgeworfen, ob wir in der Lage
sein werden, den ostdeutschen Ländern für die Stärkung
des Arbeitsmarktes genügend Gelder zur Verfügung zu
stellen. Dadurch, dass sich die Arbeitslosenzahlen in
Deutschland insgesamt verbessert haben, ist die Bundesanstalt für Arbeit in die Lage versetzt worden, die aktiven
Arbeitsmarktmaßnahmen in Ostdeutschland stabil zu halten. Das halte ich für einen ganz wesentlichen Punkt. Man
darf nicht vergessen, dass die Hälfte aller Gelder, die für
eine aktive Arbeitsmarktpolitik ausgegeben werden, in
die fünf neuen Länder fließen, obwohl dort nur 20 Prozent
der Gesamtbevölkerung wohnt. Man darf aber auch nicht
vergessen, dass in Ostdeutschland der Arbeitslosenanteil
doppelt so hoch ist. Insofern ist diese Maßnahme völlig
gerechtfertigt.
Ganz kurz möchte ich noch die Pflegeeinrichtungen
ansprechen. Auch in diesem Bereich gab es Komplementärmittel der Länder. Die waren wesentlich geringer
als die des Bundes. Wir haben den Stand gehalten. Es geht
darum, den Standard der Pflegeeinrichtungen zu verbessern. Die Länder haben in den letzten Jahren die in diesem
Zusammenhang bereitgestellten Mittel nur zu ungefähr
80 Prozent abgerufen. Diesem Abrufverhalten haben wir
uns angepasst. Wir senken also nicht das gesamte Bewilligungsvolumen ab. Vielmehr verzögern wir einfach zeitAntje Hermenau
lich gesehen die Auszahlungen, weil die Länder nicht
mehr Mittel abgefordert haben. Die können gar nicht so
schnell die entsprechenden Komplementärfinanzierungen
leisten. Deswegen ist es meiner Meinung nach völlig vernünftig, dass man über vereinbarte Zeiträume hinaus sagt:
Wir strecken das Programm zeitlich. Das heißt natürlich,
dass im nächsten Jahr ein bisschen weniger Geld von
Bundesseite zur Verfügung gestellt wird, weil die Länder
gar nicht mehr abrufen bzw. kofinanzieren können.
Jetzt komme ich zu den Sportstätten. Circa 20 Prozent
des Bedarfs, den der Sportbund für den Osten Deutschlands festgestellt hat, ist inzwischen in Angriff genommen
worden. Das, was Sie, Herr Koppelin, gerade zitiert haben, ist ein mehrjähriges Programm. Das ergibt die hohe
Summe, die Sie genannt haben. Sie hätten den Artikel
gründlich lesen sollen.
({1})
- Die Einstiegssumme nenne ich Ihnen, nachdem ich das
konkret mit den Kollegen ausgehandelt habe. Sie wird ein
zweistelliger Millionenbetrag sein und deutlich über den
15 Millionen DM liegen, die im letzten Jahr bereitgestellt
worden sind.
Herr Koppelin, Sie können sich darüber freuen, an dieser Sache teilzuhaben. Sie können gerne in Ostdeutschland darauf hinweisen, dass Sie durch eine anregende
Zwischenfrage versucht haben, die Koalition in dieser
Frage auf den richtigen Weg zu bringen.
Ich bedanke mich recht herzlich.
({2})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Uwe-Jens
Rössel von der PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Kollegin Hermenau,
ich möchte Ihnen an dieser Stelle die Erwartung vieler
Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland übermitteln,
dass die Menschen dort keine leeren Versprechungen
mehr hören wollen. Sie erwarten vielmehr einen konkreten Fahrplan der Bundesregierung dahin gehend, dass die
Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland endlich zustande kommt, und sie erwarten,
dass dieser Fahrplan über den Haushalt umgesetzt werden
kann. Das ist eine ganz wichtige Forderung, und darauf
können Sie persönlich auch hinwirken.
({0})
Ich will an dieser Stelle noch einmal den Standpunkt
der PDS-Fraktion bekräftigen, wonach die junge Generation nicht nur die Zurückführung der immens hohen
öffentlichen Schulden erwartet - so wichtig das ist -, sondern zugleich erwartet, dass sich die öffentliche Hand
ihrer Verantwortung für andere Zukunftsaufgaben bewusst wird. Sie erwartet die Auflösung des von der Vorgängerregierung verursachten Reformstaus im Bildungsund Forschungsbereich, und sie erwartet in der Tat wirksame Schritte für den Abbau der Massenarbeitslosigkeit.
Das geht in hohem Maße über Investitionen. Deshalb
ist es unverantwortlich, wenn im Haushaltsentwurf der
Bundesregierung die Investitionen nach wie vor zurückgeführt statt angehoben werden. Das ist ein falsches Signal.
Die PDS-Fraktion - Kollegin Höll hatte das angesprochen - ist die einzige Fraktion im Deutschen Bundestag,
welche die 100-Milliarden-DM-Erlöse aus dem Milliardenpoker
({1})
um die UMTS-Mobilfunklizenzen nicht ausschließlich
für die Schuldentilgung verwenden will,
({2})
sondern etwa 90 Prozent für die Schuldentilgung, aber
10 Prozent für andere Aufgaben. Kollege Wagner, eine
Zweckbindung dieser Erlöse ist im Telekommunikationsund auch im Haushaltsgesetz nicht vorgesehen;
({3})
für andere Erlöse gibt es das, hier jedoch nicht.
Unser Vorschlag ist wohl begründet, weil mit diesen
100 Milliarden DM selbst die kühnsten Einnahmeerwartungen von Bundesfinanzminister Hans Eichel - er ging
von etwa 25 Milliarden DM aus - übertroffen worden
sind. Da zugleich die Steuereinnahmen des Bundes ergiebiger als in den Vorjahren fließen und - darauf wurde noch
nicht eingegangen - Erstattungen aus EU-Haushaltsmitteln in Höhe von rund 3,5 Milliarden DM angezeigt sind,
gibt es für 2001 - darüber reden wir heute - durchaus
Spielraum ohne nennenswerte Abstriche am Kurs der
Haushaltskonsolidierung.
({4})
Wie nun will die PDS diese Bundesaufgaben angehen?
Welche Schwerpunkte und Prioritäten setzen wir für die
10 Milliarden DM, die nicht für die Tilgung der Bundesschulden eingesetzt werden sollen? Wir wollen erstens
mit der Auflage einer Investitionspauschale des Bundes
in Höhe von rund 3 Milliarden DM für ostdeutsche Städte,
Gemeinden und Landkreise, aber ebenso für strukturschwache Regionen im Altbundesgebiet Impulse für den
soziokulturellen und Bildungsbereich geben.
({5})
Das Geld soll, um es klar und deutlich auszudrücken,
vom Bund direkt an die Kommunen fließen, und zwar
ohne Mittel- und Zwischenebenen, ohne bürokratische
Hürden und ohne Zweckbindungen. Das wäre in der Tat
kommunale Selbstverwaltung pur, die von Bund und
Ländern so ausgehöhlt wird.
Die Milliardenspritze des Bundes könnte gezielt Beschäftigung fördern und sie käme vor allem dem angeschlagenen Bau- und Baunebengewerbe zugute. Gerade
diese Branchen und ihre Beschäftigten leiden darunter,
dass in diesem Jahr die kommunalen Investitionen preisbereinigt um 33 Prozent unter dem Niveau des Jahres
1992 liegen. Das ist ein unverantwortlicher Zustand. Die
Kommunen fallen damit immer mehr als wichtiger Auftraggeber für das örtliche Handwerk und Gewerbe aus.
Aber gerade dort werden Arbeits- und Ausbildungsplätze
geschaffen und gerade dort ist Hilfe seitens der Politik
dringend notwendig.
({6})
Die Städte und Gemeinden müsse anders als es Bundesfinanzminister Eichel, der selbst viele Jahre lang Oberbürgermeister einer Großstadt in Hessen war, will, am
Milliardenkuchen aus den Lizenzversteigerungen der
Mobilfunkfrequenzen partizipieren.
({7})
Die Städte und Gemeinden jedoch sind es, die wegen der
Steuervergünstigungen für die Mobilfunkunternehmen in
den nächsten Jahren allein bei der Gewerbesteuer auf Einnahmen in Höhe von 17 Milliarden DM verzichten müssen.
Kollegin Hermenau und andere Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, wie sieht denn die Hilfe des Bundes in einer Situation aus, in der auf die Kommunen mit
dem jüngst beschlossenen Steuersenkungsgesetz allein in
2001 Einnahmeausfälle in einem Umfang von 8,5 Milliarden DM zukommen werden? Wie sieht hier die Verantwortungswahrnehmung des Bundes aus? Dies könnten
Sie, Kollegin Hermenau, nicht nur auf Bundesergänzungszuweisungen zurückführen. Eine kommunale Investitionspauschale des Bundes wäre da ein willkommenes Signal, wenn in diesem Herbst zugleich auch von der
Bundesregierung ein weiteres Signal ausgehen würde,
dass die längst überfällige Kommunalfinanzreform endlich in Angriff genommen wird.
({8})
Zweitens. Nach Berechnungen meiner Fraktion könnte
der Versteigerungserlös in Höhe von 3,8 Milliarden DM
für die Korrektur des von der rot-grünen Bundesregierung
im vergangenen Jahr durchgedrückten Systembruchs bei
der Anpassung der Renten sowie bei der Anpassung der
Arbeitslosen- und Sozialhilfe genutzt werden. Wir schlagen daher vor, dass für den Zeitraum vom 1. Juli 2000 bis
zum 30. Juni 2001 die nettolohnbezogene Rentenformel
rückgängig gemacht und anstelle der von Minister Riester
systemwidrig verankerten Anpassung der Renten in Höhe
der Inflationsrate wieder eingeführt wird.
({9})
Hierfür gäbe es einen Spielraum. Dies wäre ein Schritt,
der heutigen und zukünftigen Rentnerinnen und Rentnern
zugute käme.
Drittens setzt sich die PDS dafür ein - und hat vor Ort
recherchiert -, dass mit rund 3,2 Milliarden DM die
außerordentlich angeschlagenen ostdeutschen Wohnungsunternehmen unterstützt werden.
({10})
Diese Wohnungsunternehmen drohen unter dem Druck
der finanziellen Lasten, auch unter dem Druck noch vorhandener Altschulden zu zerbrechen. Eine Konkurswelle - das ist keine Übertreibung; Sie wissen, ich übertreibe nicht - wird um sich greifen, wenn hier nicht etwas
getan wird.
Ich sage auch offen: Der Einsatz dieser rund 3 Milliarden DM ist noch nicht die Lösung des Problems; aber er
wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Für die Lösung
des Problems müssen wir in diesem Hause gemeinsam
mit dem Bundesrat bald ernsthafte und nachprüfbare
Schritte vorlegen und sie dann auch sehr zügig umsetzen;
sonst droht bei 1 Million leer stehenden Wohnungen in
Ostdeutschland tatsächlich ein Kollaps.
Was nun die Verwendung der Zinseinsparungen betrifft, kann man vieles von dem, was die Regierung unterbreitet hat, mittragen. Aber bisher sind in deren Vorschlägen Guthabenzinsen in einer Höhe von etwa
650 Millionen DM nicht berücksichtigt. Sie resultieren
daraus, dass die Telekommunikationsunternehmen ihre
Gelder in die Bundeskasse eingezahlt haben, deren Verwendung aber erst im nächsten Jahr erfolgen wird.
Dadurch entstehen dem Bund - bei einer günstigen Anlage - Guthabenzinsen in einem Umfang von 650 Millionen DM. Auch über deren Verwendung muss entschieden werden. Wir schlagen vor, dass dieses Geld für ein
Programm des Bundes zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und zur Auseinandersetzung damit eingesetzt wird.
({11})
Dies wäre in der Tat ein Signal aus dem Berliner Reichstagsgebäude, nicht nur in die Bundesrepublik hinein, sondern auch an die Weltöffentlichkeit. Das Geld dafür ist da,
die politische Notwendigkeit allemal.
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({12})
Als
nächster Redner hat der Kollege Jörg-Otto Spiller von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Mitte der Wahlperiode ist
es Zeit für eine Zwischenbilanz. In der Finanzpolitik fällt
diese Bilanz rundum positiv aus.
({0})
Die Bundesregierung und die sie tragende Koalition tun,
was sie 1998 versprochen haben. Sie tun es konsequent
und erfolgreich.
Die vier Grundelemente unserer Finanzpolitik sind:
erstens der Ausbruch aus der Schuldenfalle. Wir machen
eine entschlossene Politik zur Sanierung der Staatsfinanzen.
Zweitens. Wir machen eine Steuerreform zur Entlastung der Bürgerinnen und Bürger und der Unternehmen.
({1})
Drittens. Wir stellen die Steuergerechtigkeit und das
Prinzip wieder her, dass starke Schultern mehr zu tragen
haben als schwache.
Viertens. Unsere Finanzpolitik ist so ausgerichtet, dass
sie zum Abbau der Arbeitslosigkeit beiträgt. Das haben
wir versprochen und wir haben Wort gehalten.
Noch ein paar Bemerkungen zu allen vier Punkten:
({2})
Als Helmut Kohl sein Amt als Bundeskanzler antrat, betrug die Verschuldung des Bundes 350 Milliarden DM.
16 Jahre später hinterließ die Regierung Kohl eine Schuldenlast von 1 450 Milliarden DM.
({3})
- Sie können offenbar nicht lesen.
({4})
Jetzt wird die Legende verbreitet - Herr Rexrodt hat
das heute auch getan -, dieser Anstieg der Verschuldung
habe nur etwas mit der deutschen Einheit zu tun. Eine
reine Legende! In der ersten Halbzeit der Regierung Kohl
von 1982 bis 1990 hat sich die Höhe der Bundesschulden
exakt verdoppelt, von 350 auf 700 Milliarden DM. In dem
gleichen Tempo sind sie weiter gestiegen. Sie haben sich
von 1990 bis 1998 noch einmal verdoppelt.
({5})
Wenn Sie jetzt so tun, als sei dieser Anstieg der Verschuldung nur auf die deutsche Einheit zurückzuführen,
als seien sozusagen die Ostdeutschen schuld, dann ist das
eine kümmerliche Entschuldigung dafür, dass Sie nicht
mit Geld umgehen konnten.
({6})
Das Problem war - daran haben wir jetzt leider alle zu
knabbern -: Helmut Kohl hatte zwar ein Verhältnis zu
Bimbes; aber er hatte kein Verhältnis zum Geld der Steuerzahler.
({7})
Der Konsolidierungskurs, den Hans Eichel mit Energie
und mit großer Unterstützung der gesamten Koalition betreibt,
({8})
ist sehr erfolgreich. Jahr für Jahr ist die Nettokreditaufnahme gesunken.
({9})
Wir werden bis zum Haushalt 2006 einen ausgeglichenen
Haushalt erreichen. Erst dann, meine Herren von der
CDU und - nicht zu vergessen - von der CSU, wird ein
tatsächlicher Abbau der Verschuldung, die Sie hinterlassen haben, möglich sein. Sie sollten nicht so viel darüber
schreien. Sie sollten froh sein, dass sich die jetzige Koalition der Probleme, die Sie hinterlassen haben, annimmt.
Der zweite Punkt,
({10})
die Steuersenkung und die Steuerreform. Es gibt einen
engen Zusammenhang zwischen der Konsolidierung, der
Drosselung der Ausgaben und der Senkung der Steuern.
Denn wir machen keine Steuerentlastung auf Pump, sondern erhöhen die Ausgaben parallel in einem nur geringen
Maße, und senken die Steuern für die Bürger und Bürgerinnen stufenweise, verantwortungsbewusst.
Wir haben 1999 begonnen mit einer deutlichen Entlastung der Familien mit Kindern. Es stimmt, 1999 haben die
Bürgerinnen und Bürger, die keine Kinder haben, wenig
von unserer Steuerentlastung gehabt. Das ist in diesem
Jahr ganz anders. In diesem Jahr haben alle von dieser
Steuersenkung wirklich Vorteile und im nächsten Jahr
geht es weiter.
Ich nehme einmal ein Beispiel: Eine Arbeitnehmerfamilie mit zwei Kindern und einem monatlichen Bruttoeinkommen von etwa 5 000 DM hat
({11})
in diesem Jahr monatlich 200 DM mehr in der Tasche als
1998. Im nächsten Jahr wird diese Familie bei gleichem
Bruttoeinkommen 250 DM mehr in der Tasche haben.
({12})
Nun sagen Sie, das sei alles gar nichts. In Ihrer Zeit hat
es zwar ebenfalls einen Anstieg der Bruttoeinkommen
gegeben. Aber das Schlimme war, die Leute haben immer
weniger davon gehabt, weil der Unterschied zwischen
brutto und netto immer größer wurde. Das hatte nichts zu
tun mit sozialer Gerechtigkeit.
({13})
Sie haben noch etwas anderes gemacht. Sie haben hingenommen, dass Leute mit guten Einkommen in legaler
Weise Steuerschlupflöcher nutzen konnten, um sich vor
dem Finanzamt arm zu rechnen. Damit haben wir gegen
den erbitterten Widerstand der Lobby, die leider auch von
F.D.P. und CDU/CSU unterstützt wurde, Schluss gemacht.
({14})
Es ist heute eben nicht mehr möglich, dass man sich bei
einem Spitzeneinkommen vor dem Finanzamt einfach
arm rechnet. Auch das gehört zur Steuergerechtigkeit:
dass aus hohen Einkommen ein fairer Beitrag zur Finanzierung der öffentlichen Aufgaben geleistet wird.
Sie haben eine totale Perversion der Marktwirtschaft
betrieben. Es ist geradezu wahnwitzig, dass man Investitionsentscheidungen an Verlustzuweisungen orientierte.
Investitionsentscheidungen müssen an Gewinnerwartungen orientiert werden. Wir haben die marktwirtschaftliche
Grundordnung wiederhergestellt. Darauf sind wir stolz.
({15})
Ich mache ein paar Bemerkungen zur Unternehmensteuerreform.
({16})
Zunächst einmal profitieren alle selbstständigen Unternehmer genauso wie Arbeitnehmer von der Senkung der
Einkommensteuertarife. Obendrein haben wir durch die
Verrechnung der Gewerbesteuer mit der Einkommensteuerschuld eine faktische Freistellung der Personenunternehmen von der Gewerbesteuer, und zwar ohne dass die
Finanzkraft der Gemeinden darunter leidet.
({17})
- Ja, das hören Sie nicht gern. Das kann ich mir gut vorstellen. Sie haben das nämlich nie fertig gebracht. Sie haben immer nur darüber geredet.
({18})
Es ärgert Sie jetzt, dass diese Koalition Erfolg hat. Was
Sie uns vorführen, ist der schwarz-gelbe Neid, weil Sie
das nicht zustande gebracht haben.
({19})
Der Mittelstand gehört zu den Hauptgewinnern unserer
Steuerreform. Das sagen wir, auch wenn es Ihnen nicht
gefällt, immer wieder. Das Erfreuliche ist: Wir finden
damit immer mehr Zustimmung.
Herr Rexrodt, meinen persönlichen Glückwunsch zu
Ihrem Geburtstag! Aber alles kann man Ihnen trotzdem
nicht durchgehen lassen. Sie haben vieles erzählt, was
einfach nicht stimmt.
({20})
Sie sagten, der Mittelstand stehe viel schlechter da als die
Kapitalgesellschaften. Dazu ist zunächst zu bemerken,
dass es viele mittelständische GmbHs gibt. Das wissen
auch Sie, und das darf man nicht verschweigen. Auch der
Mittelstand macht von der Rechtsform der Kapitalgesellschaft lebhaft Gebrauch. Wenn Sie bei den Personengesellschaften bleiben, müssen Sie sich fragen: Wann erreicht eine Personengesellschaft einen Gewinn, der zu
einer steuerlichen Belastung ähnlich wie bei einer Kapitalgesellschaft führt? Sie müsste einen Durchschnittssteuersatz von insgesamt - Pi mal Daumen - 38 Prozent haben, weil nämlich eine Kapitalgesellschaft 25 Prozent
Körperschaftsteuer plus im Bundesdurchschnitt etwa
13 Prozent Gewerbesteuer zahlt. Um einen solchen Satz
zu erreichen, braucht ein verheirateter Handwerksmeister
einen Jahresgewinn von etwa 400 000 DM. Das kommt in
mittelständischen Handwerksbetrieben nicht so oft vor.
Die meisten liegen deutlich darunter, das heißt, es geht ihnen steuerlich mit unserem System nicht nur deutlich besser als vorher, sondern auch deutlich besser, als wenn sie
eine Kapitalgesellschaft wären. Dass, nebenbei bemerkt,
die Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft auch noch
Einkommensteuer zahlen, sollte Ihnen bekannt sein.
Herr Rexrodt und auch Herr Rauen haben gemeint,
dass doch die Fachwelt ihre Meinung teilt. Das ist aber
leider nicht so. Es liegt vielleicht auch daran, dass Sie zu
wenig lesen. Lesen Sie doch wenigstens die Ausführungen der Bundesbank. Denn die Bundesbank ist doch nun
eine anerkannte Institution. Sie schreibt in ihrem Monatsbericht vom August:
Insgesamt gesehen
- das schreibt sie über unsere Steuerreform dürften ... die Personengesellschaften bei der Besteuerung des laufenden Betriebsergebnisses nicht
schlechter abschneiden als die Kapitalgesellschaften.
Das ist ein eindeutiges Votum. Die Bundesbank ist nicht
die einzige, die das so sieht.
({21})
Der Kern unserer Körperschaftsteuerreform ist die
Senkung des Tarifes auf 25 Prozent, und zwar einheitlich.
Wir machen keine Unterscheidung zwischen einbehaltenem und ausgeschüttetem Gewinn, sondern der Tarif
beträgt einheitlich 25 Prozent. Als Sie noch regierten, betrug der Körperschaftsteuersatz für einbehaltene Gewinne
in Deutschland 45 Prozent. Jetzt beträgt er 25 Prozent. Raten Sie mal, was die Unternehmen besser finden. Raten
Sie auch mal, was das Ausland interessanter findet. In den
letzten Jahren Ihrer Regierung galt Deutschland als ein
lahmes Land, das nicht die Kraft aufbrachte, seine Probleme zu lösen. Das hat sich geändert. Es ist ein Ruck
durch Deutschland gegangen. Das wird überall anerkannt.
Das bringt uns Zustimmung.
({22})
Wir haben bei der Ausrichtung der Unternehmensteuerreform eine Stärkung der Investitionskraft verfolgt,
insbesondere auch mit Blick auf die Wirkung für Ostdeutschland. Dort ist die Kapitalstärke überall unzureichend. Bei den wirklich ostdeutschen Unternehmen gibt
es einen krassen Mangel an Eigenkapital.
({23})
- Solche Bemerkungen werden Ihnen überhaupt nicht
helfen.
Der Mangel an Eigenkapital, die Unfähigkeit aus eigener Kraft zu investieren, ist eine der Hauptschwächen der
ostdeutschen Wirtschaft. Diese Reform der Unternehmensbesteuerung wird gerade dafür eine wesentliche
Hilfe sein. Das wird uns in Deutschland insgesamt weiter
voranbringen.
Ich komme zu der letzten Bemerkung, zum Abbau der
Arbeitslosigkeit. Wir haben inzwischen eine konjunkturelle Situation, in der der Funke übergegriffen hat: vom
Export, von der Auslandsnachfrage auf die inländische
Nachfrage, auf die Binnenkraft der Konjunktur. Wir haben, beginnend mit den Ausrüstungsinvestitionen, eine
kräftige Zunahme der Binnennachfrage, einen realen Zuwachs bei den Ausrüstungsinvestitionen gegenüber dem
Vorjahr um etwa 9 Prozent. Im nächsten Jahr wird es in
ähnlicher Größenordnung weitergehen. Wir haben einen
deutlichen Zuwachs auch beim privaten Konsum. Das
hängt nun in der Tat mit der Kaufkraftentwicklung zusammen, und zwar mit dem, was die Leute netto in der
Hand haben.
Ich zitiere noch einmal aus dem Monatsbericht der
Bundesbank vom August. Die Bundesbank schreibt:
Die Steuerreform ist ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigung in Deutschland.
Das ist eindeutig.
Das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle schreibt
noch prägnanter und eindeutiger, wie ich finde, die Stärkung der Binnenkaufkraft und der Binnenkonjunktur in
Deutschland sei durch unsere Finanzpolitik stark angeregt. Die Hallenser schreiben wörtlich:
Der entscheidende Schub kommt im Jahr 2001 von
der dritten Stufe des Steuerentlastungsgesetzes, die
in Verbindung mit der Unternehmensteuerreform
vorgezogen werden soll.
Die Nettoerwerbseinkommen werden vor allem infolge der Erhöhung des Grundfreibetrages und der
spürbaren Senkung des Eingangssteuersatzes so
stark wie lange nicht expandieren...
Dann fährt das Institut in Halle fort:
Im Jahr 2001 ist ... ein deutlich expansiver Impuls
durch das Steuerreformpaket zu erwarten.
Maßgeblich dafür ist
vor allem die deutliche Entlastung bei der Lohnsteuer ...
So ist es. Millionen Bürger dieses Landes, die täglich
zur Arbeit gehen und von ihrer Arbeit leben, haben jetzt
endlich wieder mehr Kaufkraft, die Sie ihnen über lange
Zeit verweigert haben.
Meine Herren, das Einzige, von dem Sie meinen, uns
jetzt kritisieren zu können, das sind die Energiepreise und
die Ökosteuer.
({24})
Ich empfehle Ihnen, dass Sie vielleicht lhr Programm einstampfen. 1998 sind Sie mit folgendem Passus in den
Wahlkampf gegangen -
Herr Kollege Spiller, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss.
Wenn Sie mir gestatten, Herr Präsident, möchte ich mit einem Zitat aus dem Wahlprogramm der CDU für die Bundestagswahl 1998 enden:
({0})
Unser Steuer- und Abgabensystem macht gerade das
besonders teuer, wovon wir gegenwärtig im Überfluss haben: Arbeit. Dagegen ist das, woran wir sparen müssen, eher zu billig zu haben: Energie- und
Rohstoffeinsatz. Dieses Ungleichgewicht müssen
wir wieder stärker ins Lot bringen, wenn wir unseren
beiden Hauptzielen, mehr Beschäftigung und weniger Umweltbelastung, näher kommen wollen.
({1})
Es stimmt.
({2})
Als
nächstem Redner gebe ich das Wort dem Kollegen
Bartholomäus Kalb von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was mich bei
Ihnen, Herr Kollege Spiller, aber auch bei allen Rednern
- es beginnt beim Bundeskanzler und dem Finanzminister - ganz gewaltig stört, ist: Wenn Sie über den Schuldenstand dieses Landes sprechen, tun Sie so, als hätte es
die Wiedervereinigung in Deutschland und die damit einhergehenden finanziellen Herausforderungen nie gegeben.
({0})
Sie wollen offensichtlich mit diesem Thema immer noch
nichts zu tun haben.
({1})
- Sie haben ein absolut gestörtes Verhältnis, wie Kollege
Ramsauer gerade dazwischenruft.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, heute Morgen hat es der Bundesfinanzminister wieder vorgezogen,
Superlative zu gebrauchen. Er sprach von der größten
Sparaktion im letzten Jahr und der größten Steuerreform
in diesem Jahr. Wenn wir uns die Zahlen anschauen,
ist davon nicht viel übrig. Er musste ja zunächst den
Lafontaine-Effekt beim Haushalt wettmachen.
Wenn ich auf die Zahlen schaue, so hatten wir 1998 ein
Haushaltsvolumen von 456 Milliarden DM, 1999 eines
von 483 Milliarden DM und jetzt sind wir für dieses und
das kommende Jahr bei einem von rund 478 Milliarden DM. Trotz des groß angekündigten Sparpakets, das
Sie letztes Jahr verkündet haben, haben Sie es nicht geschafft, die von Lafontaine verursachten Erhöhungen
wieder zurückzunehmen. Sie haben gerade einmal 5 Milliarden DM zusammengebracht und die haben Sie noch
auf die Länder und die Gemeinden weggedrückt. Auch
das müssen Sie korrekterweise zugeben. Wenn Sie sparen,
sparen Sie an der falschen Stelle und zulasten Dritter, wie
ich eben gesagt habe.
({2})
Wenn ich von der „falschen Stelle“ rede, komme ich
zurück auf die Investitionen. Kollege Dr. Rexrodt und die
Redner der Union haben bereits darauf hingewiesen: Wir
haben einen historischen Tiefstand, was die Investitionsquote betrifft: 11,4 Prozent, das war noch nicht da. Meine
feste Überzeugung ist, dass ein Bundeshaushalt mit einer
Investitionsquote, die wesentlich unter 13 Prozent liegt,
nicht vertretbar ist. Der Haushalt hat eine Schieflage. Er
hat erhebliche strukturelle Schwächen.
({3})
Ich will gerne wiederholen, was Kollege Metzger hier
ausgeführt hat. Er hat ja angekündigt, man wolle bei
Investitionen 4 Milliarden DM drauflegen. Das wollen
wir, Kollege Austermann, hier gerne festhalten. Wir werden das bei den Beratungen dann auch einfordern. Sie
werden es aber trotzdem nicht schaffen, die Kürzungen,
die Sie dem Verkehrsetat verpasst haben, nämlich 4,8 Milliarden DM, damit wieder aufzuheben.
Wenn wir auf das Jahr 1998 zurückgehen, als Bauministerium und Verkehrsministerium noch zwei getrennte Häuser waren, dann müssen wir feststellen, dass
Sie heute 9 Milliarden DM weniger für Investitionen in
diesen beiden Bereichen ausgeben, als wir seinerzeit
dafür eingestellt hatten.
({4})
Gleichzeitig belasten Sie gerade die Verkehrsteilnehmer
in einer unverantwortlichen Art und Weise, lassen sie aber
im Stau stehen, weil Sie für den Fernstraßenbau nichts
tun, ebenso wenig für die dringende Modernisierung der
Schienenwege. Sie lassen die Menschen im Stau stehen
und nehmen ihnen gleichzeitig unverschämt viel Geld
dafür ab. Das ist ungerecht.
({5})
Das ist aber auch sehr schädlich, denn es werden dadurch
wertvolle volkswirtschaftliche Ressourcen vergeudet:
Wer im Stau steht, kann kein Bruttoinlandsprodukt erwirtschaften.
({6})
Der Herr Verkehrsminister verkündet ein Anti-StauProgramm für die Jahre nach der nächsten Bundestagswahl, das mit Geld bezahlt werden soll, das er noch nicht
hat, und Instrumente ausweist, die, wie Herr Staatssekretär Diller zugeben musste, er ebenfalls noch nicht hat. So
kann es nicht gehen; das ist keine seriöse Politik. Wir
brauchen wieder eine deutliche Erhöhung der Investitionsquote. Herr Metzger hatte ja Recht, als er schon im
Frühsommer bestätigte, dass unsere diesbezügliche Kritik
sehr berechtigt ist.
Investitionen sind die Voraussetzung dafür, dass der
Wohlstand der Bürger erhalten und gemehrt und die Wettbewerbs- und Leistungsfähigkeit unseres Landes sichergestellt werden kann. Investitionen sichern auch die Ertragskraft der öffentlichen Hände und des Sozialsystems
in der Zukunft. Man muss auch säen, wenn man ernten
will.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Bundesfinanzminister hat heute Morgen wieder von der größten
Steuerreform und von den großartigen Entlastungen gesprochen. Ich kann mich daran erinnern, wie er uns und
den bayerischen Finanzminister Faltlhauser kritisiert hat,
als wir eine Reform vorgelegt haben, die noch nicht einmal in der heutigen Dimension Entlastungen vorgesehen
hat. Er hat sie damals von dieser Stelle aus als völlig unfinanzierbar bezeichnet. Ich frage Sie nur, Herr Bundesfinanzminister: Warum steigt denn dann die Steuerlastquote in den kommenden Jahren, wenn Ihre Steuerreform
wirken sollte? Ein Großteil der nominalen Entlastung
wird doch durch die Inflation und die Steuerprogression
im Tarifverlauf aufgefressen. Am Ende des Jahres 2005
werden die Menschen weniger Entlastung haben, als Sie
heute versprechen.
({7})
Die Steuerreform kommt zu spät; sie ist zaghaft und
ungerecht, weil sie einseitig die großen Kapitalgesellschaften zulasten des Mittelstandes bevorzugt. Es blieb
dem „Handelsblatt“ vorbehalten, zu schreiben - ich zitiere aus dem Gedächtnis -: Die große Kapitalgesellschaft
ist derzeit der SPD liebstes Kind. Das sagt eigentlich alles aus.
Die Verbesserungen, die ganz am Ende in einer Nachtund Nebelaktion noch erreicht worden sind, kamen ohnehin nur auf Druck der F.D.P. und der CDU/CSU vor der
Bundesratsentscheidung zustande. Wie Sie mit dem Verfassungsorgan Parlament umgegangen sind, ist eine andere Frage. „Ein Schlag ins Gesicht des Parlaments“, titelte eine Zeitung. Auch das Karl-Bräuer-Institut weist
darauf hin, wie unseriös dies alles gemacht worden ist, sowie darauf, dass am Ende des Jahres 2005 die Bürger
mehr und nicht weniger Steuern zu zahlen haben werden,
weil die Steuerreformschritte viel zu zaghaft sind und viel
zu spät greifen werden. Auch war noch nie eine Steuerreform so angelegt, dass die letzten Schritte erst zum Ende
der nächsten Legislaturperiode greifen.
Aber, Herr Finanzminister, eines kann ich Ihnen nicht
ersparen: Sie haben in der 114. Sitzung am 6. Juli von dieser Stelle aus die Unionsvertreter im Vermittlungsausschuss als „Ölgötzen“ bezeichnet,
({8})
weil sie sich angeblich nicht bewegten. Dieser Vorwurf
fällt auf Sie zurück. Sie haben sich bis zu dem Zeitpunkt,
zu dem der Bundeskanzler die Show brauchte, nicht bewegt.
({9})
Ich habe das Protokoll dieser Sitzung hier liegen.
Etwas anderes haben Sie hervorragend verstanden: Sie
haben im Haushaltsplan für die Öffentlichkeitsarbeit - ich
zitiere: Information der Bevölkerung über die Maßnahmen der Steuerreform - 7,5 Millionen DM eingesetzt.
({10})
Wir haben gesehen, was Sie damit zuwege gebracht haben: Sie haben schon im Mai ganzseitige Anzeigen mit
Ihrem mehr oder weniger schönen Gesicht, aber mit relativ wenig Informationsgehalt geschaltet.
({11})
Die Leichtfertigkeit, mit der der Herr Bundeskanzler
persönlich mit dem Thema Ökosteuer umgeht, wird deutlich, wenn man sich an seine Interviews erinnert. Ich habe
das Sommerinterview und zwei weitere Interviews gesehen. In allen diesen Interviews hat er gesagt, der Aufschlag auf das Mineralöl werde nur 6 Pfennig ausmachen.
Er hat dabei wohl vergessen, dass bereits die zweite Stufe
in Kraft getreten ist. Jetzt hat er durch einen Ghostwriter
bestätigen lassen, dass es doch schon 12 Pfennig seien. Er
ist vielleicht der Meinung erlegen, die er selbst einmal
verbreitet hat, 6 Pfennig seien genug. - Das ist ein
unverantwortliches Abzocken des Bürgers.
({12})
Wenn jetzt der Herr Bundesfinanzminister und Herr
Poß die Verantwortung für die höheren Ölpreise leugnen,
kann ich nur fragen: Warum tun Sie das? Es war doch erklärtes Ziel der Grünen und der SPD, die Kosten für Energie zu verteuern.
({13})
Sie sind durch die erfolgten direkten steuerlichen Belastungen dafür verantwortlich.
({14})
Zudem sind Sie dafür verantwortlich, weil Sie für den
Verlust des Wertes unserer Währung einstehen müssen
({15})
und sich als Preistreiber auf dem Markt bewegt haben.
Die „Süddeutsche Zeitung“ titelt beispielsweise:
„Massive Kritik an Schröders Europolitik“. Das ist nicht
nur meine Meinung. Viele Fachleute teilen die Meinung,
dass die Politik der Bundesregierung ganz wesentlich an
dem Verfall der Währung schuld ist.
({16})
Sie betätigen sich auf den internationalen Märkten
auch als Preistreiber. Bereits im vergangenen November
hat der Hamburger Energieexperte Heino Elfert geschrieben, Länder wie Großbritannien und Deutschland wollten
Ölprodukte wie Benzin und Diesel verteuern, sei es aus
umweltpolitischen oder aus fiskalpolitischen Gründen.
Da sagen sich die Öllieferländer, so schreibt er weiter:
Das können wir viel besser!
Diese hohen Energiepreise belasten vor allen Dingen
die Menschen, die sich nicht dagegen wehren und nicht
ausweichen können: Rentner, sozial Schwache, Familien
mit Kindern, Menschen im ländlichen Raum, die täglich
weit entfernt ihrer Arbeit nachgehen müssen, Menschen
im ländlichen Raum insgesamt und nicht zuletzt auch das
Transportgewerbe. Deswegen fordern wir: Schluss mit
den weiteren Stufen der Ökosteuerreform! Die Stufen für
die Jahre 2001, 2002 und 2003 müssen aufgehoben werden. Sonst ruinieren Sie die Zukunft unseres Landes.
({17})
- Also, Herr Kollege Wagner, ich habe Ihnen schon vorhin gesagt, wie sehr sich die Großwirtschaft mittlerweile
auf die SPD verlassen kann. Sie brauchen hier keinen
Zwischenruf anzubringen. Was mich eher besorgt, ist die
Schwäche der Währung, für die Sie mitverantwortlich
sind.
({18})
- Frau Kollegin, Sie werden doch nicht glauben, dass eine
so verantwortungslose Europapolitik, wie sie von dieser
Bundesregierung gemacht wird - ich erinnere an die verantwortungslose Politik gegenüber Österreich -, das
Vertrauen der Menschen in Europa und damit in den Euro
und das Vertrauen der internationalen Finanzmärkte
stärkt.
({19})
Herr Kollege Kalb,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Es ist doch geradezu blamabel und schädlich, den Österreichern drei
Weise zu schicken und zu glauben, dadurch das Vertrauen
der Menschen und das Vertrauen der internationalen Finanzmärkte gewinnen zu können. Die „Passauer Neue
Presse“ hat Recht, wenn sie schreibt: Eine bodenlose Blamage für die EU-14. Sie haben damit dem Europagedanken geschadet. Sie haben auch der europäischen Währung
massiv geschadet, weil Sie das Vertrauen der Finanzmärkte, der Menschen, der Mitgliedsländer und der Beitrittsländer zerstört haben.
Ich danke Ihnen.
({0})
Nächster Redner für
die SPD-Fraktion ist der Kollege Hans-Eberhard
Urbaniak.
Frau Präsidentin!
Kolleginnen und Kollegen! Kollege Kalb, Sie können es
drehen und wenden, wie Sie wollen: Hans Eichel hat einen ganz soliden Haushaltsentwurf vorgelegt. Er hat mit
Hilfe der Koalitionsfraktionen die Nettokreditaufnahme
im letzten Jahr senken können und spielt im Welt- und Europakonzert eine ganz wichtige Rolle. Wir sind hoch anerkannt. Die wirtschaftlichen Kräfte entwickeln sich gut.
Wir werden uns in den Haushaltsberatungen über Alternativen sachlich auseinander setzen. Wir erwarten Ihre
konkreten Vorschläge. Wir sind sehr gespannt, welche
weiteren Einsparungsmöglichkeiten Sie vorschlagen werden.
({0})
Da müssen Sie Farbe bekennen. Bisher haben Sie sich in
dieser Beziehung sehr bedeckt gehalten. Das war nicht in
Ordnung.
({1})
Ich möchte mich eigentlich mit einem ganz anderen
Thema beschäftigen, obwohl hierzu noch einiges gesagt
werden könnte. Anstatt den Bundeskanzler anzugreifen,
der gerade eine hohe Auszeichnung in New York bekommen hat, sollten wir alle auf ihn stolz sein. Die Auszeichnung des deutschen Bundeskanzlers ist nämlich Ausdruck
der Anerkennung seiner Politik.
({2})
- Nein, er vergisst die kleinen Leute nicht. Er kommt
selbst aus diesem Milieu und hat seine Bindung zu diesem
Milieu nicht verloren, im Gegensatz zu Ihrer Truppe, die
ihre Bindungen zu diesen Leuten schon lange verloren
hat.
({3})
Ich möchte mich mit einem Sachverhalt beschäftigen,
der im Rahmen der Haushaltsberatungen nicht oft zur
Sprache kommt, nämlich mit der Bekämpfung von Betrügereien bei der Umsatzsteuer im Rahmen des Warenund Dienstleistungsverkehrs. Die Stärke der auf diesem
Gebiet an den Tag gelegten kriminellen Energie, um den
Staat um berechtigte Steuereinnahmen zu bringen, ist
schon sehr erstaunlich. Seit Öffnung der EU-Grenzen hat
sich die Zahl der betrügerischen Manipulationen in diesem Bereich ständig erhöht. Der Trend hält an. Es ist ja
eine wilde Geschichte, wenn man sieht, wie durch
Scheinunternehmen und Scheinrechnungen Vorsteuermanipulationen begangen werden und die Umsatzsteuer hinterzogen wird.
({4})
Hinzu kommen noch die Kraftfahrzeugbetrugsfälle. Der
Umsatzsteuerbetrug, dessen Umfang in erheblichem
Maße zugenommen hat, muss - das sage ich in aller Klarheit - bekämpft werden; denn wir haben eine neue Form
des Betrugs erkannt, nämlich den Karussellbetrug: Die
Kriminellen organisieren sich so, dass sie Bund, Länder
und Gemeinden auf die eben geschilderte Weise betrügen
und ihren Verpflichtungen nicht nachkommen.
({5})
Der Finanzminister von Baden-Württemberg bewertet
die Steuerausfälle durch Betrügereien mit 23 Milliarden DM. Das hat er so zu Protokoll gegeben. Er fordert
deshalb selbst, hier müsse mehr gegen den Missbrauch
getan werden, was wir auch tun. Es muss sicherlich mehr
in Personal und in dessen Ausstattung investiert werden,
um den Kriminellen auf die Spur zu kommen.
Dazu ist eine konzertierte Aktion des Bundes und der
Länder notwendig; darüber sind wir uns einig. Die Steuerfahndung muss ausgebaut werden. Für den Bund bedeutet dies insbesondere die Überprüfung des Umsatzsteuer- und Verfahrensrechts, die Einrichtung einer
zentralen Stelle auf Bundesebene zur Koordinierung der
Prüfungstätigkeit der Länder, die - das muss geprüft werden - Schaffung einer Bundessteuerfahndung und die Bereitstellung und Auswertung von relevanten Informationen, um diesen Kriminellen auf die Spur zu kommen. Zur
Erledigung dieser Aufgaben ist - das habe ich betont qualifiziertes Personal notwendig.
Die Niederländer haben uns in der EU einiges vorgemacht. Sie haben in diesem Bereich investiert und die Karussellbetrügereien wirksam bekämpfen können. Daran
können wir uns ein Beispiel nehmen. Sie haben die Einnahmen aus dieser Steuerart erheblich erhöhen können.
({6})
Nachdem der Handlungsbedarf erkannt ist, wollen wir
den Bundesminister bitten, die notwendigen Maßnahmen
einzuleiten, damit wir diesen Betrügern auf die Spur kommen. Denn wir brauchen für den Schuldenabbau mehr
Einnahmen. Je schneller dies geht, umso besser.
({7})
Meine Damen und Herren, ich zitiere den Chef der
Steuer-Gewerkschaft, Dieter Ondrazcek. Er kritisiert,
dass sich Bayern und Baden-Württemberg mit seltenen
Betriebsprüfungen einen Standortvorteil verschaffen.
So seien 1998 in Baden-Württemberg auf einen Prüfer
609 Unternehmen gekommen, in Bayern 661 Unternehmen, in Nordrhein-Westfalen aber 455 Unternehmen.
Wenn das ein Standortvorteil, also ein Vorteil für das Anwerben von Betrieben ist, dann ist die Solidarität unter
den Ländern auf das Härteste strapaziert. Dies ist unseriös.
({8})
Herr Kollege
Urbaniak, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Kalb?
Ja.
Herr Kollege
Urbaniak, ist Ihnen bekannt, dass - vielleicht zum Leidwesen der Betroffenen - in Bayern das Prüfpersonal verstärkt worden ist? Ist Ihnen zweitens bekannt, dass die
Großbetriebe - das sind Betriebe mit einem Umsatz ab
11 Millionen DM - im Turnus alle dreieinhalb Jahre geprüft werden und das Mittelbetriebe mit einem Umsatz ab
1,1 Millionen DM auch im Turnus geprüft werden?
Herr Kollege
Kalb, wenn es so sein sollte, wie Sie sagen, würde es uns
freuen. Ich habe mir diese Zahlen aktuell geben lassen und
gehe davon aus, dass sie stimmen. Darüber werden wir im
Haushaltsausschuss weiter diskutieren und dazu die Fakten zusammentragen. Wenn ihr die Situation im Süden
verbessert habt, dann habt ihr euch gebessert. Das war
aber auch bitter nötig.
({0})
Wir bemühen uns, über das Schuldenmanagement,
das eine neue Form bekommen wird, dafür zu sorgen,
dass wir die Schulden noch effektiver abbauen können.
Im Haushaltsausschuss werden wir noch über den Geschäftsbesorgungsvertrag reden, der die Arbeit dieser Institution, die unter der Kontrolle des Bundesfinanzministers steht, konkret regelt. Wir gehen davon aus, dass der
Abbau des horrenden Schuldenberges von 1,5 Billionen DM, der durch die Regierung Kohl verursacht wurde,
effektiver erfolgen kann. Hinzu kommt die Verringerung
der Nettokreditaufnahme. Ich meine, das sind gute Aussichten, um auch das Wirtschaftswachstum in unserem
Lande weiter zu beflügeln.
Sieht man sich nun speziell den Haushalt des Bundesfinanzministeriums an, dann erkennt man, dass es noch
zwei Punkte gibt, die man erwähnen muss:
Erstens. Wir benötigen eine Reform im Bereich des
Zolls, insbesondere in den östlichen Ländern. Daran wird
gegenwärtig gearbeitet. Erfahrungen haben wir bei der
Reform im westlichen Teil der Republik gesammelt, die
wir für diese Arbeit verwerten können, sodass ich sage:
All dies wird unter dem Gesichtspunkt einer ordentlichen
und sauberen sozialen Flankierung geschehen. Das ist ein
ganz wichtiger Punkt.
Zweitens. Beim Branntweinmonopol haben wir es
noch immer mit einer Subvention von 260 Millionen DM - ein erheblicher Betrag - zu tun. An dieser Stelle
wird weiter abgebaut, der Betrag wird sinken und wir werden unser Ziel, dass gerade in Kleinbetrieben und bäuerlichen Einrichtungen eine Stützung erfolgt, erreichen.
Ich bitte also - das ist auch eine Aufforderung an die
Länder -: Kümmert euch mit dem Bund darum, dass wir
eine effektive Steuerfahndung bekommen. Ich habe hier
eine Kleine Anfrage der Kollegin Hasselfeldt, die mich
beim Studium doch erstaunt hat. Die Kollegin hat im Juli
angefragt, wie nach Wegfall der Grenzkontrollen dem erhöhten Kontrollbedarf im Bereich des Umsatzsteuerbetruges Rechnung getragen werden soll. Die Bundesregierung hat geantwortet:
1994 wurde in der Steuerabteilung des Bundesministeriums der Finanzen ein eigenständiges Referat für
die Umsatzsteuerkontrolle eingerichtet. Im Zuge der
im Hinblick auf den Berlin-Umzug notwendigen
Umstrukturierung der Steuerabteilung im Jahre 1998
ist - unter der alten Bundesregierung - dieses Referat aufgelöst und die Umsatzsteuerkontrolle einem
bestehenden Umsatzsteuerreferat angegliedert worden. Gleichzeitig wurde die Personalausstattung für
den Bereich der Umsatzsteuerkontrolle reduziert.
Dazu kann man doch wohl sagen: Das ist keine gute Arbeit, die da seinerzeit geleistet wurde.
Also, gehen wir jetzt gemeinsam daran - wir greifen es
auf -, diesen Betrügern und Kriminellen das Handwerk zu
legen, damit der Staat diejenigen Einnahmen hat, die er
nach dem Gesetz haben darf, gerade auf dem Felde der
Umsatzsteuer. Da müssen wir Hans Eichel unterstützen.
({1})
Jetzt spricht die Kollegin Susanne Jaffke, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Urbaniak,
Sie haben so schön gesagt, der Herr Bundeskanzler sei
ausgezeichnet worden. Das ist zugegebenermaßen von einer Institution geschehen, die ich nicht kenne;
({0})
aber ich gehe einmal davon aus, dass er diese Auszeichnung bestimmt bekommen hat, weil er vorher 14 Tage
Sonderurlaub in den neuen Bundesländern gemacht hat.
Die Reise war für ihn sicherlich sehr angenehm, weil er
sich von den Problembereichen in den neuen Bundesländern fern gehalten hat. Wenn irgendjemand mit einem Plakat aufgetaucht ist, dann hat er dieses glanzvoll ignoriert.
Von den Menschen, die angeblich überall Schlange gestanden haben, war nichts zu sehen. Als er des Nachts kurz
nach 23 Uhr in meiner Heimatstadt Anklam ankam, waren weder der Bürgermeister noch der stellvertretende
Bürgermeister anwesend. Der Bürgermeister ist zugegebenermaßen CDU-Mitglied, der stellvertretende Bürgermeister ist bei der SPD; wir gehen da vernünftig miteinander um. Diese Personen waren zur Durchreise des
Herrn Bundeskanzlers nicht einmal offiziell geladen, was
einen tiefen Einblick auf die Art und Weise des Umgangs
sowohl mit anderen als auch mit den eigenen Genossen
gewährt.
({1})
Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang noch ein
paar Bemerkungen dazu, wie die Bundesregierung zum
Aufbau Ost steht. Die vielen Schulden werden ja nun
hinlänglich strapaziert. Wenn ich mich dann schon sozusagen einer Gesamtschuld unterwerfen soll, dann stehe
ich auch unter einer Gesamtschuld für die deutsche Einheit. Auf die Straße gegangen sind die Leute in den neuen
Bundesländern, in Leipzig, in Dresden und auch in
Rostock.
({2})
Diese Schuld - dazu steht die ehemalige CDU/CSUF.D.P.-Koalition - haben wir mit aller Kraft abzutragen
und zu ordnen versucht, um daraus für unser deutsches
Vaterland etwas Gutes zu entwickeln.
Wenn man heute in den Haushalt schaut, sieht man,
dass für den Aufbau Ost nicht mehr viel Sympathie da ist.
Die Mittel für die GA „Regionale Wirtschaftsförderung“
werden um fast 300 Millionen DM abgesenkt,
({3})
der Etatansatz für den Straßenbau ({4}) wird um 207 Millionen DM abgesenkt
({5})
und die Gelder für Forschungs- und Entwicklungsvorhaben speziell in den neuen Ländern werden um 30 Millionen DM gekürzt. Abgesehen davon gibt es im Haushaltsentwurf auch noch die globalen Minderausgaben; sie
stehen ja immer ganz am Ende des jeweiligen Einzelplanes. Diese globalen Minderausgaben - das wissen wir
sehr genau - können nur bei den freiwilligen Leistungen
erwirtschaftet werden. Sie werden wie in den Jahren 1999
und 2000 jetzt mit Sicherheit wieder den Mittelstand und
die Investitionen in den neuen Bundesländern treffen.
Noch ein Wort zur Ökosteuer. Diese Ökosteuer wurde
ja schon reichlich strapaziert. Aber warum gehen Sie eigentlich nicht auf die besonderen Bedingungen der neuen
Bundesländer ein? Sie ignorieren damit schlicht und ergreifend die anders gelagerte Struktur in den neuen Bundesländern. Der seit zehn Jahren andauernde strukturelle
Wandel in der Wirtschaft hat heute noch nicht für solch
eine Festigkeit gesorgt, dass eine derartig hohe Steuerbelastung aufgefangen werden könnte.
Am ehesten - das können Sie mir glauben - lässt sich
das bei landwirtschaftlichen Unternehmen und bei den
Unternehmen, die im Bereich Güterfernverkehr tätig sind,
ablesen. In den landwirtschaftlichen Unternehmen ist eine
Entlastung durch die angebliche Senkung von Lohnnebenkosten wegen der geringen Anzahl von Fremdbeschäftigten nicht zu erkennen. Aber die Kosten für Diesel
und Strom schlagen in der Landwirtschaft voll durch.
({6})
Die Probleme aufgrund der Kosten, die sich in diesem
Jahr durch die außergewöhnliche Vorsommertrockenheit,
die erschwerten Erntebedingungen aufgrund des starken
Regens und die Aufwendungen für Trocknung ergaben,
werden im nächsten Jahr ein Sterben von Landwirtschaftsbetrieben in einer gewaltigen Größenordnung verursachen, wenn da nicht gegengesteuert wird.
Ich möchte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Regierungskoalition, auch bitten: Denken Sie irgendwann noch einmal an die Einwohner in den Flächenländern. Gerade die Menschen in Mecklenburg-Vorpommern, die in diesem sehr dünn besiedelten Bundesland als
Berufspendler lange Wege zur Arbeit zurücklegen müssen, können überhaupt nicht erkennen, dass irgendwelche
Senkungen von Lohnnebenkosten in kleinem Umfang
- das ist schon häufig beschrieben worden - die Belastung
durch die Ökosteuer abfangen könnten. Die höheren
Heizkosten schlagen ebenso zu Buche. Im Übrigen werden sich auch die sozialen Dienstleistungen in den
Flächenländern massiv verteuern bzw. haben sich schon
verteuert. „Essen auf Rädern“ und Pflegedienste rechnen
bei den Kassen heute schon höhere Kosten ab. Eine Gesundheitsreform lässt aber weiterhin auf sich warten.
Wenn Sie mich fragen, inwieweit die kommunalen
Haushalte betroffen sind, kann ich Ihnen darauf nur antworten: Die Schülerbeförderungskosten im ländlichen
Raum sind um einen zweistelligen Prozentsatz gestiegen.
Ich habe mir gestern noch die Zahlen zu den Kostensteigerungen in der Bundesfinanzverwaltung geben lassen. Die Kostensteigerungen für die Bundesbehörden und
die nachgeordneten Einrichtungen bei den Heizkosten,
den Benzin- und Dieselkosten betragen in diesem Jahr
26 Prozent. Das sind die Mehrkosten, die im Einzelplan 08 allein durch die Ökosteuer entstehen.
({7})
- Diese Zahlen kann ich Ihnen gerne geben. Ich gehe davon aus, dass die Beamten des Bundesfinanzministeriums
überhaupt keinen Anlass haben, irgendwelche falschen
Zahlen zu veröffentlichen.
Da der Kollege Urbaniak auch so blumenreich angesprochen hat, dass es in der Bundesfinanzverwaltung eine
Strukturveränderung geben soll, gestatten Sie mir noch
ein paar wenige Bemerkungen zur Zollstrukturreform.
Es ist natürlich nicht so, dass sich die Zollstruktur in den
neuen Bundesländern in den nächsten Jahren verändern
wird - ich sage Ihnen ganz ehrlich: Gott sei Dank -; denn
die Annahmen, die immer gemacht wurden, dass spätestens im Jahr 2002 die Grenzen zu Osteuropa fallen, haben
sich als falsch erwiesen. Das überarbeitete Konzept der
Arbeitsgruppe „Strukturreform“ sieht vor, dass die Strukturen bis zu einer vollen Mitgliedschaft der Staaten Ostund Mitteleuropas - gerade Polens - erhalten bleiben.
Aber man zerschlägt die Strukturen im Altbundesgebiet, wovon ich mich unlängst bei einem Besuch in Baden-Württemberg überzeugen konnte. In Horb, das im
Schwarzwald, in Baden-Württemberg, liegt - wo es sehr
viele mittelständische Firmen gibt, die auf den Zoll als
Dienstleister angewiesen sind und die zu ihrem Zollamt
ein sehr gutes Verhältnis haben -, habe ich erfahren, dass
die Zollämter flächendeckend gestrichen werden. Im Ministerium gibt es eine Faustformel: Rund 40 Kilometer
hin und zurück, also circa 80 Kilometer, sollte der Radius
des Einzugsbereiches betragen, für den die Zöllner tätig
sind. Dazu kommt noch, dass von den Zöllnern verlangt
wird, dass sie ihren Dienst mit dem privaten PKW leisten.
Wer kann einem Zollbediensteten zumuten, seinen Dienst
mit dem privaten PKW zu verrichten? Abgesehen davon
verfügen die Zöllner im gesamten Hauptzollamtsbereich
über nur einen einzigen Laptop, was schon ein Unding an
sich ist.
({8})
Die Fallzahlen, die zugrunde gelegt werden, sprechen
diesen Überlegungen insgesamt Hohn, weil auch durch
die neuen Handelsströme, die sich durch E-Commerce ergeben, die Dienstleistung des Zolls vor Ort mehr gefragt
wird. Sie werden uns immer auf Ihrer Seite haben, wenn
Sie eine Zollstrukturreform durchführen, die Sinn macht.
Sie würde dann Sinn machen, wenn es eine so genannte
Abschichtung von Aufgaben nach unten gäbe, sodass der
Zoll in schlagkräftigen kleinen Einheiten flächendeckend
vor Ort ist und seine Funktion als Dienstleister für die
Wirtschaft wirklich wahrnehmen kann.
({9})
Darum lassen Sie uns im Haushaltsausschuss kämpfen!
Leider ist die Zeit hier immer knapp bemessen. Ich
hätte gern noch etwas zu den so genannten Versprechungen, die der Herr Bundeskanzler zur Steuerreform gemacht hat, gesagt. Dazu kann ich nur wiederholen:
Vollmundige Ankündigungen, gerade für das Land Mecklenburg-Vorpommern, wie der Ausbau einer Bahntrasse
von Berlin nach Rostock, hat es gegeben. Das ist im Haushalt bisher nicht aufgetaucht.
({10})
Das gilt auch für das Gaskraftwerk am Standort Greifswald/Lubmin. Dort soll es angeblich Bundesbürgschaften
geben. Aber die Antwort von Staatssekretär Otto Ebnet,
SPD, Chef der Staatskanzlei in Mecklenburg-Vorpommern, auf die Anfrage meines Kollegen Dietrich
Austermann lautete: Über diese Bürgschaften wurde
überhaupt nicht verhandelt. Ich frage: Was stimmt eigentlich?
In diesem Sinne kann ich Ihnen nur eines sagen, liebe
Kollegen von der Regierungskoalition: Lassen Sie sich
von Ihrer Regierung nicht vorführen, sondern seien Sie
endlich einmal kreativ, auch in den Verhandlungen. Nehmen Sie das Angebot zur Veränderung dieses Haushaltes
an! Dann können wir uns vielleicht irgendwann über gute
Erfolge für Deutschland unterhalten.
Herzlichen Dank.
({11})
Weitere Wortmeldungen zu diesem Themenbereich liegen nicht vor.
Wir kommen jetzt zum Einzelplan 05, Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie
mich zu Beginn dieser heutigen Debatte an einen historischen Tag erinnern, der für das Schicksal Deutschlands
von entscheidender Bedeutung war. Es handelt sich um
den Jahrestag des Zwei-plus-Vier-Vertrages, jenes Vertrages, der die völkerrechtliche und staatsrechtliche Voraussetzung für die Wiedervereinigung Deutschlands geschaffen hat.
Es war vor allen Dingen das persönliche Verdienst von
Hans-Dietrich Genscher, damals Bundesaußenminister,
diesen für die Wiedervereinigung Deutschlands wichtigen
Vertrag mit den Garantiemächten zustande zu bringen.
({0})
Ich meine, dass wir an dieser Stelle nicht nur dieses Ereignisses gedenken, sondern ihm auch ganz persönlich
danken sollten.
({1})
Darüber hinaus möchte ich aber daran erinnern, dass
die Voraussetzung für den Zwei-plus-Vier-Vertrag der
Vertrag mit Polen war. Diesen Punkt dürfen wir nicht
vergessen. Damit knüpfe ich an die aktuelle Debatte an.
Damals gab es nicht die Überlegung, dass über den
deutsch-polnischen Grenzvertrag eine Volksabstimmung stattfinden sollte. Das war gut so. Die Anerkennung
der deutschen Ostgrenze und der polnischen Westgrenze
war die Voraussetzung für den Zwei-plus-Vier-Vertrag.
Der Zwei-plus-Vier-Vertrag war schließlich die Voraussetzung für die Wiedervereinigung in Freiheit. So war die
Reihenfolge.
An diesem Tag möchte ich besonders an die Debatten
über die schwierigen Fragen der vor uns liegenden politischen Integration Europas erinnern. Ich komme nachher
noch auf diesen Punkt zu sprechen.
Wir befinden uns jetzt zur Halbzeit der Legislaturperiode, was einen Rückblick und auch einen Ausblick notwendig macht.
Unser Etat stand wie alle anderen Einzeletats unter
dem Zwang knapper Kassen. Eine Trendwende einzuleiten war notwendig. Die neue Koalition hat es sich zur
Aufgabe gemacht, die Sanierung des Staatshaushaltes als
einen zentralen Beitrag zur Gesundung der deutschen
Volkswirtschaft herbeizuführen.
Für diese Trendwende gab es viele innenpolitische
Gründe. An erster Stelle stand die hohe Arbeitslosigkeit,
die nicht länger hingenommen werden konnte. Aber auch
aus europa- und außenpolitischer Sicht war und ist es
zwingend notwendig, dass wir die volle ökonomische
Handlungsfähigkeit wiedergewinnen, damit wir unsere
Verantwortung im Konzert mit unseren wichtigsten
Bündnispartnern wahrnehmen können.
({2})
Obwohl ich als Ressortchef den Kopf für die Einsparungen hinzuhalten habe, sage ich, dass man in Zukunft
abwägen muss, ob nicht bei weiteren Einsparungen das
Vertrauen, das über Jahrzehnte gewachsen ist, gefährdet
wird.
Da die Opposition, nachdem sie 16 Jahre die Verantwortung für diese Entwicklung hatte, schon nach zwei
Jahren Erholungspause - eine sehr kurze Erholungspause,
die zweifellos noch länger andauern wird, Herr Kollege
Lamers - anscheinend an Gedächtnisschwund leidet,
kann ich Ihnen nur sagen: Sie hätten die Voraussetzungen
für Veränderungen in den Jahren Ihrer Regierungsverantwortung - das ist kein billiges Ablenken auf die 16 Jahre
Ihrer Regierungszeit -, spätestens nach der deutschen
Einheit schaffen müssen, sodass wir die Einschnitte in den
vergangenen zwei Jahren nicht mehr gebraucht hätten.
Die Trendwende wäre früher möglich und nötig gewesen,
Kollege Lamers. Das wissen Sie so gut wie ich.
({3})
- Zur Volksabstimmung komme ich nachher noch. Wenn
sich CDU und CSU in diesem Punkt mittlerweile auf eine
gemeinsame Position geeinigt haben, freut mich das. Ich
höre dazu höchst unterschiedliche Stimmen.
({4})
Ich höre sehr verantwortungsvolle Positionen von der
CDU und die üblichen populistischen Verlautbarungen
von der CSU. Wie wir ja wissen, sind sie nicht so ernst gemeint. Beim Euro haben wir es ja gesehen.
({5})
Da Sie die Volksabstimmung angesprochen haben:
Glauben Sie denn allen Ernstes, dass die Frage der Osterweiterung Gegenstand einer Volksabstimmung werden
kann? Ich bin nun als Mitglied meiner Fraktion weiß Gott
kein Gegner von Volksabstimmungen. Aber es muss sich
um abstimmungsfähige Fragen handeln.
({6})
Über den Zwei-plus-Vier-Vertrag und auch über den
deutsch-polnischen Vertrag konnte nicht abgestimmt werden. Wohl aber kann über weitere Souveränitätsübertragungen in Richtung der Vollendung der europäischen Integration abgestimmt werden. Darüber nachzudenken, in
diesem Bereich einen Konsens herzustellen, weil dies
eine Verfassungsänderung notwendig macht, halte ich für
richtig.
({7})
Wenn es dafür eine verfassungsändernde Mehrheit gibt,
bedarf dies der sorgfältigen Diskussion und Prüfung.
Was wir als Altmitglied der Europäischen Union aber
auf keinen Fall machen dürfen, ist, im Rahmen einer
Volksabstimmung zu entscheiden, ob unsere Nachbarländer Polen oder Tschechien beitreten können.
({8})
Denn wenn diese Volksabstimmung Sinn machen soll,
dann müssten wir unseren Bürgerinnen und Bürger sagen:
Eigentlich habt ihr über gar nichts abzustimmen. Wenn
wir mit Nein stimmen würden, müssten wir die erfolgreiche deutsche Außenpolitik der letzten fünf Jahrzehnte,
also auch die CDU/CSU-geführter Regierungen, ad acta
legen.
({9})
In diesem Punkt wird eine Volksabstimmung nicht gehen. Sie ist bei diesem Anlass das falsche Instrument. Das
ist mein Argument dagegen. Das weiß Herr Stoiber sehr
genau. Herr Lamers hat dies sehr klar artikuliert.
({10})
- Günter Verheugen war bei mir Staatsminister. Ich
schätze ihn überaus; denn Günter Verheugen macht eine
kompetente Politik. Gerade bei den Beitrittsstaaten findet
er große Zustimmung. Günter Verheugen hat ohne Wenn
und Aber gesagt: Das war ein Fehler; ich bin hier missverstanden worden.
({11})
Ich finde es richtig, dass ein Politiker, wenn er einen Fehler macht, dies zugibt. Denn dies stellt Vertrauen wieder
her. Ich würde mir wünschen, dass Sie von der CDU/CSU
Ihre Fehler genauso offen eingestehen. Wenn das so wäre,
wären wir wesentlich weiter.
({12})
Möge Günter Verheugen mit seiner Ehrlichkeit über
Herrn Koch kommen und uns allen wäre sehr gedient!
({13})
- Dass hier ausgerechnet ein langjähriges Mitglied des
CDU-Landesvorstandes Hessen von Verkommenheit
spricht, erstaunt mich, mit Verlaub, sehr, Frau Kollegin.
({14})
Ich kann mir das bei Ihnen nicht verkneifen. Wir beide
sind Hessen, also Landsleute. Angesichts dessen kann ich
Ihnen nur sagen: Dieser Zuruf von Ihnen schlägt dem Fass
nun wirklich den Boden aus.
({15})
Meine Damen und Herren, wir stehen in Europa mit
der Erweiterung vor der größten Herausforderung, die die
Geschichte uns gestellt hat. Ich habe den Zwei-plus-VierVertrag erwähnt. Die deutsche Einheit war das Ergebnis
des Endes der europäischen Teilung. Die jetzige Bundesregierung hat sich ebenso wie die Vorgängerregierung
immer dafür eingesetzt, dass die Europäische Union nicht
an der ehemaligen Blockgrenze, nicht am ehemaligen Eisernen Vorhang aufhört und dass die europäische Einigungsidee gesamteuropäisch ist. Wenn unsere östlichen
Nachbarn Mitglied der Europäischen Union werden wollen, dann dürfen wir ihnen dies nicht verweigern, und
zwar nicht nur aus historisch-moralischen Gründen, sondern auch aus deutschem Interesse heraus.
Unser Handel mit den neuen ost- und mitteleuropäischen Demokratien übersteigt heute mittlerweile das
Handelsvolumen, das wir als Europäische Union in Bezug
auf die USA und Kanada haben. 40 Prozent davon entfallen auf die Bundesrepublik Deutschland. Das führt zu Arbeitsplätzen und Perspektiven für die Menschen hier, vor
allen Dingen für die Menschen in den neuen Bundesländern. Aus historischen und moralischen Gründen, aber
auch aus aktuell-politischem Interesse heraus halten wir
die Osterweiterung der Europäischen Union für unverzichtbar.
({16})
Nur, es geht hier nicht um abstrakte Versprechungen,
sondern ganz konkret um die Umsetzung des Beschlusses
von Helsinki, darum, in den entsprechenden Verhandlungen Nägel mit Köpfen zu machen: Rechtsgebiete müssen
übernommen werden; Strukturen müssen angepasst werden; eine gegenseitige Wettbewerbsfähigkeit muss aufgebaut werden. - Diesen Prozess hat Günter Verheugen vorangebracht. Hierbei hat er unser volles Vertrauen. Er wird
die gute Arbeit, die er meines Erachtens bisher geleistet
hat, genauso gut fortführen.
({17})
Der entscheidende Punkt hierbei ist die Solidität, die
Art, wie diese Arbeit gemacht wird. Dafür ist die Kommission, dafür sind aber auch die Mitgliedstaaten Garanten. Denn wir wollen einen Erfolg. Dort, wo es Ängste
gibt, müssen diese Ängste aufgegriffen, dort, wo Aufklärung notwendig ist, muss Aufklärung betrieben werden. Die Bundesregierung ist entschlossen, dies zu tun,
weil wir das Volk mitnehmen wollen.
Wir müssen sehen: Der Einwanderungsdruck von der
Iberischen Halbinsel ist 1986 nach dem Beitritt geringer
geworden. Wir müssen den Menschen doch sagen: Bezüglich des Arbeitsmarktes müssen wir keine Angst vor
Polen, Tschechien und Ungarn, die in die Europäische
Union eintreten, haben. Es wird die notwendigen Übergangsfristen und Überprüfungsklauseln geben. Wenn
festgestellt wird, dass diese Übergangsfristen nicht mehr
notwendig sind, weil die Anpassung erfolgreich abgeschlossen wurde, kann der Prozess abgekürzt werden wenn nicht, dann nicht.
Das alles sind Erfahrungen, die bereits bei der Süderweiterung gemacht wurden. Wir müssen aber gleichzeitig auch sagen, dass die Süderweiterung eines der
großen politisch und ökonomisch erfolgreichen Projekte,
auch was die Arbeitsplätze betrifft, war. Diesen Erfolg
wollen wir bei der Osterweiterung wiederholen.
({18})
Es besteht ein enger Zusammenhang mit der Vertiefung. Diese Debatte wurde Gott sei Dank im Vorfeld von
Nizza geführt. Ich stimme all denen zu - zumindest unter
den Pro-Europäern gibt es in allen Fraktionen einen hohen Konsens -, die sagen: Wir werden neben den drei entscheidenden Punkten - Zusammensetzung und Größe der
Kommission, Stimmgewichtung und Mehrheitsentscheidung - die Frage der verstärkten Zusammenarbeit als
vierten Punkt dazunehmen, wir werden die Frage der Annahme des Entwurfs für eine Europäische GrundrechteCharta aufgreifen. Sie wird der erste Teil einer europäischen Verfassung sein.
Ich habe bei einem Kommentator, der das sehr herabgewürdigt hat, gelesen, es würde sich dabei nur um gedrucktes Papier handeln. Ich halte das für eine völlig
falsche Einschätzung. Das ist der Beginn einer europäischen Verfassung, was die Grundrechte betrifft. Sie regelt
noch nicht die institutionellen Fragen. Deswegen stimme
ich all denen zu, die fordern, dass in die Verhandlungen
von Nizza die ersten Bestandteile einer europäischen
Verfassungsdebatte einfließen müssen und diese europäische Verfassungsdebatte nach Nizza in Richtung eines
umfassenden europäischen Verfassungsvertrags fortgeführt werden muss. Denn ich bin der festen Überzeugung
- das ist mein Eindruck aus der Diskussion mit den Menschen -, dass ein Gutteil des vorhandenen Eurofrusts von
der Nicht-mehr-Nachvollziehbarkeit, der Intransparenz
der Kompromissstrukturen der Staatengemeinschaft
herrührt, die in Brüssel im bestehenden institutionellen
Gefüge die Beschlüsse ausarbeitet.
Das heißt, wir müssen im Rahmen einer Verfassungsdebatte und eines Verfassungsvertrags klären, was wo
entschieden wird. Diese Frage ist eine Frage der Souveränitäts- und Machtverteilung zwischen Nationalstaaten,
zwischen den Ebenen der Länder, der Kommunen und der
europäischen Ebene. Dies muss so entschieden werden,
dass die Menschen nicht nur nachvollziehen können, was
in Berlin geschieht - das ist manchmal schwierig genug -,
sondern auch, was in Brüssel geschieht. Das wird der entscheidende Punkt sein.
Ich habe allen Kollegen beim letzten informellen Treffen gesagt: Wenn wir diesen Schritt jetzt nicht gehen,
wenn wir nicht mehr Transparenz und Demokratie schaffen, dann sehe ich keine denkbare demokratische Mehrheit im Deutschen Bundestag - egal, wie die Zusammensetzung der Bundesregierung nach der kommenden
Bundestagswahl sein wird -, die nach 2006 bereit wäre,
zusätzliche Belastungen mehrheitsfähig zu machen. Sie
wird es schlicht und einfach deshalb nicht tun, weil es
dafür kein Verständnis beim deutschen Volk mehr geben
wird.
Auch aus diesem innenpolitischen Grund wird es ganz
entscheidend sein, dass wir die Erweiterung als historische Herausforderung begreifen. Wir dürfen keine Kulanzentscheidung treffen. Es darf aber auch keine Verzögerungen, keine vorgeschobenen Gründe scheinbar
objektiver Natur geben, weil einem ein Mitgliedsland
nicht passt. Wir müssen die Vertiefung vorantreiben. Das
ist die wichtigste Herausforderung, vor der die deutsche
Außenpolitik in den kommenden Jahren steht.
({19})
Das ist eine Herausforderung, an der man auch klarmachen kann, was die Außenpolitik in unserem Land
tatsächlich in den vergangenen zwei Jahren geprägt hat:
Das ist der Wandel in der Kontinuität.
Das gilt auch für den Balkan. Natürlich waren all diese
Elemente schon unter der Vorgängerregierung angelegt:
etwa die Aufstellung des Kontingents zu wesentlichen
Teilen, oft kontrovers diskutiert und dann von Teilen der
Opposition mitgetragen.
Wir stehen heute vor schwierigen Entscheidungen. Wir
hoffen - obwohl wir wissen, dass Milosevic alles tun
wird, um die freie Willensäußerung des serbischen
Volkes, wenn es denn dazu kommt und eine Mehrheit für
ihn nicht in Sicht ist, zu verfälschen -, dass alles getan
wird, damit die demokratische Opposition einen Erfolg
hat, und wir hoffen vor allen Dingen, dass die Diktatur
von Milosevic in Belgrad keine Zukunft hat, sondern auch
in Belgrad Demokratie einziehen wird. Das ist der ganz
entscheidende Punkt.
({20})
Die Entwicklung in Montenegro steht damit in engem
Zusammenhang. Wir müssen alles tun, um die demokratische Regierung von Präsident Djukanovic vor allen
Dingen ökonomisch zu stabilisieren. Der Versuch von
Milosevic geht dahin, den Rückhalt im montenegrinischen Volk für den gewählten Präsidenten und seine Regierung zu unterminieren, indem die Wirtschaft, indem
die sozialen Verhältnisse entsprechend negativ beeinflusst
werden. Hier können wir unseren Beitrag leisten, hier
müssen wir unseren Beitrag leisten. Ich denke, das ist
unter Präventivgesichtspunkten von ganz entscheidender
Bedeutung.
Aber auch im Kosovo wird es darum gehen, einen langen Atem zu haben. Ich höre immer die Frage nach der
Exit-Strategie. Jüngst habe ich ein hochinteressantes
Buch über die amerikanische Nachkriegsgeschichte gelesen. Kollege Lamers, die erste Debatte im Kongress über
die Exit-Strategie in Bezug auf Europa fand 1946 statt. Da
ging es los: dieselben Argumente, dieselben Sätze, dieselben Worte. Ich kann Ihnen nur sagen: Wir müssen gemeinsam mit unseren Partnern die Dickschädeligkeit, den
langen Atem, aber auch die Entschlossenheit haben, diese
Region, die Teil Europas ist, an Europa heranzuführen
und dann, wenn sie es will, langfristig in Europa hineinzuführen. Oder diese Region wird aus dem Teufelskreis
von Gewalt und einem aggressiven mörderischen Nationalismus nicht herauskommen.
({21})
Hier möchte ich allen Beteiligten, der Bundeswehr,
den eingesetzten Polizeibeamten, den Zivilbeamten, den
Nichtregierungsorganisationen, meinen nachdrücklichen
Dank aussprechen. Ich hoffe, dass der Deutsche Bundestag an seiner vollen Unterstützung für die Fortführung
dieser einst gemeinsam beschlossenen Politik festhält.
({22})
Meine Damen und Herren, es gibt eine ganze Reihe
von Themen, die ich angesichts der abgelaufenen Redezeit nicht mehr ansprechen kann. Ich möchte in diesem
Zusammenhang nur einige erwähnen.
Es wäre wichtig, noch über die Erneuerung des transatlantischen Verhältnisses zu sprechen, wobei wir dies im
Lichte der Wahlentscheidung vermutlich profunder tun
können. Aber wir müssen es tun. Das ist eine der ganz zentralen Herausforderungen.
Die Frage der Zukunft Russlands ist eine zweite, uns
sehr bedrängende Frage. Voraussetzung wird sein, dass es
gelingt, dort dem Rechtsstaat zum Durchbruch zu verhelfen. Das ist das A und O auch für die ökonomische Stabilisierung.
Weitere Fragen betreffen die neuen Konfliktregionen
in Zentralasien, den neuen Krisengürtel, der mit dem nuklearen Rüstungswettlauf auf dem indischen Subkontinent bis nach Südasien reicht, ferner die Chancen für die
Europäische Union im Nahen Osten und im Mittelmeerraum sowie unsere Rolle in den Vereinten Nationen.
Ich nenne auch noch Afrika, diesen scheinbaren Kontinent der Hoffnungslosigkeit, bei dem wir allerdings die
Hoffnung nicht aufgeben dürfen, weil er direkter Nachbar
ist und wir auch dort eine tief empfundene humanitäre
Verpflichtung haben. Wir müssen vor allen Dingen die
Chancen, die es dort gibt, sehen und fördern. All das sind
Punkte, die noch diskutiert werden müssten.
Ich möchte jedoch einen letzten Punkt ansprechen. Das
ist die jetzt getroffene Entscheidung der 14 Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu Österreich. Was hat man
dazu in den letzten Tagen nicht alles an triumphierenden
Äußerungen - die Forderung, man möge sich entschuldigen, und Ähnliches - gehört! Da kann ich nur fragen: Für
was denn?
({23})
- Entschuldigung, einen Teufel werde ich tun.
({24})
Ich sage Ihnen: Sie müssen den Bericht der Drei Weisen einmal lesen.
({25})
Ich hatte nie Zweifel daran. Für mich war das überhaupt
keine Frage. Ich zweifle nicht am Rechtsstaatlichkeitscharakter der Republik Österreich.
({26})
- Was, ach was? Das war nie die Frage. Die Frage war,
warum die FPÖ von der ÖVP in die Regierung geholt
wurde. Die Frage ist die nach dem Charakter der FPÖ.
({27})
- Lesen Sie einmal das Gutachten der Drei Weisen, das
FPÖ-Kapitel, durch. Wenn Sie das lesen, wird Ihnen jedes
Triumphgeheule ersterben.
({28})
Insofern kann ich Ihnen nur sagen: Die Bundesregierung unterstützt gemeinsam mit den anderen Partnern voll
das Vorgehen der französischen Präsidentschaft. Wir werden hier umgehend die Konsequenzen aus dem Gutachten
ziehen. Das Gutachten ist entsprechend umzusetzen.
Dazu brauchen wir überhaupt nicht die schönen Lippenbekenntnisse über Verteidigung der Demokratie oder gar
über die Vollendung der politischen Integration Europas
in den Mund zu nehmen. Wir müssen festhalten, dass eine
Partei, die ganz offensichtlich Fremdenfeindlichkeit zum
Bestandteil ihres Programms - zumindest in Wahlkämpfen - erklärt und die ein dubioses Verhältnis zur nationalsozialistischen Vergangenheit hat, in einem vereinten
Europa als Regierungspartei nicht selbstverständlich sein
darf. Das ist für uns eine Selbstverständlichkeit.
({29})
Deswegen, meine Damen und Herren, gibt es an diesem Punkt nichts zu entschuldigen, sondern es gibt jeden
Grund, genau hinzuschauen, wie es die Drei Weisen vorgeschlagen haben. Das werden wir auch in Zukunft tun.
Ich bedanke mich.
({30})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Karl Lamers.
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Die Lautstärke, mit der der
Minister die Blamage, die er mit verschuldet hat, hier umzudrehen versucht, den Vorgang als gerechtfertigt hinzustellen versucht, kann natürlich beim allerbesten Willen
nicht verdecken, dass Sie, Herr Minister, nicht nur den bilateralen Beziehungen zwischen Österreich und der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch der europäischen
Sache schweren Schaden zugeführt haben.
({0})
Das ist ja nun wirklich nicht nur unser Urteil. In der
„Neuen Zürcher Zeitung“ von Montag ist die Rede von
der politischen Sprengkraft, von der Fragwürdigkeit des
Vorgehens, von der groben Missachtung der Verpflichtungen gegenüber einem Mitgliedstaat unter bewusster
Umgehung der Institutionen und einschlägiger Bestimmungen des Unionsvertrages; rechtlich mehr als fragwürdig, in jeder Beziehung unsäglich. Sie sollten wirklich
versuchen, alles in Ihren Kräften Stehende zu tun - auch
im Interesse der eigenen Regierung - um die Sanktionen
jetzt ohne weiteres Hakenschlagen oder Nachkarten und
ohne Bedingungen einzustellen.
({1})
Wir reden heute über den Haushalt. Wenn der Haushalt
der Ausdruck der Prioritäten ist, die sich ein Land setzt,
dann setzt diese Regierung die Prioritäten falsch. Denn
der Entwurf des Bundeshaushalts spiegelt nicht die langfristigen, die wirklich nationalen Interessen unseres Landes wider. Diese nämlich hängen immer mehr - das wissen wir doch alle - von Wohl und Wehe all unserer Nachbarn im engeren wie im weiteren Sinne ab.
Die Bedeutung der Außenpolitik für Sicherheit und
Wohlergehen der Völker hat in dieser einen, immer enger
zusammenwachsenden Welt generell zugenommen. Für
Deutschland, wie wir alle völlig übereinstimmend sagen,
gilt das doch in ganz besonderer Weise.
Es geht heute um Sicherheit im umfassenden Sinne und
damit in der Tat um existenzielle Fragen, um existenzielle
Abhängigkeiten. Das Bewusstsein von der Globalität,
von der einen Welt, von der wechselseitigen existenziellen Abhängigkeit ist in allen westlichen Gesellschaften
nicht gut entwickelt, in der deutschen ganz besonders wenig. Das mache ich Ihnen natürlich nicht zum Vorwurf,
Herr Minister. Ich mache Ihnen aber zum Vorwurf, dass
Sie, indem Sie überhaupt nicht gekämpft haben, es den
Leuten noch weiter erschweren, zu erkennen, wie abhängig wir eigentlich sind. Wie sollen die Bürger denn ein
Gefühl für diese Abhängigkeit entwickeln, wenn Sie zwar
heute sagen: „So geht es nicht weiter“ - wie auch auf der
Botschafterkonferenz -, das aber zum ersten Mal tun? Das
kann man beim allerbesten Willen doch nicht „kämpfen“
nennen.
Indem Sie die Vorgängerregierung beschimpfen, wollen Sie nur davon ablenken, dass Sie nicht gekämpft haben, Herr Minister. Sie sind doch angetreten mit dem Vorsatz, nicht alles anders, sondern alles besser zu machen.
Sie machen es nicht besser, sondern Sie machen es
schlechter.
({2})
Das ist nichts als die Wahrheit.
Sie haben gesagt: Deutschland wird öfters gefordert
sein. - Ja, natürlich. Deutschland wird in globalem Umfang gefordert sein. Die Folgen der von Ihnen angekündigten strategischen Überprüfung unserer nationalen
Interessen werden mit Sicherheit mehr Geld kosten. Der
Außenminister wird aber im nächsten Jahr real weniger
Geld zur Verfügung haben als im letzten Jahr. Wenn Sie
das als einen Ausweis Ihrer Stellung in der Regierung
ansehen, dann habe ich dieser Aussage nichts hinzuzufügen.
({3})
Herr Minister, wenn Sie nicht kämpfen, vielleicht weil
Sie zu verlieren drohen, dann können Sie nicht erwarten,
dass Sie die Unterstützung der Öffentlichkeit, in diesem
Falle auch die Unterstützung der Opposition, bekommen.
Sie brauchen aber die Unterstützung aller politischen und
gesellschaftlichen Kräfte.
Sie gehen nicht mit gutem Vorbild voran. Dennoch
schlage ich Ihnen vor, einmal zu überlegen, ob nicht Parlament und Regierung gemeinsam eine Gruppe von sachverständigen und engagierten Frauen und Männern einsetzen sollten, die so konkret wie möglich abzuschätzen
sucht, welche Mittel für die Außenpolitik adäquat wären
und den gestiegenen Anforderungen, von denen wir alle
übereinstimmend reden, einigermaßen entsprächen. Ich
weiß, der Umgang der Regierung mit Kommissions
ergebnissen - Stichwort: Von-Weizsäcker-Kommission ist nicht gerade ermutigend. Denn ohne eine Debatte über
das Ergebnis einer Kommission ist ihre Einsetzung sinnlos und nichts als eine Alibiübung. So verstehe ich das
Ganze nicht. Ich mache das ernsthafte Angebot, dass wir
einmal überlegen: Welche Mittel müssen in Zukunft für
die Außenpolitik zur Verfügung gestellt werden, wenn sie
wirklich den Interessen unseres Landes gerecht werden
soll?
Das gilt natürlich auch für die von Ihnen zu Recht geplante Reform des auswärtigen Dienstes. Wir werden
dieses Projekt konstruktiv begleiten, wenn Sie es wollen.
Aber auch hier wird es Geldes bedürfen.
Die Bilanz der bisherigen Regierungspolitik auf dem
auswärtigen Feld ist jedenfalls nicht sonderlich glänzend.
Mir ist unklar, welche Stellung der Außenminister in
dieser Regierung hat. Zuweilen entsteht der Eindruck,
Sie, Herr Fischer, seien zuständig für Moral und Vision
und der Bundeskanzler für die Politik. Vielleicht entspricht diese Aufgabenteilung der Art, mit der allein sich
diese Koalition zusammenhalten lässt. Dabei frage ich
mich allerdings, wie lange es Ihre Fraktion noch mitmacht, wenn Sie sich beispielsweise - ein sehr typischer
Fall - im Bundessicherheitsrat in der Frage der Rüstungsexporte überstimmen lassen. Ihre Fraktion muss sich fragen, ob Sie sich nicht gerne überstimmen lassen.
({4})
Die Entscheidung zur Lieferung der Munitionsfabrik in
die Türkei müsste auch den Weg zur Lieferung des Leopard-2-Panzers ebnen, wenn sich die Türkei für dessen
Kauf entschiede. Das wäre doch eigentlich ganz logisch.
Deshalb wird in der Koalition dieser Streit geführt. Die
SPD scheint sich nun aber die Zusage zur Munitionsfabrik mit der Absage der Leopard-Panzerlieferung erkaufen zu wollen. Die Inkonsequenz und die Doppelzüngigkeit der deutschen Türkeipolitik können nicht
klarer zum Ausdruck gebracht werden.
({5})
Herr Fischer, wenn man der Türkei als NATO-Partner
nicht einmal eine Munitionsfabrik liefern möchte, obwohl
sie damit eine NATO-Vorgabe erfüllen möchte, dann stellt
sich natürlich die Frage, ob sie überhaupt NATO-würdig
ist. Wenn sie aber nicht NATO-würdig ist, dann ist sie
doch erst recht nicht EU-würdig. Das passt doch beim
allerbesten Willen vorne und hinten nicht zusammen.
({6})
Meine Kolleginnen und Kollegen aus der Fraktion der
Grünen, im Übrigen haben diejenigen, die, um die Munitionsfabrik zu verhindern, darauf hingewiesen haben,
dass Gewehre im Hinblick auf den Kurdenkonflikt gefährlicher seien als Panzer, ein besonders gutes Argument
für die Lieferung der Panzer gebracht. Das war ganz
gewiss nicht Ihre Absicht.
({7})
Aber das alles zeigt doch, dass Sie sich hier hoffnungslos
verheddert haben, und gibt Aufschluss über die Stellung
des grünen Außenministers in dieser Bundesregierung.
Im Übrigen wird die Sache noch absurder, wenn man
sich vor Augen führt, dass die Türkei, auch wenn sie sich
für das französische oder das amerikanische Produkt
entscheidet, ein im Kern deutsches Produkt bekommt;
denn das, was einen Panzer ausmacht - Mobilität und
Feuerkraft -, ist in beiden Fällen deutsche Technik.
Schlimmer als das Hickhack bei dieser Angelegenheit
kann es gar nicht sein, die in ihrer Bedeutung von mir
nicht überschätzt wird, die aber doch einiges über den Zustand der Regierung beim Thema Türkei aussagt.
Im Übrigen ist das Thema der Waffenlieferung in die
Türkei ein letztes Fingerhakeln in Sachen Menschenrechte. Dieses Thema hätte ich vielleicht mit dem Mantel
des Schweigens gnädig zugedeckt, wenn nicht der Bundeskanzler die Chuzpe, um nicht zu sagen die Dreistigkeit
besessen hätte, auf der erwähnten Botschafterkonferenz
wörtlich zu behaupten: „Das Engagement für die Menschenrechte steht auf der Prioritätenliste dieser Regierung
weit oben.“
Sie, Herr Fischer, waren so klug, das Thema Menschenrechte in Ihrer Rede bei derselben Gelegenheit
gewissermaßen nur kursorisch zu erwähnen, wohl wissend, dass die Behauptung Schröders nun wirklich durch
gar nichts zu belegen ist und dies eine offene Wunde in
Ihrer Fraktion ist.
Wo konnte man denn, um nur zwei Beispiele zu nennen - Tschetschenien und China -, etwas von der behaupteten Priorität der Menschenrechte spüren? Nichts
konnte man spüren. Auch Sie haben in der Opposition und
zu Beginn Ihrer Amtszeit behauptet, dass sich die gesamte
Außenpolitik an den Menschenrechten orientieren müsse.
Heute reduziert sich dieses Streben auf die erwähnten
grotesken Klimmzüge in der Frage der Waffenlieferung in
die Türkei.
Ich war - das will ich gerne einmal heute sagen ebenso gespannt wie skeptisch, ob es Ihnen gelingen
würde, der deutschen Außenpolitik einen stärkeren menschenrechtlichen Stempel aufzudrücken. Sie kennen mich
gut genug, um mir zu glauben, wenn ich sage: Ich hätte
keine Probleme gehabt, dies auch öffentlich anzuerkennen, wenn Ihnen dieses Kunststück gelungen wäre.
In Ihrer Oppositionszeit haben Sie uns, die damalige
Regierungskoalition, in einer Art und Weise angegriffen,
von der ich heute gerne gestehe, dass sie mir oft wehgetan hat, und zwar nicht, weil jeder sachliche Anlass Ihrer
Kritik gefehlt hätte, sondern weil Sie den Eindruck erweckt haben, als fehle es uns nicht nur an gutem Willen,
sondern als hätten wir kein Herz im Leibe, als würden wir
nicht unter dem Dilemma von Menschenrechten und den
realen Möglichkeiten der Politik leiden.
({8})
Heute, Herr Minister, habe ich den Eindruck, dass Sie
nicht einmal unter diesem Dilemma leiden. Jedenfalls
habe ich es noch nie gespürt. Nicht nur ich frage mich,
welche Folgen es für die Identität und die Zukunft der
Grünen hat, nachdem sie während des Kosovokrieges
vom Pazifismus und mit dem Pseudoatomausstieg von
dem Kern- und Symbolthema ihrer Umweltpolitik Abschied genommen haben. Herr Schröder steht bereit, sie
zu beerben. Darin sieht er auch einen wesentlichen Zweck
der Koalition mit Ihrer Partei. Allerdings wird er mit
Sicherheit auch noch erleben, welche Folgen seine Politik
für den linken Flügel seiner eigenen Partei haben wird.
({9})
Das Thema Europa wird heute noch näher vom Kollegen Hintze behandelt werden. Ich will mich nur auf einen
Aspekt beschränken. Sie, Herr Minister, haben in Ihrer
Rede vor der Botschafterkonferenz davon gesprochen,
dass Sie hofften, im Jahre 2005 die ersten Beitrittsländer
in der Europäischen Union begrüßen zu können. Der Bundeskanzler hat bei derselben Gelegenheit an dem Zieldatum 2003 festgehalten.
({10})
- Nein, davon war nicht die Rede, Herr Kollege Erler. Auch hier wäre ganz gewiss eine bessere Koordinierung
wünschenswert gewesen. Nun weiß ich, dass Ihre Sicht
der Dinge, Herr Minister, wahrscheinlich die realistischere ist. Ich weiß sehr wohl, dass hinter verschlossenen
Türen allenthalben auch in Brüssel über dieses von Ihnen
genannte Datum gesprochen wird. Es ist sowohl die Folge
unzureichender Reformfähigkeit der Beitrittsländer als
auch unzulänglicher Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union - nicht nur, was die institutionelle Reform
angeht, sondern auch die finanziellen Voraussetzungen,
von denen wir von Anfang an gesagt haben: Sie sind durch
die Agenda 2000 nicht geschaffen worden. Das wird ja
jetzt indirekt von Ihnen und direkt von Brüsseler Kommissaren bestätigt.
Wenn diese Perspektive aber richtig ist, dann wissen
wir alle, welche Gefahren damit verbunden sind: ein
Nachlassen der Reformbereitschaft, tiefe Enttäuschungen
bei unseren Nachbarn. Deswegen bitte ich, wirklich einmal zu überlegen - ein Gedanke, den Kollege Scharping
und ich schon zu Beginn der 90er-Jahre zum Ausdruck gebracht haben -, ob es angesichts dieser Tatsachen, die ja
letzten Endes im wirtschaftlichen Bereich liegen, nicht
angemessen ist, eine Art politische Mitgliedschaft der
Beitrittsländer ins Auge zu fassen, sie dort zu beteiligen,
wo man sie beteiligen kann und wo wir sie, beispielsweise
bei der Innen- und Justiz- sowie bei der Migrationspolitik,
dringend brauchen. Wir brauchen sie aber ebenfalls bei
der Außen- und Sicherheitspolitik und bei der Verteidigung, sicher auch bei der Diskussion um einen Verfassungsvertrag, von dem auch Sie eben gesprochen haben.
Dieses große Projekt, das wir unverändert als ganz entscheidend für die innere Balance der Europäischen Union
und für die Stabilität auf unserem ganzen Kontinent ansehen, darf nicht gefährdet werden durch eine tiefe Enttäuschung.
Im Übrigen würde ein solches Vorgehen, wie ich es
angedeutet habe, auch ermöglichen, zwischen den Beitrittsterminen zu differenzieren, ohne bei anderen den
Eindruck der Diskriminierung hervorzurufen.
Herr Kollege Lamers,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich weiß das, Frau Präsidentin. - Mir lag daran, Ihnen auch diesen Gedanken mit
besonderem Nachdruck ans Herz zu legen. Ich glaube insofern sind wir ja einer Meinung -, dass dies in der Tat
eine der Schicksalsfragen für die Europäische Union und
natürlich vor allen Dingen für unser Land ist.
Wenn Sie eine solche Politik mit mehr - ich möchte
nicht sagen: Engagement - Realitätssinn verfolgen, dann,
Herr Minister, haben Sie unsere Unterstützung, aber nicht,
wenn Sie aus koalitions- und parteiinternen Gründen
einen solchen Hickhack veranstalten wie bei den Themen,
die ich eben erwähnt habe.
({0})
Der nächste Redner ist
der Kollege Gernot Erler für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung präsentiert
sich bei dieser Haushaltsdebatte mit einer positiven Leistungsbilanz zur Halbzeit. Zu der hat auch die deutsche
Außenpolitik, haben auch die Aktivitäten der Bundesregierung in der internationalen Politik beigetragen. Die Basis dafür ist die gute Zusammenarbeit zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Parlament, sind die koordinierten
Aktivitäten von Regierung und Regierungsfraktionen,
aber auch die im Kern derzeit nicht gefährdete Haltung
eines Grundkonsenses zwischen allen Fraktionen in diesem Raum.
Herr Kollege Lamers, an diesem Eindruck haben Sie
durch Ihre - entschuldigen Sie - etwas lustlos vorgetragene Kritik in kleiner Münze nichts ändern können. Der
Grundkonsens wird nicht beschädigt, wenn Sie etwas zu
Österreich sagen, ein bisschen zu etwas mehr Geld, wobei
Sie wieder nicht sagen, woher es kommen soll, und dann
noch das Thema Rüstungsexporte antippen.
Lokomotive dieses Erfolges ist der Außenminister
selbst. Das kann er nur durch die tüchtige Arbeit von vielen tausend Mitarbeitern, im Hause wie auch im Ausland.
Ich finde, dafür muss man auch einmal Dank und Anerkennung in dieser Debatte aussprechen.
({0})
Der Lohn ist - auch das scheint Ihnen entgangen zu sein,
Herr Kollege Lamers - eine sehr breite, eine erstaunlich
breite Zustimmung der Bevölkerung für die Außenpolitik
und für den Außenminister.
Im Gegensatz zu Ihnen stelle ich für die SPD-Bundestagsfraktion fest, dass die rot-grüne Regierung die
richtigen Prioritäten setzt. Es ist richtig, jetzt das Hauptaugenmerk - das haben wir gerade wieder gehört - auf
den Erfolg bei den strukturellen Reformen und beim Vertrag von Nizza zu legen, zugleich die Osterweiterung
sorgfältig vorzubereiten und Frankreich bei seiner
wahrscheinlich historischen Aufgabe im Rahmen der
gegenwärtigen Präsidentschaft zu unterstützen. Herr
Außenminister, wir freuen uns, dass Sie jetzt - dabei werden wir Sie unterstützen - mit guten Argumenten für die
Osterweiterung noch mehr in die Öffentlichkeit gehen
wollen.
({1})
Es ist unverzichtbar, bei den Bemühungen um eine Stabilisierung in Südosteuropa keinen Moment nachzulassen, neue Perspektiven auch im Sinne der europäischen
Integration dieser Länder für diese Region zu schaffen
und dafür die Möglichkeiten des von Deutschland
angestoßenen Stabilitätspaktes voll zu nutzen. Es ist
vernünftig - das ist eine weitere Priorität -, die Instrumente präventiver Politik zu erweitern und sie zum Beispiel
intensiv in jener konfliktreichen Zone anzuwenden, die
vom Nahen Osten über den Kaukasus bis hin zum Kaspischen Meer reicht. Hier geht es um die nächsten Bewährungsproben einer vorausschauenden Friedenspolitik. Deshalb wollen wir, dass Barak und Arafat zu einer
Friedenslösung kommen. Deshalb wollen wir nicht nur,
dass im Kaukasus die Kampfhandlungen auslaufen, sondern auch, dass dort Konzepte einer politischen Stabilität
für die ganze Region Raum greifen.
({2})
Deshalb wollen wir, dass soziale, wirtschaftliche und politische Dämme gegen eine Ausbreitung des gewaltbereiten islamischen Fundamentalismus in Zentralasien und in
der kaspischen Region errichtet werden.
Es ist gut, dass der Bundeskanzler in New York die
deutsche Unterstützung für eine handlungsfähige Weltorganisation zum Ausdruck gebracht hat. Der deutsche
Beitrag zur Stärkung der Vereinten Nationen ist aus der
Sicht der SPD-Bundestagsfraktion noch ein bisschen
wichtiger als der Titel „Weltstaatsmann“, den der Bundeskanzler mitgebracht hat und zu dem wir ihm gleichwohl herzlich gratulieren.
({3})
Es ist notwendig, dass wir die Arbeit der Weltorganisation durch Beiträge zu einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung erleichtern. Wir begrüßen ausdrücklich, dass der
Bundeskanzler eine deutsche Beteiligung an Kofi Annans
Initiative angekündigt hat, die Zahl der Menschen, die am
stärksten in Armut leben, weltweit bis zum Jahr 2015 zu
halbieren. Das ist die vernünftige Fortsetzung der Kölner
Entschuldungsinitiative, die eine Erweiterung auf dem
G8-Gipfel in Okinawa erfahren hat.
Aus aktuellem Anlass füge ich, besonders an die rechte
Seite des Hauses gerichtet, hinzu: Es kann nicht angehen,
dass wir die Explosion der Rohölpreise auf dem Weltmarkt nur durch die Brille des deutschen Verbrauchers an
der Zapfsäule betrachten, anstatt uns auch um die Existenzgefährdung von Millionen von Menschen zu kümmern, die ein Dauerhochpreis für Brennstoffe auslöst.
({4})
- Hier handeln Sie schon wieder mit kleiner Münze.
({5})
Schließlich nenne ich den letzten Punkt der Prioritäten:
Inzwischen ist unbestritten, dass die Entscheidung über
das Holocaust-Denkmal, unsere Beschlüsse zum Zwangsarbeiterabkommen und die Art, wie sich die Deutschen
mit dem Rechtsradikalismus im eigenen Land auseinander setzen, eine internationale und kaum zu überschätzende Wirkung und Bedeutung haben. Aber besonders im
Hinblick auf den Kampf gegen den Rechtsradikalismus
wäre es fatal, diese Aufgabe auf eine Standortfrage zu reduzieren. Gerhard Schröder hat bei seiner Rede vor den
deutschen Botschafterinnen und Botschaftern am 4. September, die eben schon zitiert wurde, hierzu eine gute Position formuliert, die ich zitieren möchte:
Ausländerfeindlichkeit und neonazistische Gewalt
werden wir in Deutschland nicht dulden. Hierzu verpflichten uns nicht nur historische Gründe. Es geht
auch nicht allein um den Ruf unseres Landes im Ausland, um Investoren aus dem Ausland oder dringend
benötigte Spitzenkräfte für Wirtschaft und Wissenschaft. Nein, es geht um ein elementares Prinzip unserer Demokratie. Wir dürfen nicht an den Grundwerten unserer Gesellschaft rütteln lassen. Wenn
Grundrechte wie Menschenwürde und körperliche
Unversehrtheit nicht für alle Bürger, also auch für
die ausländischen Mitbürger, gleichermaßen gelten,
dann ist unsere Werteordnung in ihrem Keim gefährdet.
({6})
Das ist eine hervorragende Position, die ich von unserer
Seite ausdrücklich unterstütze.
Meine Damen und Herren, Deutschland ist heute ein
verlässlicher und anerkannter Partner in der internationalen Politik. Für die Bürger der Hauptstadt wurde
das zuletzt sichtbar in den großen Staatsbesuchen von
Clinton, Blair, Chirac, Putin, Zhu Rongji, Khatami und
vielen anderen.
Manchmal kann Ansehen und Einfluss des Heimatlandes auch für einen einzelnen Bürger Bedeutung bekommen. Wir freuen uns, dass die Bemühungen der Bundesregierung um die Freilassung der Familie Wallert zum
Schluss von Erfolg gekrönt wurden. Wir danken allen
daran Beteiligten und auch der Republik Libyen für ihre
Unterstützung. Ich finde, dass ebenfalls die Familie
Wallert selbst, die unter größter Belastung ein Höchstmaß
an Übersicht und Selbstkontrolle bewahrt hat, hier Dank
und Anerkennung verdient.
({7})
Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt die Bundesregierung in allen Hauptaufgaben der internationalen Politik, setzt selbst aber auch eigene Schwerpunkte. In dieser
Haushaltsdebatte haben wir die drei wichtigsten zu nennen: Besondere Prioritäten haben für uns die erfolgreiche
Umsetzung des Stabilitätspaktes für Südosteuropa, die
parlamentarische Begleitung der Entwicklung einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, der so genannten GASP, und eine eigene
Initiative zur öffentlichen Information und Argumentation in Sachen Osterweiterung der EU. Einzelheiten hierzu wird nachher mein Kollege Günter Gloser vortragen.
Der Stabilitätspakt ist und bleibt der große Test für die
Fähigkeit Europas zu einer langfristigen, auf Inklusion
und Kooperation abzielenden präventiven Friedenspolitik. Der EU-Sonderbeauftragte Bodo Hombach leistet
- das ist längst europaweit anerkannt - mit einem erstaunlich kleinen Team eine erstaunlich umfangreiche und
wirksame Arbeit.
({8})
Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt und begleitet
diese Arbeit durch eine spezielle Arbeitseinheit. Wir haben den Anstoß dazu gegeben, in das vielgliedrige Gebäude des Stabilitätspakts auch ein parlamentarisches
Stockwerk einzuziehen, unter anderem durch die Organisation und Durchführung von zwei Parlamentarierkonferenzen: die erste im Oktober letzten Jahres in Berlin und
die zweite im Juni dieses Jahres in Dubrovnik.
Wir freuen uns, dass unser Staffelstab inzwischen auch
von anderer Seite aufgenommen wurde. Gerade heute und
morgen findet in Zagreb ein Gipfel aller Parlamentspräsidenten der Stabilitätspaktstaaten statt, an dem unter anderem Vizepräsidentin Antje Vollmer und die Kollegin
Uta Zapf teilnehmen. Wir erwarten von diesem Gipfel
weitere Anstöße für die notwendige parlamentarische Dimension des Stabilitätspakts.
Im Zuge der Haushaltsdebatte möchte ich in Sachen
Stabilitätspakt eine sehr klare Erwartung zum Ausdruck
bringen: Die Bundesrepublik hat mit der Ankündigung
Eindruck gemacht, 1,2 Milliarden DM in vier Jahren zur
Verfügung zu stellen, und dieser wichtige Beitrag darf auf
keinen Fall in Frage gestellt werden,
({9})
und zwar weder durch eine Reduzierung der 1,2 Milliarden DM noch durch eine zu weit greifende Streckung
noch durch eine Verwendung für andere Projekte als für
die des Stabilitätspaktes.
({10})
Ich kündige an, dass meine Fraktion hier sehr energische
Initiativen ergreifen wird, um diese drei Punkte sicherzustellen und damit jeden Zweifel an dem für uns wichtigen
Punkt, Erfolg des Stabilitätspakts, im Keim zu ersticken.
Bei dem zweiten wichtigen Schwerpunkt, GASP, geht
es meiner Fraktion ebenfalls um die Rolle des Parlaments
bei einer solchen fundamentalen Weiterentwicklung Europas. Unerwartet schnell hat sich im letzten Jahr der
Hohe Repräsentant Javier Solana eine eigene Stellung
aufgebaut; zudem existieren inzwischen in der Umsetzung der Beschlüsse von Helsinki ein ganzes Bündel von
neuen Institutionen der GASP, und zwar sowohl militärische als auch nicht militärische. Wir haben Gespräche mit
allen unseren Schwesterparteien und mit Herrn Solana in
Brüssel geführt und dabei festgestellt: Es wird noch ein
langer Weg sein, bis die verschiedenen Kulturen bei der
Aufgabe von Souveränitätsrechten zusammenkommen
werden.
Uns ist hierbei besonders wichtig, dass nicht militärische Initiativen und Institutionen nicht zurückbleiben.
Dies bedeutet die Verstärkung der präventiven Fähigkeiten im Rahmen der GASP. Unsere Fraktion wird hierzu
im Herbst einen ausführlichen Bericht vorlegen.
Es gibt einen Schwerpunkt bei dem Aufbau präventiver
Fähigkeiten und der muss sich auch in Haushaltsentscheidungen niederschlagen.
({11})
Nach meiner Meinung verträgt sich eine Kürzung um
20 Millionen DM in diesem Bereich nicht mit der angesprochenen Prioritätensetzung. Auch hier werden wir uns
kräftig einsetzen, um eine Korrektur zu erreichen.
({12})
Ich habe schon darauf hingewiesen, dass der Kollege
Gloser etwas zu dem dritten Schwerpunkt, nämlich zu der
EU-Erweiterung, vortragen wird. Deshalb kann ich mir
meine Ausführungen hierzu sparen. Ich möchte nur so viel
sagen: Mit einem Teil seiner Initiative - diesen akzeptieren wir alle in der SPD - hat Günter Verheugen offene
Türen eingerannt, nämlich als er die politischen Eliten
aufgefordert hat, aktiver auch mit den berechtigten,
nachvollziehbaren und beantwortbaren Sorgen der Bürger
umzugehen. Wir haben schon vor seinem Appell unsere
Entscheidung getroffen und eine Art Gesamtkonzept zu
diesem Bereich vorbereitet.
Mein Fazit ist: Es bekommt diesem Land gut, wenn der
nationale und internationale Grundkonsens gewahrt
bleibt. Herr Kollege Lamers, ich möchte betonen: Ich
habe Ihren Ausführungen nicht entnehmen können, dass
die CDU/CSU diesen Pfad verlassen möchte. Wir sind
bereit, den Grundkonsens in den wichtigen Fragen aufrechtzuerhalten und auszubauen und zugleich für eine
breite Zustimmung der Öffentlichkeit und der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes hierfür zu sorgen. Wir
können im Augenblick über das Ausmaß des Grundkonsenses hinsichtlich der Außenpolitik dieser Regierung
froh sein. Dass dies deutliche eigene Schwerpunkt- und
Akzentsetzungen der größeren Regierungspartei nicht
ausschließt, habe ich versucht darzulegen.
Ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.
({13})
Nächster Redner ist
der Kollege Dr. Werner Hoyer für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte meine Rede mit
einem Dank an Bundesminister Fischer beginnen. Er hat
zu Recht darauf hingewiesen, dass heute vor zehn Jahren
ein überaus wichtiger Vertrag zustande gekommen ist. Ich
weiß es zu schätzen, dass Sie die Rolle vieler gewürdigt
haben, die daran beteiligt waren, insbesondere die von
Hans-Dietrich Genscher und von Markus Meckel. Es war
angemessen, dass Sie das hier getan haben.
({0})
Ich hätte mir gewünscht - das sage ich, damit das
Ganze nicht zu freundlich wird -, Sie hätten auf die Frage,
die Ihnen mehrfach aus dem Saal entgegengeschallt ist,
konkret geantwortet: Was macht er denn jetzt? Hebt er
nun die Sanktionen gegen Österreich auf oder nicht?
Ihr Kollege, der dänische Außenminister Niels Helveg
Petersen, hat klar gesagt: Heute, innerhalb weniger Stunden, werden die Sanktionen aufgehoben. Punkt, aus! Eine
solche Antwort haben wir heute auch vom deutschen
Außenminister erwartet.
({1})
Die Aufhebung der Sanktionen gegen Österreich ist für
den dänischen Außenminister natürlich außerordentlich
wichtig; denn in Dänemark steht das Referendum über
den Euro an. Ich fürchte, dort ist schon ein großer Schaden entstanden. „Jyllands-Posten“, eine der großen dänischen Zeitungen, schreibt in der heutigen Ausgabe:
Der Schaden für die Jaseite
- also für diejenigen, die den Beitritt Dänemarks zur
Euro-Zone befürworten ist geschehen. Ein eklatantes Fiasko, das auf Monate
die dänische EU-Debatte vergiftet hat, war diese
Entscheidung gegen Österreich.
Wenn der Bundeshaushalt das in Zahlen gegossene
Regierungsprogramm einer Bundesregierung ist, wie es
die Finanzwissenschaft auszudrücken pflegt, dann ist der
Entwurf des Einzelplans 05, nämlich der für das Auswärtige Amt, eine Bankrotterklärung für die deutsche Außenpolitik. Er entbehrt jeglicher Prioritätensetzung und lässt
keine ernsthafte Auseinandersetzung mit den veränderten
und gestiegenen Herausforderungen an die Rolle
Deutschlands in der Welt erkennen. Damit steht er - das
ist wichtig - in krassem Kontrast zur Rhetorik des Außenministers anlässlich der Botschafterkonferenz und der des
Bundeskanzlers bzw. - wie hieß das noch? - des „World
Statesman“ anlässlich der Tagung der Vereinten Nationen
letzte Woche in New York. Deshalb ist der Einzelplan 05
eine tiefe Enttäuschung für die Angehörigen des auswärtigen Dienstes im In- und Ausland. Sie erwarten von einer
Botschafterkonferenz mehr als von einem erweiterten
Jahrgangstreffen. Sie erwarten nicht nur inhaltliche Perspektiven. In dieser Hinsicht sind sie ja schon zur Genüge
enttäuscht worden. Sie erwarten vielmehr auch Perspektiven für ihren Dienst, und zwar nicht nur für die Ziele und
für den Instrumentenkasten deutscher Außenpolitik, sondern auch für die Mittel, mit denen die Diplomatie der
Politik helfen soll, ihre Ziele zu erreichen.
Der deutsche auswärtige Dienst habe hinsichtlich der
Kürzungsmöglichkeiten das Ende der Fahnenstange erreicht, so Joseph Fischer letzte Woche. Das habe ich schon
vor Jahren gehört.
({2})
Aber noch nie habe ich so wenige Anstrengungen erkennen können, daraus die Konsequenzen zu ziehen, wie
bei diesem Minister.
({3})
Um es auf eine kurze Formel zu bringen: Minister
Fischer kämpft nicht für den Stellenwert deutscher und internationaler Politik und er kämpft nicht für sein Haus. Er
kämpft nicht für dessen Fähigkeit, den gewachsenen Herausforderungen mit den Mitteln einer Diplomatie gerecht
zu werden, die auf diese Herausforderungen auch vorbereitet sein muss. Er gefällt sich darin, mit sorgenzerfurchter Stirn den globalgalaktischen Diskurs zu führen und die
zusätzlichen Herausforderungen zu beschreiben.
({4})
Gleichzeitig gefällt er sich darin, die Platte vom solidarischen Beitrag des Auswärtigen Amtes zur Haushaltskonsolidierung aufzulegen. Das passt nicht zusammen.
({5})
Wir brauchen - hier nehme ich die Anregung des Kollegen Lamers gerne auf - in Deutschland eine Debatte
über unsere Rolle in der Welt, über internationale Politik,
über internationale Wirtschaftsbeziehungen, über kulturellen Austausch, über alle Dimensionen von Globalisierung und darüber, was uns das eigentlich Wert ist. Deswegen wäre in Anlehnung an die britische Royal
Commission eine Gruppe, die sich darüber grundsätzlich
mit langfristiger Perspektive Gedanken macht, eine gute
Idee.
({6})
Alle reden von Globalisierung, nur die deutsche Politik wird immer provinzieller. Wer, wenn nicht der
Außenminister, müsste dagegen eigentlich Sturm laufen?
Aber weit gefehlt: Mit Ausnahme seiner als Privatmann
gehaltenen Europarede sind von Minister Fischer keine
konzeptionellen Überlegungen zu zentralen Fragen der
Außenpolitik zu hören gewesen. Diese Rede bestach eher
durch die Tatsache, dass sie gehalten wurde, als durch
ihren Inhalt im Detail.
Der deutsche auswärtige Dienst ist heute kleiner als der
der alten Bundesrepublik vor der Wende. Allein im
Rechts- und Konsularbereich haben sich die Aufgaben
vervielfacht. Das hat jetzt auch der Minister begriffen. In
einem Brief vom 1. September schreibt der Bundesminister an die Berichterstatter für den Haushalt des Auswärtigen Amtes, wie sehr es im Visumsbereich brummt, und
bittet, man möge doch dafür sorgen, dass die Rechts- und
Konsularabteilungen der Auslandsvertretungen von den
zu erwartenden pauschalen Stellenkürzungen ausgenommen werden. So viel Chuzpe ist schon stark. Genau diesen Antrag hat die F.D.P. für den Haushalt 1999 und den
Haushalt 2000 gestellt, sogar als Gesetzesantrag eingebracht. Er ist jedes Mal von Ihnen abgelehnt worden.
Wenn Sie diesmal mitmachen wollen, sind Sie herzlich
eingeladen. Sie können sicher sein, dass dieser Antrag von
uns wieder gestellt wird. Kämpfen Sie also endlich für
Ihren Haushalt! Kämpfen Sie für den Auswärtigen Dienst,
nicht mit uns, sondern bitte mit dem Finanzminister.
({7})
Die Schwachstellen dieser Regierung sind nicht nur in
den haushaltstechnischen Punkten zu sehen, sondern auch
bei den Inhalten. Bei dem Thema Menschenrechte sind
die Grünen als Tiger gestartet. Inzwischen ist ihr Außenminister als Bettvorleger gelandet. Der Stellenwert der
humanitären Hilfe im Regierungsentwurf ist erbärmlich.
Das, was zum Thema OSZE und zum Stabilitätspakt angemerkt worden ist, wird von mir unterstützt. Auch hier
gibt es erhebliche Schwachstellen im Haushalt. Wir werden bei den Beratungen darauf zurückkommen.
({8})
Der angekündigte Aufschwung in der auswärtigen
Kulturpolitik findet nicht statt. Im Gegenteil. Um nur ein
Beispiel zu nennen, über das viel zu wenig gesprochen
wird: Viele deutsche Auslandsschulen sind, obwohl sie
von überragender Bedeutung sind, akut von Schließung
bedroht.
({9})
Die Führungsrolle Deutschlands bei der für uns und
unserer wirtschaftlichen, politischen und insbesondere sicherheitspolitischen Interessen so wichtigen Osterweiterung der EU wird zunehmend weniger erkennbar. Deutsche Initiativen zur Überwindung der Blockade in der
Regierungskonferenz zur institutionellen Reform der EU
sind nicht in Sicht.
Man könnte das noch lange fortsetzen, zum Beispiel im
Hinblick auf die Außenwirtschaftspolitik. Hier reihen sich
der Bundeswirtschaftsminister und der Bundesaußenminister in dieselbe Phalanx ein. Sie tun beide nichts dafür.
Ich finde es schon erstaunlich, Herr Bundesaußenminister, dass Sie bei den vielen Gelegenheiten, die es in den
letzten Monaten gegeben hätte, nicht ein einziges Mal einen der Gäste auf der EXPO empfangen haben.
({10})
Vollends wirr, meine Damen und Herren, wird es aber
bei der Balkanpolitik und der Rüstungsexportpolitik. In
der Balkanpolitik haben Sie wahrscheinlich einen Preis
dafür zahlen müssen, dass Sie am Anfang Ihrer Amtszeit
bei einer nuklearstrategischen Frage schief gelegen haben, und hinterher nicht mehr aufmucken konnten, wenn
andere Fehler gemacht haben. Das ist zum Beispiel bei der
bedenklichen Entscheidung über die Zielauswahl der Fall
gewesen mit dem Ergebnis unnötiger Zwangssolidarisierung des serbischen Volkes mit seinem Diktator. Früher
hätten Sie, Herr Fischer, gesagt: Der deutsche Außenminister organisiert die Abdankung der Politik gegenüber
dem Militär.
Vollends wirr wird es in der Rüstungsexportpolitik.
Da wird erst in einem großen Kraftakt einem NATO-Mitglied der Kandidatenstatus für die EU verschafft, einer
politischen Union, die sich auf Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte festgelegt hat. Als Nächstes wird diesem NATO-Partner ein Spitzenprodukt deutscher Rüstungstechnologie zum Ausprobieren geliefert.
Jetzt, wo sie das Ding ganz gerne hätten, und zwar gleich
1 000 Stück, wird das mit dem Hinweis auf die Menschenrechtssituation abgelehnt. Das geschieht, obwohl
die militärische Stärkung der Südostflanke der NATO ein
von der Bundesregierung abgesegnetes Ziel des Bündnisses ist, bei dem die Leoparden helfen könnten. Um noch
eines draufzusetzen, wird die Lieferung einer Munitionsfabrik an die Türkei genehmigt. Zum Beispiel sind Gewehrkugeln in den kurdischen Bergschluchten menschenrechtspolitisch offenbar weniger brisant als Panzer. Diese
Logik schmerzt.
({11})
Die gleiche Story könnte ich Ihnen über die Lieferung einer MOX-Anlage nach Russland erzählen. Auch hierbei
sind die Widersprüche evident.
Ich denke, man muss Verständnis für die Frage haben,
die in der vergangenen Woche in der Zeitschrift „Die Woche“ gestellt worden ist, ob nämlich „der Eindruck eines
radikalen Wandels nicht bloß ein oberflächlicher Befund
ist. Ob Fischers Programm nicht schon immer das war, als
was es heute kenntlich wird: Fischer. Ein Machtmensch,
der sich beim Drang nach oben wechselnden Milieus anpasst, Abhängige und Bewunderer um sich schart und allein das tut, was ihm nützt.“
Zum Schluss möchte ich ein Wort zum Thema Österreich sagen.
Herr Kollege Hoyer,
ich bitte Sie, sich kurz zu fassen.
Selbstverständlich, Frau
Präsidentin. - Wir haben Ihnen einen Antrag vorgelegt, in
dem wir das fordern, was die dänische Regierung sinnvollerweise sofort angekündigt hat. Die Bundesregierung
sollte das Gleiche tun und sie sollte sich nicht scheuen zuzugeben, einen fatalen Fehler begangen zu haben. Ich
glaube, es ist auch ein Zeichen von Souveränität, wenn
man sich zu Fehlern bekennen kann und alles tut, um gegenüber dem österreichischen Volk einen solchen Fehler
auszuräumen.
Herzlichen Dank.
({0})
Das Wort für die PDSFraktion hat der Kollege Wolfgang Gehrcke.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! In der Regel wird in der
Außenpolitik über das Eigentliche, über das, worum es
geht, immer eine weihevolle Soße ausgegossen. Dabei
gibt es für das Eigentliche einen Begriff, der zwar nicht
schön, aber klar ist: Interessen. Über Interessen will ich
reden und über Interessen will ich streiten.
Das deutsche Interesse umschreibt die Bundesregierung lieber als „europäische Werte“, „Menschenrechte“
oder „Bündnisverpflichtungen“. Mit diesen Argumenten
hat sie sich am NATO-Krieg gegen Jugoslawien beteiligt,
mit diesen Argumenten verficht sie die neue NATO-Strategie, die weltweite Interventionen selbst ohne UNOMandat erlaubt, und so werden auch Rüstungsexporte begründet.
Ich habe mich oft gefragt, ob die Regierung nicht
merkt, welch hässliches Bild sie so von Deutschland
zeichnet: Krieg, Interventionsbereitschaft und Rüstungsexporte. Dafür erwartet sie noch einen Platz im Weltsicherheitsrat der UNO - absurd! Das sind aus meiner Sicht
keine taktischen Differenzen oder Stilfragen, sondern
grundsätzliche Gegensätze. Deswegen sage ich für meine
Fraktion, dass ich mich in den beschworenen außenpolitischen Grundkonsens, den der Kollege Erler für alle
Fraktionen dieses Hauses formuliert hat, nicht eingliedere
und nicht eingliedern lasse.
({0})
Wir haben grundsätzliche Differenzen, die man so nicht
überbrücken kann.
({1})
In der Koalitionsvereinbarung hieß es noch: „Deutsche
Außenpolitik ist Friedenspolitik.“ Jetzt, zwei Jahre später,
müsste es heißen: „Deutsche Außenpolitik sind die Interessen der deutschen Wirtschaft.“ Auf diese Linie hat
Bundeskanzler Schröder beim Botschaftertreffen die Reform des diplomatischen Dienstes gebracht. Eine Reform
ist sicher nötig, nur nicht so.
Die Wirtschaft, so der Kanzler, habe den Anspruch auf
„Geleitschutz durch die Politik“. Danach ist die Politik für
die Wirtschaft Wegbereiter und Gefolgsmann zugleich.
Umgekehrt wäre es richtig, das Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft zu betonen. Die Diplomaten sollen
sich, so Gerhard Schröder, „stärker als bisher für die Interessen der deutschen Wirtschaft einsetzen.“ Warum
nicht für die Interessen der Künstler, der Kirchen, der
Wissenschaftler, der Frauen, für die Interessen von Gewerkschaften oder Nichtregierungsorganisationen?
({2})
Warum sollen sich Diplomaten besonders für eine singuläre Gruppe einsetzen? Das Schlimme ist: Das ist die
Grundphilosophie dieser Regierung - sich einsetzen für
die Interessen der Wirtschaft.
({3})
Der Kanzler meint es so, wie er es ausgeführt hat. Der
Außenminister meint das auch, wenn er die Botschaften
auffordert, sich nach den Methoden der Wirtschaft umzubauen. Sie sollen Dienstleistungsunternehmen werden
und PR-Arbeit machen.
PR-Arbeit statt Goethe-Institute - das kommt dabei heraus, wenn man deutsche Interessen mit Wirtschaftsinteressen gleichsetzt. Das ist weder neu noch rot-grüne Politik; es ist im Grunde die gleiche Philosophie, die der
berüchtigte Hermann Josef Abs verfolgte, als er sagte:
„Was gut ist für die Deutsche Bank, ist gut für Deutschland“. Das mag für Rot-Grün inzwischen stimmen, für
uns demokratische Sozialisten jedoch nicht.
({4})
Wir streiten dafür, dass in der deutschen Außenpolitik
nicht nur die Interessen einer Gruppe eine Rolle spielen,
sondern die aller. Mit den vielen, davon sind wir überzeugt, kommt man eher zu fairem Welthandel, friedlicher
Konfliktlösung, partnerschaftlicher Kooperation und dazu, dass deutsche Außenpolitik tatsächlich Friedenspolitik wird.
Die Bundesregierung hingegen bietet der Wirtschaft
außenpolitischen Geleitschutz. Das wird beim Rüstungsexport auf den Begriff gebracht. Die nationalen Richtlinien zum Rüstungsexport hat die Regierung zwar verschärft, sie unterläuft sie aber gleichzeitig, indem sie den
grenzüberschreitenden Interessen der Wirtschaft folgt.
Sie engagiert sich für europäische Rüstungsabkommen,
Rüstungsplanung und ein europäisches Rüstungskontor.
Es geht um internationale Marktdominanz auch im Waffengeschäft. „Rüstungsexport ist gut“, Kolleginnen und
Kollegen von der SPD-Fraktion, betitelte Ihre Wehrexpertin, Kollegin Wohlleben, knapp und präzise ihren
Gastkommentar in der „Welt“ vom 7. September.
({5})
„Rüstungsexport ist gut“ - da kann man direkt Mitleid bekommen, wie sich die Rüstungslobby früher abmühen
musste. Jetzt sagt man pauschal: Rüstungsexport ist gut.
Rüstungsexport ist immer noch das Geschäft mit Krieg
und Tod.
Für uns reicht die NATO-Mitgliedschaft der Türkei
eben nicht aus, um eine Munitionsfabrik zu exportieren.
Menschenrechtsverletzungen begründeten für den Außenminister den Krieg gegen Jugoslawien. Menschenrechtsverletzungen in der Türkei gegen Kurdinnen und Kurden
wiegen wohl zu leicht, um den Waffenexport zu stoppen.
({6})
Nicht die Orientierung an Menschenrechten werfen wir
der Bundesregierung vor, sondern wir werfen ihr vor, dass
sie damit opportunistisch umgeht.
({7})
Zusammengefasst heißt das, die Außenpolitik der Bundesregierung bewegt sich in dem Dreieck: Deutsche
Wirtschaftsinteressen haben Vorrang - die Führungsrolle der USA wird nicht infrage gestellt - Alternativen
zur NATO sind ein Tabu. Was ist an einer solchen Außenpolitik eigentlich noch rot? Was ist an einer solchen
Außenpolitik eigentlich noch grün?
Herr Kollege Gehrcke,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Im auswärtigen Haushalt
- mein letzter Gedanke - werden zu wenig Mittel eingesetzt, die Frieden stiftenden Ansprüchen entsprechen
könnten. Ebenso unbefriedigend sind die Mittel zur Förderung internationaler Organisationen, die Haushaltstitel
für Konsulararbeit oder Gelder für Konfliktvorbeugung.
Einer Außenpolitik, die auf einem solchen Grundkonsens, wie ich ihn beschrieben habe, beruht, verweigern
wir demokratische Sozialistinnen und Sozialisten unsere
Zustimmung.
Ich danke sehr.
({0})
Nächster Redner in
der Debatte ist der Kollege Gert Weisskirchen, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der gegenwärtige Präsident der Generalversammlung der Vereinten Nationen, Theo-Ben Gurirab, Außenministers Namibias,
({0})
hat an uns eine völlig berechtigte Frage gestellt. Gerichtet
an die industrialisierte Welt fragte er: „Können wir ihnen
vertrauen?“ Er meint damit diejenigen, die politische Verantwortung tragen. „Globalisierung“, sagt er, „wird von
einigen als eine Kraft des sozialen Wandels gesehen, die
die Kluft zwischen den Reichen und den Armen schließen
hilft, zwischen dem industrialisierten Norden und dem
sich entwickelnden Süden.“ Zugleich sagt er - ich finde,
er hat Recht -:
({1})
„Aber Globalisierung wird auch gesehen als eine zerstörerische Kraft.“
Machen wir uns nichts vor: Aus dem Blickwinkel derer, die als Dritte Welt bezeichnet werden, ergibt sich
diese Zwiespältigkeit der Globalisierung. Die stürmische
Debatte über die Globalisierung hat schließlich die einzig
wirkliche globale Institution der Welt, die es gibt, nämlich
die Vereinten Nationen, jetzt auch erreicht. Was in Seattle
geschehen ist, wird vielleicht demnächst auch in Prag geschehen, nämlich dass sich der Protest gegenüber den
möglichen Folgeerscheinungen der Globalisierung jetzt
endlich auch innerhalb der UNO in harten Debatten
äußert, die, wie ich finde, dem Thema und den Problemen
angemessen sind.
Der Administrator des Entwicklungsprogramms der
Vereinten Nationen hat auf eine bedeutsame Trendverschiebung in dieser Debatte aufmerksam gemacht, die in
den sich entwickelnden Ländern zu erkennen ist: Eine unabhängiger handelnde Weltwirtschaft wird nicht mehr
rundweg abgelehnt. Nicht vergessen, lieber Kollege
Gehrcke: Das sagen die Vertreter der Dritten Welt selbst.
Sie wollen in die Weltwirtschaft einbezogen sein, sie wollen in der Weltwirtschaft anerkannt sein. Jetzt kommt es
darauf an, dass wir mithelfen, die globalen Rahmenbedingungen so zu setzen, dass alle in der Tat Zugang zur
Weltwirtschaft haben. Es soll nicht so sein, wie Sie es
hier insinuiert haben, nämlich dass der Kapitalismus weltweit gesiegt hätte, sondern alle Menschen dieser Erde
müssen über ihre Marktteilnahme die Chance haben, sich
an den Reichtümern dieser Erde zu beteiligen. Das ist entscheidend.
Ich finde es sehr wichtig, dass Bundeskanzler Schröder
in der VN-Debatte genau auf diesen Punkt aufmerksam
gemacht hat und dass der Außenminister und die Entwicklungsministerin ihn dabei unterstützt haben. Ich
glaube, dass das deutlich macht, dass die Position der
Bundesregierung in diesem Punkte sehr klar ist: Sie will
mithelfen, dass die Länder der Dritten Welt aus der Verschuldungsfalle, in die sie hineingeführt worden sind,
auch wieder herauskommen. Das ist einer der wichtigsten
Bestandteile einer vernünftigen progressiven Politik.
({2})
Inklusion also, die Einbeziehung der Menschen der
Dritten Welt, wird gefordert, damit alle ihre Fähigkeiten
einbringen können und sich mit anderen Marktteilnehmern messen können. Kofi Annan hat diesen Grundgedanken ebenfalls aufgenommen. Gegen die Globalisierung zu argumentieren, sagt er, sei vergleichbar damit,
gegen die Gesetze der Schwerkraft zu argumentieren.
- Aber - das muss man hinzufügen - das darf nicht bedeuten, dass sie als Naturgesetz akzeptiert wird.
({3})
Im Gegenteil - das sagt Kofi Annan -: Wir müssen die
Globalisierung zu einer Lokomotive machen, die Menschen aus der Not herauszieht, und nicht zu einer Macht,
die sie niederdrückt. Das ist die Aufgabe, vor der die
internationale Staatengemeinschaft steht. Der Millennium-Gipfel der Vereinten Nationen hat genau darauf
aufmerksam gemacht. Ich bin stolz darauf, dass die
Bundesregierung an diesem Punkte klargemacht hat: Sie
stellt sich eindeutig auf die Seite derer, die an diesem
fairen Wettbewerb der Nationen und der Fähigkeiten der
Menschen teilnehmen wollen. Dieser entscheidende
Punkt ist auf dem Millennium-Gipfel der Vereinten Nationen deutlich geworden.
Mehr als 1 Milliarde Menschen müssen mit einem Einkommen von 1 Dollar pro Tag leben; ebenfalls 1 Milliarde Menschen, die zumeist zu der Gruppe gehören, die
ich eben genannt habe, haben keinen Zugang zu sauberem
Wasser. Die Staats- und Regierungschefs haben sich bei
dem Millennium-Gipfel verpflichtet, diese Zahlen bis
zum Jahr 2015 zu halbieren. Ist das etwa kein Beitrag zur
sozialen Gerechtigkeit auf der Erde?
({4})
Ist das kein Beitrag, der deutlich macht, dass die Vertreter
der Bundesrepublik Deutschland gemeinsam mit den anderen Staatschefs das Problem dieser Erde sehr wohl erkannt haben?
Bis 2015 soll auch für alle Kinder eine volle Primarschulbildung geschaffen werden. Außerdem haben sich
die Regierungschefs darauf geeinigt und verpflichtet, bis
zu diesem Jahr die Ausbreitung von Aids endlich zu
stoppen. An dieser Agenda für die nächsten 15 Jahre müssen wir gemeinsam arbeiten, damit diese 1 Milliarde Menschen auf der Erde die Chance und eine Perspektive für
wirkliches Überleben haben.
({5})
Dieser Millennium-Gipfel zeigt auch, dass sich die
Vereinten Nationen wieder stärker auf ihre globale Verantwortung konzentrieren: Forum zu sein, Arena der Debatten, um Verständigung zu suchen, Wege aus den Gefahren zu finden, in die die Menschen sich gegenseitig
bringen.
Globale Verantwortung übernehmen heißt aber auch,
die innere Reform der Staatengemeinschaft vorantreiben,
um institutionell leisten zu können, was programmatisch versprochen wird. Dazu gehört auch die überfällige
Reform des Sicherheitsrates. Der Bundeskanzler hat
dies in New York klar ausgedrückt. Wir danken ihm dafür.
Ich füge hinzu: Ich finde es angemessen, dass der Sicherheitsrat in einer fairen Weise reformiert wird. Wenn sich
alle Länder der Erde an Entscheidungen beteiligen können, dann darf die Bundesrepublik Deutschland nicht beiseite stehen.
({6})
Es ist gut zu wissen, dass der Bundeskanzler, der
Außenminister und die Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit dabei deutlich gemacht haben: Die Bundesrepublik Deutschland wird ihren Beitrag zur weltweiten sozialen Gerechtigkeit leisten und dafür eintreten,
dass aus der Welt, wie sie ist, ein besserer Platz zum
Leben für alle Menschen dieser Erde werden kann. Denn
- so haben Gerhard Schröder, Tony Blair, Wim Kok und
Göran Persson in ihrem Manifest geschrieben -:
Wir können den Wandel nicht aufhalten, aber wir
können ihn so gestalten, dass er nicht nur wenigen
nutzt, sondern vielen.
Was könnte man dem hinzufügen?
Der Millennium-Gipfel war zu Beginn eines neuen
Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung ein Moment des
Innehaltens. Trotz aller seiner inneren Konflikte kann der
Westen bilanzieren: Der materielle Reichtum der industrialisierten Nationalstaaten ist in ungeahnte Höhen gestiegen. Die Systemkonkurrenz ist mit dem Ende der
organisierten Verantwortungslosigkeit der kommunistischen Diktatur beseitigt worden. Die meisten der neu
entstandenen Transformationsländer haben sich entschieden, sich in den modernisierenden Sog der Europäischen
Union zu begeben. Was die Dritte Welt genannt wurde,
gruppiert sich neu, wird vielgestaltig, sucht eigene Wege,
Tradition und Moderne miteinander zu verbinden, wie
Thabo Mbeki mit seiner „afrikanischen Renaissance“.
Sollte einst der Westen - über diesen Punkt sollten wir
einmal gemeinsam diskutieren - seine Errungenschaften
selbst gefährden, dann, weil er die Warnzeichen übersehen hat. Eines der Warnzeichen, das leicht übersehen werden kann, ist der Unilateralismus. Die neokonservative
Revolution in den USA dominiert das Mehrheitsverhalten
der Legislative in den USA. In der Tat: Im Augenblick ist
kein ernsthafter Herausforderer der USA zu erkennen nirgendwo. Dies darf aber nicht dazu führen, dass sich
die USA von ihrer multilateralen Verantwortung verabschieden.
Ich finde es gut, dass der amerikanische Präsident Bill
Clinton gegen Ende seiner Präsidentschaft deutlich gemacht hat: Für die USAmacht es künftig nur Sinn, mit den
anderen Staaten kooperativ zusammenzuarbeiten, wenn
die USA diesen wesentlichen Grundzug akzeptieren, der
auch schon für die Politik bezüglich Deutschland bestand.
Multilateralität ist ein Gut, auf das niemand verzichten
darf.
Selbst - wie wir heute in der „Süddeutschen Zeitung“
sehr ausführlich nachlesen konnten - wenn die USA heute
die letzte übrig gebliebene Großmacht der Erde sind, dann
zeigt sich ihre Kooperationsfähigkeit in ihrer Bereitschaft, auf unilaterale Schritte zu verzichten. Deswegen
begrüßen wir es, dass das National-Missile-Defense-Projekt wenigstens zeitweilig beiseite gelegt worden ist. Ich
wünsche mir sehr, dass der neue amerikanische Präsident
und der neue amerikanische Kongress eben an jener multilateralen Tradition der USA festhalten und sie gemeinsam mit uns, mit Europa und mit allen anderen Staaten
dieser Erde weiterentwickeln.
({7})
Die Aufrüstungstendenzen sind bisher nicht abgeklungen. Im Gegenteil: Wenn wir nach Asien blicken - ob
es der Konflikt zwischen Indien und Pakistan oder andere
Konflikte sind -, dann erkennen wir sehr wohl selbstzerstörerische Kräfte. Die europäische Erfahrung der letzten
25 Jahre zeigt klar - wir sollten aber nicht so tun, als ob
wir besser seien oder alles besser wüssten als andere -:
Kooperativ zu sein ist immer besser als Konfrontation.
Wir müssen versuchen zu erreichen, dass die Staaten den
anderen Staaten gute Nachbarn sind. Es kommt entscheidend darauf an, das Neue zuerst zu denken und dann das
Neue zu tun. Das ist das große Erbe von Willy Brandt. Ich
bin stolz darauf, dass die Bundesregierung mit Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem Außenminister
Joschka Fischer die deutschen Interessen in dieser Tradition international wahrt und durchsetzt.
({8})
Das Wort hat der Kollege Peter Hintze, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Die Tatsache, dass sich
in diesem Moment auf Einladung des Bundestagspräsidenten ein riesiger Pulk von Journalisten im Innenhof des
Reichstags um den Erdtrog von Herrn Haacke versammelt, könnte davon ablenken, dass es hier im Plenarsaal
um die eigentlich wichtigen Dinge geht: um die entscheidenden Zukunftsfragen Europas und um entscheidende
Diskussionen des Deutschen Bundestages. Ich denke, wir,
die wir hier im Plenarsaal zusammengekommen sind,
sollten uns diesen Fragen widmen.
({0})
Denn Europa steht zurzeit an einem Scheidepunkt. Sowohl die interne EU-Reform als auch die Erweiterung
haben eine kritische Phase erreicht. Es ist wichtig, dass
wir uns darüber austauschen.
({1})
Die CDU/CSU-Fraktion will den Erfolg der beiden europäischen Projekte. Wir wollen eine Reform, die die EU
handlungsfähiger, demokratischer und bürgernäher
macht, und wir wollen, dass die Erweiterungsverhandlungen einen großen Sprung nach vorne machen.
EU-Kommissar Günter Verheugen hat die Bundesregierung mit seinem Vorschlag einer Volksabstimmung
zur Osterweiterung in erhebliche Unruhe versetzt. - Der
Außenminister hat in diesem Zusammenhang Mao
Tsetung zitiert; ich weiß nicht, ob das im Plenum richtig
angekommen ist.
({2})
- Herr Fischer, Sie haben Ihren Mao nicht richtig gelesen.
Hier geht es jetzt um Europa. ({3})
Jedenfalls hat Herr Verheugen mit seiner Intervention den
Finger auf eine offene Wunde gelegt. Die Bundesregierung verhält sich in der Frage der Osterweiterung der Europäischen Union ausgesprochen zurückhaltend.
({4})
Sie begibt sich in einen ressortinternen Clinch zwischen
dem Außenminister und dem Finanzminister, der vor einigen Tagen erklärt hat, eigentlich sei er zuständig und
nicht der Außenminister. Kollege Lamers hat dies schon
angesprochen.
({5})
Es wurde zudem darauf hingewiesen, dass die Gefahr
besteht, dass die Überwindung der europäischen Teilung
auf die lange Bank geschoben wird. Die Kandidatenländer fragen sich, ob sie überhaupt noch erwünscht sind.
Hinzu kommt, dass die deutsche Öffentlichkeit durch die
überzogene Ausweitung des Kreises potenzieller Kandidaten irritiert und alarmiert wurde.
Herr Außenminister, ich will dazu etwas aus Sicht des
Parlaments sagen: Die Bundesregierung betreibt in der
Frage der Erweiterung eine Geheimdiplomatie, die der
Sache nicht gut tut. Weder die Öffentlichkeit noch der
Deutsche Bundestag - auch nicht dessen Ausschüsse - erfahren ausreichend über den Stand der Verhandlungen.
Wir haben hier im Parlament bisher kein vollständiges
Verhandlungsergebnis vorgelegt bekommen. Die Erweiterung wird nur dann ein Erfolg, wenn wir diese Fragen
mit der Öffentlichkeit diskutieren und die kritischen
Punkte ansprechen und wenn daraus keine Geheimveranstaltung der Bundesregierung gemacht wird.
({6})
Die großen politischen und ökonomischen Chancen
der Osterweiterung der EU und der Gewinn an Stabilität
für alle Beteiligten dürfen nicht verspielt werden. Ich sage
hier für die CDU/CSU-Fraktion klipp und klar Ja zur Osterweiterung. Dies ist eine politische, ökonomische und
moralische Aufgabe für uns.
({7})
Wir müssen die Osterweiterung gründlich vorbereiten.
Wir haben in diesem Zusammenhang eine Große Anfrage
eingebracht. Wir müssen darüber öffentlich diskutieren.
Auch dazu soll unsere Anfrage eine Grundlage sein. Denn
es muss mit den Menschen im Lande eine breite öffentliche Diskussion über die Ängste und Sorgen, aber auch
über die großen Chancen im Rahmen des Erweiterungsprozesses eingeleitet werden.
({8})
Ein demokratischer Rückschritt wäre allerdings die
Aufnahme von Volksabstimmungen in unser Grundgesetz. Ich finde es positiv, dass sich der Bundesaußenminister mittlerweile von seinen ehemaligen Radikalpositionen entfernt hat. Es haben sich ja einige aufgeregt, dass er
heute anders spricht als früher. Ich bin sehr beruhigt; das
muss ich Ihnen sagen. Denn wenn er so handeln würde,
wie er früher gesprochen hat, müssten wir sagen: Gute
Nacht, Deutschland! Dies wäre schrecklich. Er hat gesagt,
dass man über Grundsatzfragen, darüber, ob Polen aufgenommen werden soll oder nicht, keine Volksabstimmung
durchführen kann. Er hat ja nicht völlig Unrecht. Nur, zu
unterscheiden, bei welchen Fragen eine VolksabstimWolfgang Gehrcke
mung möglich ist und bei welchen nicht, ist sehr unerquicklich.
Ich sage eines klipp und klar: Für mich bedeutet die
Diskussion, die jetzt von der linken Seite des Hauses - in
Wiedererweckung eines alten Politzombies - angestoßen
worden ist, einen demokratischen Rückschritt. Warum?
Was ist das Hauptargument für die repräsentative Demokratie?
({9})
Die Welt wird zunehmend komplizierter und komplexer, und alle politischen Entscheidungen sind im Zusammenhang zu verstehen: Wofür gibt man das Geld aus?
Welche Bündnisstrategien geht man ein? Welche Entscheidungen trifft man? Nur die repräsentative Demokratie hat die Stärke, die Komplexität der Entscheidungen
entsprechend aufzunehmen. Damit sind wir sehr weit gekommen; das sollten wir nicht aufs Spiel setzen.
({10})
Der Bericht der Drei Weisen zur innenpolitischen Situation in Österreich kaschiert nur mühsam den großen
Fehler der übrigen EU-Staaten, Österreich mit erhobenem
Finger auszugrenzen. Durch die Sanktionen gegen Österreich wurde nämlich die Gefahr erhöht, die zu bekämpfen
sie vorgaben, und das europaweit. Das ist ein schwerwiegender Fehler, den sich auch unsere deutsche Bundesregierung zurechnen lassen muss.
({11})
Im Übrigen: Das, was die Weisen ermittelt haben,
spricht für ihre Weisheit und wäre den beteiligten Regierungen schon durch oberflächliche Zeitungslektüre deutlich geworden.
Herr Kollege Hintze,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gernot
Erler?
Aber ja.
Herr Kollege Hintze, Sie haben
soeben den Bericht der Drei Weisen angesprochen. Haben
Sie die Ziffer 115 dieses Berichtes zur Kenntnis genommen? Dort heißt es:
Die Maßnahmen der XIV Mitgliedstaaten der EU haben nicht nur in Österreich, sondern auch in den anderen Mitgliedstaaten das Bewusstsein für die gemeinsamen europäischen Werte gestärkt. Es kann
kein Zweifel bestehen, dass im Falle Österreichs die
von den XIV Mitgliedstaaten getroffenen Maßnahmen die Anstrengungen der österreichischen Regierung verstärkt haben.
Der Absatz schließt:
Sie haben auch die Zivilgesellschaft motiviert, diese
Werte zu verteidigen.
({0})
Würden Sie zugeben, dass das eigentlich ein Beleg
dafür ist, dass die 14 Staaten richtig gehandelt haben, jedenfalls nach dem Bericht der Drei Weisen? Das ist das
Gegenteil von dem, was Sie hier behaupten.
Es schädigt nicht die Qualität eines Berichtes, wenn nach 114 richtigen Sätzen einmal ein falscher kommt, Herr Kollege Erler.
({0})
Ich will noch einen ernsten Punkt hinzufügen. Der
Bundesaußenminister hat immer argumentiert, dass gerade wir Deutsche, obwohl Österreich unser Nachbar ist
und wir wissen, wie zuverlässig er ist, gar nichts anderes
hätten machen können als die anderen. Ich muss sagen,
ich empfinde es als besonders peinlich, dass wir als ein
Land, das in seinen Bundesländern zum Teil mit üblen
rechtsradikalen Ausschreitungen zu kämpfen hat, diese
Zeigefingerkoalition gegen Österreich angeführt haben.
Ich finde das peinlich.
({1})
Ich hoffe, dass die Bundesregierung jetzt den Schaden
rasch wieder gutmacht.
Dabei ist eines beachtlich: Uns wurde im Parlament
immer vorgetragen, es handele sich nicht um eine Maßnahme der EU - das stimmt ja auch, dafür gibt es keine
Rechtsgrundlage -, sondern um bilaterale Maßnahmen
der 14 anderen EU-Mitglieder. Was sagte die Regierungssprecherin gestern aber auf die Frage, ob Deutschland nun
die Sanktionen einstellen wird? Sie antwortete, das werde
die französische Präsidentschaft entscheiden. Meine Damen und Herren, was ist das für eine Logik? Entweder ist
es eine Sache der EU, dann ist das eine klare Vertragsverletzung, oder es ist unsere Sache, dann dürfen wir nicht
auf die französische Präsidentschaft verweisen. In dieser
Frage wird ziemlich schräg gespielt.
({2})
Alle Kraft muss jetzt der Weiterentwicklung in der Europäischen Union gelten. Wir haben interessante Gedanken vom Herrn Außenminister in seiner Eigenschaft als
Joseph Fischer an der Humboldt-Universität gehört. Ich
fand den Vortrag - ich will das hier noch einmal sagen durchaus interessant. Er hat eine Diskussion in Europa angestoßen und an dieser Diskussion beteiligen wir uns.
Ich freue mich, dass er jetzt ganz ungebrochen von einem Verfassungsvertrag spricht. Das ist eine Idee, die
Wolfgang Schäuble und Karl Lamers in Deutschland gegen nicht geringe Widerstände in die politische Diskussion gebracht haben. Aber, lieber Herr Bundesaußenminister, bis jetzt wächst in mir die Befürchtung, dass diese
Rede ein rein rhetorisches Ereignis blieb. Ich habe nichts
gegen gute Reden, aber für die praktische Politik ist es
schade, wenn einer guten Rede nicht gute Taten folgen.
Die Regierungskonferenz tritt auf der Stelle. In den
zentralen Fragen der Weiterentwicklung Europas - denken wir beispielsweise an die Mehrheitsentscheidung - ist
die Konferenz ein halbes Jahr lang über kreative Vorschläge nicht hinausgekommen.
Auch die Beitrittsverhandlungen kommen nicht so
recht voran. Was wir heute in dieser Debatte beklagen, ist,
dass diese Bundesregierung - da ist sie seit vielen Jahren
und Jahrzehnten übrigens die erste - als europäischer Motor ausfällt.
({3})
Für uns sind die Prioritäten in der laufenden Regierungskonferenz klar: Wir wollen Mehrheitsabstimmungen im Rat als Regel. Wir wollen die Stärkung der
Demokratie durch eine Stärkung des Europäischen Parlamentes und durch die bessere Berücksichtigung der Bevölkerungszahlen in den Institutionen der EU. Ich nenne
hier nur die Stichworte „größere Proportionität im Europäischen Parlament“ und „Einführung der doppelten
Mehrheit bei Abstimmungen im Rat“. Wir wollen mehr
Flexibilität vor allen Dingen in der Außen-, Sicherheitsund Verteidigungspolitik und eine präzisere Aufgabenverteilung zwischen europäischer und nationaler Ebene.
Schließlich wollen wir keine „leftovers“ der „leftovers“
von Amsterdam. Diese müssen jetzt geregelt werden.
Aber wir wissen heute, dass es natürlich „leftovers“ von
Nizza geben wird. Sie haben erfreulicherweise schon gesagt, dass Sie sich dazu bekennen: Kompetenzabgrenzung, Grundrechte-Charta, Weiterentwicklung und Vereinfachung der Verträge und die Reform des Rates.
Nun komme ich zu einem Punkt, den ich langfristig für
sehr entscheidend halte. Wenn wir uns fragen, welche Institution in Brüssel am stärksten für Intransparenz, geringe demokratische Legitimation und große Bürokratie
verantwortlich ist, dann ist das der Rat. Der Ministerrat
ist so, wie er sich im Laufe der Jahre entwickelt hat, eine
Fehlkonstruktion, die es zu korrigieren gilt.
({4})
Ich will die kritischen Punkte nennen: Erstens. Der Rat
ist Legislative, Exekutive und Kontrolleur der Exekutive
zugleich. Das bedeutet eine massive Verletzung der Gewaltenteilung; parlamentarische Beteiligung und öffentliche Kontrolle sind nicht gesichert. Deswegen müssen wir
das reformieren. Der Rat sollte sich zur zweiten Kammer
der Legislativen entwickeln. Die Aufgaben der Exekutive
müssen bei der Kommission zusammengefasst werden.
Zweitens. Die innere Struktur des Ministerrates ist
streng nach Fachressorts aufgesplittert. Das führt zu unsinnigen Entscheidungen. Da macht der Rat der Landwirtschaftsminister einen großen Beschluss zur Förderung des Tabakanbaus in Europa, und der Rat der
Gesundheitsminister stellt EU-Mittel zur Verfügung, um
die Menschen vom Tabakrauchen abzubringen.
({5})
Diese Unsinnigkeit ist nur ein kleines Beispiel. Das muss
aufgehoben werden. Das geht nur, wenn die ursprüngliche
Idee des Allgemeinen Rates aktiviert wird, wenn er in einer festen Zusammensetzung von Europaministern tagt,
die ihrer Regierung tatsächlich verantwortlich sind, und
wenn der Rat seine parlamentarischen Funktionen wahrnimmt und seine exekutiven Funktionen abgibt.
Drittens. Die Arbeitsweise des Rates ist überbürokratisiert. Es gibt über 300 Ratsgruppen auf Beamtenebene
und mehrere Hundert Gruppen auf Kommissionsebene.
Die Folge ist null Transparenz und eine zweifelhafte Legitimation. Wer gibt politische Vorgaben? Wer übernimmt
politische Verantwortung? Der Rat muss politischer und
parlamentarischer arbeiten. Das ist eine mittel- und langfristige Aufgabe, aber das müssen wir bei der Reform der
Institution angehen.
Lassen Sie mich nun ein Thema ansprechen, das die
Menschen in Deutschland massiv beschäftigt und bei dem
der in New York jüngst hochdekorierte Bundeskanzler,
der Sachen ja auch richtig macht, einen groben Fehler gemacht hat. Es geht um die Frage des Außenwertes des
Euro und der - wenn man dieses Wort überhaupt verwenden kann - politischen Begleitung durch die Bundesregierung und durch den Herrn Bundeskanzler. Wir alle
wissen, dass die D-Mark auch in früheren Zeiten gegenüber dem US-Dollar eine Schwankungsbreite hatte. Wir
wissen, dass die Kaufkraft der Währung im Inland von
solchen Schwankungen des Außenwertes zunächst einmal
nicht betroffen ist. Dennoch dürfen wir die negativen Folgen eines nach außen dauerhaft schwachen und eines vor
allen Dingen immer schwächer werdenden Euros - die
Bewegung geht ja nach unten - nicht unterschätzen. Hohe
Preise für Importe werden sich früher oder später auch in
der Inflationsrate bemerkbar machen. Wer vor dem Winter Heizöl einkauft oder heute seinen Wagen voll tankt,
der zahlt einen guten Teil des hohen Preises: einmal wegen der Ökosteuer - das ist jetzt aber nicht Thema - und
zum Zweiten wegen des schwachen Euro.
In einer solchen Situation muss sich die Bundesregierung bei ihren Äußerungen wirklich zurückhalten. Sie
darf auf keinen Fall die falschen Signale setzen. Wenn der
deutsche Bundeskanzler - wie vor wenigen Tagen im
Fernsehen weltweit übertragen - verkündet, es sei eigentlich eine gute Sache, dass der Euro schwach wird, dann
muss man sich nicht wundern, wenn die internationalen
Devisenmärkte darauf reagieren und den Euro purzeln
lassen. Das halte ich für einen schwerwiegenden Fehler
des deutschen Bundeskanzlers.
({6})
Jetzt versucht Herr Eichel, den politischen Weichspülgang, den Herr Schröder eingelegt hat, wieder auszuschalten. Es ist eine Frage, wer von beiden gewinnt. Der
Schaden für uns, für Deutschland, für die Bürger, ist schon
eingetreten. Kollege Hoyer hat auf das Referendum in Dänemark hingewiesen. Da geht es um die Frage, ob die Dänen der Einführung des Euro zustimmen. Es wäre fatal,
wenn diese Entscheidung negativ ausfiele.
Natürlich kann der deutsche Bundeskanzler mit seinen
Ausführungen den Euro jetzt nicht wieder ganz schnell
hoch treiben. Das wäre ja eine wunderbare Sache. Er hat
ihn aber mit seinen Redereien heruntergeholt. Das finde
ich sehr negativ.
({7})
Vor diesem Hintergrund kann ich gut verstehen, dass
der Präsident der EZB, Herr Duisenberg, der letzten Konferenz der EU-Finanzminister fern geblieben ist. Da hat es
eine große Aufregung der Finanzminister gegeben. Er hat
damit das klare Signal gesetzt, dass die Europäische Zentralbank - so wie in den Verträgen verankert - ihre Unabhängigkeit verteidigt und sich nicht an den Zügel der Finanzminister oder der Kanzler legen lässt. Das ist eine
gute Sache. Er hat damit ein Zeichen der Unabhängigkeit
gesetzt.
({8})
Zum Schluss noch einen Gedanken: Einen Beschluss
haben die Finanzminister im Ecofin-Rat gefasst, den ich
nicht verstehe und über dessen Korrektur noch einmal diskutiert werden muss. Es geht um die Frage, wann die Bürgerinnen und Bürger im Land das Euro-Bargeld bekommen. Meiner Meinung nach ist es ein Fehler, sich zu
weigern, den Menschen vor dem 1. Januar 2002 den Umtausch zu ermöglichen. Es würde die Umtauschprozedur erheblich entkrampfen, wenn wir nicht alles auf den
1. bzw. 2. Januar 2002 konzentrieren - das ganze Bankensystem droht dann zusammenzubrechen -, sondern
wenn wir den Menschen Gelegenheit geben, den Euro
schon vor 2002, im Dezember 2001, in die Hand zu bekommen. Hier sollten die Finanzminister noch einmal
nachdenken. Das ganze Umtauschverfahren, der Einsatz
der neuen Geldscheine würden erleichtert, wenn die Finanzminister sagen: Jawohl, wir machen es möglich, dass
das Geld bereits im Dezember 2001 umgetauscht wird.
Europa ist nicht nur eine Sache von Mark und Pfennig
und von Euro und Cent. Gerade mit dem Geld muss man
aber behutsam umgehen, wenn man die Europabereitschaft der Menschen im Lande stärken will. Dazu fordere
ich die Bundesregierung auf.
Schönen Dank.
({9})
Das Wort hat nunmehr für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Kollege Dr.
Helmut Lippelt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Hoyer,
vielleicht befriedigt es ja den ehernen Zensor - wie Sie
hier vor uns standen -, wenn ich Ihnen mitteile, dass der
Außenminister am 20. September auf der EXPO am Nationalitätentag der baltischen Länder teilnimmt, dass er
dort die baltischen Außenminister empfängt, dass er am
18. Oktober - das ist dann mehr für Ihre Nachbarfraktion - sogar den Außenstaatssekretär des Vatikans auf der
EXPO empfängt.
({0})
Es ist ja schön, dass Sie den Kalender unseres Außenministers so genau studieren. Sie sollten dann allerdings bei
der Wiedergabe nichts weglassen.
({1})
Lassen Sie mich - bei allem Streit - damit beginnen,
dass wir natürlich alle darin übereinstimmen, dass wir uns
zusammen mit der Göttinger Bevölkerung sehr darüber
freuen, wenn sich die Familie Wallert heute in ihrer Heimatstadt wieder vereinigt.
({2})
Vielen ist dafür zu danken, auch dem libyschen Vermittler, der immer wieder den Weg und die Kontakte zu
den Entführern fand, aber in diesem Zusammenhang insbesondere auch und für uns natürlich den Beamten und
der leitenden Ebene des Auswärtigen Amtes. Denn wer
die lange und zermürbende Geschichte dieser Geiselhaft
verfolgte, der weiß, dass an manchen Punkten Entscheidungen sehr schnell hätten zu Katastrophen führen können. Dass solche Klippen umschifft wurden, ist auch der
Besonnenheit der beteiligten Diplomaten zu verdanken.
({3})
Und nun zum Streit. Sie wären natürlich eine ganz
schlechte Opposition, wenn Sie nicht in den Wunden der
Koalition herumbohren würden. Natürlich - das liegt ja
auf der Hand - mussten Sie über die Widersprüche in der
Rüstungsexportpolitik sprechen.
({4})
Nur, die Fronten sind doch ganz klar: Haben wir vonseiten der CDU - von der CSU muss ich gar nicht sprechen oder zumindest von den Liberalen jemals eine Unterstützung unserer Standpunkte gefunden? Nie, hingegen von
einem großen Teil der SPD sehr wohl. Deshalb bleiben
wir bei unseren Grundsätzen. Darüber müssen wir nun
wirklich diskutieren.
Wir bleiben erstens dabei, dass Rüstung kein beliebiges Wirtschaftsgut ist, sondern ein sehr spezielles Gut,
dessen Export häufig in Form von Kriegen und Bürgerkriegen in den Empfängerländern auf uns zurückschlägt.
Zwei Drittel der Rüstungsexporte - sie steigen im Moment global wieder - gehen auch heute noch in Länder der
Dritten Welt.
({5})
Bekennen Sie sich zu dem Spruch Ihrer Partei und Ihres
Altbundeskanzlers: „Frieden schaffen mit immer weniger
Waffen!“ Arbeiten Sie mit uns zusammen an einer klaren
Restriktion des Rüstungsexports! Dann können wir über
diesen Punkt wieder reden.
({6})
Zweiter Punkt. Es ist doch ganz klar, dass bei Rüstungsproduktion das ökonomische Gesetz der Preisverbilligung durch große Serien nicht gelten kann, dass bei restriktiver Rüstungsexportpolitik Rüstung auch teurer sein
kann, als sie bei ungehindertem Export wäre.
Drittens. Wir haben in der Koalition Rüstungsexportrichtlinien vereinbaren können, über deren Einhaltung wir
immer wachen werden. Dann haben wir eben die Konflikte, an denen Sie sich weiden. Aber das Problem ist für
uns ein noch größeres als das Abschalten der Atomkraftwerke. Auch das müssen Sie sehen. Wenn Sie an der Jahrhundertarbeit der globalen Reduzierung und letztlich des
Verbots von Rüstungsexporten mitarbeiten, dann sollten
Sie hier nicht so eine alberne Tanzerei machen.
Vor allem aber sollten Sie bei meinem vierten Punkt
helfen. Wir brauchen hier im Parlament mehr Transparenz
auf diesem Gebiet.
({7})
Mein letzter Punkt. Wir werden uns von den Rüstungsexportfans in Ihren Reihen nie das Stöckchen hinhalten
lassen, wann die Frage einer Koalitionskrise oder gar eines Koalitionsbruchs ansteht. Das bestimmen immer noch
wir. Einmal stand sie an, und wir sind sehr froh, dass wir
dieses Problem gelöst haben.
({8})
Sie sagen jetzt, Gewehre seien doch noch gefährlicher als
Panzer. Ja, aber nicht jede Frage wird gleich eine Koalitionsfrage. Das wissen Sie ganz genau.
Lieber Herr Lamers, jetzt komme ich auf ein anderes
Ihrer Lieblingsthemen. Jetzt komme ich auf Österreich.
Ich höre immer von Sanktionen. Ich habe auch gehört, es
sei ausgegrenzt worden. Aber was ist denn verabredet
worden? Von den Regierungen der beteiligten Mitgliedsländer ist ein Verhaltenskodex verabredet worden, nicht
Sanktionen im normalen Sinne dieses Wortes. Wer den
Bericht der Drei Weisen liest - ich habe den Eindruck, Sie
haben ihn überhaupt nicht gelesen -,
({9})
der findet hinreichend Anlass zu sagen: Dieser Krach war
nötig. Wenn erstmalig eine klar fremdenfeindliche Partei
in eine Koalitionsregierung eintritt, dann bedarf das allerdings einer Reaktion.
({10})
In Ergänzung des Kollegen Erler lese auch ich etwas
vor. Was fordern die Drei Weisen? Wir fordern die Entwicklung eines „Präventiv- und Überwachungsverfahrens
... innerhalb der EU“, um auf Entwicklungen innerhalb
von EU-Mitgliedstaaten angemessen reagieren zu können. - Hier wird gesagt: Natürlich muss auf solche Sachen
reagiert werden. Wir stellen jetzt fest, dass bei diesem ersten Mal eine Exit-Strategie fehlte.
({11})
Deshalb ist der Bericht der Drei Weisen ein sehr nützliches Instrument. Die beteiligten Regierungen, denke ich,
haben einen sehr nützlichen Konflikt geführt.
({12})
- Wer geht denn hier rein?
Noch eine Bemerkung zum Thema Volksabstimmung. Herr Hintze, Sie waren mit Ihren Worten gar nicht
so weit von mir entfernt. Aber so allgemein geht es nicht.
Deshalb noch einmal: Volksabstimmungen - das vertreten
wir - sind in Fragen des „national destiny“, in Fragen des
Schicksals der Nation abzuhalten. Volksabstimmungen
über andere Länder, über Nachbarn sind reine Arroganz.
Das war der Fehler dieser Äußerung. Ihn hat Herr
Verheugen selber eingesehen. Er hat die berühmte Äußerung gemacht, dass ihm jedes Jahr einmal ein Flop passiert. Gut, damit ist dieses Thema erledigt.
Jetzt kommen wir zu den Verhandlungen über den
Haushalt. Dabei sage ich in Richtung von Herrn Hoyer
und Herrn Lamers: Ich habe mir einmal die Aufstellung
geben lassen. Es geht um den Anteil des Einzelplans 05
am Gesamthaushalt. Ich kann Ihnen sagen, dass der Anteil seit 1980 von damals 0,93, glaube ich, auf etwa
0,7 Prozent gesunken ist. Herr Hoyer, Sie waren doch damals selber in der Exekutive. Ich bilde mir ein, ich hätte
im Ausschuss immer angeboten, dass wir die Interessen
des Auswärtigen Amtes gemeinsam vertreten. Diese billigen Sachen habe ich mir nicht geleistet.
Was ist passiert? Nach 16 Jahren, in der Ihre Fraktionen ihre Regierung nie verteidigt haben, wenn der Haushalt des Einzelplans 05 als Sparbüchse benutzt wurde,
kommen Sie jetzt und verlangen in dem ersten Jahr, in
dem eine Konsolidierungspolitik dringend nötig ist und
gemacht werden muss und bei der der Vizekanzler weiß,
dass er solidarisch mitmachen muss, er solle seinen Bereich nicht im Stich lassen. Nein, der richtige Kampf beginnt erst jetzt.
Ich bedanke mich für Herrn Lamers und Herrn Hoyers
Anmerkung, dass wir da zusammenarbeiten können.
Okay, das Angebot habe ich umgekehrt auch immer gemacht. Jetzt werden wir das Auswärtige Amt stärken.
Damit Sie sehen, dass wir das durchaus anders sehen
können, dass wir auch als Regierungspartei durchaus etwas zu bemängeln haben, hatte ich mir einige Sachen notiert, die Herr Erler vorweggenommen hat. Ich sage noch
einmal: Es ist natürlich eine sehr fiskalische und von
Außenpolitikern überhaupt nicht zu billigende Sache,
wenn im Zusammenhang mit der generellen Zusage zum
Stabilitätspakt jetzt wieder etwas in die Länge gezogen
wird und auch ein bisschen fehlt. Das können wir uns
nicht bieten lassen. Darin sind wir uns, glaube ich, völlig
einig.
({13})
Ich sage noch eines: Die Kosten des Stabilitätspakts,
für vier Jahre finanziert durch eine Finanzierungszusage,
sind geringer, als die EXPO in einem halben Jahr im Moment an Defiziten produziert. Das ist sehr viel weniger.
Wir hätten ganz nebenbei für den Stabilitätspakt noch
mehr Geld übrig, wenn wir das hätten.
Beim zweiten Punkt ist es genau dasselbe. Es ist natürlich völliger Unsinn, wenn das Finanzministerium, nachdem wir die Mittel für Frieden schaffende Konfliktbewältigung durch ein parlamentarisches Verfahren um
20 Millionen DM aufgestockt haben, jetzt kommt und
sagt: Wir gehen von unserem Entwurf für 2000 aus und
erklären die damalige Aufstockung zu einer einmaligen
Sache. Nein, das war nicht einmalig. Hier wird eines der
wichtigsten Instrumente zukünftiger Außenpolitik aufgebaut. Deshalb erwarte ich dringend vom Finanzministerium, dass diese Mittel verstetigt werden und wir beim
nächsten Mal nicht wieder ein parlamentarisches Verfahren anwenden müssen, sondern dass es vom Finanzministerium selbst kommt.
Die Klingel hat geläutet. Herr Präsident, Sie haben
Recht.
Sie haben zu dem üblichen Mittel gegriffen und das rote Licht durch Ihr Manuskript verdeckt. Deswegen die Klingel.
({0})
Ich bedanke mich, Herr Präsident.
Ich möchte gern noch den Hinweis machen, dass in
14 Tagen eine für uns unglaublich wichtige Wahl stattfindet, bei der es sich um das Schicksal einer Nation handelt
und bei der wir den Demokraten Jugoslawiens sagen müssen, dass natürlich im Falle, dass sie sich durchsetzen
- worauf wir alle hoffen - die Sanktionen aufgehoben
werden und der Dialogprozess sofort wieder beginnt. Dies
alles noch einmal zu sagen halte ich für wichtig. Ansonsten bekommen wir ganz schwierige Verhältnisse, zum
Beispiel in Montenegro. Folglich wird der Finanzminister
auch die nötigen Mittel für das eine wie für das andere finden müssen.
({0})
Ich gebe für die
F.D.P.-Fraktion dem Kollegen Professor Dr. Helmut
Haussmann das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der zweite Teil der Debatte gehört der Europapolitik. In meiner knappen Redezeit will ich sagen: Für einen überzeugten Europäer ist
die Halbzeitbilanz dieser Regierung leider sehr enttäuschend. Ich mache es an drei Punkten deutlich.
Erstens. Über Österreich hinaus leidet das traditionell
gute Verhältnis Deutschlands zu den kleinen Staaten, das
von uns immer gepflegt wurde. Die baltischen Staaten, die
Volksabstimmung in Dänemark zeigen: Die Sanktionen
gegen Österreich haben in kleinen Ländern zu der Erkenntnis geführt, dass sich ein großes Land mit einer besonderen Verantwortung für Österreich nicht nur hinter
Frankreich, sondern auch hinter Parteipolitik der Sozialisten und der Grünen in Europa versteckt hat und damit einen Weg gegangen ist, der uns viel Zeit gekostet hat, der
zu durchschnittlichen Ergebnissen der portugiesischen
Präsidentschaft beigetragen hat und der weiter Zeit kosten
wird.
Herr Außenminister, Sie stehen heute vor dem Parlament. Sie müssen vor dem Parlament heute noch erklären,
ob Sie eine Aufhebung der Sanktionen aus Sicht der Bundesregierung für richtig halten. Das wollen wir vor Ihrem
Abflug wissen.
({0})
Zweitens. Das Vertrauen in Deutschland als Anwalt
Osteuropas ist inzwischen leider gestört. Gerade am heutigen Tag ist dies äußerst bedauerlich. Schon die Agenda
2000 in Berlin hat in den Finanzierungsfragen für Kenner
klar gezeigt, dass die Aufnahme Polens im Bereich Agrar
nicht finanziert ist
({1})
und der verbindliche Fahrplan nach wie vor nicht vorliegt.
Es geht nicht, Herr Außenminister, um den detaillierten
Beitrittstermin von Polen, Ungarn oder anderen Staaten,
aber es geht um eine Entscheidung der Bundesregierung,
um einen Fahrplan, unter welchen Bedingungen osteuropäische Staaten in Europa willkommen sind.
Ich kann Sie nur darin unterstützen: Am Ende dieses
Jahres, in Nizza, muss dieser Fahrplan klar sein.
({2})
Er muss ehrlich sein, aber er muss klar sein; denn er sorgt
sonst in den Staaten für empfindliche Rückschritte. Die
F.D.P.-Fraktion hat während ihrer dreitägigen Klausur in
Dresden Vertreter aus Ungarn eingeladen. Es ist ganz
deutlich geworden: In Ungarn wird erwartet, dass die
Bundesregierung dazu beiträgt, dass dann, wenn bestimmte Voraussetzungen da sind, auch Beitrittsfähigkeit
eintritt.
Drittens. Die Bundesregierung und insbesondere der
Bundeskanzler gefährden das wichtigste europäische Projekt, nämlich die gemeinsame Währung. Man sollte sich
keiner Illusion hingeben. Es ist schwierig genug, die Menschen in Deutschland für die Osterweiterung zu gewinnen. Wenn aber die Bundesregierung ihren Beitrag durch
strukturelle Reformen, durch ein Bekenntnis zum starken
Euro nicht leistet, wenn der Euro vor Eintritt als realer
Währung - uns trennen davon weniger als fünfhundert
Tage -, nicht stärker wird, wird die Skepsis gegenüber
weiteren Integrationsschritten in Europa zunehmen. Ich
kann als Ökonom nur sagen: Das Gerede, ein billiger Euro
ist gut für unsere Exporte, ist sehr kurzsichtig.
({3})
Eine Weichwährung gefährdet auf Dauer unsere Wirtschaftsfähigkeit, weil sie suggeriert, wir hätten unsere
Hausaufgaben gemacht.
Wenn die Vereinigten Staaten von Amerika bei einer
Währungsveränderung von 20 Prozent schon jetzt so
wettbewerbsfähig sind, muss man sich die Frage stellen,
ob Deutschland in der Tat wettbewerbsfähig ist. Deshalb
kann ich den Außenminister und auch den Finanzminister
nur dazu auffordern, das Ihre dazu beizutragen, dass der
Euro stärker wird. Wir haben sonst keine Leitwährung.
({4})
Die Entwicklungsländer warten auf eine zweite Leitwährung. Sie warten auf eine Alternative zum Dollar.
Aber in der jetzigen Verfassung ist der Euro dazu zu
schwach.
({5})
Ein Schlüssel liegt in der deutschen Innenpolitik. Beschleunigen Sie die Steuerreform. Setzen Sie die Ökosteuer aus. Killen Sie nicht die Autokonjunktur.
({6})
Dann tragen Sie das Ihre dazu bei, dass der Euro und
damit ein wichtiges Symbolprojekt für mehr europäische
Einigkeit wahr wird.
Danke schön.
({7})
Für die Fraktion der
PDS spricht der Kollege Uwe Hiksch.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte, die unser EU-Kollege
Günter Verheugen über die Frage losgetreten hat, wie
es gelingen kann, die Bürgerinnen und Bürger an dem
schwierigen Prozess der Veränderung der Europäischen
Union zu beteiligen, ist ein wichtiger Beitrag dazu, endlich hier im Hohen Haus und auch bei der Bundesregierung zu erkennen, dass wir die Bürger bei ihren Sorgen
und Nöten angesichts der Veränderungen in der Europäischen Union abholen müssen. Wir müssen darüber reden,
wie die Menschen in den Prozess der europäischen Integration einbezogen werden können und wie man ihre Sorgen über Arbeitslosigkeit und Sozialabbau ernst nehmen
kann. Wir müssen darüber diskutieren, dass eine der vordringlichsten Aufgaben der Regierungskonferenz auch
darin besteht, endlich zu einer Demokratisierung der
Europäischen Union zu kommen.
({0})
Ein Europa, das sich nicht demokratisiert - hier hat
Oskar Lafontaine in seinen jüngsten Äußerungen absolut
Recht gehabt -, das es nicht schafft, einfache, für die Menschen verständliche Entscheidungsprozesse zu organisieren, und das wegen des heute vorhandenen Vetorechts von
einzelnen Staaten blockiert werden kann - weshalb es
Mehrheitsentscheidungen als Regelprinzip braucht -,
wird ein Europa sein, bei dem die Menschen nicht mitmachen wollen.
Das Interessante an der Kritik an Günter Verheugen
war vor allen Dingen, dass die Mehrheit der Kritiker nur
darauf hingewiesen hat, dass der Beitritt der mittel- und
osteuropäischen Staaten nicht möglich sei, wenn Volksentscheide kämen. Was heißt denn das? Die Menschen
sind noch nicht von der europäischen Idee überzeugt. Daran müssen wir arbeiten. Deshalb macht die PDS-Bundestagsfraktion immer wieder deutlich, dass im Mittelpunkt der europäischen Politik die zentralen Fragen
stehen müssen: Wie kann über die Europäische Union Arbeitslosigkeit bekämpft werden und wie kann - diese
Frage stellen wir national, regional und auch auf europäischer Ebene - ein öffentlicher Beschäftigungssektor
aufgebaut werden, der den Staat wieder ernst nimmt und
dafür sorgt, dass sich die Politik endlich darum kümmert,
dass jeder Mensch ein Recht auf Arbeit hat?
({1})
Zum Zweiten geht es darum, dass die Menschen als
Ehrenamtliche - sei es in den Wohlfahrtsverbänden, sei es
in Initiativen - eine Antwort auf den Versuch der EUKommission wollen, die Ökonomisierung der sozialen
Dienstleistungen durchzusetzen. Wir müssen darüber
diskutieren, dass die Privatisierung des öffentlichen Personennahverkehrs sowie von Wasser und Abwasser kein
Ziel europäischer Politik werden darf und dass Altenheime und all das, was in der Bundesrepublik aus der Geschichte unseres Landes heraus entstanden ist, nämlich
ein starker, von Wohlfahrtsverbänden getragener sozialer
Bereich, nicht einfach dem Wettbewerb unterworfen werden dürfen. Auch wenn die PDS-Bundestagsfraktion
Wettbewerb als richtig und wichtig ansieht, werden Privatisierungsorgien, wie sie zum Teil von der Bundesregierung betrieben und zum Teil von der EU-Kommission
angedacht werden, und der Versuch, unser bewährtes System der Wohlfahrtsverbände zu zerschlagen, eindeutig auf
unseren Widerstand treffen. Wir verteidigen die sozialen
Dienstleistungen und treten deshalb für einen starken öffentlichen Sektor ein.
({2})
Als Drittes wird die PDS-Bundestagsfraktion dafür
kämpfen, dass Europa so verstanden wird, wie es einmal
gegründet wurde: als Zivilmacht und nicht als Militärmacht.
({3})
Wer sich anschaut, wie zwischenzeitlich leider auch bei
Bündnis 90/Die Grünen und SPD über die Militarisierung Europas diskutiert wird, gewinnt den Eindruck, dass
das, was uns Willy Brandt einmal vorgegeben hatte, die
Betonung des Primats des Politischen in der Außenpolitik, von der Regierungskoalition vergessen wurde und
dass nur noch der Primat der Stärke und der Waffen gesehen wird.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, wenn Sie den Kommentar lesen, den Ihre verteidigungspolitische Sprecherin Verena Wohlleben geschrieben hat, dann müssten Sie sich eigentlich schämen, dass
im Namen der Sozialdemokratie so etwas geschrieben
wurde. Verena Wohlleben schreibt, heute gelte wie eh und
je die Feststellung von Vegetius aus dem 4. Jahrhundert
vor Christus: „Wenn du den Frieden haben willst, sei
kriegsbereit.“ Was für Worte! In diese Worte passt natürlich, dass die rot-grüne Bundesregierung mittlerweile
Rüstungsexporte in die Türkei - seien es Panzer, sei es
eine Waffenfabrik - als normal empfindet. Meine lieben
Grünen, auch Sie, Herr Außenminister Fischer: Wenn Sie
noch einigermaßen wüssten, was Sie vor wenigen Jahren
hier im Hause gesagt haben, dass nämlich Rüstungsexporte an die Türkei ein Skandal seien, müssten Sie sich für
die heutige Politik schämen.
Wir treten dafür ein, dass die Europäische Union und
die Politik der Bundesrepublik Menschenrechte ernst
nehmen muss. Es muss gelingen, die GrundrechtsCharta rechtsverbindlich zu verankern. Vor allen Dingen
muss es darum gehen, dass in der Bundesrepublik nicht
die Wirtschaftsinteressen an erster Stelle stehen und die
Fragen der Menschenrechte, der zivilen Verteidigungspolitik sowie die Forderung, dass nicht das Militär,
sondern die Außenpolitik zu gelten hat, endlich wieder in
den Mittelpunkt kommen. In diesem Sinne wollen wir Europa als zivile Gegenmacht gegen Militarismus und gegen
jede Form von international ungezügelten Kapital- und
Finanzströmen. Die PDS kämpft für ein Europa der Menschen und nicht - wie leider zwischenzeitlich die rotgrüne Bundesregierung - für ein Europa, das nur noch die
Ökonomie kennt.
Danke schön.
({5})
Ich gebe das Wort
dem Staatsminister im Auswärtigen Amt Dr. Christoph
Zöpel.
({0})
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Die letzten Wochen und auch diese Debatte
sind von der notwendigen Forderung nach mehr europäischer Öffentlichkeit bestimmt. Ich stimme dem zu. An
den kritischen Anmerkungen, dass sie an vielen Punkten
in Europa fehlt, ist viel dran. Sie fehlt auch im Ministerrat. Noch stärker fehlt sie zwischen den Ländern; am
stärksten fehlt sie zwischen den Ländern, die bereits in der
EU sind, und denen, die in die EU kommen wollen.
Bevor man darüber nachdenkt, wie man weiterkommt
und was bereits passiert ist, ist es wichtig, sich zu verdeutlichen, welche Kommunikation, welche Öffentlichkeit und mit welchem Ziel dies notwendig ist. Die Debatte
über mehr europäische Öffentlichkeit macht nur dann einen Sinn und gibt nur dann eine richtige Orientierung,
wenn sie in eine durch Wahlen erfolgende Legitimation
europäischer Politik, in die parlamentarische Wahl und
parlamentarische Kontrolle einer europäischen Exekutive
mündet.
({0})
Wenn das in den nächsten zehn Jahren nicht gelingt, nützt
es auch nichts, zu fordern, wir müssten mehr diskutieren.
Ich betrachte das als ziemlich zukunftsgerichtete
Grundorientierung. Ich sehe an einzelnen Punkten der Debatte Fortschritte, und manches mag Sie jetzt vielleicht
überraschen. Unter Umständen ist die gegenwärtige Debatte über den Euro - über seinen zu niedrigen oder zu
hohen Wert, je nach Blickrichtung, denn jeder Ökonom
wird zugeben, dass es verschiedene Aspekte gibt - die
erste wirkliche europaweite Debatte über ein konkretes
europäisches Problem. Dann ist sie ein Fortschritt.
Sie wird die Forderung nach sich ziehen - darüber kann
es gar keinen Zweifel geben -, zu fragen: Welches sind die
geeigneten Institutionen und welche geeigneten Kontrollmöglichkeiten gibt es, um den Euro zu stärken und
stabiler zu machen? Es ist immer schwierig, sich dazu
zu äußern. Herr Kollege Hintze und Herr Kollege
Haussmann, nehmen Sie es mir nicht übel: Wenn die
Märkte, auf denen der Euro gehandelt wird, Sie sehr ernst
nähmen, was würde nach dem, was Sie hier gesagt haben,
wohl passieren?
({1})
Ein weiterer Punkt ist die Debatte über die österreichische Innenpolitik. Ich denke, sie war nützlich für
Europa. Sie hat europäische Werte herausgearbeitet. Ich
glaube, sie wird die Umsetzung des europäischen Grundrechtskatalogs erleichtern, dessen Erarbeitung ein großes
Verdienst ist.
({2})
Sie war eine notwendige Debatte. Sie war vielleicht ein
wenig ein Anachronismus, weil es hier insofern bereits
um europäische Innenpolitik geht, als man nicht will, dass
in Europa an Regierungen Parteien beteiligt sind, die
fremdenfeindlich sind.
({3})
Aber ein letztes Mal: Wegen des Zustandes der europäischen Institutionen musste das mit diplomatischen
Mitteln gemacht werden. Diplomatie und Öffentlichkeit
schließen sich doch vielfach aus. Das ist ein Problem der
Debatte.
Herr Kollege Zöpel,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Irmer?
Selbstverständlich, immer.
Herr Staatsminister Zöpel, Herr
Haussmann hat eben den Außenminister aufgefordert, zu
erklären, wie es die Bundesregierung jetzt mit den Sanktionen gegen Österreich hält. Nachdem mit Ihrer Person
wiederum ein Vertreter der Bundesregierung am Rednerpult steht, möchte ich Ihnen die Frage stellen: Was gedenkt die Bundesregierung jetzt, nach dem Bericht der
Weisen, mit den Sanktionen gegen Österreich zu tun?
Wollen Sie sie aufheben, ja oder nein, und, wenn ja,
wann?
Kollege Irmer, ich kann Ihnen nach Rücksprache
mit dem Bundeskanzler die Antwort geben, die auch notwendig ist: Wir wollen es der französischen Präsidentschaft überlassen - natürlich nach Konsultationen mit allen Mitgliedstaaten einschließlich Deutschlands -, die
Entscheidung bekannt zu geben. Alles andere als der
engste Schulterschluss zwischen Frankreich und Deutschland in dieser Frage wäre ein fataler Fehler der deutschen
Politik.
({0})
Die Debatte, die durch einen solchen Fehler ausgelöst
würde, würden Sie nutzen, um eben diesen Fehler zu
geißeln. Das wissen wir von Anfang an. So bleibe ich bei
meiner Antwort: Wir überlassen es - nach Konsultationen - der französischen Präsidentschaft, die Entscheidung
der 14 EU-Mitgliedstaaten bekannt zu geben.
({1})
Gestatten Sie eine
zweite Zwischenfrage?
Ich möchte eigentlich gerne weiterreden.
Ich bin jetzt sehr konkret auf die Europapolitik eingegangen. Herr Kollege Hintze, eines nehme ich Ihnen persönlich übel, nämlich die Bemerkung, die Bundesregierung habe Sie über die Osterweiterung in den Ausschüssen nicht zulänglich informiert. Ich kenne keine einzige Frage aus den letzten 12 Monaten, die ich Ihnen nicht
so ausführlich beantwortet habe, dass sich manche schon
gewundert haben, wieso ich so ausführlich war. Das ist die
Realität.
({0})
Jetzt möchte ich auf das Konkrete, was in der Europapolitik seit Ende 1998 durchgesetzt und fortgesetzt wird,
eingehen.
({1})
- Ich muss mir nicht den Vorwurf machen lassen, dem
Parlament zu knapp berichtet zu haben. Ich habe eher zu
ausführlich über das berichtet, was ich in einer transparenten Demokratie für notwendig gehalten habe. Ich bin
leidenschaftlich für Transparenz im Parlament und sogar
im Ministerrat der EU.
({2})
Wir haben in Helsinki und während der portugiesischen Präsidentschaft Fortschritte gemacht. Wir stehen
jetzt unter der französischen Präsidentschaft vor der Notwendigkeit, die Voraussetzungen für die Osterweiterung
zu schaffen. Unsere Linie ist, mit all unserem Tun Frankreich zum Erfolg zu verhelfen. Das ist das Klügste und
Notwendigste, was auch Sie immer gefordert haben. Das
werden wir in der effizientesten Form auch tun. Ich bin
sicher, es wird einen Vertrag geben, mit dem sich das
schaffen lässt. Der Vertrag wird in einigen Punkten weiterweisen. Der Bundeskanzler hat darauf hingewiesen,
etwa 2004 sei ein geeigneter Zeitpunkt, über eine europäische Grundordnung zu sprechen, die mehr Öffentlichkeit, mehr Demokratie und auch Kompetenzabgrenzungen bringt. Dann können wir mit der Osterweiterung
weitermachen.
Das Wichtigste der Osterweiterung für Deutschland
ist für mich in der bisherigen deutschen Debatte zu kurz
gekommen: Die Osterweiterung ist aus deutscher Sicht
nicht allein ein Vorgang der Ausdehnung der Marktwirtschaft nach Osteuropa und der Übernahme des Acquis.
Die Osterweiterung - wer etwas anderes behauptet, macht
einen Fehler - ist auch die historische Aufgabe der Aussöhnung Deutschlands mit Polen und Tschechien.
({3})
Es ist jetzt die Stunde gekommen, der Aussöhnung
Deutschlands mit Frankreich, um die wir weiterhin ringen - meine eben gemachten praktischen Hinweise waren
ein Zeichen dafür -, diese Aussöhnung folgen zu lassen.
Wer etwas anderes behauptet, der wird die Chance, die in
der Osterweiterung liegt, nicht nutzen. Konkrete Fortschritte sind bereits deutlich geworden: In der Helsinkigruppe ist ein Großteil der Kapitel und in der Luxemburggruppe sind alle Kapitel mit den Staaten eröffnet
worden. Die ersten sind abgeschlossen. Aber ein Kapitel
öffnen und abschließen heißt: Im Augenblick geht es um
die Übernahme des Acquis.
Eine realistische Einschätzung ist - jeder, der sich damit beschäftigt, wird das so sehen -, dass die Gespräche
über den Acquis und seine Übernahme mit den entsprechenden Ländern etwa zu dem Zeitpunkt abgeschlossen
sein werden, wenn Nizza von den 15 EU-Staaten ratifiziert wird. Dann wird nur noch über wenige zentrale
Punkte zu diskutieren sein, nämlich zum Beispiel über die
Fragen der Übergangsbestimmungen und der Finanzierung. Ich glaube, dass es Sinn macht, wenn über die
Übergangsbestimmungen, die für die, die schon Mitglied
in der EU sind, und für die, die noch hineinkommen wollen, von Bedeutung sind, sensibel gesprochen wird. Für
mich stehen die Übergangsbestimmungen in einem sehr
engen Zusammenhang mit der Idee der Versöhnung. Versöhnung ist auch Gewöhnung. Gewöhnung bedeutet in
einzelnen Fällen auch Übergangsbestimmungen; sei es
wegen der Befürchtungen der Polen beim Erwerb von
Grundstücken, sei es - zum Glück abnehmend, weil immer bewusster wird, dass die Zahl der Menschen und auch
die Zahl der Erwerbskräfte in Deutschland abnimmt - bei
der Frage der Zuwanderung von Arbeitskräften. Das mag
dann nach 2002 geschehen. Dann wird sich auch die Frage
der Finanzierung noch einmal stellen.
Die Agenda 2000 ist doch klug gemacht: In der Mitte
ihrer Laufzeit ist eine Revisionsklausel vorgesehen. Sie
liegt genau an dem Punkt, wo die harten Verhandlungen
über diese Themen beginnen. Die Revisionsklausel hat
man vorgesehen, um neu nachdenken zu können. Das verbindet sich dann mit der Debatte um die Agrarpolitik, die
man fair führen muss. Dass die polnische Agrarwirtschaft
noch nicht den Entwicklungsstand der deutschen Agrarwirtschaft erreicht hat, wissen die Polen so gut wie wir.
Aber dass insgesamt die Agrarwirtschaft der Welt im Interesse vieler ein wenig geändert werden muss, weiß jeder, der schon einmal das Stichwort Agrarverhandlungen
im Rahmen der WTO gehört hat. Auch dies wird etwa
nach 2002/03 zusammenlaufen.
Dann werden wir ratifizieren müssen, und dann zeigt
sich etwa in der Mitte dieses Jahrzehnts - der Außenminister hat mutig, wenn ich das so sagen darf, 2005 genannt -, ob es die meisten der ersten acht osteuropäischen
Staaten und sicherlich mit Sonderüberlegungen Zypern
und Malta - das will ich hier nicht vertiefen, das weiß jeder - geschafft haben. Das ist dann eine Erweiterung um
70 Millionen Menschen. Das ist ein historischer Schritt.
Ich glaube, es ist nichts verzögert, es geht voran.
Ich erlebe bei den Hunderten von Gesprächen, die ich
mit verschiedensten Gesprächspartnern führe, immer
mehr Zustimmung dazu, dass dieser Prozess recht objektiv beschrieben werden kann. Es kann in der zweiten
Hälfte dieses Jahrzehnts dazu kommen, dass es auch den
Rumänen und Bulgaren gelingt hinzuzustoßen. Es wäre
wunderbar - eine Hoffnung im Hinblick auf die Wahlen
in den nächsten Tagen, die Herr Kollege Lippelt genannt
hat, steht damit im Zusammenhang -, wenn im Laufe dieses Jahrzehnts auch mit den restlichen Europäern nordwestlich von Athen bzw. westlich der Grenze der ehemaligen Sowjetunion gesprochen werden kann.
Ich sehe hier klare und deutliche Perspektiven und
schließe mit dem, womit ich begonnen habe: Das bedarf
einer gesamteuropäischen Kommunikation. Wer über
Polen oder Tschechien kommuniziert, sollte sich immer
überlegen: Wie hören die das? Das ist meine Sorge.
({4})
Ich war vorhin mit einer Polin, die ich besonders schätze,
mit der polnischen Botschafterin in Wien, zusammen.
({5})
- Eben. Sie ist im selben Krankenhaus geboren wie ich,
so etwas verbindet.
({6})
- Zehn Jahre später!
Sie hat mir erzählt, Sie habe den Gedanken, zunächst
in Österreich - weil sie dort eben Botschafterin ist - einen
österreichisch-polnischen Journalistenpreis auszusetzen.
Ich halte das für einen hervorragenden Gedanken. Wir
sollten auch darüber sprechen, wie wir es honorieren können, wenn so sensibel wie möglich über die Menschen geschrieben wird, mit denen wir uns versöhnen müssen. Das
ist für mich die große Herausforderung europäischer
Kommunikation, die sich uns stellt und an der wir alle
mitwirken müssen. Wir müssen bei jedem Reden über die
Staaten, die beitreten wollen, fragen: Wie wirkt das bei ihnen? Dann kann man mit ihnen auch viel offener reden.
Dann leisten wir etwas in diesem Jahrzehnt.
Ich glaube, wir haben dabei Fortschritte gemacht. Die
Weise, in der Sie mir zugehört haben, hat mich beeindruckt. Ich habe das Gefühl, Sie sind mit mir in dieser
Notwendigkeit einer Meinung.
Herzlichen Dank.
({7})
Zu einer Kurzintervention erhält das Wort der Kollege Peter Hintze.
Herr Zöpel, Sie haben
eben eine Ausführung, die ich hier im Bundestag gemacht
habe, angegriffen und bestritten. Der intellektuellen Redlichkeit wegen will ich doch einmal kurz den Sachverhalt
darstellen.
Wir fühlen uns von Ihnen persönlich auf die von uns im
Ausschuss gestellten Fragen zu den von uns angesprochenen Komplexen immer fair, gut und zügig unterrichtet. Ich habe hier einen anderen Komplex angesprochen,
möglicherweise war er Ihnen nicht präsent - ich werde es
mir jetzt auch verkneifen, auf die amtsinternen Auseinandersetzungen einzugehen, wer für was zuständig ist -: Es
gibt im Zusammenhang mit der Osterweiterung mittlerweile mehrere Hundert Verhandlungsdokumente in den
einzelnen Kapiteln über die einzelnen Länder, die die
Bundesregierung freundlicherweise im Rahmen der guten
Zusammenarbeit den Bundesländern zur Verfügung stellt.
Ich habe hier angesprochen, dass es auch das gute Recht
des Deutschen Bundestages wäre, wenn der Fachausschuss, wenn wir als Opposition die Gelegenheit hätten,
alle diese Dokumente zu bekommen, um nicht schlechter
als die Bundesländer gestellt zu werden. Das ist ein parlamentarisches Anliegen, das ich aus dem allgemeinen parteipolitischen Streit heraushalten wollte. Das wollte ich
hier ansprechen. Ich bitte darum, in diesem Punkt keinen
falschen Widerspruch aufkommen zu lassen.
Schönen Dank.
({0})
Zur Erwiderung der
Kollege Zöpel.
Ich habe inzwischen auf jede entsprechende Bitte im
Ausschuss reagiert, indem ich festgestellt habe: Sie bekommen diese Unterlagen. Das sage ich auch hier, immer - aber nur zur Absicherung - mit dem Hinweis: Es
gibt manchmal - aber viel seltener, als man glaubt - eine
verfassungsrechtliche Restriktion. Wenn es die nicht
gibt - ich sehe sie nicht -, dann bekommen Sie, wie von
mir jedes Mal zugesagt, jedes von Ihnen gewünschte PaStaatsminister Dr. Christoph Zöpel
pier im Rahmen der Osterweiterung. Dies habe ich hiermit erneut zugesagt.
({0})
Nun gebe ich dem
Kollegen Dr. - - , dem Kollegen Christian Schmidt,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
- Man kommt bei den Doctores und bei den Professoren
schon ein bisschen durcheinander. Da gibt es auch Honorarprofessoren und andere. Also, der Kollege Schmidt hat
das Wort.
Herr Präsident! Ohne die Gepflogenheit zu missachten, den präsidierenden Kollegen in irgendeiner Weise in die Debatte
einzubeziehen, stellt sich natürlich auch die Frage, in welcher Funktion der Kollege vor mir in der Tat gesprochen
hat und ob Sie die Dauer seines Beitrags nicht eigentlich
auf die Redezeit der SPD-Fraktion anrechnen müssten.
Ich darf sagen: Ich habe die Art und Weise sehr geschätzt, wie Staatsminister Zöpel in einem Bereich, für
den er, wenn ich recht weiß, nicht mehr zuständig ist, geantwortet hat. Manchmal lassen Äußerungen - auch diejenigen, die Kollege Hintze angesprochen hat - von anderer Seite der Bundesregierung Schärfe, Deutlichkeit
und Klarheit vermissen. Es gibt in der Tat eine ganze
Reihe von Fragen, die wir angesprochen haben, von den
Fragen der beabsichtigten Übergangsregelungen bis hin
zu manchen anderen Dingen, über die dieses Parlament,
das als Verfassungsorgan in der repräsentativen Demokratie ausgehandelten Verträgen mit einer entsprechenden
Mehrheit zuzustimmen hat, gerne rechtzeitig informiert
würde. Das ist ein Stück Bürgernähe und Demokratieverständnis, das notwendig ist. Es hat ganz und gar nichts mit
dem zu tun, was Herr Kollege Zöpel angesprochen hat.
Ich will einen Punkt aufgreifen, den er genannt hat. Er
hat den Schwerpunkt auf die Osterweiterung und gerade
auf unsere Nachbarländer gelegt. Es ist in der Tat eine
ganz entscheidende Frage, wie die Wirkung unserer Position auf Polen, auf die Tschechische Republik und auf
Ungarn gesehen wird; allerdings - ich gestatte mir, das
dazuzusagen - gilt es auch zu berücksichtigen, wie die
Wirkung der Fragestellungen auf unsere eigenen Bürger
ist.
Der Kollege Verheugen hat schon vor Monaten Fragestellungen aufgeworfen, beispielsweise die der Konsequenz der Freizügigkeit, die mich vermuten lassen, dass
seine Äußerung nicht ein rechter Ausrutscher war, sondern eigentlich in der Konsequenz seines Denkens liegt.
Ich bin sehr dafür, dass wir keine Unklarheit aufkommen
lassen und dass wir die Osterweiterung der Europäischen Union als eine politische Jahrhundertaufgabe ansehen, an der wir alle arbeiten.
({0})
Ich bin aber auch sehr dafür, dass wir unser Volk, die
Bürger, die uns gewählt haben, unsere Mitbürger, in die
Politik so ernsthaft einbeziehen, dass wir uns auch der
Mühe unterziehen, zu argumentieren, wie notwendig die
Integration Polens, Tschechiens und Ungarns ist. Es mag
dann natürlich das eine oder andere Thema geben, über
das vertieft gesprochen werden muss und bei dem es Diskrepanzen gibt, die aus dem Weg geräumt werden müssen.
Die Agenda 2000 wurde bereits angesprochen. Den
Bürgern bei uns ist nicht klar, wie die Finanzierung der
Erweiterung der Europäischen Union vonstatten geht. Sie
sehen nur, dass die Beträge, über die in Berlin damals verhandelt worden ist, nicht ausreichen. Ich will gar nicht allein von der polnischen Landwirtschaft reden. Wir haben
eine ganze Reihe von Defiziten. 68 Milliarden DM für die
Beitrittsländer ist zu wenig. Die Frage ist: Wie löst sich
das Problem der Defizite?
Der luxemburgische Ministerpräsident Juncker hat ja
nun vor einiger Zeit nicht gerade freundliche Sätze über
den Europäischen Rat gesagt, als er über die Art und
Weise gesprochen hat, wie die Verhandlungen ablaufen
und wie intensiv bzw. weniger intensiv Vorlagen gelesen
werden. Es lohnt sich schon, die Agenda 2000 noch einmal zu lesen. Ich befürchte, dass sie auch damals einige
nicht ganz gelesen haben.
Der Bundeskanzler hat in einer Situation, in der er von
Europa noch recht wenig Ahnung hatte - noch weniger,
als er gegenwärtig hat -, seine Zustimmung zu Entscheidungen gegeben, bei denen eine deutsch-französische Kooperation nötig gewesen wäre. Ich will nur noch einmal
das Thema Kofinanzierung ansprechen. Diese ist kein
Heilmittel, aber notwendig.
Wo ich schon bei den deutsch-französischen Beziehungen bin, möchte ich noch ein Vorgehen ansprechen,
das nicht unwidersprochen bleiben kann. In Bezug auf das
Vorgehen gegen Österreich wird das Argument gebracht, es sei dringend erforderlich, dem deutsch-französischen Verhältnis in dieser Frage die Priorität einzuräumen. Jawohl, es ist richtig, dass das deutsch-französische
Verhältnis in allen Bereichen ein Schlüsselverhältnis für
das Gedeihen der europäischen Integration ist. Das kann
aber nicht heißen, dass in solchen Fragen wie in denen der
Behandlung von Mitgliedstaaten der Europäischen Union
einer französischen Einlassung - wenn es denn so war mit gewisser deutscher Unterstützung der Weg gebahnt
wird, Deutschland jetzt aber nicht bereit ist, die Initiative
zu ergreifen - diese muss ja nicht coram publico stattfinden - und zu sagen: Meine lieben französischen Freunde,
ich glaube, wir müssen hier einen Ausweg finden. Der
Ausweg, der jetzt in Form einer Brücke, die der Bericht
der Drei Weisen baut, geboten wird, wäre da. Unter Ziffer
115 findet sich sogar etwas, durch das sich diejenigen bestätigt fühlen können, die immer noch meinen, die Sanktionen hätten irgendetwas Positives bewirkt, und was man
aufnehmen könnte.
({1})
Ich wiederhole das, was Kollege Haussmann gesagt
hat: Ich fordere den Außenminister auf, sich hier und jetzt,
bevor er zur Generalversammlung der Vereinten Nationen
nach New York entschwindet, hinzustellen und zu sagen,
ob er wie sein dänischer Kollege und entsprechend der
gestrigen Ankündigung von Herrn Moskovici bereit wäre,
die Sanktionen aufzuheben.
({2})
Ich möchte da schon noch einmal auf die Feinheiten Ihrer
Argumentation eingehen. Es geht nicht, zu sagen, das sei
keine Angelegenheit der portugiesischen Präsidentschaft;
deren Briefpapier sei nur versehentlich verwendet worden; es handle sich hierbei vielmehr um Einzelentscheidungen der 14 Staaten. Ich kann mich gut daran erinnern,
wie wir in der Fragestunde hier standen und wie unsere
mündlichen Fragen von Herrn Staatsminister Volmer in
einer sehr herablassenden Art und Weise beantwortet und
korrigiert wurden.
({3})
Es ist nun so, dass jeder für sich entscheiden kann, denn
es betraf nur die bilateralen Beziehungen. Herr Fischer,
seien Sie mutig, nehmen Sie die bilateralen Beziehungen
zu Österreich wieder auf, entschuldigen Sie sich anständig und sagen Sie: „Ich habe Blödsinn gemacht; ich will
versuchen, das nicht mehr zu tun.“ Dann passt die Sache.
({4})
- Nein, so einfach ist es nicht. Ich möchte Ihnen ganz
ernsthaft sagen: Gehen Sie einmal nach Österreich und
sprechen Sie mit Ihren Genossen. Fragen Sie sie - vielleicht in zwei bis drei Jahren, wenn sie ihre Wahlniederlage verdaut haben -, ob Sie ihrem Lande etwas Gutes getan haben.
Ich habe es vorhin in allem Ernst als Zwischenruf eingebracht. Wenn bei den anstehenden Kommunalwahlen in
Belgien jetzt der Stimmenanteil des Vlaams Blok in
Antwerpen oder sonst wo möglicherweise noch zunimmt
- davor besteht ja Furcht -, dann muss man das auch an
der Fragestellung messen, ob denn solche Sanktionen etwas nützen oder nicht. Wenn Herr Haider jetzt öffentlich
triumphiert, dann ist das eine Konsequenz Ihrer Schnapsideepolitik mit diesen komischen Sanktionen.
({5})
Eigentlich wollte ich ja mit einem Lob anfangen. Das
Lob bezog sich auf die Botschafterkonferenz, die Sie,
Herr Außenminister, durchgeführt haben, und auf die Reden, die dort bezüglich der Perspektiven des auswärtigen Dienstes gehalten worden sind. Ich finde, das passt
durchaus da hinein. Ich möchte Sie nämlich darin bestärken, dass Sie den auswärtigen Dienst bei der notwendigen
Reform mit einer entsprechenden parlamentarischen Begleitung, die wir anbieten, unterstützen. Lassen Sie sich
vom Finanzminister nicht die Butter vom Brot nehmen.
({6})
Er geht ja inzwischen nicht nur so weit, dass er Ihnen Stellen streicht - ab und zu gibt Ihnen der Haushaltsausschuss
ein paar Stellen, die Sie gar nicht wollten; vielleicht versuchen Sie das auch in diesem Jahr -, sondern sogar noch
weiter. Wenn der Finanzminister sagt, die EU-Länder
bräuchten untereinander keine diplomatischen Vertretungen mehr, dann sollten im diplomatischen Dienst und
auch bei unserer Außenpolitik alle Alarmglocken läuten.
Die Vertretungen sind nicht nur ein Teil europäischer Innenpolitik, sondern auch ein Teil der Darstellung der Bundesrepublik Deutschland nach außen. Wenn es in Österreich keine Botschaft mehr gegeben hätte, dann hätten Sie
niemanden mehr gehabt, der nach Ihrer Version überhaupt
noch mit Österreich hätte reden dürfen. Seien Sie also
dankbar, dass wir in Österreich eine Botschaft mit sehr
verdienten Mitarbeitern haben, die anständig und gut gearbeitet haben.
({7})
Wir stimmen in Bezug auf die Reform des auswärtigen
Dienstes auch zu, dass dieser zahlenmäßig nicht reduziert
werden darf - ich will das noch einmal ansprechen - und
dass wir dabei eine Art Generalrevision durchführen müssen, nicht weil das Gesetz über den auswärtigen Dienst
aus dem Jahre 1990 nicht mehr gut wäre, sondern weil
sich die politischen und technischen Realitäten geändert
haben. Wenn es aber stimmt - da ist die Zahl wohl einigermaßen zutreffend -, dass zahlenmäßig gerade einmal
die Hälfte der Diplomaten, die Frankreich oder Großbritannien in seinem Dienst hat, die gleiche Arbeit für das
größere Deutschland leisten muss, dann zeigt das erstens
die Arbeitsbelastung unserer Diplomaten und zweitens
die Notwendigkeit, diese Arbeit neu zu definieren und in
eine neue Politik mit einzubeziehen. Ich befürchte, allein
mit der klassischen Vorstellung vom Diplomaten wird bei
keinem Finanzminister die Geneigtheit bestehen, mehr
Geld locker zu machen.
Das heißt, die Motivation muss gestärkt werden, die
Aufgaben müssen neu definiert werden. Die Motivation
leidet allerdings dann, wenn beim internen Stellenkegel
und vor allen Dingen bei den politischen „guidelines“, bei
den Richtlinien, Schwierigkeiten bestehen. Auf diese
muss man noch einmal zu sprechen kommen.
Da geht es beispielsweise um die Frage: Wie wird eigentlich mit Russland umgegangen? Wie wird mit dem
transatlantischen Verhältnis umgegangen? Wo ist da die
Orientierung? In Ihrer Rede finde ich sehr wenig zu dieser Frage; Sie haben es zum Schluss kurz angesprochen.
Ich finde auch keine Beschäftigung mit den Schwierigkeiten, die insbesondere in Russland auftreten, nachdem
Herr Putin in gewissen Bereichen seines politischen Verhaltens einen Weg eingeschlagen hat, der mit Demokratie
nichts mehr zu tun hat. Hier muss etwas passieren. Hier
muss auch im auswärtigen Dienst - nicht nur auf
Christian Schmidt ({8})
Botschafterkonferenzen - klar werden, dass wir eine Regierung brauchen, die in diesen Fragen eine klare Zielstellung hat. Unsere Regierung hat sie nicht und das ist bedauerlich.
Etwas Versöhnliches zum Schluss - wenn es nicht so
traurig wäre, könnte man darüber lachen -: Offensichtlich
neigt der Weltstaatsmann Schröder dazu, sich zum Dollar
zu äußern. Erst hilft er mit, den Euro nach unten zu reden,
und nun versucht er anscheinend, auch den Dollar nach
unten zu reden. Wie könnte es sonst sein, dass im Haushaltsentwurf für den Beitrag an die Vereinten Nationen
von 308 Millionen US-Dollar ein Wechselkurs von
1,88 DM zugrunde gelegt wird?
({9})
Nach dem heutigen Wechselkurs wären das rund 700 Millionen DM. Das Haushaltsrisiko von rund 120 Millionen DM versucht der Bundeskanzler offensichtlich persönlich mit flotten, lockeren Sprüchen zu lösen, indem er
die Wirtschaft nach unten redet.
({10})
Ich gebe das Wort
dem Kollegen Günter Gloser für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn man so manche Zwischentöne in der heutigen Debatte ein bisschen
beiseite schiebt, dann glaube ich, feststellen zu können,
dass es in wichtigen Fragen der Außen- und Europapolitik einen Grundkonsens gibt. Ich erwähne ausdrücklich, Herr Kollege Hintze, dass Sie vorhin gesagt haben
- ich denke, Ihre Aussage hat nicht nur heute, sondern
auch morgen und übermorgen Bestand -, die CDU/CSUBundestagsfraktion wolle den Erfolg beider Projekte, also
den Erfolg bei der Regierungskonferenz in Nizza und den
Erfolg im Rahmen der EU-Erweiterung. Das ist ein gutes
Zeichen. Im Deutschen Bundestag - auch als Sie damals
regiert haben - gab es in Grundfragen immer schon einen
Konsens.
Es ist vorhin schon gesagt worden - und ich komme
darauf zurück -: In der Mitte der Legislaturperiode ist es
Zeit, eine Art Zwischenbilanz zu ziehen. Ich darf in diesem Zusammenhang ein paar kritische Anmerkungen zu
den Vorwürfen machen, die die jetzige Opposition uns damals gemacht hat: Wir würden Deutschlands Interessen
schaden; wir seien kein verlässlicher Partner; wir hätten
die deutsch-französischen Beziehungen gestört. Ich muss
dazu sagen: Sie haben sich eine Scheinwelt aufgebaut. Sie
haben Ihre Meinung in der Zwischenzeit an bestimmten
Stellen auch schon korrigieren müssen. Die deutsch-französischen Beziehungen funktionieren gut. Sie sind der
Motor der europäischen Einigung.
({0})
Ich halte es für einen Wert an sich, dass unter der Regierung Schröder/Fischer der Weg der europäischen Integration kontinuierlich weitergegangen wird. Wir sind
ein berechenbarer Partner geblieben und bleiben es auch
in der Zukunft. Wir haben sehr viele wichtige Entscheidungen getroffen - ich erinnere nur an die ersten sechs
Monate unserer Ratspräsidentschaft -, beispielsweise
Entscheidungen hinsichtlich des Kosovo. Ohne die Friedensinitiativen der Bundesregierung wäre dieser Konflikt
nicht zu der Zeit der deutschen Präsidentschaft beendet
worden.
Ich erwähne ferner die Agenda 2000. Ohne das Verhandlungsgeschick der Bundesregierung wäre in Berlin
dieser zukunftsweisende Kompromiss - ja, es war ein
Kompromiss - nicht möglich gewesen. Erst dieser Kompromiss im Rahmen der Agenda 2000, Herr Kollege
Schmidt, hat die Möglichkeit geschaffen, auch über die
EU-Erweiterung Beschlüsse zu fassen. Diesen Punkt
sollte man einmal festhalten. Staatsminister Zöpel hat
vorhin gesagt, dass man ausdrücklich eine Revisionsklausel aufgenommen hat, um Veränderungen aufgrund der
aktuellen Diskussion einbeziehen zu können.
Auch die Ausarbeitung einer Grundrechte-Charta
wurde von Ihnen lange bekämpft. Jetzt gibt es darüber einen Konsens. Weil es für die europäische Idee wichtig ist,
ein identitätsstiftendes Projekt zu haben, reden wir nicht
nur über ein bürgernahes Europa, sondern wir wollen mit
dieser Charta ein bürgernahes Europa schaffen.
Ein weiterer Punkt ist die europäische Beschäftigungspolitik. Auch dafür wurden in Köln unter der deutschen Ratspräsidentschaft wesentliche Akzente gesetzt
und von den Portugiesen weiterentwickelt. Zur Halbzeit
und nach Ende der ersten für diese Regierung sicherlich
nicht einfachen Jahre kann man sagen, dass es sich um
wichtige Meilensteine auf dem Weg zur europäischen Integration handelte.
Ich komme nun auf das Thema Osterweiterung zu
sprechen. Ich bin sehr erfreut darüber, dass entsprechende
Signale von der Opposition kommen. Die SPD-Bundestagsfraktion wackelte an dieser Stelle zu keinem Zeitpunkt. Im Gegenteil: Wir haben vor wenigen Wochen in
der Bundestagsfraktion deutlich gemacht, dass wir dieses
Projekt unterstützen. Wir wissen nämlich, dass es neben
den Risiken vor allem Chancen birgt. Wir nehmen diese
Risiken ernst. Ich glaube aber, dass wir uns in diesem
Punkt nicht von allen, aber doch von einigen Kollegen der
CDU/CSU unterscheiden, indem wir diese Risiken offen
ansprechen. Wir wollen die Bürger aber nicht noch mehr
verängstigen. Wir sind nämlich der Auffassung, dass bestimmte Risiken durch Entscheidungen der Kommunen,
der Länder und des Bundes und irgendwann - Sie erwähnen ja immer das Subsidiaritätsprinzip - durch Unterstützung der Europäischen Union politisch beherrschbar sind.
({1})
Angesichts der aktuellen Diskussion, die durch das Interview ausgelöst wurde, sage ich ganz deutlich: Nehmen
wir die Ängste und die Befürchtungen ernst! Sprechen
wir mit den Menschen, aber bestärken wir sie nicht in
ihren Ängsten! Liebe Kollegen aus Bayern, Ihr Ministerpräsident hat leider bei den Menschen Ängste geschürt,
Christian Schmidt ({2})
anstatt aufklärerisch zu wirken. Wir von der SPD-Fraktion informieren, aber desinformieren nicht.
({3})
In diesem Punkt gibt es Unterschiede bei Ihnen.
Merkel sagt dieses, Merz sagt jenes und Stoiber sagt etwas anderes. Es wäre ganz wichtig, dass Sie wenigstens
in diesem Punkt einen gemeinsamen Weg finden.
({4})
Ein weiterer Punkt - dies möchte ich mit Hinweis auf
unsere Regierung sehr deutlich feststellen -: Ohne Zweifel muss es zwischen Außenministern Treffen geben.
Wichtig ist aber auch das Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern, mit den Landräten und den Bürgermeistern vor Ort in den grenznahen Regionen. Herr
Dr. Müller, ich kann Sie beruhigen: Es gibt viele Bürgermeister - leider gibt es in Bayern immer noch zu viele Ihrer Couleur; in Mecklenburg-Vorpommern habe ich ganz
andere Bürgermeister kennen gelernt -, die klar sagen:
Wir sind für die EU-Erweiterung. Über das Ob gibt es
überhaupt keinen Dissens, nur über das Wie. Damit müssen wir uns hier im Parlament, aber auch in den Landtagen und in den Kommunen befassen.
({5})
In Mecklenburg-Vorpommern fragt man sich zum Beispiel, warum man mit den Grenzübergängen nach Polen
nicht in die Gänge kommt, warum eine Verbesserung der
dortigen Situation so lange dauert. Da muss einmal nachgehakt werden. Ein anderer Bürgermeister einer Stadt an
der Grenze äußerte: Wenn die Grenzen geöffnet werden,
dann fließt der dadurch entstehende Verkehr durch meine
Stadt. Das kann ich den Bürgern nicht zumuten. - Da ist
die Frage an uns gerichtet, was man, wenn es sich zum
Beispiel um eine Bundesstraße handelt, tun kann.
Oftmals sind es sehr banale Dinge, die in den nächsten
Monaten im Rahmen der Vorbereitung der EU-Erweiterung zu lösen sind, damit zum Beispiel, wenn sich
der Verkehr durch die Stadt schlängelt und es Staus gibt,
nicht gesagt wird: Die EU-Beitrittsländer sind die Schuldigen. Wir wollten eigentlich keine EU-Erweiterung; für
uns wird nichts getan. - Ich denke, wir alle sind gefordert:
Sie in den Ländern, in denen Sie Verantwortung tragen,
und wir in den Ländern, in denen wir die Verantwortung
tragen, und hier auf Bundesebene.
({6})
CDU-Kommunalpolitiker aus Mecklenburg-Vorpommern haben mir gesagt - ich habe mich darüber sehr
gefreut -, dass es bei ihnen mittlerweile Handwerker gibt,
die die polnische Sprache erlernen. An diesem Beispiel
wird klar, dass sie nicht nur sagen: „Die Polen kommen zu
uns nach Mecklenburg-Vorpommern“, sondern dass sie
den europäischen Markt auch anders begreifen, indem sie
sagen: „Wir können unsere Leistungen auch in Polen anbieten. Dazu müssen wir aber die Sprache beherrschen.
Wir können ja nicht jedes Mal einen Dolmetscher mitnehmen.“ Ich denke, dass es viele Initiativen in diesem
Sinne gibt. Dies ist ein sehr gutes Beispiel. Es gibt noch
viele andere, die anzusprechen den zeitlichen Rahmen
sprengen würde.
In diesem Bereich besteht Handlungsbedarf. Wir
können die bestehenden Risiken beherrschen. Das sollten wir den Menschen sagen. Insofern teile ich Günter
Verheugens Einschätzung, dass wir noch mehr Informationen weitergeben müssen. Haushälter und andere
möchte ich darauf hinweisen, dass wir keine teuren Hochglanzbroschüren brauchen. Die erreichen nämlich viele
Menschen nicht. Wir brauchen andere Medien, um entsprechende Informationen zu den Menschen zu transportieren.
Ich möchte Günter Verheugen für eine Äußerung ausdrücklich danken, nachdem er so viel Schelte und Prügel
bekommen hat. Er hat zu Beginn des entsprechenden Interviews gesagt: Die Erweiterung der Europäischen
Union nach Osten ist ein historischer Glücksfall. - Recht
hat er. Da gibt es überhaupt keinen Zweifel. Weil dies ein
historischer Glücksfall ist, brauchen wir darüber auch
keine Volksabstimmung. Das Gefährliche an der entstandenen Diskussion ist, dass bei den Menschen durch
bestimmte Äußerungen Erwartungen geweckt worden
sind. Der Vergleich mit der Einführung des Euro hinkt. Es
ist vorhin in der Diskussion schon angesprochen worden:
Dann, wenn wir unsere Souveränität abgeben, sollten wir
abstimmen, aber nicht in anderen Fällen. Wenn die Polen
im Rahmen ihres Beitritts eine Volksbefragung durchführen, dann ist das logisch. Denn sie werden Souveränitätsrechte auf die Ebene der Europäischen Union übertragen.
Herr Kollege Hintze, ich hoffe, dass der jetzt bestehende Konsens nicht nur im Jahre 2000/2001 anhält, sondern dass er auch noch im Wahljahr 2002 besteht. An anderer Stelle ist es schon gesagt worden: Es wäre fatal, die
EU-Erweiterung zu einem Wahlkampfthema zu machen.
Dies wäre kein gutes Zeichen auch an unsere Nachbarn.
Das heißt nicht, dass man in bestimmten Punkte nicht kritisch miteinander umgehen sollte. Das bringt das Rollenverständnis von Regierung und Opposition mit sich. Aber
eine platte Auseinandersetzung über dieses Thema hielte
ich für gefährlich.
Auch ich sage noch einmal - ich weiß nicht, wer dies
vorhin angesprochen hat -: Es ist wichtig, sich in die
Köpfe unserer Nachbarn zu versetzen. Dort gibt es Regierungen, die ihren Bürgerinnen und Bürgern wahnsinnige Opfer im Rahmen dieses Prozesses abverlangen
müssen. Auch dort gibt es Wahlen. Es ist nicht nur bei uns
so, dass manches so oder so entschieden wird, weil
Wahlen anstehen. Auch in Polen, in Tschechien und in
Ungarn wird gewählt. Das ist bei bestimmten Prozessen,
die wir zu bewerkstelligen haben, zu berücksichtigen.
({7})
Nicht Frust auf Europa ist angesagt, sondern Lust auf
Europa. Machen wir alle mit!
Vielen Dank.
({8})
Weitere Wortmeldungen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes
liegen nicht vor. Wir kommen deshalb nunmehr zum Einzelplan 17, Geschäftsbereich des Bundesministeriums
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Ich gebe zunächst das Wort der Frau Bundesministerin
Dr. Christine Bergmann.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich denke, es ist
in der heutigen Beratung schon deutlich sichtbar geworden, dass die Bundesregierung mit dem Haushalt 2001
den Prozess der wirtschaftlichen, aber auch der sozialen
Erneuerung unseres Landes ganz konsequent fortsetzt.
Wir packen die notwendigen gesellschaftlichen Modernisierungen an. Dafür steht auch der Einzelplan 17, und
zwar mit all seinen Bereichen.
Lassen Sie mich mit der Familienpolitik beginnen. Familie ist bei jungen Leuten glücklicherweise nicht out.
Das zeigen uns viele Studien, und ich hoffe, dass wir das
auch um uns herum erleben. Wir wissen aber auch, dass
junge Leute beides wollen, sie wollen Erwerbsarbeit und
Familie miteinander vereinbaren. Deswegen ist es unsere
vorrangige familienpolitische Aufgabe, die Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf
zu verbessern; denn wir wollen den jungen Leuten die
Möglichkeit eröffnen, so zu leben, wie sie das selber
möchten. Wir wollen ihnen nicht vorschreiben, wie sie zu
leben haben.
({0})
Ich habe mich aber manchmal über das erschrocken,
was in den letzten Wochen aus der familienpolitischen
Ecke der Opposition kam. Das war schon ein Stück weit
ein Griff in die Mottenkiste, das muss ich hier einmal so
deutlich sagen.
({1})
An vielen Punkten klang auch wieder der Wunsch durch:
Am schönsten wäre es eben doch, wenn man die Frauen
wieder im Heim und am Herd hätte.
({2})
Das wird mit uns nicht zu machen sein.
Die Gleichsetzung von Familien- und Bevölkerungspolitik - das war in den letzten Wochen durchaus zu vernehmen - machen wir nicht mit. Wer diese propagiert,
zeigt, dass er noch nicht ganz im 21. Jahrhundert angekommen ist.
Schauen Sie sich doch einmal an, was in anderen Ländern, zum Beispiel in den nordeuropäischen Ländern oder
auch in Frankreich los ist. Dort gibt es eine hohe Erwerbsquote von Frauen, dort sind gute Rahmenbedingungen für
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gegeben. Dort
können junge Menschen ihren Kinderwunsch relativ gut
umsetzen, und sie tun das auch.
Wir versuchen, gute Rahmenbedingungen zu schaffen,
damit junge Leute das auch bei uns tun können. Deswegen geht es in der Familienpolitik auch darum, tradierte
Rollenbilder aus den Köpfen zu bekommen. Hier haben
Sie uns eine ganze Menge hinterlassen, die wir kräftig abarbeiten.
({3})
Sie wissen - darüber haben wir schon mehrfach diskutiert -, dass am 1. Januar 2001 das neue Erziehungsgeldgesetz in Kraft tritt.
({4})
Ich denke, wir haben damit sehr deutlich gemacht, wo wir
die Rahmenbedingungen verbessern. Wir räumen mit tradierten Rollenbildern auf und geben Vätern und Müttern
die Möglichkeit, sich zur gleichen Zeit um die Kindererziehung zu kümmern. Wir werden das Elternzeit nennen. Darauf konnten wir uns ja gemeinsam verständigen.
Wir verbessern auch die finanzielle Situation. Es werden immerhin 300 Millionen DM zusätzlich in den Erziehungsgeldetat fließen. Es werden wieder mehr Eltern Erziehungsgeld bekommen. Das hat es seit 14 Jahren nicht
mehr gegeben, da ging die Kurve nämlich nach unten.
Dieser Betrag - der Finanzminister hat es Ihnen heute
schon vorgerechnet - kommt zu den Dingen, die wir bereits getan haben, wie zum Beispiel die Kindergelderhöhung um 50 Mark, die steuerlichen Entlastungen und
die Verbesserungen beim Wohngeld. Ich denke, das kann
sich sehen lassen.
Wir machen mit der Flexibilisierung der Elternzeit
deutlich, dass wir einen Modernisierungsprozess vorantreiben; denn wir wollen ermöglichen, dass junge Väter
mehr Zeit mit ihrer Familie verbringen können.
({5})
Sie sagen, dass sie das möchten. Nun erhalten sie das
Recht auf Teilzeitarbeit. Sie dürfen bis zu 30 Wochenstunden während der Elternzeit arbeiten. Ich hoffe, dass
viele junge Väter davon auch Gebrauch machen werden.
Wir brauchen jetzt mutige Väter im Land, und wir alle
können dazu beitragen, dass die Väter ermuntert werden.
Wir werden dieses Gesetz, wenn es Anfang nächsten
Jahres in Kraft tritt, mit einer Väter-Kampagne begleiten.
Dadurch wollen wir versuchen, an die Rollenbilder heranzugehen und deutlich zu machen, dass für uns auch
Väter, die sich um die Erziehungsarbeit kümmern, „ganze
Männer“ sind. Wir werden außerdem natürlich auch mit
den Unternehmen zusammenarbeiten. Darüber hinaus
wird es einige andere Projekte geben.
Es gibt auch schon einige gute Beispiele. An ihnen
wird deutlich, dass diese Entwicklung gut für die Unternehmen ist. Ich freue mich, wenn ich einen Personalchef
treffe, der sagt, - davon gibt es nicht sehr viele - er wolle
auch in der Führungsetage Männer haben, die sich nachweislich um die soziale Kompetenz bemüht haben, die
also reduziert gearbeitet, vom Erziehungsurlaub Gebrauch gemacht haben und sich wirklich um Familie und
Eltern kümmern. Das werden wir weiter unterstützen.
({6})
In der Politik dieser Bundesregierung für mehr Chancengleichheit von Frauen und Männern geht es auch um
gesellschaftliche Modernisierung. Wir haben hier
schon ausführlich über das Programm „Frau und Beruf“,
unser gleichstellungspolitisches Regierungsprogramm,
diskutiert. Davon sind bereits viele Punkte umgesetzt.
Ich will nur einige nennen: Wir fördern Existenzgründungen von Frauen - das läuft im Übrigen gut -, wir bereiten sie im Rahmen des Projektes „Change/Chance“
auf die Betriebsnachfolge in mittelständischen Betrieben
vor. Außerdem kümmern wir uns in der Initiative
„D 21“ zusammen mit den führenden Computerfirmen in
unserem Land darum, dass Frauen ihre Berufschancen in
diesem wichtigen und zukunftsträchtigen Bereich besser
ergreifen können und dass darum geworben wird, dass
Mädchen auch Ausbildungsplätze in diesem Bereich annehmen. Ich denke, das ist genau der richtige Weg.
Wir sind uns aber doch vielleicht darüber einig, dass
das nicht reicht; wir können nicht nur auf solche Angebote
und auf Freiwilligkeit setzen. Deswegen habe ich vorige
Woche Eckpunkte für ein Gleichstellungsgesetz vorgelegt. Unser Ziel ist es, in diesem kommenden Gesetz alle
Unternehmen zu verpflichten, Maßnahmen zur Gleichstellung zu ergreifen. Es ist aber auch klar, dass unternehmerische Freiheit und Tarifautonomie Vorrang vor
staatlichen Interventionen haben. Wir wollen die Eigenverantwortung der Betriebe erhalten, sodass zum Beispiel
jeder Betrieb diejenige Betriebsvereinbarung abschließen
kann, die gerade notwendig ist.
Deswegen soll dieses Gesetz zwei wesentliche Strukturelemente enthalten: In der ersten Stufe soll die Verpflichtung festgeschrieben sein, zu solchen Vereinbarungen zu kommen. Dazu werden zurzeit noch Kataloge
entwickelt, in denen steht, welche Punkte wir uns vorstellen können. Daran können noch viele Unternehmen mitwirken. Es gibt also für die Unternehmen bei dem, was sie
tun, viel Freiheit. Klar ist aber: Alle müssen etwas tun.
Wir können nicht nur auf Freiwilligkeit setzen. Das haben
wir schon bitter gespürt.
({7})
In der zweiten Stufe heißt es deswegen: „Wer nicht
hören will, muss fühlen.“ Wer sich nicht engagiert hat, für
den legen wir fest, was zu tun ist. Es müssen dann zum
Beispiel Mindestanforderungen erfüllt werden. Ich denke,
das ist eine vernünftige Struktur: Wir schreiben den Betrieben nur vor, dass sie hinsichtlich der Gleichstellung
und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf etwas tun
müssen. Wie sie das aber machen, das ist ihre Sache.
Das ist - das will ich nochmals sagen - wirklich wichtig für den notwendigen Modernisierungsprozess in der
Wirtschaft. Wenn Sie sich einmal die positiven Beispiele
ansehen - ich nenne Ihnen gerne einige Beispielunternehmen, bei denen Sie sich informieren können; wir haben
dazu gerade eine Broschüre erstellt - und sich anhören,
was Unternehmen sagen, die diesen Weg gegangen sind,
dann stellen sie fest, dass alle sagen, dass das nicht Kosten verursacht, sondern spart. Die Unternehmen profitieren davon. Sie haben diese kreativen Frauen an den entsprechenden Stellen eingesetzt. Sie kümmern sich um
familienfreundliche Arbeitszeiten und anderes mehr. Ich
denke, das müsste eigentlich für alle zu vertreten sein.
Wir werden, nachdem wir mit den entsprechenden Experten weitergearbeitet haben, sicher noch über einen Gesetzentwurf zu diskutieren haben; wir haben für diese
Eckpunkte vieles aufgegriffen, was wir in einem langen
Dialogprozess gemeinsam mit Gewerkschaften, mit der
Wirtschaft, mit Unternehmen und mit der Wissenschaft
erarbeitet haben. Darauf freue ich mich schon. Eines vorneweg: Ich habe vonseiten der CDU/CSU unterschiedliche Äußerungen gehört. Von Ihnen, Frau Böhmer, habe
ich gehört, dass Ihnen dies nicht genug ist. Da habe ich
richtig gejubelt und gesagt: Na prima!
({8})
Ich denke, Sie werden jetzt etwas vorlegen, das noch
über das hinaus geht, was ich vorgeschlagen habe. Wir
können darüber reden, ob wir noch mehr verlangen wollen. Ich bin durchaus dazu bereit. Ich habe auch andere
Meinungen dazu gehört. Das kann ja noch ganz spannend
werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn wir an
die letzten Wochen zurückdenken, stellen wir fest, dass
uns ein Thema sehr bewegt hat - das ist ein sehr bitteres -, und zwar die rechtsextremen, die fremdenfeindlichen Gewaltexzesse in unserem Land. Diese Morde, diese
Terrorakte, auch die Ausrufungen von so genannten national befreiten Zonen durch Banden sind etwas, was wir
sehr ernst nehmen müssen. Dies ist eine Kampfansage an
unser demokratisches Gemeinwesen, eine Kampfansage,
die wir sehr entschieden beantworten müssen.
Einzelne Maßnahmen allein sind dazu nicht ausreichend. Wir müssen wissen, dass wir uns auf einen langen
Prozess einrichten müssen. Natürlich geht es darum, dass
der Staat handelt, wirklich unnachgiebige Sanktionen erlässt. Aber wir brauchen das Engagement aller Kräfte, die
sich vor Ort gegen Ausländerfeindlichkeit einsetzen und
engagieren - es können gar nicht genug sein -: Eltern,
Lehrerinnen und Lehrer, Unternehmer, Unternehmerinnen, Gewerkschafter, Gewerkschafterinnen.
Es war wichtig, dass wir diese Politik, über die wir hier
schon mehrfach diskutiert haben, zum Schwerpunkt gemacht haben, dass wir gefragt haben: Wie schaffen wir es,
dass alle Jugendlichen in diesem Land eine Chance haben?
({9})
Dafür machen wir das Sofortprogramm. Deshalb kümmern wir uns ja so um Ausbildungsplätze. Das muss
natürlich konsequent fortgeführt werden. Natürlich brauchen wir eine präventive Jugendarbeit auf allen Ebenen,
die uns hierbei unterstützt.
({10})
Wir müssen die Gegenkräfte, die es ja wirklich gibt,
stärken. Das heißt, wir müssen das alltägliche demokratische Engagement, auch die Netzwerke für Demokratie,
unterstützen. Dabei sind mir besonders die Projekte wichtig, in denen sich junge Leute, Jugendliche zum Ziel gesetzt haben, sich mit anderen Jugendlichen auseinander zu
setzen, die ausländerfeindliche Einstellungen haben.
Sie haben vielleicht schon das eine oder andere über
das Projekt gelesen, das es in Sachsen gibt - ich habe es
mir vor Monaten angesehen -, „Für Demokratie Courage
zeigen“, wo junge Leute Schulprojekttage durchführen,
sich mit Gleichaltrigen auseinander setzen, sich wirklich
in diese Thematik hineinbegeben. Ich denke, dass dieses
direkte Gespräch sehr wirksam sein kann.
Solche Ansätze zu unterstützen, das verfolgen wir mit
der Initiative „Arbeit und Qualifizierung gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“, für die die Bundesregierung für die nächsten drei Jahre 75 Millionen DM aus dem
Europäischen Sozialfonds bereitstellt. Wir wollen hiermit
nicht wieder irgendein neues Programm auflegen, bei
dem nach drei Jahren gefragt wird: Was machen wir denn
nun wieder? Wer finanziert das weiter? Wir wollen die
Initiativen, die es vor Ort gibt, unterstützen. Ich denke,
dass das enorm wichtig ist.
({11})
Wir sehen in diesen Debatten natürlich auch, dass die
Erziehung zur Akzeptanz, zur Toleranz, zur Weltoffenheit
etwas ist, für das man gar nicht genug tun kann. Deswegen will ich hier noch einmal sagen, in welchem Umfang
wir nach wie vor den internationalen Jugendaustausch
fördern: Es gehen immerhin - Sie kennen den Haushalt ja - 60 Millionen DM in den internationalen Jugendaustausch, in die Jugendwerke, in die Begegnungen. Wir
alle sind uns wohl darin einig, dass wir das ausbauen müssen. Wir haben den Etat im Haushalt des nächsten Jahres schon ein bisschen ausgebaut. Wir wollen nicht
nur das Bewährte fortführen, sondern zusätzlich mit der
Einrichtung des Koordinierungsbüros für den deutschisraelischen Jugendaustausch mit Sitz in Wittenberg in
Sachsen-Anhalt einen wichtigen Schwerpunkt dieser Arbeit setzen.
Ich will einmal die Zahlen nennen. Im letzten Jahr waren es 340 000 junge Menschen, die an einem solchen
Austauschprogramm teilgenommen haben. Das ist gut
und wichtig. Das darf aber nicht dazu führen, dass Länder
und Kommunen ihre Förderung zurückfahren, weil wir
unser Niveau halten.
({12})
Meine Damen und Herren, Gewalt hat viele Facetten.
Aber wir können die Gewalt in der Gesellschaft nur
zurückdrängen, wenn wir damit schon bei den Kindern
anfangen.
({13})
Eine moderne Kinder- und Familienpolitik muss deutlich
machen, dass Gewalt kein akzeptiertes Mittel der Erziehung ist.
({14})
Es muss in unserer Gesellschaft selbstverständlich werden - das ist mir wirklich bitterernst -, dass Kinder ohne
Gewalt erzogen werden.
Wir haben vor der Sommerpause in diesem Haus das
Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung verabschiedet. Nur reicht ein Gesetz nicht aus, um den notwendigen Bewusstseinswandel zu erzielen. Das wissen
wir auch. Deswegen werden wir nächste Woche mit einer
Kampagne zur gewaltfreien Erziehung beginnen, die Eltern Unterstützung geben will. Wir wollen Eltern auch gegenüber der Gesellschaft helfen. Es erziehen ja nicht nur
die Eltern. Andere erziehen mit, und andere sorgen mit
dafür, dass Eltern gelegentlich ausrasten, indem sie sich
nicht gerade solidarisch mit Eltern, die einmal ein Problem mit ihrem Kind haben - die sind auch nicht immer
nur friedlich und freundlich, süß und nett, wie wir wissen -, verhalten.
Wir werden die Kampagne unter dem Motto „Mehr
Respekt vor Kindern“ durchführen. Es geht uns wirklich
um eine Veränderung des Bewusstseins. Wir werden nicht
nur eine Kampagne mit Plakaten und Material durchführen. Wir wollen viele Einzelprojekte und Vor-Ort-Aktionen im ganzen Land unterstützen und Eltern in Erziehungsfragen helfen. Ich bitte alle in diesem Haus, sich
daran zu beteiligen. Ich denke, es lohnt sich.
({15})
Es lohnt sich, den Weg zu gehen und es zu versuchen. Wir
wissen, dass wir das Problem nicht von heute auf morgen
lösen können. Aber wenn wir Gewalt in der Gesellschaft
abbauen wollen, dann müssen wir bei den Kindern anfangen.
Meine Damen und Herren, auch in der Seniorenpolitik stehen wir in den nächsten Wochen und Monaten vor
wichtigen Entscheidungen. Wir haben in der letzten Sitzungswoche vor der Sommerpause ebenfalls das Gesetz
über die Berufe in der Altenpflege verabschiedet, das eine
bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung vorsieht. Das
ist ein wichtiger Schritt zur Sicherung der Qualität in der
Pflege, zur Aufwertung des Berufsbildes, zur Weiterentwicklung der Pflegeberufe. Nun wissen wir, dass am
29. September der Bundesrat darüber entscheiden muss.
Wir haben fast alle Vorschläge, die aus den Ländern
kamen, umgesetzt. Aber wir haben das Problem, dass von
der bayerischen Seite versucht wird, dieses Gesetz zu Fall
zu bringen, obwohl - das muss man einmal deutlich sagen - die Bayern selbst, die zurzeit eine zweijährige schulische Ausbildung haben, sehen, dass das so eigentlich
nicht geht. Das müssen wir ändern. Wir brauchen wenigstens drei Jahre. Warum dann nicht gleich dieses bundeseinheitliche Gesetz? Müssen Sie denn in einem solchen
Punkt, wenn es um Pflegequalität und Sicherheit für ältere
Leute geht, einen parteipolitischen Streit führen? Ich
glaube, das kann man vor den Menschen, die Pflege brauchen, nicht vertreten.
({16})
Als zweiten Punkt haben wir - das wissen Sie - die
Novelle des Heimgesetzes auf der Tagesordnung.
({17})
Wir haben in den letzten Monaten viel mit Verbänden über
das Altenpflegegesetz beraten. Schon seit zehn Jahren
geht es um das Thema der bundeseinheitlichen Altenpflegeausbildung. Das kenne ich schon aus der Landespolitik.
Sie wollten es eigentlich auch immer, Ihre Regierung hat
es nur irgendwie nicht hingekriegt. Jetzt haben wir das auf
dem Tisch. Nun lasst es uns endlich machen. Ich denke,
es ist einfach wichtig.
({18})
- Jetzt sind wir beim Heimgesetz, ja. Das wird nächsten
Monat im Kabinett sein. Da haben wir eine ganze Menge
zu leisten.
({19})
Ich denke, das ist klar. Wir haben sehr viele Abstimmungsprozesse durchgeführt; das wird vernünftig.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum
Schluss noch ein paar Sätze zum Zivildienst sagen. Ich
denke, dass die Situation jetzt klar ist. Die Bundesregierung hat gesagt, die Wehrpflicht bleibt. Damit bleibt auch
der Zivildienst. Die Erfahrungen, die wir im Sommer mit
der verkürzten Zivildienstdauer gemacht haben, haben
gezeigt, dass die Kassandrarufe, die prophylaktisch aus
allen Ecken und Enden kamen, unberechtigt waren. Es
gibt immer wieder das eine oder andere Problem. Aber
diese Probleme, zum Beispiel bei der individuellen
Schwerstbehindertenbetreuung, haben wir - ich sage das
ganz klar, weil mir das ernst ist - schon seit Jahren. Schon
seit Jahren erklären sich immer weniger Zivildienstleistende bereit - das beruht ja auf Freiwilligkeit -, in diesem
Bereich zu arbeiten. Wir haben alle Freiheiten gelassen.
Die Steuerung hat gut funktioniert, was aus den Zahlen ersichtlich ist, die ich auf dem Tisch habe. Ich denke, wir
werden auch das, was jetzt auf dem Tisch liegt, hinbekommen.
Auch die Verbände sehen das so. Sie wissen, dass bei
einer Verkürzung des Zivildienstes auf zehn Monate - darüber freut sich niemand, jeder hätte seine Zivis gerne länger - die Arbeit im Prinzip weitergehen kann. Es bedarf
natürlich einer organisatorischen Umstellung. Deswegen
haben wir die Arbeitsgruppe zur Zukunft des Zivildienstes eingerichtet. Sie wird noch diese Woche ihre
Empfehlung vorlegen.
Frau Bundesministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, ich bin am
Schluss.
Ich möchte Ihnen noch das Internationale Jahr der
Freiwilligen ans Herz legen. Wir haben in diesem Bereich
noch viel Potenzial, das wir nicht genutzt haben. Das können wir im nächsten Jahr gemeinsam unterstützen.
Wir stehen für eine Politik, die den Menschen in unserem Land gleiche Chancen eröffnet. Wir stehen für eine
Politik, die Rahmenbedingungen dafür schafft, dass die
Menschen ihr Leben nach ihren Vorstellungen gestalten
können. Wir stehen für eine Politik, die Bürgerinnen und
Bürger aktiv beteiligt und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in diesem Land endlich wieder fördert. Das sind
die Richtlinien unserer Politik.
Danke schön.
({0})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Dr. Ilja Seifert das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Da mir die Frau Ministerin leider keine Zwischenfrage
gestattet hat, möchte ich zumindest anmerken dürfen,
dass es im Zivildienst wirklich nicht so eiapopeia läuft.
Frau Ministerin, ich hätte schon erwartet, dass Sie wenigstens ein Wort dazu sagen, dass in einer großen Stadt
in Bayern, in Würzburg, der individuelle Schwerbehindertenbetreuungsdienst in diesem Jahr eingestellt wurde,
weil beim Zivildienst so gekürzt wurde, dass der Betreuungsdienst nicht mehr aufrechterhalten werden konnte.
Dort sind behinderte Menschen richtiggehend liegen geblieben. Ich finde, das kann nicht akzeptiert werden - in
keiner Stadt, auch nicht in Bayern.
Ich will noch etwas hinzufügen. Sie haben gesagt: Da
sich die Regierung entschieden hat, den Wehrdienst beizubehalten, wird demzufolge auch der Zivildienst bleiben. Das ist möglicherweise momentan richtig. Dennoch,
finde ich, sollte eine Regierung für den Fall vorbereitet
sein - diese Diskussion ist ja bedauerlicherweise nicht abgeschlossen -, dass der Zivildienst eines Tages nicht mehr
zur Verfügung steht, weil die Wehrpflicht doch - aus welchen Gründen auch immer - abgeschafft wird. Dann sollten Alternativen bereits funktionieren. Es gibt einiges,
was man nicht abschaffen kann, ohne bereits etwas Neues
zu haben. In dem Falle, wenn es um Betreuung von Menschen geht, müssen zuerst funktionierende Alternativen
geschaffen werden.
Ich weiß, dass der Zivildienst keinen sozialen Sicherstellungsauftrag hat. Jeder aber weiß, dass momentan Zivildienstleistende Aufgaben mit hoher Verantwortung
übernehmen, für die sie nicht ausgebildet sind und die sie
eigentlich nicht machen dürften. Ich finde, dazu hätten Sie
etwas sagen sollen. Wir sind hier in einer Haushaltsdebatte. Ich hätte gerne gehört, mit wie viel Geld Sie das unterstützen wollen.
Danke schön.
Zur Beantwortung
Frau Bundesministerin Dr. Bergmann.
Entschuldigung, aber
ich habe nicht mitbekommen, dass Sie vorhin eine Zwischenfrage stellen wollten. Ich antworte natürlich gerne
auf Ihre Frage, das hätte ich auch vorhin gemacht.
Zum Thema Steuerung. Wir haben den Verbänden und
den Beschäftigungsstellen wirklich freie Hand gelassen.
Es gab Kontingente, die vorgegeben waren. Aber wir haben hier sogar noch ausgetauscht und gesagt: Wenn es irgendwo zu Problemen kommt, dann verteilen wir um. Wir
hatten eine Extraregelung für den Bereich der individuellen Schwerstbehindertenbetreuung und für den Bereich
der mobilen Dienste. Das gilt ebenso für den Kinderbereich. Wir haben, so gut es irgend ging, abgesichert, dass
auch dort, wo es keine Kontingente mehr gab, jeder Zivi,
der kam, eingestellt werden konnte.
Warum und weshalb das in Würzburg nicht geklappt
hat, weiß ich nicht; da muss ich einmal nachfragen. Man
muss sich aber auch die Beschäftigungsstellen vor Ort ansehen und sich fragen: Haben sie jetzt vor lauter Angst anders reagiert? Ich habe bisher von solchen Fällen nichts
gehört. Wir sind wirklich jeder Beschwerde, die aus diesem Bereich gekommen ist, sofort nachgegangen und haben uns darum gekümmert, dass genau dies nicht eintritt.
Wir werden im Jahresdurchschnitt 2000 immerhin
124 000 Zivildienstleistende haben. Und es gibt immer
ein paar Bereiche, wo man sagen kann: Wenn dort einmal
im Moment keiner ist, dann ist das nicht so schlimm. Aber
diesen Bereich haben wir vorrangig abgedeckt.
Ich muss auch noch einmal sagen, dass diese Arbeit auf
Freiwilligkeit beruht. Das Hauptproblem ist: Wie bekommen wir genügend junge Leute, die freiwillig in
diesem Bereich arbeiten? Wir werden in den nächsten Tagen die Empfehlung der Arbeitsgruppe vorstellen. Dabei
werde ich noch etwas zu dem Thema sagen: Wie können
wir Freiwilligendienste ausbauen? Wie können wir in bestimmten kritischen Bereichen das eine oder andere mit
entsprechend qualifizierten Freiwilligen abfangen? Das
Thema fällt nicht unter den Tisch. Da brauchen Sie sich
keine Sorgen zu machen.
({0})
Ich gebe nunmehr
der Kollegin Dr. Maria Böhmer für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir brauchen nicht nur
mutige Männer in diesem Land, wir brauchen vor allen
Dingen eine mutige Familienministerin.
({0})
Bei dieser Bilanz, die Sie versucht haben anzureißen, Frau
Ministerin Bergmann, hilft Schönreden nichts. Die Bilanz
ist dürftig, wenn man sich anschaut, was in den letzten
zwei Jahren geschehen ist.
({1})
Sie häufen Minuspunkt auf Minuspunkt: beim Erziehungsgeld zu kurz gesprungen, beim Kindergeld nur das
Nötigste, die Eigenheimförderung haben Sie als Erstes
gekürzt, den Unterhaltsvorschuss haben Sie auf die Kommunen verlagert und die älteren Menschen sind im Wartestand, was das Heimgesetz betrifft. Ich darf gar nicht an
unseren Antrag denken, den wir im Pflegebereich zu den
Demenzkranken gestellt haben. Jugendschutz im Medienbereich scheint für Sie ein Fremdwort zu sein, der
Zivildienst ist zur Spardose degeneriert. Bei der Alterssicherung der Frauen - das muss ich Ihnen sagen - haben
Sie bisher auf der ganzen Linie versagt.
({2})
Bezüglich des Programms „Frau und Beruf“, das immer
wieder angesprochen wird, hat die Steigerung ganze
14 Pfennige pro erwerbstätige Frau betragen. Damit wollen Sie Frauen nach vorne bringen?
Im Bereich der Frauenpolitik gibt es statt eines Gesetzes, das wir jetzt debattieren könnten, wirklich nur kümmerliche Eckpunkte, wie wir in der letzten Woche erfahren haben. Ich muss Ihnen sagen: Unter diesen Umständen darf es nicht wundern, dass die „Wirtschaftswoche“ am 17. August festgestellt hat, dass Sie, Frau Ministerin Bergmann - es tut mir Leid -, ein Ausfall auf der
ganzen Linie seien.
Vier zentrale Politikfelder haben Sie vor sich. In vier
zentralen Politikfeldern haben Sie so gut wie nichts bewirkt.
Ich nenne als Erstes - das tue ich bewusst - den
Familienbereich. Sie haben im Koalitionsvertrag gesagt:
Wir wollen Deutschland wieder zu einem kinder- und familienfreundlichen Land machen. Das sind schöne Worte,
das sind gute Worte. Aber wie sieht die Realität aus? Die
Situation der Familien in Deutschland ist äußerst unbefriedigend. In der „FAZ“ war am 8. September zu lesen:
fast jedes fünfte Kind arm. Kinder kosten Geld - gar keine
Frage.
({3})
Aber Kinder dürfen nicht zum Armutsrisiko werden. Je
mehr Kinder, umso mehr kommt eine normal verdienende
Familie an die Grenze der Sozialhilfebedürftigkeit. Das
ist sozial ungerecht; denn Kinder sind unsere Zukunft.
({4})
Wie war das noch einmal mit dem Kindergeld, dessen
Erhöhung Sie ja immer wieder in den Blick rücken und
auf das Sie auch heute wieder rekurrieren? Jedes Kind ist
gleich viel wert, das habe ich von der SPD immer wieder
gehört. Wenn ich mir aber vor Augen führe, dass eine Familie mit vier Kindern bei der Kindergelderhöhung im
Schnitt nur mit der Hälfte der Erhöhung wegkommt - sie
erhält umgerechnet pro Kopf statt 30 DM nur 15 DM -,
dann muss ich sagen: Der Weg, den Sie hier beschreiten,
ist nicht der Weg in eine familienfreundliche Gesellschaft.
Familienförderung ist ein Stiefkind dieser Bundesregierung, trotz aller Worte, die Sie finden, trotz aller finanziellen Mittel, die Sie aufbringen. Hier muss ich Ihnen sagen: Die hochgelobten Kindergelderhöhungen werden
von steigenden Kindergartenbeiträgen und von den Ausgaben für Strom, Benzin und Heizöl aufgefressen.
({5})
Das, was sich hier darstellt, ist ein dickes Minusgeschäft
für Familien. Es ist typisch SPD: In die eine Tasche geben
Sie etwas, aus der anderen Tasche nehmen Sie etwas.
({6})
Man muss doch Politik als eine Gesamtheit sehen, man
kann den Blick doch nicht nur auf eine Tat richten.
Nehmen Sie die Ökosteuer. Sie betrifft alle, aber betrifft die Familien ganz besonders. Die Familien müssen
mit dem Auto zur Arbeit fahren, die Kinder müssen zur
Schule gebracht werden, gerade im ländlichen Bereich,
und auf die Heizkosten kann doch niemand verzichten.
Oder wollen Sie die Familien im Winter im Kalten sitzen
lassen? Das bedeutet in jedem Monat 130 DM mehr für
das Tanken und 33 DM mehr für das Heizen.
({7})
Das heißt, dass den Familien unter dem Strich weniger
bleibt, als sie vorher gehabt haben. Das ist Etikettenschwindel.
({8})
Die Ökosteuer mutiert hier zur K.-O.-Steuer für Familien.
Sie verschließen - das habe ich in allen Debatten heute
und in den letzten Tagen gemerkt - einfach die Augen vor
dieser Entwicklung. Wir sagen es Ihnen hier noch einmal
ganz klar: Satteln Sie bei der Ökosteuer Anfang des
nächsten Jahres nicht erneut drauf, stoppen Sie diese Entwicklung und schaffen Sie die Ökosteuer ab!
({9})
Politik für Familien ist auch mehr als Finanzpolitik.
Wir müssen die gesellschaftlichen Veränderungen in
den Blick nehmen. Da sind wir nicht auseinander, wenn
es darum geht, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und
Beruf zu erreichen. Wir müssen dafür sorgen, dass sich
die Menschen wieder auf Kinder freuen, Ja zu Kindern
sagen und sich nicht zurückgehalten fühlen. Aber dazu
müssen bestimmte Rahmenbedingungen in unserer Gesellschaft verändert werden. Auch muss in der Arbeitswelt etwas geschehen. Nur, sehr geehrte Frau Ministerin
Bergmann, mit den von Ihnen vorgelegten Eckpunkten für
ein Gleichstellungsgesetz, mit denen erreicht werden soll,
dass Frauen in der Arbeitswelt vorankommen, werden Sie
- mit Verlaub - nicht viel ausrichten. Vor allen Dingen
sind keine neuen Ideen dabei.
Ich habe einmal in mein Regal gegriffen - das würde
den anderen Kolleginnen hier auch nicht schwer fallen und jetzt eine Broschüre aus dem Jahre 1987 in der Hand:
„Leitfaden zur Frauenförderung in Betrieben“. Wenn ich
die dünnen Eckpunkte, die Sie vorgestellt haben, mit dem
vergleiche, was 1987 von der ersten Frauenministerin
Deutschlands gesagt worden ist, dann sehe ich keine Weiterentwicklung. Das ist Stagnation bei den Ideen. Wir
brauchen gerade bei der Vereinbarung von Familie und
Beruf neue Ideen. Wir brauchen ein druckvolles Eintreten
für Verbesserungen.
Jetzt möchte ich Ihnen einmal sagen, wo es solche
neuen Ideen gibt. Nicht bei der SPD; aber schauen Sie ins
Saarland: Im Saarland werden jetzt die Weichen für die
Finanzierung im Kindergartenbereich neu gestellt. Der
saarländische Ministerpräsident Müller geht einen mutigen Weg.
({10})
Die Kindergartenplätze sollen kostenlos sein. Das halte
ich für richtig. Werben Sie dafür, damit wir gemeinsam in
Deutschland Verbesserungen erreichen können.
({11})
Wir brauchen eine qualitative Weiterentwicklung,
eine Modernisierung der Familienpolitik. Sie haben über
mehr Kindergeld und über die Änderungen beim Erziehungsgeld gesprochen. Aber das alles ist nicht der große
Wurf; denn Familien müssen heute immer noch auf verschiedene Leistungen rekurrieren, müssen zu verschiedenen Ämtern gehen und sind mit verschiedenen Einkommensgrenzen konfrontiert. Wir treten dafür ein, ein
Familiengeld zu schaffen, das es Eltern leichter macht,
Kinder zu erziehen, und das Ja zum Kind erleichtert. Wir
werden dafür kämpfen und uns in der nächsten Zeit mit
Ihnen darüber auseinander setzen, wie eine zukunftsweisende Familienförderung auszusehen hat.
Was das Familienbild angeht, so bin ich in letzter Zeit
sehr nachdenklich geworden; denn Sie sind dabei, das
Grundrecht in Art. 6 des Grundgesetzes, „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen
Ordnung“, auszuhebeln. Sie wollen für die gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften eine „Ehe light“
schaffen. Wir sind dafür, Diskriminierungen abzubauen.
Dort, wo es notwendig ist, dass Hilfe geleistet wird, sind
wir für konkrete Hilfe. Aber wir werden es nicht mitmachen, dass jeglicher Unterschied zur klassischen Ehe von
Ihnen ausgehebelt wird.
({12})
Die „Ehe light“ geht auf Kosten aller anderen. Bedenken Sie: Der Kuchen, den Sie zu verteilen haben, wird
nicht größer werden.
({13})
Wenn mehr an diesem Tisch sitzen - das planen Sie mit
Ihren Vorschlägen zur „Ehe light“ -, dann werden die
Stücke kleiner. Das geht zulasten der kinderreichen Familien und der Alleinerziehenden und das ist kein Weg in
eine familienfreundliche Gesellschaft.
({14})
Jetzt will ich einen weiteren Punkt ansprechen, der mir
seit längerer Zeit - gerade wenn ich mir Ihre Äußerungen
bzw. Nichtäußerungen vor Augen führe, Frau Ministerin
Bergmann - sehr viel Sorgen macht: Es ist das Thema
Frauen und Rente. Ich habe die Pressemeldungen verfolgt. Ich habe Sie, Frau Ministerin, vermisst, als es darum ging, sich in dieses Themenfeld einzubringen und
Forderungen für Frauen zu erheben. Sie haben in New
York davon gesprochen, wir bräuchten ein „gender mainstreaming“, das heißt, die Integration der Anliegen von
Frauen in allen Politikbereichen. Nur: Wo erheben Sie
Ihre Stimme, wenn es darum geht, für Frauen in der
Rentenreform etwas zu erreichen? Es ist die Mehrzahl
der Rentner, um die es geht. Es geht um die Zukunft von
11 Millionen Rentnerinnen in Deutschland. Hier erkenne
ich nichts, was von Ihnen an Gedanken eingebracht worden ist.
({15})
Das einzige, was ich aus Ihrem Hause registriert habe,
war ein harscher Protest, als die Frauenverbände einen offenen Brief an Bundeskanzler Schröder schrieben und
darin erklärten, die Frauen stünden in Gefahr, eindeutige
Verliererinnen dieser Rentenreform zu werden, wenn die
Pläne von Rot-Grün Realität würden. Daraufhin hat Ihre
Parlamentarische Staatssekretärin, Frau Niehuis, von einer unglaubwürdigen Allianz und von unglaubwürdigen
Luftblasen gesprochen.
So kann man in diesem Land nicht mit Frauen umgehen. Sie haben die Frauen vor der Wahl benutzt, um die
Rentenforderungen, die Sie aufgestellt haben und die Sie
heute als Fehler bitter bereuen, im Lande zu verbreiten.
Wenn Ihnen aber die Botschaften nicht passen, greifen Sie
zu Beschimpfungen; das geht nicht. Wir müssen zurückkehren zu einer Politik, die dazu führt, dass gerade in der
Rentenversicherung Nachteile für Frauen abgebaut werden und vor allen Dingen keine neuen Nachteile entstehen.
({16})
Ich hoffe sehr darauf, dass in dem Gesetzentwurf, den wir
erwarten, diese Bedingungen erfüllt sind und Sie Ihre
Stimme mit erheben.
Ich will als letzten Punkt eines ansprechen: Sie haben
sich zur Jugendpolitik, zu Gewalt und zum Rechtsradikalismus geäußert. Aber ich habe von Ihnen nichts zu einem
Bereich gehört, der in diesem Zusammenhang eigentlich
in Ihrem Blickfeld liegen sollte: Es ist der Jugendschutz
im Medienbereich. Frau Ministerin, das ist eine Kompetenz, die in Ihren Händen liegt. Gewalt im Fernsehen, Gewalt im Internet, Pornographie im Internet und die Entwicklung im digitalisierten Fernsehen, das alles muss uns
eigentlich alle umtreiben.
Seit einem Jahr liegt der Bericht zum IuKDG, zum Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz, vor. In
diesem ist ausgeführt, dass die Bestimmungen zum Jugendschutz im Medienbereich nicht mehr den aktuellen
Anforderungen entsprechen. Welche Schlussfolgerungen
ziehen Sie aus dieser Aussage? Wo sind Ihre Vorschläge?
Ich habe bisher nichts erfahren. Die Länder - so ist mir zu
Ohren gekommen - wollen jetzt den Jugendschutz im
Medienbereich auf ihre Seite ziehen. Das heißt: Eine
Kernkompetenz aus Ihrem Haus steht zur Disposition. Ich
kann Ihnen nur sagen: Wehren Sie sich! Im Zeitalter der
Globalisierung und im Zeitalter von Internet kann es doch
nicht sein, dass eine Kernkompetenz im Bereich des Jugendmedienschutzes von der nationalen Ebene völlig auf
die regionale Ebene, auf die Länderebene verlagert wird.
({17})
Wir brauchen klare, einheitliche Regelungen im Bereich des Jugendmedienschutzes. Wir brauchen bessere
Einrichtungen in diesem Bereich. Wir müssen diesen
Dschungel durchforsten. Das gilt es zu tun, hier erwarte
ich Vorschläge aus Ihrem Haus und nicht nur von Länderseite. Denn es gilt, schnell zu handeln, damit wir der Gewalt auf diesem Feld Einhalt gebieten können.
({18})
Frau Kollegin
Böhmer, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.
Auch Ihnen, Frau
Ministerin, läuft die Zeit davon. Politik für junge Menschen, für Ältere, für Frauen und für Familien muss man
richtig machen! Rot-Grün kann das nicht. Das kann nur
die Union. Deshalb werden wir mit Ihnen weiterhin heftig über die Zukunft der Familien in Deutschland streiten.
({0})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht nun die Kollegin
Irmingard Schewe-Gerigk.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Während der Vorbereitung meiner Haushaltsrede
stand ich ein wenig in der Versuchung, es dem Altbundeskanzler Kohl gleichzutun, als er seine Neujahrsrede
gehalten hat, und die Rede aus dem letzten Jahr noch
einmal vorzutragen; denn: Das Meiste ist gleich geblieben, sieht man einmal davon ab, dass die Ausgaben diesmal nur um 2 Prozent reduziert werden. Aber bei einem
10-Milliarden-DM-Haushalt, bei dem fast 7 Milliarden DM allein durch das Erziehungsgeld gebunden sind,
ist auch nicht mehr viel zu holen. Die Kürzungen sind
dennoch schmerzlich.
({0})
Aber angesichts Ihrer Hinterlassenschaft von 1,5 Billionen DM an Schulden, die wir bei unserer RegierungsDr. Maria Böhmer
übernahme vorgefunden haben, kommt man an Einsparungen nicht vorbei,
({1})
es sei denn, man spart auf Kosten der nächsten Generation. Dies wollen wir nicht.
Die Einsparungen waren durch die Verkürzung des Zivildienstes und durch eine geringere Inanspruchnahme
des Erziehungsgeldes aufgrund der gesunkenen Geburtenrate möglich. Frau Böhmer, ist es nicht so, dass Ihre
Kolleginnen von der CDU/CSU-Fraktion immer wieder
verbreiten, wir würden das Erziehungsgeld kürzen? Das
wird nicht gekürzt. Wir haben 300 Millionen DM mehr
eingestellt. Aber weil weniger Kinder geboren werden,
wird auch weniger in Anspruch genommen. So weit zu
den Mitteln des Einzelplans 17.
Sie sagen: Im Haushalt tut sich nicht viel. Wenn Sie nur
den Haushalt betrachten, könnte ich Ihnen vielleicht zustimmen. Aber es ist nicht der Haushalt allein. Ich möchte
jetzt an drei Beispielen aus den Bereichen Familien-,
Frauen- und Seniorenpolitik, die konträr zu Ihrer Vorlage,
Frau Kollegin, stehen, deutlich machen, welchen Wandel
die neue Bundesregierung eingeleitet oder sogar schon
umgesetzt hat.
Beispiel Familienpolitik: Die gesunkene Geburtenrate
und ihre Auswirkung auf die sozialen Sicherungssysteme
waren im Sommer Thema zahlreicher Veröffentlichungen. Besonders hat sich dabei der bayerische Ministerpräsident Stoiber hervorgetan, in dem er eine aktive Bevölkerungspolitik gefordert hat.
({2})
Wie er die Frauen ködern möchte, mehr Kinder zu gebären, hat Herr Stoiber - vielleicht Gott sei Dank - nicht
gesagt. Verehrter Herr Stoiber, ich hatte gedacht, diese
Zeiten seien eigentlich vorbei. Wir lehnen eine aktive Bevölkerungspolitik ab.
({3})
Wir müssen allerdings die Paare unterstützen, die zwar
einen Kinderwunsch haben, diesen aber aus vielfältigen
Gründen nicht realisieren. Von diesen Paaren gibt es eine
Menge, wie Befragungen zeigen. Das ist das Ergebnis Ihrer konservativen Familienpolitik, die stets auf dem
Rücken der Frauen ausgetragen wurde. Es ist doch kein
Wunder, dass schon heute jede dritte Frau auf Dauer kinderlos bleibt. Das ist die Begründung dafür. Das ist in meinen Augen eine stille Revolution der Frauen, die deutlich
macht, dass sie nicht mehr bereit sind, die alleinige Verantwortung für die Kinder zu übernehmen.
({4})
Der Arbeitsmarkt ist weit davon entfernt - auch darin
stimmen wir überein -, mit flexiblen Arbeitszeiten auf
die Bedürfnisse von Eltern zu reagieren. Die meisten Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen sind so gestaltet, dass die Mütter mittags mit fertig gekochtem Essen
zur Verfügung stehen müssen. Und die Väter? In den
meisten Fällen haben sie noch immer die Zuschauerrolle
in der Familie inne. Auch das werden wir ändern.
Frau Böhmer, wenn Sie vorhin gesagt haben, die Ministerin sei ein Ausfall in der Familienpolitik,
({5})
dann muss ich Ihnen sagen, dass ich das, was Sie gesagt
haben, für einen Ausfall halte.
({6})
Gerade in der Familienpolitik hat die Bundesregierung
entscheidende Weichenstellungen vorgenommen, angefangen mit dem Elternzeitgesetz, das für drei Jahre den
Rechtsanspruch auf Reduzierung der Arbeitszeit vorsieht,
und mit dem neuen Gesetz, mit dem jetzt die Möglichkeit
zur Teilzeitarbeit auch im Zusammenhang mit anderen
Bedürfnissen generell festgeschrieben wird.
Auch finanziell - im Rahmen der Einkommensteuer sind die Familien besser gestellt worden. Deshalb führe
ich folgendes Beispiel noch einmal an, Frau Böhmer: Ein
Ehepaar mit zwei Kindern und einem Jahreseinkommen
von 60 000 DM, das eine Fahrleistung von 15 000 Kilometern im Jahr und einen normalen Verbrauch an Gas und
Strom hat, spart trotz aller Belastungen noch immer
2 000 DM. Deswegen können Sie hier nicht behaupten:
Die Ökosteuer sei schuld. Sie sollten intellektuell etwas
redlicher sein.
({7})
Zweimalige Erhöhung des Kindergeldes und auch Erhöhung des Erziehungsgeldes - auch das sind ziemliche
Leistungen. Dass das Familienpolitikerinnen immer noch
nicht genug ist, ist doch klar. Wir setzen das aber Schritt
für Schritt um. Wir sind auf dem Weg, auch 2002 wieder
etwas finanziell für die Familien zu tun. Eine Kindergelderhöhung wäre meiner Ansicht nach die gerechteste Lösung, weil dann kleine und mittlere Einkommen eine
tatsächliche Förderung bekommen.
Auch bei Antworten zum demographischen Abwärtstrend steht das Thema Migration auf der Tagesordnung.
Im Jahre 2050 werden selbst bei einer eingerechneten Zuwanderung von 200 000 Menschen pro Jahr in Deutschland 10 Millionen Menschen weniger leben. Auch aus diesem Grunde begrüße ich als Grüne ausdrücklich die
EU-Richtlinie zur Familienzusammenführung, die ja
sehr weitgehend ist und nach der Kinder bis zum 21. Lebensjahr zu ihren Eltern nach Deutschland nachziehen
können.
({8})
Eine weitere notwendige Maßnahme zur Sicherung der
sozialen Sicherungssysteme wäre die Erhöhung der
Frauenerwerbstätigkeit. Auch hier haben Sie uns mit einer Frauenerwerbstätigkeit von unter 40 Prozent eine
Hinterlassenschaft vermacht, bei der wir eine ganze
Menge nachholen müssen.
({9})
Damit bin ich beim zweiten Thema, der Gleichstellungspolitik in der Privatwirtschaft. Noch nie hatten
wir eine so gut ausgebildete Frauengeneration - Frau
Lenke, Sie werden mir da zustimmen. 55 Prozent haben
die Hochschulreife; der Anteil der Studentinnen ist
52 Prozent. Frauen haben durchschnittlich die besseren
Noten. Diese Zahlen finden keine Entsprechung in der
Berufswelt. Frauen verdienen immer noch fast ein Drittel
weniger als Männer. Sie haben 1999 laut Eurostat 3,7 Prozent der Führungspositionen inne. In den Hundert größten
Aktiengesellschaften hat es bis vor kurzem eine Vorstandsfrau gegeben. Diese gibt es nun auch nicht mehr. Im
europäischen Vergleich liegen wir sowohl bei der Erwerbsquote als auch bei den Verdienstchancen und bei der
Kinderbetreuung im unteren Drittel. Bei den Führungspositionen bilden wir mit Italien das Schlusslicht. Das sind
keine Indikatoren für einen modernen Wirtschaftsstandort.
({10})
Ich finde, wir können es uns nicht länger leisten, in Europa das Schlusslicht bei der betrieblichen Gleichstellung
zu sein.
Beim Thema Europa denkt man natürlich sofort immer
an den sinkenden Euro. Es gibt eine Menge Erklärungen,
woran es liegt, dass er sinkt. Ich möchte noch eine hinzufügen: Vielleicht liegt ja die Euro-Schwäche daran, dass
bei uns so wenige Frauen in Entscheidungspositionen
sind,
({11})
während in den Vereinigten Staaten fast jede zweite Topposition mit einer Frau besetzt ist. Diese Erklärung wäre
ja mal eine Überlegung wert.
({12})
Es gibt schon jetzt eine Reihe von Unternehmen - das
sind nicht nur Großbetriebe -, die erkannt haben, dass
Chancengerechtigkeit letztendlich auch den Unternehmen zugute kommt. Um diesen positiven Prozess zu beschleunigen, brauchen wir ein Gesetz, das die Unternehmen zur Gleichstellung verpflichtet. Das ist, Kollegin
Lenke, keine Politik mit der Brechstange,
({13})
sondern das, was die Ministerin vorgeschlagen hat, würde
ich als ein Werkzeug zur Feinjustierung bezeichnen. Es
geht sehr genau auf die Dinge ein, die zu regeln sind.
Ihnen geht das alles viel zu weit. Den CDU-Kolleginnen Süssmuth und Böhmer geht das viel zu langsam und
ist zu wenig verbindlich. Wir scheinen also auf dem richtigen Wege zu sein.
({14})
Wir hätten bei diesem schwierigen Projekt natürlich gerne
noch die eine oder andere unterstützende Stimme aus der
Opposition und der Koalition.
Zum Schluss komme ich zu einem traurigen Kapitel,
der Seniorenpolitik. Seit Jahren berichten die Medien
über Missstände in Heimen. Untersuchungen belegen,
dass 30 Prozent der Pflegeheimbewohner an qualvollen
Schmerzen durch offene Wunden leiden, die durch Pflegefehler entstanden sind. Fachleute gehen davon aus, dass
eine häufige Todesursache von Heimbewohnern das Austrocknen aufgrund mangelnder Flüssigkeitszufuhr ist.
Festschnallen mit Gurten und Ruhigstellen mit Psychopharmaka sind an der Tagesordnung. So wird der Lebensabend zur Hölle. Diese Vorfälle sind nicht neu. Trotzdem
wurde bisher nicht gehandelt. Auch hier wird die Politik
endlich reagieren.
({15})
Eine Änderung des Heimgesetzes, die auch unangemeldete Kontrollbesuche ausdrücklich vorsieht, und auch
eine bessere Ausbildung des Fachpersonals werden sicherlich eine Verbesserung bringen. Das können aber nur
erste wichtige Maßnahmen sein, die meines Erachtens
auch noch nicht ausreichen werden. Wir werden das Gespräch mit bereits bestehenden Initiativen und Fachleuten
suchen, damit diese Menschenrechtsverletzungen an alten
Menschen ein Ende finden.
Ich glaube, dieser kleine Exkurs in die drei Fachbereiche hat deutlich gemacht, wie wichtig und umfassend die
Arbeit unseres Ausschusses ist, ohne dass sich das im
Haushalt in Mark und Pfennig widerspiegelt. Lassen Sie
uns um die besten Lösungen streiten. Ich denke, wir tun
gut daran, unsere Konzepte vorzustellen und durchzusetzen, damit sich in dieser Republik endlich etwas bewegt.
Vielen Dank.
({16})
Mein Kollege Schriftführer sagte mir, dass die Regelung hinsichtlich der Redezeit locker gehandhabt würde. Ich will eigentlich, dass
die Redezeit eingehalten wird. Das sage ich jetzt. Eben
habe ich das ein bisschen laufen lassen.
Nun erteile ich der Kollegin Ina Lenke, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! In der rot-grünen Frauen- und Familienpolitik ist mehr Schein als Sein und mehr Zwang als Motivation. Das ist typisch sozialdemokratisch und typisch grün.
Wir Liberale haben eben andere Vorstellungen von
Frauen- und Familienpolitik. Wir sind nämlich nicht für
Gesetze, die persönliches und wirtschaftliches Handeln
einschränken; vielmehr wollen wir politische Rahmenbedingungen, die wir nicht mit Androhung und Zwang erreichen wollen.
({0})
Sie haben gesehen: Wir haben auf der Grundlage des
Bundesverfassungsgerichtsurteils politische Alternativen
zur Elternzeit, zur Erziehungszeit und zur FamilienfördeIrmingard Schewe-Gerigk
rung vorgelegt. Wir sind in Bezug auf die Möglichkeiten
der Beschäftigung von Frauen wirklich weitergegangen
als Sie. Unsere Vorstellungen zielen mehr auf die individuelle Ausgestaltung der Vereinbarkeit von Familie und
Beruf und natürlich auf die Unterstützung von Männern
in der Familienphase. Unsere Konzepte liegen auf dem
Tisch. Sie haben sicherlich andere gehabt und Sie sind
von Ihren überzeugt. Wir werden die zwei Jahre einmal
abwarten und schauen, ob sich auf der Grundlage Ihrer
neuen Konzepte wirklich etwas bewegt hat. Ich habe daran meine Zweifel.
Ich möchte kurz zu § 19a des Ausländergesetzes kommen. Wir im Deutschen Bundestag arbeiten über Fraktionsgrenzen hinweg sehr konstruktiv zusammen. Wir
konnten Sie überzeugen, dass diejenigen Frauen, die für
den Lebensunterhalt nachweislich nicht aufkommen können, einen Sozialhilfeanspruch haben. Diesbezügliche
Maßnahmen waren in Ihrem ursprünglichen Gesetzentwurf nicht enthalten. Ich finde eigentlich ganz gut, dass
Ihnen die F.D.P. in diesem Punkt weiterhelfen konnte.
({1})
Meine Damen und Herren von den Grünen, Sie haben
eine Halbzeitbilanz vorzulegen. Man fragt sich manchmal, welche Vorstellungen Sie zu Beginn der Regierungszeit hatten und was Sie in der Politik haben durchsetzen
können. Ich erinnere mich sehr gern an das, was Sie nicht
durchsetzen konnten. Zum Beispiel haben Sie in dieser
Regierung bis heute das Ehegattensplitting nicht abschaffen können - eine Forderung, die man von Ihnen immer
hören konnte.
Außerdem wollten Sie eine Gleichstellung mit der Ehe.
Volker Beck ist heute nicht da. Er hat in den Veranstaltungen, bei denen ich war, immer gesagt: Wir wollen die
gleichgeschlechtlichen Partnerschaften der Ehe gleichstellen. Sie haben in dem Entwurf, den Sie zusammen mit
der SPD vorgelegt haben, einiges zurückgenommen.
({2})
- Wir haben einen anderen Entwurf, der verfassungsfest
ist, Herr Simmert, während Ihr Entwurf vor dem Verfassungsgericht überhaupt nicht standhält. Von daher werden
Sie noch viele Änderungen vornehmen, noch vieles bei
dem Gesetz zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften
zurücknehmen.
Herr Simmert, ich bleibe bei Ihnen. Ich habe in alten
Protokollen nachgelesen. Im Februar 1999 haben Sie für
die Koalitionsfraktionen und die von ihr getragene Regierung die zeitliche Gleichstellung des Zivildienstes mit
dem Wehrdienst gefordert. Wir haben da so viele Änderungen gehabt. Wieso ist Ihnen das eigentlich nicht gelungen?
({3})
Das ist überhaupt kein Problem. Herr Simmert, wo ist eigentlich Ihre Erfolgsmeldung?
Ich meine, diese wenigen Beispiele zeigen, dass Sie in
dieser Regierung ganz kleine Brötchen backen müssen.
({4})
Ich will aber auch noch auf die SPD zu sprechen kommen. Schröder hat im Wahlkampf am 17. April 1998 - ich
kann mich sehr genau daran erinnern; es ist auch im Fernsehen gezeigt worden - versprochen, dass er eine Steuerpolitik zur Entlastung von Familien mit Kindern gestalten will. Jeder weiß das. Aber Fakt ist doch, dass die
indirekten Steuern durch steigende Energiepreise - das ist
jetzt wirklich nicht wegzudiskutieren; die hohen Heizölund Benzinpreise sind nicht nur von Ihnen zu verantworten - ({5})
- Ja, dafür können Sie nichts; aber auch als Sie in der Opposition waren, haben Sie nicht gefragt, welche Preise
steigen und welche nicht. Jetzt müssen Sie sich sagen lassen, dass eine Entlastung der Familien faktisch nicht vorhanden ist.
({6})
Machen Sie eine bessere Politik - Herr Fischer ist ja nicht
mehr da -, vielleicht wäre es etwas anders gekommen,
wenn er sich da ein wenig mehr eingesetzt hätte.
Meine Damen und Herren, ich möchte nur aus dem
„Focus“ dieser Woche zitieren - das haben Sie sicher auch
mit Interesse gelesen -:
Wie so oft leiden besonders die Familien unter steigenden Preisen. Die zusätzlichen Belastungen zwingen die Familien zu schmerzhaften Einsparungen.
Das ist Fakt.
Ich möchte noch ganz kurz auf einen weiteren Meilenstein Ihrer Regierungspolitik eingehen, nämlich auf das
Gleichberechtigungsgesetz für die Wirtschaft. Sie wollen ja die Vergabe von Aufträgen an Frauenförderung binden. Ich kann Ihnen dazu nur sagen, dass das sehr bürokratisch werden wird und dass der Schuss für die Frauen
nach hinten losgehen wird, Frau Wolf.
({7})
Sie werden es sehen. Die Wirtschaft erhält von Ihnen Auflagen über Auflagen:
({8})
Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit während der Erziehungszeiten, 630-Mark-Gesetz, Gleichstellungsgesetz
und das Neueste - das habe ich gestern im Radio gehört -:
Sie wollen einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit auch
bei Betrieben mit zwei bis drei Mitarbeitern einführen. Da
sagen Sie mir einmal, wie ein Betrieb überhaupt überleben kann.
({9})
Mir ist es ein wirkliches Bedürfnis, mich jetzt noch
dem Zivildienst zu widmen.
({10})
Im Einzelplan 17 werden für nächstes Jahr 2 Milliarden DM veranschlagt. Im letzten Haushalt hat es ja ausschließlich massive Kürzungen gegeben. Darunter haben
die Zivildienstleistenden bis heute zu leiden.
({11})
- Ja, sicher. Sie haben einen geringeren Rentenanspruch.
Das wissen Sie doch, Herr Simmert, erzählen Sie doch
nichts.
Weiterhin müssen die Einrichtungen mehr Entlassungsgeld bezahlen und ihr Anteil bei den Tagegeldern
liegt höher.
({12})
Sie haben die Zivildienstzeit während Ihrer Regierungszeit gekürzt. Gemäß dem Scharping-Konzept werden Sie ihn bis 2002 von 13 auf 10 Monate kürzen, um
nicht falsch verstanden zu werden.
({13})
- Ab 1. Januar 2002 wollen Herr Scharping und Sie eine
neunmonatige Wehrpflicht einführen, dann wären wir bei
10 Monaten. Das bedeutet, dass es in anderthalb Jahren
drei Monate weniger sind.
Ich will nicht falsch verstanden werden: Ich halte es für
sehr positiv, dass wir junge Leute zu kürzeren Zwangsdiensten, Wehr- oder Zivildienst, verpflichten. Die jungen
Männer können dann eher eine berufliche Ausbildung
machen. Die Schwierigkeit, die ich jedoch mit der Regierungspolitik habe, ist, dass Sie immer kürzen, kürzen und
kürzen, aber kein Konzept für den Zivildienst vorlegen.
Das haben Sie bis heute nicht geschafft.
({14})
Ich habe wirklich den Eindruck, Frau Ministerin - ich begründe das jetzt auch noch -, dass das für Sie keine Herzensangelegenheit und deshalb auch keine Chefinnensache ist.
Durchgesickert ist ja nun in der letzten Woche, dass die
Arbeitsgruppe zur Zukunft des Zivildienstes, die in Ihrem
Ministerium hinter verschlossenen Türen tagt, einen freiwilligen Zwangsdienst ausgebrütet haben soll. Man kann
sich also als Wehrpflichtiger oder Zivildienstleistender
zwei Monate länger, als der Zivildienst dauert, verpflichten. Dann braucht man weder den Wehrdienst noch den
Zivildienst zu leisten. Sie wollen also jetzt, weil Sie
Schwierigkeiten mit den Einrichtungen haben, einen freiwilligen Zwangsdienst, der zwei Monate länger als der
Zivildienst - das muss man sich einmal vorstellen, das
wären drei Monate länger als die Wehrpflicht - dauert,
einrichten. Ich halte das für happig. Für mich ist der Vorschlag völlig unseriös. Vielleicht fragen Sie einmal nach.
Ich bekomme keine Antwort, denn diese Arbeitsgruppe
tagt hinter verschlossenen Türen. Die Ministerin hat ja angekündigt, dass es in der nächsten Woche eine entsprechende Vorlage geben wird. Ich bin sehr gespannt, ob sich
dieser Vorschlag in dieser Vorlage wiederfindet.
Jetzt denken Sie aber
an Ihre Redezeit.
Ich achte jetzt darauf.
Nein, sie ist schon seit
über einer Minute abgelaufen.
Über eine Minute? Dann will ich
nur zum Schluss Frau Bergmann noch ein Lob aussprechen. Gemäß dem Haushaltsentwurf wollen Sie Mittel zur
Stärkung des Ehrenamtes einsetzen. Da stimmen wir Ihnen uneingeschränkt zu. Ich hoffe, dass es nicht nur Gutachten geben wird, sondern auch vor Ort von den Vereinen und Verbänden praktische Arbeit durchgeführt
werden kann. Dabei sind wir Ihnen gerne behilflich.
({0})
Nun hat die Kollegin
Petra Bläss, PDS-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwei Jahre nach der Bundestagswahl
ist es an der Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Auch in
der Frauenpolitik fällt diese ernüchternd aus. Der Regierungswechsel zu Rot-Grün war zu Recht mit der Hoffnung auf einen Paradigmenwechsel in der Gleichstellungspolitik verbunden. Lassen Sie mich aus aktuellem
Anlass exemplarisch aufzeigen, warum die Enttäuschung
über Ihre halbherzige Politik - übrigens nicht nur bei uns so groß ist.
Frau Ministerin Bergmann, die Koalition hat vor zwei
Jahren ein effektives Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft versprochen. Die Praxis hat gezeigt, dass
in puncto Chancengleichheit in der Privatwirtschaft auf
freiwilliger Basis so gut wie nichts passiert und dass jahrelange Appelle an die Wirtschaft, an die Unternehmer, an
das Management nichts bewegt haben.
Nun ist von einem effektiven Gleichstellungsgesetz
für die Privatwirtschaft so gut wie keine Rede mehr. Nun
wollen Sie doch wieder auf Appelle setzen. Natürlich
gibt es die Unternehmen, bei denen Appelle fruchten, die
mit gutem Beispiel vorangehen, die zudem wissen, dass
sich die Gleichbehandlung der Geschlechter auch rechnet. Aber sie sind in der Minderzahl. Sie selber haben vergangene Woche gesagt, dass sich von über 2 Millionen
Betrieben gerade einmal knapp 100 um Prädikate für
Chancengleichheit bemühen.
Frau Ministerin, ich habe mich an den Dialogforen Ihres Ministeriums zum Thema Chancengleichheit in der
Wirtschaft beteiligt. Ich bin mit Ihnen der Meinung, dass
Chancengleichheit für Männer und Frauen tatsächlich ein
Erfolgsfaktor für die Wirtschaft sein kann. Aber intensiver Dialog ersetzt keine Handlungen, auch und vor allem
nicht die des Gesetzgebers.
({0})
Wenn Sie sagen, unternehmerische Freiheit und Tarifautonomie haben Vorrang vor staatlichen Interventionen,
dann bringen Sie etwas durcheinander. Unternehmerische Freiheit darf keinen Vorrang haben, wenn sie zur
Diskriminierung eines ganzen Geschlechts genutzt wird.
({1})
Die Tarifautonomie wird durch das Grundgesetz geschützt. Im Übrigen hat niemand gefordert, hier von staatlicher Seite zu intervenieren. Die Gleichstellung der
Frauen aber ist ein Verfassungsauftrag. Ihn durchzusetzen
ist Aufgabe der Politik. Davor kann sich die Koalition
nicht drücken.
Aber genau das tun Sie, wenn Sie nun, wie vergangene
Woche angekündigt, die Verantwortung auf die Tarif- und
Betriebspartner abschieben. Es mag ja gut klingen - wie
Sie eben noch einmal ausgeführt haben - dass sich dann
jeder das aussuchen kann, was er braucht. Aber das hilft
den Frauen herzlich wenig. Warum meinen Sie, dass Gewerkschaften und Betriebsräte gerade jetzt das durchsetzen können, was ihnen jahrelang nicht gelungen ist? Da
hilft es auch nichts, dass Sie für einen späteren Zeitpunkt
gesetzlichen Zwang ankündigen.
Nein, es bleibt dabei: Wir brauchen klare und verbindliche gesetzliche Vorgaben. Dazu gehören nun einmal effektive Quotierungsregelungen.
({2})
Wir brauchen Gleichstellungsbeauftragte in den Betrieben, die entsprechende Rechte haben, die Gleichstellung
durchzusetzen.
({3})
- Das reicht eben nicht. Aber zur notwendigen Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes sage ich gleich
noch etwas.
Wenn das Gesetz nicht zum zahnlosen Papiertiger werden soll, denn brauchen wir auch Sanktionen, vor allem
ein Verbandsklagerecht.
({4})
Zudem müssen wir die Vergabe öffentlicher Aufträge daran knüpfen, dass die Unternehmen Frauen fördern. Einige Bundesländer haben bereits solche Regelungen. Sie
beweisen, dass die Welt nicht untergeht und auch der
Standort nicht verloren ist, wenn Betriebe Anreize haben,
nicht zu diskriminieren.
Wir müssen auch das individuelle Diskriminierungsverbot nach § 611 a des Bürgerlichen Gesetzbuches neu
fassen. Denn es ist für Frauen heute noch immer äußerst
schwer, sich gegen persönliche Diskriminierung zur Wehr
zu setzen. Das geltende Gesetz ist in der Praxis kaum
wirksam, weil der Tatbestand „Diskriminierung aufgrund
des Geschlechts“ nicht eindeutig definiert ist, weil die Beweislast zu groß ist und die Sanktionen äußerst gering
sind.
Damit noch nicht genug. Wir müssen auch das
Beschäftigtenschutzgesetz überarbeiten. Denn der Schutz
vor sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ist nach wie
vor nicht ausreichend. Noch immer behandeln Betriebe,
Verwaltungen und Ausbildungsstätten sexuelle Belästigung als Kavaliersdelikt. Wir brauchen eine klare Definition der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz und effektive Beschwerdemöglichkeiten. Außerdem brauchen wir
Schadenersatzansprüche für die betroffenen Frauen.
Bei der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes
schließlich müssen wir die Betriebsräte und seine Gremien quotieren und ihre Kompetenzen im Bereich der
Frauenförderung ausweiten. Nur so können wir wirklich
sicherstellen, dass die Betriebsräte die Interessen von
Frauen angemessen vertreten.
Sie sehen also: Wir haben einen enormen Regelungsbedarf.
({5})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wenn es auch meines Erachtens sehr spät ist: Endlich ist unsere Gesellschaft
angesichts des Ausmaßes rassistisch motivierter Gewaltübergriffe aufgewacht. Wir Politikerinnen und Politiker
sind jetzt gefordert, unseren Worten Taten folgen zu lassen. Die PDS fordert, in den Haushalt im Rahmen des
Kinder- und Jugendplanes einen neuen Titel zur Förderung des zivilgesellschaftlichen Engagements gegen
Rechtsextremismus und Rassismus einzustellen. Wir
halten es für absolut dringlich, nicht nur zu Zivilcourage
gegen den Rechtsextremismus aufzurufen, wir müssen
dafür auch öffentliche Gelder bereitstellen.
Vielerorts sind es Jugendliche, die sich mit sehr viel
Mut gegen Rassismus und Gewalt zur Wehr setzen und
die eine unverzichtbare dialogorientierte Arbeit leisten.
Sie brauchen unsere Unterstützung. Frau Ministerin, wir
alle, vor allem die Jugendlichen, nehmen Sie beim Wort.
Sie haben eben sehr klare Worte gesprochen - ich finde
das gut -, dass wir die Gegenkräfte stärken müssen.
({6})
Aber - jetzt kommt mein „Aber“ - der Haushaltsentwurf, also die in Zahlen gegossene Politik, lässt davon leider herzlich wenig erkennen. Entgegen verschiedenen
Äußerungen aus dem Ministerium gibt es zumindest im
Moment - ich hoffe, das ändert sich noch im Laufe der
Haushaltsberatungen - keine zusätzlichen Mittel, kein
Aktionsprogramm, noch nicht einmal die quasi angekündigte Intensivierung, also die Aufstockung der Mittel für
politische Bildung.
In diesem Sommer sind viele Menschen hierzulande
wach geworden und haben das Ausmaß von Rassismus,
Antisemitismus und Rechtsextremismus in diesem Land
erkannt. Es ist Aufgabe der Politik, also von uns allen, alles Erdenkliche zu leisten, damit wirksam und nachhaltig
dagegen angegangen werden kann. Wir alle sind hier gefordert.
Ich danke Ihnen.
({7})
Ich danke der Frau
Kollegin Bläss dafür, dass sie 50 Sekunden ihrer Redezeit
eingespart hat.
({0})
- Ich bitte, diese Bemerkung nicht zu ernst zu nehmen.
Nun spricht die Kollegin Hildegard Wester, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit dem dritten Haushalt seit dem Regierungswechsel im
Jahre 1998 wird der Konsolidierungskurs der rot-grünen
Bundesregierung fortgesetzt. Trotz Sparhaushalt ist es gelungen, die Prioritäten richtig zu setzen. Der von dieser
Koalition eingeleitete Abbau der Staatsverschuldung
liegt auch im Interesse der Kinder und Jugendlichen sowie der Familien und Senioren;
({0})
denn nur mit einem ausgeglichenen Haushalt kann man
auf Dauer Zukunftsinvestitionen leisten. Wo wären Zukunftsinvestitionen sinnvoller und wichtiger als in dem
Bereich, den wir gemeinsam hier vertreten?
So ist es für junge Menschen, aber auch für unsere Sozialsysteme von zentraler Bedeutung, dass die Arbeitslosenzahlen endlich sinken, was im Augenblick der Fall ist.
Das ist ein Erfolg rot-grüner Wirtschafts- und Finanzpolitik und gezielter Arbeitsmarktförderungspolitik.
({1})
Zu den Schwerpunkten des rot-grünen Zukunftsprogramms gehört ganz eindeutig auch die Besserstellung
von Familien. In der Familienpolitik haben wir unser
Wort, das wir vor der Wahl gegeben haben, eingelöst. Wir
hatten nämlich versprochen, Frau Böhmer, die wirtschaftliche und soziale Lage der Familien spürbar zu verbessern.
({2})
Das ist uns zu einem großen Teil gelungen. Ich werde Ihnen gleich die Daten und Zahlen nennen.
In diesem Zusammenhang können wir ganz besonders
stolz darauf sein, dass wir eine Bundesministerin haben,
die trotz des schweren Standes, den unser Ressort im Kabinett häufig hat, durchgehalten und gekämpft hat.
({3})
In diesem Sinne war die Wahl, die auf Frau Bergmann als
Ministerin fiel, nicht ein Ausfall, sondern ein sehr guter
Einfall.
({4})
Bei den Familien in Deutschland und vermutlich auch
bei Ihnen ist es fast schon in Vergessenheit geraten, dass
bereits zum 1. Januar 1999, also nachdem wir drei Monate
an der Regierung waren, das Kindergeld von 220 DM um
30 DM auf 250 DM angehoben wurde. Seit Anfang dieses Jahres haben wir das Kindergeld erneut um weitere
20 DM erhöht und einen Kinderbetreuungsfreibetrag von
rund 3 000 DM eingeführt. Alleinerziehende können diesen Beitrag übrigens allein in Anspruch nehmen. Die Kindergelderhöhung um 20 DM kommt auch Familien mit
besonders niedrigem Einkommen zugute, da sie nicht auf
die Sozialhilfe angerechnet wird.
({5})
Seit Übernahme der Regierung wurde das Kindergeld somit um 22,7 Prozent erhöht.
Diese und weitere Erhöhungen bei anderen familienbezogenen Leistungen, zum Beispiel um 500 Millionen
DM beim BAföG, um 475 Millionen DM beim Wohngeld
und um 300 Millionen DM jährlich beim Erziehungsgeld,
sind in der Bundesrepublik Deutschland ohne Beispiel.
({6})
Diese Ausgaben für den Familienleistungsausgleich
werden 2001 erstmals das Niveau von 60 Milliarden DM
überschreiten. 1998 waren wir bei einem Niveau von
49,9 Milliarden DM. Für die zweite Stufe der Umsetzung
des Verfassungsgerichtsurteils zum Familienleistungsausgleich ab 2002 werden wir aber noch deutlich drauflegen müssen. Auch das werden wir gemeinsam mit Regierung und Fraktionen - hoffentlich auch mit Ihrer
Mithilfe - schultern. Wir werden dabei darauf achten,
dass verheiratete und unverheiratete Eltern, Alleinerziehende oder in Partnerschaft Erziehende befriedigende
Antworten auf ihre Situation erhalten. Denn so wie wir bei
der ersten Stufe der Umsetzung der Karlsruher Vorgaben
darauf geachtet haben, dass mehr als 90 Prozent der Alleinerziehenden mit der Neuregelung besser fahren als
vorher, werden wir auch bei der zweiten Stufe darauf achten, dass Nachteile, die entstehen könnten, kompensiert
werden.
Familien profitieren aber nicht nur von unserer Familienlastenausgleichspolitik, sondern auch von der allgemeinen Steuerpolitik, deren nächste Stufe im Jahre
2001 wirksam werden wird. Die entsprechenden Zahlen
sind zwar soeben schon genannt worden; ich möchte sie
aber wiederholen, weil es hier offensichtlich verschiedene
Grundlagen gibt - vielleicht prägen sie sich besser ein,
wenn man sie immer wieder nennt -: Eine Familie mit einem durchschnittlichen Einkommen von 60 000 DM und
zwei Kindern wird im Jahre 2005
({7})
- bis dahin findet ja ein allmählicher Anstieg statt; schon
jetzt kommt es zu einer Entlastung von knapp 2 000 DM nur noch rund 2 400 DM Steuern zahlen. Das sind 45 Prozent weniger als im Jahre 1998. Diese Familien beziehen
bereits jetzt pro Jahr ein Kindergeld von 1 200 DM mehr,
({8})
sodass diese Familien dann, wenn wir die letzte Stufe
unserer Einkommensteuerpolitik umsetzen, mehr als
4 000 DM pro Jahr zusätzlich im Portemonnaie haben
werden.
({9})
Natürlich kommt jetzt bestimmt wieder der Einwurf
„Ökosteuer“. Darauf möchte ich kurz eingehen: Ich weiß
nicht, woher Sie die Zahlen nehmen, nach denen eine Familie allein aufgrund der Ökosteuer - das kam jedenfalls
bei mir so an - pro Monat 130 DM mehr für Sprit ausgibt.
({10})
Etwas anderes als die Ökosteuer haben wir hier nicht zu
vertreten. Wir machen Politik und sind nicht in der Wirtschaft. Wir werden nicht dabei nachlassen, im Sinne der
Umwelt und im Sinne der Entlastung der Arbeit eine vernünftige Steuerpolitik voranzutreiben und fortzuführen.
({11})
Wir werden uns nicht daran beteiligen, zu verschleiern,
wo die Verursacher der Erhöhungen der Energiekosten
sind. Sie befinden sich jedenfalls nicht in der Politik. Die
Politik wird sich an diesem Punkt nicht erpressen lassen.
({12})
Mit der Reform des Bundeserziehungsgeldgesetzes
haben wir weitere Meilensteine gesetzt.
({13})
Das wurde soeben schon einmal festgestellt; ich muss es
wiederholen. Wir haben eine Reform auf den Weg gebracht, die überfällig war. 14 Jahre lang hat das Gesetz
Geltung gehabt, das Sie seinerzeit eingebracht haben und
das nicht dazu angetan war, dass Männer und Frauen Beruf und Familie miteinander vereinbaren können.
Jetzt gibt es zudem für immerhin 75 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Betrieben einen Rechtsanspruch auf Teilzeit. Das ist eine zukunftsweisende Politik. Denn die Menschen wollen Beruf und
Familie miteinander vereinbaren. Dies gilt nicht nur für
Frauen, sondern auch für Männer. Wir wollen gleichzeitig eine gezielte Frauenförderungspolitik betreiben. Wir
sind auf dem besten Wege. Frau Bläss, es geht nicht nur
darum, zu appellieren. Vielmehr wird dabei ein verbindliches Gesetz herauskommen.
Es wird verbindlich sein, dass Frauenförderung ein Ziel
der Politik ist, das eingehalten werden muss. Nur - das
müsste durchaus in Ihrem Sinne sein, Frau Lenke -, die
Wahl der Mittel, die der einzelne Betrieb vornimmt, sollte
nach den Gegebenheiten des Betriebes so flexibel wie
möglich sein. Wenn dort aber nichts passiert, werden
Sanktionen eintreten.
({14})
Genau das sind die Ziele und Absichten der Bundesregierung und der Ministerin Bergmann. Die Fraktion unterstützt diesen Weg und dieses Ziel intensiv.
Ich sagte soeben, wir wollen Männern und Frauen ermöglichen, Erziehung und Beruf miteinander zu vereinbaren. Damit machen wir auf der einen Seite deutlich,
dass Erziehung eine gesellschaftliche und nicht nur eine
Aufgabe der Familien ist; denn die Betriebe und die Gesellschaft werden in die Pflicht genommen. Wir machen
aber auf der anderen Seite auch deutlich, dass wir erkennen, dass es nicht nur der finanzielle Rahmen ist, der
Familien eventuell dazu bringen könnte, ihren Kinderwunsch zu realisieren. Die übrigen Bedingungen sind viel
wichtiger als die Frage, ob es 10 DM oder 20 DM mehr
an Kindergeld geben wird. Das heißt aber natürlich nicht,
dass ich nicht um jede 10 DM mehr an Kindergeld kämpfen werde. Das ist kein Widerspruch, sondern eine Ergänzung.
({15})
Bedeutsam für den Haushalt im Bereich des Erziehungsgeldes - wir wollen das neue Gesetz Elternzeitgesetz nennen - ist die Erhöhung der Einkommensgrenzen. Wir überlegen uns natürlich intensiv - wir wären
keine guten Familienpolitikerinnen und Familienpolitiker, wenn wir das nicht täten, und ich lade Sie recht herzlich ein, mitzumachen -, wie wir gegebenenfalls noch
Spielräume für weitere Verbesserungen in diesem Bereich
erreichen können.
Es ist hier bereits häufig angesprochen worden, aber
ich muss es noch einmal bekräftigen, dass das Elternzeitgesetz allein nicht in vollem Umfang die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf ermöglichen oder erleichtern kann.
Es müssen durch die Kommunen und Länder Betreuungseinrichtungen für Kinder aller Altersgruppen bereitgestellt werden. Hier muss kräftig investiert werden. Ich
denke, wir täten dabei gut daran, der Ministerin bei ihren
Verhandlungen, die sie zurzeit mit den Ländern führt, den
Rücken zu stärken, damit hier weitere Anstrengungen unternommen werden. Das alles muss natürlich finanzierbar
sein.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?
Ja, bitte.
Bitte sehr.
In den Vorstellungen der Bundesregierung wurde ausgeführt, dass die Bundesregierung
die Länder und Kommunen finanziell unterstützt. Machen
Sie das in dieser Legislaturperiode, um mehr BetreuungsPetra Bläss
einrichtungen für Kinder aller Altersgruppen vorzuhalten?
Frau Lenke, Sie wissen,
dass die Bundesregierung die Kommunen und Länder bei
dieser Aufgabe nicht unmittelbar unterstützen kann. Es
gibt daher Gespräche, um auszuloten, auf welchen Wegen
man Anreize schaffen kann. Das wird sicherlich nicht
durch eine direkte finanzielle Unterstützung möglich sein.
Meine Damen und Herren, es ist weiterhin erfreulich,
zu beobachten, dass der zur Verfügung stehende Ansatz
beim Unterhaltsvorschussgesetz mit 555 Millionen DM
ausreichend ist. Wir haben durch die Veränderung des Finanzierungsschlüssels, der zum 1. Januar dieses Jahres in
Kraft getreten ist, erreichen können, dass auf der einen
Seite der Bund entlastet und auf der anderen Seite die
Möglichkeit gegeben wurde, sich durch stärkere
Rückholaktivitäten von Kosten zu entlasten.
Wir sehen, dass es eine erfreuliche Entwicklung gibt;
denn es sind zum Teil Steigerungen im Rückholfluss von
4 bis 5 Prozent zu vermerken, und das in relativ kurzer
Zeit. Ich finde die Bemühungen ausgesprochen notwendig, denn sie zeigen einerseits, dass mehr herausgeholt
werden kann, sie zeigen andererseits aber auch, dass es
viel zu lange versäumt worden ist, von denjenigen Unterhaltsleistungen einzufordern, von denen sie gezahlt werden müssen, nämlich von den Unterhaltspflichtigen.
({0})
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
- Ja, ich denke an meine Redezeit.
Dadurch, dass ich meine Redezeit überschritten habe,
kann ich den wichtigen Bereich der Seniorenpolitik nun
leider nicht mehr ansprechen; das Wesentliche haben die
Ministerin und Frau Schewe-Gerigk aber schon gesagt.
Sie haben mich mit Ihren Einlassungen zur Familienpolitik dazu verleitet, hier etwas ausführlicher zu werden. Ich
kann Ihnen jetzt nur anbieten: Bringen Sie Ihre Kritik in
die Haushaltsberatungen ein. Versuchen Sie mit uns das
zu machen, was zu machen ist; denn dass wir alle so viel
wie möglich für die Familien wollen, das ist, so denke ich,
selbstverständlich.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat nun die
Kollegin Maria Eichhorn, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, die 14. Legislaturperiode hat Halbzeit und die Bilanz für Ihr Haus
fällt bislang kläglich aus.
({0})
Es kommt nicht von ungefähr, dass Sie in der Bekanntheitsskala der Bevölkerung am unteren Ende rangieren und das, obwohl Sie Fachbereiche vertreten, die nahezu
jede Bürgerin und jeden Bürger persönlich betreffen. Die
von Ihnen auf den Weg gebrachten Initiativen sind nur
von mäßiger Innovationskraft und werden öffentlich entsprechend wenig wahrgenommen. Ihre Durchsetzungsfähigkeit am Kabinettstisch wird nicht ohne Grund selbst
aus Ihrer eigenen Fraktion bemängelt.
({1})
In einem Artikel der „Berliner Zeitung“ vom 2. März dieses Jahres beklagt Ihre Fraktionskollegin Ulla Schmidt,
dass Sie ohne Not den Begehrlichkeiten Eichels nachgegeben haben. Ich kann Ihre Kollegin nur unterstützen,
wenn sie fordert - ich zitiere -: „Da muss man schon mal
Nein sagen!“. Frau Ministerin, setzen Sie sich auch einmal durch! Wir unterstützen Sie gerne, wenn es um die
Anliegen von Familien, Senioren und Jugendlichen geht.
({2})
So sind viele Ihrer Ankündigungen und Versprechen
ebenso wie zahlreiche Forderungen, die in der letzten Legislaturperiode von der Oppositionsbank aus lautstark erhoben wurden, dahingeschmolzen. Gesetzentwürfe werden verschoben und verschoben; Versprechungen werden
Stück für Stück von allen Seiten zurechtgestutzt. Das Erziehungsgeld hat diverse Entwürfe durchlaufen, die immer geringere Leistungen und Verbesserungen für die Familien beinhaltet haben. Nach eineinhalb Jahren lag dann
endlich der Regierungsentwurf vor, der nur noch geringfügige Mittelerhöhungen vorsah. Dafür, dass dies eine
zentrale Maßnahme der Regierung sein sollte, nimmt sich
das sehr spärlich aus.
Besonders erstaunlich ist aber, dass der Haushaltsansatz 2001 um - man höre - 200 Millionen DM unter den
Ansatz von 2000 sinkt. Da kann dann auch jeder Laie sehen, dass Sie selbst nicht damit rechnen, dass Ihr neues
Gesetz gravierende Verbesserungen bringt. Natürlich sinken - das räume ich ein - mit rückläufigen Geburtenzahlen die Ausgaben. Aber dann hätten Sie diese Mittel zum
Beispiel für die Anhebung der Freibeträge beim Erziehungsgeld verwenden können. Oder prognostizieren Sie
sinkende Ausgaben, weil Sie aufgrund der Budgetregelung noch mit deutlichen Einsparungen für den Bundeshaushalt rechnen? Denn diese Budgetregelung verführt
junge Familien dazu, auf einen Teil ihres Erziehungsgeldanspruchs zu verzichten.
Viel besser sieht es für die Familien auch beim Kindergeld nicht aus. Der von der rot-grünen Regierung zähneknirschend erhöhte Kinderfreibetrag ist nur die unabwendbare Minimalantwort auf die Beschlüsse des
Bundesverfassungsgerichts und kommt nur circa 10 Prozent der Bevölkerung zugute.
({3})
Aber die große Mehrheit der Familien kann eben nicht die
3 000 DM an Kinderfreibetrag in Anspruch nehmen, sondern bekommt die 30 DM mehr Kindergeld im Monat und das nur für das erste und zweite Kind.
Das Bundesverfassungsgericht fordert ein familienpolitisches Gesamtkonzept. Bis jetzt ist das, was Sie vorgelegt haben, nur Stückwerk. Mit den jetzt für 2002 angekündigten 30 DM mehr an Kindergeld - rechtzeitig zur
nächsten Wahl ({4})
werden Sie die Ungerechtigkeiten gegenüber Familien
nicht beseitigen - schon gar nicht, wenn Sie entgegen aller
Vernunft an der familienfeindlichen Ökosteuer festhalten.
({5})
Als Sie noch in der Opposition waren, haben Sie immer von Gerechtigkeit für Familien gesprochen. Jetzt sind
Sie an der Regierung; jetzt haben Sie die Möglichkeit,
Ihren eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Da der Finanzminister wesentlich mehr Geld in der Tasche hat als
ursprünglich erhofft, könnten Sie tatsächlich Familienpolitik machen. Machen Sie diese! Legen Sie ein Gesamtkonzept vor! Kleckern Sie nicht!
Auch für die Seniorinnen und Senioren gehen die
Dinge nur langsam voran. Das Heimgesetz liegt nach
zwei Jahren Regierungszeit noch nicht vor,
({6})
obwohl es von Anfang an zugesagt war. Aber es gibt ständig grundlegend geänderte Entwürfe. Das ist immerhin
mehr als das von langer Hand versprochene AmbulanteDienste-Gesetz. Denn dort gibt es noch gar nichts. Sie betonen zwar immer die Notwendigkeit, dass die Qualität in
der Pflege sobald wie möglich gesichert werden muss,
aber von Ihnen ist dazu bisher noch nichts vorgelegt worden.
Lange, lange warten wir auch schon auf Ihr vielfach
angekündigtes Gleichstellungsgesetz. Aber auch die Vorstellung am letzten Freitag enthielt wieder nur eine
Ankündigung. So kann man seine Pressemitteilungen und
Reden natürlich auch füllen.
({7})
Aber Politik muss konkret sein und darf nicht nur aus
Ankündigungen bestehen.
({8})
Denn noch sind die Eckpunkte des Gleichstellungsgesetzes nur erahnbar. Mehr als die Grundidee konnten
Sie auch dieses Mal wieder nicht bieten. Diese spärlichen
Aussagen lassen darauf schließen, dass dann tatsächlich
verwirklichte Aussagen nur minimal sein werden. Wir
werden sehen, ob die immer noch bestehenden eklatanten
Benachteiligungen für Frauen im Erwerbsleben im Ergebnis wirksam abgebaut werden.
({9})
Gleiche Chancen und gerechte Entlohnung für Frauen
im Beruf sind ein Anliegen, das fraktionsübergreifend
große Unterstützung findet. Trotzdem ist das für Frauen
nur eine Seite des Lebens. Die andere ist die Familie.
({10})
Wenn man Ihre bisherigen Gesetze und Vorhaben betrachtet, Frau Ministerin, dann stellt man fest, dass Sie in
erster Linie immer an die Berufstätigkeit denken und dass
die Familie nur zweite Priorität hat.
({11})
Wir wollen, dass Sie beides gleich behandeln, Frau Ministerin.
Vor einigen Wochen hat das Kabinett im Hinblick auf
die Diskussion um den Rechtsextremismus eine Initiative für Jugendliche beschlossen. Auf Nachfrage konnten
wir in Erfahrung bringen, dass es sich dabei um arbeitspolitische Maßnahmen handelt. Dagegen ist nichts zu sagen. Aber mir fehlt das Engagement der Jugendministerin. Denn es gab bereits unter Frau Nolte Projekte gegen
Aggression und Gewalt. Im Haushalt des Jugendministeriums, den wir heute einbringen, ist keine zusätzliche
Mark für dieses Thema vorgesehen. Wir fordern jugendpolitische Maßnahmen zur Gewaltprävention und zur
Gewaltbekämpfung, zur Bekämpfung von Radikalismus
jedweder Art, nicht nur von rechts, sondern auch von
links.
({12})
Frau Ministerin, großen Schaden haben Sie durch die
Sparmaßnahmen im Zivildienstbereich angerichtet. Entgegen allen vollmundigen Versprechungen und Ihren heutigen Behauptungen sind auch im Pflegebereich deutliche
Verschlechterungen erfolgt. Die Betreuung von chronisch
Kranken und von Behinderten hat durch die Verkürzung
des Zivildienstes auf elf Monate deutliche Einschränkungen erfahren. Übergänge zwischen den Zivildienstleistenden sind für die Verbände kaum lückenlos organisierbar,
sodass es zu entsprechenden Sommerengpässen kam und
auch in Zukunft wieder kommen wird.
Die Verbände beklagen einhellig große Planungsprobleme und Verschlechterungen insbesondere bei den so
genannten Diensten am Menschen.
({13})
Im Juli war aufgrund der Kürzungen nur noch etwa die
Hälfte der Zivildienstplätze besetzt. Der Paritätische
Wohlfahrtsverband - dieses Schreiben haben Sie sicherlich auch bekommen - hat soeben hilferufend mitgeteilt,
dass er im Juli nur 40 Prozent der Stellen besetzen konnte.
Damit lässt sich keine kontinuierliche Hilfe für die behinderten oder chronisch kranken Menschen planen. So überlegen einzelne Verbände jetzt bereits, ob sie den Einsatz
von Zivildienstleistenden in Zukunft nicht ganz streichen.
({14})
Die geplante Verkürzung des Ersatzdienstes auf zehn
Monate verschärft die Situation zusätzlich und entspricht
weder der Wehrgerechtigkeit noch dem sinnvollen Einsatz von Zivildienstleistenden. Dass dann gerade im wichtigsten - im pflegerischen - Bereich Zivildienstleistende
kaum noch angemessen eingearbeitet werden können,
wurde offensichtlich auch in Ihrem Haus entdeckt. Nun
sollen deshalb nach Plänen des Ministeriums Freiwillige
die Lücke füllen, wie letzte Woche bekannt wurde; Frau
Lenke hat es angeführt. Das heißt, Zivildienstleistende
sollen ihren Dienst um zwei Monate verlängern. Glauben
Sie denn wirklich, dass ohne irgendwelche Anreize die
weniger attraktiven Einsatzstellen auf diese Weise besetzt
werden können?
Wenn ich Ihr Vorgehen im Zivildienstbereich in den
letzten Monaten verfolge, werde ich den Verdacht nicht
los, dass Sie den Zivildienst eigentlich abschaffen wollen.
Die CDU/CSU ist für die Beibehaltung der Wehrpflicht.
Dazu gehört untrennbar - schon im Hinblick auf die
Wehrgerechtigkeit - der Zivildienst. Dass der Zivildienst
gerade im Pflegebereich unverzichtbare, wertvolle Dienste leistet, hat die aktuelle Diskussion eindrucksvoll bestätigt.
Von der Oppositionsbank aus haben Sie, meine Damen
und Herren von der Regierung, gerade im Bereich des
Einzelplans 17 immer die tollsten Dinge gefordert. Die
heutige Regierungsrealität hält Ihren früheren Forderungen nicht im Entferntesten stand. Im Haushalt 2001 finden sich gewaltige Mittelsteigerungen für Geschäftsbedarf und Kommunikation. Aber für Mehrausgaben
zugunsten von Familie, Senioren, Frauen und Jugend haben Sie kein Geld. Ich bin gespannt, wie Sie das bei den
Beratungen rechtfertigen werden.
({15})
Denken Sie an die Redezeit, bitte.
Ein letzter Satz: Frau
Ministerin, ich fordere Sie auf, nicht vor dem Finanzminister zurückzuweichen, sondern um die Anliegen Ihres Hauses zu kämpfen.
({0})
Nun erteile ich das
Wort dem Kollegen Christian Simmert, Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Genauso vielfältig wie
die junge Generation ist der hier vorliegende Haushaltsentwurf des Familienministeriums. Der Kampf gegen
Jugenderwerbslosigkeit, das Eröffnen von neuen Chancen für junge Frauen und Männer, die Bekämpfung des
Rechtsextremismus - er ist im Übrigen nicht ausschließlich ein Jugendproblem - und die Neuordnung des Zivildienstes: Die rotgrüne Koalition stellt sich mit dem vorliegenden Haushaltsentwurf des BMFSFJ den anstehenden Herausforderungen.
Gerade die Bekämpfung des Rechtsextremismus und
die damit verbundene Stärkung der Zivilgesellschaft kann
natürlich nicht ausschließlich mit Haushaltstiteln gestaltet
werden. Dazu bedarf es mehr. Die Bundesregierung hat
jedoch - Frau Eichhorn, vielleicht nehmen Sie das einmal
zur Kenntnis - zusätzlich 75 Millionen DM aus Mitteln
des Europäischen Strukturfonds bereitgestellt.
({0})
Es werden weitere Maßnahmen ergriffen, die Sie auch im
Haushalt finden. Die Bundesregierung ist nämlich nicht
- wie vielleicht manches Mal die alte Regierung - auf
dem rechten Auge blind.
({1})
Bündnis 90/Die Grünen treten seit langem für ernsthafte, konzeptionelle Anstrengungen in diesem Bereich
ein. Strohfeuer oder blinden Aktionismus können wir uns
an dieser Stelle nicht mehr leisten. Dies betrifft auch die
Jugendarbeit. Bund und Länder müssen ihr Engagement
verstärken. Wir brauchen einen Bewusstseinsbildungsprozess nicht nur bei jungen Menschen, der Zivilcourage,
aber auch das Wissen um die deutsche Vergangenheit in
den Mittelpunkt stellt. Schule und Jugendarbeit kommen
hierbei in Ost und West eine besondere Bedeutung zu. Wir
müssen in diesem Punkt die Vernetzung unterschiedlicher
Akteure, die Vernetzung unterschiedlicher Menschen fördern: kein Nebeneinander, sondern ein stärkeres Miteinander für Toleranz und gegen Rassismus.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Rechtsextremismus
darf nicht noch stärker zur Jugendkultur werden. Ich teile
die Aufforderung des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, dass gerade in puncto
Jugendarbeit stärkere Anstrengungen nötig sind. Dies ist
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, gleichzeitig aber
auch eine dauernde Herausforderung an die Politik.
Ein Baustein zur Vernetzung unterschiedlicher Akteure
vor Ort ist das Programm „Entwicklung und Chancen“
von Ministerin Bergmann. Diesen innovativen Weg neuer
Projekte gilt es weiter zu gehen. Das machen wir.
({3})
Auch die Bekämpfung der Jugenderwerbslosigkeit
geht 2001 mit dem Sofortprogramm JUMP in eine neue
Runde. Das Programm ist weiterhin wichtig. Gerade in
den neuen Bundesländern gilt es jedoch draufzusatteln.
Notprogramme werden allerdings in keinem Fall das immer noch vorhandene strukturelle Defizit an Ausbildungsplätzen ausbügeln können. Dies gilt besonders für
junge Frauen, Migrantinnen und Migranten sowie benachteiligte Jugendliche.
Hier ist nach wie vor die Wirtschaft gefragt. Nur dann,
wenn junge Frauen und Männer einen Ausbildungs- und
Arbeitsplatz im ersten Markt finden, können wir von einer wirklichen beruflichen Perspektive für junge Menschen sprechen.
Perspektiven eröffnen heißt aber auch, im nationalen,
europäischen und internationalen Kontext zu denken. Gerade für junge Menschen ist es besonders wichtig, andere
kulturelle Zusammenhänge zu erfahren und zu verstehen.
Dies gilt auch für soziale oder ökologische Dimensionen.
Bündnis 90/Die Grünen setzen sich deshalb für einen
Ausbau der Freiwilligendienste ein. Einen kleinen
Schritt haben wir bereits im vorliegenden Haushalt gemacht.
Das anstehende UN-Jahr der Freiwilligen ist für uns
Anlass genug, die rechtlichen Rahmenbedingungen von
Freiwilligen zu verbessern. Dazu bedarf es neben einer
verstärkten finanziellen Förderung auch eines Freiwilligendienstentsendegesetzes, das die rot-grüne Koalition auf den Weg bringen wird. Ein wichtiger Baustein
wurde bereits mit den Kooperationsbüros - das hat Frau
Ministerin gerade angesprochen - für den deutsch-israelischen Jugendaustausch gelegt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Seifert?
Gerne.
Bitte sehr.
Lieber Herr Kollege Simmert,
habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie jetzt - im Gegensatz zur Situation von vor zwei oder drei Monaten für den Ausbau von Freiwilligendiensten anstelle des Zivildienstes oder ähnlicher Dienste sind? Wollen Sie darauf verzichten, daraus feste Arbeitsplätze zu machen?
Wie darf ich Ihre jetzige Bemerkung verstehen?
Wenn ich mich recht entsinne, hatten Sie als Person
und auch die Grünen insgesamt die Dienstkategorie bisher eher abgelehnt. Es würde mich schon interessieren
und es wäre auch nicht unwichtig, ob Sie sagen: Wir wollen richtige Arbeitsplätze mit gut bezahlten und gut ausgebildeten Arbeitnehmern, die eine Perspektive haben,
oder Dienste, die irgendwelche Löcher stopfen sollen.
Kollege Seifert, wenn Sie mit der Frage etwas gewartet
hätten, dann hätten Sie gemerkt, dass ich zu der Passage
Zivildienst später komme. Hier geht es mir jetzt um internationalen Freiwilligendienst. Die Antwort auf Ihre Frage
werde ich Ihnen gleich geben. Ist das in Ordnung? - Gut.
Ich will mit dem Bereich Freiwilligendienst und
Jugendaustausch fortfahren, weil beide Punkte, wie ich
finde, ein wichtiger Beitrag zur Bekämpfung des Rechtsextremismus sind. Nicht nur mit Israel, sondern auch mit
unserem Nachbarn Polen müssen wir gerade vor dem
Hintergrund der deutschen Vergangenheit den Dialog der
Generationen untereinander verstärken.
({0})
Ob der Freiwilligendienst in der Gedenkstätte Auschwitz, die freiwillige Arbeit in israelischen Pflegeheimen
mit Schoah-Überlebenden oder ein trinationaler Jugendaustausch, dies alles ist mehr als Erinnerungskultur. Dies
alles ist ein aktiver Beitrag für einen nachhaltigen Bewusstseinsbildungsprozess, für Toleranz und für die Stärkung einer pluralen Zivilgesellschaft und damit Grundstein jeder lebendigen Demokratie.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Kollege
Seifert - liebe Frau Lenke, bitte hören Sie zu - ich komme
jetzt zu dem im Einzelplan 17 größten Bereich, den des
Zivildienstes. Die rot-grüne Bundesregierung hat im Gegensatz zur schwarz-gelben die Gleichbehandlung von
Wehr- und Zivildienst nahezu hergestellt.
({2})
- Jetzt hören Sie gut zu, was wir alles getan haben. Vielleicht waren Sie bei den verschiedenen Gelegenheiten
nicht dabei. - Gleiche Besoldung und die einseitige Verkürzung des Zivildienstes auf elf Monate machen deutlich, dass Rot-Grün die Gleichbehandlung der Dienste
wichtig ist, wichtiger zumindest als Ihnen früher, während
Ihrer Regierungsbeteiligung.
({3})
- Frau Lenke, hören Sie mir zu.
Gleichzeitig konnten wir dabei auch noch sparen. Die
alte Bundesregierung hat weder das eine noch das andere
auf die Beine gestellt, was wir in den ersten zwei Jahren
erreicht haben.
({4})
- Annähernd, annähernd.
Natürlich ist es ein schwieriger Weg gewesen, die
Gleichbehandlung der Dienste und die Kernbereiche des
Zivildienstes ausgewogen zu steuern; das bestreite ich
nicht. Aber das, was Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Opposition, uns noch vor wenigen Monaten und
auch heute wieder, Frau Eichhorn, zum Vorwurf gemacht
haben, ist in keiner Weise eingetreten, zumindest größtenteils nicht. Was war da von Ihnen nicht alles zu hören
und zu lesen über Engpässe in den Pflegediensten,
({5})
über gravierende Ausfälle im sozialen Bereich; nie und
nimmer würde man die Verkürzung der Zivildienstzeiten
verkraften.
Kollege Seifert, ein Punkt ist richtig: Es scheint einige
Problemfälle zu geben. Frau Ministerin hat gesagt: Man
muss sich das anschauen. Das werde auch ich tun. Aber
hier davon zu reden, Frau Eichhorn, dass die Verbände
Sturm laufen würden, das ist falsch. DPWV vor einigen
Wochen: Die Delle werden wir verkraften, sie ist nicht so
groß, wie befürchtet. AWO: keine gravierenden Ausfälle
in Bereichen, wo wir dies gedacht haben. Also, kein
Chaos. Die Verbände konnten sich in einem angemessenen Zeitraum auf die Veränderungen einstellen und den
Einsatz von Zivildienstleistenden selbst steuern. Das von
Ihnen beklagte Horrorszenario blieb nun wirklich aus.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich stehen wir
gerade beim Zivildienst durch die anstehende Wehrstrukturreform vor neuen Herausforderungen. Kollege Seifert,
jetzt komme ich zu dem von Ihnen angesprochenen Punkt.
Obwohl Sie eigentlich keine Redezeit mehr haben.
Ich bin gleich am Ende. Ich wollte auf die Frage innerhalb
meiner Rede noch eingehen.
({0})
- Dass Sie mir nicht zuhören wollen, ist mir klar, aber im
Ausschuss werden Sie sich noch mit uns beschäftigen
müssen.
Also, die Position von Bündnis 90/Die Grünen ist bekannt und bleibt - konzeptionell untermauert - weiterhin
die, dass wir eine Konversion des Zivildienstes wollen.
Im Übrigen finde ich es gut, dass Sie uns nachfolgen wollen und die Wehrpflicht abschaffen möchten.
({1})
- Aussetzen, ach, so weit gehen Sie nicht. Na ja, wir werden sehen. Der Zivildienst wird jedoch nicht von heute auf
morgen abzuschaffen sein. Auch das haben wir immer
deutlich gesagt. Die vom BMFSFJ eingesetzte Kommission wird in den nächsten Tagen ihre Ergebnisse dazu vorstellen, wie der Umbau gestaltet werden kann. Der grüne
Faden in diesem anstehenden Diskussionsprozess für
meine Fraktion ist dabei klar: Unser Grundgedanke bleibt
weiterhin der der Gleichbehandlung.
Wir wollen auch hier konzeptionell den attraktiven
freiwilligen Dienst ausbauen. Wir wollen über den Bereich der Arbeitsplatzschaffung und über Beschäftigungspotenziale reden und diskutieren. Das werden wir
machen. Wir bleiben bei dem Beschluss, den wir im Mai
gefällt haben. Ich glaube allerdings, dass der Dialog und
das, was wir mit den Verbänden zusammen auf den Weg
gebracht haben - das steht für diese Kommission -, der
richtige Weg ist. Den werden wir zusammen gehen.
Ich plädiere in diesem Zusammenhang für eine weniger hektische und eher konzeptionelle politische Diskussion, Frau Lenke, nach Vorlage der Kommissionsergebnisse, und nicht vorher.
Nun müssen Sie bitte
zum Schluss kommen.
Ich freue mich auf die Diskussion im Ausschuss und
danke Ihnen.
({0})
Jetzt hat Kollege
Klaus Haupt, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Diesen Sommer sind wir nur allzu
deutlich daran erinnert worden, welch bedeutsame Aufgabe die Jugendpolitik darstellt.
Ich glaube, für uns alle ist es erschreckend, wie die
Hemmschwelle für Gewalt bei verblendeten Jugendlichen
zwischen Bier und Hakenkreuz so weit gesunken ist, dass
der Zynismus der Worte umschlägt in Drangsalierung, ja
sogar Mord.
Die beschämenden rechtsextremistischen Straftaten
der vergangenen Monate zeigen den Ungeist der Gedankenlosigkeit, der Fremdenangst, der Menschenverachtung als Quelle der Intoleranz.
({0})
Sie zeigen aber auch deutlich die Defizite unserer Gesellschaft bei der Erziehung zur Demokratie.
({1})
Der Kampf der rechten Szene um die Vorherrschaft auf
der Straße und vor allem in den Köpfen unserer Jugend ist
eine Kriegserklärung an unsere Demokratie, eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung an alle Demokraten,
an Schulen, Kirchen, Gewerkschaften und nicht zuletzt
auch an die Politik.
({2})
Auch und gerade das Jugendministerium ist gefordert,
gegen diesen braunen Spuk vorzugehen und praktisch
geistige Vorsorge zum Schutz unserer Jugend zu leisten.
Das muss sich aber auch im Haushalt widerspiegeln. Wie
schon einige meiner Vorrednerinnen kritisierten, liegt leider ein Haushaltsentwurf von der Bundesministerin vor,
in dem die Maßnahmen der Jugendpolitik nicht unerheblich, nämlich um 6 Millionen DM, gekürzt werden.
Wir Liberalen glauben, dass alle demokratischen
Kräfte gemeinsam offensiv für eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft werben sollten. Die F.D.P. schlägt daher eine Initiative „Erziehung zur Demokratie“ vor.
({3})
Wir fordern ein Sonderprogramm zur Förderung der
kommunalen Jugendarbeit, insbesondere für politische
Bildung, soziales Engagement und kulturelle Arbeit
nichtstaatlicher Organisationen mit einer Mindestausstattung von 300 Millionen DM, von denen 250 MilliChristian Simmert
onen DM vom Bund kommen sollen. Wir fordern ein
Bund-Länder-Programm zur Verbesserung der politischen Bildungsarbeit. Allein die Versorgung mit Posten
für Genossen bei der Bundeszentrale für politische Bildung ist noch kein Konzept.
({4})
Wir fordern eine Verbesserung des internationalen Jugendaustauschs besonders dahin gehend, dass von deutscher Seite Jugendliche aus allen, wirklich allen Landesteilen teilnehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine offensive Erziehung zur Demokratie darf nicht an kleinlichen Kostenargumenten scheitern. Sie muss uns allen etwas wert sein.
Wir Liberalen werden entsprechende Anträge in die Haushaltsdebatte einbringen und hoffen hier auf parteiübergreifenden Konsens, auf eine Koalition der Vernunft zur
Stärkung unserer Demokratie.
({5})
Beim Jugendaustausch erfüllt uns mit Besorgnis, dass
dem Austausch mit Polen noch bei weitem nicht die gleiche Beachtung wie dem mit Frankreich zuteil wird. Natürlich hängt die Situation des Deutsch-Polnischen Jugendwerkes unmittelbar mit der Haushaltslage in Polen zusammen.
({6})
Doch die diesbezügliche Antwort der Bundesregierung
auf die Kleine Anfrage meiner Fraktion lässt leider allzu
wenige kreative Lösungsansätze erkennen. Der deutschpolnische Jugendaustausch braucht mehr Unterstützung
als bisher. Mit einem Weiterwursteln nach bisherigen
Prinzipien ist es nicht getan. Hier muss ein Paradigmenwechsel her.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir Liberalen freuen
uns darüber, dass immerhin die Mittel im Rahmen des
Kinder- und Jugendplanes um 2 Millionen DM für den
deutsch-israelischen Jugendaustausch aufgestockt werden.
({8})
Doch im Hinblick auf die Jugendkriminalität in den
neuen Ländern und die rechtsextremen Umtriebe scheint
eine Erhöhung der Aktionsprogramme als vordringlich.
Leider erfolgt hier aber nur eine Verstetigung des Vorjahresansatzes in Höhe von 6,1 Millionen DM. Eine Schwerpunktbildung mit entsprechender Mittelerhöhung wäre
aus Sicht der F.D.P. zu begrüßen.
Liebe Kollegen, wenn es um die Chancen und Perspektiven unserer Kinder und Jugendlichen geht, ist die
Politik mehr denn je gefordert. Lassen Sie uns gemeinsam
dieser Verantwortung gerecht werden!
Danke.
({9})
Jetzt hat die Kollegin
Christel Hanewinckel, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Politik für Jugend
verdient Ihren Namen, wenn sie der jungen Generation
zum Beispiel durch Schuldenabbau Zukunft eröffnet,
wenn sie die jungen Leute mit ihren Möglichkeiten und
Fähigkeiten zum Beispiel durch Ausbildung in die Gesellschaft aufnimmt, sodass sie dann als junge Erwachsene, die eine Familie gründen, Anerkennung und Sicherheit in unserem Land finden.
Jugendpolitik ist nicht an ein Ressort gebunden und das
ist gut so. Übergreifende Ansätze sind sowohl inhaltlich
als auch finanziell nötig. Deshalb gibt es jugendpolitische
Ansätze, Programme und Gelder im Bundesministerium
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, im Bildungsministerium, im Arbeitsministerium und im Innenministerium.
Wichtig für junge Frauen und Männer sind vor allen
Dingen Ausbildungs- und Arbeitsplätze, damit sie ihren
Platz in der Gesellschaft finden können und nicht am
Rande leben müssen. Die Ausbildungssituation der letzten Jahre war ausgesprochen schlecht. Unser JUMP-Programm hat das auffangen können. 2 Milliarden DM an
sinnvollen Investitionen in die Zukunft unseres Landes
und in die Zukunft der jungen Frauen und Männer haben
jetzt bereits über 200 000 Jugendlichen eine neue Chance
gegeben. Dieses Programm muss und wird weitergehen.
({0})
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Veränderung und
die Verbesserung der Strukturen für Kinder und Jugendliche vor Ort. Wir haben dieses Programm „Entwicklung
und Chancen für junge Menschen in sozialen Brennpunkten“ genannt. Im Kinder- und Jugendplan des Bundes sind
dafür - wie im letzten Jahr - erneut 15 Millionen DM bereitgestellt worden. Damit kann vor Ort gezielt gearbeitet
werden.
Jetzt muss ich leider von meiner so schön vorbereiteten Rede abweichen und mich auf die Vorwürfe der CDU
einlassen. Liebe Kollegin Eichhorn, wenn ich höre, dass
Sie Programme gegen Rechtsextremismus bzw. gegen
Rechtsextreme fordern, erinnere ich Sie an Ihr damaliges
tolles Programm mit dem Namen AGAG. Nach diesem
Programm wurde Geld immer dorthin geschickt, wo es
gerade gekracht und geknallt hat. So sagten sich junge
Leute: Offensichtlich muss man sich in diesem Land eine
Glatze scheren und irgendetwas kaputtschlagen, um endlich Geld an die Basis zu bekommen. So kann es doch
nicht gehen.
({1})
Sie haben sich zwar das AGAG-Programm einfallen lassen, haben aber versäumt, Geld in die Strukturen der Jugendarbeit in den östlichen Bundesländern zu investieren.
({2})
- Ja, es gab Programme, aber die liefen nur von hier bis
da und dann war Schluss. Wer auffällig wurde, bekam etwas - genau so darf es nicht weitergehen.
Es muss so sein, dass die Programme intensiviert werden und stabil bleiben. Die Jugendlichen vor Ort und diejenigen, die in der Jugendarbeit tätig sind, müssen sich darauf verlassen können. Acht Jahre dieser schlimmen Zeit,
in der der Rechtsextremismus bzw. die Gewalt weiter gewachsen ist, haben Sie zu verantworten - wenn wir schon
von Verantwortung sprechen.
({3})
Wenn wir uns unseren Haushalt ansehen, stellen wir
fest, dass 16 Millionen DM für internationale Jugendarbeit ausgegeben werden. Internationale Jugendarbeit
hat nicht nur völkerverbindende, sondern auch Frieden
schaffende Wirkung. Die Erfahrungen von jungen Leuten
über Grenzen hinweg spielen eine große Rolle für die Erhaltung von Demokratie sowie Weltoffenheit und sind
wichtig für die Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit
und Rassismus.
Aus diesem Grund haben wir zwar kein neues Werk,
aber einen neuen Jugendaustausch mit Israel - neben die
bestehenden Werke mit Frankreich, Polen und Tschechien, die intensiviert und stabilisiert worden sind - gestellt. In Zukunft werden wir uns Gedanken darüber machen müssen, wie Jugendaustausch und Jugendbegegnung zwischen Deutschland und den osteuropäischen sowie südosteuropäischen Ländern aussehen können. Dafür
werden wir Geld bereitstellen müssen.
({4})
Das Jahr 2001 wird das Jahr des Ehrenamtes bzw. das
Jahr der Freiwilligen sein. Bürgerinnen und Bürger engagieren sich für eine gerechte und lebenswerte Gesellschaft. Freiwilligenengagement und die Unterstützung
durch den Staat gehören zusammen. Deshalb haben wir
den entsprechenden Haushaltstitel seit 1999 von damals
952 000 DM auf 4 Millionen DM für das Jahr 2001 aufgestockt. In diesem Titel wird deutlich, dass Bürgernähe,
Demokratie und Verantwortung eben auch entsprechende
Flankierungen brauchen und dass die Rahmenbedingungen für das ehrenamtliche Engagement deutlich verbessert werden müssen. Zum Bereich der Freiwilligendienste hat der Kollege Simmert bereits einiges gesagt. Natürlich werden wir sie nicht nur weiterhin unterstützen, sondern auch prüfen, wo sie auszubauen sind.
Jugendliche selbst - das finde ich sehr wichtig - empfinden eine starke Förderung ihrer Selbstständigkeit, sozialen Kompetenz und Toleranz durch ihre Arbeit im freiwilligen sozialen oder ökologischen Jahr. Andere, zum
Beispiel bei den Jugendfeuerwehren, stellen fest, dass der
Einsatz für andere nicht nur Mühe, sondern auch Spaß
macht und sie dort ein Erlebnis von Gemeinschaft haben.
Ich denke, auch das ist sehr wichtig für heranwachsende
junge Leute hinsichtlich ihres späteren Engagements als
Erwachsene in der Zivilgesellschaft.
Fazit: Wir haben die Kinder- und Jugendpolitik nicht
nur verstetigt - die Titelansätze sind geblieben -, sondern
wir haben finanziell noch zugelegt und dieses Niveau
werden wir auch in der Zukunft halten. Sie, Herr Kollege
Haupt, haben nicht die Frage der Jugendarbeit angesprochen, Sie haben sich vielmehr auf den Titel bezogen, in
dem es um jugendliche Aussiedler und um jugendliche
Ausländer geht, die entsprechende Sprachkurse brauchen. Hierfür sind 6 Millionen DM weniger eingestellt.
({5})
- Ja, das ist eine Maßnahme für Integration. Es ist darauf
hingewiesen worden, dass die Zahl der jugendlichen Aussiedler sehr stark zurückgegangen ist. Wir werden im
Rahmen der Haushaltsberatung prüfen, ob der Ansatz so
angemessen ist oder ob bei ihm nicht noch etwas draufgesattelt werden muss.
Im Bereich der Frauenpolitik kann man sehr deutlich
zeigen, dass eine innovative und den Wünschen der
Frauen entsprechende Politik auch mit begrenzten Mitteln
möglich ist.
({6})
40 Millionen DM, die für Projekte, Initiativen und Maßnahmen im Bereich der Frauenpolitik bereitgestellt werden, sind zwar ein wichtiger Aspekt, aber genauso wichtig ist die Frage: Wie gehe ich mit dem Geld um? Nicht
nur Gelder, sondern auch solche Ressourcen wie Kreativität, Mut und eben auch „gender mainstreaming“ sind
wichtig, um neue Wege zu beschreiten.
Die Ausgaben sind im Haushalt 2001 stabil geblieben.
Wenn Sie sie mit den Zahlen des Haushalts von 1998 vergleichen, dann werden Sie feststellen, dass es bestimmte
Titel in Ihrem Haushalt überhaupt nicht gegeben hat. Uns
ist wichtig, dass wir eine Politik für die Frauen machen
und dass das gemacht wird, was sie für sich als wichtig
empfinden.
Das Allensbach-Institut-ich erwähne es nur, damit Sie
nicht denken, dass das ein uns nahe stehendes Institut entdeckt hat - hat mittels einer Umfrage herausgefunden,
dass das Thema Gleichstellung in der Bevölkerung einen
sehr hohen Stellenwert hat. Zwei Drittel der befragten
Männer und Frauen sagen ganz klar: Hier besteht auf allen Ebenen Handlungsbedarf, also nicht nur beim Staat,
sondern auch in der Privatwirtschaft. Für die Frauen ist
die Gleichstellung das Wichtigste. Sie wollen für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn, eine gleich gute Altersversorgung und die gleichen Aufstiegschancen im Beruf wie
die Männer bekommen.
An zweiter Stelle steht für die Frauen die Bekämpfung
von Gewalt gegen Frauen. Die Studie zeigt also, dass das
Ministerium und die Koalition bundespolitisch die richtigen Schwerpunkte in der Frauenpolitik gesetzt haben. Ich
nenne das Programm „Frau und Beruf“ und den Aktionsplan der Bundesregierung „Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen“.
Frauenförderung bedeutet nicht, Defizite bei Frauen
wettzumachen, die sie gar nicht haben; Frauenförderung
bedeutet vielmehr, Frauen endlich die gleichen Chancen
wie Männern zu geben. Wir werden den Begriff „Gleichstellung“ langsam, aber sicher ins Bewusstsein aller bringen. Davon können Sie ausgehen.
Es gilt aber auch, neue Wege zu beschreiten. Dazu
gehört - an erster Stelle - unbedingt das Gleichstellungsgesetz für die Privatwirtschaft. Liebe Frau Kollegin
Bläss, das neue Gleichstellungsgesetz wird für die Unternehmen verpflichtend sein. Aber die Tarifpartner haben
die Möglichkeit, Regelungen miteinander zu gestalten.
Tun sie das nicht in dem vorgegebenen Rahmen, können
sie sicher sein, dass der gesetzliche Zwang auf dem Fuß
folgt. Es wäre also günstig, sich etwas genauer mit den
Vorgaben bzw. den Eckpunkten zu beschäftigen.
({7})
„Gender mainstreaming“ ist nach dem Willen der rotgrünen Bundesregierung als Querschnittsaufgabe als
durchgängiges Leitprinzip in den Ministerien verankert
worden. Das ist gut und richtig so. Es wurde allerhöchste
Zeit, dass das geschehen ist.
({8})
Als Querschnittsaufgabe vieler Ministerien und Fachbereiche sehe ich auch die Jugendpolitik. In den Haushalten für Bildung und Forschung sowie für Arbeit und
Sozialordnung sind entsprechende Summen veranschlagt
worden. Für Frauen und Jugendliche ist zwar wichtig, wie
groß der jeweils für sie vorgesehene Titel ist. Aber ihre
Wünsche und Hoffnungen finden die größte Wertschätzung in einer ressortübergreifenden Politik, die damit automatisch zur Sachpolitik wird.
Ich muss zum Schluss noch einen Punkt ansprechen.
Frau Böhmer, Sie haben das eingebrachte Gesetz für eingetragene Partnerschaften gleichgeschlechtlicher Paare
angesprochen. Ich bin immer wieder überrascht, wieso eigentlich bei denen, die in einer Ehe leben, oder auch bei
denen, die zwar nicht in einer Ehe leben, aber meinen,
man könne der Ehe etwas wegnehmen, plötzlich Ängste
entstehen, wenn wir gleichgeschlechtlichen Paaren, die
verantwortlich miteinander leben wollen, die Chance
eröffnen, das auch öffentlich zu tun. Ihnen wird doch an
keiner Stelle etwas weggenommen,
({9})
im Gegenteil: Wir sorgen lediglich dafür - eigentlich
müsste noch viel mehr passieren -, dass an dieser Stelle
endlich die Diskriminierung von Erwachsenen, die sich
verantwortlich füreinander fühlen, beendet wird.
({10})
Da wird es wirklich allerhöchste Zeit, dass etwas passiert.
Aus meiner Sicht ist das ein Punkt, der kommen muss,
weil er nämlich verfassungskonform ist
({11})
bzw. weil Art. 3 des Grundgesetzes diese Regelung geradezu einfordert.
Vielen Dank.
({12})
Als letzter Redner in
dieser Debatte hat das Wort der Kollege Manfred Kolbe,
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Großes hatte
sich die rot-grüne Regierungskoalition in der Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober 1998 gerade im Politikbereich Familie, Senioren, Frauen und Jugend vorgenommen. Umso kläglicher fällt heute die Zwischenbilanz aus.
({0})
Meine Vorrednerinnen haben schon aus der „Berliner Zeitung“ und aus der „Wirtschaftswoche“ zitiert. Normalerweise hat man es dann als dritter Redner schwer, noch ein
Zitat zu finden.
({1})
Ich kann aus dem „Stern“ von vor zwei Wochen zitieren.
({2})
Der sicherlich nicht CDU-nahe „Stern“ hat Halbzeitzeugnisse verteilt. Ich darf einmal aus dem „Halbzeitzeugnis“
für die Familienministerin zitieren:
Die Familienministerin traut sich nichts zu; kann sich
nicht gegen den Kanzler durchzusetzen ...
({3})
Magere Reform des Erziehungsurlaubs, gemessen an
dem, was die SPD wollte. Erziehungsgeld wurde
nicht erhöht. Bei den Frauenverbänden ist sie unten
durch. Als Ministerin für Senioren, Jugend und Familie ein Totalausfall. Gesamturteil: „Mangelhaft“.
Ich bedauere das. Das ist übrigens ein Urteil, das ansonsten nur noch von der Bundesgesundheitsministerin
Andrea Fischer erreicht wird,
({4})
die ich in meiner weiteren Funktion als Berichterstatter
für Gesundheit hier ganz herzlich begrüße: Frau Fischer,
hallo!
Persönlich tut mir das Leid, Frau Bergmann, weil ich
Sie nicht unsympathisch finde.
({5})
Politisch ist dem aber leider nichts hinzuzufügen. Die Familienpolitik der rot-grünen Regierungskoalition ist mangelhaft. Ihre Rede, Frau Bergmann, war genauso lustlos
wie die Familienpolitik einfallslos war.
({6})
Der Beifall, der aus Ihren Reihen kam, war genauso dürftig wie die in der Öffentlichkeit kaum wahrnehmbare Familienpolitik.
({7})
Da wir in einer Haushaltsdebatte sind, komme ich zum
Haushalt.
({8})
Von diesem Haushalt war bisher auch kaum die Rede.
({9})
Warum war von diesem Bundeshaushalt bisher kaum die
Rede? Weil auch dort die Ergebnisse mager sind.
({10})
Ich ziehe eine Bilanz Ihrer zweijährigen haushaltspolitischen Tätigkeit, Frau Bergmann: Im Bundeshaushalt
1999 wurden die Ausgaben für die Förderprogramme von
771 Millionen DM auf 751 Millionen DM reduziert,
während gleichzeitig der Gesamthaushalt um 25 Milliarden DM anstieg. Unter Lafontaine wurde einzig die Familienpolitik reduziert. Im Bundeshaushalt 2000 wurde
Ihr Haushalt gerupft: minus 7,4 Prozent, während der Gesamthaushalt nur um 1,4 Prozent zurückging. Im Haushalt
2001, zu dem der Regierungsentwurf vorliegt, geht Ihr
Haushalt wieder um 245 Millionen DM zurück - minus 2,23 Prozent -, während der Gesamthaushalt im
Übrigen stabil bleibt.
In allen drei Jahren, die Sie zu verantworten haben,
Frau Bergmann, ist Ihr Haushalt also unterproportional
bedacht worden. Welches politische Fazit bleibt uns da
nur zu ziehen? - Die Familienpolitik hat unter dieser rotgrünen Regierungskoalition den Stellenwert verloren, den
sie bei uns hatte.
({11})
Seit Ihrem Amtsantritt, Frau Bergmann, ist Ihr Etat um
1 Milliarde DM zurückgegangen, während gleichzeitig
der Gesamthaushalt um 22 Milliarden DM angestiegen
ist. Trotz des angeblichen Sparkommissars Eichel hat der
Bundeshaushalt 2001, den Sie jetzt vorlegen, ein Volumen
von 22 Milliarden DM mehr als der letzte Waigel-Haushalt. So stark spart Herr Eichel also gar nicht. Man kann
das der deutschen Öffentlichkeit gar nicht oft genug sagen. Aber bei der Familienpolitik wird gespart. Deren Etat
geht in der Tat zurück.
({12})
- Herr Küster, das sind die Zahlen.
({13})
- Diese Zahlen können Sie auch durch Ihr Geschrei nicht
widerlegen, Herr Küster.
Besonders das Erziehungsgeld wird von Ihnen gerupft. Dort liegt der stärkste Rückgang in diesem Haushalt: minus 200 Millionen DM. Es sinkt von 7,1 Milliarden DM auf 6,9 Milliarden DM - trotz der Novellierung
des Bundeserziehungsgeldgesetzes, Frau Ministerin, die
angeblich zu den Kernstücken Ihrer sozialdemokratischen
Familienpolitik gehört.
({14})
Frau Bergmann, es ist ein familienpolitisches Trauerspiel:
Sie propagieren lautstark angebliche Verbesserungen
beim Erziehungsgeld und gleichzeitig lesen wir, dass im
Haushalt 200 Millionen DM weniger für die Familien
vorgesehen sind. Das sind die Tatsachen.
({15})
Wer den Gesetzentwurf genau gelesen hat, konnte
bereits dort unter dem Punkt Kosten finden - Frau
Bergmann, Sie mussten es eigentlich wissen -:
Die Leistungsverbesserungen führen zu Mehrausgaben, die größtenteils kompensiert werden, unter anderem durch Einsparungen auf Grund der erhöhten
Minderungsquote für das Erziehungsgeld bei Einkommen oberhalb der Einkommensgrenze sowie
durch die Entwicklung der Einkommen im Verhältnis zur nicht dynamisierten Einkommensgrenze.
Das stand schon damals im Gesetzentwurf, der angeblich
wesentliche Verbesserungen für Familien bringt, unter
dem Punkt Kosten.
({16})
Dort stand, dass durch die Erhöhung der Minderungsquote und durch die Nichtdynamisierung der Einkommensgrenzen, wie sie die Union gefordert hatte, keine
Mehrkosten, also keine Mehrleistungen für die Familie,
entstehen. Sie haben, gelinde gesagt, die Öffentlichkeit etwas hinters Licht geführt. Sie wussten, dass es zu Leistungseinschränkungen und nicht zu Mehrleistungen für
die Familien kommen wird. Trotzdem haben Sie Ihr Reformwerk gepriesen.
({17})
- Frau Wester, lesen Sie doch den Bundeshaushalt: minus
200 Millionen DM für die Familien beim Erziehungsgeld.
({18})
Das ist doch eine Tatsache. Wir würden uns freuen, wenn
es anders wäre; aber es ist leider so.
Auch in anderen Bereichen - das meiste ist von meinen Vorrednern schon gesagt worden ({19})
haben Sie wenig vollbracht bzw. Sie, Frau Bergmann, haben sich gar nicht geäußert. Das muss man Ihnen als Familienministerin vielleicht am meisten vorwerfen. Man
kann Ihnen nicht vorwerfen, dass Sie sich nicht immer
durchgesetzt haben - das ist nicht immer einfach; das wissen wir -, aber man kann Ihnen vorhalten, dass Sie sich
nicht geäußert haben. Sie haben zum Beispiel zur Steuerpolitik nichts gesagt. Ich jedenfalls habe nichts gehört.
Frau Wester hat von Steuererleichterungen für die Familien im Jahre 2005 fabuliert.
({20})
Frau Wester, machen Sie das einmal auf einer Versammlung. Die Menschen lachen Sie aus, weil sie merken, was
sie heute weniger in der Tasche haben.
({21})
Wer heute tankt, der zahlt für Ihre Entlastung, die er
vielleicht im Jahre 2005 einmal zu spüren bekommt,
schon jetzt. Das ist es, was die Familien trifft. Wenn demnächst Heizöl bestellt wird, dann werde ich den Bürgerinnen und Bürgern in meinem Wahlkreis erzählen: Die Frau
Wester verspricht Ihnen aber Steuererleichterungen im
Jahre 2005. Die Leute werden Sie auslachen und werden
auch ihren Unmut äußern. So können Sie das doch nicht
machen!
({22})
Frau Bergmann, Sie haben dazu nichts gesagt. Ich meine
schon, dass Sie als Bundesfamilienministerin gefordert
sind, zu dieser Steuerpolitik, die die Familien besonders
belastet, Stellung zu beziehen.
Frau Bergmann, Sie haben sich auch nicht zur Rente
geäußert. Jedenfalls habe ich es nicht gehört. Geäußert hat
sich aber die Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, die bekanntlich nicht in meiner Partei ist. Frau
Simonis hat am Wochenende erklärt, die Absenkung des
Standardrentenniveaus auf circa 61 Prozent wirke sich
insbesondere für Frauen verheerend aus, da sie, bedingt
durch die Kindererziehungszeiten, nicht die hierfür geforderten 45 Beitragsjahre erreichen können. Der drohenden
Altersarmut von Frauen könne, so Frau Simonis, nur
durch eine klare familienpolitische Komponente entgegengewirkt werden.
({23})
Frau Simonis gehört nicht meiner Partei an, Frau
Bergmann. Auch dazu müssen Sie sich einmal äußern.
Zum Schluss kommen wir zu Ihrem ehemaligen Lieblingsthema, von dem wir heute ebenfalls nichts mehr
gehört haben. Genauer gesagt hören wir seit dem
23. Mai 1999 von dem Thema „Frauen in Führungspositionen“ nichts mehr.
({24})
Frau Schewe-Gerigk, Sie haben den niedrigen Anteil von
Frauen in Führungspositionen beklagt. Da gebe ich Ihnen teilweise Recht. Nur, was tun Sie denn in Ihrem ureigenen Bereich, über den Sie bestimmen?
({25})
Nehmen wir die drei höchsten Staatsämter, die Sie
während der Regierungszeit Ihrer rot-grünen Koalition
wieder besetzt haben.
({26})
Zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten haben wir keine
Frau in einem der höchsten drei Staatsämter. Das ist Ihre
frauenpolitische Leistung.
({27})
Herr Kollege, denken
Sie bitte an die Redezeit.
Wir dagegen kehren gelegentlich auch vor der eigenen Türe und haben eine Parteivorsitzende. Wir gehen also mit gutem Beispiel voran.
Folgen Sie uns!
({0})
Lassen Sie mich noch einen letzten Satz sagen: Wir
brauchen in Deutschland wieder eine Familienpolitik; wir
brauchen wieder eine Politik für die Jugend; wir brauchen
wieder eine Politik für die Senioren; wir brauchen wieder
eine Politik für Frauen. Die CDU/CSU wird dafür sorgen.
({1})
Weitere Wortmeldungen zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend liegen nicht vor.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit, Einzelplan 15.
Die Familienpolitiker dürfen gerne bei der Gesundheitspolitik hier bleiben.
Nun beginnen wir mit der Aussprache. Das Wort
hat die Bundesministerin für Gesundheit, Frau Andrea
Fischer. Bitte sehr.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt wenige Einzelpläne des Bundeshaushalts, in denen der Haushaltsplan selber nur so eingeschränkt die Ressortpolitik
wiedergibt wie in diesem Fall. Deswegen werde auch ich
mich heute hauptsächlich zu den Fragen der Gesundheitspolitik äußern, die uns alle umtreiben. Gestatten Sie mir
aber vorher noch ein paar Worte zum Einzelplan des
BMG.
Dass der Etat in diesem Jahr niedriger liegt als im letzten, ist zum einen einigen Sondertatbeständen geschuldet
wie zum Beispiel einem rückläufigen Bedarf an Mitteln
für den Umzug des BfArM nach Bonn. Zum anderen ist
das natürlich auch Ausdruck der Disziplin des gesamten
Bundeskabinetts und damit auch des Bundesministeriums
für Gesundheit, das sich ebenfalls nicht der Aufgabe verweigert, im eigenen Haus sorgsam zur Haushaltskonsolidierung beizutragen.
({0})
Ich möchte zwei Aspekte besonders positiv hervorheben: Die Ansätze für die Anti-Aids-Kampagne, die Drogenaufklärung und die allgemeine Aufklärung sind gehalten worden. Wir lösen damit eine Zusage gegenüber
dem Parlament aus dem letzten Jahr ein.
({1})
Ich freue mich darüber hinaus, dass es mit der Etatisierung
des Sonderprogramms „Umwelt und Gesundheit“
endlich gelungen ist, erste Schritte in diesem bislang sträflich vernachlässigten Bereich zu unternehmen.
({2})
Aufgrund einschlägiger Erfahrungen gehe ich davon
aus, dass die Beratungen im Haushaltsausschuss auch
diesmal so konstruktiv wie gewohnt verlaufen werden.
Damit möchte ich mich der Gesundheitspolitik im Allgemeinen zuwenden,
({3})
der, wie ich höre, die Opposition in Zukunft besondere
Aufmerksamkeit widmen will. Das ist sicherlich auch für
Sie lohnenswert, weil wir da ja immerhin eine bemerkenswerte Entwicklung vorweisen können,
({4})
die manchen Unkenruf der vergangenen zwei Jahre als gegenstandslos erscheinen lässt.
Die Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung
entwickeln sich im Jahre 2000 positiv; das Defizit geht
zurück, sodass für das gesamte Jahr 2000 mit einem ausgeglichenen Finanzergebnis gerechnet werden kann.
({5})
Gleichzeitig sind die Beitragssätze stabil, verglichen
mit dem Stand bei Regierungsübernahme sogar leicht
rückläufig. Das ist ein erfreuliches Ergebnis aus der Sicht
von Bürgerinnen und Bürgern, deren Belastung mit
Sozialversicherungsbeiträgen längst die Schmerzgrenze
erreicht hatte.
({6})
Dieses Ergebnis war nur durch Anstrengungen, aber
natürlich auch über Konflikte zu erreichen gewesen. Das
ist vollkommen klar. Weil das politische Gedächtnis ja
manchmal nur ziemlich kurz zurückreicht, würde ich
doch gerne daran erinnern, dass seit Mitte der 90er-Jahre
nicht nur die Beiträge zur Krankenversicherung, sondern
auch die Zuzahlungen ständig gestiegen waren. Nach
meiner Erinnerung war das nicht minder konfliktträchtig.
Wir haben mit der Gesetzgebung im vergangenen Jahr
eine ganze Reihe von Veränderungen eingeleitet, von denen die meisten zurzeit der Selbstverwaltung überantwortet sind, die sie umsetzt. Es ist sicher davon auszugehen,
dass sich das nicht nur auf die künftige Entwicklung der
Ausgaben, sondern auch auf die Qualität positiv auswirken wird. Ich möchte stellvertretend anführen, dass es inzwischen eine Grundsatzeinigung zwischen den Parteien
der Selbstverwaltung zur Frage eines neuen Krankenhausfinanzierungssystems gegeben hat und dass außerdem die Vereinbarungen der Selbstverwaltung im Bereich
der integrierten Versorgung vorankommen - bei allen
Schwierigkeiten, die es da noch gibt. Wir wollen erreichen, dass es auch zu einer Stärkung der hausärztlichen
Versorgung kommt.
Es gibt trotzdem Risiken für die Beitragsentwicklung
und es gibt natürlich eine vielstimmige Kritik, auf die ich
gleich noch näher eingehen werde. Wir haben von der alten Bundesregierung nicht nur Schulden in der gesetzlichen Krankenversicherung geerbt, insbesondere in den
neuen Bundesländern,
({7})
die bis heute große Solidaritätsanstrengungen der Bürgerinnen und Bürger im Westen verlangen.
({8})
Wir haben von der alten Bundesregierung in diesem Sommer - Auslöser waren zwei einschlägige Urteile des Bundesverfassungsgerichtes - außerdem zwei Kuckuckseier
ins Nest gelegt bekommen, die uns noch schwer zu schaffen machen werden. Das Verfassungsgericht hat in diesem
Sommer bestätigt, dass die Regelung zur Berücksichtigung von Einmalzahlungen beim Krankengeld verfassungswidrig war. Der Gesetzentwurf, den die Bundesregierung jetzt vorgelegt hat, um auf dieses Gerichtsurteil
zu reagieren, sieht eine verfassungskonforme Regelung
für die Zukunft vor. Für die laufenden Fälle und ebenfalls
rückwirkend für die noch nicht bestandskräftigen Fälle
wird es Rückzahlungen geben. Damit entsprechen wir
sämtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts.
({9})
Die Kritik hat sich in den letzten Wochen daran entzündet, dass das Krankengeld nicht rückwirkend bei denen erhöht werden soll, deren Ansprüche schon bestandskräftig sind, unter anderem weil sie keinen Widerspruch
eingelegt haben. Das stimmt; eine ganze Reihe von Akteuren haben
({10})
versprochen, dass dies geschehen sollte. Ich kann auch
verstehen, warum solche vollmundigen Zusagen nicht
eingelöst werden. Trotzdem bleiben diejenigen, die das
jetzt vollmundig fordern, die Antwort auf die Frage schuldig, auf wessen Kosten das geschehen soll. Nach Schätzungen der Krankenkassen geht es dabei um einen bis zu
4 Milliarden DM höheren Betrag gegenüber den gut
1 Milliarde DM, die unser Gesetzentwurf bislang bereits
an Mehrbelastungen für die gesetzliche Krankenversicherung vorsieht. In dieser Größenordnung - das ist meine
feste Überzeugung, zumal wenn man bedenkt, dass auch
noch ein zweites Verfassungsgerichtsurteil auf seine Umsetzung wartet - kann die gesetzliche Krankenversicherung diese Ausgaben nicht ohne Beitragssatzerhöhungen
verkraften.
Es wäre dann von Ihnen noch zu erklären, woher das
Geld kommen soll. Es kann auch nicht im Interesse der
Versicherten sein, dass man ihnen erst in die eine Tasche
mehr gibt und ihnen hinterher aus einer anderen Tasche
mehr nimmt, und es kann ebenso nicht sein, dass - noch
schlimmer - das Geld für die Versorgung von Kranken
fehlen würde.
Wer hier vollmundig anderes fordert - noch dazu,
wenn er damals gegen den Rat der Juristen das verfassungswidrige Gesetz zu verantworten hatte -, der ruft
keck „Haltet den Dieb!“ und ist doch selbst vor Jahr und
Tag mit der Kasse durchgebrannt.
({11})
Weil auch absehbar ist, was die im Haushaltsentwurf
enthaltene Absenkung der Bemessungsgrundlage für
die Beiträge von Arbeitslosenhilfebeziehern zur Folge
hat, möchte ich Sie daran erinnern - das hat meiner Zielrichtung entsprochen -, dass die alte Bundesregierung
1995 dieses Prinzip der Beitragsentrichtung in allen anderen Zweigen der Sozialversicherung selber eingeführt
hat. Im Übrigen wäre diese Erhöhung ohne weiteres zu
verkraften gewesen, wenn jetzt nicht noch die Hypotheken der alten Regierung dazukämen. Ich gehe davon aus,
dass diese neueren Entwicklungen vom Parlament in den
Haushaltsberatungen berücksichtigt werden.
Dann möchte ich noch zu einer weiteren Kritik kommen, die immer gerne von denen geäußert wird, die stabile Beitragssätze nur dann für wichtig halten, wenn sie
selber in der Regierung sind. Das ist das wohlfeile Lied,
es sei zu wenig Geld im System und wir würden mit der
Begrenzung der Ausgaben die medizinische Versorgung
behindern.
({12})
Interessanterweise kommt diese Kritik immer aus derselben Ecke wie die Klage darüber, dass wir mit Qualitätssicherung, Leitlinien, Positivliste und anderem die Kunst
des Heilens zu stark einschränken würden. Was denn nun?
Mehr Geld und gleichzeitig keine Orientierung an allgemein gültigen Standards der Medizin, also noch mehr
Überflüssiges auf der einen Seite und noch mehr Unterversorgung bei bestimmten Krankheiten auf der anderen
Seite?
Nehmen wir dafür ein Beispiel aus der letzten Zeit. Der
Diabetiker-Bund hat in der vergangenen Woche beklagt,
dass es an den Budgets liege, wenn wir in Deutschland
eine beklagenswert schlechte Behandlung von Diabetikern haben.
({13})
Das sehe ich genauso.
({14})
Er rechnet vor, dass die Behandlung eines gut eingestellten Diabetikers rund 1 700 DM im Jahr, die Behandlung
eines aufgrund seiner Diabetes zusätzlich schwer Erkrankten - weil er zum Beispiel schlecht behandelt wurde
- aber bis zu 80 000 DM koste.
Ich kann einfach nicht erkennen, warum das Budget
daran schuld sein soll.
({15})
Es ist ja offenkundig die gute Behandlung, die die kostengünstigere ist. Hier scheint mir viel eher ein Fall für
Leitlinien vorzuliegen, die dann in die Praxis überführt
werden müssen.
({16})
Diese Maßnahme streben wir zum Beispiel durch die Einführung des Koordinierungsausschusses an, die wir im
Gesetz vorgesehen haben und wofür die Selbstverwaltung
zuständig ist.
Die Koalition wird sich sicherlich weiterhin mit der
Frage beschäftigen, ob die Budgets in der jetzigen Form
handhabbarer gemacht werden müssen. Aber was nicht
angehen kann, ist, dass der Ruf nach mehr Geld die Ausweichlosung für all diejenigen wird, die sich den Qualitätsmängeln der gesundheitlichen Versorgung nicht stellen wollen.
({17})
Zur Ehrlichkeit gehört auch, zu sagen, dass all das zusätzliche Geld, das immer wieder gefordert wird, nur von
Patienten und/oder Versicherten kommen kann. Das müssen sowohl diejenigen, die höhere Honorare fordern, als
auch diejenigen, die sich diese Forderungen zu Eigen machen, offen und ehrlich sagen.
Die Bundesregierung wird mit einer Reihe von Vorhaben die drängenden Fragen in der gesetzlichen Krankenversicherung anpacken. Ganz oben auf unserer Liste steht
die Wettbewerbsordnung. Mit Verlaub: Die Wettbewerbsordnung in der gesetzlichen Krankenversicherung
ist vor vielen Jahren eingeführt worden. Es war nicht absehbar, dass es trotz Risikostrukturausgleich offensichtBundesministerin Andrea Fischer
lich noch Möglichkeiten einer lohnenden Risikoselektion
gibt. Maßnahmen gegen diese Wettbewerbsverzerrung
müssen wir jetzt anpacken.
({18})
Zu einer unserer wichtigen Aufgaben gehört auch das
so genannte Transparenzgesetz, mit dem wir die Blackbox Gesundheitswesen erleuchten wollen.
({19})
Die jüngst aufgedeckten Betrugsfälle machen offenkundig deutlich, dass es eine gewisse Dringlichkeit auf diesem Gebiet gibt. Aber von diesen akuten Fällen abgesehen ist schon lange bekannt, dass wir zu wenig wissen,
was wir im Gesundheitswesen genau tun. Mehr Datentransparenz könnte sicher dazu beitragen, die alte Streitfrage, wie viel Geld man für welche Leistungen braucht,
besser beantworten zu können.
({20})
Lassen Sie mich abschließend sagen: Wir legen keinesfalls die Hände in den Schoß, nur weil wir gesagt haben, es werde keine so genannte große Gesundheitsreform
geben. Es gibt keinen gordischen Knoten, den man durchschlagen könnte. Das Problem liegt in vielen kleinen Knoten, die aufgeknüpft werden müssen.
Ich kann mir schon vorstellen, dass die Versuchung für
die Opposition groß ist, sich populistisch auf dem Themenfeld Gesundheit zu tummeln. Aber würden Sie offen
und ehrlich sein, dann wäre Ihnen vergleichbare Kritik
wie die, die Sie uns entgegenbringen, ebenfalls gewiss.
Nur weil Sie nicht wissen, wie es mit Ihnen weitergehen
soll, haben Sie noch längst nicht das Recht, die Kranken
und die Versicherten zu verunsichern.
({21})
Das Wort hat jetzt der
Kollege Wolfgang Lohmann, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich spreche
zunächst nicht von dem letzten Satz. Ich möchte zuerst die
Gelegenheit nutzen, Frau Schaich-Walch zu ihrem Wahlsieg gestern in der Fraktion herzlich zu gratulieren.
({0})
Vielleicht kann man damit den Wunsch verbinden, dass
nach dem Abgang von Herrn Dreßler und nach der Niederlage von Herrn Schreiner nun die Gedanken etwas
mehr auf modernere Ideen in der Gesundheitspolitik im
Rahmen einer sich verändernden Welt gerichtet werden.
Ich bin mir aber nicht sicher. Eigentlich hatte ich erwartet, dass Sie heute reden würden. Da das aber nicht der
Fall ist, bin ich etwas vorsichtig und warte ab, bis Sie das
nächste Mal hier reden werden.
({1})
Frau Ministerin, ich habe das Gefühl, dass Sie - von
wem auch immer - ernsthaft getroffen worden sind; denn
das Ende Ihrer Rede ging über das hinaus, was eigentlich
angemessen gewesen wäre. Es geht ja nun wirklich um
Patienten, um Versicherte. Diese sollen jedoch nicht verunsichert werden. Vielmehr soll hier einmal realistisch
dargestellt werden, wie sich die Lage seit dem Antritt der
jetzigen Bundesregierung verändert hat.
Im Juli hatte sich der Bundeskanzler als „Erfolgskanzler“ in die parlamentarische Sommerpause verabschiedet.
In diesem Zusammenhang ist noch eine umfangreiche Erfolgsbilanz aufgestellt worden. Interessant ist aber, dass er
die Gesundheitspolitik ausgespart hat. Offensichtlich
genügt sie seinen Erfolgsansprüchen nicht. Die „Rheinische Post“ fragt sogar: „ Macht Schröder Gesundheitspolitik nun zur Chefsache?“ Ich zitiere einmal weiter:
Wie aus dem Arbeitskreis Gesundheit der SPDBundestagsfraktion zu hören ist, zeigt sich der Regierungschef zunehmend unzufrieden mit der Amtsführung der grünen Ressortchefin Andrea Fischer.
({2})
Nicht nur der Kanzler - hast du meine Rede schon gelesen? - ist mit diesen Leistungen unzufrieden, Frau Ministerin, auch die Bürgerinnen und Bürger. Sie beurteilen
- ich komme auf das Zitat des Kollegen Kolbe aus dem
„Stern“ zurück; ich mache es aber kürzer - Ihre Politik
überwiegend mit „weniger gut“ oder „schlecht“, und
das - Sie wollen ja auch etwas zu Ihrem Haushalt hören trotz Steigerung Ihres für die Werbung vorgesehenen
Etats um 300 Prozent. Insofern scheint dieses Geld nicht
gut angelegt zu sein. Die Bürger jedenfalls haben Ihre Politik nicht positiv aufgenommen.
Überwiegend weniger gut bzw. schlecht ist auch die
Stimmung im deutschen Gesundheitswesen. Frau Ministerin, Sie sind offensichtlich weder in der Lage, Ihr Ressort und die nachgeordneten Behörden zu führen, noch
in der Lage, die in der Gesundheitspolitik dringend zu lösenden Probleme wirklich anzupacken.
So streitet Ihr Haus über Monate mit dem Bundesversicherungsamt über die Einschätzung der Finanzlage der
Pflegeversicherung.
({3})
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte
ist nach Angaben der Industrie nach seinem Umzug von
Berlin nach Bonn personell so ausgedünnt, dass an eine
beschleunigte Zulassung von Medikamenten nicht mehr
zu denken und die Gefahr einer Verlagerung von Zulassungen ins Ausland offenbar gegeben ist. Das Institut nehmen Sie das in Bonn, wo Sie mit Sicherheit die
Verantwortung tragen - hat im Rahmen der FinanzplaBundesministerin Andrea Fischer
nung Mittel für „geringe Umbaukosten“ in Höhe von
650 000 DM und weitere für die Anschaffung von Geräten benötigte Gelder in derselben Höhe überhaupt nicht
eingestellt. Das ist aber nicht alles. Insgesamt sind jetzt
außerplanmäßige Ausgaben in Höhe von 32 Millionen DM zusätzlich zu finanzieren. Mit der Zentralen
Kommission für Biologische Sicherheit, die die Bundesregierung in allen gentechnikrechtlichen Sicherheitsfragen beraten soll, hat man sich total überworfen und die
Stelle des Abteilungsleiters für Verbraucherschutz und
Veterinärmedizin ist seit Monaten verwaist.
({4})
Insofern müssen Sie sich Kritik gefallen lassen. Aber
die Führung des Hauses ist es nicht allein. Sie haben nach
unserer Auffassung auch Probleme, die aus falschen
gesundheitspolitischen Entscheidungen erwachsenden
Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen.
Mit dem GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz und der
GKV-Gesundheitsreform 2000 sollten, so wird jetzt deutlich, 1999 und bis in das Jahr 2000 hinein im Grunde genommen nur Wähler geködert werden. Kleinere Leistungsverbesserungen wie beispielsweise die Übernahme
der Kosten für die Soziotherapie sollten das Bild vermitteln, es sei genügend Geld in der gesetzlichen Krankenversicherung vorhanden, man müsse nur die Wirtschaftlichkeitsreserven ausschöpfen und dann ließen sich
Leistungsverbesserungen vornehmen. Um dies zu bewerkstelligen, werden die alten Rezepte von Budgetierung und Reglementierung unbeirrt fortgesetzt.
Aber, meine Damen und Herren, die Menschen merken
inzwischen, dass mit sektoralen Budgets die in der Gesundheitspolitik bestehenden Probleme eben nicht zu lösen sind. Kranke und schwerstkranke Patienten machen
tagtäglich die Erfahrung, dass ihnen medizinisch notwendige Behandlungen vorenthalten werden. Ihre Sorgen
werden immer drängender. Zuckerkranke beklagen, dass
ihnen die zur Blutzuckerkontrolle notwendigen Blutzuckerteststreifen vorenthalten werden. Krebskranke
weisen darauf hin, dass in der Heilmittelversorgung dringend notwendige Therapien wie Lymphdrainage oder
Krankengymnastik nicht mehr verordnet werden. Patienten, die aus Krankenhäusern entlassen werden und der
ambulanten Nachbehandlung bedürfen, wird unter Hinweis auf Regressandrohung und Budget das Medikament,
auf das sie in der Klinik eingestellt wurden, verweigert.
Wenn wir darauf hinweisen, dann ist das keine Verunsicherung, sondern die Darstellung und das Aussprechen
von Tatsachen, so wie sie heute vorzufinden sind.
({5})
Auch die Ärzte, denen unter Regressandrohung die
Einhaltung der Budgets aufoktroyiert wird, empfinden es
als unerträglich, auf eine medizinische Behandlung verzichten zu müssen, die sie im Rahmen ihrer Verantwortung im Einzelfall für angezeigt halten.
Immer weniger Patienten - resümiere ich - kommen in
den Genuss von Arzneimittelinnovationen, für die nur
wenig oder gar kein Geld da ist. Dessen ungeachtet hält
die rot-grüne Bundesregierung verbissen an ihrer
Budgetierungspolitik fest, bisher jedenfalls. Es darf trotzdem schon jetzt die Frage gestellt werden: Wie lange
noch?
Der finanzielle Crash ist bislang nur wegen der Mehreinnahmen aus den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen vermieden worden. Ist dieser Effekt erst einmal
verpufft, wird die im Ausgabewachstum liegende Dynamik, die unvermeidlich ist, wieder stärker zum Tragen
kommen. Es wird sich erneut die Frage stellen, welche
Steuerungsinstrumente dann zur Verfügung stehen oder
gestellt werden sollen.
Vielleicht kommt diese Frage auch schon viel früher
auf die Bundesregierung zu; denn die Ministerin hat den
Herren Eichel und Riester erlaubt, ungeniert in das Portemonnaie der Krankenkassen zu greifen. Ebenso wie schon
1999 bei der sozialen Pflegeversicherung wird jetzt bei
der gesetzlichen Krankenversicherung eine Kürzung der
Beiträge für Arbeitslosenhilfebezieher in Kauf genommen. Etwa 1,2 bis 1,5 Milliarden DM werden dadurch in
den Kassen fehlen.
Sie, Frau Ministerin, haben zwar im Rahmen der Pressekonferenz zu den Halbjahresergebnissen vor wenigen
Tagen versprochen, die Senkung in den Haushaltsberatungen noch einmal zu überdenken, aber ich habe erhebliche Zweifel an Ihrem Kampfesmut - um zu vermeiden zu
sagen: an der Ehrlichkeit Ihrer Aussage. Warum? Weil Sie
schon anlässlich der Ressortgespräche zum Haushalt
2000/2001 angekündigt hatten, sich vehement gegen die
Kürzung zur Wehr zu setzen. Auch Frau Schaich-Walch
erklärte im Juni in der „Süddeutschen Zeitung“: Sollte
Riester Erfolg haben -wörtlich -,
ist absolut klar, dass die Kassen die Beiträge im kommenden Jahr erhöhen.
Deshalb wolle auch sie sich gegen die Kürzung der
Beiträge aussprechen.
Offensichtlich haben die beiden Damen in ihrem Protest sehr vorsichtig agiert, denn die Herren - in diesem
Fall Riester und Eichel - haben sich beim Kanzler durchgesetzt, und das, obwohl sie sich doch eigentlich als die
Gralshüter der Beitragssatzstabilität in den Vordergrund
spielen wollten und uns, wenn wir sagen, dass es so nicht
weitergeht, vorhalten, wir wollten Beitragserhöhungen in
Kauf nehmen.
Nun drohen der gesetzlichen Krankenversicherung
- Sie haben das gerade gesagt - als Folge der Urteile des
Verfassungsgerichts zu den Beiträgen der freiwilligen
Rentner und den Einmalzahlungen weitere Belastungen.
Ich sage: Auf diese wäre die gesetzliche Krankenversicherung vorbereitet, hätte Rot-Grün ihr nicht seit Regierungsantritt laufend die Finanzmittel entzogen. Der
Einnahmeausfall durch Reduzierung der Zuzahlungen
beläuft sich auf rund 1 Milliarde DM, das Aussetzen der
Krankenhaussonderregelung - sie wird immer als Notopfer bezeichnet - führt zu Einnahmeausfällen in Höhe von
rund 700 Millionen DM, die Ausweitung von Leistungen,
zum Beispiel der Soziotherapie, führt zu Mehrausgaben in
Höhe von rund 1 Milliarde DM und die Ausnahmeregelung bei den Krankenhäusern führt zu Mehrausgaben in
Höhe von rund 2 Milliarden DM.
Wolfgang Lohmann ({6})
Zusammen mit der Kürzung der Renten in 2000 und
2001 und der Kürzung der Beiträge für Arbeitslose - ich
habe das gerade angedeutet - spricht man von einer Belastung der Kassen - man kann das nachrechnen - von
5,3 Milliarden DM in diesem Jahr und von 7,5 Milliarden DM im Jahr 2001.
Die immer wieder zur Entlastung zitierten Mehreinnahmen von 2 Milliarden DM bis - wie Sie in Ihrer Presseveröffentlichung schreiben - möglicherweise 3 Milliarden DM durch das Abkassieren bei geringfügig
Beschäftigten reichen mit Sicherheit nicht aus, um Beitragssatzerhöhungen zu vermeiden. Auch der wirtschaftliche Aufschwung wird bei immer weniger Beitragszahlern nicht ausreichen, die Einnahmeausfälle zu kompensieren.
Frau Ministerin, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, glauben Sie wirklich ernsthaft, dass die
Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung mit immer weniger Beitragzahlern und rigiden Budgets zu
stabilisieren sind, ohne die medizinische Versorgung der
Bevölkerung weiter zu verschlechtern? Erste Zweifel an
Ihrer eigenen Sicht haben Sie offenbar schon, Frau Ministerin. Denn während Sie anlässlich der Pressekonferenz, die ich bereits zitierte, noch erklärten, in dieser Legislaturperiode keine Reform mehr auf den Weg bringen
zu wollen, sagten Sie auf einer Podiumsdiskussion der
Bertelsmann-Stiftung - ich habe es selbst gehört Es ist eine falsche Vorstellung, dass es mit einer Gesundheitsreform getan ist.
Wären Sie anlässlich der Gespräche zur GKV-Gesundheitsreform 2000 auf unsere Angebote eingegangen, dann
hätten Sie jetzt keine Torsoreform und müssten nicht über
eine wirklich grundlegende Reform der GKV nachdenken. Offensichtlich finden Sie und die Koalitionäre immer
mehr Geschmack an unseren Alternativen. Diesen
Schluss ziehe ich, nachdem ich aus Ihrem Munde lobende
Worte über das System der Krankenversicherung in der
Schweiz anlässlich der Podiumsdiskussion bei der Bertelsmann-Stiftung gehört habe. Der Schweiz ist wegen
ihrer marktwirtschaftlichen Anreizsysteme der CarlBertelsmann-Preis verliehen worden. In der Jury saß übrigens auch Herr Dreßler. Ich weiß nicht, wie Sie sich
gefühlt haben: Sie saßen als Weltkind in der Mitten zwischen diesen beiden Ministerinnen aus der Schweiz und
aus den Niederlanden, die sehr gelobt wurden, während
ich Lobesworte für Ihre Politik nicht gehört habe.
({7})
- Sie sind für ihre Reformbemühungen, für ihre zukunftweisenden Reformen gelobt worden und haben dafür einen Preis bekommen. Es ist eine einmalige Sache gewesen, dass dort drei Ministerinnen saßen, von denen die
eine immer wieder den Kopf einziehen musste, wenn es
um das Lob für eine moderne, zukunftsgewandte Politik
ging.
Und dann ist da noch der Bundeskanzler, der sich in einem Beitrag für die „Frankfurter Hefte“ für die Selbstbeteiligung der Versicherten ausgesprochen hat: „Unverzichtbar“, sagte er.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt stelle ich fest, dass die
Bundesregierung nicht weiß, was sie in der Gesundheitspolitik wirklich will. Die Fragen lauten also: Wollen Sie
die grundlegenden Probleme der GKV ernsthaft angehen?
Kommt das Festbetragsneuordnungsgesetz? Wie steht es
um eine Reform des Organisationsrechts und des Risikostrukturausgleichs? Was passiert in der Pflegeversicherung? Bisher hört man nur von einem Referentenentwurf
zur Qualitätssicherung, der aber bei den Betroffenen wegen Überreglementierung auf erhebliche Kritik stößt.
Die angekündigte Verbesserung der Situation Demenzkranker lässt weiter auf sich warten. Bei der häuslichen
Krankenpflege haben Sie es zu verantworten, dass
Schwerstkranke keine hinreichenden pflegerischen Leistungen mehr erhalten.
({8})
Ihre eigene Klientel war bei einem Pflegefachgespräch
- so nannte sich das - so aufgebracht, dass sie Sie, Frau
Fischer, wiederum so aufgebracht hat, dass die „Süddeutsche Zeitung“ titelte: „Bundesministerin fällt aus der
Rolle“.
Frau Ministerin, fallen Sie nicht aus der Rolle. Packen
Sie die notwendige und zukunftsweisende Reform in der
GKV zum Nutzen der Kranken, der Versicherten und - das
ist mir wichtig - um der Glaubwürdigkeit unserer gesetzlichen Krankenversicherung an; denn diese muss erhalten
bleiben. Auf die Weise, wie Sie das zurzeit machen, ist
Gefahr im Verzuge.
Schönen Dank.
({9})
Jetzt hat der Kollege
Eckhart Lewering von der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Der Einzelplan 15
für das Bundesministerium für Gesundheit sieht für das
kommende Haushaltsjahr Ausgaben von rund 1,75 Milliarden DM vor. Im laufenden Jahr sind im Einzelplan 15
rund 1,84 Milliarden DM veranschlagt. Die Ausgaben weisen im Vergleich zum Vorjahr eine kontinuierliche Entwicklung auf. Der Ausgabenrückgang um rund
85 Millionen DM beruht im Wesentlichen auf besonderen
Umständen des laufenden Jahres, die im kommenden
Haushaltsjahr in dieser Höhe nicht mehr ausgabenwirksam sind.
Zu den Ausgaben im Einzelnen: Für gesundheitspolitisch relevante Maßnahmen sind circa 127 Millionen DM
veranschlagt. Von besonderer Bedeutung sind hierbei die
Modellprogramme zur Verbesserung der Versorgung Pflegebedürftiger, Maßnahmen gegen Drogen- und Suchtmittelmissbrauch, Vorhaben zur medizinischen Qualitätssicherung und Maßnahmen zur Krebsbekämpfung. Zudem
finanziert das Gesundheitsministerium Maßnahmen zur
gesundheitlichen Aufklärung der Bevölkerung, insbesondere im Bereich der Drogen- und Aidsprävention.
Wolfgang Lohmann ({0})
Die Modellprogramme werden auch in diesem Jahr
weiter zurückgeführt. Das frühere hohe Ausgabenniveau
entsprach dem Nachholbedarf in den Jahren nach der
deutschen Einigung. Die meisten Vorhaben sind mittlerweile in die Regelversorgung übernommen worden. Die
Maßnahmen zur gesundheitlichen Aufklärung werden in
vergleichbarem Umfang fortgeführt. Sowohl bei der Aidsaufklärung als auch für die Informationen gegen Drogenmissbrauch und für die allgemeine gesundheitliche
Aufklärung stehen weiterhin entsprechende Mittel zur
Verfügung. Die Erfolge der Präventionsmaßnahmen vergangener Jahre dürfen nicht darüber hinwegtäuschen,
dass das Wissen über gesundheitsgefährdendes Verhalten
permanent erneuert werden muss.
Vielerorts ist eine Verdrängung der Aidsproblematik
zu beobachten. Hierzu tragen auch die Erfolge und leider
auch die vermeintlichen Erfolge bei der Entwicklung
neuer Medikamente bei. International sind hohe Steigerungsraten bei der Zahl der Aidsinfektionen zu beobachten: Weltweit haben sich im vergangenen Jahr mehr als
5 Millionen Menschen allein mit Aids infiziert. Im Zeitalter der offenen Grenzen und der internationalen Zusammenarbeit kann man darüber nicht einfach hinwegsehen.
Aids ist eine weltweite Bedrohung und erfordert unser
weltweites Engagement, nicht zuletzt zu unserem eigenen
Nutzen.
({1})
Moderne Konzepte gegen den Drogenmissbrauch erfordern ein ideologiefreies Herangehen an die Problematik, wie es auf kommunaler Ebene, wo man mit den Problemen unmittelbar konfrontiert wird, zum Glück schon
vielfach über alle Parteigrenzen hinweg möglich ist. Ich
denke hier an Frankfurt und auch an Hannover. Der Anstieg der Drogenkriminalität und der Opfer illegaler Drogen fordern weiterhin ein hohes Engagement auch auf der
Bundesebene.
Einen neuen Ausgabeposten stellt das Aktionsprogramm „Umwelt und Gesundheit“ dar. 1 Million DM
sind für das Programm im kommenden Jahr im Einzelplan
15 vorgesehen. Darüber hinaus erfolgt eine gleich hohe
Finanzierung durch das Bundesumweltministerium. Im
Finanzplanungszeitraum für die nächsten Jahre steigt der
Betrag auf 2,5 Millionen DM an.
Mit dem Aktionsprogramm „Umwelt und Gesundheit“
werden neue Wege beschritten. Zum einen eröffnet die
systematische und ganzheitliche Herangehensweise die
Möglichkeit, Wechselwirkungen und Summationseffekte
im erforderlichen Rahmen zu berücksichtigen, zum anderen wird das Prinzip der Vorsorge als primäres Grundprinzip von Umwelt- und Gesundheitspolitik betont.
Grundlagen dieses Programms sind erstens die Sammlung und Bewertung aller fachlichen Informationen sowie
die Schaffung fundierter fachlicher Grundlagen für umweltbedingte Krankheiten, zweitens die Überprüfung und
Verbesserung bestehender Verfahren der Risikobewertung und Standardsetzung, drittens die Verbesserung von
Diagnose und Therapie in der Umweltmedizin und viertens die Umsetzung vorbeugender Maßnahmen in der
Umwelt- und Gesundheitspolitik.
Unter den in Deutschland bestehenden Umweltbedingungen haben vor allem chronische Erkrankungen Bedeutung. Das Programm trägt dazu bei, fehlerhafte Diagnosen und die damit übliche Odyssee der Patienten
durch verschiedene Arztpraxen - mit entsprechenden Kostenfolgen auch für das System der gesetzlichen Krankenversicherungen - abbauen zu helfen. Dem Schutz der Gesundheit durch Erhalt der Umwelt oder durch
Wiederherstellung gesundheitsfördernder Umweltbedingungen gebührt Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen.
Dem tragen wir Rechnung.
({2})
Wir haben vor der Wahl versprochen, den Schutz der
Menschen vor Gesundheitsgefahren zu einem Leitgedanken der Gesundheitspolitik zu machen. Auch in diesem
Punkt halten wir Wort.
Überhaupt kann man sagen, dass man, wenn man eine
Zwischenbilanz der Arbeit der rot-grünen Koalition
zieht, konstatieren muss, dass wir bereits nach der Hälfte
der Legislaturperiode einen großen Teil unserer gesundheitspolitischen Ziele erreicht haben.
({3})
Wir haben Leistungsbeschränkungen und Zuzahlungspflichten, die die Vorgängerregierung verhängt hatte, abgebaut oder vermindert und moderne Konzepte der Gesundheitsförderung und -vorsorge wieder eingeführt. Wir
haben die Rolle des Hausarztes neu definiert und Möglichkeiten für moderne, integrierte Versorgungsformen
auf den Weg gebracht.
({4})
Die Rehabilitation ist gestärkt worden. Die rot-grüne
Koalition setzt Akzente für eine Gesundheitspolitik, die
zum Ziel hat, vermeidbare Kosten schon in ihrer Entstehung zu bekämpfen. Aus diesem Grund haben wir mit der
Gesundheitsreform 2000 Prävention wieder zu einem
zentralen Bestandteil der Gesundheitspolitik gemacht.
Der Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“ wird in Zukunft konsequent umgesetzt werden.
({5})
- Ja, das machen wir auch so.- Das ist eine Politik, die die
Interessen der betroffenen Menschen und die Vermeidung
unnötiger Kosten miteinander zu vereinbaren vermag.
({6})
Selbsthilfegruppen und Patientenrechten haben wir die
Bedeutung zugemessen, die Ihnen gebührt. Der Anstieg
der Krankenversicherungsbeiträge ist gestoppt und die
solidarische Krankenversicherung gestärkt. Anstelle der
vorhergesagten Defizite gab es im vergangenen Jahr sogar Überschüsse.
Wir sind unserem Ziel, ein qualitativ hochwertiges Gesundheitssystem zu schaffen, das seine Leistungen für alle
Versicherten in gleicher Weise bereitstellt,
({7})
bereits ein gutes Stück näher gekommen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert, PDSFraktion?
Bitte, Herr Seifert.
Herr Kollege, bitte
sehr.
Lieber Herr Kollege, Sie sprachen gerade davon, dass Sie die Selbsthilfeförderung so
sehr unterstützt hätten. Ich anerkenne sehr die Leistung
des BMG, das die Selbsthilfe fördert. Aber was tun Sie
dafür, dass die gesetzlichen Krankenkassen endlich ihrer
Verpflichtung nachkommen - es gibt ja jetzt das Gesetz -,
Selbsthilfe zu fördern? Jeder weiß doch, dass sie das nicht
oder nur so restriktiv tun, dass bei den Betroffenen kaum
etwas ankommt. Wir brauchen die Hilfe dringend.
Herr Dr. Seifert, wie Sie
wissen, haben wir in dem Gesetz im Jahre 2000 festgelegt,
dass die Krankenkassen die Pflicht haben, etwas für die
Selbsthilfegruppen zu tun,
({0})
und das werden sie sicher auch tun.
({1})
Ein weiteres Beispiel für diese Politik ist ein neu in den
Haushalt aufgenommener Posten. Es handelt sich hierbei
um 3,3 Millionen DM für den Bundesanteil an laufenden
Rentenzahlungen zur Entschädigung von Hepatitis-COpfern der ehemaligen DDR. Ich erinnere hier nochmals
daran, dass die alte Koalition diese Aufgabe lange vor sich
her geschoben hatte und erst die neue Bundesregierung
dieses Problem erfolgreich angepackt hat.
Die Finanzhilfen zur Förderung von Investitionen in
Pflegeeinrichtungen in den neuen Ländern betragen
867 Millionen DM und stellen damit den größten Einzelposten im Gesundheitshaushalt dar.
83 Millionen DM sind für internationale Aufgaben des
Gesundheitswesens vorgesehen. Der hierin enthaltene
WHO-Beitrag ist in US-Dollar zu zahlen und muss wegen
der Kursentwicklung nachträglich angepasst werden.
Mit 53 Millionen DM werden wissenschaftliche Forschungsinstitutionen finanziert, die der Bund gemeinsam
mit den Ländern fördert.
Die Personalausgaben bilden mit 314 Millionen DM
den zweitgrößten Ausgabenblock. Ein großer Teil der
Stellen wird durch Einnahmen finanziert, insbesondere
im Bereich der Arzneimittelzulassung.
Der Einzelplan 15 enthält Investitionen im Umfang
von circa 1 Milliarde DM. Ich schenke mir jetzt die einzelnen Zahlen dazu.
Ich komme zum Schluss zu den im Einzelplan 15 vorgesehenen Einnahmen. Sie belaufen sich auf circa
92 Millionen DM. Die Einnahmen aus Zulassungsaufgaben der Institute dienen zur Deckung der Personal- und
Sachausgaben. Mögliche Steigerungen der Gesamteinnahmen wurden im vergangenen Jahr zu hoch angesetzt.
Aus diesem Grunde wurden die erwarteten Einnahmen
für dieses Jahr angepasst.
Mit dem Haushaltsentwurf 2001 schreitet die Bundesregierung weiter fort auf ihrem erfolgreichen Weg der
Haushaltskonsolidierung. Sie schafft damit die finanzielle
Grundlage für ein funktionierendes Gemeinwesen und für
den Erhalt unseres Gesundheitswesens.
Ich danke Ihnen.
({2})
Jetzt hat der Kollege
Dr. Dieter Thomae, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Die rot-grüne Gesundheitspolitik ist in der Tat gescheitert. Auch die Bürger
draußen merken dies.
({0})
Erstens wollen wir klar feststellen, dass wir beim Regierungswechsel einen Überschuss und kein Defizit übergeben haben.
({1})
Zweitens. Durch die Maßnahmen seit der Regierungsübernahme sind Summen ins Spiel gekommen. Diese
kann man nur einhalten, indem eine strenge Budgetierung realisiert wird. Das bedeutet, dass letztlich
Leistungskürzungen erfolgen. Diese strenge Budgetierung merken die Bürger ganz genau.
Ist es sehr sinnvoll, wenn wir heute erleben, dass eine
Frau, die eine Brustamputation durchmachen musste,
noch zweimal Lymphdrainage bekommt? Das ist ein Faktum.
Es ist ein Faktum, dass Patienten ins Krankenhaus
überwiesen werden, die eigentlich Krankengymnastik bekommen sollten. Aber der Arzt sagt, das Budget ist erschöpft, und überweist diesen Patienten für 14 Tage ins
Krankenhaus. Er bekommt im Krankenhaus zweimal am
Tag Physiotherapie.
({2})
Meine Damen und Herren, das kostet hohe Summen
und ist unverantwortlich.
({3})
- Das sind Fakten!
Es geht weiter. Die Krankenkassen sagen heute eindeutig: Häusliche Pflege wird nicht mehr verschrieben;
der Patient wird ins Krankenhaus überwiesen.
({4})
- Ich weiß, das alles passt Ihnen nicht.
({5})
Weitere Beispiele aus der Praxis: das Arzneimittel- und
Heilmittelbudget, bei dem der Patient massiv betroffen
wird und gerade der chronisch Kranke darunter leidet. Sie
sagen, Sie machen eine Politik für den Patienten? Nein,
diese Patienten werden in den Bereichen Diabetes, Parkinson, Krebs und in anderen Bereichen massiv berührt.
({6})
Ich bin erstaunt, dass die Fragen und die bisherigen Ergebnisse der Rheuma-Liga nicht diskutiert werden.
Schade, dass die Rheuma-Liga nicht zur Anhörung am
27. September eingeladen wird. Dort könnten Fakten genannt werden, die sehr interessant sind, weil die Betreuung auch dieses Patientenkreises massiv betroffen wird.
Ich könnte Ihnen noch weitere Beispiele aufzählen, bei
denen Sie durch Gesetzesänderungen finanzielle Mittel
entziehen und dadurch eben sehr stark Patienten treffen.
Aber nicht nur das, ich würde Ihnen auch empfehlen, mit
Ärzten in den neuen Bundesländern intensiv zu reden.
Gerade die Allgemeinärzte in den neuen Bundesländern,
aber auch die Fachärzte werden in der Honorierung massiv getroffen.
Sie wissen selber: Nicht nur die Ärzte, sondern auch
Physiotherapeuten und Psychologen ringen gerade in den
neuen Bundesländern um ihre Existenz. Gehen Sie hin
und schauen Sie, wie die durchschnittlichen Jahreseinkommen von diesen Bürgern sind. Sie werden feststellen,
dass zu diesen Beträgen kaum noch gearbeitet werden
kann und eine Freiberuflichkeit nicht mehr gesichert ist.
Ich sage Ihnen sehr deutlich: Mit Ihrer Politik zerstören
Sie dieses System. Sie zerstören die Freiberuflichkeit in
diesem System.
({7})
Es ist wahrscheinlich Ihre Absicht, diese Freiberuflichkeit
zu zerstören und damit Ihre Planwirtschaft noch stärker zu
realisieren.
({8})
Wenn Sie das nicht wollen, dann ändern Sie doch Ihr
Gesetz. Dann sprechen Sie doch mit den Ärzten. Dann
gehen Sie doch in die neuen Bundesländer und sprechen
bei Veranstaltungen mit den Ärzten. Nein, Sie sagen bei
Veranstaltungen ab. Die KV Sachsen organisiert eine
große Veranstaltung - keiner von der SPD kommt. Das
sind unfaire Methoden. Bekennen Sie sich dazu! Von den
Grünen rede ich erst gar nicht. Sie kommen generell nicht.
({9})
Über einen weiteren wichtigen Punkt wird bisher viel
zu wenig diskutiert. Wir alle wissen: Dieses Gesundheitssystem wird nach dem 30. September ganz neu und anders
betrachtet werden. Das sage ich Ihnen heute voraus. Nach
dem 30. September wird über Beitragssatzsteigerungen
diskutiert werden, weil Sie es über die Budgetierung nicht
mehr im Griff haben. Die Bürger machen es nicht mehr
mit, dass Leistungskürzungen fast bis auf die Haut gehen,
sogar bis ins Rückenmark, weil sie die Leistungen nicht
mehr bekommen.
Ein zweiter wichtiger Punkt: Frau Ministerin, Sie kündigen immer Sachen an, egal ob es nun im Pflegebereich
oder im Gesundheitsbereich ist, doch es bleibt bei den
Ankündigungen. Wir haben im Pflegebereich schon unsere Probleme. Wir sind im Defizit. Sie behaupten, wir
kommen nächstes Jahr aus dem Defizit heraus. Aber Sie
müssen gerade auch im Pflegebereich erkennen, wohin
der Trend geht. Es geht sowohl im ambulanten als auch im
stationären Bereich hin zu den Sachleistungen. Die Geldleistungen werden reduziert. Dafür gibt es sicherlich viele
Argumente: Kleinfamilie, Überforderung der Familie.
Diese Kosten steigen nennenswert an. Dies ist bisher von
Ihnen so gut wie gar nicht berücksichtigt worden.
Wenn Sie glauben, Sie könnten ein Gesetz nur für Demenzkranke, vielmehr für die zu pflegenden Demenzkranken machen, dann werden Sie nicht erfolgreich sein.
Es gibt genau ähnliche Krankheitsbilder, bei denen Familienmitglieder diese Patienten pflegen und draußen vor
der Tür stehen. Dann haben Sie die Klagen am Hals.
Eines haben wir bisher nicht berücksichtigt. Wir haben
bisher die Leistungen in diesem System nicht fortgeschrieben. Auch das wird ein großes Thema werden. Ist
das überhaupt haltbar?
({10})
- Ja, ich weiß. Aber da Sie nun in diesem Pflegebereich
die große Verantwortung tragen, muss man Sie schon daran erinnern, dass Sie Versprechungen einhalten müssen,
die Sie vor den Wahlen verkündet haben. Wir werden genau diese Themen nutzen.
Meine Damen und Herren, ich spreche hier noch ein
Thema an: Diese Woche hat ja beim Bundeskriminalamt
eine größere Zusammenkunft im Gesundheitssektor stattgefunden. Ich sage dazu ganz deutlich: Ich bin wirklich
für Strafverfolgung für diejenigen, die hier nicht sauber
abrechnen. Aber ich sage Ihnen auch: Eine Hetzjagd in
diesem Bereich auf den Weg zu bringen, um von den
tatsächlichen Problemen abzulenken, dies werden wir
nicht mitmachen. Das sage ich Ihnen heute voraus.
({11})
Das Wort hat nun die
Kollegin Dr. Ruth Fuchs, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn heute in erster Lesung über den
Einzelplan 15 debattiert wird, muss erneut festgehalten
werden: Die Absenkung der Kassenbeiträge für die
Arbeitslosenhilfeempfänger zugunsten des Bundeshaushaltes war und bleibt ein schwerer Fehler.
({0})
Auch wenn Sie das anders sehen, Frau Ministerin Fischer:
Die damit verbundene Mittelkürzung ist angesichts der finanziellen Belastungen, die auf die gesetzliche Krankenversicherung noch zukommen, und angesichts der realen
Situation im Gesundheitswesen nicht zu verantworten.
Wo Sie Ihre Zufriedenheit hernehmen, kann ich beim besten Willen nicht nachvollziehen. Denn die Grundprobleme des Bereiches sind da, sie sind nach wie vor ungelöst, und überall wachsen neue Spannungen und daraus
resultierende Proteste.
In den Krankenhäusern verschlechtern sich die vielerorts schon heute unhaltbaren Arbeitsbedingungen weiter. Ende dieses Monats wollen die Ärzte in Sachsen und
Sachsen-Anhalt mit einer Aktionswoche auf erneute
Honorareinbußen aufmerksam machen. Die Brisanz der
Situation in den neuen Bundesländern erwächst auch
daraus, dass den Ärzten in der eigenen Niederlassung
- wie damals allen Menschen in den neuen Bundesländern - blühende Landschaften versprochen wurden, sie
aber heute eine ganz andere Wirklichkeit erleben.
Nun weiß ich, dass ich Sie für dieses Versprechen nicht
verantwortlich machen kann, aber Sie haben jetzt die Verantwortung. Ich möchte deshalb an die Bundesregierung
appellieren, den hier bestehenden dringenden Handlungsbedarf keinesfalls zu unterschätzen.
({1})
Viele AOKen und Ersatzkassen geraten immer mehr in
Schwierigkeiten; dies vor allem, weil der finanzielle Ausgleich zwischen den Kassen nicht richtig funktioniert und
Betriebskrankenkassen mit Dumping-Beiträgen junge
und gesunde Mitglieder abwerben. Dabei geht es letztendlich nicht um die Existenz einer Einzelkasse, sondern
es geht um die Leistungsfähigkeit des Systems der solidarischen Krankenversicherung.
({2})
Meine Damen und Herren, es ist ein beschämender Zustand, dass die Menschen in einem der wohlhabendsten
Länder der Welt inzwischen Woche für Woche durch neue
Horrormeldungen aus dem Gesundheitsbereich erschreckt werden. Das ist unverantwortlich angesichts der
Tatsache, dass alle Probleme im Gesundheitswesen von
den Menschen mit hoher Sensibilität verfolgt werden.
Wenn die Gesundheitsministerin vor diesem Hintergrund stolz verkündet, dass die Krankenkassen in diesem
Jahr voraussichtlich ohne Defizite abschließen werden,
und dies als den entscheidenden Erfolg der jüngsten
Gesundheitsreform wertet, dann kann es nicht verwundern, wenn viele Menschen das geradezu als Hohn empfinden. - Mehr sage ich nicht; das lasse ich weg.
({3})
Wir meinen, die entscheidende Frage im Gesundheitswesen ist heute nicht, ob der allgemeine Beitragssatz in
der GKV 13,60 oder 13,57 Prozent beträgt. Die Hauptgefahr besteht darin, dass die Versicherten ebenso wie die
Mitarbeiter in den Einrichtungen das elementare Vertrauen in die GKV verlieren. Schlimmer noch, die Akzeptanz des Solidarsystems in der Bevölkerung kann irreversiblen Schaden nehmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenigstens darin
sollte Übereinstimmung bestehen: Durch Privatisierung
und Deregulierung können weder die bestehenden Versorgungs- noch die Finanzprobleme des Gesundheitswesens gelöst werden.
({4})
Das gilt für ein Zusammenstreichen des Leistungskatalogs im Gefolge von Basis- und Wahlleistungen ebenso
wie für einen ökonomischen Verdrängungswettbewerb.
Wer das Solidarsystem zerstört, zerstört die entscheidende Grundlage unseres Gesundheitswesens und einen
zentralen Eckpfeiler des Sozialstaates.
({5})
Ich denke aber, noch hat die Regierung das Heft des
Handelns in der Hand. Wenn sie die solidarische Krankenversicherung bewahren will - davon gehen wir nach
wie vor aus -, dann muss sie jetzt alles tun, um das Vertrauen der Menschen in das System zu stärken, statt zuzulassen, dass es zunehmend zerredet und Schritt für
Schritt ausgehöhlt wird. Auf diese Weise kann auch die
notwendige Zeit gewonnen werden, um eine wirkliche
Reform des Gesundheitswesens endlich einmal sorgfältig
vorzubereiten.
Erforderlich sind tatsächlich neue Strukturen und eine
Konsolidierung der Finanzgrundlagen, die strikt am Solidarprinzip orientiert bleibt. Notwendig ist auch, zügig die
Verfassungsgerichtsurteile zu den Krankengeldzahlungen
und zu den Beiträgen der freiwillig versicherten Rentner
umzusetzen. Im Interesse von Glaubwürdigkeit und Vertrauensstärkung kann es dabei nur um Lösungen gehen, in
deren Ergebnis alle - ich betone: alle - betroffenen Langzeitkranken Rückzahlungen erhalten und die freiwillig
versicherten Rentner den pflichtversicherten gleichgestellt werden.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({6})
Jetzt erteile ich dem
Kollegen Dr. Martin Pfaff, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Traditionsgemäß bietet die Haushaltswoche, vor allem die in der Mitte einer Legislaturperiode, Anlass zum Rückblick, aber auch zum Ausblick.
Sie ist auf ganz besondere Weise eine Nagelprobe für die
Regierung selbst - es geht um die Frage, ob sie klare Vorstellungen über die Ziele und die notwendigen Maßnahmen in der laufenden Legislaturperiode und darüber hinaus hat -, aber natürlich auch eine Nagelprobe für die
Opposition: Wird sie alles in Bausch und Bogen verdammen, auch Maßnahmen, die sie in der Vergangenheit selber durchgeführt hat oder im Konsens mit durchgeführt
hat, wird sie Populismus pur in den Vordergrund stellen,
weil dies der Opposition leichter fällt, oder wird sie dort
Verantwortung mit tragen, wo es erforderlich ist? Ich
muss ganz offen sagen, die Bemerkungen, die ich heute
gehört habe, stimmen mich nicht gerade optimistisch.
({0})
Herr Kollege Lohmann, Sie sagen hier, eine moderne
Gesundheitspolitik sei gefordert. Besteht eine moderne
Gesundheitspolitik darin, dass man
({1})
Gesundheitsrisiken privatisiert, dass man die Zuzahlungen erhöht, dass man den Leistungskatalog mindert und
die Risiken den Menschen aufbürdet,
({2})
die zum Teil nicht in der Lage sind, sie zu tragen? Diese
Vorschläge haben einen langen grauen Bart. Das ist nicht
modern, auch wenn man es wieder auf neues Briefpapier
kopiert; das muss ich hier in aller Deutlichkeit sagen.
({3})
Zweitens sprechen Sie das Problem der Zulassung von
Arzneimitteln an. Es besteht ja in der Tat. Aber hier muss
doch die bescheidene Frage erlaubt sein, was Sie denn in
den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit getan haben, um diesen Stau bei den Zulassungen zu beseitigen? Angemahnt
wurde es von uns und von den europäischen Institutionen
schon lange. Wer im Glashaus sitzt, sollte sicher nicht mit
Steinen werfen.
({4})
Sie haben die sektoralen Budgets kritisiert. Wir wissen, sie haben auch negative Effekte. Aber dann frage ich
Sie: Warum haben Sie denn das Globalbudget verhindert,
das eine intelligentere Form gewesen wäre
({5})
und mehr Flexibilität zwischen den Sektoren erlaubt
hätte? Auch hier erfordert die Glaubwürdigkeit einiges.
In einem Punkt haben Sie ja nicht Unrecht: Die Kürzung der Beiträge der Arbeitslosen zur gesetzlichen
Krankenversicherung stellt einen Verschiebebahnhof
dar. Ich sage das in aller Deutlichkeit. Nun muss aber zum
einen auch daran erinnert werden, dass die Haushaltskonsolidierung, die Sparbemühungen eine logische Konsequenz der Finanzsituation sind, die wir bei der Übernahme der Regierungsverantwortung vorfanden.
({6})
Ohne diese Situation würde Walter Riester nicht seinen
Beitrag zur Konsolidierung des Haushalts leisten müssen.
Zum anderen darf ich, da Sie ja besondere Experten für
Verschiebebahnhöfe sind, daran erinnern, was eigentlich
in Ihrer Regierungszeit geschehen ist. Erstes Beispiel: die
Senkung des Rentenbeitrags von 18,7 Prozent auf
17,7 Prozent, später auf 17,5 Prozent bei gleichzeitiger
Erhöhung des Beitrags der Bundesanstalt für Arbeit. Das
war eine Zweckentfremdung des Reservepolsters der
Rentenversicherung. Zweites Beispiel - wohlgemerkt, ich
komme zur GKV -: Absenkung von Reha-Leistungen in
der Rentenversicherung, Anstieg ambulanter Leistungen
in der gesetzlichen Krankenversicherung. Das haben Sie
gemacht. Drittes Beispiel: Ausgliederung der medizinischen Rehabilitation als Regelleistung der GKV. Das war
Ihre Absicht und das bedeutet eine weitere Belastung der
gesetzlichen Pflegeversicherung. Durch das so genannte
2. GKV-Neuordnungsgesetz wollten Sie darüber hinaus
die häusliche Krankenpflege und die ambulante Rehabilitation von einer gesetzlichen Anspruchsleistung auf eine
satzungsgemäße Mehrleistung umsatteln. Das hätte eine
Mehrbelastung der gesetzlichen Pflegeversicherung bedeutet.
In den fünf Jahren zwischen 1992 und 1997 haben Sie
der gesetzlichen Krankenversicherung 17 Milliarden DM
entzogen, und zwar durch die Senkung der Bemessungsgrundlage für die Krankenversicherungsbeiträge aus
Entgeltersatzleistungen von 100 Prozent auf 80 Prozent
- 4,5 Milliarden DM pro Jahr -, durch die Anhebung der
Bemessungsgrundlage vom Nettoentgelt bei den Rentenversicherungsbeiträgen - 1 Milliarde DM pro Jahr -,
durch die Senkung der den Krankenkassen zustehenden
Beitragseinzugsvergütungen - einen Bruchteil einer Milliarde DM - und durch die Senkung der Entgeltfortzahlung. Ich könnte die Liste fortsetzen.
({7})
Sie haben dem System 17 Milliarden DM entzogen. Ich
sage noch einmal: Wer im Glashaus sitzt, sollte wirklich
nicht mit Steinen werfen.
({8})
Im Übrigen: Zu dem, was Bundeskanzler Schröder
über die Stärkung der Eigenverantwortung gesagt hat,
stehen wir.
({9})
Mit Eigenverantwortung meinen wir aber nicht eine
Erhöhung der Zuzahlung. Wir meinen die Verantwortung
der Menschen für ihre Lebensführung, für das Lebensumfeld, vor allem aber für die Lebensführung: das ist Eigenverantwortung.
({10})
Es ist klar, dass das Ernährungs-, Bewegungs- und Arbeitsverhalten einen wesentlichen Einfluss auf die Zivilisationskrankheiten hat. Mit diesem Konzept der Eigenverantwortung können wir uns anfreunden, nicht aber mit
einer Anhebung der Zuzahlungen.
Geschätzter, lieber Dieter Thomae: Die rot-grüne Gesundheitspolitik hat sicher dieses vernichtende Urteil
nicht verdient. Das ist ganz klar.
({11})
Der Überschuss, den ihr uns am Ende der Periode überlassen habt - es gab einen rechnerischen Überschuss -,
war das Produkt einer enormen Anhebung der Zuzahlungen. Die Anhebung der Zuzahlungen zur Entlastung des
Budgets ist die Kunst der Primitiven. Das kann jeder machen
({12})
Die andere Frage ist, wie sich Budgets auswirken. Ich
finde es sehr eigenartig, mit welcher Begeisterung noch
unter dem früheren Bundesgesundheitsminister Seehofer
Budgets eingeführt wurden. Das war damals in Ordnung,
jetzt aber soll es auf einmal Teufelswerkzeug sein. Ich
frage Sie zum Arzneimittelbudget: Bedeutet Ihre Kritik an
diesem Budget, dass alle Ärztinnen und Ärzte, die mit
ihrem Budget zurechtkommen, ihren Patientinnen und
Patienten die notwendige Versorgung verweigern?
Bedeutet das, dass nur der geringere Anteil, der nicht zurechtkommt, die Norm ist, obwohl alle anderen offensichtlich damit zurechtkommen? Wenn wir die Spielregeln kennen, wissen wir auch, dass in begründeten Fällen
auch Erklärungen für Überschreitungen angebracht werden können.
Was die Freiberuflichkeit der Ärzte angeht: Wir wissen alle, dass die Ärzte einen sozial gebundenen Beruf haben. Sie werden aus Zwangsbeiträgen der Mitglieder der
gesetzlichen Krankenversicherung finanziert. Im Übrigen: Auch dieses Gebot der sozialen Gebundenheit der
freien Berufe verpflichtet doch nicht die Sozialversicherungen, oder den Gesetzgeber, Überkapazitäten, die zu
enormen Ausgabensteigerungen führen, zu finanzieren.
Wollen Sie denn wirklich, dass die Versicherten mit ihren
Zwangsbeiträgen Kapazitäten finanzieren, die nicht erforderlich sind und über den Bedarf hinausgehen?
({13})
Das kann ja wohl nicht der Sinn der sozialen Krankenversicherung sein.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
wir wollen keine Hetzjagd auf Ärzte. Ich finde, das wäre
nicht richtig. Aber diejenigen, die das Gesetz brechen,
müssen mit aller Konsequenz des Gesetzes rechnen, so
wie es in anderen Bereichen ebenso der Fall ist.
So viel nur als erste Replik. Ich sagte ja schon, dass
eine solche Haushaltswoche auch Anlass zum Rückblick
insgesamt geben kann.
({15})
Nachdem der Kollege Eckhart Lewering schon einiges
gesagt hat, kann ich nur wiederholen: Wir haben nach Beginn unserer Regierungsverantwortung das unselige
Krankenhausnotopfer gestrichen. Das wissen die Menschen draußen. Wir haben die Zuzahlungen bei Arzneimitteln reduziert. Auch das ist angekommen.
({16})
Leider konnten wir es wegen der Finanzlage nicht so weit
reduzieren, wie wir es gerne getan hätten.
({17})
Wir haben die Zuzahlungen für chronisch Kranke nach
dem ersten Jahr gestrichen. Das ist doch eine sozialpolitische Leistung, die eigentlich auch von Ihnen Anerkennung verdienen würde. Wir haben bei den Psychotherapeuten die Zuzahlungen gestrichen, wir haben die
Dynamisierung der Zuzahlungen ebenfalls gestrichen,
und den unseligen Koppelungsmechanismus, den man Ihnen, verehrter Herr Kollege Seehofer - ich erinnere an den
berühmt-berüchtigten Spaziergang im Altmühltal -, zuschreibt, dass nämlich bei einem Steigen der Beiträge die
Versicherten zu höheren Zuzahlungen genötigt werden,
also sozusagen als Hebel gegenüber den Kassen benutzt
werden, haben wir Gott sei Dank auch gestrichen. Darauf
sind wir auch ein wenig stolz. Ich glaube, die Menschen
werden das auch zu würdigen wissen.
({18})
Wir haben den Zahnersatz, den Sie für nach 1978 Geborene privatisiert haben, als Sachleistung wieder eingeführt. Wir haben die unseligen PKV-Elemente, die in der
privaten Krankenversicherung durchaus richtig am Platz
sind, wieder aus der gesetzlichen Krankenversicherung
gestrichen. Ich fasse zusammen: Diese Bundesregierung
hat - gemessen an ihren Ankündigungen aus dem Wahlkampf - auch in der Gesundheitspolitik Wort gehalten.
({19})
Nehmen wir einmal das GKV-Strukturreformgesetz
als Beispiel. Ich stelle mit aller Ernsthaftigkeit fest: Angesicht der Kritik an unserem System - die WHO hat uns
wieder einen Spiegel vorgehalten, auch wenn er etwas
verzerrt war - sind wir uns doch darüber einig, dass es einige Defizite in unserem System gibt, zum Beispiel die
mangelnde Verzahnung. Die Antwort auf dieses Problem
sind Maßnahmen in Richtung integrierter Versorgung. Ein
weiteres Problem sind falsche Anreize im Vergütungssystem. Die Antwort sind beispielsweise durchgehend leistungsbezogene Vergütungen und Fallpauschalen im Krankenhaus, die Stärkung der Prävention, die Sie geschwächt
haben, Steigerung der Transparenz, Qualitätssicherung,
über die schon viel gesprochen wurde, sowie Stärkung der
Patientenrechte und der Rolle der Hausärzte.
Wir können auch darauf stolz sein, dass wir die unselige Sozialmauer, die im Gesundheitswesen durch die
Mitte Deutschlands ging, endlich zum Abriss freigegeben
haben. Die Einführung eines gesamtdeutschen Risikostrukturausgleichs war ein wichtiger Punkt.
({20})
Zur finanziellen Lage der gesetzlichen Krankenversicherung hat die Frau Bundesministerin einiges gesagt.
Ich sage es ganz deutlich: Hier gibt es Licht und Schatten.
Es gibt Licht, weil die Finanzsituation der gesetzlichen
Krankenkassen am Ende des Jahres wie im vergangenen
Jahr wahrscheinlich wieder ausgeglichen sein wird. Es
gibt auch etwas Licht, weil jetzt die Einkommen aus geringfügiger Beschäftigung in der gesetzlichen Krankenkasse berücksichtigt werden. Hier lagen Sie, meine liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, deutlich
daneben. Wenn der Umfang der geringfügigen Beschäftigung wirklich so drastisch zurückgegangen wäre, wie Sie
prognostiziert hatten, dann würden die Einnahmen in diesem Jahr nicht bei 2 Milliarden DM und im nächsten Jahr
sogar über 2 Milliarden DM liegen. Sie wären dann deutlich geringer ausgefallen. Hieran zeigt sich wiederum,
dass unser Schritt richtig war.
Die Beitragssätze in Ost und West haben sich bis auf
drei Zehntel Beitragssatzpunkte - wohlgemerkt: im
Durchschnitt - angenähert. Sie werden für einige Zeit stabil sein.
Es gibt aber auch Schatten. Das möchte ich in aller
Deutlichkeit sagen. Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts bedeuten, dass die Ausgaben um 3 Milliarden bis
6,5 Milliarden DM steigen werden. Die Einmalzahlungen
beim Krankengeld und die Angleichung der Krankenkassenbeiträge für freiwillig versicherte Rentner bedeuten für
die Krankenkassen Mindereinnahmen in Höhe von ungefähr 500 Millionen DM. Wir wissen, dass dies finanzielle
Risiken in sich birgt. Auch der Verschiebebahnhof, der
durch die Sparzwänge notwendig wurde, ist eine weitere
Belastung. Dazu habe ich schon einiges gesagt.
Dennoch meinen wir, dass die Finanzlage kurzfristig
überschaubar ist, auch wenn mittelfristig erhebliche Risiken bestehen und sich große Gewitterwolken zusammenbrauen. Darauf werde ich noch eingehen. In den Prognosen wird davon ausgegangen, dass die gesetzliche
Pflegeversicherung zwar übergangsweise Defizite aufweisen wird, dass aber in relativ wenigen Jahren die Budgets wieder ausgeglichen werden können bzw. in der
zweiten Hälfte des Jahrzehnts sogar Überschüsse entstehen werden, sobald die Situation der Demenzkranken verbessert ist, was unabdingbar ist. Niemals wird die gesetzlich erforderliche Mindestreserve unterschritten. Das
muss man auch einmal deutlich sagen. Ich weiß, das kann
uns angesichts des Bedarfs, der nicht gedeckt ist, nicht
voll befriedigen. Aber auch hier gibt es einige Missverständnisse.
Das große Problem sehen wir nicht in der Entwicklung
der Durchschnittsbeiträge, sondern in der Entwicklung
der Beitragssätze nach Kassenarten, und zwar besonders in der neuesten Entwicklung nach 1999. Wir haben
gemeinsam in Lahnstein den Risikostrukturausgleich beschlossen. Wir haben auch gemeinsam die Ausweitung
der Wahlfreiheit beschlossen. Wir haben uns auch gemeinsam gefreut - ich hoffe, jedenfalls die meisten von
uns -, dass die intendierten Wirkungen auch erzielt wurden. Aber vor allem seit 1999 ist ein ganz besonderes Problem entstanden. Das betrifft auch schon das Jahr 1998,
aber besonders danach hat sich das Problem bis zum heutigen September vergrößert.
Deshalb hat der heutige Termin auch eine gewisse symbolische Bedeutung. Es ist ganz offensichtlich, dass hier
ein erhebliches Problem auf uns zukommt. Schon im Jahr
1999 haben rund eine Million Menschen die Krankenkasse gewechselt, wahrscheinlich sind es in diesem Jahr
noch etwas mehr. Dass sie die Kassen wechseln wollen
oder können, ist aber nicht das Problem. Das war als Instrument des Wettbewerbs sogar intendiert.
({21})
Das Problem besteht darin, dass es überwiegend 25bis 40-Jährige sind, die ihre Kasse wechseln. Wenn man
sich die Auswertung einer großen Kassenart anschaut,
dann zeigt sich, dass von den Abgewanderten weniger als
1 Prozent in den letzten drei Jahren überhaupt einen
Krankenhausaufenthalt hatte. Das heißt, die Wechsler
sind jung, allein stehend, Gutverdiener und vor allem gesund; das betrifft also vor allem eine bestimmte Altersgruppe. Das heißt im Klartext: Den großen Kassen, den
AOKen und den Ersatzkassen werden Ressourcen entzogen, die dem gesamten System fehlen.
({22})
Diejenigen, die breitere Schultern haben, entziehen sich
der Solidarpflicht. Das ist doch nicht etwas, das nur eine
Hälfte des Hauses interessieren kann. Ich sagte es schon:
Wir haben das gemeinsam beschlossen.
Im Wesentlichen geht es um circa 15 Betriebskrankenkassen, die den Löwenanteil dieser Wechsler aufnehmen.
Diese haben in der Regel kein Servicenetz, kein Dienstleistungsangebot in der Fläche. Sie sind in der Regel nicht
gleichermaßen für alle, sondern hauptsächlich für die Jungen und Gesunden zu erreichen, die zum Beispiel im Internet surfen und die günstigeren Beitragssätze finden
können. Das kann ja keine Lösung für alle sein. Es kann
nicht der Zweck dieses Wettbewerbs sein, dass sich die
„guten Risiken“ der Solidarpflicht entziehen; nicht nur,
weil die Ressourcen entzogen werden, sondern weil dies
in der Tendenz dazu führen muss, dass es zwei Arten von
Kassen geben wird: Kassen mit geringen Beitragssätzen
für Junge und Gesunde und Kassen für Alte, Kranke, Familien mit Kindern und Menschen mit besonderen
gesundheitlichen Risiken oder mit geringeren EinkomDr. Martin Pfaff
men. Ich frage: Wie lange kann eine solche Entwicklung
andauern, bis es wirklich zum Crash kommt? Hierfür tragen wir alle zusammen eine besondere Verantwortung.
Wir haben es zusammen beschlossen. Ich meine, wir können nicht nur zusehen, wie die Entsolidarisierung in dieser Legislaturperiode ein Ausmaß erreicht, das erhebliche
Konsequenzen nach sich zieht.
Kurzfristig müssen wir also der Risikoselektion im
Kassenwettbewerb etwas entgegensetzen, ohne aber die
Konstruktion dieses Mechanismus grundsätzlich in Frage
zu stellen. Wir müssen darüber hinaus mehr Transparenz
schaffen.
({23}) [CDU/
CSU]: Machen Sie einen Vorschlag!)
Wir müssen das Krankenhausfinanzierungsgesetz und die
Bundespflegesatzverordnung an die Situation nach dem
Jahre 2003 anpassen. Wir müssen den Fremdkassenausgleich regeln. Mittelfristig - das sage ich in gebotener Kürze - müssen wir Rationalisierungsreserven dort
mobilisieren, wo sie zu mobilisieren sind. Das ist eine
sehr schwierige Aufgabe. Wenn das nicht ausreicht, dann
kommt sicherlich die Diskussion, ob nicht die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage über neue Einkommensarten oder die Anhebung der Beitragsbemessungsund/oder Versicherungspflichtgrenze aufs Tapet muss.
Wenn wir schon über Verbreiterung und Erhöhung der
Einkommensgrenzen für diejenigen, die ihren Solidarbeitrag leisten sollen, reden, dann müssen wir auch über den
Arbeitgeberbeitrag reden;
({24})
denn auch dort gibt es Ungerechtigkeiten zwischen denen,
die vielen Menschen Brot und Arbeit geben, und den anderen, die eben mehr Maschinen einsetzen.
({25})
Diese Diskussion muss erlaubt sein. Sie muss aber in dieser Legislaturperiode beginnen und wird dann hoffentlich
in der nächsten Legislaturperiode Früchte tragen.
Herr Kollege, denken
Sie bitte an die Redezeit!
Ich komme zum Schluss.
Die Dinge, die Sie anbieten - Pflicht- und Wahlleistungen, Reduzierung des Risikostrukturausgleichs, Abschaffung der Budgets - sind keine Alternative für uns.
Wir halten folgende drei Folgerungen fest: Erstens: Auch
in Zukunft muss gelten, gleiche Gesundheitschancen für
alle - unabhängig vom Einkommen - zu gewährleisten.
Zweitens: Mehr Qualität und Wirtschaftlichkeit muss
auch in Zukunft unser Ziel sein. Drittens und letztens: Solidarisch organisierte und vor allem finanzierte Gesundheitssysteme sind sowohl kosteneffektiver als auch verteilungsgerechter. Wir müssen ja wirklich bekloppt sein,
wenn wir diesen Weg verlassen wollen.
({0})
Jetzt hat das Wort der
Kollege Aribert Wolf, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Nach zwei Jahren
rot-grüner Regierungspolitik lautet die nüchterne Diagnose in der Gesundheitspolitik: Das deutsche
Gesundheitswesen ist krank. Ärzte fürchten um ihr Einkommen und verschreiben Patienten wichtige Arzneimittel nicht mehr. Zu leiden haben insbesondere die chronisch Kranken. Weil das Geld nicht reicht, müssen zum
Beispiel Rheumapatienten um die dringend notwendige
Krankengymnastik betteln. Immer mehr Menschen sind
von der Gesundheitspolitik dieser rot-grünen Bundesregierung bitter enttäuscht.
({0})
Frau Fischer, Sie haben ganze Arbeit geleistet. Sie haben sich zu einem echten Negativposten der Regierung
Schröder ausgewachsen. Mit Ihrer rückwärts ausgerichteten Gesundheitspolitik brechen Sie bei Umfragen alle
Minusrekorde. Während man in der Rentenpolitik neue
Wege geht und aus der Überalterung unserer Gesellschaft
endlich Konsequenzen ziehen will, leugnen Sie noch immer die auch für die Krankenversicherung bestehenden
Herausforderungen. Sie jagen lieber mit Rezepten von
vorgestern vermeintlichen Wirtschaftlichkeitsreserven
nach; aber vor den wirklichen Problemen drücken Sie
sich.
Zu dem, was die Bürger davon halten, darf ich aus einem offenen Brief der Deutschen Vereinigung Morbus
Bechterew - Morbus Bechterew, das ist Rheuma an der
Wirbelsäule; genau die davon betroffenen chronisch
Kranken sind die Opfer Ihrer Politik - vom 2. August dieses Jahres zitieren:
Selbst bei der für Morbus-Bechterew-Patienten
notwendigen Verordnung der kostengünstigen und
sehr effektiven Morbus-Bechterew-Gymnastik in
Gruppen stellen unsere Mitpatienten und wir in der
Verordnungspraxis eine wachsend starke Beschränkung fest. ... Wir sehen ein, dass durch die Mittelbegrenzung nicht alle Wünsche erfüllt werden können.
Damit aber einen spürbar schlimmeren Verlauf von
chronischen Krankheiten hinzunehmen, ist unsozial
und unmenschlich.
Diese Sätze sprechen für sich.
({1})
Ich sage ganz ehrlich: Mich berührt das.
Aber noch mehr berührt mich - ich dachte, dass das eigentlich auch Sozialdemokraten auf die Palme treiben
müsste -, dass die Situation für die Menschen draußen nur
dann besser ist, wenn man privat versichert oder Sozialhilfeempfänger ist; denn für deren Behandlung unterliegen die Doctores nicht Ihren strengen Spargesetzen. Wo
bleibt denn da die soziale Gerechtigkeit? Die viel beschworene Mehrklassenmedizin ist doch längst Wirklichkeit in den bundesdeutschen Wartezimmern. Das ist
die traurige Wirklichkeit sozialdemokratischer Politik.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kirschner?
Ja, gerne.
Bitte sehr.
Herr Kollege Wolf, in dem
Papier für eine sozial gerechte Gesundheitsreform, dessen
Mitunterzeichner Sie zusammen mit den Kollegen Zöller
und Seehofer sind, reden Sie von Wahlleistungen und
führen Beispiele an, wonach letzten Endes, so heißt es da,
ein Kernbeitragssatz von zwölf Beitragssatzpunkten erzielt werden könnte. Nach dem heutigen Stand wäre das
eine Senkung um 1,6 Beitragssatzpunkte. Das macht rund
29 Milliarden DM aus. Zusammengerechnet ist das mehr,
als die gesamten Hilfsmittel - Fahrtkosten, Kuren, Heilmittel und häusliche Krankenpflege - ausmachen. Können Sie den Patientinnen und Patienten erklären, was Sie
ihnen alles wegstreichen wollen, um den Beitragssatz zu
erreichen, der in Ihrem Papier für eine sozial gerechte Gesundheitsreform steht?
Herr Kirschner, Ihre Frage
zeigt eigentlich, wie fantasielos die Regierungsparteien
an die Gesundheitspolitik herangehen. Wir denken
schlicht und ergreifend nicht daran, ganze Leistungsfelder
auszugrenzen.
({0})
- Habe ich jetzt das Wort oder wollen Sie weiterreden?
Darauf können wir uns gerne verständigen; wir müssen
nur wissen, wie.
({1})
Wir wollen nicht ganze Leistungsfelder ausgrenzen.
Wir wollen beispielsweise ermöglichen, dass Menschen
entscheiden können, ob sie, zum Beispiel in den betreffenden Bereichen, eine Selbstbeteiligung wählen. Das ist
ein überlegenswertes Modell.
({2})
Wir können ferner darüber nachdenken, ob wir querbeet, über alle Leistungsbereiche hinweg, vom Krankenhaus über ambulante Leistungen bis hin zur Krankengymnastik etc., einfach zulassen, dass der Einzelne
entscheiden kann, ob er die entsprechenden Leistungen
selbst finanziert oder ob er sich dagegen versichern will.
Das bedeutet für diejenigen, die jetzt betroffen sind, keinerlei Mehrbelastung, sondern mehr Freiheiten, da der
Bürger selbst entscheidet, welche Leistungen er für nötig
und welche er für unnötig hält.
({3})
Bei Ihrer Politik ist es so, dass einem der Arzt heute,
wenn man in eine Arztpraxis geht, sagt: Guter Mann
bzw. gute Frau, ich kann Ihnen das nicht mehr verordnen,
denn mein Budget ist erschöpft. Da helfen weder Härtefallregelungen noch eigene Entscheidungen der Bürger.
Vielmehr werden diese Entscheidungen von anderen getroffen. Deswegen ist das Ansehen, das Ihre Gesundheitspolitik in der Öffentlichkeit genießt, auch so niedrig.
({4})
Mich beunruhigt, dass mit dieser rot-grünen Gesundheitspolitik ein dramatischer Ansehensverlust der gesetzlichen Krankenversicherung einhergeht. Vor der Wahl haben uns die rot-grünen Regierungsparteien noch
vollmundig mehr soziale Gerechtigkeit versprochen.
Doch dieses rot-grüne Wahlversprechen ist wie eine Seifenblase zerplatzt.
Das Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen
({5})
wertete im April 2000 die Antworten von 4 000 repräsentativen Versicherten der Gmünder Ersatzkasse aus. Von
den Befragten waren im vierten Quartal 1999 58 Prozent
in Behandlung. 27 Prozent dieser Menschen wurde die
Verschreibung bisher verordneter Arznei- oder Heilmittel
verweigert bzw. auf das Jahr 2000 verschoben. Bei
68 Prozent der Ablehnungen von Verordnungen gaben die
Ärzte als Begründung an, sie müssten wegen der Budgetierung die Leistungen aus der eigenen Tasche bezahlen.
In 24 Prozent der Fälle gaben die Versicherten, denen Medikamente verweigert wurden, an, sie hätten spürbare gesundheitliche Nachteile gehabt. Meine Damen und Herren, eine Ministerin, die sich angesichts solcher Probleme
noch ihrer Erfolge rühmen will, taugt allenfalls für eine
Comedyserie im Fernsehen, nicht aber für das Bundeskabinett.
Ihre rot-grüne Politik beschädigt nicht nur das Vertrauen in unser Gesundheitswesen, sie demotiviert auch
die Leistungserbringer und schadet den Patienten. Auch
die Ärzte sind zu Recht sauer. Denn Erfolg lohnt sich
nicht für sie. Wenn die Arzneimittelausgaben insgesamt
überschritten werden, wird der Sparsame genauso bestraft
wie der Vielverordner. Ist das etwa gerecht?
Der Präsident der Bundesärztekammer kritisiert die
Zustände in den deutschen Krankenhäusern. Mit dem
Kostendruck steigt auch die Arbeitsbelastung des Klinikpersonals. Immer mehr Patienten werden von übermüdeten Medizinern behandelt. Dass das Risiko für Leib und
Leben, das davon ausgeht, und die Gefahr, durch Behandlungsfehler Schäden zu erleiden, steigen, kann sich
ja jeder ausmalen. Dieses Risiko gehen Sie bewusst ein,
ganz zu schweigen von der Menschlichkeit, die in den
Krankenhäusern immer öfter auf der Strecke bleibt. Für
die grüne Gesundheitsministerin ist dies alles kein Problem. Statt für Patienten - das haben wir ja auch heute
wieder gehört - interessiert sie sich vorwiegend für Zahlen. Das ist beschämend.
Aber auch bei den Zahlen steht es nicht zum Besten.
2,5 Milliarden DM beträgt das aktuelle Defizit der Kassen.Ab nächstem Jahr fehlen den Krankenversicherungen
dank rot-grüner Verschiebebahnhöfe weitere 1,2 Milliarden DM. Denn der Staat zahlt dann für seine Arbeitslosen
einfach weniger Beiträge. Dies ist ein Finanzloch, das der
kleine Mann, das Otto Normalverbraucher mit seinen Beiträgen wieder auszugleichen hat.
Keines der grundlegenden Finanzierungsprobleme
ist gelöst. Ich erinnere nur daran, was Sie von Rot-Grün
der Krankenversicherung mutwillig an Einnahmen entzogen oder an zusätzlichen Zahlungsverpflichtungen aufgebürdet haben: Durch die Reduzierung der Zuzahlungen
ergibt sich ein Einnahmeausfall von 1 Milliarde DM jährlich, durch das Aussetzen des Krankenhausnotopfers ein
Einnahmeausfall von 700 Millionen DM jährlich. Durch
die Ausweitung von Leistungen, zum Beispiel in Form
von Soziotherapie und Selbsthilfegruppen, entstehen
Mehrausgaben von 1 Milliarde DM jährlich, durch die
Ausnahmeregelung vom Budget bei den Krankenhäusern
Mehrausgaben von 2 Milliarden DM jährlich und durch
die Kürzung bei Renten in den Jahren 2000 bzw. 2001
Mindereinnahmen von 600 Millionen DM bzw. 1,4 Milliarden DM.
Meine Damen und Herren, wenn wir das zusammenrechnen, ergibt sich allein für das Jahr 2000 eine Mehrbelastung der gesetzlichen Krankenversicherungen in Höhe
von 5,3 Milliarden DM und für das Jahr 2001 von 7,5 Milliarden DM. Wir werden nächstes Jahr sehen, Frau
Fischer, wer Recht hat. Mitte nächsten Jahres - das prognostiziere ich Ihnen - werden die Beiträge saftig steigen.
Dann werden Sie sinkende Behandlungsqualität und
höhere Kosten verantworten müssen. Das sind die traurigen Brandzeichen, die Sie dem deutschen Gesundheitswesen aufdrücken.
Aber auch ein anderes Feld haben Sie ganz toll beackert. Das Gutachten zum RSA, das noch Horst Seehofer
in Auftrag gegeben hat, kassieren Sie erst ein, um es dann
mit einer einjährigen Verzögerung
({6})
doch wieder auf den Weg zu bringen. Auch das ist ein
trauriger Meilenstein Ihrer rückwärts gewandten Politik.
Damit ist wertvolle Zeit verstrichen, um eine fundierte
Grundlage für die Organisationsreform der gesetzlichen
Krankenversicherungen auf den Weg zu bringen.
Aber es kommt noch pikanter. Die Ministerin sagt öffentlich, sie sei für einen Ausschluss von kinderlosen Ehepaaren aus der beitragsfreien Mitversicherung, um
dann, ein paar Wochen später, mit dem Entwurf des
Lebenspartnerschaftsgesetzes neue Personengruppen in
die beitragsfreie Mitversicherung aufzunehmen. Statt
Ehepaaren sollen bei Frau Fischer also künftig nur noch
schwule und lesbische Partner beitragsfrei in der Krankenkasse mitversichert sein.
({7})
Die Bundesregierung hat offensichtlich auch in dieser
Frage keine vernünftige Linie.
({8})
- Ja, das ist neben der Kappe; das finde ich auch. Aber
warum machen Sie es dann?
({9})
Auch in den anderen Bereichen hat man sich im BMG
wenig hervorgetan. In der Pflegeversicherung fehlen
400 Millionen DM. Mit der Genehmigung der Richtlinien
zur häuslichen Krankenpflege verschlechtern Sie die
häusliche Versorgung von Pflegebedürftigen; auch da
Pfusch ohne Ende.
Weil Sie gerne hören, was wir möchten, möchte ich Ihnen in kurzen Zügen unser Konzept vortragen. Wir wollen nicht Ihre alten Trampelpfade weiter auslatschen, sondern wir wollen mutig neue Konzepte angehen und neue
Ideen in die Tat umsetzen.
({10})
Wir meinen, der Versicherte muss stärker in den Blickpunkt rücken. Er braucht mehr Rechte, mehr Transparenz
und mehr Wahlmöglichkeiten.
Warum eigentlich soll ein gesetzlich Versicherter nicht
wissen dürfen, was seine Behandlung beim Arzt gekostet
hat? Warum soll er nicht erfahren, welcher Arzt gute Behandlungsqualität und welcher schlechte abliefert? Wir
wollen, dass die Bürger aus verschiedenen Versorgungsangeboten das für sie passende auswählen können. Die
Menschen sollen die Wahlmöglichkeiten haben; nicht Politiker sollen für sie entscheiden, was richtig und was
falsch ist.
Wir wollen einen solidarischen Kernbereich, der sicherstellt, dass keiner in jungen Jahren, in denen er wenige Leistungen braucht, zu viele Leistungen abwählt.
Zum Schutz der Kranken muss die gesetzliche Krankenversicherung auch die Risikopatienten versichern und
diejenigen aufnehmen, die schon heute Leistungen aus
der gesetzlichen Krankenversicherung beanspruchen.
Für die Leistungserbringer wollen wir mehr Wettbewerb und vor allem für die Selbstverwaltung mehr Gestaltungsspielräume und weniger Budgetierung.
Unser Gesundheitswesen braucht diese neuen Ideen
und diesen neuen Mut und nicht die rot-grünen Pannen bei
der Gesetzgebung zur Gesundheitsreform, Auftritte im
Zirkus Roncalli oder das Fabulieren über Patientenrechte,
Selbsthilfegruppen und ärztliche Ethik. All dies soll eigentlich nur verdecken, dass die grüne Ministerin mit
ihren Rezepten am Ende ist. Offensichtlich hat sie nicht
mehr die politische Kraft, die brennenden Probleme
gesetzgeberisch zu lösen. Eigentlich müsste jetzt der
Kanzler selbst rasch die Notoperation einleiten. Denn Gesundheit ist ein hohes Gut und kein Versuchskaninchen
für eine überforderte Ministerin.
Ich bedanke mich.
({11})
Jetzt hat die Kollegin
Monika Knoche, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Nach diesem Redebeitrag - man weiß schon
vorher, wer zu dem Thema spricht - bin ich mir nicht sicher: Soll man froh sein über diesen Beitrag oder eher fragen, ob es für diese Themen nicht einen Qualifizierteren
hätte geben können?
({0})
Als Sie angefangen haben, habe ich einen Moment gestutzt und mich gefragt: Möchte der Kollege Aribert Wolf
jetzt tatsächlich eine Renaissance des Wahl- und Regelleistungsprinzips, das insbesondere für chronisch Kranke
eine Leistungsausgrenzung bedeutet?
({1})
Möchte er genau das, weshalb die Vorgängerregierung abgewählt worden ist, wieder einführen?
({2})
Dann würde ich sagen: Machen Sie weiter so in der Debatte, dann haben wir gar nichts zu befürchten.
({3})
Natürlich ist die Haushaltsdebatte immer der Zeitpunkt, zu dem man Bilanz zieht, nach vorne schaut - völlig richtig - und sich - gerade beim Gesundheitshaushalt
- am wenigsten mit Zahlen des Haushalts selber aufhält.
Aber es ist sicherlich richtig, dass die Leistung, die wir
gleich zu Beginn erbracht haben - das Prinzip der Sachleistung unter der Bedingung der Beitragssatzstabilität,
die ebenfalls erreicht worden ist, wieder zur vollen Gültigkeit zu bringen -, eine politische Leistung ist, die auch
Sie nicht schmälern können und die die Bevölkerung sehr
wohl zu honorieren weiß.
({4})
Wir wissen - ich gestatte mir zu sagen: auch Sie wissen -, dass sektorale Budgets nicht das sind, was sich
zukunftsorientierte Gesundheitspolitikerinnen vorstellen.
Wir alle wissen, dass die Diskussion unter den Leistungsträgern und Leistungserbringern darüber sehr weit vorangeschritten ist, wie man Behandlungsleitlinien und Orientierung in die Versorgung hineinbringen kann und wie
Qualität und Transparenz in den Honorierungssystemen
abgebildet werden können. Ein Schritt in diese Richtung
sind die weltweit nirgendwo sonst in dieser Umfänglichkeit vollzogenen Fallpauschalen im Krankenhaus.
Sie wissen das. Aber die Bevölkerung kann es in dieser Klarheit nicht wissen, weil die Sachlage kompliziert
ist. Aber Ihnen als verantwortlichen Politikerinnen und
Politikern ist bekannt, dass die Kassenärztliche Vereinigung als Körperschaft des öffentlichen Rechts die Verantwortung, aber auch die Pflicht hat, ihr Honorierungssystem der Zukunftsorientierung anzupassen.
({5})
Die Politik kann nur sehr schlecht dort hineinregieren.
Augenblicklich werden Gespräche über Honorierungssysteme geführt. Ich kann nicht dem Argument folgen, dass das Mindestdurchschnittseinkommen vor Steuern für niedergelassene Ärzte bei 250 000 DM liegen
muss und sie zugleich Leistungseinschränkungen in der
Größenordnung von 25 Prozent durchführen wollen. Das
kann ich nicht gutheißen.
({6})
Herr Dr. Thomae, Sie wissen um die Tatsache, dass die
gesamtdeutsche Grundlohnsummenanbindung und die
Transfers vom Westen in den Osten Leistungen sind, die
Sie während Ihrer Regierungszeit nicht erbracht haben.
Die niedergelassenen Ärzte in den alten Bundesländern
erbringen solidarische Leistungen an ihre Kollegen in den
neuen Bundesländern. Um die Zeit der Wende und danach
waren dort noch ein sehr profundes Wissen und eine fachlich sehr hohe Kompetenz vorhanden hinsichtlich einer
integrierten Versorgung. Diese Kompetenz und die entsprechende Struktur hat ihnen die alte Bundesregierung
genommen, als sie darauf gesetzt hat, dass alle in die
Zwangsniederlassung kommen.
({7})
Es war strukturell ein eklatanter Fehler, den wir direkt
nach der Vereinigung auf das Heftigste kritisiert haben.
({8})
Jetzt liegt die Zukunft in der integrierten Versorgung.
Wenn vorhin in den Debattenbeiträgen die Beispiele
Schweiz und Niederlande genannt worden sind, dann
frage ich: Wofür sind diese Länder gelobt worden? Sie
sind dafür gelobt worden, dass sie entsprechende Behandlungsleitlinien haben, sich an Qualitätssicherung und
Qualitätsstandards orientieren und eine integrierte Versorgung durchführen.
({9})
Wer versucht nun, dies auf den Weg zu bringen? Das ist
ein Bestandteil des Gesundheitsstrukturgesetzes.
({10})
Sie können sagen, dass in der jetzigen Form eine Gefahr
darin besteht, dass es interessengeleitet zu Einkaufsmodellen kommen könnte, die niemand von uns will. Lassen
Sie uns über solche Fragen sprechen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wolf? - Bitte
sehr, Herr Kollege.
Meine Frage, Frau
Knoche: Stimmen Sie mir zu, dass zum Beispiel die
Schweiz ein System von Kern- und Wahlleistungen hat
und deshalb so erfolgreich arbeitet? Das ist genau das
Konzept, das die Union vorschlägt.
Ich
weiß, dass das Schweizer System in seiner gesamten
Struktur ein anderes ist als unseres. Das weiß ich sehr
wohl. Ich weiß aber auch, dass unser System nur dann stabil und eine Grundvoraussetzung für solche Innovationen
ist, wenn das solidarische Sachleistungsprinzip bestehen
bleibt.
({0})
Nur darüber kann man sicherstellen, dass ein für mich
bürgerrechtlich sehr hohes Ziel gehalten werden kann,
nämlich dass alle Versicherten an dem medizinischen
Fortschritt partizipieren können, ohne zusätzlich selbst in
die eigene Tasche greifen zu müssen. Das halte ich für
eine außerordentlich wertvolle Grundvoraussetzung, die
wir haben.
Wir haben, wie Sie wissen, in der gesetzlichen Krankenversicherung keinerlei steuerliche Anteile. Alle Vorschläge, die die Bevölkerung in der Tat irritieren - Veränderung der Bemessungsgrundlage, Wahl- und Regelleistungen usw. -, sind unverantwortlich, weil sie einen
wichtigen Aspekt außen vor lassen -, ich bin sehr dankbar, Herr Dr. Pfaff, dass Sie dies angesprochen haben -:
Zum Solidarprinzip und zu den Prinzipien der sozialen
Marktwirtschaft gehört es, dass die Unternehmen den
gleichen Anteil an der Sicherstellung der Finanzierungsgrundlagen des Sozialsystems leisten.
({1})
In diesem Zusammenhang gibt es viele Ideen und Vorschläge, die vor der Entscheidung, ob man die Pflichtversicherungsgrenze anhebt oder nicht, berücksichtigt werden müssen.
Eine wichtige Botschaft ist in den letzten zwei Jahren
gesendet worden und wird für den Rest der Legislatur und
für künftige Wahlversprechen gelten: Unter Rot-Grün
wird es in der gesetzlichen Krankenversicherung nie wieder ein Antasten der paritätischen Finanzierung geben,
({2})
weil wir das als Zukunftsgarantie und als sichere Basis für
die Weiterentwicklung all dessen, wovon ich gesprochen
habe, brauchen.
Ich will eines hinzufügen: Es steht Ihnen zu, die Regierung nicht zu loben. Aber wichtig finde ich doch, dass
die neuen Leistungen im Bereich der Soziotherapie mehrfach nur fiskalisch-kritisch betrachtet worden sind. Welcher Zuwachs an Antidiskriminierung und Gleichstellung
von psychisch Kranken ist mit diesem Leistungsanspruch
vollzogen worden!
({3})
Wie viel Antidiskriminierung und Gleichstellung von drogenkranken Menschen ist im Rahmen der Heroinsubstitution vollzogen worden!
({4})
Wie viel Zustimmung aus der Bevölkerung haben wir
dafür, dass wir die durch die neuen Biotechnologien entstandenen medizin-ethischen Fragen auf der festen Basis
der Grundwerte dieser Gesellschaft aufgeworfen haben,
uns deren Beantwortung annehmen und darüber gesundheitspolitisch verantwortungsvollst diskutieren! Dies ist
eine sehr wichtige Debatte.
({5})
- Frau Schwaetzer, ich will Ihnen dazu Folgendes antworten: Wenn wir das Sachleistungsprinzip, das für
mich ein Ausdruck von Kultur, des Sozialen ist,
({6})
nicht hätten, dann hätten wir bei allen ethischen Fragen,
die mit den versprochenen Veränderungen zu tun haben,
sofort das Problem der Verteilungsgerechtigkeit. Das wissen alle, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Nichts
ist wichtiger - auch auf diesem medizin-ethischen Gebiet
- als der Punkt, dass wir in der GKV ein solidarisches, stabiles Finanzierungssystem bewahren, verteidigen und
weiterentwickeln. Das soll an dieser Stelle eine sehr wichtige Botschaft an die Bevölkerung sein.
({7})
Jetzt hat der Kollege
Ulf Fink das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Die rot-grüne Gesundheitspolitik sieht so schlecht aus und muss scheitern, weil
Sie einen grundlegenden Zusammenhang missachten.
Dieser grundlegende Zusammenhang lautet: Es gibt in der
Welt kein Gesundheitswesen, das mit begrenzten Mitteln
unbegrenzte Leistungen versprechen kann.
({0})
Sie können die Einkommen der im Gesundheitsbereich
Beschäftigten senken, Sie können Kapazitäten verringern
usw. Sie kommen aber immer wieder an den Punkt, dass
Sie sich vor die Frage gestellt sehen, ob Sie mit begrenzten Mitteln wirklich unbegrenzte Leistungen versprechen
können.
Sie tun es. Die Budgetierung ist nichts anderes, als
dass Sie den Eindruck erwecken, auf der einen Seite blieben die Beitragssätze stabil und auf der anderen Seite
könne alles, aber auch alles - selbst das Kleinste - finanziert werden. Das geht aber nicht. Die Konsequenzen haben die Ärzteschaft, die Physiotherapeuten und viele andere zu tragen. Das wurde bereits dargelegt; die Kollegen
Thomae und Wolf haben entsprechende Beispiele genannt.
Ist es denn wirklich in Ordnung, wenn heute wichtige
Leistungen nicht mehr gewährt werden und sich die Betreffenden dagegen nicht wehren können?
({1})
Ist es wirklich sozialer, wenn bestimmte Leistungen, ohne
dass der Betreffende das vorher erkennen kann, später
nicht gewährt werden? Wäre es nicht viel sozialer, wenn
Sie den Leuten vorher genau sagten, was geht und was
nicht geht?
({2})
Wäre es nicht viel sozialer, wenn Sie ihnen sagten: „Ihr
müsst vielleicht ein paar Mark dazuzahlen, dafür bekommt ihr das aber auch“? Bei der Selbstbeteiligung, wie
wir sie eingeführt haben, gibt es ausdrücklich Härtefälle,
es gibt die Überforderungsklausel. Die sozial Schwachen
werden so geschützt. In Ihrem System der Budgetierung
aber gehen die Ärmsten am schlechtesten aus, denn die
Reichen können sich die Zuzahlung leisten.
({3})
Langer Rede kurzer Sinn: Die Budgetierung - das sage
ich in vollem Bewusstsein - ist eine besonders infame Art
und Weise, die Schwachen in unserer Gesellschaft von
den wichtigen Leistungen auszuschließen.
({4})
Ich sehe das besonders im Osten. Im Osten Deutschlands ist die Morbidität, also die Krankheitshäufigkeit,
größer als in Westdeutschland. Man sieht das bei den Hypertonien, bei den Stoffwechselerkrankungen und an der
Zahl der Herzinfarkte. Die Zahl all dieser Erkrankungen
ist deutlich höher als im Westen. Nun müsste man eigentlich meinen, dass - gemessen an dieser Tatsache - der
Ressourceneinsatz in Ostdeutschland höher ist als im
Westen.
({5})
Die Wahrheit ist aber genau umgekehrt: Für die ambulante Versorgung pro Versicherten in Ostdeutschland wird
nicht mehr Geld als im Westen eingesetzt, sondern 22 Prozent weniger. Das bedeutet: Ein Arzt im Osten Deutschlands muss fünfzehnmal mehr tun als ein Arzt im Westen,
bekommt dafür aber 13 Prozent weniger Honorar als ein
Arzt im Westen. Das schreiben Sie mit Ihrer Budgetierung
in alle Ewigkeit fort. Das kann doch nicht richtig sein. Das
ist einfach falsch.
({6})
Kollege Pfaff hat gesagt, Bundeskanzler Gerhard
Schröder habe in der „Neuen Gesellschaft Frankfurter
Hefte“ davon gesprochen, dass es Selbstbeteiligungen
im Gesundheitswesen geben müsste. Damit habe er aber
nicht so etwas Böses wie Zuzahlungen gemeint, sondern
eher Leibesübungen und Ähnliches. Lieber Professor
Pfaff, das hat er nicht gemeint. Ich habe nämlich vorliegen, was er gesagt hat. Er sagt ausdrücklich:
Ein Gesundheitswesen ohne finanzielle Selbstbeteiligung der Versicherten ist nicht mehr vorstellbar.
Das hat er ganz offensichtlich gemeint.
Es ist aber auch merkwürdig. Auf der einen Seite sagen
alle zu Recht: Mehr Eigenvorsorge im Alter muss sein. Sie
sagen, es sei eine wunderbare Errungenschaft, die Sie
dem deutschen Volke präsentieren. Beim Gesundheitswesen aber sagen Sie: Nein, hier nicht, hier ist es des Teufels, grausam und furchtbar. - Irgendetwas ist hier nicht
ganz stimmig.
Ich will noch auf einen weiteren Punkt eingehen. Liebe
Frau Bundesgesundheitsministerin, wir haben über die
Zukunft des Gesundheitswesens viele Debatten geführt.
Sie haben dabei im Frühsommer dieses Jahres einen Vorschlag gemacht und gesagt, dass eine Finanzierung, die
nur am Erwerbseinkommen anknüpfe, falsch sei. Stattdessen müsse man - das sei gerechter - auch die sonstigen Einkünfte heranziehen. Sie haben dafür eine gute Begründung gegeben.
Nun hatten Sie verhältnismäßig schnell Gelegenheit,
diesen Grundsatz in die Praxis umzusetzen, und zwar aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Es gibt
nämlich schon einige in der Krankenversicherung, die
nicht nur von ihrem Erwerbseinkommen, sondern auch
von ihren sonstigen Einkünften Beiträge zahlen. Das sind
die freiwillig versicherten Rentner. Auf die pflichtversicherten Rentner trifft das nicht zu. Man hätte meinen
können, dass Sie in Verfolgung Ihrer guten Überlegungen
vom Frühsommer gesagt hätten: Jetzt wollen wir die anderen wie die freiwillig versicherten Rentner behandeln.
Die Wahrheit aber ist: Sie sind ins Bundeskanzleramt gegangen und haben gesagt, alle sollten nur noch von ihrem
Erwerbseinkommen Beiträge bezahlen, andere Einkünfte
würden nicht mehr herangezogen. Ob das eine nach vorne
weisende Politik ist, kann ich nicht sagen. Ich komme damit offen gestanden auch schwer zurecht; von Verschiebebahnhöfen ist vorhin ja schon gesprochen worden.
So etwas habe ich mein Lebtag noch nicht gesehen: Bei
Bezug der Arbeitslosenhilfe sind zunächst die Beiträge
an die Rentenversicherung, die Pflegeversicherung und
die Krankenversicherung auf der Grundlage von 80 Prozent des früheren Bruttoentgelts gezahlt worden. Dann ist
der Anteil reduziert worden. Die Rentenversicherung bekommt das nicht mehr, die Pflegeversicherung bekommt
das nicht mehr. Dadurch fehlen der Pflegeversicherung
über 400 Millionen DM. Die Beiträge an die Krankenversicherung aber wurden nach wie vor auf Grundlage von
80 Prozent des früheren Bruttoentgelts gezahlt. Man hätte
denken können, dass dies hier wie bei der Renten- und bei
der Pflegeversicherung gemacht wird - ich finde das
falsch; es wäre aber logisch gewesen -, aber nein, es soll
ein Mittelweg gefunden werden. Da frage ich mich: Was
ist das für eine Logik?
({7})
Zum Thema Pflegeversicherung. Es wird von der Bundesregierung und von der Regierungskoalition dargetan,
dass es wegen der Überalterung der Gesellschaft dramatische Probleme bei der Alterssicherung gebe, die
gelöst werden müssen. Bei der Pflegeversicherung, die
durch die Überalterung der Bevölkerung mindestens
ebenso betroffen ist, weil mit dem Alter die Pflegebedürftigkeit steigt - das ist jedem bekannt -, brauche man aber
keine Beitragsatzsteigerung; auch Professor Pfaff hat das
heute gesagt. Ich frage: Kommt es bald zu Beitragsüberschüssen? Wie soll das gehen? So etwas kann doch niemand glauben.
({8})
Seit 1992 - 1996 ist die Pflegeversicherung eingeführt
worden; die Berechnungsbasis ist aber 1992 - gab es
keine Anpassungen bei den Leistungen der Pflegever
sicherung. Das bedeutet, dass die Menschen der Pflegestufe 3 scharenweise in die Sozialhilfe fallen. Das wollten
wir doch gerade verhindern. Deswegen müssen Sie die
Leistungen anpassen.
Zu den Demenzkranken. Ich habe gehört, dass dafür
500 Millionen DM veranschlagt waren. Nach eigenen
Schätzungen sollen es aber im nächsten Jahr nur 200 Millionen DM und im darauffolgenden nur 300 Millionen
DM sein. Dazu möchte ich nur sagen: Eine nach vorne gerichtete Gesundheits- und Pflegepolitik müsste wirklich
anders aussehen als die Politik, die Sie betreiben.
({9})
Jetzt hat der Kollege
Dr. Ilja Seifert von der PDS-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Auch die wenigen außerparlamentarischen Zuhörinnen und Zuhörer begrüße ich
ganz herzlich. Wenn ich die heutige Debatte Revue
passieren lasse, so habe ich den Eindruck, dass es sich hier
um ein Ministerium der GKV handelt; von der Pflegeversicherung wurde nur marginal geredet. Ich denke aber,
dass auch die Behandlung dieses Themas eine wichtige
Aufgabe Ihres Ressorts ist. Dementsprechend hätte dieses
Thema seinen gebührenden Platz finden müssen. Das war
leider nicht der Fall. Ich werde das mit meiner dreiminütigen Rede sicherlich nicht umreißen können. Aber
vielleicht können wir zumindest daran erinnern, dass auch
dieses Thema wichtig ist.
Ich will hier ja auch nicht das ganze Pflegeversicherungsgesetz in Bausch und Bogen kritisieren, sondern einfach sagen: Wenn Sie, Frau Ministerin, sich schon darauf
eingelassen haben, zu sagen, Sie wollten das System der
Pflegeversicherung nicht mehr ändern - ich bin der Meinung, es wäre immer noch möglich und auch nötig -, dann
muss man auch einmal sagen, was in diesem Rahmen
überhaupt möglich ist.
Jetzt wird immerzu davon geredet, demenzkranke
Menschen über die Pflegeversicherung wenigstens ein
bisschen abzusichern, genau genommen ihre Angehörigen. Wie aber wollen Sie das machen, Frau Ministerin,
wenn Sie nicht einmal ansatzweise den rein somatischen
Pflegebegriff kritisieren? Demente Menschen brauchen
doch nicht somatische Hilfe, sie brauchen einfach jemanden, der da ist. Das ist ein Zeitfaktor, nichts sonst.
Die Pflegerichtlinien zwingen beispielsweise zu Folgendem: Die Abrechnung für die Begleitung außer Haus
darf zwei- bis dreimal im Monat vorgenommen werden,
und zwar nur für ganz bestimmte Dinge, nämlich für so
genannte Verrichtungen, bei denen der Betreffende bzw.
die Betreffende unbedingt persönlich anwesend sein
muss: für Arztbesuche und Bankgeschäfte. Wie aber wollen Sie dementen Menschen und ihren Angehörigen über
die Pflegeversicherung helfen, wenn sie zwei- bis dreimal
pro Monat eine Stunde außer Haus dürfen? Allen Ernstes:
Das ist nicht lächerlich, das ist traurig. Dies muss man einmal sagen.
Ich möchte in der knappen Zeit gern noch etwas zu der
Pflegesituation in Heimen sagen. Jeder weiß, dass ich
die nicht besonders mag, dass ich vielmehr dafür wäre, die
ambulante Pflege wesentlich auszuweiten, indem tatsächlich Zeitbudgets bezahlt werden. Aber es gibt Menschen,
die in Pflegeheimen leben. Ich will Ihnen jetzt einmal sagen, wie frei die Träger da in ihren Verhandlungen sind.
In einer mittleren Stadt in Sachsen, Bischofswerda,
zahlt ein Pflegeheim für die Reparatur einer Automatiktür
60 DM pro Stunde an den Handwerker. Für den Kundendienst in der Küchentechnik zum Beispiel in eben diesem
Pflegeheim zahlt man 114 DM pro Stunde an den Elektriker. Die Pflegestunde wird mit 48 DM bezahlt - wohlgemerkt, bei 50 Prozent Fachkräften und 50 Prozent Hilfskräften. Wie soll, bitte schön, eine menschenwürdige,
ganzheitliche Pflege - assistierende Begleitung, unterstützende Betreuung - stattfinden, wenn nicht die personale Anwesenheit von Menschen gestärkt wird? Das trifft
natürlich für die GKV genauso zu. Wenn von Überforderungen in Krankenhäusern die Rede ist, ist das genau das
Gleiche. Es müssen mehr Menschen in das System, nicht
nur mehr Geld. Das ist das Problem.
({0})
-Über Geld dann auch die Menschen, einverstanden.
Aber es kann nicht sein, dass eine Pflegestunde das
Heim 48 DM kostet, dasselbe Heim aber für den Türautomatikservice 60 DM und für den Küchentechnikservice
114 DM zahlen muss. Ich kann Ihnen auch noch die Preise
für die Services einer Aufzug- oder einer Computerfirma
nennen: Sie liegen alle oberhalb dessen, was im Rahmen
der Pflegeversicherung bezahlt wird. Das kann nicht sein,
meine Damen und Herren.
Ich bitte Sie: Machen Sie eine Pflegeabsicherung, die
die Menschen und die personale, das heißt: zeitliche Zuwendung in den Mittelpunkt stellt und nicht irgendwelche
Verrichtungen mit einem rein somatischen Begriff. Dann
werden wir vorankommen und dann können wir vielleicht
sogar innerhalb des Pflegeversicherungssystems eine vernünftige Verbesserung erreichen, wenn Sie schon nicht
das System ändern wollen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und hoffe,
dass wir alle gut nach Hause kommen.
Das waren dann auch,
wie es sich gehört, fünf Minuten. Ich danke dem Kollegen
für seinen Beitrag.
Weitere Wortmeldungen für die heutige Sitzung liegen
nicht vor. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages ein auf morgen, Mittwoch, den 13. September 2000,
9 Uhr. Ich wünsche allen noch einen schönen
Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.