Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Ich erteile der Kollegin Maria Böhmer, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Guten Morgen, Herr
Präsident! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Bergmann, Sie haben heute erneut
das Bundeserziehungsgeldgesetz als das Kernstück Ihrer
Familienpolitik bezeichnet. Wenn das das Kernstück ist,
ist diese Familienpolitik eine komplette Enttäuschung.
({0})
Sie haben mit Ihren Ankündigungen zur Familienpolitik große Erwartungen in der Bevölkerung geweckt. Im
Koalitionsvertrag ist nachzulesen, dass sich die wirtschaftliche und soziale Lage der Familien in unserem
Land spürbar verbessern soll. Aber was tut sich?
({1})
Sie haben zwar das Kindergeld erhöht, aber auf der anderen Seite schlagen Sie mit der Ökosteuer voll zu.
({2})
Damit treffen Sie die jungen Familien mehr als alles andere. 300 DM minus im Portemonnaie einer jungen
Durchschnittsverdienerfamilie, das ist eine ganze Menge.
Darüber können auch Debatten nicht hinwegtäuschen.
Wenn Sie zu weiteren Erhöhungen kommen, greifen Sie
weiter tief ins Portemonnaie der jungen Familien.
({3})
Frau Kollegin
Böhmer, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Schewe-Gerigk?
Aber gerne.
Frau Kollegin Böhmer, immer dann, wenn
wir etwas für die Förderung der Kinder und der Familien
tun, kommt dieser Oppositionsreflex, dass die Ökosteuer
die Familien so belaste. Da ich das erwartet hatte, habe ich
mich zahlenmäßig darauf vorbereitet. Ich möchte Sie gern
fragen, ob Sie wissen, dass eine Familie mit zwei Kindern
und einem Einkommen von 60 000 DM bei einer durchschnittlichen Leistung ihres PKWs von 15 000 km und einem normalen Stromverbrauch durch die Entlastung bei
der Einkommensteuer, durch die Beitragssenkung in der
Rentenversicherung und das erhöhte Kindergeld am Ende
im Jahr 2 000 DM mehr im Portemonnaie hat als vorher
unter Ihrer Regierung. Ist Ihnen das bekannt?
({0})
Liebe Frau ScheweGerigk, weil ich wusste, dass Sie rechnen würden, habe
auch ich gerechnet. Aber ich muss Ihnen sagen, das Ergebnis, das ich erhalten habe - das ist seriös gegengerechnet; dabei habe ich auch die Senkungen bei den Rentenversicherungsbeiträgen berücksichtigt; da wollen wir
fair sein -, besagt, dass es nicht zu einem Plus kommt.
({0})
Was Sie auf der einen Seite geben, nehmen Sie auf der anderen Seite wieder weg. Ich reiche Ihnen die Berechnungen gern nach. 300 DM minus gilt für Familien mit
80 000 DM Durchschnittseinkommen.
({1})
Wir stehen nicht allein mit dieser Kritik, muss ich Ihnen sagen. Als am 15. Mai die Anhörung zum Bundeserziehungsgeldgesetz stattfand, hat die Vertreterin des
DGB erklärt: Insgesamt bleibt der Gesetzentwurf deutlich
hinter unseren Erwartungen zurück, auch hinter dem, was
wir aufgrund der Koalitionsvereinbarung erhofft hatten.
Der Verband allein erziehender Mütter und Väter bezeichnet die Anhebung der Einkommensgrenzen - ich
Bundesministerin Dr. Christine Bergmann
zitiere - als „völlig unzureichend, weil sie weiterhin Alleinerziehende zusätzlich auf die Sozialhilfe verweist“.
({2})
- Wenn Sie eine Frage stellen wollen, Frau Schmidt, können Sie das gern tun.
({3})
- Lassen Sie es! Sie bekommen meine Antwort nachher
noch.
Die Vertreter der evangelischen und der katholischen
Familienverbände haben in dieser Anhörung zur Budgetierung gesagt: Die Budgetlösung ist ein Minusgeschäft
für die Familien. - Das, was hier als Plus verkauft wird,
ist ein dickes Minus in den Taschen der Familien.
({4})
Nicht umsonst haben die Vertreterinnen der deutschen
Frauenverbände, von Gewerkschaften, Kirchen und Wissenschaft vor wenigen Tagen an den Bundeskanzler einen
offenen Brief geschrieben. Sie haben ihn darin aufgefordert, das Gesetz zu Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld
zu korrigieren. Und was geschieht hier? Keine Korrekturen, nichts!
({5})
Es ist bedauerlich, aber dieser Entwurf des Bundeserziehungsgeldgesetzes ist kein großer Wurf; es ist eine
Reform im Westentaschenformat. Es findet hier keine Revolution in Sachen Familienpolitik statt, wie ich es in den
letzten Debatten immer wieder gehört habe. Eine Revolution in Sachen Familienpolitik hat 1986 durch die Union
stattgefunden, als wir Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub eingeführt haben.
({6})
Wir haben in der Familienpolitik Maßstäbe gesetzt.
Wenn Sie uns heute erneut vorwerfen, es gebe seit
14 Jahren einen Stillstand, dann möchte ich für Sie einige
Fakten in den Blickpunkt rücken, die man wissen sollte,
wenn man Familienpolitik macht.
({7})
Als das Erziehungsgeld eingeführt wurde, wurde die
Zahlung zunächst auf zehn Monate begrenzt. Dann wurde
die Frist auf 18 Monate und schließlich auf 24 Monate
verlängert. Das ist kein Stillstand, das ist eine deutliche
Weiterentwicklung.
({8})
Mit der deutschen Einheit standen wir vor einer großen
Herausforderung. Wir haben all den jungen Familien in
den neuen Bundesländern auf einen Schlag die Möglichkeit gegeben, Bundeserziehungsgeld zu erhalten. Es sind
heute über 100 000 Familien, die jährlich in den Genuss
dieser Leistung kommen. Das waren keine kleinen
Schritte, sondern das war eine große Anstrengung seitens
der CDU/CSU.
({9})
Ich will auch nicht vergessen zu erwähnen, dass der
Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz im Deutschen Bundestag von der Union durchgesetzt worden ist.
({10})
Wer bekennt eigentlich Farbe in der Familienpolitik?
Wenn Sie darüber lachen, dann sage ich: Schauen Sie in
die SPD-regierten Bundesländer.
({11})
Welches SPD-regierte Bundesland hat ein drittes Jahr Erziehungsgeld gewährt? Keines! Pure Fehlanzeige an dieser Stelle.
({12})
Die Länder, die Erziehungsgeld auch für ein drittes Jahr
gewährt haben, sind die unionsregierten Länder Bayern,
Baden-Württemberg, Thüringen und Sachsen.
({13})
Die SPD war sogar so kühn, in Rheinland-Pfalz das Familiengeld für kinderreiche Familien abzuschaffen. Das
war ein Skandal erster Klasse in Sachen Familienpolitik.
({14})
Aber ich stimme mit Ihnen überein: Es ist an der Zeit,
Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub weiterzuentwickeln. So weit sind wir uns einig. Nur, Frau Ministerin,
es kommt darauf an, wie man das macht. Man muss es
richtig machen!
({15})
Deshalb können Sie auch nicht die Augen vor unserer
Kritik an Ihrem Entwurf zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes verschließen. Ich möchte die Kritikpunkte einmal nennen.
Sie haben 7 000 DM Kinderfreibetrag versprochen und
sind jetzt bei 4 800 DM gelandet. Darüber täuscht auch
die anvisierte Erhöhung auf 6 140 DM nicht hinweg; denn
damit bleiben Sie noch immer unter dem Existenzminimum für Kinder.
Sie schaffen ungleiche Freibeträge für verheiratete Eltern und Alleinerziehende. Verheiratete Eltern sind Ihnen
weniger wert; denn bei ihnen bleiben Sie unter dem Existenzminimum und bei Alleinerziehenden gehen Sie darüber hinaus. Wie wollen Sie diese Ungleichbehandlung begründen? Ich kann keine Argumente dafür sehen.
({16})
Dass die verheirateten Eltern gegenüber den Alleinerziehenden deutlich benachteiligt werden, kann nicht familienfreundliche Politik sein; dahinter verbirgt sich ein
falsches Familienbild.
({17})
Ein weiterer Minuspunkt: Wo bleibt die Dynamisierung der Freibeträge und des Erziehungsgeldes als solchem? In Ihrem Gesetzentwurf ist dafür kein Ansatz zu
sehen. Die Beträge bleiben unverändert. Sie haben uns
immer heftig dafür kritisiert. Aber jetzt, da Sie die Chance
haben, das zu ändern, bleiben Sie im Bereich kleiner
Schritte, weil Sie der Mut verlässt. Wenn ich mir den Antrag anschaue, der im Jahre 1995 von Ihnen als damaliger
Opposition hier vorgelegt worden ist, stelle ich fest, dass
Sie jetzt meilenweit hinter Ihren damaligen Ansätzen
zurückbleiben.
Und wie ist es mit der Budgetlösung? Auf den ersten
Blick kann man positiv feststellen: 900 DM pro Monat,
das heißt 300 DM monatlich mehr, für Mütter und Väter,
die sich für ein Jahr Erziehungsgeld entscheiden. Aber ich
habe mittlerweile gelernt, dass es bei Rot-Grün immer gut
ist nachzurechnen.
({18})
Wenn man nachrechnet, stellt man fest, dass Ihre Regelung ein dickes Minusgeschäft für die Familien bedeutet,
die sich für ein Jahr Erziehungsgeld entscheiden; denn
dann haben sie am Ende 3 600 DM weniger in der Tasche,
als wenn sie sich für den vollen Erziehungsgeldzeitraum
entscheiden.
({19})
Das ist keine tragfähige Lösung. Das ist Augenwischerei.
Damit machen Sie nicht nur eine Milchmädchenrechnung
auf. Dies ist auch entlarvend für Ihr Konzept.
Ich habe mir die in Ihrem Gesetzentwurf unter dem
Punkt „Kosten der öffentlichen Haushalte“ gemachten
Ausführungen genauer angeschaut. Die Mehrausgaben,
so steht hier zu lesen, würden kompensiert, und zwar zum
einen - das ist ganz klar zu erkennen - durch die genannten Ansätze. Aber Sie haben zum anderen einen vierten
Minuspunkt für die Familien in der Tasche. Hier steht
nämlich - ich zitiere -:
Diese Mehrausgaben werden großenteils kompensiert ... aufgrund der erhöhten Minderungsquote für
das Erziehungsgeld bei Einkommen oberhalb der
Einkommensgrenze ...
Das heißt, Sie verteilen um, indem Sie die Minderungsquote von 40 auf 50 Prozent erhöhen. So sieht Ihre Familienförderung aus. Sie benachteiligen zahlreiche Familien, die dadurch zukünftig kein Erziehungsgeld mehr erhalten werden.
({20})
Deshalb sagen wir an dieser Stelle ganz klar: Das darf
nicht sein. Eine solche Lösung werden wir nicht mitmachen. Wenn sich Eltern tatsächlich für eine Inanspruchnahme des Erziehungsgeldes nur für ein Jahr entscheiden, dann werden sie im Anschluss daran in eine
Betreuungsfalle für ihre Kinder tappen. Denn wer für den
Lenkungsansatz ist, dass Eltern nur ein Jahr lang Erziehungsgeld in Anspruch nehmen, muss auch dafür sorgen,
dass flexible Möglichkeiten der Kinderbetreuung vorhanden sind, damit die betroffenen Eltern nachher nicht vor
dem Nichts stehen. Wenn ich an Bundesländer wie zum
Beispiel Nordrhein-Westfalen denke, dann muss ich fragen: Wo gibt es dort ausreichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten?
({21})
Die sollten Sie uns einmal nachweisen. Sie hatten immer
allergrößte Schwierigkeiten, im Bereich der Kinderbetreuung voranzukommen. Deshalb muss ich feststellen:
Durch die Budgetlösung wird eine Betreuungsfalle aufgemacht. Das ist nicht im Sinne der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
({22})
Ihr Gesetzentwurf enthält zwei Aspekte, die der gesellschaftlichen Veränderung Rechnung tragen sollen. Der
eine Aspekt ist ein Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit und
der andere ist der, dass man den Erziehungsurlaub auf
acht Jahre verteilt nehmen kann. Beides ist meiner Meinung nach eine Weiterentwicklung, die durchaus Sinn
macht.
Aber auch hier muss man die Frage stellen: Wird es damit gelingen, Vätern mehr Anreize zu geben - das ist ja
das Ziel dieser Lösung -, tatsächlich Erziehungsurlaub zu
nehmen? Ich glaube, wir sind uns bei diesem Anliegen
sehr einig. Denn partnerschaftliche Erziehung muss unser gemeinsames Ziel sein. Nur, bei der Art und Weise,
wie Sie an die Väter appelliert haben, schwingt die Skepsis durch, die viele von uns haben. Ich glaube deshalb,
auch an dieser Stelle sind Sie mit Ihrem Entwurf zu kurz
gesprungen.
Wir sagen: Man muss besondere Anreize schaffen, damit beide Elternteile Erziehungsurlaub nehmen können.
Das heißt, wir wollen einen Bonus von einem halben Jahr
gewähren, wenn sich Vater und Mutter die Familienzeit,
so wie wir sie uns vorstellen, teilen. Denn nur durch Anreize und Optionen wird es gelingen, dass junge Menschen, Väter und Mütter, wirklich Ja zur Erziehung ihrer
Kinder sagen.
({23})
Wir haben unsere Vorstellungen im vergangenen Jahr
auf dem Parteitag der CDU zur Familienpolitik klar formuliert. Sie werden sich in weiteren Diskussionen daran
messen lassen müssen, was auf der einen Seite negative
Entwicklungen und auf der anderen Seite innovative Lösungen im Bereich der Familienpolitik anbetrifft. Dem
hier vorliegenden Gesetzentwurf können wir angesichts
der dicken Minuspunkte nicht zustimmen. Wir haben unsere Änderungsvorschläge in einem Änderungsantrag und
in einem Entschließungsantrag deutlich gemacht.
Ich habe soeben gehört, dass Sie jetzt endlich die Bezeichnung „Erziehungsurlaub“ ändern wollen. Denn der
Erziehungsurlaub ist für Eltern keine Ferienzeit. Das ist
harte Arbeit von Mutter und Vater und muss entsprechend
gewürdigt werden.
({24})
Frau Ministerin Bergmann, ich hatte schon fast den Eindruck, Sie seien versucht, in Deutschland ein Preisausschreiben dahin gehend zu machen, wie der neue Begriff
heißen soll. Jetzt bin ich ein Stückchen beruhigter, dass
Sie sich endlich zu einer neuen Bezeichnung durchgerungen haben. Denn neue Bezeichnungen setzen Signale.
Wir werden weiter mit aller Kraft daran arbeiten,
({25})
dass Eltern bzw. Familien keine Benachteiligungen erfahren, wie sie für viele Familien in dem vorliegenden Gesetzentwurf angelegt sind. Deshalb gilt es, über Ansätze
zur Veränderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes weiter zu streiten. Wir wollen gleiche Chancen und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
({26})
Ich erteile der Kollegin Schewe-Gerigk, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Verpass nicht die Rolle deines Lebens!“ Mit diesem Appell trat ein Werbemanager vor kurzem an seine Geschlechtsgenossen heran, um deutlich zu machen, dass die
eindimensionale Orientierung der Männer auf die Erwerbsarbeit sie um einen wichtigen Teil ihres Lebens beraubt, nämlich um das Leben mit Kindern. Nicht umsonst
sprechen wir davon, dass Kinder in einer vaterlosen Gesellschaft aufwachsen, denn nur 1,5 Prozent der Väter entscheiden sich für den „Erziehungsurlaub“, den wir künftig „Elternzeit“ nennen. Frau Böhmer, ich muss mich über
Ihren Vorwurf schon sehr wundern. Ich frage mich: Wer
hat denn den Begriff „Erziehungsurlaub“ eigentlich eingeführt?
({0})
Nur jeder 16. Mann arbeitet Teilzeit - und das, obwohl
sich nach einer Umfrage 86 Prozent der jungen Männer
ein Leben in einer Partnerschaft mit Kind wünschen. Daneben fänden es drei viertel dieser Männer gut, wenn sich
Männer mehr um Familie und Haushalt kümmern und
dafür im Beruf kürzer treten würden. Bisher fanden Männer eine Reihe von Gründen, weshalb sie ihre Wünsche
nicht in die Tat umsetzen konnten und Zaungäste in ihrer
Familie waren; denn bisher standen sie vor der Entscheidung, entweder ganz an ihrem Arbeitsplatz zu bleiben
oder ganz für die ersten Lebensjahres ihres Kindes auszusteigen.
Letzteres hatte natürlich Folgen: Erstens. Das Einkommen der Familie ging rapide zurück, denn immer noch
verdienen Männer mehr als Frauen.
({1})
Zweitens war der Karriereknick vorprogrammiert; denn
in unserer so angeblich fortschrittlichen Gesellschaft werden Männer noch immer als Softies angesehen, wenn sie
Windeln wechseln und Babys füttern, statt Aktienkurse zu
beobachten.
({2})
Die theoretische Aufgeschlossenheit der Väter wollen
wir jetzt zu einer praktischen Verhaltensänderung
führen. Wir wollen die Verhaltensstarre der Männer auflösen; denn mit dem vorgelegten Gesetzentwurf zur Neugestaltung des Erziehungsgeldgesetzes gibt es einen
Rechtsanspruch auf Reduzierung der Arbeitszeit für drei
Jahre. Väter und Mütter können diese Zeit gleichzeitig in
Anspruch nehmen. Wenn beide nicht mehr als 30 Stunden
erwerbstätig sind, erhalten sie zudem das Erziehungsgeld.
Das heißt, das alte gewerkschaftliche Motto „Samstags
gehört Papi mir“ können wir auf den Freitag und den
Montag erweitern. Väter können also für eine bestimmte
Zeit ihr Kind zur „Chefsache“ machen, wie es eine Väterkampagne des nordrhein-westfälischen Frauenministeriums vorsieht.
Im Gesetzentwurf festgeschrieben ist der Rechtsanspruch zunächst leider nur für Beschäftigte in Unternehmen ab 15 Personen. Ich hoffe aber, dass auch kleinere
Betriebe mit weniger als 15 Personen, die einen hohen
Anteil an Teilzeitbeschäftigten haben, diese Vereinbarung
umsetzen.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch zwei Verbesserungen nennen - wir haben aus der Anhörung und aus
den vielen Anregungen gelernt -: Erstens. Die Zahl der
Beschäftigten richtet sich nicht mehr nach dem Kündigungsschutzgesetz, denn das hätte 30 Beschäftigte mit
Teilzeitarbeit bedeutet, sondern es sind tatsächlich 15 Personen. Die zweite Änderung: Es wird im Jahre 2004 eine
Überprüfung geben, welche Probleme mit diesem
Rechtsanspruch für Väter und Mütter sowohl für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als auch für die Betriebe entstanden sind und welche gesetzlichen Änderungen notwendig sind,
({3})
denn wir betreten ein neues juristisches Gebiet. Insofern
werden wir das Ganze kontrollieren. Die Auswertung erwarte ich mit Spannung, weil ich glaube, dass weniger die
Mütter Probleme haben, ihren Rechtsanspruch umzusetzen, als vielmehr die Väter.
Aber lassen Sie mich zum Kernstück der Neuregelung
kommen. Es ist nicht das Kernstück der Familienpolitik,
wie Sie, Frau Böhmer, vorhin gesagt haben, aber es ist ein
wichtiger Baustein.
({4})
Der Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit während der ersten drei Erziehungsjahre stellt nun ein absolutes Novum
dar. Hier ist es uns endlich gelungen, einen Einstieg
während der Erziehungszeit zu wagen. Ich würde mir
wünschen und ich hoffe, dass wir auch im Bündnis für Arbeit noch längere Zeiten als diese drei Jahre erreichen
können. Das wird natürlich eine freiwillige Vereinbarung
mit der Wirtschaft sein müssen.
({5})
Die zweite wichtige Neuerung ist, dass nicht mehr entweder Vater oder Mutter die Erziehungszeit nimmt, sondern dass sie von beiden gleichzeitig genommen werden
kann. Dies bedeutet, dass die zur Verfügung stehenden
Jahre inklusiv eines flexiblen dritten Jahres, das bis zum
achten Lebensjahr des Kindes in Anspruch genommen
werden kann, nicht nur abwechselnd, sondern auch zu
zweit genommen werden können. Vater und Mutter haben
also einen Anspruch auf volle drei Jahre Erziehungszeit.
Damit werden wir auch den Ansprüchen der EU-Richtlinie gerecht. Ein Jahr dieser drei Jahre ist das so genannte
flexible Jahr, das in Absprache mit dem Arbeitgeber umgesetzt werden kann. Allerdings kann der Arbeitgeber
dringende betriebliche Gründe nennen, die dem entgegenstehen. Ich hoffe aber, dass es auch hier eine einvernehmliche Lösung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gibt.
Das Gesetz bringt weitere Vorteile: Begrenzt man die
Inanspruchnahme des Erziehungsgeldes künftig auf nur
ein Jahr, besteht die Möglichkeit, für dieses Jahr im Rahmen des Budgets einen erhöhten Betrag in Höhe von
900 DM zu erhalten. Frau Böhmer, ich möchte an dieser
Stelle mit einem Vorurteil von Ihnen aufräumen. Das ist
doch keine Schlechterstellung.
({6})
- Lassen Sie mich das doch einmal ausführen. - Wenn Sie
bisher ein Jahr Erziehungszeit in Anspruch genommen
haben, haben Sie 600 DM im Monat bekommen. Wenn
Sie sich künftig für nur ein Jahr Erziehungszeit entscheiden, werden Sie 900 DM erhalten, also 300 DM pro Monat mehr.
({7})
Schon in der Vergangenheit gab es viele Familien, die nur
ein Jahr Erziehungszeit in Anspruch genommen haben.
Deshalb bitte ich einfach, diese Rechnung nachzuvollziehen.
({8})
Als Ergebnis der Sachverständigenanhörung haben wir
auch eine Härtefallregelung zum Budgetbetrag aufgenommen. Sollte also im ersten Jahr die Familie einer besonderen Härte ausgesetzt sein - wir denken hier etwa an
eine erhebliche Gefährdung ihrer wirtschaftlichen Existenz -, kann zusätzlich während des zweiten Lebensjahres des Kindes der Betrag von 600 DM über zwei Jahre in
Anspruch genommen werden. Was wollen Sie eigentlich
noch mehr?
({9})
Hinzu kommt, dass künftig wieder mehr Familien Erziehungsgeld bekommen. Wir konnten eine Erhöhung
der Einkommensgrenzen um rund 10 Prozent und eine
stufenweise Erhöhung des Kinderzuschlags auf bis zu
6 140 DM im Jahre 2003 nach harten Verhandlungen mit
dem Finanzminister durchsetzen. Immerhin sind das
100 Millionen DM mehr. Sie sagen nun, das sei viel zu
wenig. Ich kann mich daran erinnern, dass auch Sie häufig Verhandlungen mit Finanzminister Waigel geführt hatten. Frau Nolte versprach uns immer, die Einkommensgrenzen zu erhöhen, konnte sich offensichtlich aber bei
Finanzminister Waigel nicht durchsetzen. Das mussten
wir erst in die Hand nehmen.
({10})
Dass die Einkommensgrenzen niemals erhöht wurden,
hat dazu geführt, dass beinahe jede zweite Familie das
volle Erziehungsgeld nach dem siebten Lebensmonat des
Kindes nicht mehr erhalten hat. Wir reißen jetzt das Ruder herum und sorgen für eine bessere Förderung der Familien. Daran werden Sie uns auch nicht hindern, wenn
Sie immer wieder die Ökosteuer diskutieren.
({11})
- Ich habe Ihnen ja gerade gesagt, wie die Entlastung der
Familien ist.
Ein weiterer Punkt, der sich auf die Erwerbstätigkeit von Müttern und Vätern positiv auswirken wird, ist
die Erhöhung der zulässigen Teilzeitarbeit von 19 auf
30 Stunden. Heute schließt eine Erwerbstätigkeit von
mehr als 19 Stunden den Bezug von Erziehungsgeld völlig aus. Damit kommen wir auch vielen Alleinerziehenden
entgegen, die wir davor bewahren, in die Sozialhilfe abgedrängt zu werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zur Vereinbarkeit
von Familie und Beruf gehört auch eine bedarfsgerechte
Kinderbetreuung. Hier gibt es gerade in den alten Bundesländern immer noch enorme Lücken. Das betrifft das
Betreuungsangebot für Kinder unter drei und über sechs
Jahre. Deutschland ist hier im europäischen Vergleich ein
absolutes Schlusslicht. Nicht nur Kindertagesstätten, sondern auch Ganztagsschulen in allen Schulformen wurden
aufgrund von ideologischen Vorbehalten der CDU/CSU
und der F.D.P. nicht errichtet.
({12})
Darum teile ich zwar den Inhalt des PDS-Antrags, dass
wir hier einen Nachholbedarf haben, nicht aber das Vorhaben der PDS, dass die Länder ausführen müssen, was
der Bund beschließt. Nach diesem Muster ging die alte
Bundesregierung beim Rechtsanspruch auf einen KinderIrmingard Schewe-Gerigk
gartenplatz vor: Der Bund beschließt, die Länder und
Kommunen zahlen. Dieses üble Spiel werden wir nicht
weiterführen. Vielmehr werden wir dafür sorgen, dass die
Länder und Kommunen wieder mehr finanzielle Spielräume haben,
({13})
damit sie diese dringend notwendigen Einrichtungen zur
Verfügung stellen können. Hier können wir tatsächlich
vom Osten lernen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit der heutigen Gesetzesänderung werden wir natürlich nicht sofort die
Wirklichkeit ändern; das ist mir auch klar. Aber wir geben
Anreize und machen Angebote. Ich hoffe, dass die Eltern
und insbesondere die Väter dieses aufgreifen werden. Wir
werden dazu sicherlich noch eine Öffentlichkeitskampagne machen. Wir werden herausstellen, welche Bereicherung es auch für ein Leben von Vätern ist, wenn sie Zeit
für ihre Kinder haben. Ich glaube, wir sind auf einem
guten Weg.
Vielen Dank.
({14})
Nun hat das Wort die
Kollegin Ina Lenke, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Wir beraten heute Änderungen eines Schutzgesetzes für Eltern. Es geht um den Erhalt des Arbeitsplatzes nach der Geburt des Kindes und das Recht auf eine
zeitlich begrenzte Beschäftigung während der Erziehungszeit.
({0})
- Natürlich ist das ein Schutzgesetz! Oder sehen Sie das
nicht so? Sonst hätten wir es doch nicht.
({1})
Ich denke, der Schutz des Arbeitsplatzes nach der Geburt eines Kindes ist eine ganz wichtige Sache, und deshalb sind wir 1986 alle der Meinung gewesen, dass dieses
Gesetz sein muss.
({2})
Von daher weiß ich überhaupt nicht, welchen Grund Sie
haben, über diese Dinge zu lachen. Auch Sie wissen, dass
manche Schutzgesetze für Frauen Beschäftigungsfallen
waren, zum Beispiel das Nachtarbeitsverbot. Sie sollten
sich daher lieber ernsthaft mit der Sache beschäftigen und
nicht, wenn die Opposition etwas sagt, nur darüber lachen.
({3})
Ich will jetzt zum eigentlichen Gesetz kommen. Alle
Fraktionen haben Konzepte vorgelegt. Das Konzept der
CDU/CSU ist ein bisschen dünn. Da hätte die große
Oppositionsfraktion CDU/CSU doch mehr Substanz haben müssen.
({4})
Wir jedenfalls haben ein umfassendes Konzept vorgelegt.
Der alte Erziehungsurlaub soll modernisiert werden, er
soll den Bedürfnissen der Eltern und, so meine ich, der
Betriebe gerecht werden; denn die Arbeitswelt hat sich
verändert. Deshalb müssen wir alte Konzepte auf den
Prüfstand stellen und neue entwickeln.
Meine Damen und Herren, was ändert sich denn bei
SPD und Grünen? Der Gesetzentwurf sieht eine Erhöhung des Erziehungsgelds im ersten Jahr um 300 DM
vor, und die Einkommensgrenzen werden um 10 Prozent
erhöht. Wenn wir uns ansehen, wie sich die Löhne und
Gehälter und die Kosten für Kinder entwickelt haben,
dann wissen wir, dass das viel zu wenig ist. Wir haben
noch einmal die Hälfte bei den Einkommensgrenzen
draufgelegt. Wir wissen, dass auch das zu wenig ist, und
wir hätten uns gern mit Ihnen darüber geeinigt, eine deutliche Anhebung der Einkommensgrenzen bei der Gewährung von Erziehungsgeld für Mütter und Väter umzusetzen.
({5})
Wir meinen allerdings, dass Ihre zeitliche Ausgestaltung nicht ausreicht. Frau Bergmann, ich muss schon sagen: Sie nehmen den Mund - ich meine das jetzt nicht direkt und persönlich - ziemlich voll, wenn Sie sagen: Wir
tragen gelebter Vielfalt Rechnung. - Schauen Sie sich
bitte unser Konzept an! Schauen Sie sich Ihr Konzept an!
Dann werden Sie sehen, dass die Vielfalt nicht in Ihrem
Konzept liegt, sondern ganz bestimmt in unserem. Ich
werde das noch kurz erläutern.
({6})
- Ja, aber die SPD hätte doch ein bisschen mehr Vielfalt
in ihr Konzept einbringen können. Das hat sie aber nicht,
sie ist unserem Vorschlag nicht gefolgt.
Wir meinen, dass dieses Gesetz immer noch ein zu enges Korsett für Eltern und Betriebe ist. Ein Schutzgesetz
muss nämlich viel Raum geben, um die Erziehungszeit
zwischen den Beteiligten flexibel zu vereinbaren und
nach einvernehmlichen Lösungen suchen zu können.
Warum geben Sie nicht, wie es unser Vorschlag vorsieht,
vorab mehr Raum für individuelle Lösungen?
({7})
Bei unserem Vorschlag nimmt sich der Staat erst einmal zurück
({8})
und lässt die handelnden Personen individuelle Lösungen
für sich selbst finden. Ich meine, das ist ein liberaler Ansatz,
({9})
den wir durchgängig - „gender mainstreaming“ - in allen
Gesetzen durchsetzen werden, die Frauen und Familie betreffen.
Ein Kritikpunkt am SPD/Grünen-Gesetz ist der neu
eingeführte Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit während
der ersten Lebensjahre des Kindes. Dies geschieht bei Betrieben mit 15 und mehr Mitarbeitern. Ich habe mir wirklich die Mühe gemacht, Frau Schewe-Gerigk, im Ausschuss und im Parlament nachzufragen, wie Sie auf diese
gesetzte Größe kommen.
({10})
Frau Schmidt hat gesagt: Diese Größe haben wir festgelegt. Sie hat es überhaupt nicht begründet. Sie hat dann
noch angedroht, dass sie in den nächsten Jahren noch heruntergesetzt werde. Die Betriebe werden sich freuen. Sie
sind sehr „mittelstandsfreundlich“. Wenn dann noch Ihr
Gleichstellungsgesetz für die Wirtschaft kommt, werden
wir sehen, ob die Betriebe nach wie vor bereit sind, Ihrer
Regierung Zusagen über die Einstellung von Frauen zu
machen.
({11})
Wir meinen, dass es sich Betriebe mit 15 bis 20 Mitarbeitern schwer überlegen werden, ob sie überhaupt noch
Frauen einstellen.
({12})
Denn bei Inanspruchnahme des Rechtsanspruchs auf Erziehungsurlaub geraten sie in Schwierigkeiten. Ich will
nur sagen: Man kann dies positiv sehen, aber man muss
auch sehen, dass es zwei Seiten der Medaille gibt. Wir
werden abwarten und sehen, wie sich dies entwickelt.
({13})
Der Deutsche Frauenrat hat Ihr Gesetz negativ bewertet. Er kommt zu dem Schluss, dass mit der Reform
hinsichtlich der Umverteilung von Erwerbs- und Erziehungsarbeit zwischen Männern und Frauen nichts erreicht
wurde. Meines Erachtens ist der Anreiz für Männer, auch
einmal Erziehungsurlaub zu nehmen - wie Frau ScheweGerigk es gesagt hat -, in diesem Gesetz sehr schwer zu
finden.
({14})
Die PDS hat einen Antrag vorgelegt, Frau Schenk, der
sich wirklich nicht finanzieren lässt. Das wissen Sie auch.
Das Ganze ist reine Parteitaktik. Auf den Antrag der CDU
kann ich eigentlich nicht eingehen, weil er kein rundes
Konzept enthält. Er ändert nur die starken Verwerfungen,
die SPD und Grüne haben.
({15})
Nun ganz kurz zu unserem Vorschlag: Wir wollen für
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber einen großen Spielraum bei der
Gestaltung der Erziehungszeit. Arbeitnehmer und Arbeitgeber können sich gemeinsam einigen, wie oft bis zum
Schuleintritt des Kindes gewechselt und wie gearbeitet
wird, und zwar 600 Stunden in sechs Monaten.
({16})
Hier muss man sagen, dass bei unserem Vorschlag einfach
vielfältigere Möglichkeiten für individuelle Lösungen bestehen.
({17})
Zur Erhöhung des Erziehungsgeldes: Wir haben
800 DM für zwei Jahre vorgeschlagen. Dies und die Einkommensgrenzen habe ich vorhin schon genannt.
Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass Sie sich nicht
bemühen, die Antragstellung für Familien - wie wir es
vorgeschlagen haben - zu erleichtern. Dazu habe ich von
Ihnen überhaupt nichts gehört. Es wäre schön, wenn die
Rednerin der SPD auf diese Dinge einginge. Wir sind mobil. In jedem Bundesland gibt es andere Voraussetzungen
und Ansprechstellen. Dies sollten Sie einmal mit den Ländern besprechen.
Bei SPD und Grünen ist vieles erlaubt, nein: vieles verboten. Bei uns ist vieles erlaubt. - Dies war keine freudsche Fehlleistung, Frau Schmidt. Also: Bei der SPD und
den Grünen ist vieles verboten und bei uns ist vieles erlaubt.
({18})
Wir tragen der Lebensvielfalt von Menschen, die in
Partnerschaften leben, Rechnung. Wir wollen hier ein
Stück weitergehen. Wir wollen das Gesetz gern mit Ihnen
zusammen modernisieren, aber mit unseren Alternativen.
Gleichberechtigung in der Gesellschaft ist durch dieses
Gesetz - da geben Sie mir Recht - sicher nicht erreicht
worden. Das Gesetz mildert nur die Nachteile der Elternschaft.
Zum Schluss habe ich noch einen Wunsch: Ich würde
mir wirklich wünschen, dass viele junge Männer die Kraft
finden - den Wunsch, Kinder mit zu erziehen, haben die
jungen Männer -, ihrem Arbeitgeber zu sagen: Ich möchte
einen Monat, zwei oder drei Monate bei meinem Kind
bleiben.
({19})
Diejenigen, die diese Kraft finden, werden in unserer Gesellschaft auch von Frauen diskriminiert. Wenn ein Mann
zu Hause ist, wird gesagt: Hausmann, der hat wohl keine
Lust zu arbeiten. Dies muss sich in unseren Köpfen ändern. Dafür sitzen wir hier im Parlament und sprechen mit
unseren Bürgern und Bürgerinnen.
({20})
Ich erteile der Kollegin Christina Schenk von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In wohl kaum einem anderen Industrieland wird die Erwerbstätigkeit von Frauen mit Kindern so
gezielt unterlaufen wie in der Bundesrepublik. Das 1986
eingeführte Bundeserziehungsgeldgesetz ist - das muss
man so klar sagen - ein äußerst wirksamer Teil dieser Verhinderungsstrategie. Es erwies sich als regelrechte Frauenfalle: Für 600 DM Erziehungsgeld werden Frauen aus
dem Arbeitsmarkt herauskomplimentiert. Nur etwa die
Hälfte der Frauen - das wissen Sie genauso gut wie ich kehrt nach dem Erziehungsurlaub wieder in den Beruf
zurück, und das meist zu verschlechterten Bedingungen.
Der Anteil der Männer, die in den so genannten Erziehungsurlaub gehen, hat die 2-Prozent-Marke nie überschritten.
Im Klartext: Das Bundeserziehungsgeldgesetz schafft
in Verbindung mit der völlig unzureichenden Bereitstellung von Kinderbetreuungsmöglichkeiten die Rahmenbedingungen für das Drei-Phasen-Modell, nicht aber für
eine tatsächliche Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und
Beruf.
({0})
Löblicherweise will Rot-Grün an dieser Situation etwas ändern. Die Reform des Bundeserziehungsgeldgesetzes wurde von der Bundesministerin Frau Bergmann gar
als Kernstück ihrer Familienpolitik gepriesen. In Anbetracht des hier vorliegenden Entwurfs muss man konstatieren, dass das nichts als große Worte sind. Die Änderungen im Bundeserziehungsgeldgesetz bringen zum einen nur wenigen Eltern Vorteile und sind zum anderen
teilweise nichts als Mogelpackungen.
So wundert es mich auch nicht, dass vor genau einer
Woche führende Vertreterinnen der Frauenverbände, der
Gewerkschaften, der Kirchen und der Wissenschaft in einem offenen Brief massive Kritik an dem Gesetzentwurf
der Bundesregierung geübt haben. Diese Kritik teilt die
PDS voll und ganz. Ich möchte hier deutlich anmerken:
Die Forderungen, die von diesen Vertreterinnen erhoben
werden, entsprechen ziemlich genau dem, was in den Anträgen der PDS formuliert ist. Insofern, Frau Lenke, ist
das nicht bloß reine Parteitaktik. Vielmehr entsprechen
unsere Forderungen offensichtlich denen dieser Frauen
und damit den Notwendigkeiten bei der Kinderbetreuung.
({1})
Der entscheidende Mangel ist, dass das Gesetz keine
substanziellen finanziellen Verbesserungen für Familien
bringt. Das Erziehungsgeld bleibt mit 600 DM ein Taschengeld. Berücksichtigt man allein die Preisentwicklung seit 1986, hätten 1999, also im vergangenen Jahr, bereits 863 DM gezahlt werden müssen. Der andere Punkt
ist, dass die Einkommensgrenzen nur minimal erhöht
werden. Nach der Gesetzesänderung werden gerade einmal 55 Prozent der Familien Erziehungsgeld erhalten;
jetzt sind es 50 Prozent. Diese Zahl wird in Kürze sinken das ist auch so gewollt; das ist dem Gesetzentwurf zu entnehmen -; denn die Einkommensgrenzen sollen nicht dynamisiert werden. Damit werden die jetzigen Mehrausgaben eingefroren. Hier wird wieder auf Kosten der Familien gespart. Das ist für uns nicht akzeptabel.
({2})
Auch das budgetierte Erziehungsgeld, im Grunde genommen eine gute Idee, dient letztendlich der Mittelersparnis; das ist hier schon ausgeführt worden. Bei entsprechender Ausgestaltung könnte das budgetierte Erziehungsgeld der Einstieg in die Zahlung von Lohnersatzleistungen sein, wie das vielerorts anstelle von Erziehungsgeld gefordert wird. Es ist vor allen Dingen auch
ein Signal, sich nicht in die Falle des Drei-Phasen-Modells zu begeben. Der Pferdefuß aber ist: Wer ein Jahr lang
das erhöhte Erziehungsgeld von 900 DM in Anspruch
nimmt, bekommt unterm Strich 3 600 DM weniger als
diejenigen, die zwei Jahre lang 600 DM in Anspruch genommen haben. Da fehlen pro Monat 300 DM im Portemonnaie.
({3})
- Frau Schewe-Gerigk, Sie können nicht bestreiten, dass
es unterm Strich tatsächlich ein Minus ist.
Ich stelle also fest: Die Familienpolitik darf auch bei
der rot-grünen Bundesregierung nichts kosten. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie - das ist nicht bestritten
worden, insbesondere auch von uns nicht - ist nicht zum
Nulltarif zu haben, sondern kostet selbstverständlich
Geld. Das haben wir in unseren Anträgen auch ausgeführt.
Aber die hier veranschlagten 400 Millionen DM sind
dafür ein nachgerade lächerlicher Betrag.
Noch ein Wort zu den Vätern: Ohne eine entsprechende finanzielle Kompensation der Einkommensverluste werden diese weder motiviert noch in die Lage versetzt, in den Erziehungsurlaub zu gehen oder auch nur den
neuen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit wahrzunehmen.
Das weiß auch die Bundesministerin; das ist nämlich das
Ergebnis einer repräsentativen Studie, die das Bundesfamilienministerium in Auftrag gegeben hat. Ich frage mich
natürlich, wozu, wenn daraus nicht die entsprechenden
Schlussfolgerungen gezogen werden.
Die PDS fordert die Zahlung einer Lohnersatzleistung
statt der Ausstiegsprämie von 600 DM. Vätern würde so
das Argument genommen, schon allein aus finanziellen
Gründen den Erziehungsurlaub oder den Anspruch auf
Teilzeitarbeit nicht wahrnehmen zu können.
Unsere Vorschläge zielen auf eine tatsächliche Wende
in der Familienpolitik, die die Diskriminierung von
Frauen abbaut und Väter in die Erziehungsarbeit einbezieht. Deswegen wollen wir auch zu der hälftigen Teilung
der Freistellung zwischen Frauen und Männern motivieren - nicht zwingen. Ein Teil der Freistellungsansprüche
sollte nach unseren Vorstellungen nicht übertragbar sein.
Wird der Anspruch nicht wahrgenommen, verfällt er. Andere Länder praktizieren ähnliche Regelungen bereits seit
einiger Zeit erfolgreich. Ein individueller und nicht übertragbarer Rechtsanspruch würde Väter nicht nur ihren
Kindern und ihren Partnerinnen gegenüber in die Pflicht
nehmen, sondern sie auch gegen kinder- und familienfeindliche Zumutungen von Arbeitgebern und Kollegen
schützen.
Ein Wort zum Schluss. Auch das beste Vereinbarkeitsgesetz wird nichts nützen ohne ein bedarfsdeckendes Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen.
({4})
Solange dieses nicht gegeben ist, werden die hier vorgeschlagenen geringfügigen Verbesserungen wirkungslos
bleiben. Wer betreut denn den Nachwuchs, wenn Mütter
und Väter 30 Stunden Teilzeit arbeiten wollen? Wohin mit
dem Kind, wenn der betreuende Elternteil nach einem
Jahr Bezug von budgetiertem Erziehungsgeld wieder voll
beruflich einsteigen will?
Die hier vorgeschlagene Reform des Bundeserziehungsgeldgesetzes bringt also weder die Vereinbarkeit
von Beruf und Kindern für Frauen und Männer noch fördert es die Teilhabe von Männern an der Erziehung ihrer
Kinder. Das Arbeitsmarktrisiko Kind bleibt auch künftig
bei den Frauen. Wir werden diesen Entwurf daher ablehnen.
({5})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Hildegard Wester, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Böhmer, Sie haben mir eine
wunderbare Gelegenheit für einen Einstieg geboten. Sie
haben Argumente gebracht, die zeigen, dass Ihre Politik
dringend verlassen werden musste. Zwei oder drei Formulierungen, die Sie eben verwendet haben, zum Beispiel: „Weiterhin werden die Familien an der Grenze der
Armut leben und Sozialhilfe beziehen, endlich muss etwas geschehen“, zeigen eindrucksvoll, dass das, was Sie
in 16 Jahren Familienpolitik in diesem Land geleistet haben, zu dieser Entwicklung geführt hat. Es ist endlich Zeit,
diesen Weg zu verlassen.
({0})
Kollegin Wester, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Böhmer?
Bitte schön.
Frau Kollegin
Wester, ist Ihnen bekannt, dass, als Erziehungsgeld und
Erziehungsurlaub eingeführt worden sind, von der damaligen unionsgeführten Bundesregierung auf einen Schlag
ein Betrag von 1,6 Milliarden DM für diese Leistungen
zur Verfügung gestellt worden ist? Der Betrag ist im Verlauf der Jahre auf 7,2 Milliarden DM angestiegen. 1996
haben 95 Prozent der Eltern davon profitiert. Das sind Daten, die Sie einfach einmal zur Kenntnis nehmen müssen.
Sie können nicht immer wieder auf dem Argument des
Stillstandes herumreiten.
({0})
Frau Wester, das, was die Union im Bereich Familienpolitik gemacht hat, waren Meilenschritte, Sie machen Trippelschritte.
({1})
Frau Böhmer, dazu muss
ich Ihnen sagen: Als Sie das Gesetz über die Gewährung
von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub eingeführt haben, haben Sie im gleichen Zug das Mutterschaftsurlaubsgesetz abgeschafft, das es unter der sozial-liberalen
Regierung gegeben hatte. Das war in meinen Augen ein
Gesetz, das in eine richtige Richtung ging. Es hat sich
zunächst einmal an Frauen gerichtet, die berufstätig waren. Es hat ermöglicht, dass Frauen anschließend in den
Beruf zurückgingen. Die Leistung war am Einkommen
orientiert, das durch die Erziehung dann ausfiel.
Es ist sicherlich nicht der springende Punkt, wie viel
Geld in die Hand genommen wird.
(Dr. Maria Böhmer [CDU/CSU]: Aha!
Wenn ich die Großtaten, die Sie hier verkünden - 1986
1,6 Milliarden DM auf einen Schlag -, einmal so hinnehme, dann frage ich mich doch: Was hat das Ganze
denn gebracht? Sie haben eben selber gesagt, dass ein
Großteil der Familien an der Armutsgrenze leben, dass
viel zu viele Kinder sozialhilfeabhängig sind. Man muss
sich dann doch fragen, wo die Förderung hingegangen ist.
Sie haben durch Ihr Erziehungsurlaubsgesetz ein Gesetz geschaffen, das die Frauen aus dem Beruf herausgeholt hat. Es war ein Ziel dieses Gesetzes - ein Ziel, natürlich nicht das einzige -, den Arbeitsmarkt zu entlasten. Es
ist Ihnen zwar nicht gelungen, den Arbeitsmarkt zu entlasten, aber es ist Ihnen gelungen, die Frauen aus dem Beruf
herauszuholen.
({0})
Insofern war Ihr Gesetz, wie Sie eben sagten, ein Meilenstein in Richtung Entwicklung von Armut und in Richtung Vertreibung von Frauen aus dem Beruf.
Was wir jetzt hier vorlegen, ist genau das Gegenteil:
Wir ermöglichen Frauen, wieder Erziehungsarbeit und
Erwerbsarbeit miteinander zu verbinden.
({1})
Insofern bekräftige ich das, was Frau Ministerin
Dr. Bergmann sagte: Es ist ein Kernstück der Familienpolitik. Es gibt den Familien die Möglichkeit, sich frei zu
entscheiden. Es hat eben so geklungen, als ob wir den Familien nicht genügend Flexibilität einräumen würden.
({2})
Es wird niemand gezwungen, das Recht auf eine Reduzierung der Arbeitszeit in Anspruch zu nehmen. Es ist ein
Angebot an die Familien und diejenigen, die es wahrnehmen, werden eine Vielzahl von flexiblen Gestaltungsmöglichkeiten für ihr Familienleben haben.
({3})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Nachfrage der Kollegin Böhmer?
Nein, ich denke, das bringt
nichts. Es bestehen große ideologische Schranken, sodass
ich glaube, ich sollte mich nicht weiter damit auseinander
setzen.
({0})
Ich bleibe dabei: Das Ziel der jetzigen Regierung, den
Eltern mehr und vor allem flexible Zeit für die Erziehung
und Betreuung ihrer Kinder zu geben, ist nach wie vor
richtig und wird weiterhin verfolgt. Der Gesetzentwurf,
den wir heute - nach nicht einmal der halben Legislaturperiode - vorlegen und verabschieden werden, kann sich
sehen lassen. Ich bin zuversichtlich und überzeugt davon,
dass die Regelungen, auf die ich im Folgenden noch eingehen werde, das Ziel erreichen werden, Betreuungs- und
Erwerbsarbeit für Väter und Mütter zu vereinbaren.
({1})
Im Einzelnen werden die neuen Regelungen von den
unterschiedlichen Interessenlagen her unterschiedlich bewertet. Das ist völlig klar, das war auch nicht anders zu erwarten, hat sich auch in den Expertenanhörungen gezeigt
und ist in vielen Zuschriften sowie Veröffentlichungen
zum Ausdruck gekommen. Ich bin trotzdem fest davon
überzeugt, dass es uns mit diesem Gesetz gelungen ist, einen Kompromiss vorzulegen, den alle Seiten mit ihren unterschiedlichen Interessen auch mittragen können und der
in sich Möglichkeiten zur Weiterentwicklung birgt.
({2})
Die stärkste Kritik an dem Gesetzentwurf bezog sich
auf die Höhe des Erziehungsgeldes sowie auf die Regelungen zur Einkommenshöhe, zur Einkommensgrenze
und die Budgetierung. Das war nicht anders zu erwarten.
Wir haben aber nie versprochen - auch nicht in der Opposition und das unterscheidet uns vielleicht von der heutigen Opposition -, dass wir in der Lage sein werden, das
Erziehungsgeld zu erhöhen. Wir haben bei der Höhe der
Einkommensgrenzen natürlich genau rechnen müssen
und dabei das erreicht, was wir jetzt vorgelegt haben. Die
Zahlen sind genannt worden, aber ich möchte eine Zahl
noch einmal herausgreifen: Aufgrund dieses Gesetzes
werden jährlich 300 Millionen DM mehr an Familien ausgezahlt.
({3})
Die Budgetierung, Frau Böhmer, ist weder ein Minusgeschäft für die Familien noch eine Betreuungsfalle,
da es - wie ich eben bereits sagte - die freie Wahlmöglichkeit der Familien gibt, entweder die Budgetierung in
Anspruch zu nehmen oder nicht. Ich weiß nicht, für wie
dumm Sie unsere Familien halten, wenn Sie annehmen,
sie wären nicht in der Lage abzuschätzen, ob sie, wenn sie
sich für ein Jahr Erziehungsgeld entschieden haben, anschließend eine Betreuung für das Kind haben werden.
Das kann man den Familien mit Recht zumuten, da wir in
einem Land mit gebildeten Menschen leben. Darauf sind
wir sehr stolz.
({4})
Im Übrigen brauchen wir uns von niemandem - weder
von der Opposition noch von irgendeinem Verband - vorrechnen zu lassen, wie stark das Erziehungsgeld verfallen sei, wenn man es mit dem Wert vergleicht, den es im
Jahre 1986 gehabt hat. Wir können selber rechnen und
wissen das. Wir haben aber nicht 16 Jahre die Verantwortung gehabt und auch nicht wie mancher Verband still zugesehen, wie die alte Regierung nichts getan hat. Wir haben jetzt mit diesem Haushaltsloch zu leben und dabei das
Beste herauszuholen. Der Gesetzentwurf, den wir heute
vorlegen, ist ein Beweis dafür, dass uns das gelingen wird.
({5})
Wer 16 Jahre lang nicht gehandelt hat oder es hingenommen hat, dass nicht gehandelt wurde, sollte sich fragen, ob es hilfreich und der Sache dienlich ist, Fortschritte
madig zu machen, die mit diesem Gesetzentwurf auf den
Weg gebracht werden sollen. Es geht bei diesem Gesetzentwurf nicht in erster Linie um die finanzielle Wirkung,
sondern es geht um Änderungen in der Struktur des Gesetzes. Das kann nicht oft und deutlich genug gesagt werden. So wünschenswert es wäre, diese strukturellen Veränderungen durch eine entsprechende finanzielle Leistung zu flankieren, so falsch wäre es, jetzt darauf zu
verzichten, diese strukturellen Veränderungen vorzunehmen, nur weil die entsprechenden Finanzmittel nicht vorhanden sind.
Ich möchte noch einmal in Bezug auf die 300 Millionen DM jährlich, die wir zusätzlich für Familien ausgeben, darauf hinweisen, dass wir versucht haben, dort
eine soziale Komponente hineinzubringen, indem wir
die Kinderzuschläge nicht nur jetzt deutlich erhöhen, sondern sie auch in den nächsten zwei Jahren noch einmal erhöhen. Das ist natürlich keine Dynamisierung, wie es geHildegard Wester
fordert wurde, aber es ist ein deutliches Zeichen dafür,
dass es weitergeht. Im Jahre 2004 wird es mit Sicherheit
weitergehen. Dies ist ein Angebot und ein Versprechen an
die Familien, auf das sie sich verlassen können.
({6})
Weiter möchte ich darauf hinweisen - auch wenn Sie
das in Abrede stellen und mit der Ökosteuer verrechnen -,
dass die Bundesregierung in der kurzen Zeit ihrer Regierungsverantwortung verschiedene Maßnahmen ergriffen
hat, um Familien finanziell besser zu stellen. Sie wissen
genau, dass es einer unserer ersten Schritte war, das Kindergeld zu erhöhen. Durch steuerliche Erleichterungen
haben wir erreicht, dass Familien mit zwei Kindern ungefähr 2 000 DM mehr zur Verfügung haben. Über die Ökosteuer möchte ich jetzt nicht mehr sprechen.
({7})
Wir werden den Weg fortsetzen, die Familien finanziell zu entlasten. Dies geschieht aber nicht allein mit dem
Erziehungsgeldgesetz. Die SPD-Fraktion und die Familienpolitikerinnen und -politiker der SPD-Fraktion werden
es nicht hinnehmen, dass Kinder in diesem Land immer
stärker zum Armutsrisiko werden. Diese Entwicklung
werden wir stoppen. Wir haben sie zum Teil schon gestoppt.
({8})
Wir werden die Richtung ändern. Beide Eltern haben
auch die Möglichkeit, ihre Arbeitszeit gleichzeitig zu reduzieren. Denn wenn beide Eltern gleichzeitig arbeiten,
können sie ihre Existenz besser sichern. Es ist unser Ziel,
den Familien die Möglichkeit zu geben, ihre Existenz aus
eigener Kraft zu sichern und so der Armutsfalle zu entgehen.
Kollegin Wester,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Falk,
CDU/CSU-Fraktion?
Ja, bitte.
Frau Kollegin, Sie haben am
Schluss auf die materielle Seite stark abgehoben. Sie haben am Anfang bestritten, dass das der wesentliche Punkt
sei. Daher muss ich Sie fragen, wieso die 7,6 Milliarden DM, die die CDU/CSU für die Familien eingeführt hat, an die Armutsgrenze führen und die Familien in
den Ruin treiben, und die 300 Millionen DM, die Sie jetzt
zusätzlich bringen, in die Zukunft weisen und die Familien von dem Armutsrisiko befreien.
({0})
Die 300 Millionen DM, wenn wir das umrechnen, sind ein
Sechstel der Kindergelderhöhung um 10 DM. Wenn man
das auf alle Kinder umrechnen würde, wären es pro Kind
und Monat 1,66 DM.
({1})
Sie haben den letzten Teil
meiner Ausführungen nicht richtig verstanden. Wir wollen den Familien die Möglichkeit geben, ihre Erwerbstätigkeit beizubehalten und so ihre Existenz zu sichern.
Sie wissen genauso gut wie ich: Man kann ein noch so hohes Kindergeld oder Erziehungsgeld zahlen: Am Ende des
Bezugs dieser Leistung wird ein Elternteil, in der Regel
die Mutter, entweder beruflich vor dem Nichts stehen
oder eine geringe Arbeitszeit akzeptieren müssen, sodass
er nicht mehr dazu beitragen kann, die Existenzsicherung
zu gewährleisten. Es ist ein Ammenmärchen zu glauben,
dass einer Familie damit gedient ist, wenn man ihr Geld
in die Hand drückt, ohne die Strukturen zu schaffen, die
es möglich machen, dass sie sich an der Erwerbsarbeit beteiligen kann.
({0})
Kollegin Wester, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal der Kollegin Hanewinckel?
Ja, bitte.
Kollegin Wester, können Sie sich mit mir daran erinnern, dass zum Beispiel im
Jahre 1996 bei dem jetzt so gerühmten Haushalt der
CDU/CSU für die Familien beim Erziehungsgeld etwas
mehr als 1 Milliarde DM eingespart worden ist, weil inzwischen nur noch vier von zehn Familien in den Genuss
des vollen Erziehungsgeldes gekommen sind, da die Einkommensgrenzen in all den Jahren nicht mehr erhöht worden sind? Deshalb stelle ich die Zahl, die hier genannt
worden ist, infrage; denn diese Milliarde DM ist nicht nur
1996, sondern auch in den darauf folgenden Jahren eingespart worden, weil die Zahl der Familien immer geringer wurde.
({0})
Ich gebe Ihnen Recht. Ich
kann mich sehr gut daran erinnern. Wir werden den Anteil
der Erziehungsgeldberechtigten von 50 Prozent auf
55 Prozent anheben. Das mag sich wenig anhören.
Frau Lenke wirft gerade ein, warum wir die 1 Milliarde DM nicht auf einen Schlag wieder einsetzen. Ich
glaube, naiver kann man eigentlich nicht sein. Wie soll
man das, was vielleicht vor 15 Jahren notwendig
({0})
gewesen wäre, heute in einen kaputtgefahrenen Haushalt
einstellen, bei dem an allen Ecken und Enden Handlungsbedarf besteht?
({1})
Wir werden während unserer Regierungszeit nach und
nach und in verantwortungsvollen Schritten die Leistungen hochfahren, immer mit Blick darauf, dass der Haushalt konsolidiert werden muss und dass wir der jungen
Generation keine so hohe Verschuldung hinterlassen
können, wie wir sie derzeit haben.
({2})
Der wesentliche Punkt der strukturellen Veränderung,
den ich eben angesprochen habe und der hier schon mehrfach genannt worden ist, ist das Recht auf Reduzierung
der Arbeitszeit. Ich halte das für einen Meilenstein. Wer
hätte denn vor zwei Jahren gedacht, dass es uns möglich
wäre, gegen den Widerstand der Wirtschaft und anderer
Interessenverbände ein Recht auf Reduzierung der Arbeitszeit einzuführen? An dieser Stelle muss man natürlich darauf hinweisen - das ist schon gemacht worden -,
dass dieses Recht eingeschränkt ist, weil es nur bei Arbeitgebern gilt, die mehr als 15 Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer beschäftigen. Ich habe eingangs von einem
Kompromiss gesprochen. Hier wird er deutlich.
Ich hätte mir auch etwas Besseres vorstellen können.
Ich hätte sehr gerne auf die Grenze von 15 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern verzichtet. Deswegen bin ich
sehr froh darüber - das gestehe ich ein -, dass wir in das
Gesetz eine Überprüfungsklausel hineingeschrieben haben. Das heißt, die Bundesregierung soll in einem angemessenen Zeitraum Bericht erstatten, wie sich das Recht
auf Reduzierung der Arbeitszeit auf Arbeitgeberinnen und
Arbeitgeber und auch auf Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen auswirkt. Wir werden dann im Licht der durch
diesen Bericht gewonnenen Erkenntnisse Gelegenheit haben, festzustellen, ob politischer Handlungsbedarf besteht. Wenn er besteht, dann werden wir auch für entsprechende Lösungen sorgen.
({3})
Kollegin Wester, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lenke?
Ja, bitte.
Frau Wester, ich habe die Bitte in
meiner Rede geäußert, dass irgendjemand von Ihnen sagt,
wie die Grenze von 15 Mitarbeitern zustande gekommen
ist.
Das habe ich doch getan.
Nein, Sie sollten es begründen. Erklären Sie mir doch einmal, wie Sie auf die Zahl 15 gekommen sind. Könnte die Grenze auch bei 14 oder
16 Mitarbeitern liegen? Sie sagen: Wir wollen die Grenze
ganz abschaffen. Wie kommen Sie genau auf 15? Darauf
hätte ich gerne ein Antwort von Ihnen.
Ich habe Ihnen eben gesagt, dass die Zahl 15 einen Kompromiss darstellt. Das ist
ausgehandelt worden. Ich halte es für tragbar. Das ist in
Ordnung. Im Leben und gerade auch im politischen Leben ist es so, dass man Kompromisse schließen muss.
Meine Zielvorstellung ist die Abschaffung der Grenze von
15 Mitarbeitern. Daran werden wir arbeiten. Wenn Sie uns
dabei helfen wollen, dann sind Sie herzlich willkommen.
({0})
Ich möchte das nicht weiter vertiefen. Ich habe es erklärt.
Ich denke, das muss auch für Sie, Frau Lenke, ausreichen.
An dieser Stelle muss ich allerdings noch einige Sätze
zu dem offenen Brief des Deutschen Frauenrates sagen.
So sehr ich verstehe, dass einige neue Regelungen als
nicht weitreichend genug empfunden werden, so wenig
verstehe ich die Fundamentalkritik, die in dem Schlusssatz gipfelt, das neue Gesetz erreiche seine Ziele nicht,
nämlich die der Gleichberechtigung von Männern und
Frauen und der damit einhergehenden Umverteilung von
Erwerbsarbeit und Erziehungsarbeit. Dies an der Betriebsgröße, dem nicht übertragbaren individuellen Anspruch auf Reduzierung der Arbeitszeit - er fehlt bei
uns -, der fehlenden Einkommenskompensation und der
nicht ausreichenden Zahl von Kinderbetreuungseinrichtungen festzumachen, das kann man natürlich tun. Aber
man kann auch sagen, dass wir einen Riesenschritt in
Richtung Gleichberechtigung getan haben. Das zum
Ausdruck zu bringen hätte ich vom Deutschen Frauenrat
erwartet.
({1})
Welcher Verband, der dem Deutschen Frauenrat angehört - ich habe es schon eben in einem anderen Zusammenhang gesagt -, hätte noch vor zwei Jahren geglaubt, dass wir einen Rechtsanspruch auf Reduzierung
von Arbeitszeit im Gesetz festschreiben würden? Auch
die Erhöhung der zulässigen Arbeitszeit auf 30 Stunden
und die Möglichkeit der gleichzeitigen Inanspruchnahme
des Erziehungsurlaubs sind Ergebnisse, die von entscheidender Bedeutung für das Rollenverhalten in den Partnerschaften sein werden.
Es wird für den Mann nämlich nicht mehr so leicht
sein, die Inanspruchnahme des Erziehungsurlaubs auszuschlagen, wenn es ihm möglich ist, die Arbeitszeit zum
Beispiel nur um einige wenige Stunden in der Woche zu
reduzieren. Die Frau wird in ihrer Forderung, eine möglichst hohe Stundenzahl erwerbstätig sein zu können, gestärkt und sie wird sie besser durchsetzen können.
({2})
Dies wird in den Familien ausgehandelt werden, was dann
die für sie beste Lösung zur Folge haben wird. Dazu bedarf es keines Zwangs und keines staatlichen Eingriffs.
Ich kann mich auch nicht der Auffassung anschließen,
dass nur ein Erziehungsgeld in der Höhe einer Einkommenskompensation Männer dazu bewegen kann, Erziehungsurlaub zu nehmen. Frauen werden bei dieser Argumentation im Übrigen immer außen vor gelassen. Es gibt
mittlerweile - Gott sei Dank - genügend Frauen, für die
600 DM Erziehungsgeld ebenfalls keine Einkommenskompensation darstellen. Über diese Frauen reden wir
nicht. Sie werden genauso wie die Männer viel lieber auf
einem höheren Stundenniveau erwerbstätig sein, als mit
einem hohen Erziehungsgeld den vollen Erziehungsurlaub zu nehmen und damit in der Gefahr zu stehen, auf
Erwerbsarbeit nach dem Erziehungsurlaub verzichten zu
müssen.
Natürlich gibt es noch viel zu viele Familien, für die die
Höhe des Erziehungsgeldes von extrem hoher Bedeutung
ist. Für diese Familien werden wir etwas tun müssen. Ich
habe eben gesagt, dass das passieren wird. Hier liegt ein
weites Betätigungsfeld für die Politik und für die Verbände, die uns angeschrieben und angesprochen haben;
aber diese Probleme können nicht mit diesem Gesetz
gelöst werden.
Mit diesem Gesetz kann ebenfalls nicht das Problem
der nicht ausreichenden Anzahl an Betreuungsplätzen
gelöst werden; denn auf diesem Gebiet sind die Länder
die Ansprechpartner. Sie wissen genauso wie ich, dass der
Bund das nicht regeln kann. Ich bin zuversichtlich, dass
die Initiativen von Ministerin Bergmann, mit den Ländern
ins Gespräch zu kommen, um die Dramatik dieser Situation und den Handlungsbedarf zu verdeutlichen, Erfolg
haben werden.
({3})
Abschließend kann ich nur an Sie alle appellieren, mit
uns die Verbesserung der Situation von Familien, von
Kindern, von Frauen und von Männern, bei allen Gesetzesvorhaben und in allen Handlungsbereichen voranzutreiben. Überfrachten Sie dieses Gesetz nicht mit Hoffnungen, denen ein einziges Gesetz nicht gerecht werden
kann. Ich lade Sie ein, uns bei dieser großen Aufgabe behilflich zu sein.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich erteile der Kollegin Renate Diemers, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Frau Wester, Frau Dr. Böhmer
hat es schon gesagt: Die großen Ankündigungen der Regierungskoalition im Wahlkampf und in der Koalitionsvereinbarung in Bezug auf die Förderung der Familien haben auch bei vielen von uns eine gewisse Hoffnung hervorgerufen.
({0})
Es war die Hoffnung, durch ein gutes und auch finanzierbares neues Gesamtkonzept das Erziehungsgeldgesetz
wirklich weiterzuentwickeln und unsere Wünsche in der
Familienpolitik auch mit Ihrer Hilfe umzusetzen.
Sie haben mit Ihrem Entwurf leider nicht nur uns enttäuscht. Das Erziehungsgeld war bei seiner Einführung
1986 das denkbar modernste Instrument. Wir hätten in der
Folgezeit gerne Anhebungen und Dynamisierungen gehabt. Wir sind letztendlich am Finanzminister gescheitert.
({1})
Ihre Schadenfreude darüber und der ewige 16-Jahre-Vorwurf klingen hohl, da Sie nun die Möglichkeit hatten, einen großen Wurf zu landen, aber an Ihrem eigenen Finanzminister scheitern mussten.
({2})
An Ihrem guten Willen lag es wahrscheinlich nicht. Das
gebe ich gerne zu. Sie hatten doch wirklich Großes vor
und wir hätten Sie gern unterstützt. Aber der wahre Vater
Ihres Gesetzes ist der Finanzminister.
({3})
Noch in der Koalitionsvereinbarung sprechen Sie richtigerweise vom Zusammenspiel von Familienpolitik
und - unter anderem - Beschäftigungs- und Steuerpolitik. Dazu sage ich Ihnen jetzt noch einmal, auch wenn Sie
es nicht hören möchten: Die Ökosteuer mit all ihren Auswirkungen auf das Portemonnaie ist familienfeindlich.
({4})
Bereits 1996 haben Sie, Frau Wester, in einer Antwort
auf eine schriftliche Anfrage von der damaligen Parlamentarischen Staatssekretärin Gertrud Dempwolf erfahren, dass das Erziehungsgeld 1996, also zehn Jahre nach
Einführung, bereits 750 DM hätte betragen müssen, wenn
nur der Anstieg der Lebenshaltungskosten berücksichtigt
worden wäre.
({5})
- Ich habe vorhin gesagt, warum wir das nicht machen
konnten.
Die Forderungen nach mehr familienpolitischen Leistungen waren doch auch im Bundestagswahlkampf von
Ihnen, verbunden mit einer maßlosen Kritik an uns, zu
hören. Ich erinnere mich noch sehr gut an die vielen
Veranstaltungen zu diesem Thema. Sie aber stellen im
Jahr 2000 einen Entwurf vor, nach dem das Erziehungsgeld auf der Höhe von 600 DM pro Monat bleibt bzw. bei
der Budgetvariante insgesamt um 3 600 DM verringert
wird.
Zum Thema Budget hat Frau Dr. Böhmer bereits ausführlich Stellung genommen. Lassen Sie mich noch hinzufügen, dass neben der Schlechterstellung in finanzieller
Hinsicht bei Inanspruchnahme der Budgetregelung ebenfalls eine Schlechterstellung in Bezug auf die Situation
des Kindes erfolgen kann. Wir teilen nämlich nicht die
Auffassung, wie sie in der Anhörung vonseiten des DGB
zum Ausdruck gebracht wurde, dass es für ein Kind in den
ersten Lebensjahren keinen Unterschied macht, ob es
überwiegend zu Hause oder außerhäuslich betreut wird.
Auf der Basis Ihrer Budgetregelung wird es bei zwölf Monaten Erziehungsurlaub dazu kommen, dass die Kinderbetreuung durch andere Personen als die Eltern der Normalfall sein wird. Dies ist nicht etwa nur ein Nebeneffekt,
sondern von Ihnen ausdrücklich so gewünscht. Es passt
einfach nicht in Ihr Weltbild - das sage ich hier noch einmal sehr deutlich -, dass Mütter oder Väter sich ganz der
Familie widmen könnten.
({6})
Die Zukunft der Familie hängt im Wesentlichen von
der Wertorientierung derer ab, die politische Verantwortung tragen und politisch gestalten. Die Aufgabe der
Politik ist es, angemessen auf gesellschaftliche Veränderungen, auf veränderte Lebensentwürfe und auf ein verändertes Rollenverständnis zu reagieren. Allerdings
wird das Spannungsverhältnis zwischen Familie und Beruf nicht aufgehoben, solange nur die Frau bzw. die Mutter über die Familie definiert wird und der Vater im gesellschaftlichen Bewusstsein nach wie vor überwiegend
eine Außenseiterrolle in der Familie einnimmt.
Das in Ihrem Entwurf zum Ausdruck kommende Bestreben, die Väter stärker dazu zu ermuntern, Erziehungsurlaub zu nehmen, und zugleich die dafür notwendigen
Rahmenbedingungen zu verbessern, findet unsere Zustimmung. Aber unserer Meinung nach ist es der falsche
Weg, den Vätern als Ausgleich die Möglichkeit zu geben,
fast Vollzeit außerhäuslich zu arbeiten. Unsere Idee, zum
Beispiel ein Bonussystem zu schaffen, mit dem nicht
übertragbarer zusätzlicher Erziehungsurlaub gewährt
wird, wenn ihn beide Elternteile nehmen, wurde in der
Anhörung durchweg als positiv beurteilt.
({7})
Die problematische Situation auf dem Arbeitsmarkt
gerade für Frauen und Mütter ist uns vollkommen bewusst. Es ist sehr schwierig und fast unmöglich, ohne
Nachteile längere Zeit aus dem Beruf zu sein. Die ursprüngliche Intention des Erziehungsgeldes war die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Hierdurch sollte die Erziehungsleistung honoriert und zugleich der Anschluss an
das Arbeitsleben ermöglicht werden. Aus diesen Gründen
war für Mütter oder Väter während des Erziehungsurlaubes eine Arbeitszeit von 19 Stunden erlaubt. Diese Obergrenze sollte auch unserer Meinung nach ausgeweitet
werden. Das darf aber nicht zur Folge haben, dass aufgrund des dann erhöhten Einkommens trotz Anhebung
der Einkommensgrenzen kein Anspruch auf Erziehungsgeld mehr besteht.
({8})
Der Hauptgrund für die meisten Frauen, beruflich tätig
zu sein, ist, dass sie sich eine eigenständige wirtschaftliche und soziale Sicherheit aufbauen wollen. Der Wunsch
der Frauen, sich vom alten Rollenverständnis zu trennen
und ebenso wie die Männer eine lückenlose Erwerbsbiografie aufzubauen, geht einher mit einer allgemeinen Veränderung im Arbeitsleben.
Auch wenn die Flexibilisierungen in Bezug auf die
Arbeitszeit fast schon alltäglich sind, beginnt nun erst der
Lernprozess, dass Veränderungen auch bezüglich des Arbeitsortes möglich sind, der dann zu Hause sein kann. Ich
denke in diesem Fall an die alternierenden Arbeitsplätze.
Das heißt: Der wachsende Einfluss der neuen Medien auf
die Arbeitsplatz-, Arbeitsinhalts- und Arbeitsortsgestaltung eröffnet - neben den Risiken - auch große Chancen
für die Erwerbstätigkeit von Vätern und Müttern; denn
diese neuen Möglichkeiten lassen hoffen, dass die Frage
nach einer familienfreundlichen Arbeitswelt nicht nur immer stereotyp mit der klassischen Form von Teilzeitarbeit
für Frauen beantwortet wird.
({9})
Die Devise muss lauten - das ist eine der Forderungen
der CDU/CSU -: Die Arbeitswelt muss sich an den Familien orientieren und nicht umgekehrt, wie es in der Vergangenheit der Fall war. Allerdings darf daraus nicht automatisch abgeleitet werden, dass Frauen, also auch Mütter, um jeden Preis erwerbstätig sein sollen. Mütter und
Väter müssen die uneingeschränkte Wahlfreiheit haben,
sich für die außerhäusliche Erwerbstätigkeit oder für die
Familie - auch ausschließlich für die Familie; es gibt viele
Frauen, die das möchten - oder aber für beides zu entscheiden. Die Wahlmöglichkeiten, die erst diese Wahlfreiheit gewährleisten, müssen verstärkt - da geben wir
Ihnen Recht -, aufgebaut und ausgebaut werden.
Aber nicht die ausschließliche gleichzeitige Wahrnehmung von Beruf und Familie ist unser Ziel, sondern die
Vereinbarkeit beider Lebensinhalte unter besonderer
Berücksichtigung der Interessen des Kindes. Um es zu
verdeutlichen: Eine fehlende Vereinbarkeit von Beruf und
Familie geht zulasten der Kinder. Dass in vielen Fällen
beide Elternteile arbeiten müssen - nicht um Karriere zu
machen, sondern um finanziell über die Runden zu kommen -, ist uns allen sicher klar.
Ich bin sehr froh, dass unsere Forderung, die mir gegenüber in der ersten Lesung noch mit hämischem Lachen
Ihrerseits quittiert wurde, nämlich den Begriff „Urlaub“
zu ändern, von Ihnen berücksichtigt wurde. Ob der neue
Begriff letztendlich „Familienzeit“, wie wir es vorschlagen, oder „Elternzeit“ lauten wird: Ich denke, wir werden
uns in diesem Punkt sicherlich einigen.
Wie schon gesagt: Sie haben mit Ihrer bisherigen Familienpolitik Chancen nicht genutzt. Sie haben vielmehr
Gelegenheiten vorbeiziehen lassen und Möglichkeiten
außer Acht gelassen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Bemerkung
machen. Sie beziehen sich in der Diskussion immer wieder auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und
machen dabei einen großen Fehler. Sie wollen in der
Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, das Verfassungsgericht habe ausdrücklich festgestellt, dass CDU/CSU
und F.D.P. in ihrer Regierungszeit eine schlechte Familienpolitik gemacht haben.
({10})
Das Gericht hat lediglich - das wissen Sie genau - auf die
steuerliche Ungleichbehandlung in Bezug auf Kinderbetreuungskosten von verheirateten und nicht verheirateten
Paaren hingewiesen.
Ich möchte Ihnen, meine Kolleginnen und Kollegen,
am Ende meiner Rede raten, sich einmal Zahlen ausdrucken zu lassen - Sie alle haben in Ihren Büros die
Möglichkeit dazu -, die belegen, welche familienpolitischen Leistungen seit 1994 von der CDU/CSU und der
F.D.P. auf den Weg gebracht wurden.
({11})
Ich rate auch meinen Kolleginnen und Kollegen in der
CDU/CSU-Fraktion, die Sommerpause zu nutzen, darauf
hinzuweisen, dass wir ohne Ihre Zustimmung viele familienpolitische Leistungen auf den Weg gebracht haben.
Ich gebe Ihnen Recht, dass wir uns seit 1990 die eine oder
andere Leistung mehr gewünscht hätten.
Frau Kollegin
Diemers, Ihre Redezeit ist schon weit überschritten.
Aber man muss Prioritäten setzen. Im Interesse der gesamtdeutschen Situation
haben wir, so denke ich, die richtigen Entscheidungen getroffen.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen, zunächst zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung
zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes in der
Ausschussfassung auf den Drucksachen 14/3553 und
14/3808. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
CDU/CSU auf Drucksache 14/3838 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt, und zwar mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P. und PDS bei Ja-Stimmen
der CDU/CSU-Fraktion.
Wer stimmt nun für den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die
Stimmen der anderen Fraktionen angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der anderen Fraktionen angenommen.
({0})
Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend empfiehlt weiterhin unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 14/3808 die An-
nahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen der
F.D.P. bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion angenom-
men.1)
Wir kommen zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Druck-
sache 14/3842. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Der Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen der SPD, des Bündnisses 90/Die
Grünen und der F.D.P. bei Enthaltung der PDS und Ja-Stim-
men der CDU/CSU abgelehnt worden.
Abstimmung über den von den Fraktionen SPD und
Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur
Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes, Drucksa-
chen 14/3118 und 14/3808. Der Ausschuss für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt unter Buchstabe b
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3808,
den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 20 b: Beratung der Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion der PDS
zum Ausbau eines bedarfsgerechten und öffentlich geför-
derten Betreuungs- und Freizeitangebotes für Kinder bis
zu 14 Jahren. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Druck-
sache 14/2758 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenom-
men.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion
der PDS unter dem Titel „Vereinbarkeit von Beruf und
Kinderbetreuung für Frauen und Männer“. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe d seiner Beschlussempfeh-
lung, den Antrag auf Drucksache 14/2759 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen-
probe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
mit der gleichen Mehrheit wie zuvor angenommen.
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion
der F.D.P. mit dem Titel „Erziehungszeit statt Erziehungs-
urlaub“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe e sei-
ner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Druck-
1) siehe Anlage 2
sache 14/3192 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen der
F.D.P. bei Stimmenthaltung von CDU/CSU angenommen.
Damit ist dieser Tagesordnungspunkt erledigt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b sowie
die Zusatzpunkte 12 und 13 auf,
22 a) Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
({1}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von den Abgeordneten
Rainer Funke, Jörg van Essen, Hildebrecht
Braun ({2}), weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs ({3})
- Drucksache 14/326, 14/2347, 14/3779 ({4})
Berichterstattung:
Abgeordnete Margot von Renesse
Volker Beck ({5})
Dr. Evelyn Kenzler
b) Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
({6}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem von den Abgeordneten
Christina Schenk, Sabine Jünger, Christine
Ostrowski, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Übernahme der gemeinsamen Wohnung nach Todesfall der Mieterin/des Mieters oder der Mitmieterin/des
Mitmieters
({7})
- Drucksache 14/308, 14/3780 ({8})
Berichterstattung:
Abgeordnete Margot von Renesse
Volker Beck ({9})
Dr. Evelyn Kenzler
ZP 12 Erste Beratung des von den Abgeordneten
Alfred Hartenbach, Hermann Bachmeier,
Bernhard Brinkmann ({10}), weiteren
Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Volker Beck ({11}),
Marieluise Beck ({12}), Claudia Roth
({13}), weiteren Abgeordneten und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beendigung der Diskrimminierung gleichgeschlechterlicher Gemeinschaften: Lebenspartnerschaften ({14})
- Drucksache 14/3751 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({15})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss
ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Alfred
Hartenbach, Margot von Renesse, HansJoachim Hacker, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten
Volker Beck ({16}), Hans-Christian Ströbele,
Marieluise Beck ({17}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Einbeziehung von eingetragenen Lebenspartnerschaften in die Hinterbliebenenversorgung
- Drucksache 14/3792 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({18})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Margot von Renesse, SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem ich
gestern viele Kommentare aus einem bestimmten Verlagshause zu dem hier anstehenden Gesetzentwurf zu den
Lebenspartnerschaften gelesen habe, weiß ich nun Bescheid: Sie reiten, die apokalyptischen Reiter, und zerstampfen auf ihrem Ritt durch das Brandenburger Tor mit
ihren rot-grünen Hufen die heiligsten Werte der Nation.
({0})
Wie schön sind dagegen die Umfrageergebnisse, die
heute Morgen zu lesen waren und die zeigen, mit welcher
Gelassenheit offensichtlich die Mehrheit der Bevölkerung
darauf reagiert.
({1})
Denn die meisten haben offenbar verstanden, dass es keineswegs Pflicht ist, nunmehr eine Lebenspartnerschaft
einzugehen und homosexuell zu werden,
Präsident Wolfgang Thierse
({2})
und dass niemandem, der eine solche Lebenspartnerschaft, ob hetero, homo oder sonst etwas auf dieser Welt,
nicht eingeht, auch nur irgendetwas genommen wird.
Es wird auch nicht das, was für die Förderung von
Ehe und Familie zur Verfügung steht, budgetiert.
({3})
Die Mittel werden nicht aus einem Kuchen genommen.
Grundrechte kann man normalerweise nicht budgetieren.
Sonst müsste man auch den Anträgen der CDU/CSU,
etwa die Ausgaben für die Bundeswehr zu erhöhen, Art. 6
entgegenhalten, denn dadurch würde ja das allgemein für
andere Aufgaben zur Verfügung stehende Budget, wie zur
Förderung von Ehe und Familie, verringert. So scheint es
aber nicht zu sein und die Bevölkerung weiß das.
Dass ältere Jahrgänge mit dem Thema große Schwierigkeiten haben, kann ich verstehen; ich kenne das auch
aus meiner eigenen engeren Familie. Es ist für alte Menschen weiß Gott eine große Herausforderung. Welch einen Wandel haben diese Menschen in ihrem Leben bezüglich dieses Themas erlebt! Als sie jung waren, war es
eine tödliche Bedrohung; es führte ins KZ. Als sie älter
wurden, war es - sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in der DDR - über lange Zeit hochgradig
strafbar und mit lebenslanger gesellschaftlicher Ächtung
verbunden. Noch bis vor kurzem bestanden Unterschiede
bei der Strafbarkeit hetero- und homosexueller Übergriffe, die erst in jüngster Zeit eingeebnet wurden. Und
jetzt soll die Lebenspartnerschaft anerkannt werden?
Dass Menschen mit einem solchen Wandel überfordert
sind, kann ich gut verstehen. Ich werde auch nichts dagegen tun; denn die Überforderung ist zu groß, Herr Geis.
({4})
- Ich meine das nicht witzig; ich sage das wirklich ohne
jeden Zynismus. Ich habe neulich im Bayerischen Rundfunk mit einer 81-jährigen Frau gesprochen, die mir erzählte, das sei gegen die Schöpfung, wie man es ja oft
hört. Ich kann verstehen, dass manche Menschen, insbesondere ältere Männern, vor Aversion geradezu Pickel
kommen.
({5})
Ich sage das voller Mitgefühl, weil ich das verstehe.
Aber darum geht es nicht. Es geht Gott sei Dank besonders darum, für die nächsten Generationen eine Welt
zu öffnen, in der - das sage ich, weil meine liebe Mutter
mir beigebracht hat, dass man über sexuelle Dinge eigentlich nicht spricht ({6})
in dieser Hinsicht kein Unterschied mehr gemacht wird,
in der das eine wie das andere normal ist und Bettgeschichten kein Thema mehr sind.
({7})
Darum brauchen wir die Gleichstellung: damit das Thema
normalisiert wird, damit nicht hinter vorgehaltener Hand
darüber gesprochen wird, damit es keine Rolle mehr
spielt, schon gar nicht im Recht. Das ist unser Ziel.
({8})
Es wird gesagt, die Regelung verstoße gegen Art. 6 des
Grundgesetzes. Lassen Sie mich etwas zu Art. 6 sagen,
einer Vorschrift, die mir sehr wichtig ist und hinsichtlich
derer ich alles tun würde, damit sie nicht beschädigt wird;
denn Ehe und Familie sind eine lebensdienliche Sache
und der Grundgesetzgeber hat gut daran getan, das im
Grundgesetz zu regeln und damit für jedermann zur Vorschrift zu machen.
Drei Funktionen von Art. 6 des Grundgesetzes sind Institutionengarantie, Leitbildfunktion und Grundrecht.
Erstens. Institutionengarantie bedeutet, dass jeder,
der heiraten will, es kann. Haben wir da irgendeine Änderung vorgenommen? Nicht die Spur! Die Vorstellung,
die Ehe verlöre dadurch, dass man auch eine andere Form
der Partnerschaft eingehen kann, ist mir nur aus einem tiefen Defätismus gegenüber der Ehe heraus erklärlich: als
sei sie ein vertrocknender, unattraktiver Ladenhüter in irgendeiner Ecke.
({9})
So sehe ich die Ehe nicht. Die Menschen heiraten nicht,
weil sie nur so steuerliche Vorteile bekommen können.
Sie haben schon geheiratet, als es das Ehegattensplitting
noch gar nicht gab.
({10})
Zweitens: Leitbildfunktion. Als gesellschaftliches
Leitbild ist mir Art. 6 des Grundgesetzes ebenfalls wichtig. Leitbild eines verantwortlichen Umgangs mit einem
Partner, für den man lebenslang Verantwortung übernimmt, selbst dann, wenn man ihn nicht mehr liebt; was
ganz entscheidend ist. Dies ist unheimlich wichtig in einer Zeit, in der der Individualismus zunimmt.
Das Leitbild Ehe und Familie gilt für diejenigen, die in
Ehe und Familie leben. Herr Geis, es gilt nicht für katholische Priester, nicht für die evangelische Diakonisse und
nicht für Menschen, die nicht heiraten können und die sich
morgens beim Rasieren, beim Waschen oder wo auch immer fragen,
({11})
ob sie lieber einen Mann oder eine Frau heiraten. Dieser
Punkt stellt sich für diese Menschen nicht.
({12})
- Ich versuche gar nicht mehr, Sie zu überzeugen.
({13})
Das Leitbild als Respekt der Unverheirateten vor Ehe
und Familie wird durch das, was wir vorhaben, nicht beschädigt. Im Gegenteil: Durch die Ausdehnung dieses
verantwortlichen, verlässlichen und verbindlichen Rechtsinstituts auf andere, die nicht heiraten können, steigern
wir die Bedeutung des von der Ehe und Familie ausgehenden Magnetismus, der Aura der Begeisterung für
wechselseitige Verantwortung - eine anthropologische
Konstante, die wir in der Tat aus dem Familienrecht übernehmen und deswegen systematisch dem Familienrecht
zuordnen müssen.
Drittens: Grundrecht. Natürlich haben Homosexuelle
gemäß Art. 2 des Grundgesetzes Grundrechte, wenn sie
eine Partnerschaft eingehen. Nur, eines ist auch klar: Mit
den vorhandenen zivilrechtlichen Möglichkeiten kann
man nicht die angestrebten Alltagshilfen bekommen - die
wollte man ihnen selbst auf dem kleinen Parteitag der
CDU Ende letzten Jahres zugestehen -, ohne dass man
Heterosexuelle benachteiligt. Denn die bekommen das alles nur, wenn sie sich extrem verpflichten, mit Kopf und
Kragen beim Standesamt mit dem förmlich verbindlichsten Vertrag, den es auf dieser Welt überhaupt gibt - er ist
förmlicher als ein Grundstücksverkehrsvertrag; denn das,
was sie da tun, ist sehr schwerwiegend. Das können wir
den Homosexuellen nicht billiger geben.
Ich wiederhole, was ich oft gesagt habe: So nahe sind
sie meinem Herzen nicht, dass ich irgendeinen Grund
dafür sehe, sie besser als Heterosexuelle zu behandeln.
Eine Gleichbehandlung bzw. Normalisierung ist angesagt.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({14})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Norbert Geis, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Frau von Renesse,
vielleicht eignet sich dieses Thema nicht so sehr für flapsige Bemerkungen.
({0})
Hier treffen zwei verschiedene Auffassungen aufeinander.
Es muss möglich sein, dass man mit Respekt und in Ruhe
diese beiden Auffassungen zur Geltung kommen lässt.
Dann kann man ja entscheiden, für welche Auffassung
man steht.
({1})
Aber flapsige Bemerkungen, verehrte Frau Renesse, sind
hier mit Sicherheit fehl am Platz.
Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf wird ein familienrechtliches Institut geschaffen, das der Ehe gleichgestellt
ist.
({2})
Sie ändern 112 Gesetze, die alle Regelungen in Bezug auf
die Ehe enthalten. Daraus ergibt sich die Gleichstellung
des von Ihnen vorgesehenen Instituts mit Ehe und Familie. Das ist ja auch Ihre Absicht. 1996 haben die Grünen
einen Gesetzentwurf zur Gleichstellung mit Ehe und Familie eingebracht. Dies ist die Absicht des Herrn Beck,
auch wenn er sagt, es handele sich nicht um eine Konkurrenz zur Ehe.
({3})
Die Grünen sind in dieser ganzen Auseinandersetzung das
treibende Moment. Die SPD hat sich wohl dazu hinreißen
lassen, weil die Koalition halten muss.
Die Fachwelt ist sich darüber völlig einig, dass hier ein
Institut entsteht, das in unserer Rechtsordnung gleichberechtigt neben der Ehe stehen wird. Deshalb lehnt die
CDU/CSU-Fraktion diesen Gesetzentwurf entschieden
ab.
({4})
Wir stimmen darin mit den beiden großen Kirchen und Umfrage hin, Umfrage her, es kommt auf die Fragestellung an - mit der Mehrheit der Bevölkerung überein. Da
bin ich mir ganz sicher.
({5})
Zum ersten Mal in unserer Rechtsgeschichte - wenn
wir einmal die Zeit des Nationalsozialismus und des
Kommunismus ausblenden, in der die Ehe nur ein Schattendasein führen durfte - wird die ganz herausragende
Stellung von Ehe und Familie in unserer Rechtsordnung
in frage gestellt. Dagegen wenden wir uns. Wir halten deshalb diesen Gesetzentwurf für verfassungswidrig.
({6})
Das will überhaupt nicht heißen, dass wir uns nicht genau wie die Kirchen und auch die Mehrheit der Bevölkerung - gegen jegliche Diskriminierung von Homosexualität wenden.
({7})
- Das ist überhaupt kein Widerspruch. Sie haben es nur
noch nicht begriffen.
Freie Lebensformen müssen in einer freien Gesellschaft und in einem freien Staat frei gewählt werden können. Jeder hat dies zu respektieren.
({8})
Wir achten auch die durchaus aufopfernden Freundschaften zwischen solchen Partnern, die ein Leben lang bestehen können. Davor haben wir Respekt. Allerdings gilt
dies nicht nur für gleichgeschlechtliche Lebenspartner,
sondern für viele Lebensformen.
Wir haben - dem Himmel sei Dank - viele Lebensformen in unserer Gesellschaft, bei denen die Partner ein Leben lang füreinander eintreten. Es besteht überhaupt gar
kein Grund, eine Lebensform herauszugreifen und ihr
eine besondere gesetzliche Regelung zukommen zu lassen. Das ist ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz.
({9})
Auch das muss man einmal sehen. Das müssen Sie so sehen. Es gibt in Frankreich den Versuch, eine größere
Regelung zu finden. Allerdings ist sie aufgrund der
Schwierigkeiten, die dabei entstehen, bis jetzt nicht gelungen. Aber das können Sie nicht einfach übersehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Lebensformen können nicht mit der einzigartigen Stellung
und Bedeutung von Ehe und Familie in unserer Gesellschaft verglichen werden.
({10})
Nirgendwo erfahren die Kinder größere Geborgenheit als
bei Vater und Mutter.
({11})
Nirgendwo werden die Kinder besser heranwachsen als
bei Vater und Mutter. Nirgendwo, das ist unbestritten,
werden sie besser - das wissen Sie genauso gut wie ich,
Frau von Renesse; darin stimmen wir überein - auf ihr Leben vorbereitet als in der Familie. Das erkennen wir an.
Deswegen haben - auch darin sind wir uns einig - Ehe
und Familie eine überragende Bedeutung für unsere Gesellschaft und für unseren Staat. Diese überragende Bedeutung respektiert und artikuliert Art. 6 des Grundgesetzes. Das ist ein Grundrecht.
Normalerweise werden Grundrechte dafür geschaffen, um dem Einzelnen einen Freiheitsraum gegenüber
dem Staat zu sichern. Aber bei zwei Grundrechten hat der
Staat den Auftrag, alles zu tun, damit dieses jeweilige
Grundrecht gewahrt bleibt und seine Bedeutung in der
Gesellschaft behält. Das betrifft zum Ersten die Würde
des Menschen und zum Zweiten Ehe und Familie. Deswegen kann sich der Staat nicht zurücklehnen und sagen:
Die Zeiten und die Menschen haben sich geändert. Wir
haben nicht mehr die gleichen Verhältnisse wie 1950.
({12})
Nein, wir haben die gleiche Verfassung. Wir haben in
dieser Verfassung stehen, dass unabhängig davon der
Staat verpflichtet ist, alles zu unternehmen, damit Ehe und
Familie ihre überragende Stellung in unserer Gesellschaft
behalten. Wer dies missachtet, missachtet die Verfassung,
meine sehr verehrten Damen und Herren. Das wissen Sie
auch.
({13})
Sie haben doch selbst 1993 in der Verfassungskommission den Antrag gestellt, neben Ehe und Familie andere Lebensgemeinschaften ebenfalls unter den besonderen Schutz des Staates zu stellen. Das war der Versuch,
Ehe und Familie in der Verfassung mit anderen Lebensgemeinschaften gleichzustellen. Damals waren Sie der
Auffassung, man brauche eine Änderung oder Ergänzung
der Verfassung, um entsprechende gesetzliche Regelungen treffen zu können. Heute versuchen Sie, dies mit Gesetzen unterhalb der Verfassung, mit einfachgesetzlichen
Regelungen, zu erreichen und widersprechen damit Ihrer
Auffassung von 1993, als Sie noch der Meinung waren,
wir brauchten erst eine Verfassungsänderung.
({14})
Wenn ich es richtig beurteile, machen Sie also sehenden
Auges ein verfassungswidriges Gesetz, meine sehr geehrten Damen und Herren. Das können Sie so nicht stehen
lassen.
({15})
Sie alle wissen, welche Bedeutung auch das Verfassungsgericht Ehe und Familie beimisst. Es gibt eine eindeutige Rechtsprechung des Verfassungsgerichts. Sie
können in vielen Urteilen nachlesen, dass die einzigartige
Bedeutung von Ehe und Familie gewahrt bleiben muss
und dass es nicht erlaubt ist, andere Rechtsinstitute
gleichrangig danebenzustellen. Der frühere Verfassungsrichter Kirchhof hat klar und eindeutig erklärt: Wer andere
Rechtsinstitute wie die gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften neben Ehe und Familie stellt, pervertiert
den Verfassungsauftrag.
Die F.D.P. hat in ihrem Entwurf sehr wohl versucht, auf
diese Lage Rücksicht zu nehmen. Das erkenne ich an, obwohl ich auch gegen diesen Entwurf bin. Dieser Entwurf
ist etwas ganz anderes als das, was von der anderen Seite
des Hauses vorgelegt wurde. Dort wird die Ehe kopiert
und es gibt fast keinen Unterschied mehr. Jedenfalls sind
die verbleibenden Unterschiede nicht wesentlich.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich
muss man auch die einzelnen Regelungen einmal betrachten. Was macht eigentlich der Standesbeamte, bei
dem sich zwei Partner eintragen lassen wollen, wenn er
genau weiß, dass es sich nur um eine Scheinpartnerschaft
handelt? Es fehlt eine Missbrauchsregelung. Oder haben
Sie nicht genauso wie wir und wie Ihr Innenminister die
Befürchtung, dass über diese Regelung das Asylrecht umgangen werden kann?
({16})
- Dieser Vorwurf stammt nicht von mir, sondern ich wiederhole nur die Befürchtungen, die laut Zeitungsberichten
der Innenminister hegt. Diese Befürchtungen sind doch
nicht aus der Luft gegriffen; sie sind real. Belassen wir es
dabei und versuchen Sie nicht, das mit irgendwelchen
Zwischenrufen zu überdecken!
Des Weiteren wird immer wieder behauptet, die gleichgeschlechtlichen Partnerschaften würden diskriminiert
werden. Es gibt bei uns keine Diskriminierung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften.
({17})
- Sie sehen die Diskriminierung darin, dass wir uns weigern, die gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und andere Lebensformen der Ehe gleichzustellen. Ich halte das
nicht für Diskriminierung.
({18})
Dass es etwas ganz anderes ist, habe ich herauszuarbeiten
versucht.
Es wird immer das Argument gebraucht, dass, wenn
der eine Partner, der den Mietvertrag unterschrieben hat,
stirbt, der andere das Mietverhältnis nicht aufrechterhalten könne. Erstens einmal wird das ganz selten vorkommen und zweitens können beide den Mietvertrag unterschreiben. Was hindert sie denn, beide den Mietvertrag zu
unterschreiben?
({19})
Dann wird immer das Beispiel angeführt - völlig aus
der Luft gegriffen! -, einer der Partner liege im Krankenhaus und der Arzt müsse entscheiden, ob er ihn operieren
solle oder nicht.
({20})
Durch eine einfache privatrechtliche Vollmacht kann man
eine entsprechende Regelung heute schon treffen. Dazu
brauche ich doch keine gesetzliche Regelung.
Kollege Geis, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Braun, F.D.P.Fraktion?
Sofort. Ich möchte nur
noch den Gedanken zu Ende führen.
Natürlich gibt es auch Rechtsfragen, die man nicht
privatrechtlich oder durch privaten Vertrag regeln kann,
beispielsweise das Zeugnisverweigerungsrecht. Aber,
meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist einer von
10 000 Fällen. Brauchen wir dafür ein Gesetz? Das frage
ich Sie wirklich. - Herr Braun, bitte.
Herr Kollege Geis, es gab in letzter Zeit zwei deutliche Signale
vonseiten der CDU/CSU, die eine Einstellungsänderung
der Fraktion und der hinter ihr stehenden Parteien zu dem
Regelungsgegenstand nahe legten, der heute debattiert
wird. So hat der Kollege Siemann vor drei Monaten hier
im Bundestag bei der Behandlung unseres Antrags, jegliche Diskriminierung in der Bundeswehr in Zukunft zu unterbinden, auch die wegen der sexuellen Orientierung,
deutlich gesagt, dass sich seine Fraktion nicht nur damit
beschäftigt hat, sondern auch zu dem Ergebnis gekommen
ist, dass man dem Antrag zustimmen will.
Der Chef der Staatskanzlei in Bayern, Huber, hat vor
ganz kurzer Zeit mitgeteilt, die CSU wolle ihr Verhältnis
zu homosexuellen Partnerschaften neu ordnen und auf
eine neue Basis stellen. Das fand sicherlich in Abstimmung mit dem Ministerpräsidenten und seinem Parteivorsitzenden Stoiber statt.
Muss ich davon ausgehen, dass das, was Sie heute zu
dieser Thematik ausführen, das Ergebnis dieses neuen
Denkens der CSU darstellt?
({0})
Lieber Herr Braun, soweit
Sie Ihre Frage nicht polemisch gemeint haben,
({0})
will ich versuchen, eine Antwort zu geben. Sie können
ganz sicher sein, dass es in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in der Frage der Ablehnung dieses Gesetzentwurfes zur Gleichstellung von homosexuellen Lebenspartnerschaften mit der Ehe überhaupt keine unterschiedlichen Auffassungen geben wird. Die Unionsfraktion wird
eine solche Gleichstellung in jedem Fall ganz einmütig
ablehnen. Gleiches gilt auch für die CSU.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt Einzelfälle, die man nicht mit den jetzigen Bestimmungen regeln kann. Diese sind aber selten. Sie müssen sich überhaupt fragen: Für wen machen wir dieses Gesetz?
({2})
In Dänemark gibt es eine ähnliche gesetzliche Regelung.
Seit 1988 besteht in Dänemark für gleichgeschlechtliche
Partner die Möglichkeit, ihre gleichgeschlechtliche Partnerschaft registrieren zu lassen.
({3})
- Hören Sie einmal zu!
2 000 Menschen haben sich bislang registrieren lassen
und zwei Drittel der Paare sind wieder auseinander gegangen.
({4})
Muss denn wirklich der Bundestag in Bewegung gesetzt
werden, um für so wenige Fälle eine gesetzliche Regelung
zu treffen?
Ich sehe hinter der Forderung, nicht eheliche Lebensgemeinschaften, gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften mit der Ehe gleichzustellen, den ganz klaren
Versuch, die eindeutige Vorrangstellung von Ehe und Familie in unserer Verfassung auszuhöhlen und zu untergraben. Das aber widerspricht nicht nur unserem religiösen
Verständnis, sondern das widerspricht auch unserem
Rechtsverständnis, und das widerspricht vor allem unserem Kulturverständnis. Deswegen lehnen wir das ab.
({5})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heutige
Tag hat gezeigt: Die Koalition hat ein optimistisches und
positives Familienbild. Das haben wir heute Morgen in
der Debatte über das Bundeserziehungsgeld, mit dem wir
wirklich etwas für die Familien, also für die Menschen,
die für Kinder sorgen und nicht bloß darüber reden, gezeigt. Wir haben deutlich gemacht, dass wir Familienförderung nicht damit verwechseln, andere zu benachteiligen. Hier scheint der wesentliche Unterschied zwischen
unserem und Ihrem Verständnis von Ehe und Familie zu
liegen.
({0})
Es ist nicht das erste Mal, dass der Bundestag über die
rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften diskutiert und streitet. Es ist aber das erste Mal,
dass eine Regierungskoalition hier ein Gesetz zur rechtlichen Anerkennung von homosexuellen Lebensgemeinschaften vorlegt. Das ist ein historisches Datum für die
homosexuellen Bürgerinnen und Bürger dieses Landes.
Das ist ein Meilenstein für mehr Gerechtigkeit in
Deutschland, für eine moderne und offene Gesellschaftspolitik.
Bis 1969 war Homosexualität in der Bundesrepublik
noch voll strafbar. Endgültig beseitigt wurde der unselige
§ 175 StGB erst 1994. Noch vor 15 Jahren galt gleichgeschlechtliches Zusammenleben vor deutschen Gerichten
als sittenwidrig. Jetzt, im Jahre 2000, schicken wir uns an,
die Standesämter für Schwule und Lesben zu öffnen. Wir
bieten homosexuellen Paaren einen gesetzlich abgesicherten Rahmen für ihre Partnerschaft. Wir holen unsere
schwulen Bürger und lesbischen Bürgerinnen vom Rand
in die Mitte der Gesellschaft.
({1})
Auch wegen der schrecklichen Geschichte der Homosexuellen-Verfolgung in Deutschland ist dieses Haus den
Schwulen und Lesben etwas schuldig. Übrigens - wenn
wir schon bei Rückblicken in die Historie sind - ist es genau genommen nicht das erste Mal, dass sich hier in diesem Hause eine Regierungsmehrheit Sorgen um homosexuelle Lebensgemeinschaften macht.
({2})
Im Jahre 1962 hat hier eine CDU/CSU-F.D.P.-Regierung einen Gesetzentwurf zur Strafrechtsreform vorgelegt. In diesem Gesetzentwurf hat man damals ausdrücklich an der bestehenden Strafbarkeit der Homosexualität
festgehalten. Zur Begründung hieß es damals im Gesetzentwurf: Wenn die Strafbarkeit wegfiele, dann stünde
für die Homosexuellen nichts im Wege, ihre nähere
Umgebung durch das Zusammenleben in eheähnlichen Verhältnissen zu belästigen.
Meine Damen und Herren, Sie haben Recht behalten:
So ist es auch gekommen. Heute, wo der Verfolgungsdruck weg ist, lebt die Mehrheit der Lesben und Schwulen in festen Beziehungen. Erfreulicherweise fühlen sich
aber kaum noch Menschen belästigt, wenn ein homosexuelles Paar in die Nachbarwohnung einzieht. Die
Mehrheit der Deutschen akzeptiert das. Die Mehrheit ist
dafür, dass Schwule und Lesben gleiches Recht bekommen. Am heutigen Tag wurde von forsa eine Meinungsumfrage veröffentlicht: 56 Prozent der Bevölkerung unterstützen das Projekt von Rot-Grün und 37 Prozent haben sich dagegen ausgesprochen. Um deren Zustimmung
werden wir weiter werben.
({3})
Der gesellschaftlichen Entwicklung wollen wir als Gesetzgeber jetzt Rechnung tragen.
Von Island bis zum Mittelmeer gibt es die rechtliche
Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften.
Bisher gibt es einen großen weißen Fleck auf der Karte
der Bürgerrechte von Lesben und Schwulen und das ist
Deutschland. Schauen Sie einmal in die Länder, in denen
es eine rechtliche Anerkennung gibt: Dänemark, Schweden, Norwegen, Island, die Niederlande oder auch Frankreich. Nirgendwo ist die Ehe tangiert worden. Nirgendwo
ist das Abendland untergegangen. Die Apokalypse, die
Sie hier beschwören, ist schlichtweg ausgefallen. Dies
können wir von diesen Ländern lernen. Deswegen bitte
ich um etwas mehr Piano in dieser Debatte.
Die eingetragene Partnerschaft, die Inhalt des heute
von uns vorgelegten Gesetzentwurfes ist, ist ein fairer
Mix von Rechten und Pflichten. Man muss deutlich sagen: Dies ist kein Projekt der Libertinage. Es ist ein republikanisches Projekt der Beendigung von Diskriminierung, ein Projekt einer werteorientierten und wertebestärkenden Politik. Man muss den Partnerinnen und Partnern,
die dieses Gesetz - wenn es denn in Kraft tritt - auf sich
anwenden wollen, mit auf den Weg geben: Drum prüfe,
wer sich ewig bindet. Denn das Glück mag womöglich
nicht ewig dauern, die Unterhaltsverpflichtungen nach
dem Familienrecht können dies aber durchaus tun.
Dies ist aber das Entscheidende: Wir schaffen hier
keine Sonderrechte, sondern wir verschaffen den Menschen die Rechte, die sie brauchen. Hier kann es keine Rosinenpickerei geben. Verantwortung und Einstehen werden mit Unterhaltspflichten umfassend geregelt. Daraus
ergeben sich zwingend entsprechende Folgeregelungen in
anderen Rechtsbereichen.
So haben wir zum Beispiel im Steuerrecht schlichtweg an den Grundsatz der steuerlichen Leistungsfähigkeit
angeknüpft. Schaffen wir gesetzliche Unterhaltsverpflichtungen, können wir im Steuerrecht nicht so tun, als
ob diese nicht bestünden. Dem müssen wir Rechnung tragen. Wir haben hier nicht das Ehegattensplitting auf die
eingetragenen Partnerschaft angewandt, aber ein Realsplitting vorgesehen, um diesem Umstand gerecht zu werNorbert Geis
den. Bei der Sozial- und Arbeitslosenhilfe müssen wir
dies auch tun. Hier ist es zum Nachteil der Partner. Hier
spart der Staat bei eingetragenen Partnerschaften entsprechend Sozial- und Arbeitslosenhilfe ein. Auch dies ist
sachgerecht und zwingend.
Beim Erbrecht und beim Erbschaftsteuerrecht haben wir dem Grundsatz ebenfalls Rechnung getragen,
dass man bei einer Partnerschaft, in der es Unterhaltspflichten gibt, beim Tod des Partners dem Überlebenden
nicht einfach die gemeinsame Lebensgrundlage entziehen
kann. Dies sind alles Dinge, die sich aus den Unterhaltsverpflichtungen ergeben: wohl abgewogen, wohl begründet und keine Tangierung von Art. 6 Grundgesetz.
Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention
zwingt uns - das sagt uns die deutsche Rechtsprechung inzwischen -, gleichgeschlechtliche Partnerschaften auch
im Ausländerrecht anzuerkennen und hier für Rechtssicherheit zu sorgen.
Meine Damen und Herren, in einigen Bereichen schaffen wir gleiches Recht. In anderen Bereichen haben wir
den bestehenden Abstand gelassen - der mag politisch unterschiedlich bewertet werden, ist aber erst einmal die
Substanz des Gesetzes -: Es gibt kein Adoptionsrecht,
keine Stiefkindadoption, kein Ehegattensplitting, es gibt
einen Wahlgüterstand statt des gesetzlichen Güterstandes,
wie wir ihn bei der Ehe kennen, und es gibt auch kein Verlöbnis. Also, meine Damen und Herren von der Opposition, auch Ihrer verfassungsrechtlichen Philosophie wird
dieser Gesetzentwurf eigentlich gerecht.
Die Lebenspartnerschaft nimmt niemandem etwas
weg; sie schafft Rechtssicherheit. Sie, Herr Geis, verschanzen sich hier hinter einer Fehlinterpretation von
Art. 6 der Verfassung. Reden Sie in Zukunft doch lieber
einmal zur Sache! Glauben Sie im Ernst, es entspricht den
Grundwerten unserer Verfassung, dass der Lebenspartner
nach dem Tod seines Gefährten aus der gemeinsamen
Mietwohnung geworfen werden kann? Glauben Sie wirklich, es ist im Sinne des Grundgesetzes, wenn zwei Menschen, die vielleicht jahrzehntelang zusammengelebt, füreinander gesorgt haben, vom Recht wie Fremde behandelt
werden? Das kann doch nicht sein.
({4})
Glauben Sie im Ernst, es steht im Einklang mit unserem
freiheitlichen Grundgesetz, dass Menschen, die sich lieben und lebenslang zusammenbleiben wollen, dieses Zusammenleben verboten wird, nur weil einer davon Ausländer ist?
({5})
- Wenn sie nicht einreisen dürfen, ist es verboten.
({6})
Nach der Rechtsprechung in Deutschland kann das
menschenrechtswidrig sein. Was Sie hier als verfassungsrechtliche Dogmen verkünden, ist reine Phantasie. Das
Bundesverfassungsgericht hat zur Rechtssituation homosexueller Lebensgemeinschaften bislang erst einmal
Stellung genommen. Es hat dabei darauf hingewiesen,
dass homosexuellen Lebensgemeinschaften aus der fehlenden rechtlichen Absicherung „vielfältige Behinderungen“ der „privaten Lebensgestaltung“ entstehen können.
Es hat weiterhin ausgeführt: Diese vielfältigen Behinderungen der privaten Lebensgestaltung werfen Fragen auf
nach der Vereinbarkeit des derzeitigen Rechtszustandes
mit Art. 2 des Grundgesetzes, freie Entfaltung der Persönlichkeit, mit Art. 1 des Grundgesetzes, Schutz der
Menschenwürde, und mit Art. 3 des Grundgesetzes,
Gleichheit vor dem Gesetz. Das sehen wir genauso wie
das Bundesverfassungsgericht. Deshalb wollen wir hier
Abhilfe schaffen.
Mit der Eintragung auf dem Standesamt übernehmen
Lebenspartner umfassende gegenseitige Fürsorge- und
Unterhaltsverpflichtungen. Daher ist es nur gerecht, ihnen
auch den rechtlichen Schutz zu gewähren. Das steht völlig im Einklang mit unserer Verfassung.
Herr Geis, Sie sagen hier, Sie seien gegen dieses Gesetz. Die CDU/CSU hat gesagt, sie wolle die Benachteiligungen überprüfen. Sagen Sie doch nicht immer, wogegen Sie sind, sondern wofür Sie sind! Legen Sie das
Ergebnis dieser Überprüfungen auf den Tisch! Die
Schwulen und Lesben in diesem Lande erwarten auch von
der Volkspartei CDU/CSU nicht warme Worte und Sonntagsreden auf Parteitagen, sondern konkrete Taten und
Respekt durch das Gesetz.
({7})
Meine Damen und Herren, ein letztes Wort zum Standesamt. Es gibt absurde Diskussionen in diesem Land.
Das Standesamt war für mich bislang immer eine Behörde, die man in bestimmten Fällen aufsuchen muss: für
die Anzeige von Geburts- und Todesfällen, bei Eheschließungen, bei Kirchenein- und -austritten. Jetzt wird
aus dem Standesamt auf einmal eine geheiligte Stätte gemacht.
({8})
Das Standesamt ist eine Behörde und kein Traualtar.
({9})
Deshalb ist diese gesamte Aufregung völlig gegenstandslos. Ich bitte Sie, den Schwulen und Lesben die Öffentlichkeit der Zeremonie zu gestatten. Das ist eine Frage des
Respekts.
Eine moderne Gesellschafts- und Familienpolitik muss
selbstverständlich auch gleichgeschlechtlichen Paaren
Rechtssicherheit bieten. Es ist einer demokratischen Gesellschaft nicht zuträglich, wenn einem Teil der Bürgerinnen und Bürger wichtige Rechte vorenthalten bleiben.
Vielen Dank.
({10})
Volker Beck ({11})
Ich erteile für die
F.D.P.-Fraktion dem Kollegen Dr. Guido Westerwelle das
Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen
und Kollegen! Wir Freien Demokraten begrüßen, dass wir
hier heute eine solche Debatte auf der Tagesordnung haben.
Wir begrüßen ausdrücklich, dass hier mit einem Gesetzentwurf eine Diskussion angestoßen und weitergeführt wird, die uns in diesem Hause im letzten Jahr, als wir
unseren Gesetzentwurf eingebracht haben, schon einmal
beschäftigt hat. Wir halten es für notwendig, dass Rechtsänderungen durchgesetzt werden. Deswegen möchte ich
zunächst ein Wort an Sie, an die Abgeordneten der CDU/
CSU-Fraktion, richten.
Ich glaube, es ist in diesem Hause unbestritten, dass
Ehe und Familie die tragenden Säulen in unserer Gesellschaft sind. Aber die gesellschaftliche Realität zeigt auch,
dass längst neue Formen des Zusammenlebens in unserem Volke entstanden sind. Ich finde, jede Partnerschaft
ist wertvoll, in der Menschen füreinander Verantwortung
übernehmen.
({0})
Gerade die Konservativen beklagen, wie ich finde, zu
Recht immer wieder die Tendenzen der Vereinzelung in
der Gesellschaft. Die gibt es und die muss man sich sorgsam ansehen. Aber dann sollten auch gerade die Konservativen jede Initiative, die sich gegen diese Vereinzelungstendenzen richtet, unterstützen.
({1})
Sie sprechen von einem „Werteverlust“. Wenn jemand seinen zu Tode erkrankten Partner bis zum Schluss
pflegt, ist das kein Werteverlust, sondern ein Wertegewinn
in dieser Gesellschaft.
({2})
Sie gestatten eine
Zwischenfrage des Kollegen Dehnel?
Ja, selbstverständlich.
Herr Kollege
Westerwelle, Sie haben gerade im Zusammenhang mit der
Pflege von Gemeinschaften gesprochen. Wie halten Sie es
damit, wenn zum Beispiel zwei ältere Damen, zwei Witwen, oder Vater und Sohn in hohem Alter gemeinsam in
einem Haushalt leben und sich gemeinsam unterstützen?
Müssten auch sie entsprechende Gemeinschaften eingehen? Sie werden bei Ihrer Regelung ja regelrecht benachteiligt.
Mit Verlaub gesagt:
Nach dieser Frage verstehe ich nicht, warum Sie uns nicht
unterstützen. Das ist nicht verständlich.
({0})
In Ihrer Frage kommt ja zum Ausdruck, dass Sie mehr
wollen, dass Sie die neuen Formen des Zusammenlebens
anerkennen wollen.
({1})
Wenn Sie das wollen, meine ich, müssten Sie Ihren Worten auch Taten folgen lassen.
({2})
Kollege Geis hat
noch eine Zwischenfrage.
Herr Kollege Westerwelle,
wir bejahen, dass solche Gemeinschaften - nicht nur
gleichgeschlechtliche, sondern auch andere Gemeinschaften; ich habe es vorhin ausgeführt - einander ihr Leben lang stützen. Dies muss auch vom Staat respektiert
werden. Aber berechtigt das schon die Forderung nach
Gleichstellung mit der Ehe? Das ist unser heutiges
Thema.
Zunächst einmal bin
ich damit einverstanden - darauf werde ich auch gleich
noch eingehen -, dass es eine Gleichstellung schon aus
verfassungsrechtlichen Gründen nicht geben kann. So
hatte ich übrigens Frau Kollegin von Renesse ausdrücklich nicht verstanden.
({0})
- Eben, das hat sie ausdrücklich nicht erklärt. Ich finde
sehr bemerkenswert, wie Frau von Renesse es hier eingeführt hat.
({1})
- Wir werden noch über Details des Gesetzentwurfes reden. Ich werde gleich noch ein paar Punkte aufzeigen. Das
ist ganz selbstverständlich. Es ist die erste Lesung, bei der
wir natürlich darüber reden müssen. Das ist gar keine
Frage.
Ich möchte Ihnen antworten, weil Sie in dieser Frage
wieder die gleiche Geisteshaltung zum Ausdruck bringen.
({2})
- Lassen Sie das doch bitte! Ich muss darum bitten: Es ist
in meinen Augen richtig, wenn der Kollege Geis seine
Meinung vorträgt. Wir teilen diese Meinung vielleicht
nicht, müssen sie aber ernst nehmen, weil sie in der Bevölkerung vertreten wird. Das finde ich selbstverständlich. Es ist eine ganz wichtige Frage. Wie das Niveau dieser Debatte ist, entscheidet darüber, wie die Akzeptanz
dieses Vorhabens in der Bevölkerung sein wird.
({3})
Ich möchte Ihnen noch auf eine Sache antworten, in der
es, glaube ich, bei Ihnen ein Missverständnis gibt. Wenn
die Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften abgebaut und abgeschafft wird, ist das keine
Entwertung der Ehe. Wer sich gegen die Diskriminierung
gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften wendet,
attackiert damit nicht das Institut Ehe, sondern er möchte
nichts anderes, als dass Menschen, die zusammenleben,
dieses mit Rechten und Pflichten tun können. Er möchte,
dass Menschen zusammenleben können, die - zumindest
aus meiner Sicht heraus - Verantwortung übernehmen.
Sie fordern bei jeder Laienpredigt und jeder Podiumsdiskussion immer wieder: Übernehmt Verantwortung füreinander, tretet füreinander ein und geht nicht den Weg in
die Isolation, in die - Robinson-Crusoe-Gesellschaft! Das
können Sie hier als Gesetzgeber faktisch mitbewirken.
({4})
Wir haben in den letzten Monaten die Töne aus der
CDU/CSU - ob das Frau Merkel, Herr Kollege Polenz
oder andere Kollegen gewesen sind - sehr aufmerksam
verfolgt. Sie haben uns das Gefühl gegeben, dass Bewegung in der Union vorhanden sei. Das von Ihnen, Herr
Geis, Vorgetragene erinnert mich zum Teil - bei allem
Respekt - an das Echo der 50er-Jahre. Aber wir sind heute
weiter.
({5})
Herr Kollege Geis
hat eine zweite Zusatzfrage. Herr Kollege Westerwelle
möchte seine Redezeit verdoppeln. Das ist sein gutes
Recht. Die Redezeit wird angehalten.
Ich bedanke mich
dafür. Kleinere Fraktionen, das heißt vorübergehend kleinere Fraktionen, können das immer gut gebrauchen.
Herr Kollege Westerwelle,
ich freue mich mit Ihnen, dass Sie Ihre Redezeit verdoppeln können. Sie müssen mir aber schon Antwort auf
meine Frage geben.
Ich habe gefragt, ob es - bei allem Respekt für diese
Lebensgemeinschaften - denn notwendig sei, solche
Lebensgemeinschaften der Ehe gleichzustellen, um eine
Diskriminierung zu verhindern. Das ist doch die eigentliche Frage bei diesem Gesetzentwurf. Sie dürfen nicht darauf eingehen, was Frau von Renesse gesagt hat, sondern
Sie müssen den Gesetzentwurf betrachten.
Herr Kollege Geis,
ich habe ausdrücklich gesagt, es könne nicht um eine
Gleichstellung gehen. Es gibt aber Regelungsbereiche,
bei denen wir nicht so tun können, als gäbe es kein Problem. Nehmen Sie zum Beispiel das Zeugnisverweigerungsrecht, über das schon gesprochen worden ist. Eine
solche Frage können Sie niemals über einen zivilrechtlichen Vertrag regeln, das muss vielmehr der Gesetzgeber
regeln. Das mögen für Sie Ausnahmefälle sein, aber jeder
Fall von Diskriminierung ist ein Fall, dem sich der Bundestag nicht verschließen darf.
Es gibt auch andere Bereiche. Denken Sie zum Beispiel an das Erbschaftsteuerrecht: Zwei Personen leben
jahrzehntelang in einer eheähnlichen oder nicht ehelichen
Lebensgemeinschaft zusammen und haben ein gewisses
Vermögen - denken Sie zum Beispiel an eine Eigentumswohnung - aufgebaut. Stirbt einer von beiden, geht diese
Wohnung unter den Hammer, weil es nicht die entsprechenden erbschaftsteuerrechtlichen Möglichkeiten gibt.
Das ist die Realität. Diese Frage können Sie nicht durch
Verträge zwischen zwei Personen regeln. Das können Sie
nur regeln, indem der Deutsche Bundestag endlich seinen
Handlungsbedarf begreift.
({0})
Deswegen ist es aus meiner Sicht notwendig, dass die
Ausschussberatungen konstruktiv stattfinden. Dem Deutschen Bundestag liegen mittlerweile mehrere Gesetzentwürfe vor. Wir werden darüber reden müssen, wie man zu
einer verfassungsfesten Lösung kommt. Die Bedenken,
die Bundesinnenminister Otto Schily vorgetragen hat,
würde ich nicht zu gering achten. Wenn der Verfassungsminister der deutschen Bundesregierung öffentlich im
„Tagesspiegel“ dieser Woche seine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen den vorgelegten Gesetzentwurf anmeldet, sollte man das ernst nehmen.
({1})
Ich habe eine große Sorge: Wenn Sie mit Ihrer Mehrheit einen Gesetzentwurf durchbringen - was Sie könne -, ohne ihn zu verändern, wird es eine Anrufung des
Bundesverfassungsgerichts geben - raten Sie einmal, von
welcher Landesregierung! - und dann wird dieses Vorhaben vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern. Dann
ist jede Chance für die nächsten zehn Jahre vertan. Deswegen: Gehen Sie in eine konstruktive Debatte! Wir werden jedenfalls mit Änderungsanträgen dazu beitragen,
dass am Schluss eine verfassungsfeste Lösung gefunden
werden kann. Eine Gleichstellung mit Ehe und Familie
kann es nach Art. 6 des Grundgesetzes nicht geben. Das
hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder deutlich
gemacht. Gehen Sie nicht das Risiko ein, dass dieses
wichtige, ja auch historische Vorhaben, das viele in diesem Hause verbindet, am Bundesverfassungsgericht
scheitern muss, weil es die Verfassungswirklichkeit ignoriert!
({2})
Dann ist dieses Thema erledigt. Dies wäre ein großer
Schaden für diejenigen, die in dieser Sache einen Fortschritt wünschen.
Jeder weiß, warum die beiden Koalitionsfraktionen
den Gesetzentwurf einbringen und warum der Entwurf
nicht von der Bundesregierung, vom Kabinett, eingebracht worden ist. Dies liegt daran, dass der Verfassungsminister intern und öffentlich geäußerte verfassungsrechtliche Bedenken hat. Diese Bedenken muss man ernst
nehmen, weil sonst meiner Meinung nach eine gefährliche Situation entstehen würde.
Die F.D.P. schlägt Ihnen vor - es ist ein legitimes Anliegen, dass wir das hier tun -, dass Sie sich unseren Gesetzentwurf noch einmal anschauen, der sich nur in einem
wesentlichen Punkt von dem unterscheidet, was die Koalitionsfraktionen vorgelegt haben. Sie haben eine Standesamtslösung vorgeschlagen. Das kann ich verstehen,
weil das Standesamt für viele nicht nur eine Behörde ist,
wie es vorgetragen worden ist, sondern auch eine Kulturinstitution. Damit verbinden viele Menschen Gefühle.
Man kann es nicht einfach zu einer Behörde deklarieren.
Das ist ganz selbstverständlich.
Wenn Sie aber eine standesamtliche Lösung vorschlagen, dann laufen Sie Gefahr, dass ein Verfassungsverstoß
erkennbar wird und wegen Art. 6 des Grundgesetzes eingeschritten werden müsste. Sie begeben sich damit in eine
gefährliche Situation. Wenn das einmal vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert ist, ist dieses Thema in
der deutschen Öffentlichkeit und in der deutschen Politik
in den nächsten zehn Jahren unten durch. Das, was wir
jetzt machen, muss aber der Verfassung standhalten.
({3})
Es darf uns nicht wie beim § 218 StGB gehen. Sie erinnern sich, dass wir dort maximale und meiner Meinung
nach richtige Positionen gefunden haben, dann aber als
Gesetzgeber beim Bundesverfassungsgericht regelmäßig
gescheitert sind, weil die Minderheit, die unterlegen war,
dieses Gericht angerufen hat. Deswegen sind Sie meiner
Meinung nach gut beraten, wenn Sie sich eher der vertragsrechtlichen Lösung, die die F.D.P. vorgeschlagen hat,
annähern, als dass Sie so starr auf der standesamtlichen
Lösung beharren; das ist mehr ein Symbol. Diejenigen,
die in gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften zusammenleben, möchten, dass sich auch die rechtliche
Realität zu ihren Gunsten verändert. Um Symbole geht es
dabei weniger. Es geht um handfeste Verbesserungen, um
das handfeste Abschaffen von Diskriminierungen gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften. Lieber einen
Schritt weniger, dafür aber die Sicherheit, dass es beim
Bundesverfassungsgericht auch Bestand haben kann.
({4})
Deshalb möchte ich zum Schluss sagen: Das, was bisher von den beiden Regierungsfraktionen vorgelegt worden ist, nämlich die Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften abzuschaffen, wird von den
Liberalen unterstützt. Wir haben einen ähnlichen Gesetzentwurf eingebracht. Die Ausgestaltung dessen, was Sie
vorgelegt haben, muss noch geändert werden. Das muss
noch im Ausschuss besprochen werden. Ich habe sonst die
Befürchtung, dass einige, die das zurzeit als Lieblingskind seit Jahren verfolgen, mit einem guten Gefühl nach
der Abstimmung im Bundestag nach Hause gehen, aber
mit einem schlechten Gefühl nach einer entsprechenden
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes wieder zusammentreten müssen. Das wäre schade.
({5})
Für die Fraktion der
PDS spricht die Kollegin Christina Schenk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Aufhebung der rechtlichen Diskriminierung lesbischer und schwuler Paare gegenüber
heterosexuell Lebenden ist in Deutschland seit langem
überfällig. Insofern ist das Gesetzgebungsvorhaben der
Bundesregierung ein wichtiger Schritt, den wir begrüßen.
Es gibt keinen einzigen Grund, homosexuellen Paaren
das Recht auf Eheschließung vorzuenthalten. Die lesbische und schwule Zweiergemeinschaft unterscheidet sich
nicht von der Heterosexueller. Hier wie da wird geliebt,
wird gegenseitig Verantwortung übernommen, werden
Kinder erzogen. Es ist ein Gebot der Rechtsstaatlichkeit, Gleiches auch gleich zu behandeln.
({0})
Wenn Menschen nur aufgrund ihrer sexuellen Orientierung von Rechten ausgeschlossen bleiben, die andere
haben, ist das Diskriminierung und nichts anderes. Die
Äußerungen von der konservativen Seite hierzu sind für
mich unerträglich. Wenn behauptet wird, die eingetragene
Partnerschaft gefährde Ehe und Familie, dann muss ich
dazu feststellen, dass dies schon mit den elementaren Gesetzen der Logik unvereinbar ist. Keinem einzigen Heiratswilligen oder Verheirateten wird etwas vorenthalten
oder genommen, worauf er bisher Anspruch hatte. Mit der
Öffnung der Ehe für Homosexuelle würde lediglich der
Kreis der Begünstigten erweitert.
Die Behauptung, die Ehe und nur die Ehe sei auf Kinder ausgerichtet und müsse deshalb besonders gefördert
werden, offenbart, mit Verlaub, eine blühende Fantasie,
hat aber mit der Realität nichts mehr zu tun.
({1})
Zum einen nimmt die Zahl kinderloser Ehen zu. Zum anderen wachsen immer mehr Kinder bei allein erziehenden
oder bei unverheirateten Eltern auf. Die Ehe ist nicht per
se - das möchte ich ganz deutlich auch an die Adresse von
Herrn Geis sagen - verlässlicher, verantwortlicher oder
für Kinder förderlicher als andere Lebensformen.
({2})
Die hohen Scheidungszahlen und die Häufigkeit familiärer Gewalt in traditionellen Ehen belegen das. Nein, die
Qualität von Beziehungen lässt sich nicht aus der Form
des Zusammenlebens ableiten.
({3})
Auch die Behauptung, die eingetragene Partnerschaft
stehe im Widerspruch zum Grundgesetz, überzeugt in keiner Weise. Art. 6 des Grundgesetzes enthält keineswegs
ein Verbot, die der Ehe zugeordneten Rechte auch anderen Lebensgemeinschaften zugänglich zu machen. Das
Verständnis zum einen von Ehe und zum anderen von Familie ist unstreitig abhängig von der gesellschaftlichen
Entwicklung. Zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit hat sich in dieser Hinsicht von 1949 bis
heute eine gravierende Lücke aufgetan. Für eine herausgehobene Stellung der Ehe gibt es heutzutage keine vernünftige Begründung mehr. Es ist die Aufgabe des
Gesetzgebers, hier für eine Klarstellung zu sorgen. Das
haben im Übrigen im Rahmen der damaligen Verfassungsdiskussion in der 12. Legislaturperiode außer der
PDS auch SPD und Bündnis 90/Die Grünen gefordert.
Die Kritik der PDS am vorgelegten Gesetzentwurf ist
folgende: Erstens. Die eingetragene Partnerschaft erhält
im Vergleich zur Ehe nur eingeschränkte Rechte. Das ist
nicht die erwartete Gleichstellung mit der Ehe. Besonders
kritikwürdig sind die vorgesehenen Einschränkungen der
Elternrechte. So ist zum Beispiel die Stiefelternadoption
nicht vorgesehen. Es soll lediglich ein kleines Sorgerecht,
nicht aber eine gleichberechtigte Elternschaft für lesbische und schwule Beziehungen geben. Für mich ist das
nicht hinnehmbar.
({4})
Rot-Grün bietet damit ausgerechnet die Eltern-Kind-Beziehung als Projektionsfläche für Homophobie an. Das
kann nicht angehen.
Zweitens. Mit der eingetragenen Partnerschaft schafft
Rot-Grün ein Sondergesetz nur für homosexuelle Paare.
Sondergesetze zementieren immer die Diskriminierung,
anstatt sie zu beseitigen. Lesbische und schwule Paare
werden zu Paaren zweiter Klasse. Dafür gibt es keine
Rechtfertigung.
Der dritte Punkt ist der wichtigste. Das Modell der Ehe
hat keine Zukunftsperspektive. Bereits heute gibt es eine
große Vielfalt an Lebensformen. Das haben im Übrigen
die Rednerinnen und Redner aller Parteien hier festgestellt. Diese Vielfalt wird nicht nur von Lesben und
Schwulen, sondern auch von immer mehr heterosexuellen
Menschen gelebt. In Großstädten ist die Ehe seit geraumer
Zeit nicht mehr das dominierende Lebensmodell. Es wird
heute hetero-, homo- oder bisexuell als Paar, zu mehreren
oder auch allein gelebt, entweder mit Kindern oder ohne
Kinder. In der Regel hat man nicht nur eine Beziehung im
Leben; vielmehr folgen mehrere nacheinander. Das bedeutet keineswegs die Auflösung der Familie, wie Konservative behaupten. Familie ist heute einfach nur sehr
viel vielfältiger als früher.
In einer pluralistischen Gesellschaft muss der Staat die
real gelebte Vielfalt des Zusammenlebens anerkennen
und darf nicht einseitig das Ehemodell privilegieren. Das
muss der Gesetzgeber zur Kenntnis nehmen. Der Staat hat
alle Lebensformen Erwachsener rechtlich und finanziell
gleich zu behandeln. Es muss allerdings ganz klar gesagt
werden: Einer besonderen Unterstützung bedürfen nur
diejenigen, die Kinder erziehen oder Pflegebedürftige betreuen.
({5})
Es ist unhaltbar, dass die kinderlose Ehe über das Ehegattensplitting jährlich mit bis zu 23 000 DM subventioniert
wird, während die maximale Entlastung für ein Kind gerade einmal 5 000 DM beträgt.
Die Homoehe - das sage ich zum Schluss - hätte zweifellos einen sehr hohen Symbolwert. Den hätte die rechtliche Gleichstellung aller Lebensweisen nicht minder. Allerdings wäre ihr praktischer Nutzen sehr viel größer.
Danke schön.
({6})
Ich gebe das Wort der
Bundesministerin der Justiz, Frau Dr. Herta DäublerGmelin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Kollege Geis, Sie haben heute ein Wort gesagt,
das mir sehr gut gefallen hat. Sie wandten sich an die linke
Seite des Hauses und sagten, die Diskussion über diese
Fragen müsse mit gegenseitigem Respekt geführt werden. Ich finde, das ist in Ordnung. Auch wenn es jetzt in
die öffentliche Auseinandersetzung geht, sollten wir uns
daran erinnern.
Diese Äußerung haben Sie sicherlich nicht nur getan,
um für Ihren persönlichen Standpunkt Respekt einzufordern, sondern auch, weil es die Arbeitsgemeinschaft der
Schwulen und Lesben in der CDU von Ihnen erwartet. Sie
hat eine Presseerklärung herausgegeben, in der sie zwar
mitteilt, die Union sei - jedenfalls vor der ersten Lesung
im Bundestag - noch nicht reif, dem Gesetzentwurf zuzustimmen, aber CDU-Chefin Angela Merkel und Generalsekretär Ruprecht Polenz hätten verbindlich zugesagt,
dass es keine Unterschriftenkampagne der Union gegen
das rot-grüne Gesetz geben werde. Das ist doch schon etwas.
({0})
Ich finde, dass die Grundanliegen des Gesetzentwurfs
in der Tat herausgearbeitet werden müssen. Das beginnt
mit dem Abbau von Diskriminierung. Der Abbau von
Diskriminierung ist übrigens nichts, was jetzt der eine mit
mehr oder der andere mit weniger Argumenten sozusagen
als Privatsache vorantreiben könnte; vielmehr handelt es
sich um ein Uranliegen unserer Verfassung und damit jeder verfassungsgemäßen Justiz- und Rechtspolitik. Ich
betone in diesem Zusammenhang: Es ist auch dann ein
Anliegen, wenn es sich nur um wenige Menschen handelt,
für die eine bestimmte Regelung erforderlich ist.
Ich halte den Abbau von Diskriminierung für dringend
notwendig. Auf die unselige Kultur- und Rechtstradition
gerade im Umgang mit Schwulen und Lesben ist schon
hingewiesen worden. Sie dauert schon ein paar Jahrhunderte an und hat sich bis in die Neuzeit hinein fortgesetzt.
Es geht nicht nur um die Nazis, die Homosexuelle in KZs
auf schrecklichste Weise umgebracht haben. Diese Diskriminierung in der Kultur- und der Rechtstradition hat in
der Bundesrepublik Deutschland bis in die 70er-Jahre hinein angehalten. Von einigen wird sie noch immer betrieben. Wir müssen uns dessen wirklich bewusst sein.
Herr Westerwelle, ich habe mich sehr über die Zustimmung gefreut, die Sie von allen Seiten bekommen haben,
als Sie gesagt haben, das sei heute anders. Auch ich hoffe,
dass es heute anders ist. Ich weiß aber, dass es den einen
oder anderen gibt, der Richard von Weizsäcker noch heute
übel nimmt, dass er 1985 auch die Homosexuellen in die
Gruppe der KZ-Opfer aufgenommen und sie auf diese
Weise geehrt hat.
({1})
Was ist denn eigentlich Diskriminierungsabbau? Herr
Beck und auch Sie, Herr Westerwelle, sprechen von Anerkennung von Lebensgemeinschaften unter Einbeziehung der sexuellen Identität. Genau darum geht es. Aber
diese Anerkennung bedeutet natürlich keine automatische
Gleichstellung mit der Ehe. Weder ist dies so im Gesetzentwurf enthalten noch ist es notwendig. Man muss das
Missverständnis offen benennen und auszuräumen versuchen, der Abbau der Diskriminierung durch Anerkennung
dieser Lebensgemeinschaften, die Anerkennung der sexuellen Identität, sei eine Gleichsetzung mit der Ehe. Genau
diese Gleichsetzung gibt es nicht.
Wenn man die Frage stellt, was Anerkennung einer homosexuellen Lebensgemeinschaft unter Einbeziehung der
sexuellen Identität eigentlich heißt, dann muss man sich
entscheiden - das ist eine Frage nach dem eigenen kulturellen Verständnis - , wie man die andere, die gleichgeschlechtliche Orientierung betrachtet. Betrachtet man
sie als andere Orientierung, wie Margot von Renesse oder
auch ich es tun, oder als etwas, was eben doch den Ruch
der Minderwertigkeit, also nicht nur den der Verschiedenheit, hat?
Um diese Entscheidung kommt man nicht herum; denn
wenn „anders“ im Sinne von „minderwertig“ gemeint ist,
zumindest wenn man es so im Hinterkopf hat, dann wird
man natürlich immer fragen, warum der Staat ein eigenes
familienrechtliches Institut zur Verfügung stellen soll.
Deswegen sagen wir: anders - ja, minderwertig - nein.
({2})
Meine Bitte an die Kolleginnen und Kollegen, die darüber noch nicht nachgedacht haben, geht dahin, darüber zu
diskutieren.
Wenn man sagt, andersartig, aber gleichwertig, dann
heißt das, dass das den Menschen mitgegeben ist und zur
Würde des Menschen gehört. Damit steht es unter dem
Schutz des Art. 1 Grundgesetz. Dann heißt das, dass auch
die Handlungsfreiheit gemäß den Grenzen des Art. 2 gegeben ist und dass für entsprechende Lebensgemeinschaften das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3
gilt. Wir sehen das so. Deswegen sind wir der Meinung,
dass es sinnvoll ist, ein eigenes familienrechtliches Institut zu schaffen. Ich sage noch einmal: Das beruht auf der
Basis von Art. 1, Art. 2 und Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes.
Warum sind wir denn der Auffassung, man sollte dieses familienrechtliche Institut schaffen? Hierfür haben
wir zwei Gründe: Zum Ersten sind wir der Meinung, dass
diese Lebensgemeinschaften im Rahmen des Diskriminierungsabbaus die Anerkennung verdienen, und zum
Zweiten - da will ich einen Gedanken aufgreifen, den Sie,
Herr Westerwelle, gerade auch schon angeführt haben wollen wir Bindungen und Partnerschaften stärken. Hier
geht es aber um Bindungen und Partnerschaften in einem
spezifischen Sinn, die sich von denen von Mönchen, Witwen oder Menschen, die andere pflegen - diese haben alle
unsere Hochachtung -, unterscheiden, weil hier die besondere sexuelle Identität einbezogen wird. Das ist der
Grund dafür, warum wir sagen: die ja und andere nicht.
Es gibt noch einige andere Gründe, liebe Kolleginnen
und Kollegen, warum wir bei eheähnlichen Lebensgemeinschaften von Menschen, die heiraten könnten,
aber ihre Gründe haben, dieses nicht zu wollen, die Ungerechtigkeiten, zu denen es dort nach langen Jahren
kommen kann, zwar grundsätzlich, aber nicht mithilfe eines Trauscheins zweiter Klasse oder irgendeines anderen
familienrechtlichen Instituts ausgleichen wollen. Dies
sind unterschiedliche Sachverhalte.
Jetzt komme ich auf die mit Art. 6 Grundgesetz zusammenhängenden Fragen zu sprechen. Gestatten Sie
mir, lieber Herr Westerwelle, folgende Anmerkung: Ich
glaube, dass Sie den Bundesinnenminister, den wir alle
sehr schätzen, ein bisschen sehr eigenwillig zu Ihrem eigenen Nutzen interpretiert haben. Ich sehe die Bedenken,
die Sie haben. Auch ich bin der Meinung, dass wir eine
Regelung brauchen, die hält. Lassen Sie mich das ganz
deutlich unterstreichen. Ich nehme auch an, dass Karlsruhe zu dieser Frage angerufen werden wird. Deshalb
muss man die verfassungsrechtlichen Grundlagen sehr
sorgfältig prüfen. Das haben wir getan und werden es
auch weiterhin tun. Wenn Sie zusätzliche Anregungen
hierzu auch für die Auseinandersetzung im Deutschen
Bundestag haben, dann werden diese, da können Sie sicher sein, mit großer Sorgfalt geprüft.
Was stellt denn Art. 6 Grundgesetz unter den besonderen Schutz des Staates? Zum einen die Familie: Sie besteht aus Eltern und Kindern, einem Vater, einer Mutter
und einem eigenen oder angenommenen Kind. Dieses bedeutet aber auch, dass, wenn ein schwuler Vater ein eigenes Kind in die Partnerschaft mitbringt, dies eine Familie
ist, die als solche unter dem Schutz von Art. 6 steht.
({3})
Bitte bedenken Sie: In der Öffentlichkeit gibt es hervorragende Beispiele nicht nur für Menschen, die andere
pflegen, sondern auch für Menschen, die wie Patrick
Lindner in Bayern ein krankes Kind adoptieren, was
zulässig und wünschenswert ist, damit es diesem Kind gut
geht. Selbstverständlich ist diese Beziehung eine VaterKind-Beziehung und steht damit ohne Zweifel unter dem
Schutz des Art. 6. Das heißt, die Familie steht völlig ungeachtet der sexuellen Orientierung der Eltern oder eines
Elternteils unter dem besonderen Schutz des Staates.
Art. 6 schützt auch die Ehe, und zwar aus gutem
Grund. Ich darf noch einmal wiederholen: Es ist ja interessant, dass wir, Herr Geis, Margot von Renesse, viele
andere und ich, uns in nichts nachstehen, was die Ernsthaftigkeit unserer persönlichen Beziehungen - für uns ist
ganz offensichtlich die Ehe das Lebensmodell - und die
Bejahung, die wir dazu ganz eindeutig äußern, betrifft.
Warum schützt denn Art. 6 die Ehe? Natürlich auch wegen der gemeinsamen Kinder, aber auch wegen der partnerschaftlichen Bindungen. Das heißt, hier ist eine besondere heterosexuelle, auf lange Dauer angelegte Bindung
unter den besonderen Schutz des Staates gestellt, in der
der Wunsch bzw. die Möglichkeit oder sogar die Gewissheit besteht, eigene Kinder zu haben und sie zu erziehen.
Beides spielt eine große Rolle.
Deswegen haben alle die Recht, die immer wieder darauf hinweisen, dass das neue familienrechtliche Institut
der eingetragenen Partnerschaften natürlich Rechtsbeziehungen zwischen den Ehegatten nur insofern zum Vorbild
nehmen kann, als sie nicht in der Möglichkeit begründet
sind, gemeinsame Kinder zu haben. Das muss die Grenze
sein. Nicht passend sind also - das ist hier schon genannt
worden - Adoption, Versorgungsausgleich, Güterstand
und Ehegattensplitting.
Aber diese Diskussionen können wir sicher noch mit
Ihrer kritischen Begleitung führen, weil es uns darum gehen muss, eine Regelung zu finden, die Diskriminierung
abbaut, die solche Lebensgemeinschaften unter Einbeziehung der sexuellen Identität anerkennt, die sie nicht
gleichstellt mit der Ehe und die auf jeden Fall vor dem
Verfassungsgericht Bestand hat.
Ich glaube nicht, dass Sie, Herr Westerwelle, mit Ihrem
Argument vom Standesamt Recht haben. Ich darf
zunächst einen praktischen Aspekt anführen. Sie wissen
ganz genau, dass es in Hamburg die Anerkennung vor
dem Standesamt - allerdings ohne Rechtsfolgen - schon
seit langem gibt. Ist das denn verfassungswidrig? Sind Sie
wirklich der Meinung, dass das gegen Art. 6 des Grundgesetzes, also gegen den Schutz der Ehe, verstößt? Ich
habe dieses Argument noch nicht gehört.
Das Standesamt ist Personenstandsbehörde, keineswegs ein Amt, das ausschließlich mit Eheangelegenheiten
zu tun hat. Es hat sehr viel mit Familienangelegenheiten
zu tun. Man kann also auf keinen Fall zu dem Schluss
kommen, dass das Standesamt nur die Funktion der zivilrechtlichen Trauung erfüllt. Hierin liegt also nicht das
Problem.
({4})
Lassen Sie mich noch einen weiteren pragmatischen
Aspekt anführen. Wir alle wollen, dass es Partnerschaften
und Ehen nicht gleichzeitig geben kann. Das schließt sich
vom Wesen her aus. Praktisch gesehen ist es deshalb sinnvoll, eine Regelung zu haben, aufgrund deren Eintragungen auf dem Standesamt gemacht werden können. All
diese Punkte muss man bedenken, wenn man die Lösung
beurteilen will.
Ich habe mir Ihren Gesetzentwurf natürlich sehr sorgfältig angeschaut. Ich glaube aber nicht, dass Ihre Überlegung richtig ist, dass wir ohne familienrechtliches Institut zum Beispiel bei der Zeugnisverweigerung - weiterkämen.
Ich kehre zu dem Ausgangspunkt zurück - Abbau von
Diskriminierung und Anerkennung von Lebensgemeinschaften unter Einbeziehung der sexuellen Identität - und
sage: Es gibt keine Gleichstellung mit der Ehe. Die
Diskussion nicht nur hier im Bundestag, sondern auch
draußen sollte mit Respekt geführt werden. Das sind die
Schlagworte, die dieses Vorhaben begleiten sollten. Wenn
uns dies gelingt, dann kommen wir gemeinsam ein gutes
Stück weiter.
Herzlichen Dank.
({5})
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Dr. Guido Westerwelle
das Wort.
Frau Ministerin, es
ist nur eine kurze Intervention zur Klarstellung. Nicht allein die Tatsache bezüglich des Standesamtes macht mir
verfassungsrechtliche Sorgen, sondern die Kombination
aus Standesamt als eben nicht nur einer bürokratischen,
sondern auch Kulturbehörde und einer weitgehenden
rechtlichen Annäherung von Ehe und eingetragener Partnerschaft. Das ist der große Unterschied zur Situation in
Hamburg.
In Hamburg gibt es zwar eine standesamtliche Registratur, aber ohne jede rechtliche Konsequenz. Was Sie
vorlegen - das ist einer der Punkte, wo man sehr genau
hinschauen muss; das können Sie bei Herrn Schily
nachlesen -, enthält eine Kombination, über die wir noch
unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten reden müssen und die mir große Sorgen bereitet.
({0})
Zur Erwiderung die
Bundesministerin der Justiz.
Vielen Dank, Herr Westerwelle, für die Klarstellung.
Wenn Sie ein bisschen konkreter geworden wären, wäre
ich jetzt selbstverständlich in der Lage, Ihre Sorge bezüglich des einen oder anderen Punktes auszuräumen.
Lassen Sie mich noch einmal sehr deutlich sagen, wo
die Grenzlinie verläuft. Das ist für die Beurteilung des
vorliegenden Gesetzentwurf ganz wichtig. Die Grenze
verläuft so - um nochmals die Worte von Margot von
Renesse aufzugreifen -, dass Regelungen für Ehepartner
ohne eigene Kinder zum Vorbild genommen werden können, andere Regelungen aber nicht. Darunter fallen
Adoption, Ehegattensplitting, Zugewinnausgleich und
Versorgungsausgleich. Dazu gehören auch noch andere
Überlegungen - ich weiß, die Zeit war ein bisschen kurz,
unseren Entwurf sorgfältig durchzulesen -, die Sie alle in
dem Gesetzentwurf finden werden.
Ich sage Ihnen eindeutig zu: Wenn Sie konkrete Fragen
haben, die hier diskutiert werden sollen, dann tun wir das
sehr gerne.
Danke schön.
Für die CDU/CSUFraktion spricht die Kollegin Ilse Falk.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will versuchen, heute mit meiner Rede einen eher unüblichen Weg zu gehen. Obwohl
ich den vorgelegten Gesetzentwurf entschieden ablehne,
will ich mich heute nicht zu sehr mit den Einzelheiten befassen, sondern vielmehr versuchen, den Weg für eine
gute und faire Diskussion zu bereiten. Dabei wende ich
mich an diejenigen gerade auch in meiner eigenen Fraktion und Partei, die sich schwer tun mit diesem Thema an
sich und mit der Festschreibung von Rechten im Besonderen. Ich bin mir sicher, dass es gerade auch bei den Sozialdemokraten Kollegen und Kolleginnen gibt, die große
Schwierigkeiten haben werden, einer fast vollständigen
Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit der
Ehe zuzustimmen. Sie, Frau von Renesse, haben ja auch
angedeutet, dass es nicht überall ganz leicht ist.
Viele von uns fangen, wenn überhaupt, erst langsam
an, sich für ein Thema zu öffnen, das einerseits nach wie
vor ein Tabuthema und andererseits mit vielen Vorurteilen
behaftet ist, Vorurteilen, die leider auch immer wieder befördert werden, wenn zum Beispiel beim Christopher
Street Day nur die schrillen und bizarren Typen gezeigt
werden und nicht die große Mehrheit derjenigen, die sich
an diesem Tag einfach nur freuen, dass sie sich als lesbisches oder schwules Paar ganz selbstverständlich in der
Öffentlichkeit zeigen können und, statt neugierig angestarrt zu werden, einfach akzeptiert werden.
Meine Damen und Herren, ich kann das deshalb sagen,
weil ich selber, seit ich mich auf dieses Thema eingelassen habe, einen schwierigen Lernprozess durchlaufen
habe: vom Vorurteil zum hoffentlich begründbaren Urteil.
Da war bei mir zunächst auch das „Tuntenbild“ im Kopf
und die Vorstellung von etwas, „was man nicht tut“ und
was man schon gar nicht „ist“.
Als ich aber angefangen habe, mich näher mit dieser
Thematik zu befassen, und dabei die Chance wahrgenommen habe, viele Gespräche zu führen und die Menschen
kennen zu lernen, habe ich auch die „Normalität“ von
Schwulen und Lesben erfahren und viele besonders liebenswerte Menschen getroffen.
Erschreckt hat mich aber auch, von Ausgrenzung, von
verletzender Ablehnung und von massivem Mobbing zu
hören. Es kann also nicht die Rede davon sein, dass es
keine Diskriminierungen gebe.
({0})
Aber nicht nur in der Öffentlichkeit kommt es zu erheblichen Schwierigkeiten, sondern auch die Not von Eltern kann groß sein, die angesichts der eigenen Befangenheit und der Furcht vor gesellschaftlicher Ausgrenzung
ihre eigenen Kinder nicht mehr annehmen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, seit ich diese Erfahrungen gemacht habe, habe ich nicht nur angefangen,
nach sachgerechten Antworten zu suchen, sondern auch
nach angemessenen. Und wenn mir von zwei Männern
oder zwei Frauen, die sich ebenso lieben wie ein Mann
und eine Frau, die heiraten wollen, die gleichen Gründe
für den Wunsch nach einer auf Dauer angelegten und
rechtlich gesicherten Partnerschaft vorgetragen werden,
kann das nicht das eine Mal richtig und das andere Mal
völlig abwegig sein.
({1})
Gerade die Konservativen unter uns sollten sehr genau
hinsehen, ob nicht gerade die von uns mit Recht als wichtig erachteten Werte hier einmal mehr eingefordert werden. Ich denke da an Verlässlichkeit, an Verantwortung,
an Vertrauen - im Gegensatz zu Unverbindlichkeit und
wechselnden Beziehungen.
Mit diesen Überlegungen kommt man sehr schnell zu
dem Ergebnis, dass beide Formen dieser Beziehungen absolut gleich wertvoll sind, gleichwertig, aber völlig unterschiedlich in den Konsequenzen für die angemessene
Rechtsetzung. Da unterscheiden wir uns denn doch sehr.
Was ist also zu tun? Ich muss zugeben, dass mir der
vorgelegte Gesetzentwurf sehr hilfreich war, Klarheit zu
schaffen, Klarheit darüber, was ich will und was ich nicht
will. Die völlige oder fast völlige Gleichstellung mit der
Ehe, wie vorgesehen, will ich jedenfalls nicht. Ich halte
sie weder für logisch noch für angemessen.
Unser Grundgesetz stellt Ehe und Familie unter den
besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Der Staat
gibt damit der Familie besondere Rechte zum Schutz der
Kinder, um ihnen Fürsorge, Vertrauen und Verlässlichkeit
zu gewähren. Der Staat verspricht auch der Ehe seinen
besonderen Schutz, weil er idealtypisch davon ausgeht,
dass - trotz mancher gegenläufiger Tendenzen auch heute
noch - die natürliche Erfüllung der Ehe die Familie mit
Kindern ist.
({2})
Die Privilegierung der Ehe ist also kein Grund für eine
Gleichstellung der Lebenspartnerschaften mit ihr. Der
Gleichberechtigungsgrundsatz gebietet, dasjenige und
nur dasjenige gleich zu behandeln, was wesentlich gleich
ist. Er gebietet keine schematische Gleichmacherei von
allem und jedem ohne Rücksicht auf wesentliche Unterschiede. Ungleiches ist gerade nicht gleich, sondern gerechterweise ungleich zu behandeln. Gleichbehandlung
bedeutet also, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu
behandeln. Ich kann da nur auf die sehr eindrucksvollen
Worte des Kollegen Dreßler in seiner letzten Rede am
gestrigen Tag hinweisen.
Die heute schnell gebrauchte Rede von der Diskriminierung, wann immer eine ungleiche Behandlung festzuBundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
stellen ist, bedarf darum jeweils der genauen Überprüfung. In vielen Fällen ist sie ihrerseits Kampfbegriff zur
Erlangung von Positionsgewinnen im Interessenabgleich
der pluralistischen Gesellschaft.
({3})
Aus der klassischen Tradition von Ehe und Familie
wurden rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen, die
dem besonderen Schutzbedürfnis des wegen der Erziehungsaufgaben ganz oder teilweise auf eigene Erwerbstätigkeit verzichtenden Elternteils Rechnung tragen. Dazu
gehören zum Beispiel Unterhaltsrechte und -verpflichtungen mit ihren steuerlichen Konsequenzen sowie abgeleitete Sozialversicherungsansprüche.
Aber was ist nun notwendig, um homosexuellen Paaren, die ihre Partnerschaft auf Dauer anlegen möchten, die
erforderlichen Rahmenbedingungen zu geben? Im Regelfall - nur dafür sollten wir Vorsorge treffen - werden
beide Partner oder Partnerinnen selber für ihren Unterhalt
sowie ihre soziale Absicherung sorgen können. Es ist kein
Grund zu erkennen, warum die Solidargemeinschaft hier
eintreten sollte.
Statt materieller Rechte sind bei gleichgeschlechtlichen Paaren aus meiner Sicht viel notwendiger moralische Rechte abzusichern. Damit meine ich, gesetzliche
Sicherheit für den Fall zu geben, dass einer der Partner der
besonderen Fürsorge bedarf. Hierzu zählen aus meiner
Sicht: das Zeugnisverweigerungsrecht, damit auch homosexuelle Partner nicht in die Zwangslage gebracht werden, zulasten ihres Partners oder ihrer Partnerin aussagen
zu müssen; Auskunfts- und Besuchsrechte; die Änderung
des Mietrechts, um nach dem Tod des Partners in das bestehende Mietverhältnis eintreten zu können. Die Vorschriften des Bestattungsrechts sollten dahin gehend modifiziert werden, dass dem homosexuellen Partner des Toten ein gegenüber den sonstigen Berechtigten nicht
nachrangiges Recht zur Totensorge eingeräumt wird, das
seinen Ausschluss von der Beerdigung durch die Angehörigen verhindert. Die großzügigeren Bedingungen
für den Besuch von Angehörigen im Strafvollzug könnten
auf homosexuelle Partner ausgedehnt werden. Fragen des
Erbrechts sollten ebenfalls bedacht werden. Wenn ein Lebenspartner den anderen im Falle einer schweren Krankheit oder Berufsunfähigkeit finanziell unterstützt, sollten
diese Kosten steuerlich geltend gemacht werden können.
Wenn auch die Mehrheit meiner Fraktion der Auffassung ist, dass vieles, was homosexuelle Paare einfordern,
durch privatrechtliche Verträge geregelt werden könnte,
so können doch solche Regelungen im Innenverhältnis
keine Rechtsverhältnisse gegenüber Dritten oder dem
Staat beeinflussen oder gestalten. Deshalb sind wir gut beraten, wenn wir diese Rechte festschreiben und ihnen zugleich eine solide und eindeutige Grundlage geben. Für
mich ist die Eintragung der Lebenspartnerschaft die
logische und eindeutige Grundlage für Rechte und Pflichten. Sie gäbe einen sicheren Beweis und unterstriche die
Unterscheidbarkeit von allen unverbindlichen Lebensformen. Welcher hierfür der richtige Ort ist, wird zu klären
sein. Allerdings hat es sich schon jetzt gezeigt, dass der
Vorschlag der Koalition, dieses standesamtlich zu regeln,
in der Öffentlichkeit wegen seiner Verwechselbarkeit mit
der Ehe auf heftigen Widerstand stößt.
({4})
Lassen Sie uns in gegenseitigem Respekt vor der jeweils anderen Meinung - das ist hier verschiedentlich eingefordert worden - in die Beratungen gehen und tragen
wir alle dazu bei, dass die notwendige gesellschaftliche
Diskussion der Aufklärung und dem besseren Verständnis
füreinander dient. Gestehen wir denen, die anders als wir
empfinden, zu, dass sie ihre Liebe zueinander, sofern sie
das wollen, auch in einer verbindlichen Lebensform leben
können. Es wird deshalb garantiert keine einzige Ehe weniger geschlossen werden.
Und denken wir immer daran: Keiner und keine von
uns weiß, warum er oder sie homosexuell oder es eben
nicht ist. Eines aber wissen wir ganz genau, nämlich dass
Gott uns gerade so, wie wir in unserer Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit sind, gewollt hat.
({5})
Ich erteile für die
SPD-Fraktion dem Kollegen Alfred Hartenbach das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Verehrte Kollegin
Falk, ich möchte Ihnen sehr ausdrücklich für Ihren Redebeitrag danken, mit dem Sie für die künftigen Diskussionen einen guten Boden bereitet haben. Denn ich
glaube, wir brauchen dies und sollten eine aufgeheizte
Stimmung und parteipolitisches Gezänk vermeiden.
Ich gestehe, dass mir die Ehe natürlich näher liegt als
die Partnerschaft. Dabei ist für mich die Ehe ein äußerer
Rahmen. Entscheidend ist dabei der Inhalt, der in dieser
Ehe gelebt wird. Das sind zum Beispiel Verlässlichkeit,
Verantwortung, Treue - um nur drei Stichworte zu nennen.
Warum sollen wir den Menschen, die aufgrund ihrer
sexuellen Neigungen einen anderen, einen homosexuellen Partner lieben, einen solchen Rahmen verweigern, um
das, was sie ausdrücken wollen, zu leben? Warum können
wir in diesem neuen Jahrtausend nach der Verfolgung in
der Vergangenheit - die Ministerin hat von jahrhundertelanger Verfolgung gesprochen; wenn man weiter zurückschaut, erkennt man, dass Menschen mit gleichgeschlechtlicher Neigung jahrtausendelang verfolgt worden
sind - nicht endlich damit Schluss machen?
({0})
Wir haben den in dem von uns vorgelegten Gesetzentwurf eingeschlagenen Weg sehr bewusst gewählt, um die
bestehende Diskriminierung zu beenden und um hier
eine Regelung zu finden, damit Menschen mit gleichgeschlechtlicher Neigung endlich - ich gebrauche die Worte
des Kollegen Beck - in der Mitte der Gesellschaft leben
können und nicht mehr am Rand leben müssen.
({1})
Lassen Sie mich einen Punkt ansprechen, der hier bisher noch gar nicht zum Ausdruck gebracht worden ist, den
zu erwähnen ich aber für durchaus wichtig und notwendig
halte. Denken wir doch bitte einmal an all die Eltern, die
Kinder mit einer gleichgeschlechtlichen Neigung großziehen und erleben müssen, wie ihre Kinder diskriminiert,
wie sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.
Müssen wir nicht auch für diese Eltern etwas tun? Ich
denke, auch das ist langsam an der Zeit.
({2})
Nun haben wir einen Weg gewählt, der eine möglichst
weit gehende Annäherung an das Institut der Ehe - ich
wiederhole: Ehe heißt Jawort vor dem Standesamt sicherstellt. Herr Kollege Westerwelle, wir haben ganz
bewusst das Standesamt als die Stelle gewählt, bei der die
Erklärung „Ja, wir wollen eine Partnerschaft schließen“
abgegeben werden soll. Dies hat gute Gründe.
Herr Kollege
Hartenbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hildebrecht Braun?
Gut. - Bitte, Herr Braun.
Herr
Hartenbach, verzeihen Sie, Sie sind gerade bei einer Spezialthematik. Aber es ist oft so, dass man sich zu einem
bestimmten Zeitpunkt zu Wort meldet und der Redner
zwischenzeitlich schon beim nächsten Thema ist.
Wir sprechen hier viel über einzelne Formen der Diskriminierung bei einer bestehenden homosexuellen Partnerschaft. Primär geht es natürlich darum, dass eine solche Partnerschaft überhaupt gelebt werden kann. Deswegen ist das Problem der binationalen Verbindungen,
der ausländerrechtlichen Absicherung, dass also eine Verbindung überhaupt gelebt werden kann, von überragender
Bedeutung.
Sie sind der dritte Sprecher der SPD zu diesem Thema.
Ich habe bisher nichts dazu erfahren, inwieweit der Innenminister und auch der Bundeskanzler, der nach unserer Verfassung die Richtlinien der Politik bestimmt, bereit
sind bzw. sein werden, dem in Ihrem und auch in unserem
Gesetzentwurf enthaltenen Konzept zuzustimmen, wonach in Deutschland in Zukunft nachgewiesene, lange bestehende Partnerschaften auch von Deutschen und Nichtdeutschen gelebt werden können. Können Sie dazu etwas
sagen?
Ich möchte mich zunächst
einmal an Sie wenden, Herr Präsident. Der Kollege Braun
hat anscheinend auf die Uhr gesehen und festgestellt, dass
ich nur noch etwas mehr als zwei Minuten Redezeit habe.
Eine Beantwortung seiner Frage passt im Moment nicht
in mein Konzept. Darf ich für mich 30 Sekunden länger
reklamieren, damit ich diese Frage beantworten kann?
({0})
Sie haben genügend
Zeit, die Frage zu beantworten und Ihren Redebeitrag zu
vollenden.
Ich möchte an anderer
Stelle auf Ihre Frage eingehen, Herr Braun. Ich werde es
nicht vergessen.
({0})
- Deswegen habe ich ja um eine Verlängerung meiner Redezeit um 30 Sekunden gebeten.
Ich fahre fort: Wir haben für eingetragene Lebenspartnerschaften ganz bewusst diese verbindliche Form gewählt. Wir wollen nicht nur einen Vertrag; vielmehr soll
nach außen sehr deutlich dokumentiert werden: Wir wollen eine Partnerschaft eingehen. Ich habe nicht die Bedenken, die Sie geäußert haben, dass diese Form möglicherweise verfassungswidrig ist. Wir haben sehr genau
darüber nachgedacht und sind überzeugt, dass das Standesamt auch in diesem Fall genau die richtige Stelle ist.
Der Standesbeamte muss nämlich prüfen, ob eine andere
Partnerschaft oder möglicherweise eine Ehe besteht. Zudem wird dadurch letztendlich der Wille zur Partnerschaft
bekundet.
Ich möchte nun auf den Kollegen Braun eingehen. Für
uns ist selbstverständlich, dass in diesem Fall ähnliche
Regelungen gelten müssen wie beim Nachzug von Ehepartnern. Damit habe ich Ihre Frage auch schon beantwortet.
Die von Ihnen geäußerten Bedenken kann ich ausräumen; denn es gibt andere zivilisierte Länder - ich nenne
nur Dänemark und Frankreich -, in denen bereits solche
Lebenspartnerschaften bestehen. Auch dort wird über den
Nachzug von ausländischen Lebenspartnern diskutiert. Im Übrigen geht es nicht um die von der Union - insbesondere von Herrn Geis in einem Zeitungsartikel - propagierte Masse.
Außerdem wissen wir alle, dass gerade in den Ländern,
von denen Fluchtbewegungen zu uns ausgehen, die Homosexualität verfolgt wird, dass dort also solche Partnerschaften überhaupt nicht möglich sind. Daher müssen wir
über diese Frage gar nicht weiter nachdenken. Dies wird
sich in dem normalen Rahmen regeln lassen.
Ich komme auf Herrn Westerwelle zurück - jetzt können Sie die Uhr wieder laufen lassen, Herr Präsident -:
Natürlich brauchen wir hier eine verbindliche Regelung;
denn wir wollen und müssen auch in anderen Gesetzen
verbindliche Regelungen treffen. Ich glaube nicht, dass
man eine vertragliche Regelung treffen kann, ohne in anderen Gesetzen, zum Beispiel hinsichtlich der ganz wichtigen Frage des Zeugnisverweigerungsrechts - und ich
halte das nicht für einen Ausnahmefall -, Anpassungen
vorzunehmen.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einige Worte des
Dankes sagen, und zwar an diejenigen, die in den Koalitionsfraktionen an diesem Entwurf mitgearbeitet und zu
erkennen gegeben haben, dass wir hiermit ein gesellschaftspolitisches Werk schaffen, das dem Stand unserer
Republik, dem Stand unseres Denkens, nämlich eines
aufgeklärten Denkens, gerecht wird und dessen würdig
ist. Ich darf mich bei all jenen bedanken - vor allen Dingen bei Ihnen, Frau Ministerin -, die uns unterstützt
haben,
({1})
auch denen, die uns bei den teilweise schwierigen Fragen
zu anderen Rechtsgebieten geholfen haben.
Ich denke, dass wir in den Beratungen - Frau Falk, ich
schaue Sie ganz offen an - einen guten Gesetzentwurf zustande bringen werden. Sie, Herr Westerwelle, und die gesamte F.D.P. wollen dies. Ich stelle fest: Auch der Widerstand in der Union bröckelt. Es ist ein vernünftiger
Umgang miteinander möglich. Wir, liebe Kolleginnen
und Kollegen der Koalition, haben einen mutigen und
guten Schritt getan; wir wollen dieses Werk beenden.
Vielen Dank.
({2})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3751 und 14/3792 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die
Vorlage auf Drucksache 14/3751 soll zusätzlich an den
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, die Vorlage auf Drucksache 14/3792 zusätzlich
an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend überwiesen werden. Ist das Haus damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 14 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred
Hartenbach, Hermann Bachmaier, Bernhard
Brinkmann ({0}), weiteren Abgeordneten
und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten
Volker Beck ({1}), Hans-Christian Ströbele,
Kerstin Müller ({2}), Rezzo Schlauch und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
des Zivilprozesses ({3})
- Drucksache 14/3750 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst für die
SPD-Fraktion dem Kollegen Joachim Stünker das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! In den letzten Wochen und Monaten ist in unserem Land Erstaunliches passiert. Über die so genannte
Fachöffentlichkeit hinaus hat in einer breiteren Öffentlichkeit die intensive Diskussion rechtspolitischer Themen begonnen. Überregionale und auch regionale Zeitungen haben sich zunehmend mit der für den Laien doch
eher spröden Materie der Rechtspolitik beschäftigt. Was
ist geschehen? Es wird auf der Grundlage der Ergebnisse
der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Rechtsmittel im zivilgerichtlichen Verfahren“ bereits seit dem Sommer letzten
Jahres und dann letztendlich bis in diese Tage hinein - ich
hoffe, auch darüber hinaus - und auf der Grundlage eines
Referentenentwurfs des Bundesministeriums der Justiz
vom Jahresende 1999 die Reform unseres Zivilprozessrechts diskutiert.
Ich begrüße diesen breit angelegten Diskussionsprozess ausdrücklich und fordere alle Interessierten auf, dieses Gespräch nunmehr nach Vorlage des Entwurfs eines
Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses durch die Koalitionsfraktionen intensiv weiter zu führen. Ich begrüße
dies insbesondere deshalb mit Nachdruck, weil das Verfahren in der Vergangenheit, nämlich in den 16 Jahren der
Vorgängerregierung, genau andersherum gelaufen ist.
Insbesondere in den 90er-Jahren gab es eine Reihe von
Entlastungs-, Beschleunigungs- oder so genannten Vereinfachungsnovellen in der ordentlichen Gerichtsbarkeit,
die jeweils von der breiten Öffentlichkeit gänzlich unbemerkt und überwiegend auch für die Praxis überraschend
daherkamen. Wir haben uns oft gewundert, was da wieder
im Bundesgesetzblatt stand, meine Damen und Herren.
Von daher möchte ich an dieser Stelle Ihnen, Frau Ministerin, den ausdrücklichen Dank der Koalitionsfraktionen dafür sagen, dass Sie diesen breiten Diskussionsprozess im vorigen Sommer mit der Vorlage der Auswertung
des Berichts der Bund-Länder-Arbeitsgruppe in Gang gesetzt haben. Sie haben sich dabei sehr viel Kritik ausgesetzt. Aber Sie haben sich der sachlichen und fachlichen
Diskussion gestellt. Das ist der richtige Weg, der uns zum
Erfolg führen wird. Noch einmal schönen Dank.
({0})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die von mir
erwähnten so genannten Entlastungsgesetze der Vergangenheit sind allerdings alle gescheitert. Um mit den Worten des Kollegen Scholz zu sprechen: gnadenlos gescheitert. Sie haben für die Rechtsuchenden keine Verbesserungen und für die Gerichte keine Entlastungen, sondern - im
Gegenteil - weitere Belastungen gebracht. So ist durch
das ständige Hochschrauben der Wertgrenzen im Zivilprozess letztendlich die Masse des Arbeitsanfalles lediglich nach unten durchgedrückt und im Ergebnis die Amtsgerichte immer wieder mit Mehrarbeit belastet worden.
Man hat die Quantitäten geregelt und die Qualitäten aus
dem Auge verloren. Um ein Beispiel zu nennen: Als ich
im Jahre 1973 in der ordentlichen Justiz anfing, hatte ein
amtsrichterliches Dezernat 350 bis 400 Eingänge im Jahr;
heute sind wir bei 700 und mehr.
Weil die Entlastungsgesetze der Vergangenheit, wie ich
meine, gescheitert sind, geht der jetzt vorgelegte Entwurf
zur Reform des Zivilprozesses ganz konsequent einen anderen Weg: den Weg einer wirklichen Strukturreform;
denn über die Istbeschreibung der jetzigen Situation hinaus müssen wir uns vergegenwärtigen, dass insbesondere auf die Ziviljustiz durch die weitere zunehmende
Verrechtlichung des Alltagslebens, den rasanten Fortschritt der Informations- und Kommunikationstechnologien und nicht zuletzt durch die Vereinheitlichung des europäischen Rechtsraumes neue, zusätzliche Aufgaben zukommen werden.
Der Zivilprozess des Jahres 2010 wird daher in seiner
Komplexität mit dem Zivilprozess des Jahres 2000 nicht
mehr vergleichbar sein, wie bereits der heutige Zivilprozess nicht mehr mit dem des Jahres 1973 vergleichbar ist.
Die Rechtspolitik muss daher vorausschauen, sich auf gesellschaftliche Veränderungen, den technischen Fortschritt und die globalen Veränderungen einlassen. Sie
kann sich nicht damit begnügen, solche Entwicklungen
nur nachzuvollziehen. Die Rechtspolitik muss vielmehr
die Initiative ergreifen und jedes Optimierungspotenzial
nutzen, um das hohe Qualitätsniveau der Justiz langfristig
zu sichern und noch weiter zu steigern.
Die Rechtspolitik muss sich aus den Zwängen und der
Umklammerung der Fiskalpolitik befreien. Das heißt aber
nicht, dass sich die Justiz bei der Erfüllung der ihr gestellten Aufgaben in der Vergangenheit und in der Gegenwart nicht bewährt hätte, Herr Geis. Die Diskussion
der letzten Monate hat vielmehr gezeigt, wie effektiv und
auf welch hohem Niveau insbesondere die Ziviljustiz arbeitet.
Das Entscheidende ist vielmehr, jetzt die Weichen
dafür zu stellen, dass die Gerichte auch zukünftig den hohen Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger, der Wirtschaft und letztlich der ganzen Gesellschaft gerecht werden können. Um die anerkannt hohe Qualität der Dienstleistungen der Justiz und damit ihre Akzeptanz in der
Bevölkerung langfristig zu sichern, bedarf es einer umfassenden Reform der Rechtspflege in allen Bereichen.
Für die Ausgangssituation, von der aus wir diskutieren,
gibt es die, wie ich meine, unstrittige Feststellung, dass
wir uns ganz realistisch darüber im Klaren sein müssen,
dass die Justiz den sich abzeichnenden Aufgabenzuwachs
angesichts der Haushaltslage der Länder ohne zusätzliches Personal bewältigen muss. Die hierfür erforderlichen
Kapazitätsreserven müssen die Organe der Rechtspflege
bei sich selbst mobilisieren.
Wenn das so richtig ist - ich meine, es ist richtig -, ergeben sich daraus Folgerungen, die der ehemalige
Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Professor
Wolfgang Zeidler, in seinem, wie ich meine, heute schon
historisch zu nennenden Festvortrag anlässlich des Deutschen Richtertags 1983 in München vorgezeichnet hat. Er
hat drei Punkte aufgezeigt:
Erstens. Die Revisionsgerichte sind in ihrer Aufgabe
ganz auf die Wahrung der Rechtseinheit und die Rechtsfortbildung zu konzentrieren. Genau das steht in unserem
Entwurf.
Zweitens. Die Entwicklung kann vor der Position der
Mittelinstanz nicht Halt machen. Das Prinzip des Zugangs zur zweiten Instanz als Verfahrensrecht einer Partei, von dem sie nach Belieben Gebrauch machen kann,
wird sich nicht aufrechterhalten lassen, da hierdurch zu
viel richterliche Arbeitskapazitäten für letztlich Überflüssiges absorbiert werden. Auch dem folgen wir in unserem
Entwurf.
Drittens. Daraus folgt der Schluss, dass die Erhaltung
der Funktionstüchtigkeit des Rechtsstaats eine erhebliche
Aufwertung der ersten Instanz voraussetzt.
({1})
Sie ist nicht nur Durchgangsstation auf dem Weg zu den
heiligen Hallen der Obergerichte, sondern sie sollte in
aller Regel Endstation sein. Genau das setzen wir mit unserem Entwurf konsequent um.
({2})
Wir fordern Sie, die breite Fachöffentlichkeit, die Opposition in diesem Haus und die Bundesländer, auf, mit
uns gemeinsam auf der Grundlage dieses Entwurfs in die
weitere Diskussion zu gehen.
Nach meinen Informationen wird es im Sommer dieses
Jahres, im August, einen Entwurf der Bundesregierung
geben. Wir können dann über das Thema von zwei Seiten
her strukturell diskutieren. Wir werden mit den Diskussionsvorschlägen den Deutschen Juristentag im September erreichen und können dann auch dort in die Diskussion einsteigen. Im weiteren Verfahren können wir vor
dem Hintergrund sachlicher Arbeit etwas Gutes tun, um,
wie ich bereits eingangs sagte, die ordentliche Gerichtsbarkeit für die Zukunft fit zu machen.
Ich denke, auch die Opposition hier im Hause müsste
eigentlich mit uns gemeinsam diesen Weg gehen können.
Ich darf aus dem Protokoll vom 13. Juni 1997, als über das
gleiche Thema beraten wurde, zitieren. Der damalige Vorsitzende des Rechtsausschusses, Herr Eylmann von der
CDU, hat Folgendes gesagt:
({3})
Wir brauchen eine Stärkung der ersten Instanz. Wir
brauchen mehr Mündlichkeit in der ersten Instanz;
denn in der ersten Instanz entscheidet sich das Ansehen der Justiz; mit den Amtsrichtern kommen die
Leute zusammen. Wir brauchen weiterhin eine Straffung des Rechtsmittelsystems - ich habe das schon
häufig vorgetragen -: eine Tatsacheninstanz, eine
Rechtsüberprüfungsinstanz.
Das war ein Aufruf an Sie, sich diesem vernünftigen
Weg anzuschließen. Ich hoffe, Sie werden diesen Schritt
jetzt gehen können, Herr von Stetten.
({4})
Lassen Sie mich abschließend noch Folgendes ausführen: Wir haben im vorigen Jahr die Möglichkeit der
außergerichtlichen Streitschlichtung neu in das Gesetz
aufgenommen. Sie waren daran beteiligt. Wir haben die
Präsidialverfassung der Gerichte reformiert. Dies waren
die ersten beiden Schritte. Die heute vorgestellte Reform
des Zivilprozesses ist der nächste Schritt auf dem von uns
eingeschlagenen Weg, dem Weg, der uns zu dem Ziel
führen soll, der ordentlichen Gerichtsbarkeit das Rüstzeug zu geben, um den Anforderungen der Zukunft gewachsen zu sein.
Die Reform der Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit und des Strafprozesses werden die nächsten
Schritte sein. Parallel dazu müssen wir im Einvernehmen
mit den Bundesländern die notwendige Binnenreform der
ordentlichen Gerichtsbarkeit vorantreiben, also die Übertragung gegenwärtig noch richterlicher Aufgaben auf den
rechtspflegerischen Dienst und die weitere Übertragung
von Aufgaben, die jetzt noch von Rechtspflegerinnen und
Rechtspflegern zu erfüllen sind, auf den mittleren Dienst.
Diesen Weg der notwendigen Reformen zu gehen wird
nicht leicht sein. Er wird steinig sein und die Widerstände
heftig. Denn hiermit greifen wir in Strukturen ein, in denen wir seit 120 Jahren in der Justiz arbeiten. Aber ich darf
Ihnen versichern: Wir haben das im Kreuz, wir werden
diesen dornigen Weg bis zum Ende gehen; denn wir sind
davon überzeugt - ich bin davon überzeugt -, dass es zu
diesem Weg der Reformen keine Alternative gibt.
Schönen Dank.
({5})
Jetzt spricht der Kollege Norbert Geis, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Stünker, die Praxis, etwa die Anwälte und Richter, sieht das ganz anders
als Sie. Das wissen Sie auch. Es wird sehr schwierig werden, all dies gegen die Praxis, also gegen Anwälte und
Richterschaft, durchzusetzen. Soweit meine erste Vorbemerkung.
Zweitens möchte ich sagen: Ich meine, dass dies ein
sehr wichtiges Thema ist, nach unserer Einschätzung vielleicht das wichtigste in der Rechtspolitik in dieser Legislaturperiode. Dieses Thema hätte es verdient, zu einem
besseren Zeitpunkt behandelt zu werden. Bei der Einbringung von Gesetzen muss man auch ein wenig darauf achten, dass man Gedanken nicht in einer geschlossenen Gesellschaft austauscht, sondern dass sie einen vernünftigen
Widerhall bei den Kollegen finden können. Insofern bedaure ich es außerordentlich, dass wir dieses Thema
heute, am letzten Tag vor der Sommerpause, auf der Tagesordnung haben.
Ich bedaure auch, dass dieser Gesetzentwurf von den
Koalitionsfraktionen eingebracht worden ist, die Bundesregierung also nicht den normalen Weg gegangen ist,
nämlich diesen Gesetzentwurf erst dem Bundesrat zuzuleiten, damit dieser Stellung nehmen kann. Ich glaube,
dies wäre der bessere Weg gewesen und hätte der Diskussion besser gedient.
Herr Kollege Geis,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Alfred
Hartenbach?
Bitte sehr.
Herr Kollege Geis, waren
Sie immer so selbstzweiflerisch, was die Rechte eines
Parlaments anbetrifft, oder sind Sie das erst, seit Sie in der
Opposition sind?
Nein, ich achte die parlamentarischen Rechte sehr hoch, dass wissen Sie genau.
Ich meine nur, es hätte der Sache mehr gedient, wenn die
Bundesregierung einen Kabinettsentwurf vorgelegt, diesen dann dem Bundesrat zugeleitet hätte und der Bundesrat dann dazu hätte sachkundig Stellung nehmen können.
({0})
Dies hätte unserer Diskussion mehr gedient.
({1})
Der Kollege
Hartenbach möchte eine zweite Zwischenfrage stellen.
Herr Kollege Geis, finden
Sie es nicht gut, dass dieser Entwurf so lange als Referentenentwurf vorlag, dass Ihr eigener Sachverstand ausreicht, um ihn zu beurteilen? Sind Sie nicht mit mir der
Meinung, dass es ein sehr kollegialer Akt der Koalitionsfraktionen ist, Ihnen über die Sommerpause hinweg die
Gelegenheit zu geben, sich mit diesem Referentenentwurf
zu befassen, statt dauernd rätseln zu müssen: Was hat die
Koalition im Panzerschrank liegen?
({0})
Lieber Kollege
Hartenbach, es handelt sich hier doch nicht mehr um einen Referentenentwurf, sondern um einen Gesetzentwurf.
Diesen Gesetzentwurf diskutieren wir heute. Was spricht
eigentlich dagegen, uns über die Sommerpause den vom
Kabinett beschlossenen und dem Bundesrat zugeleiteten
Entwurf zu geben, um ihn zu durchdenken und zu diskutieren? Es wäre für diese Beratung besser gewesen, wenn
wir vorher die Stellungnahme des Bundesrates gehabt hätten. Sie mögen zwar anderer Meinung sein - ich kenne
Ihre Zwänge in dieser Frage -, aber ich glaube - lassen Sie
mich das in Ruhe sagen -, ein normales Gesetzgebungsverfahren in dieser Sache wäre der bessere Weg gewesen.
Da stimme ich mit meinen Kollegen überein.
({0})
Herr Kollege Hartenbach, das ist eine sehr tief greifende Reform, die Sie da vorhaben; das sagen Sie auch
selbst. Die Rechte des Bürgers werden nicht ausgeweitet,
jedenfalls nicht hinsichtlich der Berufungsinstanz. Die
Rechte in der Berufungsinstanz - jedenfalls ist es in dem
Entwurf so niedergelegt - werden sogar eingehend beschränkt.
Die Dreistufigkeit wird kommen. Das werden viele
Amtsgerichte, sollte das Gesetz so in Kraft treten, in der
Praxis nicht überleben.
({1})
Viele Amtsgerichte werden aufgelöst werden müssen. Es
ist auch nicht wahr, dass die Bürgernähe größer wird;
denn durch die Dreistufigkeit werden wir gerade einen
Verlust an Bürgernähe und damit auch an Rechtskultur
haben.
Dabei haben wir eine gut funktionierende Justiz. Die
Frage ist doch, ob man jetzt so umwälzend reformieren
muss. Herr Stünker, ich bin ja dafür, dass wir das System
immer wieder verbessern; denn gerade der Zivilprozess
muss flexibel sein, muss auf neue Entwicklungen Antwort
geben können und muss für neue Sachverhalte vernünftige Regelungen finden, damit Konflikte gelöst werden
können. Aber dafür ist doch keine so große, umfassende,
geradezu revolutionierende Reform notwendig.
({2})
Gegenwärtig kann der deutsche Bürger in einem fairen,
effektiven und verlässlichen Verfahren vor dem Gericht
sein Recht suchen.
Die Behauptung, die Justiz sei nicht bürgernah - in
Ihrem Entwurf steht, sie sei nicht transparent, nicht bürgernah und nicht effizient -, ist nach Ihren eigenen Worten, Herr Stünker, gar nicht richtig. Wir haben eine effiziente Justiz. Die Justiz wird in dem Entwurf - Sie, Herr
Stünker, haben das nicht getan - krank geredet. Das ist
völlig falsch. Sie ist nicht krank. Sie funktioniert, und
zwar recht gut. Wäre es nicht so, dann würden nicht so
viele Bürgerinnen und Bürger ihr Vertrauen auf die Justiz
setzen und versuchen, dort ihr Recht zu finden und durchzusetzen. Die Justiz ist nicht krank. Das Gegenteil ist richtig. Ich meine, man sollte jetzt nicht krampfhaft versuchen, unsere Justiz krank zu reden.
({3})
Sie behaupten immer, die vielen Entlastungsgesetze mir sind insgesamt drei auf den Tisch gelegt worden;
damals, in unserer Koalition, haben wir vieles so durchgesetzt, wie wir es für richtig gehalten haben -, Herr
Hartenbach, hätten nichts bewirkt. Dass wir eine so gut
funktionierende Justiz haben, liegt nach meiner Auffassung auch an den Entlastungsgesetzen. Wir lassen sie
auch nicht schlecht reden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie behaupten immer, unsere Justiz sei zu stark belastet. Die
Belastung ist aber seit sieben Jahren die gleiche - und die
Justiz bricht nicht zusammen. Wir haben seit 1993 in etwa
die gleichen Eingangszahlen. Im letzten und vorletzten
Jahr gingen diese Eingangszahlen sogar zurück.
({4})
Im Übrigen bin ich nicht der Auffassung, dass wir,
wenn die Belastung wirklich zu hoch wäre, die Zivilprozessordnung in einer so radikalen Form ändern sollten,
wie Sie das vorhaben. Warum sollten wir nicht einmal
versuchen, den Ländern klarzumachen, dass die Justiz
eine Kernaufgabe ist? Warum sollten wir nicht einmal an
die Finanzminister der Länder appellieren, für die Justiz,
weil sie eine Kernaufgabe ist, mehr Geld zur Verfügung
zu stellen? Wie viel verbraucht die Justiz? Sie verbraucht
gerade mal zwei Prozent der Länderhaushalte. Das ist für
eine Kernaufgabe des Staates nicht zu viel. Und wenn die
Belastung wirklich größer wird, dann müssen wir auch
einmal ganz klar und deutlich sagen, dass solche Belastungen auch durch Mehrung von Richterstellen abgebaut
werden können.
({5})
Jetzt bekommt das
Wort zu einer Zwischenfrage der schon lange wartende
Kollege Joachim Stünker.
Danke schön, Herr
Präsident. - Herr Geis, ich habe ja Geduld.
Ich auch.
Herr Geis, wenn das alles
so ist, wie Sie es hier beschreiben, wenn das alles Gold ist,
was den Zustand in der ordentlichen Gerichtsbarkeit,
in der Ziviljustiz angeht: Wieso haben Sie dann in der letzten Legislaturperiode einem von den Bundesländern eingebrachten Entwurf - er trägt die Drucksachennummer 13/11042 - noch 1998 zugestimmt, in dem zum Beispiel die Regelung enthalten war, dass künftig von der
Berufungsinstanz bis zum Streitwert von 60 000 DM eine
Berufung ohne Begründung als „offensichtlich unbegründet“ verworfen werden kann? Warum haben Sie damals
der in diesem Entwurf vorgesehenen Regelung eines vermehrten Einsatzes von Einzelrichtern in der ersten Instanz
zugestimmt? Ich könnte Ihnen hier noch weitere ähnliche
Beispiele nennen.
Warum also haben Sie, wie ich meine, immer nur
Flickwerkoperationen gemacht, mit denen immer nur in
Teilbereichen etwas geregelt wurde? Worin liegt der tiefere Grund dafür, dass die Berufung mit einem Streitwert
bis zu 60 000 DM gegenüber der mit einem Streitwert
über 60 000 DM schlechter gestellt wird? Wenn das, wie
Sie sagen, alles in Ordnung war, warum haben Sie dann
diesen Entwurf noch 1998 beschlossen?
({0})
Herr Stünker, ich habe
ausdrücklich gesagt, dass wir dann, wenn sich herausstellt, dass unser Zivilprozess nicht flexibel genug ist, im
Einzelfall reagieren müssen. Das sieht dieser Gesetzentwurf vor. Wie Sie wissen, haben Sie diesem Entwurf - Sie persönlich waren noch nicht dabei, aber Ihre
Kolleginnen und Kollegen - im Rechtsausschuss bis auf
eine Passage - sie betrifft die Klausel bezüglich der Kammern für Handelssachen und des Registerwesens - damals zugestimmt. Wir waren alle zusammen der Meinung, dass dieser Gesetzentwurf, vom Bundesrat erarbeitet, aus der Praxis kommend, vernünftig ist. Er beinhaltete
aber nicht so umwälzende Neuerungen wie Ihr jetzt vorliegender Entwurf und wollte auch nicht die ganze Justiz
umkrempeln. Darin stimmen wir doch hoffentlich überein. Herr Kollege Stünker, ich bin immer für Verbesserungen, wenn es wirklich notwendig ist. Aber ich bin gegen eine totale Umwälzung, wie Sie sie mit Ihrem Entwurf vorhaben.
Gestatten Sie eine
zweite Zwischenfrage des Kollegen Stünker?
Ja.
Worin bestand damals für
Sie die Notwendigkeit? Sie sagen: Wenn Notwendigkeit
besteht, dann machen wir was. Aber Sie haben nicht die
Frage beantwortet, worin für Sie die Notwendigkeit bestand.
Die Notwendigkeit wurde
in den einzelnen Fällen aus der Praxis heraus erkannt.
({0})
Die Praxis und die Beratung mit den Kolleginnen und
Kollegen des Bundesrates haben uns nahe gelegt, Regelungen zu treffen. Das haben wir in diesem Gesetzentwurf
getan. Sie werden mit mir darin übereinstimmen - Sie sagen ja, das sei Flickwerk gewesen; ich bin nicht Ihrer Auffassung -, dass dieser unser Entwurf nicht der so genannte
große Wurf war. Das war nicht ein so revolutionäres Gesetzgebungskonvolut, wie Sie es jetzt vorhaben. Aber: Ich
wende mich doch nicht gegen Verbesserungen. Ich bin für
Verbesserungen! Kein System ist vollkommen. Wir müssen jedes System verbessern, wenn es notwendig ist.
Dafür trete ich ein. Doch ich wende mich ganz massiv gegen Ihren Gesetzentwurf, weil er mir zu revolutionär ist.
Lassen Sie mich fortfahren. Ich habe vorhin noch einmal darauf hingewiesen, dass man bei zu großer Belastung natürlich auch einmal daran denken muss, ob nicht
Richterstellen gemehrt werden müssen. Aber gegenwärtig
ist das nicht nötig. Die Belastung ist nicht so groß, wie Sie
behaupten. Wir haben seit 1993 eine gleich bleibende Belastung. Ich glaube, unsere Richter kommen damit gut zurecht. Es hat sich jedenfalls kein Mangel gezeigt.
Es ist auch nicht so, dass die erste Instanz, wie Sie immer sagen, eine Durchgangsinstanz ist. Die Prozesse werden in erster Instanz zu 94 Prozent beim Amtsgericht erledigt. Beim Landgericht haben wir Erledigungszahlen
von über 80 Prozent. Dies ist auch ein Beweis dafür, dass
unsere Justiz gut funktioniert.
Ich glaube, wenn Ihr Reformwerk umgesetzt würde,
wäre diese gute Funktion unserer Justiz nicht mehr im
gleichen Maße gewährleistet. Sie werden den dreigliedrigen Gerichtsaufbau ansteuern und damit eine Zerschlagung des Amtgerichtes und des Landgerichtes - es
soll ja zu einer Zusammenführung beider zu einem großen
Eingangsgericht kommen - in Kauf nehmen. Wir hatten
diese Diskussion schon einmal in den 70er-Jahren, als
ähnliche Pläne verfolgt wurden. Damals war man aber
klugerweise der Auffassung, sie wieder in die Schublade
zurückzulegen. Das war eine richtige Entscheidung. In
der damaligen sozialliberalen Koalition saßen kluge
Leute. Ich hoffe, im Laufe der Zeit stellt sich auch in diesem Verfahren wieder die Klugheit ein, sodass der Entwurf wieder in der Schublade verschwinden wird. Bis
jetzt kann man diesen Eindruck noch nicht haben.
Durch die geplante Zerschlagung von Amtsgerichten
und Landgerichten kommt es - ich habe es vorhin schon
gesagt - zu einem Verlust an Bürgernähe und zu einer Zerstörung alter Bindungen. Man muss einmal überlegen,
dass in manchen Städten ein Amtsgericht bzw. eine Gerichtsstelle schon seit Jahrhunderten vorhanden ist. Das
soll nun aufgehoben werden und ich weiß nicht, ob das
der Bindung der Bevölkerung an die Justiz zugute kommt.
({1})
Ich bin da ganz anderer Meinung.
Sie wollen die Konzentration der Berufungssachen
beim Oberlandesgericht und dabei die Berufungssumme auf 1 200 DM heruntersetzen. Haben Sie sich
einmal überlegt, wenn jemand mit einem Streitwert von
1 300 DM in die Berufung geht, - ({2})
- Ja, genau, aber heute kann er vom unteren Stock des
Amtsgerichts in das nächste Stockwerk des Landgerichts
gehen; er hat das Landgericht in der Nähe. Wenn er sich
aber erst mit seinem Anwalt in das Auto setzen muss, um
in einer Tagesreise das Landgericht zu erreichen - das gilt
zum Beispiel für mich in Aschaffenburg, wo das zuständige Oberlandesgericht seinen Sitz in Bamberg hat -, entstehen gewaltige Kosten, sodass am Ende die Kosten
höher liegen als der Streitwert.
Das heißt doch, dass die Zusammenfassung beim
Oberlandesgericht im Grunde genommen ein Berufungsverhinderungsinstitut ist. Sie haben ja selber gesagt, es
würde dann keiner mehr machen.
({3})
Das bedeutet doch einen Verlust der Rechte der Bürger.
Warum wollen wir denn den Bürgern das Recht nehmen,
in der Berufungsinstanz ihre Sache noch einmal überprüfen zu lassen?
Ich bedauere diese Entwicklung außerordentlich und
schon aus diesem Grunde wenden wir uns ganz entschieden gegen Ihr Vorhaben; denn dies bedeutet in der Tat einen Verlust der Rechte des Bürgers. Das ist keine Politik
für den Bürger, sondern es ist eine Politik gegen den kleinen Mann.
({4})
Nur noch die Besserverdienenden werden sich dann eine
Berufung leisten können.
({5})
Damit handeln Sie wie in der Steuerpolitik: Sie helfen den
Großen und treten die Kleinen. Genauso ist es hier.
({6})
- Sie lachen darüber, aber es wird so sein. Das haben Sie
nur noch nicht gemerkt.
Sie wollen die erste Instanz stärken. Das ist für sich genommen ein ganz vernünftiger Gedanke, den wir gut
nachvollziehen können. Sie wollen deshalb die Güteverhandlung einführen. Das alles haben wir doch schon. In
Ihren Reihen befinden sich doch viele gelernte Juristen
und mehrere von Ihnen waren ja in der Justiz tätig. In der
heutigen Praxis wird doch kein Prozess begonnen, ohne
dass der Richter versuchen würde, vergleichsweise eine
Regelung zu finden. Er muss in jedem Stand des Verfahrens nach unserer Zivilprozessordnung eine Regelung im
Wege des Vergleichs anstreben. All diese Dinge sind also
gar nicht notwendig.
Ich möchte noch ein Wort zum obligatorischen Einzelrichter sagen, Herr Stünker. Sie haben mit Recht gesagt,
wir hätten die dem Einzelrichter zuzuweisenden Fallgruppen ausgedehnt. Es steht fest, dass die Einzelrichterentscheidungen genauso gut angenommen werden wie
die kammergerichtlichen Entscheidungen. Man muss dabei aber eine Einschränkung machen: Bei unserer jetzigen
Organisation haben die kammergerichtlichen Entscheidungen meistens schwierigere Sachverhalte und schwierigere Rechtsfragen zum Gegenstand, weil alle anderen
Fälle dem Einzelrichter übertragen werden. Bei solchen
Prozessen mit schwierigeren Sachverhalten und schwierigeren Rechtsfragen kommt es naturgemäß leichter zu
Fehlentscheidungen. Deswegen kann man beides nicht
vergleichen.
Ich glaube aber, wir sollten dabei einen Gedanken nicht
vernachlässigen: Das Kammerprinzip hat eine wichtige
Funktion, da sechs Augen auf einen Sachverhalt schauen.
Es gibt die Binnenkontrolle des ansonsten in seiner Entscheidung freien Richters. Das ist ein Wert, den man nicht
unterschätzen sollte.
Dass Sie den obligatorischen Einzelrichter auch ohne
Bindung an irgendeinen Streitwert einführen, halten wir
für sehr bedenklich. Wir halten es insbesondere auch für
bedenklich, weil Sie in der Berufungsinstanz eine eingeschränkte Sachverhaltsprüfung haben. Nach dem Referentenentwurf haben Sie dies zwar zurückgenommen und
wollen nun die Prüfung des Sachverhaltes und des Tatsachenvortrages in zweiter Instanz stärker vornehmen lassen. Dies geht auf die Intervention Ihrer Fraktion zurück.
Das begrüßen wir. Aber reicht das? Denn das Gericht
muss nach wie vor entscheiden: Gibt es hier wirklich eine
Aussicht auf Erfolg, geht es um eine wichtige Rechtsfrage? All diese Fragen sind entscheidend dafür, ob die
Sache überhaupt von der Berufungsinstanz angenommen
wird. Nach dem Referentenentwurf haben Sie zwar die
Annahmeberufung abgeschafft, Sie haben aber im
Grunde genommen nur eine neue Formulierung dafür gefunden. Sie nennen es jetzt Zulassungsbeschluss. Das
kommt aufs Gleiche heraus. Es ist aber ein viel umständlicheres Verfahren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
mich insbesondere gegen die Einschränkung des Tatsachenvortrages in zweiter Instanz - ich wiederhole
mich - wenden. Er ist auch nach dieser Korrektur, die
wir begrüßen, noch eingeschränkt. Ist dies wirklich richtig? Im Zivilprozess - das wissen Sie genauso gut wie
ich - geht es um Sachverhalte. In 90 Prozent der Fälle
sind Sachverhalte Gegenstand der Entscheidung in einem Zivilprozess. Rechtsfragen spielen vom Aufwand
her nur eine geringe Rolle. Bei der Feststellung des
Sachverhaltes gibt es die Fehler. Deswegen ist es richtig,
dem Betroffenen, der mit der Feststellung des Sachverhaltes und der Wertung des Richters in erster Instanz, die
vollkommen rechtsfehlerfrei gewesen sein mag, nicht
einverstanden ist, die Chance zu geben, dies in zweiter
Instanz kontrollieren zu lassen.
({7})
Warum nehmen wir dem Bürger die Möglichkeit? Ich bedaure dies außerordentlich.
Genau das Gleiche gilt für die Revisionsinstanz.
Natürlich gibt es die Revisionsinstanz schon immer, damit die Einheitlichkeit des Rechtes gewahrt wird. Aber die
Einheitlichkeit und die Fortbildung des Rechtes - abgesehen von den Nöten im Einzelfall -, zur Bedingung dafür
zu machen, ob die Revision angenommen wird und Erfolg
hat, halte ich für sehr bedenklich und für eine Verkürzung
des Rechtes der Bürger. Es kommt dem Bürger nämlich
nicht darauf an, ob seine Sache der Fortbildung des Rechtes dient, sondern es kommt ihm einzig und allein darauf
an, dass er seine Gerechtigkeit findet. Wir müssen diese
Einzelfallregelung mehr beachten.
({8})
Ich hoffe, meine sehr verehrten Damen und Herren,
dass Sie nach einer entsprechenden Anhörung doch zu
dem Ergebnis kommen, den Gesetzentwurf wieder
zurückzuziehen. Es wäre das Beste für Sie, für die Justiz,
für die Gerechtigkeit und für unsere Rechtskultur.
Danke schön.
({9})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Volker Beck.
Wir haben gerade erfahren: Die Union ist der Meinung, es
herrschen paradiesische Zustände bei der Justiz, denn sie
bricht noch nicht zusammen. Das ist ein sehr schöner Befund. Ich wundere mich darüber sehr. Es passt überhaupt
nicht zu Ihrer Analyse in der letzten Wahlperiode. Die damaligen Gesetze zur Entlastung der Rechtspflege, so auch
das letzte gescheiterte Gesetz, enthielten durchaus vernünftige Elemente, die wir in dieser Reform auch aufgenommen haben. Entweder war es damals richtig, etwas zu
tun - dann ist es auch heute gut, etwas zu tun und darüber
zu reden - oder es war damals falsch. Und dann muss man
sich fragen, was Sie in der letzten Wahlperiode, als Sie die
Verantwortung hatten, überhaupt gemacht haben.
Meine Damen und Herren, diese Justizreform ist eine
runde Sache. Sie verbessert den Rechtsschutz für die Bürgerinnen und Bürger und erhöht zugleich Transparenz und
Effizienz der Justiz. Dennoch konnten die Reaktionen auf
diesen Gesetzentwurf nicht unterschiedlicher ausfallen.
({0})
Positiv, wenn auch bei der Anwaltschaft verhalten, ist das
Echo bei den Berufsverbänden. Sowohl Richterschaft als
auch Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte sind zufrieden,
({1})
weil wesentliche Kritikpunkte aus ihren Stellungnahmen
berücksichtigt worden sind. Heribert Prantl von der „Süddeutschen Zeitung“ - im Übrigen einer der größten Befürworter dieser Reform - gibt eine zu vorsichtige Renovierung der alten Verwirrordnung ZPO zu bedenken. Die
Berliner „tageszeitung“ applaudiert fast überschwänglich.
Aber Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, geht wieder einmal alles zu schnell und nicht in Ihre
Richtung. Aber wieso eigentlich? Noch kürzlich haben
Sie der Koalition in der Rechtspolitik Untätigkeit vorgeworfen und gemahnt, wir würden Ihnen zu wenige Gesetze vorlegen. Jetzt sind Sie anscheinend überlastet und
beschweren sich über das Verfahren, obwohl es das gleiche Verfahren ist, das auch Sie 16 Jahre hier praktiziert
haben: Die Koalition legt Gesetzentwürfe vor, um in der
parlamentarischen Diskussion voranzukommen, während
gleichzeitig die Abstimmung mit dem Bundesrat läuft.
Das sieht die Geschäftsordnung vor.
({2})
Das ist ein ganz normales Verfahren, um voranzukommen
und Ergebnisse für unser Land zu erzielen.
Seit Weihnachten befindet sich auf der Homepage des
Bundesjustizministeriums der Referentenentwurf zur Justizreform. Jeder konnte also mitdiskutieren, Stellung nehmen und die Punkte sehen, die wir für reformbedürftig
halten. Verbände und Länder haben teilweise sehr umfangreiche Stellungnahmen zu dieser Reform abgegeben.
Die Koalition hat zusammen mit der Ministerin die Bedenken und Anregungen ausgewertet und in dem jetzt
vorliegenden Gesetzentwurf berücksichtigt. Was bitte ist
daran überhastet? Das ist der ganz normale Lauf der
Dinge, verehrte Kolleginnen und Kollegen von Union und
F.D.P.. So macht man vernünftige Gesetze. Aber mittlerweile wird mir auch klar, warum Sie 16 Jahre lang in der
Rechtspolitik außer Flickschusterei so wenig zustande gebracht haben.
({3})
Wir vom Bündnis 90/Die Grünen können mit den jetzt
getroffenen Regelungen sehr zufrieden sein. Seit Beginn
der Diskussion um die Justizreform haben wir uns für eine
insgesamt ausgewogene Lösung stark gemacht. Wir haben uns gegen unverhältnismäßige Eingriffe in die
Rechtsmittel gewandt. Wir halten es für gefährlich, wenn
die Berufungsinstanz ausschließlich der Rechtsfehlerkontrolle diente und eine Neuverhandlung von Tatsachen
kategorisch ausgeschlossen wäre. Man hat es Ihrer Kritik,
Herr Geis, angemerkt, dass Sie eigentlich unzufrieden
über die Berücksichtigung der Kritikpunkte im Gesetzentwurf waren, weil Ihre Rede nicht mehr richtig zu
dem Entwurf passte.
Die jetzt gefundene Öffnungsklausel hinsichtlich des
Prüfungsumfangs des Berufungsgerichtes ist für die
Bürgerinnen und Bürger eine Verbesserung; denn mit ihr
wird sowohl ein wichtiges Ziel der Reform - berechtigte
Forderungen schneller und auch kostengünstiger durchzusetzen - als auch das mögliche Risiko berücksichtigt,
dass die in der ersten Instanz festgestellten Tatsachen vielleicht doch nicht so rechtsfehlerfrei ermittelt wurden.
Meine Damen und Herren von der Union - ich spreche
zu Ihnen, auch wenn Sie nicht zuhören -, Ihr Generalsekretär, Herr Polenz, hat uns vorgeworfen, der Rechtsschutz werde mit der Reform massiv beschnitten. Ich
würde ihm empfehlen - da er nicht anwesend ist, möchte
ich Sie bitten, ihm das auszurichten -, den zugegebenermaßen sehr umfangreichen Gesetzentwurf einmal in
Ruhe von vorne bis hinten durchzulesen. So trocken die
Materie auch sein mag: Die Mühe sollte sich lohnen. Ich
empfehle ihm das auch auf die Gefahr hin, dass er der Koalition dann das Gegenteil vorhalten wird.
Die Annahmeberufung in ihrer alten Form ist auch
aufgrund unserer Bedenken vom Tisch. Hier hat uns übrigens auch der Vorschlag des Landes Niedersachsen sehr
geholfen. Eine Art Schnellverfahren, mit dem sich der Berufungsrichter vielleicht manchmal eine Menge Arbeit ersparen möchte, wäre den Bürgerinnen und Bürgern nicht
zuzumuten gewesen. Wir haben an dieser Stelle auch die
Bedenken der Anwaltschaft sehr ernst genommen. Die
nun gefundene Ausgestaltung des Verfahrens ist eine gute
Lösung. Offensichtlich aussichtslose Berufungen können
abgelehnt werden.
Ein Kollegium, also sechs Augen, muss das Rechtsmittel einstimmig für unbegründet erachten. Und es kann
erst dann die Annahme des Rechtsmittels ablehnen, wenn
den Parteien die Gründe erläutert worden sind und ihnen
noch einmal rechtliches Gehör geschenkt wurde. In diesem Verfahren wird der Grundsatz gelten: Im Zweifel für
das Rechtsmittel. Ist das ein massiver Einschnitt in den
Rechtsschutz? Wollen Sie, meine Damen und Herren von
der Opposition, auch bei aussichtslosen Rechtsmitteln unbedingt eine für die Parteien kostenintensive mündliche
Verhandlung beibehalten?
({4})
Der Entwurf verfährt nach dem Motto: Rechtsschutz
dort, wo er geboten ist. Aus diesem Grunde haben wir die
Berufungssumme auch nicht, wie wir es aus früheren
Zeiten gewohnt sind, erhöht, sondern um 300 DM auf
1 200 DM bzw. 600 Euro gesenkt.
({5})
Auch unterhalb dieser Summe haben wir mit einer Zulassungsberufung und einer neuen Abhilfemöglichkeit
den Rechtsschutz erweitert. Herr Geis, das ist das Gegenteil von dem, was Sie gesagt haben. Hiermit wird der
Rechtsschutz gerade für die kleinen Leute und bei geringen Streitwerten in einer angemessenen Art und Weise mehr Rechtsstaatlichkeit und mehr Fehlerkontrolle - verbessert. Das ist wirklich das glatte Gegenteil Ihrer Aussage von vorhin, dass man etwas gegen die kleinen Leute
mache. Ihre Ausführungen waren an den Haaren herbeigezogen.
Die Tendenz, dass die Zeit willkürlicher Streitwertgrenzen allmählich vorbeigeht, weil dies mit effektivem
Rechtsschutz wenig zu tun hat, zieht sich wie ein roter
Faden durch den gesamten Entwurf. Bei der Revision ist
die 60 000-DM-Grenze weggefallen. Eine Überprüfung
durch den BGH soll bei grundsätzlicher Bedeutung der
Streitsache möglich sein. Damit sind aber nicht nur über
den Einzelfall hinausreichende Streitfälle von allgemeiner Bedeutung gemeint. Machen Sie sich bitte die Mühe
und schauen Sie in die Begründung des Entwurfs Seite 114 -: Auch bei eklatanten Rechtsfehlern kann das
Ergebnis zur Wahrung von Einzelfallgerechtigkeit korrigiert werden. Ist das etwa massive Beschneidung von
Rechtsschutz? Nein, das ist eine Änderung in der Philosophie: weg von quantitativ orientierten Rechtsmitteln
hin zu qualitativ orientierter Rechtsfehlerkontrolle.
Und um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die Philosophie des Entwurfes besteht nicht darin,
ein möglichst optimales Rechtsmittelsystem zu erfinden,
in dem jegliche Fehlentscheidung ausgeschlossen ist. Gerichtsurteile werden immer noch von Menschen gefällt,
die sich irren können. Hauptziel des Entwurfes ist, dass
die Menschen möglichst keinen Grund mehr haben sollen,
sich über die Urteile zu beschweren. Wir wollen, dass sie
gegebenenfalls ein Urteil akzeptieren, zum Beispiel weil
das Gericht ihnen seine Entscheidung hinreichend verständlich gemacht hat.
Die Bürgernähe dieser Reform drückt sich auch in der
personellen und qualitativ gestärkten Eingangsinstanz
aus. In diesem Punkt - das wird Ihnen wenig gefallen war es bei der Auswertung der verschiedenen Stellungnahmen besonders erfreulich, dass es von allen Seiten der
Rechtspflege große Zustimmung gegeben hat. Wir haben
die Hinweis- und Aufklärungspflichten in einer zentralen
Vorschrift gebündelt und verschärft. Wir wollen damit erreichen, dass der Weg zur Entscheidungsfindung für die
Rechtsuchenden überschaubar ist. Wer nicht vom Urteil
überrascht wird, der kann es vielleicht auch eher akzeptieren.
Als Bündnisgrüne freuen wir uns ganz besonders über
ein weiteres wichtiges Element, das die Eingangsinstanz
ebenfalls stärkt: die obligatorische Güteverhandlung.
Nach dem Gesetz zur außergerichtlichen Streitschlichtung, das im letzten Jahr in Kraft getreten ist, betont die
Koalition auch hiermit konsequent den Gedanken der
Streitschlichtung. Natürlich kann man das System der Arbeitsgerichtsbarkeit in diesem Zusammenhang nicht
blindlings auf den Zivilprozess übertragen. Die zunächst
im Referentenentwurf vorgeschlagene Regelung ist praxisgerecht zurechtgeschneidert worden. Ist eine gütliche
Einigung erkennbar überflüssig, muss sie nicht stattfinden. Auch in diesem Punkt sind wir übrigens für die zahlreichen konstruktiven Vorschläge der Verbände dankbar.
Meine Damen und Herren, die Diskussion um eine bessere, praxisgerechtere und effektive Ziviljustiz ist mit
dem heutigen Tag nicht zu Ende. Im Gegenteil! Schon
jetzt bin ich auf die Anhörung gespannt, bei der die gesamte Rechtspflege erneut die Gelegenheit erhält, Vorschläge zu unterbreiten. Über vernünftige Vorschläge
kann man mit dieser Koalition immer reden.
({6})
Das Ziel sollte aber allen klar sein: Die Renovierung
der Verwirrordnung ZPO steht an. Die „Süddeutsche Zeitung“ hat zu Recht festgestellt - mit Erlaubnis des Präsidenten zitiere ich als Letztes diesen Satz -:
Jahrzehntelang hat sich der Gesetzgeber an Grundprobleme der Justiz kaum herangetraut; und wenn er
es getan hat, kam erbärmliches Flickwerk heraus ...
Die Prozessordnungen aus dem vorigen Jahrhundert
wurden vom Gesetzgeber nicht verbessert, sondern
verschlimmbessert.
Mit dieser Politik machen wir jetzt Schluss. Wir verbessern die ZPO.
({7})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Rainer Funke für die F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Kurz vor der Sommerpause wird das Parlament noch einmal mit justizpolitischen Initiativen überhäuft. Der Freitag ist offensichtlich der Justizpolitik
gewidmet. Es handelt sich um Vorhaben, die schon vor anderthalb Jahren von der Bundesjustizministerin angekündigt worden sind und jetzt im Rahmen einer Fraktionsinitiative eingebracht werden. Die Ministerin hat ihren eigenen Entwurf noch nicht fertig stellen können, demgemäß gab es noch keine Kabinettsbefassung, demgemäß
noch keine Beratung im Bundesrat, was aber zweckmäßig
gewesen wäre; denn insbesondere die Länder sind von
Volker Beck ({0})
Fragen der Justiz stark betroffen und müssen sich damit
auseinander setzen.
({1})
Zu Recht sagen die Verfasser des Gesetzentwurfs zur
Reform des Zivilprozesses, dass sich eine Strukturreform
daran messen lassen muss, ob die vorgesehenen Änderungen dazu führen, dass die Justiz bürgernäher, effizienter und transparenter wird. In der Tat ist eine Reform des
Zivilprozesses nur dann sinnvoll, wenn sie den Rechtsschutz des Bürgers nicht beschneidet, sondern effektiver
macht.
({2})
Diesen Anforderungen wird dieser Gesetzentwurf nicht
gerecht.
({3})
Der Zivilprozess wird durch die vorgesehene Neuordnung
schlechter und leider auch noch teurer. Der Rechtsschutz
des Bürgers wird beschnitten.
({4})
Die Bundesjustizministerin hatte nach der Vorlage des
ersten Referentenentwurfs und der sich anschließenden
beißenden Kritik der betroffenen Berufsverbände, also
der Richter, des Anwaltvereins und der Anwaltskammer,
zugesagt, Nachbesserungen vorzunehmen. Ich will nicht
verkennen, dass zumindest in einzelnen Punkten vorhandene Giftzähne abgeschliffen worden sind. Dennoch verbleiben die bürgerunfreundlichen und den Rechtsschutz
einschränkende Maßnahmen.
Der Gesetzentwurf sieht bei Berufungen weiter die alleinige Zuständigkeit der Oberlandesgerichte vor, was in
den Flächenstaaten zu erheblichen zeitlichen und finanziellen Belastungen der Parteien, Zeugen und Sachverständigen führen wird. Die ausschließliche Zuleitung von Berufungen an die Oberlandesgerichte wird gerade in den
Flächenstaaten zu einer Ausdünnung der Landgerichte
führen, die mehr und mehr unter Schließungszwang geraten. Ich fürchte, dass Sie das auch so wollen. Sie wollen
nämlich die Dreistufigkeit der Instanzen haben. Das hat
die Ministerin ja schon mehrfach angekündigt. Die F.D.P.Fraktion lehnt dies eindeutig ab.
({5})
Nach wie vor beabsichtigt die Bundesjustizministerin
in der Berufungsinstanz die Abschaffung der Kollegialgerichte, auch wenn jetzt für einzelne Verfahren - damit
schränke ich meine Aussage ein - die Beibehaltung der
Kollegialgerichte vorgesehen wird.
({6})
- Vielen Dank für Ihre belehrenden Ausführungen, Frau
Ministerin. - Die Kollegialgerichte bei den Berufungsgerichten haben sich durchaus bewährt und die Übertragung
des Rechtsstreits auf Einzelrichter hat sich, wo es sinnvoll
ist, ebenfalls bewährt, sodass kein Grund für Änderungsbedarf ersichtlich ist.
Die deutsche Justiz arbeitet - das haben die Kollegen
Geis und auch andere gesagt - durchaus effektiv und effizient. Die Dauer der Verfahren beträgt durchschnittlich
4,6 Monate vor den Amtsgerichten. 94 Prozent aller Verfahren werden vor dem Amtsgericht abgeschlossen. Der
Ruf nach Justizreformen mag gut klingen; er entspricht einem dumpfen Gefühl in der Bevölkerung. Man sollte jedoch erst einmal Tatsachenaufklärung vornehmen, ehe
man an wohlklingende Reformvorhaben geht.
({7})
Fiskalgesichtspunkte - das war immer das Hauptanliegen der Länder - dürfen nicht im Vordergrund stehen,
sondern ausschließlich der Rechtsschutz des Bürgers. Die
innere Sicherheit und die Justiz sind nämlich Kernbereiche des Staates. Eine gute Justiz darf dann auch etwas kosten.
({8})
Den Gesetzentwurf, der jetzt vorgelegt worden ist,
lehnt die Bundestagsfraktion der F.D.P. ab. An Verbesserungen unserer Zivilprozessordnung werden wir mitwirken, nicht jedoch am Abbau des Rechtsschutzes des Bürgers. Diese Justizreform ist jedenfalls so überflüssig wie
ein Kropf.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Für die Fraktion der
PDS spricht nun die Kollegin Frau Dr. Evelyn Kenzler.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Welche Überraschung! Nun
kam der dicke Gesetzentwurf zur großen Reform des Zivilprozesses doch schneller als gedacht. Von einem
Durchbruch bei der Justizreform ist gar die Rede.
Ich erspare mir an dieser Stelle jede weitere Polemik
hinsichtlich des Zustandekommens dieses Entwurfs.
Auch möchte ich meiner Verwunderung nicht deutlicher
Ausdruck verleihen, wie mancher Gegner der Reformvorstellungen der Bundesjustizministerin innerhalb kürzester Zeit einen Einschätzungswandel von „stark reformbedürftig“ zu „Bestzustand der Justiz im europäischen Maßstab“ vollzogen hat, ohne dass sich das
adäquat in tatsächlichen Änderungen niedergeschlagen
hat.
Doch eines ist ganz deutlich geworden: Die Justiz hat
etwas mit Interessen zu tun, aber offenbar nur wenig mit
den Interessen der Bürgerinnen und Bürger, die in der bisherigen Diskussion als beinah beliebig einsetzbares Argument für ein Pro oder Kontra zu den einzelnen Regelungen der Justizreform vorkommen.
({0})
Wenn der Berliner Rechtssoziologie Rottleuthner auf
einem Forum die Ansicht äußerte, dass es in der Justizgeschichte wirklich noch in keinem Land eine Justizreform
gab, die auf irgendwelche Bedürfnisse und Artikulationen
der Bürger hin unternommen wurde, dann muss man - der
Wissenschaft Anerkennung zollend - auch einen vielleicht erstmalig andersartigen Gesetzentwurf einer kritischen Betrachtung unterziehen.
Zunächst möchte ich aber ausdrücklich die längst überfällige Justizreform unterstützen. Ich darf daran erinnern,
dass die deutsche Justiz in ihrer fast 130-jährigen Geschichte in den Grundstrukturen unverändert geblieben
ist. Wer da pauschal äußert, Bewährtes gelte es zu bewahren, der meint wohl ehrlicherweise, Besitzstände gelte es
zu verteidigen. Wer der Ministerin vorwirft, sie wolle sich
mit dieser Reform ein Denkmal setzen, dem kann ich nur
sagen: Soll man ihr doch ein Denkmal setzen,
({1})
wenn ihr eine wirklich große Reform gelingt und der Zivilprozess tatsächlich bürgernäher, effizienter und durchschaubarer wird wie versprochen.
Doch keine Angst: Zu einem Denkmal wird es nicht
kommen.
({2})
Dafür sorgt nicht nur die Opposition in diesem Hause,
sondern auch die vielen Juristen und ihre Verbände in unserem Lande, die schon lange nicht mehr so viel einigenden Widerstand gegen einen Justizminister - hier eine
Justizministerin - gezeigt haben.
({3})
Unter dem Strich der heftig geführten Auseinandersetzung steht jetzt ein Gesetzentwurf, der auf Kritiken eingeht und der auch Nachbesserungen enthält.
Unterstützenswert ist das grundsätzliche Vorhaben, die
erste Instanz so zu stärken, dass dort die Rechtsstreitigkeiten in der Regel erledigt werden. Für folgerichtig halte
ich in diesem Zusammenhang auch den Vorschlag, die
erste Instanz mit sozial kompetenten Richtern zu besetzen, die ausreichend Zeit haben, um gründlich zu arbeiten, das Gespräch mit den Parteien zu führen, Vergleichsvorschläge zu machen und verständliche Urteile zu
fällen.
Meine Zustimmung haben auch die geplanten Güteverhandlungen und die Möglichkeit der gütlichen Beilegung des Rechtsstreits in jeder Lage des Verfahrens durch
einen gerichtlichen Vergleich; denn eine einvernehmliche Konfliktregulierung bietet erfahrungsgemäß die beste
Möglichkeit, dauerhaft und kostengünstig Rechtsfrieden
herzustellen.
Für richtig erachte ich die Nachbesserung, dass Berufungen nicht zwingend an Einzelrichter übertragen werden und auch in der ersten Instanz auf bestimmten komplizierten Rechtsgebieten weiterhin die Kammern tätig
werden. Wenn künftig das Gericht per Geschäftsverteilungsplan selbst bestimmt, wo statt eines Einzelrichters
eine Kammer entscheiden soll, dann wäre dies nicht zuletzt eine Stärkung der Selbstverwaltung der Gerichte.
({4})
- Danke schön, Herr Stünker. - Der Verzicht auf die umstrittene Annahmeberufung ist sicher ebenfalls nicht zum
Schaden des Rechtsstaates.
Der sensibelste Punkt der Reform ist bekanntlich das
Rechtsmittelsystem. Hier sollten wir uns parteiübergreifend einig sein, dass der Rechtsschutz der Bürger nicht dadurch beschnitten werden darf, dass ihnen Überprüfungsmöglichkeiten in der zweiten Instanz genommen
werden.
({5})
Insofern ist es richtig, dass der Entwurf davon abrückt, die
zweite Instanz auf eine reine Überprüfung von Rechtsfehlern zu beschränken. Die jetzt vorgesehene leichte Öffnung, wonach nur in bestimmten Ausnahmefällen neue
Tatsachen vorgetragen werden können, dürfte jedoch
nicht ausreichend sein. Diese Regelung könnte sich in der
Praxis als eine erhebliche Beschränkung der Rechtsmittel
erweisen, von der die Gerichte extensiv Gebrauch machen
könnten. Die Verwerfungsmöglichkeit vermeintlich aussichtsloser Klagen in der zweiten Instanz - ohne mündliche Verhandlung - hat mit Bürgerfreundlichkeit allerdings nach meiner Auffassung eindeutig nichts zu tun.
({6})
Dagegen sehe ich in der Erhöhung der Chancen des Zugangs zum Berufungsverfahren durch die Senkung des
Wertes des Beschwerdegegenstandes auf 1 200 DM schon
jetzt eine Verbesserung des Rechtsmittelsystems. Auch
dass die Zulässigkeit von Revisionen nicht mehr vom
Streitwert, sondern von der Bedeutung eines Falles abhängen soll, ist ein Fortschritt.
Ob diese Reform allerdings zum Nulltarif zu haben ist,
wie es im Gesetzentwurf angenommen wird, ist mehr als
fraglich. Die Justizreform wird weiterer Stellen und vor
allem neu ausgebildeter Juristen bedürfen. Eine Reform
der Juristenausbildung, die die Intentionen dieser Justizreform berücksichtigt, sollte deshalb nicht lange auf sich
warten lassen.
({7})
Anderernfalls steht der Erfolg dieser Reform infrage, die
nicht ohne und schon gar nicht gegen die Akteure und insbesondere die künftige Juristengeneration realisiert werden kann.
Die rechtsuchenden Bürger haben einen Anspruch auf
eine in jeder Beziehung bürgerfreundliche Justiz. Doch
die Bürger sollten sich der Justiz, soweit möglich, wirklich nur als letzter Instanz bedienen. Bekanntlich verhält
sich die Wirtschaft, weil sie es sich leisten kann und muss,
schon seit geraumer Zeit so. Was ich sagen will: Im Interesse der Bürger und auch zur Entlastung der Justiz muss
mehr zur präventiven Konfliktvermeidung getan werden. Qualifizierte und spezialisierte Rechtsaufklärung,
die für die Bürgerinnen und Bürger unkompliziert und
kostengünstig zu erlangen ist, und außergerichtliche
Schlichtung müssen unbedingt auch weiterhin gefördert
werden.
Ich halte es auch nicht für sinnvoll - und da stimme ich
ausnahmsweise mit meinem Kollegen Herrn Geis
({8})
und auch mit Herrn Funke, wobei es da nicht ganz so ausnahmsweise ist, überein -, dass nach dem jetzt vorliegenden Koalitionsentwurf weiterhin an einem Regierungsentwurf zur Justizreform gebastelt wird, der dann mit weiteren Verbesserungen nachgeschoben wird. Entweder ist
man mit einem Gesetzentwurf fertig oder man muss seine
Arbeit erst beenden. Für Testläufe im Parlament fehlt einfach die Zeit.
Apropos Testlauf: Die Simulation des Verfahrens in
Nordrhein-Westfalen war den offiziellen Mitteilungen zufolge nicht problemlos. Vielleicht kann die Frau Justizministerin dazu nachher auch noch etwas sagen.
Warum also, liebe Kollegen von der SPD und dem
Bündnis 90/Die Grünen, haben Sie sich nicht die Zeit genommen, diese Erfahrungen ausreichend zu berücksichtigen? Nun steht zu befürchten, dass in der Praxis unnötigerweise unerwünschte Effekte auftreten, die dann wieder
nachgebessert werden müssen - vielleicht kommen wir in
der Anhörung darauf zu sprechen -, und das kann nicht im
Interesse der Bürgerinnen und Bürger liegen.
Danke.
({9})
Nächster Redner ist
der Kollege Hermann Bachmaier für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich mich bei
der Bundesjustizministerin dafür bedanken, dass sie ein
so bedeutendes Gesetzgebungsverfahren wie die Zivilprozessreform entschlossen angepackt und in einem offenen und transparenten Verfahren auf den Weg gebracht
hat.
({0})
Wann, meine Damen und Herren, wurde jemals über
Probleme der Justiz, über Rechtsmittel und gerechte Verfahren in der Fachöffentlichkeit und weit darüber hinaus
schon zu Beginn eines Gesetzgebungsverfahrens so breit
und bisweilen auch heftig diskutiert wie bei der anstehenden Zivilprozessreform, die der erste Schritt einer grundlegenden Modernisierung der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist? Dies ist gut so und kann der Qualität eines so bedeutenden Vorhabens nur dienlich sein.
Justizreform ist kein Anliegen, das nur in eingeweihten Fachkreisen unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit debattiert werden kann. Nicht nur Richter,
Anwälte und die engere Fachöffentlichkeit haben einen
Anspruch darauf, sich an dieser Diskussion zu beteiligen,
Kritik zu üben und Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten.
Diese Diskussion, die seit der Vorstellung des Referentenentwurfs durch das Justizministerium geführt worden
ist, hat zu vielen bedenkenswerten Verbesserungsvorschlägen geführt. Sie hat ihren Niederschlag in dem jetzt
vorliegenden Koalitionsentwurf gefunden. Das ist hier
schon erwähnt worden.
Nicht diejenigen, die in oft überzogener Fundamentalkritik alle Reformvorschläge abgelehnt haben und geradezu paradiesische Zustände einer längst reformbedürftigen Ziviljustiz an die Wand gemalt haben, haben sich
Gehör verschafft, sondern diejenigen, die mit fachlich
fundierten und ausgefeilten Vorschlägen zur Fortschreibung des Referentenentwurfs beigetragen haben.
({1})
Wenn man wie ich über mehrere Legislaturperioden
hinweg immer wieder erleben musste, dass durch regelmäßig wiederkehrende Rechtspflegevereinfachungsgesetze - der Kollege Stünker hat schon darauf hingewiesen - ohne viel Federlesen an der Streitwertschraube gedreht wurde, um die gewünschten Entlastungseffekte zu
erzielen, ist man von manchen Tönen in der jetzt geführten Diskussion schon etwas überrascht.
In der letzten Legislaturperiode - darauf ist hingewiesen worden - wären um Haaresbreite der originär zuständige Einzelrichter bis zu einem Streitwert von 30 000 DM,
der allein entscheidende Einzelrichter in Berufungs- und
Beschwerdeverfahren beim Landgericht, die Erhöhung
der Berufungssumme auf 2 000 DM und die Möglichkeit,
Berufungen bis zu einem Streitwert von 60 000 DM durch
einstimmigen Beschluss abzulehnen, fester Bestandteil
der Zivilprozessordnung geworden.
({2})
Wo waren da eigentlich diejenigen, die heute so lautstark
Kritik an diesen Entwürfen üben?
Durch die Strategie der früheren Rechtspflegevereinfachungsgesetze waren wir auf dem nicht ungefährlichen
Weg, eine Art Zweiklassenjustiz zu schaffen,
({3})
bei der die oft so wichtigen Streitfälle des täglichen Lebens kaum noch die Chance gehabt hätten, durch eine
weitere Instanz geprüft zu werden, während den Verfahren mit den höheren Streitwerten nach wie vor sämtliche
Instanzen unseres durchgegliederten Justizsystems zur
Verfügung gestanden hätten.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, gerne.
Herr Kollege Bachmaier, wir sind ja fast im selben Justizsprengel. Sie haben sich bei diesem verhinderten Gesetz besonders dafür eingesetzt, dass die Amtsgerichte die
Handelsregisterhoheit behalten. Sie haben die Amtsgerichte offenbar lieb gewonnen.
Ja!
Würden Sie mir zustimmen, dass bei dem jetzigen Gesetzentwurf im Grunde genommen die Dreistufigkeit vorgeplant ist und dass man dann - auch das ist eine Frage
der Bürgernähe - bei der Berufung statt, wie bisher, zum
Beispiel von Ihrem Amtsgericht Crailsheim 20 Kilometer
bis zum Landgericht Ellwangen in Zukunft 120 oder
130 Kilometer bis zum Oberlandesgericht Stuttgart fahren
muss? Wie wollen Sie das Ihrer Klientel und der Bevölkerung Ihres Kreises klarmachen?
({0})
Herr Kollege
Dr. von Stetten, ich bin dankbar für diese Frage, zumal der
uns beiden wohl bekannte Chef des Amtsgerichtes Crailsheim diesem Reformvorhaben heute in der Lokalpresse
großes Lob gezollt hat.
({0})
Dieser Amtsgerichtsdirektor steht nicht in der Gefahr, als
Sozialdemokrat verdächtigt zu werden. Das ist der erste
Punkt.
Der zweite Punkt. Sie wissen genau wie ich, dass man
in Familienstreitsachen, zum Beispiel im Unterhaltsstreit,
auch zwischen Parteien, die nicht unbedingt zu den begütertsten gehören, seit über 20 Jahren ganz selbstverständlich zum Oberlandesgericht Stuttgart fährt.
({1})
Ich meine, das ist der Qualität der Rechtsprechung vor Ort
nicht schlecht bekommen.
({2})
Für gute Zwischenfragen ist man immer dankbar.
Der Streitwert alleine aber ist kein hinreichendes Kriterium, um die Bedeutung eines Zivilverfahrens zu bewerten und zu ermessen. Beträge, die die einen aus der
Portokasse entrichten können, sind für andere von existenzieller Bedeutung und müssen auch von den Gerichten
entsprechend behandelt werden.
Der vorliegende Entwurf macht Schluss mit dem ständigen Drehen an der Streitwertschraube. Dieser Gesetzentwurf fördert durch neu gewichtete Instrumentarien des
Zivilprozessrechtes das erstrebenswerte Ziel, möglichst
in der ersten Instanz zu einem vernünftigen und gerechten
Ergebnis zu kommen.
Diesem Ziel dienen umfassende Aufklärungspflichten und ein sich daraus ergebendes höchst transparentes
Verfahren, das den Prozessbeteiligten in weit größerem
Umfange als heute die Möglichkeit bietet, Fehleinschätzungen schon innerhalb der ersten Instanz zu korrigieren
und damit zu einer umfassenden Prüfung des Streitgegenstandes beizutragen. Das Ergebnis werden zahlreichere
gütliche Streitbeilegungen sein, deren Gerechtigkeitsgehalt von beiden Seiten akzeptiert werden wird.
Ich kann nicht verstehen, dass von richterlicher Seite
mit dem Hinweis, dass dies in aller Regel schon heute geschehe und deshalb nicht noch gesetzlich festgeschrieben
werden müsse, wieder Klage über die erweiterten Aufklärungspflichten gemäß § 139 des Entwurfes geführt wird.
Wenn das so ist, dann können auf diejenigen Richterinnen
und Richter, die sich schon heute so vorbildlich verhalten,
keine zusätzlichen Belastungen, zukommen.
Mit dem Entwurf in seiner jetzigen Fassung werden
aber auch im Rahmen der zweiten Instanz, die meines Erachtens aus gutem Grunde beim Oberlandesgericht konzentriert wird, vernünftige Überprüfungs- und Korrekturmöglichkeiten geschaffen.
Die nach Vorlage des Referentenentwurfes geführte
Diskussion hat mit dazu beigetragen, neben einer umfassenden Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils auf
Rechtsfehler umstrittene und zweifelhafte Tatsachenfeststellungen der ersten Instanz auf den Prüfstand der Berufungsinstanz zu nehmen; Herr Geis hat dankenswerterweise darauf hingewiesen. Damit ist eine umfassende
Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils auf jedwede
Mängel hin gewährleistet.
({3})
Mit diesem Entwurf blieb man aber aus gutem Grunde
dabei, den Weg in die zweite Instanz, Herr Geis, nur dann
zu eröffnen, wenn tatsächlich Korrekturbedarf an der erstinstanzlichen Entscheidung besteht.
({4})
Diesem Ziel dient der vorgeschaltete Filter durch den Berufungssenat. Er erhält die Befugnis, nach vorherigem begründeten Hinweis und der Möglichkeit der Parteien,
dazu Stellung zu nehmen, das Berufungsrechtsmittel einstimmig dann zu verwerfen, wenn es keinerlei Erfolgschancen gibt.
({5})
- Transparenz haben Sie noch nie gemocht; das zeigen
auch Ihre Zurufe.
({6})
Auch die Abschaffung der Streitwertrevision ist überfällig. Denn wir wollen Ernst machen mit der Forderung,
für alle Verfahren, die über einen Bagatellstreitwert
hinausgehen, gleiche prozessuale Instrumentarien zur
Verfügung zu stellen. Damit beseitigen wir die bisherige willkürliche Grenze des Revisionsstreitwertes von
60 000 DM.
Ich halte es für eine sinnvolle und gute Aufgabenzuweisung, einerseits eine Kammerbefassung beim Landgericht dann vorzusehen, wenn einzelne Kammern mit
Schwerpunktaufgaben betraut sind, und andererseits im
Übrigen den originären Einzelrichter mit dem erstinstanzlichen Verfahren zu betrauen. Der neu zu fassende
§ 348 der ZPO legt es weitgehend in die Hand der einzelnen Landgerichte, in welchem Umfange Kammern und in
welchem Umfange originäre Einzelrichter für das erstinstanzliche Verfahren bei den Landgerichten zuständig
sind.
Ich möchte die hohe Kompetenz der Zivilkammern
nicht infrage stellen. Es sollte aber nicht verkannt werden,
dass Einzelrichterinnen und Einzelrichter den Prozessstoff auch bei hohen Streitwerten häufig im Dialog mit
den Prozessbeteiligten einer gerechten und von den Parteien akzeptierten Lösung zuführen. Die uns vorliegenden
Zahlen und vielfältige eigene Erfahrungen als Anwalt bei
der Betreuung von Zivilprozessen untermauern diese
Feststellung.
Meine Damen und Herren, ich bin nach wie vor praktizierender Anwalt und vertrete nicht selten Parteien, deren Geldbeutel nicht gerade prall gefüllt ist. Auch deshalb
bin ich überzeugt davon, dass der jetzt vorliegende Entwurf mit den darin gefundenen Lösungen wieder zu mehr
Verfahrensgerechtigkeit führt.
({7})
Denn wir werden damit zügiger zu gerechten Lösungen
kommen und wir räumen den Rechtsuchenden wieder die
gleichen prozessualen Möglichkeiten ein, die sie unabhängig von der Höhe des Streitwertes für ihre Verfahren
beanspruchen können. Das ist eines der entscheidenden
Ziele dieses Entwurfes. Damit wird endlich Ernst gemacht. Wie gesagt, wir wollen keine Zweiklassenjustiz,
einerseits für die Verfahren de luxe und andererseits für
die Verfahren des täglichen Lebens.
Herzlichen Dank, meine Damen und Herren.
({8})
Nächster Redner in
der Debatte ist der Kollege Norbert Röttgen, CDU/CSUFraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die rechtsstaatliche Ausgestaltung des Zivilprozesses geht nicht nur Anwälte, Richterinnen und Richter an, sondern alle Bürger in
unserem Lande. Ungefähr 4 Millionen Bürgerinnen und
Bürger führen jedes Jahr einen Zivilprozess. So viele
Menschen sind also von Ihrem Projekt betroffen. Es ist
natürlich ein Vorteil für Sie, dass viele noch gar nicht daran denken, vielleicht in einigen Monaten einen solchen
Prozess führen zu müssen. Trotzdem ist es eine wichtige
Frage, ob Bürgerrechtlichkeit in unserem Land durch Ihr
Projekt gefördert oder behindert wird.
({0})
Ein faires, effektives Verfahren, das die Akzeptanz der
Bürger findet und für Rechtsfrieden sorgt, beruht immer
auf dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Deshalb müssen wir darüber reden, ob die Rechtsstaatlichkeit gefördert wird.
({1})
Nach Ihren Plänen, den Plänen der rot-grünen Bundesregierung, wird die rechtsstaatliche Qualität des Zivilprozesses ausgehöhlt;
({2})
denn Sie verringern den gerichtlichen Rechtsschutz des
einzelnen Bürgers in massiver Weise und belasten den Zivilprozess mit praxisferner Formalisierung und Bürokratisierung. Das ist das einhellige Urteil der Bundesrechtsanwaltskammer, des Deutschen Anwaltvereins, des Richterbundes und der Wirtschaftsverbände:
({3})
Dies ist ein rechtsstaatsfeindliches Projekt.
({4})
Ihr Referentenentwurf wurde seitens der Gesellschaft
einhellig kritisiert. Wir waren doch dabei. Und es ist nicht
sinnvoll, etwas zu bestreiten, was jeder weiß. Mit dem
Versuch, so zu tun, als hätten Sie diese Kritik in Ihren
Gesetzentwurf einfließen lassen, betreiben Sie gezielt ein
Täuschungsmanöver. Sie haben sich getreu Ihrem allgemeinen Regierungsmotto verhalten: Sie haben in diesem
Gesetzentwurf einiges anders, aber nichts besser gemacht.
Denn Sie sind nur scheinbar auf die Kritik eingegangen.
Ich will meine gerade vorgetragene Einschätzung an
einigen Punkten konkret festmachen.
({5})
Die Axt wird insbesondere beim Berufungsverfahren
angelegt. Darum einige Bemerkungen zur Bedeutung dieses Verfahrens: Das Berufungsverfahren ist für die Qualitätssicherung schon in der ersten Instanz wichtig. Das
Wissen des erstinstanzlichen Richters und des Gerichts,
dass es eine effektive Berufung gibt, ist wichtig für die
Qualität des erstinstanzlichen Urteils. Dies hat eine
präventive Wirkung; das ist völlig unbestritten.
({6})
Das Wichtigste an der Berufung aber ist - ich bin als
Rechtsanwalt beim Oberlandesgericht zugelassen und
höre, was diejenigen, die eine jahrzehntelange Berufungserfahrung haben, sagen -, dass die unterlegene Partei noch einmal vortragen kann und gehört werden kann.
Natürlich will sie Recht bekommen. Das Wichtigste
aber im Sinne des Rechtsfriedens - und nur einer kann
Recht bekommen - ist, dass sie den Sachverhalt noch einmal vortragen kann, weil der erstinstanzliche Richter sie
möglicherweise nicht verstanden hat.
({7})
Genau da aber setzen Sie an. Diese Möglichkeit beseitigen Sie, obwohl sie in der Praxis Erfolge aufweist.
({8})
Natürlich leben wir nicht im Paradies, es gibt Verbesserungsbedarf. Im europäischen Vergleich aber haben wir
Spitzenwerte zu verzeichnen. Von 1,6 Millionen Amtsgerichtsprozessen pro Jahr werden 94 Prozent rechtskräftig abgeschlossen, und zwar in einer durchschnittlichen
Bearbeitungszeit von viereinhalb Monaten. Dies werden
Sie beeinträchtigen; Sie werden den Prozess verlangsamen. Das wird das Ergebnis sein.
Warum wird es dazu kommen? Wir müssen uns fragen,
was die Konzentration aller Berufungen beim Oberlandesgericht für die Bürger bedeutet; denn ich glaube, dass
wir dieses Projekt aus der Perspektive des Bürgers beurteilen müssen. Ich sage Ihnen, was das heißt, was rotgrüne Bürgernähe bedeutet.
Nehmen Sie den Fall eines Häuslebauers aus Buchen
im Odenwald, der Ärger mit seinen Handwerkern hatte.
Er musste nach gegenwärtiger Rechtslage für die Berufung zum nahe gelegenen Landgericht Mosbach; das ist
nur einige Kilometer entfernt. Wenn es nach Rot-Grün
geht, muss dieser Häuslebauer in Zukunft über 100 Kilometer zum Oberlandesgericht nach Karlsruhe fahren. Ist
das Bürgernähe, meine Damen und Herren?
({9})
Sie entfernen die Justiz geradezu von dem Bürger. Das ist
rot-grüne Bürgernähe - Bürgerferne, versteckt unter einem anderen Etikett. Sie betreiben ein Täuschungsmanöver.
Natürlich ist das Ganze auch - das füge ich in Parenthese an - eine parteipolitische Auseinandersetzung,
meine Damen und Herren. Aber ich sage jetzt einmal in
ruhigem Ton - ich hoffe, Sie nehmen es mir ab; ein bisschen kennen wir uns ja -: Sie legen die Axt an die rechtsstaatliche Qualität des Zivilprozesses.
({10})
Ein zweites Beispiel: Sie haben zwar das Annahmeverfahren im Zusammenhang mit Berufungsverfahren beseitigt, aber die Möglichkeit geschaffen, dass über die Berufung nicht in der Sache, sondern folgendermaßen entschieden wird: Der erstinstanzlich Unterlegene legt
Berufung ein und das Berufungsgericht kann, ohne dass
eine mündliche Verhandlung vorgeschrieben wäre, aufgrund einer Prognose unanfechtbar dem Bürger kurz
schriftlich mitteilen, dass über seine Sache nicht mehr geredet werde. Das ist Schreibtischjustiz!
({11})
Das ist rot-grüne Transparenz, wenn der Bürger nicht einmal die Möglichkeit hat, sein Anliegen noch einmal vorzutragen! Vom Schreibtisch wird ihm kurz schriftlich beschieden: Über deine Sache reden wir nicht mehr. So sieht
rot-grüne Bürgerfreundlichkeit aus.
Herr Kollege Röttgen,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
({0})
Ja, gerne.
Herr Kollege Röttgen, so
temperamentvoll und auch so polemisch wie heute habe
ich Sie noch gar nicht erlebt.
Sehr sachlich!
Das ist ein völlig neuer Eindruck.
Stimmen Sie mir zu, dass Sie genau das 1998 hier im
Deutschen Bundestag beschlossen haben?
Nein. Ich komme
gleich dazu.
Doch. Im damaligen Entwurf stand, dass bei Berufungen bis zum Streitwert bis zu
60 000 DM die Berufung im Beschlusswege als offensichtlich unbegründet verworfen werden kann. 1998
wurde dieses Gesetz hier beschlossen. Es erlangte nur
deshalb keine Rechtskraft, weil die Geschichte mit den
Handelsregistern hinzugekommen ist. Das war damals
das einzige Hindernis. Jetzt brandmarken Sie das als rotgrüne Chaospolitik. Können Sie sich dazu einmal erklären?
„Rot-grüne Chaospolitik“ ist ein interessanter Begriff. Ich habe ihn noch
nicht verwendet.
({0})
Aber wenn Sie ihn selber verwenden, spricht aus dieser
Assoziation einiges, was Ihre wirkliche Einschätzung anbelangt.
Ich stelle in den Diskussionen immer wieder fest, dass
Sie von Ihrem Gesetzentwurf ablenken. Sie verteidigen
diesen Referentenentwurf nicht, sondern sagen, dass es
noch einen anderen Vorschlag gebe, den Sie auch nicht
wollten. Wenn Sie hinter diesem Gesetzentwurf, der ja
nicht von Ihnen stammt, aber aus taktischen Gründen von
Ihnen eingebracht wird, stehen und ihn für richtig halten ich verfolge Ihre Logik in der Argumentation weiter - und
dann sagen, wir hätten in der letzten Legislaturperiode das
Gleiche vorgeschlagen, was ich bestreite - wir hatten ein
Gesamtkonzept vorgeschlagen -,
({1})
dann frage ich Sie: Warum haben Sie denn, wenn es das
Gleiche war, nicht zugestimmt? Dann hätten Sie in der
letzten Legislaturperiode doch zustimmen können.
({2})
- Das haben sie nicht getan. Wir haben ein Gesamtkonzept vorgelegt.
Ich bestreite übrigens nicht den punktuellen Verbesserungsbedarf in der Justiz. Sie versuchen, Geld zu sparen.
Aber Ihre Rechnung geht nicht auf. Die Justizminister
werden Ihnen vorrechnen, dass Sie die Justiz teurer machen und auch noch den Rechtsschutz der Bürger verkürzen.
Ich nenne ein drittes konkretes Beispiel dafür, dass Sie
den Rechtsschutz der Bürger beschneiden: Sie schaffen
die Revision beim Bundesgerichtshof als Mittel des Individualrechtsschutzes ab; Kollege Geis hat es schon gesagt. In Zukunft wird die Revision nicht mehr dazu da
sein, die individuellen Rechte der Bürger zu schützen. Es
kann sein, dass ein Bürger nach der Berufung - da kann
es um 100 000 DM, 1 Million DM oder 10 Millionen DM
gehen - Revision einlegt. Der BGH könnte die Auffassung vertreten, das Urteil des Oberlandesgerichtes sei
falsch, der Revisionsführer sei zu Unrecht zu einer Leistung von 10 Millionen DM verurteilt worden. Da dieser
Fall nach dem neuen Gesetz aber keine grundsätzliche
Bedeutung hat, hat der BGH keine Möglichkeit mehr, auf
diesen Fall zuzugreifen. Das ist eine wirklich eklatante
Verletzung des Prinzips der materiellen Gerechtigkeit. Sie
schaffen die Revision als Mittel des Individualrechtsschutzes ab. Das ist rot-grüne Bürgerfreundlichkeit,
meine Damen und Herren!
({3})
- Sie müssen das einfach zur Kenntnis nehmen. Es ist so.
Die gesamte Fachwelt, die Richter, die Anwälte und die
Wissenschaftler sagen Ihnen das.
({4})
Alle sagen es Ihnen, nur, Sie nehmen es nicht zur Kenntnis. Sie können sich natürlich als Betonfraktion aufführen,
aber Sie werden damit keinen Erfolg haben.
({5})
- Ich war noch vor kurzem mit Ihrem niedersächsischen
Justizminister, der das übrigens auch nicht verteidigt, da;
das wollte ich nur nebenbei sagen.
Die erste Instanz, die bislang erfolgreich ist, wird durch
Formalisierungen, Hinweispflichten und Dokumentationspflichten aufgebläht. Das wird dazu führen, dass jetzt
alles erstinstanzlich vorgetragen werden muss. Das führt
zur Verlangsamung der Justiz, die bis jetzt gut funktioniert. Die Richter sagen uns: Erhaltet uns unsere Flexibilität. Es ist rot-grüne Effizienz, die Verfahren schwieriger,
bürokratischer und langsamer werden zu lassen.
({6})
Von der Einschränkung der Prüfung des Tatsachenvortrags in der Berufungsinstanz ist schon gesprochen worden. Sie wird dazu führen, dass in der Berufung nicht
mehr über die Sache, sondern über Formalien gestritten
wird: Wurde erstinstanzlich richtig belehrt? Ist der Hinweis dokumentiert worden? Es wird nur noch über die
Formalien und nicht mehr über die Sache gestritten, und
das werden die Bürger nicht verstehen. In zweiter Instanz
wird der Zeuge nicht mehr gehört, sondern es wird darüber gestritten werden, ob er in der ersten Instanz richtig
angehört worden ist.
Das verstehen die Bürger nicht. Sie fragen: Warum darf
ich hier nicht reden? Sie verbieten dem Bürger den Mund
vor Gericht. Das ist das Kernanliegen Ihres Vorhabens,
das ist Ihr Kerninstrument.
({7})
Er soll nichts mehr sagen. Das ist Rechtspolitik à la RotGrün.
Das ist eine Reform gegen die Anwältinnen und Anwälte in unserem Land. Hundertausend Anwälte in unserem Land haben das so artikuliert. Es ist eine Reform gegen die Richterinnen und Richter. Es ist eine Reform gegen die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land. Es ist
eine bürgerfeindliche Reform. Sie können sie verabschieden, sie wird aber keinen Bestand haben. Ein derartiges
Projekt ist nicht bestandsfähig, und das wissen Sie auch.
Sie reden anders, als Sie es wissen; dafür kenne ich Sie gut
genug.
Es ist doch interessant, dass sich jetzt diejenigen, die
sich sonst immer als Rechtsstaatsparteien gerieren,
({8})
nämlich die Grünen und die SPD, hier als Betonfraktionen aufführen. Sie wissen, was für Sie auf dem Spiel steht.
Das ist der Preis, den Sie für ein Prestigeobjekt der Bundesjustizministerin zahlen müssen.
({9})
Wenn Sie als Betonfraktion sekundieren und sich Ihren eigenen Verstand und Ihre eigene Meinung verbieten lassen, werden Sie dafür als Grüne und SPD einen hohen politischen Preis zahlen müssen.
({10})
Sie brauchen sich als Parteien des rechtsstaatlichen
Schutzes der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr blicken
zu lassen. Das wird Ihnen keiner mehr abnehmen. Darüber werden wir die öffentliche Debatte führen.
Die Vernunft sollte bei Ihnen wieder einkehren. Reden
wir über vernünftigen punktuellen Reformbedarf! Dieses
Vorhaben aber, das sich gegen die Bürger, gegen den
Rechtsschutz der Bürger vor Gericht wendet, wird unsere
scharfe Ablehnung erfahren. Es findet auch die scharfe
Ablehnung innerhalb der gesamten Gesellschaft und der
Gruppierungen, die sich mit dem Zivilprozess befassen.
Ändern Sie Ihre Haltung! Kehren Sie zur Vernunft
zurück, dann wird es auch eine vernünftige Reform geben.
Herzlichen Dank.
({11})
Nächster Redner für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist der Kollege
Helmut Wilhelm.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich freue mich sehr, dass wir heute mit der ersten Lesung des Gesetzentwurfs eine neue, moderne und
ausgewogene Zivilprozessordnung auf den Weg bringen.
({0})
Ein Vorhaben, das die Vorgängerregierung nur sehr
halbherzig in Angriff genommen hat, nimmt unter RotGrün nunmehr konkrete Gestalt an und wird zu einer Vielzahl von Verbesserungen führen. Viel mehr Verfahren als
bisher können zukünftig beschleunigt erledigt werden,
und zwar endgültig bereits in erster Instanz. Dies kommt
vor allem den rechtsuchenden Bürger zugute.
Wenn durch die Justiz bekanntermaßen leider nicht immer allseits befriedigende Gerechtigkeit geschaffen werden kann, so ist es doch schnelle Rechtsklarheit, die Kläger und Beklagte von der Justiz erwarten können, und
zwar schon in erster Instanz. Es gibt kein meist unbegründetes und damit sinnloses Hoffen auf eine zweite Instanz, kein unnützes Verschleudern von Zeit, Geld und
Nerven. Die finanzschwächere Prozesspartei muss keine
Angst haben, wegen des vom finanzstarken Gegner angedrohten Marsches durch die Instanzen die Segel streichen
und berechtigte Forderungen in den Wind schreiben zu
müssen.
Bewerkstelligt wird dies durch die schon mehrfach angesprochene Stärkung der ersten Instanz - die mir als
ehemaligem Richter besonders am Herzen liegt - verbunden mit der Möglichkeit, aussichtslose Berufungen
zukünftig wesentlich schneller als nach der bisherigen
Gesetzeslage zu erledigen.
Diese Errungenschaft wird nicht nur - wie schon von
meinen Vorrednern mehrfach dargestellt wurde - ohne
Rechtsbeschränkungen der Prozessparteien festgeschrieben. Gegenteilige Äußerungen sind schlichtweg falsch.
Vielmehr wird damit zusätzlich ein transparenteres und
gerechteres Rechtsmittelsystem geschaffen. Es kommt zu
einer klaren Gliederung in Eingangsgerichte, nämlich
Amts- und Landgerichte, in die Berufungsinstanz Oberlandesgericht und in die Revisionsinstanz BGH, so ähnlich, wie es heute schon in Familien- und Mietsachen der
Fall ist.
Kerngedanke der Reform ist - auch dies wurde schon
mehrfach gesagt - die Stärkung der Eingangsgerichte
mit dem Ziel, in erster Instanz den dem Rechtsstreit zugrunde liegenden Sachverhalt möglichst umfassend und
sorgfältig zu ermitteln und darüber rechtlich zu entscheiden, sofern nicht bereits durch die vorgeschaltete Güteverhandlung einverständlich Rechtsfrieden geschaffen
werden konnte.
Das heißt aber auch, dass dort die Richterzahl erhöht
werden muss, um das Reformziel erreichen zu können.
700 oder 800 Fälle pro Jahr - über so viele Fälle hat ein
Amtsrichter heute im Durchschnitt zu entscheiden - lassen keine sorgfältige Arbeit mehr zu. Hier ist eine personelle Stärkung zwingend geboten. Angesichts dessen
wundere ich mich schon etwas, wenn ich zumindest in
Bayern ständig erlebe, dass CSU-Kollegen aus dem Bundestag inzwischen häufig mit ihren örtlichen Mandatsträgerkollegen durch das Land tingeln und dort das Gespenst
der angeblich als Folge der rot-grünen Reform notwendigen Auflösung von 50 Prozent aller Amtsgerichte sowie
sämtlicher amtsgerichtlicher Zweigstellen an die Wand
malen. Meine Damen und Herren, da haben Sie aber die
Intention dieser Reform gründlich missverstanden:
({1})
Stärkung ist angesagt, nicht Schwächung.
Überhaupt ist die Gerichtsorganisation Ländersache
und wird durch diese ZPO-Reform in keiner Weise
berührt. Ich vertrete entschieden die Ansicht, dass die Eingangsgerichte wohnortnah sein müssen. Es ist richtig,
dass die Zahl der Berufungsgerichte durch die Konzentration bei den Oberlandesgerichten reduziert wird. Bei
Miet- und Familiensachen ist dies schon lange so und
nichts hindert die für die Gerichtsorganisation zuständigen Länder, deren Zahl zu vergrößern oder aber auswärtige Senate einzurichten, wie dies vielfach schon der Fall
ist.
({2})
Nachdem der Kern dieser Reform auf der Basis beruht,
die die noch von der früheren Bundesregierung eingesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe erarbeitet hat, deren
Vorsitz bekanntlich ein Vertreter des CSU-geführten
Bayerischen Staatsministeriums der Justiz innehatte,
hätte ich eigentlich mit etwas mehr Zustimmung seitens
der CDU/CSU-Fraktion gerechnet. Aber Sie haben ja
noch Zeit. Sie können es sich noch überlegen.
Danke schön.
({3})
Jetzt spricht der Justizminister des Landes Baden-Württemberg, Dr. Ulrich
Goll.
Dr. Ulrich Goll, Minister ({0}): Frau
Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die
Eile, mit der der Entwurf über die Bühne gebracht werden
soll, ist verdächtig. Dies muss natürlich insbesondere im
Hinblick darauf Verdacht erregen, dass es darum gehen
könnte, lästige Kritiker abzuschütteln, indem man jetzt
Festlegungen trifft, und sozusagen die Pflöcke einschlägt.
Ein solches Verfahren ist verhängnisvoll, da die Kritiker
in der Sache Recht haben und da sie aus den Ländern
kommen, und zwar ohne Rücksicht auf die Zusammensetzung der Regierungen dort. Was Sie hier beschließen,
müssen wir in den Ländern umsetzen.
Ich nehme an, dass Sie genau wie wir eine Synopse der
wesentlichen Punkte der zunächst vorgelegten Reform erstellt haben. Wir haben geprüft: Wer ist dafür - Pluszeichen -, wer ist dagegen - Minuszeichen -, wer enthält
sich? Ich hoffe, Sie haben das genauso geprüft wie wir.
Dann wissen Sie, dass es viele waagerechte Striche gab,
also Minuszeichen, einige Enthaltungen und ganz wenige
Pluszeichen. Sie haben darauf reagiert und einen neuen
Entwurf vorgelegt, allerdings in einem Hauruckverfahren, wie ich es empfinde.
Obwohl ich für ein Land spreche, das diese Reform
umzusetzen hat, bin ich nicht in der Lage, Ihnen schon
jetzt zu sagen, wie sie sich in der Praxis auswirkt. Wir haben bei dem Simulationstest in Nordrhein-Westfalen gemerkt, dass es auf die Details ankommt und dass man das
erst einmal ausprobieren muss. Ich kenne diesen Entwurf
erst seit einer Woche.
({1})
- Ich muss deswegen zu diesem Entwurf reden, weil Sie
ihn in den Bundestag einbringen. Genau das kritisiere ich;
(Hans-Christian Ströbele ({2})
denn Sie wollten mit diesem Verfahren erreichen, dass andere, deren Stimme Sie offensichtlich überhören möchten, nicht mitreden können.
({3})
Aber schon jetzt kann ich Ihnen ganz sicher sagen: Eines kann in diesem Entwurf so nicht stehen bleiben und
das ist die Konzentration der Rechtsmittel beim Oberlandesgericht, die Verlagerung der Berufungsverfahren
auf das Oberlandesgericht.
Haben Sie eigentlich schon einmal ausgerechnet, was
das kostet? Wir haben das getan. Nehmen Sie zum Beispiel die Stadt Ravensburg - kein flaches Land -, eine
schöne, alte Stadt am Bodensee.
({4})
Sie hat viele Einwohner, ein Amtsgericht, ein Landgericht. Gehen wir von einem Fall mit einem Streitwert von
5 000 DM aus. Es gibt Parteien, Anwälte, Zeugen. Wenn
Sie die Berufung nach Stuttgart verlagern, dann ergeben
sich allein 2 000 DM Reisekosten. Das ist die heutige
Rechnung.
({5})
- Sie können unsere Zahlen gerne überprüfen. Ich will Ihnen nur vor Augen führen, wie sich das, was Sie beschließen möchten, in den Ländern auswirkt. Sie können
natürlich dazwischenrufen und sich die Ohren zuhalten,
aber das sind die Zahlen.
({6})
Nehmen Sie einmal die Berufungsverfahren, die bei
uns ans OLG verlagert werden müssten. Ich ziehe alle
Verfahren ab, die ohnehin in Karlsruhe und Stuttgart laufen; weitere Wege gibt es nicht. Ich ziehe die Verfahren
ab, in denen es keine mündliche Verhandlung gibt. Dann
bleiben etwa 4 000 Fälle übrig. Ich setze etwa die Hälfte
der Last des Ravensburger Falls an; das ist, glaube ich,
eine zurückhaltende Rechnung. Heraus kommen an die
3 Millionen DM, die die Parteien für Ihr neues Berufungsverfahren zu tragen haben. Damit ist nun wirklich
alles zum Thema Bürgernähe gesagt, das Sie vorhin uns
näher zu bringen versucht haben.
({7})
Ich nenne Ihnen noch einen weiteren Grund, den Sie
nicht unterschätzen dürfen. Wenn Sie in der Berufungsinstanz weitere Beweisaufnahmen durchführen, was ein
richtiger Schritt ist, wenn Sie in der Berufungsinstanz Tatsachenüberprüfungen zulassen, dann müssen Sie diese Instanz in der Nähe lassen. Sie sollte zum Beispiel die örtlichen Verhältnisse kennen. Wenn Sie in zweiter Instanz
Beweisaufnahmen vorsehen, dann müssen Sie eigentlich
schon aus einer inneren Logik heraus das Verfahren bei
Helmut Wilhelm ({8})
den Landgerichten belassen, weil sich die Oberlandesgerichte da nicht genug auskennen und bei der Tatsachenüberprüfung einen erhöhten Aufwand betreiben müssen.
Die Dreistufigkeit erscheint am Horizont. Es gibt
keine einzige klare Äußerung, mit der Sie sich von der
Dreistufigkeit distanziert haben. Diese Konzentration der
Rechtsmittel beim OLG geht in Richtung Dreistufigkeit.
Wenn Sie all Ihre Reformschritte verwirklicht haben,
wäre es konsequent, ein einheitliches Eingangsgericht
vorzusehen.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Dr. Ulrich Goll, Minister ({0}):
Natürlich.
Herr Minister,
Sie haben eben die Probleme mit der Verlagerung der Berufungsverfahren zu den Oberlandesgerichten geschildert. Nun kennen Sie sich gerade in Freiburg sehr gut aus,
wo Sie als Landtagskandidat antreten werden. Deshalb
die Frage gezielt zu Freiburg: Sind Sie mit mir der Auffassung, dass die Außensenate des Oberlandesgerichts
Karlsruhe in Freiburg sehr gut funktionieren? Sind Sie
nicht auch der Meinung, dass dieses Modell die von Ihnen
geäußerten Befürchtungen gegenstandslos machen kann
und wird?
({0})
Dr. Ulrich Goll, Minister ({1}): Ich
kenne dieses noble Angebot, Außenstellen zu bilden.
Dieses Angebot haben Sie auch gemacht, als noch über
die Amtsgerichte bzw. das Eingangsgericht diskutiert
wurde. Sie haben gesagt: Wir können die Amtsgerichte zu
Außenstellen machen. Diese Diskussion haben Sie meiner Meinung nach nur vorübergehend abgestellt. Das
Ganze kommt mir so vor, als wenn irgendjemand ein Verbot mit der einzigen Begründung fordert, man könne ja
Ausnahmeregelungen davon schaffen.
Man muss doch erst einmal die Maßnahme selbst als
sinnvoll begründen können, bevor man sagt: Ihr könnt ja
von ihr abweichen und Ausnahmen machen. Glauben Sie,
dass Außenstellen wirtschaftlicher sind als die bisherigen
Landgerichte?
({2})
Das funktioniert doch in der Praxis nicht. Es macht die Sache eher komplizierter.
Noch ein letztes Argument gegen diese Konzentration
beim Oberlandesgericht. Wenn je daran gedacht wird,
diese Reformen auch im Strafrecht umzusetzen, dann
sage ich jetzt schon: Man wird sich der Lächerlichkeit
preisgeben, wenn Berufungen in Strafsachen, etwa bei jedem Ladendiebstahl, beim OLG verhandelt werden. Bevor nicht klar ist, dass die Berufungsverfahren bei den
Landgerichten bleiben, ist meines Erachtens ein vernünftiger Dialog über diese Reformen gar nicht möglich.
Die übrigen Vorschläge werden wir sorgfältig prüfen.
Wir haben gelernt, dass man genau hinschauen muss, wie
sie sich in der Praxis auswirken. Ich sehe vieles, bei dem
man „Prima-facie“ sagen könnte: Das kann man so oder
anders regeln. Man hat es hier anders geregelt. Wieso soll
es besser sein? Es riecht ein bisschen nach Aktionismus.
Papier ist geduldig. Die Praxis wird es schon richten.
Aber eine Frage lässt mich nicht los: Was will man mit
der Reform eigentlich erreichen? Was ist das Ziel? Vorher
habe ich von einem Ziel gehört, nämlich dass das Amtsgericht keine Durchgangsstation, sondern Endstation sein
soll.
({3})
Sie wissen doch, dass es das in 95 Prozent der Fälle ist.
Was wollen Sie erreichen? Wollen Sie, dass 100 Prozent
dort bleiben? Das kommt gleich nach 95 Prozent. Jetzt
schon werden 95 Prozent der Fälle beim Amtsgericht abschließend erledigt. Darum kann man doch einem Amtsrichter nicht weismachen, dass er seine Urteile nur für die
nächste Instanz schreibt. 95 Prozent dieser Fälle werden
endgültig beim Amtsgericht erledigt.
({4})
Diese Reform wird keinen Prozess beschleunigen. Das
kann schon deswegen nicht eintreten, weil die erste Instanz quasi aufgeladen und dadurch komplizierter wird.
Den Mehraufwand, den Sie in 95 Prozent der Fälle treiben müssen, werden Sie nirgendwo wieder hereinholen
können.
Der Prozess wird nicht bürgernäher, sondern für die
Betroffenen schwerer verständlich sein. Sie werden dann
ihren Anwalt fragen, warum sie diese Tatsache nicht mehr
vorgetragen dürfen, wenn sie in der Berufungsinstanz von
Bedeutung ist.
Es wird dadurch nichts billiger. Auch das ist ein Argument. Denn noch immer wird die Hälfte der Prozesskosten von der Gemeinschaft getragen. Wir haben in BadenWürttemberg viel Geld für die Justiz übrig. Wir investieren in den kommenden Jahren um die 70 Millionen DM,
um 7 500 Arbeitsplätze mit moderner Technik auszustatten. Das ist der richtige Weg, um den Prozessablauf zu
verbessern und zu beschleunigen.
Man kann sicher auch einzelne Vorschläge zum Prozess machen. Gestern haben wir den Vorschlag gemacht,
den Strafprozess zu beschleunigen, mehr Verfahren im beschleunigten Verfahren im Strafprozess durchzuführen.
Sie von Rot-Grün haben diesen Vorschlag abgelehnt.
Wenn es um Effizienz und um Schnelligkeit im Einzelfall
geht, sind Sie nicht dabei. Sie präsentieren uns eine Reform, bei der ich nur sagen kann: „Mehr Effizienz, mehr
Transparenz, mehr Bürgernähe“ können Sie noch so groß
auf die Packung schreiben, aber genau das wird diese Reform nicht bringen.
Unsere Justiz braucht diese so genannte Jahrhundertreform nicht; sie kann sie nicht brauchen. Frau Bundesjustizministerin, Sie wollen sich mit dieser Reform ein Denkmal setzen, und zwar leider zulasten einer funktionierenden Justiz in den Ländern. Wenn etwas nichts bringt und
Minister Dr. Ulrich Goll ({5})
wenn man das im Praxistest erkannt hat, sollte man die
Größe und Souveränität haben, es beiseite zu legen. Genau darum bitte ich Sie.
({6})
Das Wort hat die Bundesministerin der Justiz, Herta Däubler-Gmelin.
Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Es ist schon zweimal von einem Denkmal gesprochen
worden. Wissen Sie, warum ich meine, bald ein Denkmal
verdient zu haben? Nicht nur deswegen, weil ich zu denen
gehöre, die die Einwürfe des geschätzten Kollegen Geis
mit Heiterkeit entgegennehmen, sondern auch wegen solcher Reden.
Lieber Herr Goll, gerade auch Ihre Ausführungen machen die mit der Modernisierung der Justiz verbundenen Probleme deutlich. Sie tun so, als sei hier ein Entwurf
eingebracht worden, der Sie völlig überrascht habe und zu
dem Sie nichts sagen könnten. Gleichzeitig bringen Sie einen Verriss, der mit dem Entwurf nichts zu tun hat, und
tun so, als sei alles, was Rot-Grün bringt, irrelevant.
({0})
Was soll denn das? Sie wissen doch ganz genau, dass
Sie eigentlich Rot-Grün bekämpfen. Lassen Sie dies doch
einmal eine Weile und lassen Sie uns - wir sind Fachleute - über das reden, was die Justiz braucht. Die Justiz
braucht nämlich eine Modernisierung.
({1})
Sehr geehrter Herr Kollege Röttgen, Sie haben vorhin
eine rhetorisch eindrucksvolle Leistung geliefert, die aber
mit der Sache nur teilweise etwas zu tun hatte. Sie haben
darauf hingewiesen, dass die Justiz nicht nur etwas für die
Anwälte und Richter sei. Das ist völlig richtig und ich
stimme Ihnen absolut zu. Nur, wenn Sie so tun, als wolle
Rot-Grün Modernisierung verhindern, Bürgerrechte
zurückzunehmen oder Berufungsmöglichkeiten zusammenstreichen, dann ist dies nicht nur ganz falsch, sondern
wirklich unfair, weil Sie damit den Menschen einen völlig falschen Eindruck vermitteln.
({2})
Ich möchte mich damit befassen, was die Bürgerinnen
und Bürger von der Justiz haben. Ich bin die Letzte, die es
zulassen würde, dass man unsere Justiz krank redet, wie
dies nach Urteilen, die dem einen oder anderen nicht passen, immer wieder geschieht. Unsere Justiz ist nicht
krank. Es wird aber jedem, der ihre Arbeitsweise kennt
und ihre Ausstattung beispielsweise hinsichtlich der Elektronik mit dem vergleicht, was heute in Kommunen oder
bei der Polizei längst üblich ist, deutlich werden, dass eine
Modernisierung überfällig ist. Das ist das eine.
({3})
Natürlich ist das Sache der Länder. Aber ich hätte es
begrüßt, wenn der Justizminister des Landes BadenWürttemberg über die Arbeitsorganisation und die
Computerausstattung geredet hätte. Aber auch der Bund
muss für die Modernisierung seinen Beitrag leisten. Gerade darum geht es hier, um den Beitrag des Bundes zur
Modernisierung der Justiz. Sie aber tun so, als lebten wir
in der besten aller Justizwelten und als hätten Sie früher
alles besser und anders gemacht.
({4})
All dies zeigt, dass wir sehr viel tiefer einsteigen müssen. Dafür haben wir viele Beispiele geliefert bekommen,
gerade auch, wie sich anwesende Kollegen geäußert haben - unter anderem auch der Vorsitzende des Rechtsausschusses in der letzten Legislaturperiode. Schauen Sie
heute in die „Süddeutsche Zeitung“. Sie finden dort nicht
nur das lesenswerte Interview mit dem Kollegen Geis zu
den Lebenspartnerschaften, Sie finden auch den Hinweis
des Journalisten Prantl darauf, dass es der frühere Justizminister der F.D.P., Schmidt-Jortzig, war, der auf dem
letzten Juristentag gefordert hat, es müsse endlich Schluss
gemacht werden mit dieser Flickschusterei und jetzt
müsse endlich eine Linie für eine Reform des Zivilprozesses und der Modernisierung der Justiz gefunden
werden.
({5})
Herr Kollege Eylmann hat dies im Frühjahr wiederholt. Dieser Kollege gehört der CDU an. Ich will das nur
einmal sagen. Ich verweise weiter auf einen Artikel des
von mir sehr geschätzten Kollegen Scholz in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 23. November 1998, in
dem er eine umfassende Justizreform verlangt, dabei einen dreistufigen Gerichtsaufbau vorschlägt und erklärt,
die Zeit dafür sei überreif.
({6})
Herr Scholz, Ihren Presseartikeln der letzten Tage habe
ich das nicht entnehmen können. Ich weiß nicht, ob der
Kollege Sie falsch zitiert hat. Ich weiß aber, dass Sie Vorsitzender der Sachverständigenkommission „Schlanker
Staat“ waren. Dieser hat darauf hingewiesen, dass mit der
Flickschusterei Schluss sein müsse und jetzt ein klarer
Entwurf und eine klare Bestimmung darüber, was die einzelnen Instanzen - also erste Instanz, zweite Instanz und
Bundesgerichtshof - machen sollen, auf den Tisch müssten.
Meine Bitte ist: Sie können ja auf Kreisparteitagen der
CDU so reden. Lassen Sie uns aber in dieser Auseinandersetzung, bei der es um die Modernisierung der Justiz
geht, wirklich über die Probleme reden.
Ich zitiere später noch ein paar Herren aus Bayern, weil
die Bund-Länder-Arbeitsgruppe von einem Vertreter
Bayerns geleitet wurde. Diese Arbeitsgruppe wird - das
wissen Sie, Herr Minister Goll - das nächste Mal am
Minister Dr. Ulrich Goll ({7})
14. Juli zusammentreten. Das bedeutet, dass von einer
Überforderung keine Rede sein kann. Wenn Sie das den
Leuten weismachen wollen, kann ich nur sagen: Das ist
ein Gerücht.
Wie fühlt sich eigentlich jemand, der heute vor Gericht
muss? Die Aufwertung der außergerichtlichen Streitschlichtung haben wir beschlossen. Dies steht jetzt im
Bundesgesetzblatt. Wenn ein Bürger dennoch zum Amtsgericht muss, dann findet er dort eine Richterin oder einen
Richter vor, die etwa 750 Fälle im Jahr bearbeiten. Jetzt
sagen Sie: Das ist die beste aller Welten. Ich sage Ihnen:
Das ist es nicht, und zwar deswegen, weil nicht berücksichtigt werden kann, dass man für die Entscheidung des
einen Falles mehr Zeit benötigt als für die eines anderen.
Sie haben insgesamt zu wenig Richter.
({8})
Sie wissen auch: Wenn ein Fall vor dem Oberlandesgericht verhandelt wird, dann trifft man dort einen
Richter, der 70 Verfahren im Jahr bewältigen muss und
34 Urteile fällt. Natürlich sind seine Fälle in der Regel
schwieriger, aber dieses Missverhältnis sollte Sie eigentlich zum Nachdenken bringen.
({9})
Übrigens, Herr Kollege Röttgen, wenn Sie schon Oberlandesgerichte zitieren, dann schauen Sie das nächste Mal
auf die Gerichtsverteilung in Baden-Württemberg. Oder
nehmen Sie Niedersachsen. Sie aber sollten wissen, dass
Mosbach in Baden und nicht in Württemberg liegt. Das
macht aber nichts.
({10})
- Ja, das ist gut. Ich wollte damit nur andeuten, dass man
in einer so schneidigen Rede darauf achten sollte, dass die
Fakten richtig sind. Das ist nur ein kleiner Hinweis.
({11})
- Das zuständige Oberlandesgericht. Ganz einfach.
Ich komme zu der von Ihnen mehrfach angezweifelten
Neuregelung der Berufung, gegen die Sie erhebliche Einwendungen haben. Ich lese Ihnen einmal vor, was das
Land Bayern, vertreten durch den Ministerialdirigenten
Werner Weiß, der die Bund-Länder-Arbeitsgruppe geleitet hat, in der Broschüre „Die Justizpolitik - CDU“ mitgeteilt hat. Er hat gesagt: Es besteht die Meinung, man
müsse nicht nochmals den ganzen Prozess wiederholen.
Nur wenn das Urteil der ersten Instanz in irgendeiner
Weise fehlerhaft ist, ist das Verfahren offen für neue Tatsachen und Beweise. Darum geht es.
Wir gehen nicht so weit wie das in der letzten Legislaturperiode von Ihnen eingebrachte und beschlossene so
genannte zivilrechtliche Vereinfachungsgesetz. Deswegen hören Sie auf, die Gäule scheu zu machen. Hier geht
es darum, dass die erste Instanz gestärkt werden kann,
dass die normalen Menschen, die mit 1,5 Millionen Klagen zum Amtsgericht gehen, den gleichen Rechtsschutz
vorfinden wie die Parteien vor dem Oberlandesgericht.
({12})
Sie haben gesagt, 94 Prozent der Fälle würden beim
Amtsgericht erledigt. Haben Sie immer noch nicht gemerkt, warum das so ist? Dies ist deswegen so, weil heute
erheblich mehr als die Hälfte der amtsgerichtlichen Urteile überhaupt nicht überprüft werden kann. Das ist eine
Konsequenz der Streitwertabhängigkeit. Das ist doch ein
Fehler. Dann müssen Sie doch sagen, dass wir das ändern
müssen. Sie werden sehen, dass wir es ändern, und zwar
deswegen, weil wir mit den Streitwerten heruntergehen
und weil wir eine Grundsatzzulassungsberufung neu einführen. Wir führen sogar noch eine Rechtsgehörsrüge ein,
die das Bundesverfassungsgericht entlastet.
({13})
Diese drei Dinge sind vernünftiger für den Bürger. Es
bringt mehr Rechtsschutz. Es hilft auch dem Bundesverfassungsgericht, seine eigentliche Aufgabe zu erledigen.
Ich möchte jetzt die Kritik aufgreifen, den Bürgerinnen
und Bürgern würden weniger Rechtsmittel zur Verfügung stehen. Das stimmt nicht. Wir gehen nicht so weit,
wie es die Bayern gefordert haben. Wir gehen nicht so
weit wie das zivilrechtliche Vereinfachungsgesetz der
letzten Legislaturperiode. Wir sagen Folgendes - ich bitte
Sie, darüber nachzudenken, denn es ist etwas Vernünftiges -: Bei Verfahren, bei denen drei Richter in der Berufung nach einem Hinweis an den Berufungskläger sagen,
es sei aussichtslos, soll die Zurückweisung schnell erfolgen. Das ist deswegen vernünftig, weil bei einem Zivilprozess immer einer klagt und ein anderer verklagt wird.
In der ersten Instanz gewinnt einer. Aber wenn wie bisher
die Verfahren - abhängig vom Streitwert - durch alle Instanzen geführt werden, obwohl sie erkennbar aussichtslos sind, dann schadet das immer dem kleinen Handwerker, der in der ersten Instanz gewonnen hat und der sein
Geld trotzdem nicht bekommt.
({14})
Deswegen ist es sehr vernünftig, anders zu verfahren: In
die Berufung darf nur dann gegangen werden, wenn dies
unbedingt notwendig ist. Aussichtslose Berufungen sind
zwar auch weiterhin möglich, aber sie sollten dann schnell
zurückgewiesen werden, wenn drei Richter sagen: Da ist
nun wirklich nichts dran.
Nun komme ich auf den Bundesgerichtshof zu sprechen. Nicht nur die rechte Seite des Hauses hat die Kritik
des letzten Präsidenten des Bundesgerichtshofs zur
Kenntnis genommen - ich bin ganz sicher, dass der neue
Präsident es ähnlich sehen wird -, der sich darüber beschwert hat - Herr Röttgen, das sage ich speziell zu Ihnen -, dass der Bundesgerichtshof nur noch in etwa 6 Prozent der Fälle seine eigentliche Aufgabe erfüllen kann,
nämlich Grundsatzentscheidungen im Rahmen der
Rechtsfortbildung treffen und die Einheitlichkeit der
Rechtsprechung wahren. Er hat des Weiteren darauf
hingewiesen, dass mehr als 96 Prozent der Fälle reine
Streitwertrevisionen seien.
({15})
- Entschuldigung, wir sind der Meinung, dass der Streitwert überhaupt kein Kriterium dafür ist, ob Revision eingelegt werden kann oder nicht. Die entscheidende Frage
ist vielmehr, ob das Urteil falsch oder richtig ist. Wir tun
etwas dafür, damit dieses Kriterium herangezogen wird.
({16})
- Doch, das tun wir. Sie sollten noch einmal nachdenken;
denn ich meine, aus Ihren Überlegungen inzwischen eher
Zustimmung herauslesen zu können.
Ich habe den Eindruck, dass das neue Revisionsrecht,
das den Formulierungen des § 73 und des § 74 GWB
nachgebildet ist und künftig auch für den Bundesfinanzhof gelten und ohne Zweifel auch in den Regierungsentwurf aufgenommen werden soll, ein sehr vernünftiger
Kompromiss zwischen den eigentlichen Aufgaben des
Bundesgerichtshofs und der Einzelfallgerechtigkeit ist,
deren Gewährleistung Sie anmahnen. Aber die Einzelfallgerechtigkeit, Herr Röttgen, bestimmt sich nicht nach
dem Streitwert. Diese Grenze ist nun wirklich die willkürlichste von allen. Die Einzelfallgerechtigkeit bemisst
sich bei der Revision vielmehr danach, ob ein schwerer
Rechtsfehler in irgendeiner Form aufgetreten ist. Das ist
der Punkt.
({17})
Die Modernisierung der Justiz ist schwer, aber notwendig. An ihr sind die Länder und auch der Bund beteiligt. Die Länder müssen genauso einen Beitrag leisten wie
der Bund. Der Bund hat mit der Änderung der Präsidialverfassung und der außergerichtlichen Streitschlichtung
angefangen. Wir machen jetzt weiter. Wir stärken die erste
Instanz. Wir sind - lassen Sie mich das sagen - so radikal,
dass wir sagen: Wir wollen auch hier die Möglichkeit zur
Güteverhandlung und Streitschlichtung stärken. Wir sind
so radikal, dass wir sagen: Die Überprüfung eines Urteils
soll nicht vom Streitwert abhängig sein; vielmehr soll sie
davon abhängen, ob tatsächliche oder rechtliche Fehler
gemacht wurden. Dies alles ist bürgerfreundlich. Dies alles wollen wir durchsetzen.
Dass der Vorschlag, die Berufung bei den Oberlandesgerichten zusammenzuführen, sehr unterschiedlich gesehen wird, wissen wir. Dass es in Flächenländern anders
aussieht als zum Beispiel in Stadtstaaten, Herr Goll,
wissen wir auch. Es wäre nur klug, wenn man jetzt über
die Fragen von Nutzen und Kosten sowie der Vereinfachung nachdenkt. Wir wollen Vereinfachung. Wenn man
draußen darüber redet, dann muss man sehr deutlich machen, dass es die Zusammenführung der Berufung bei Arbeitsgerichtsverfahren, Sozialgerichtsverfahren, Verwaltungsgerichtsverfahren und bei den familiengerichtlichen
Verfahren gibt, in denen sehr häufig ein persönliches Erscheinen erforderlich ist. In all diesen Bereichen funktioniert das gut.
Hermann Bachmaier hat darauf hingewiesen, dass
Karlsruhe sieben Außensenate hat, und zwar aus traditionellen Gründen, wie wir beide sehr wohl wissen. Ich
traue Ihnen zu, dass Sie dort, wo Sie eine Außenstelle
wünschen, auch eine einrichten können, wenn Sie es nur
wollen. Aber ob Sie es wollen, weiß ich nicht. Ich wehre
mich nur dagegen, dass Sie landauf, landab behaupten,
Rot-Grün wolle die Amtsgerichte schließen. Vielleicht
wollen Sie das und haben nicht den Mut, den Bürgerinnen
und Bürgern das mitzuteilen. Wir wollen es jedenfalls
nicht. Wir sind entschlossen, die Amtsgerichte zu stärken.
Ich möchte noch einmal auf die Vorgeschichte des Entwurfs zu sprechen kommen. Das jetzige Verfahren ist nun
wirklich das merkwürdigste. Vor zwei Jahren hat mein
Amtsvorgänger, Herr Schmidt-Jortzig - ich rede immer
davon, dass man in der Kontinuität steht -, auf dem letzten Juristentag einen Anstoß gegeben. Damals hat er das
erste Gutachten in Auftrag gegeben. Seitdem diskutiert
eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe das alles.
Dann gibt es einen Beschluss der Justizministerkonferenz, die mich auffordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, was ich auch tue. Daraufhin gibt es viel Kritik, aber
auch viel Zustimmung. Dann werten wir das aus und arbeiten das in diesen Gesetzentwurf ein. Wenn von anderen Ländern noch etwas kommt, wird das im Übrigen
auch noch in den Regierungsentwurf eingearbeitet. Und
trotzdem wird daran wieder Kritik geübt. Ich sage Ihnen:
Wichtige Reformen kann man nur öffentlich diskutieren.
Das haben wir mit der Veröffentlichung des Referentenentwurfs im vergangenen Dezember getan.
Wir werden die Diskussion weiterhin suchen, und zwar
keineswegs allein mit den Ländern, wofür die Termine,
wie ich gesagt habe, schon feststehen. Wie bereits in den
vergangenen Tagen werden wir mit dem Richterbund, mit
der Bundesrechtsanwaltskammer und mit dem Anwaltverein sprechen. Sicher ist aber auch, dass wir mit der Opposition reden. Es geht darum, dass unsere Justiz modernisiert wird, dass die normalen Bürger auch in Zukunft
vor Gericht gute Bedingungen vorfinden, dass die Justiz
für neue Aufgaben fit gemacht wird - wir wissen ganz genau, dass es nicht mehr Richterstellen geben wird - und
dass unsere Justiz europafreundlicher werden muss. Diese
vier Ziele sind in den Gesetzentwurf aufgenommen.
Ich hoffe, wir können unter Fachleuten - meinetwegen
temperamentvoll; das bin auch ich - darüber reden. Das
sollte aber, wenn es irgendwie geht, ohne den ständigen
Austausch von Argumenten geschehen, die mehr mit Parteipolitik als mit irgendwelchen fachlichen Aspekten zu
tun haben.
Herzlichen Dank.
({18})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Minister der Justiz und für Europaangelegenheiten des Landes Brandenburg, Dr. Kurt
Schelter.
({0})
- Entschuldigung, Herr Minister, es gibt eine Anmeldung
zu einer Kurzintervention. Ich erteile dem Kollegen
Rupert Scholz das Wort.
Frau Ministerin, Sie
haben mich sehr liebenswürdig angesprochen. Sie haben
versucht, mich zum Kronzeugen der Dreistufigkeit zu machen. Dazu möchte ich schon einen Satz sagen.
Ich bin in der Tat der Meinung, dass das Thema der
Dreistufigkeit kein Dogma ist. Es kommt auf die Effizienz im Rechtsschutz für den Bürger und damit auf die Effizienz der Justiz an. Sie wissen von mir direkt, dass ich
der Meinung bin, man könnte - vielleicht sollte man sogar - die Dreistufigkeit in Stadtstaaten einmal erproben.
Das ist möglich. Sie können in Ihren Gesetzentwurf zum
Beispiel eine entsprechende Experimentierklausel hineinnehmen, die den Stadtstaaten die Möglichkeit der Erprobung gibt. Das halte ich für einen sinnvollen Schritt. Im
Übrigen ist das die Philosophie des von Ihnen angesprochenen Berichts des Sachverständigenrats „Schlanker
Staat“, den ich in der letzten Legislaturperiode zu leiten
hatte.
Sie hätten die Forderungen dieses Sachverständigenrats - gerade was eine Justizreform angeht - vielleicht
doch ein bisschen mehr beherzigen sollen, wie das zum
Beispiel Ihr Kollege Schily jetzt tut. Bei ihm habe ich zu
meiner Freude manchmal das Gefühl, dass er unsere Empfehlungen von damals regelrecht abkupfert. Das ist sinnvoll. Denn wenn etwas Vernünftiges gesagt wird, dann ist
es egal, wer es umsetzt; Hauptsache es wird umgesetzt.
Die wirklich entscheidenden Fragen der Justizreform,
die dort angesprochen sind, sind ganz andere. Da geht es
um die Vereinheitlichung von Verfahrensordnungen insgesamt. Außerdem - ich sehe in dieser Frage dringenden
Reformbedarf - ist dort thematisiert, dass wir endlich von
der Überspezialisierung unserer Gerichtsbarkeiten wegkommen.
Es macht keinen Sinn, wenn die Reform eines Bereichs
wie der Zivilgerichtsbarkeit - sie funktioniert insgesamt
ja gut - Stückwerk bleibt. Wenn man den Einstieg in die
Dreistufigkeit will, dann muss man es offen sagen. Aber
mit Sicherheit ist es nicht gut, diesen Weg mit der Reduzierung der Rechtsmittel im Rechtsschutzbereich einzuleiten. Dies hielte ich für sehr problematisch. Gehen wir
lieber einen offenen Weg, fangen wir vielleicht wirklich
einmal mit einer Stadtstaatenklausel an, Frau DäublerGmelin, und schauen wir uns die Entwicklung an! Dann
wird man weitersehen.
Vielen Dank.
({0})
Frau Justizministerin,
zur Erwiderung, bitte.
Herr Kollege Scholz, vielen Dank für diese kollegiale Haltung. Ich weiß, Sie haben mich sogar ermutigt,
den Gesetzentwurf einzubringen.
Ich gehöre zu denjenigen, die den Abschlussbericht der
Sachverständigenkommisson „Schlanker Staat“ wirklich
gelesen haben. Abgesehen von dem, was Sie erwähnt haben, enthält der Bericht zusätzliche Forderungen. In der
Tat - dies will ich Ihnen gerne bestätigen - soll nach Auffassung der Sachverständigenkommission „Schlanker
Staat“ nicht nur die Zahl der Gerichtszweige verringert
werden, sondern wird auch gefordert, die Fachgerichte
baulich zusammenzulegen. Das ist ein Punkt, den man
erst mit den Ländern besprechen muss, weil das wirklich
erhebliche Kosten verursachen würde.
({0})
Die Kosten hierfür wären außerordentlich hoch. Die Länder sind in diesem Punkt viel stärker gefordert als der
Bund.
Der Bund ist dagegen bei dem Teil gefordert, über den
wir jetzt reden, nämlich bei der Frage der Rechtsmittel.
Lassen Sie es mich nochmals sagen: Wir reduzieren
die Berufungsmöglichkeiten nicht, sondern bauen die
Rechtsmittel insgesamt aus und geben den Grundsatz der
Streitwertabhängigkeit aufgrund der sich daraus ergebenden Ungerechtigkeiten auf.
Ich wollte aber noch aus dem Bericht der Sachverständigenkommission „Schlanker Staat“ zitieren. Dort steht
drin:
Das heute sehr differenzierte Rechtsmittelsystem
sollte in seiner Gesamtheit überdacht werden. Dabei
könnte der Instanzenzug grundsätzlich einheitlich
ausgestaltet werden, und zwar mit einer Tatsachenund mit einer Rechtsmittelinstanz. Notwendig wäre
zunächst die Absicherung durch eine rechtsstaatliche
Untersuchung.
({1})
Diese haben wir vorgenommen. Auch die weiteren
Punkte, die erwähnt werden, haben wir aufgenommen.
Wir sind nur nicht ganz so weit gegangen wie die Kommission, der Sie damals vorgesessen haben. Ich denke,
dass wir gerade dann, wenn wir Bürgernähe, Transparenz
und Effizienz im Blick haben, auf dem richtigen Weg
sind.
({2})
Nun erteile ich das
Wort dem Minister der Justiz und für Europaangelegenheiten des Landes Brandenburg, Dr. Kurt Schelter.
Prof. Dr. Kurt Schelter, Minister ({0}):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich würde gerne - mit der Erlaubnis der Präsidentin
mit einem kurzen Zitat aus einem Brief, den mir die Bundesjustizministerin am 5. Juli geschrieben und der mich
heute erreicht hat, beginnen:
Vielen Dank für Ihre Stellungnahme zum Referentenentwurf eines ZPO-Reformgesetzes vom 23. Dezember 1999. Ihre Überlegungen zu den EntwurfsVizepräsidentin Petra Bläss
vorschriften werden im Zuge der zweiten Beratungsrunde über den Referentenentwurf, in die wir jetzt
eingetreten sind, sehr sorgfältig gewürdigt.
Ich muss gestehen, diese Einleitung Ihres Briefes, Frau
Bundesministerin, hat mich einigermaßen sprachlos gemacht, denn vom heutigen Entwurf ist keine Rede. Mit
keinem Wort gehen Sie auf den Entwurf ein, über den
heute hier beraten wird. Das bedeutet für mich: Seit heute
ist die Justizreform zu einem spannenden Ratespiel geworden. „Was soll gelten?“, lautet die Frage.
Ich habe deshalb keine große Neigung, mich heute detailliert zum Inhalt dieses Gesetzentwurfes zu äußern.
Seine Initiatoren werden darüber nicht enttäuscht sein,
denn das jetzt gewählte Verfahren ist ja ganz offensichtlich geradezu darauf angelegt, dass die Länder und der
Bundesrat, jedenfalls zu diesem Zeitpunkt, keine Chance
bekommen sollen, ihre Meinung zu sagen. Das wäre wohl
auch Zeitverschwendung, denn die neue Dramaturgie
sieht ja vor - so steht es jedenfalls in den Zeitungen -, diesen Entwurf im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens noch wesentlich zu verändern.
Als Justizminister meines Landes wird mir jeden Tag
vermittelt, was die Organe der Rechtspflege davon halten,
immer wieder neue Vorschläge, neue Erwägungen zu
hören und mit diesen konfrontiert zu werden. Ich bin mir
nun, Frau Bundesministerin, nicht ganz sicher, ob es Sie
überhaupt interessiert, wie dieses Verfahren - jedenfalls
von der Mehrheit der Justizminister der Länder - gesehen
wird. Die Besetzung und Zusammensetzung der Bundesratsbank gibt davon beredtes Zeugnis. Sie wissen aber,
dass die Art des Umgangs mit den Ländern bis in die letzten Monate hinein zu starken Irritationen geführt hat. Die
Informationen über wichtige Gesetzgebungsvorhaben des
Bundes erreichen uns zu spät oder überhaupt nicht - und
wenn, dann sind sie zu vage.
Die besten Informationsquellen für die Justizminister
der Länder über die Rechtspolitik des Bundes und ihre
Veränderungen sind seit Monaten die Medien. Es kann
doch nicht richtig sein, dass die in den Ländern verantwortlichen Ressortchefs den Inhalt dieses Gesetzentwurfs
zunächst nur aus einer sehr detaillierten Abhandlung von
dem von mir sehr geschätzten Heribert Prantl in der „Süddeutschen Zeitung“ und weiteren Medienberichten zum
Beispiel in der „taz“ erfahren konnten. Dabei lassen Sie
verbreiten, dass dieser Entwurf einen Durchbruch in Sachen Justizreform darstelle. Ich sehe das nicht und würde
Sie fragen, wenn ich könnte: Durchbruch wohin? Es mag
ja sein, dass dieser Entwurf der gemeinsame Nenner ist,
auf den sich die Koalition einigen kann. Aber es kann
doch keine Rede davon sein, dass Sie damit die massive
Kritik aus allen Richtungen an Ihrem Konzept überwunden hätten.
Frau Bundesministerin, ich bitte Sie sehr herzlich darum, in unserer weiteren Zusammenarbeit wieder an den
Konsens anzuknüpfen, den wir bei der letzten Konferenz
der Justizminister in Potsdam gefunden hatten. Wir hatten uns darauf verständigt, dass die Unterrichtung rascher,
konkreter, stetiger und auch offener erfolgen soll. Sie hatten zugesagt, dass die Länder in Zukunft rechtzeitig zur
Abschätzung der Folgen Ihrer Reformvorhaben gehört
werden.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Prof. Dr. Kurt Schelter, Minister ({0}):
Sehr gerne.
Herr Minister Schelter, erlauben Sie mir eine Zwischenfrage mit ein paar „Unterabteilungen“. Sie sind ja zurzeit der Vorsitzende der Justizministerkonferenz. Es würde mich interessieren, ob Sie
hier als Justizminister des Landes Brandenburg oder als
Vorsitzender der Justizministerkonferenz sprechen.
Haben Sie zur Kenntnis genommen, dass es sich hier
nicht um einen Regierungsentwurf, sondern um einen
Entwurf der Koalitionsfraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen handelt?
Würden Sie bitte noch freundlicherweise eine kleine
Episode zur Kenntnis nehmen, die sich gestern zugetragen hat: Ich war in Perleberg auf einer Veranstaltung des
brandenburgischen Rundfunks und habe dort mit Handwerksmeistern diskutiert. Diese Handwerksmeister sind
der Meinung, in der Brandenburger Justiz dauere alles zu
lange. Einer wartet seit sechs Monaten auf einen Termin,
ein anderer seit zwei Jahren auf ein Urteil. Was gedenken
Sie diesbezüglich zu tun? Meinen Sie nicht auch, dass unser Entwurf geeignet ist, für mehr Tempo auch in der ersten Instanz zu sorgen?
Prof. Dr. Kurt Schelter, Minister ({0}): Ich
fange mit der Beantwortung der letzten „Unterabteilung“
Ihrer Zwischenfrage an. Ich bin seit dem 13. Oktober des
vergangenen Jahres im Amt. Dieses Amt wurde neun
Jahre lang von einem anderen Kollegen, den ich sehr
schätze, bekleidet. Er hat eine hervorragende Aufbauleistung in der Brandenburger Justiz erbracht. Die lange
Dauer der Verfahren in Brandenburg, die zum großen Teil
auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit, aber nicht auf die ordentliche Gerichtsbarkeit zutrifft, hat im Wesentlichen
mit dem Haushalt zu tun. Ich habe erst seit dem 13. Oktober des vergangenen Jahres die Haushaltspolitik in Brandenburg mit zu verantworten.
({1})
Zu Ihrer zweiten Frage. Sicher, es handelt sich um einen Gesetzentwurf der Koalition - in einem Bereich, über
den sich zu äußern die Justizminister der Länder allen Anlass haben; denn sie sind es, die diesen Gesetzentwurf,
wenn er eines Tages im Bundesgesetzblatt stehen sollte,
umsetzen müssen. Es ist richtig - damit komme ich zur
Beantwortung Ihrer ersten Frage -, dass ich hier in der
Eigenschaft spreche, in der mich die Präsidentin des Hohen Hauses angekündigt hat, nämlich in der Eigenschaft
als Justizminister des Landes Brandenburg und als Mitglied des Bundesrates.
({2})
Ich darf mit meinen Ausführungen fortfahren. - Frau
Bundesministerin, Ihr Parlamentarischer Staatssekretär,
den ich sehr schätze und der heute ebenfalls anwesend ist,
Minister Prof. Dr. Kurt Schelter ({3})
hatte in Potsdam versprochen, dass Sie sich mit den Ergebnissen der Fallstudien befassen, die in NordrheinWestfalen mit Ihrer Unterstützung durchgeführt worden
sind, und zwar ganz rasch und unter Beteiligung der Länder. Sie wissen, dass ich in Potsdam sehr viel Aufmerksamkeit darauf verwendet habe, die vielfältigen Verkantungen und Verkrampfungen zwischen der politischen
Leitung Ihres Hauses und den Ländern aufzulösen. Sie haben das leider in keiner Weise honoriert. Im Gegenteil:
Das Verfahren, das Sie jetzt eingeschlagen haben, ist ein
großer Rückschritt und macht die Zusammenarbeit mit
Ihrem Haus nicht leichter.
Nun zum Inhalt dieses Gesetzentwurfes. Ich wiederhole: Eine fachliche Äußerung ist noch nicht möglich; sie
wäre verfrüht. Aber ich räume ein, dass dieser Entwurf in
einigen Bereichen bessere Lösungsansätze enthält und einige wenige gravierende Bedenken der Länder berücksichtigt. Das gilt zum Beispiel für das Einzelrichterelement; andere Kollegen mögen das anders sehen.
Außerdem gibt es in diesem Gesetzentwurf, der heute
beraten wird, die Abteilung „Überraschungen“: Das Abhilfeverfahren für Aufklärungsrügen hat seinen Weg aus
der Kommission zur Entlastung des Bundesverfassungsgerichts in den Bundestag gefunden. Ich meine, das ist gut
so, aber nur für das Bundesverfassungsgericht. Es löst die
Probleme der Justiz - der Amtsgerichte, der Landgerichte,
der Oberlandesgerichte - nicht.
Die wichtigste Frage heute lautet: Frau Bundesministerin, ist das Ihr Entwurf oder ist es auch Ihr Entwurf? Was
gilt? Steht das Berufungsannahmeverfahren noch zur
Debatte oder nicht? Soll die Berufungsinstanz nicht mehr
strikt auf Fehlerkontrolle beschränkt sein oder überlegen
Sie sich das noch? Werden die Hinweispflichten des Gerichts erheblich oder nur reduziert erweitert? Worüber
wollen Sie mit uns reden? Wozu sollen wir Stellung nehmen? Sind Sie an der Meinung der Länder, am fachlichen
Rat derer, die diese Reform in die tägliche gerichtliche
Praxis umsetzen sollen, überhaupt interessiert?
Frau Bundesministerin, eine Justizreform gegen die
Länder und fast alle Verbände kann und wird nicht gelingen. Das Ergebnis wird jedenfalls keine große Reform, allenfalls ein großes Desaster mit viel Verärgerung, Verunsicherung und Verlust von Vertrauen unserer Bürger in
den Rechtsstaat sein. Eine Justizreform, die zu mehr Aufwand führt, ohne die Aussicht auf raschere, bessere Entscheidungen mit noch mehr Akzeptanz, dient nicht dem
Rechtsfrieden; sie schadet ihm.
Unsere Justiz in Deutschland, auch in den neuen Ländern, arbeitet effektiver und besser, als ihre Kritiker zugeben wollen und die Reformvorhaben der Bundesregierung dies vermuten lassen. Wir sollten endlich gemeinsam
in den Blick nehmen, wo wirklich Veränderungsbedarf
besteht, und dann zu gemeinsamen Lösungen kommen der Bund, die Länder, die beteiligten Verbände und berufsständischen Organisationen.
Lassen Sie uns also ab heute bei der Justizreform endlich miteinander und nicht übereinander reden. Dann hätte
dieser gesetzgeberische Überfall wenigstens einen positiven Aspekt.
Vielen Dank.
({4})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/3750 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 16 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen des Bündnisses 90/Die Grünen und der SPD
Regelmäßige Kontakte im Vorfeld von Zeugenvernehmungen im 1. Untersuchungsausschuss
des Deutschen Bundestages zwischen Untersuchungsausschussmitgliedern und dem Zeugen
Dr. Kohl
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Hans-Christian
Ströbele.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir haben diese Aktuelle Stunde nicht nur deshalb
beantragt, weil wir der Meinung sind, dass sich der Deutsche Bundestag mit den Vorgängen im und um den Untersuchungsausschuss und im Zusammenhang mit dessen
Arbeit beschäftigen sollte, sondern auch deshalb, weil wir
die Auffassung der Fraktionsführung der CDU/CSU und
der Parteiführung der CDU zu dem Verhalten ihrer Mitglieder im Untersuchungsausschuss und zur Vorbereitung
von Sitzungen des Untersuchungsausschusses in der Öffentlichkeit diskutieren wollen.
Wir wollen mit Ihnen nicht darüber diskutieren, was
ein Abgeordneter normalerweise tun darf, ob er mit anderen Abgeordneten reden darf, ob er mit der Bevölkerung
reden darf.
({0})
Das wissen wir alles, das ist selbstverständlich, darüber
braucht man nicht zu reden.
Aber, Herr Kollege Schmidt, wir wollen darüber reden,
ob es richtig ist, ob es zulässig ist und was für ein böser
Anschein damit verbunden ist, wenn sich die halbe Mannschaft der CDU/CSU im Untersuchungsausschuss in diesem Jahr jeweils einen Tag, einen Abend vor der Vernehmung wichtiger Zeugen mit dem Mittelpunkt der Arbeit
dieses Ausschusses, mit dem Zeugen Helmut Kohl, trifft
und ein- bis anderthalbstündige Gespräche führt. Sie haben sich an den Tagen vor der Vernehmung von Herrn
Weyrauch, vor der Vernehmung von Herrn Terlinden, vor
der Vernehmung von Frau Weber jeweils mit ihm getroffen. Was haben Sie dort besprochen?
Minister Prof. Dr. Kurt Schelter ({1})
Wenn Sie uns sagen, Sie hätten allgemein darüber geredet, wie man terminieren könne oder ob man einer
Übertragung der Vernehmung bei Phoenix zustimmen
könne, Herr Schmidt, dann mag das stimmen. Aber es
kann nicht sein, dass Sie sich allein deswegen dort getroffen haben; denn so viel Arbeitszeit haben auch Sie
nicht zur Verfügung.
Die zeitliche Nähe Ihrer Treffen mit Helmut Kohl zu
der Vernehmung aller wichtigen Zeugen im Ausschuss
und das Verhalten dieser Zeugen im Untersuchungsausschuss, wo sie plötzlich eine Mauer des Schweigens aufgebaut und sich ganz anders verhalten haben als in zahlreichen Interviews mit der Presse, erwecken den bösen
Anschein, Herr Kollege Schmidt, dass bei diesen Treffen
mehr geschehen ist, als dass Sie sich über Termine und
eine Fernsehübertragung durch Phoenix unterhalten haben. Es legt den Verdacht nahe, dass dort Absprachen mit
Helmut Kohl über ein allgemeines Zeugenverhalten getroffen worden sind und dass Ihre Arbeit im Untersuchungsausschuss und das Verhalten der Zeugen dort letztlich durch den Zeugen Helmut Kohl gesteuert worden
sind. In alter Manier hat er dort die Regie geführt.
({2})
Sie hätten schon im Untersuchungsausschuss Gelegenheit gehabt, sich dazu zu äußern. Heute sollten Sie sich
dazu äußern. Sie sollten sagen, ob Sie, Ihre Partei und Ihre
Fraktion das als zulässig ansehen und Sie die wichtige
Arbeit solcher Institutionen des deutschen Parlaments unterlaufen wollen, indem Sie die richtige und an der Wahrheit orientierte Aufklärungsarbeit des Untersuchungsausschusses geradezu konterkarieren und kaputtmachen. Das
haben wir durch das Verhalten der Zeugen leider erleben
müssen.
Die heutige Aktuelle Stunde dient auch dazu, dass wir
noch einmal Stellung zu dem abenteuerlichen - gestern
habe ich gesagt: abwegigen; das entspricht ja dem
Sprachgebrauch des ehemaligen Bundeskanzlers im
Untersuchungsausschuss - Vorwurf an die neue Bundesregierung nehmen können, dass von ihr Akten vernichtet
worden seien,
({3})
um dann später die Behauptung aufstellen zu können, die
alte Bundesregierung habe das getan. Das kann schon deshalb nicht richtig sein, weil erstens die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen diesen Untersuchungsausschuss schon
lange vor dem Oktober 1999 in die Diskussion gebracht
und gefordert hat und weil zweitens - das ist doch das Entscheidende - die Datenvernichtungen zeitlich zuordbar
sind, da unbestechliche Maschinen den Zeitpunkt aufgezeichnet haben.
({4})
Alle Datenvernichtungen haben nach der Bundestagswahl
1998 und vor dem Auszug der alten Regierung aus dem
Kanzleramt stattgefunden. Damals sind in drei Nächten
zwei Drittel des gesamten Datenmaterials vernichtet worden. Da kann man doch schlechterdings nicht behaupten,
das habe nicht die frühere Bundesregierung zu vertreten,
sondern das habe die Bundesregierung, die erst danach ins
Kanzleramt eingezogen ist, veranlasst oder durchgeführt.
Das ist völlig abenteuerlich, zeigt aber, dass der Zeuge
Dr. Kohl nicht nur Zeuge sein will, sondern das Geschehen im und um den Untersuchungsausschuss und auch das
Verhalten der CDU/CSU-Fraktion und der CDU in diesem Lande aus seinem Abgeordnetenzimmer heraus maßgeblich steuert.
Alle Beteuerungen von Frau Merkel und Herrn Merz,
dass da inzwischen eine gewisse Distanz eingetreten sei,
dass es sich um eine neue Partei, um eine neu formierte
Fraktion handele,
({5})
werden Lügen gestraft durch das Verhalten der Untersuchungsausschussmitglieder der eigenen Fraktion.
Herr Kollege
Ströbele, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Unterstrichen wird dies durch die letzte Feststellung, die wir heute Nacht gegen 23 Uhr im Untersuchungsausschuss treffen konnten, nämlich dass bereits
seit langem verabredet ist, dass Frau Merkel und Dr. Kohl
am Vorabend des 3. Oktober zum zehnjährigen Bestehen
des vereinten Deutschlands gemeinsam Reden halten
werden - so der Terminkalender von Frau Weber.
({0})
Für die CDU/CSUFraktion spricht jetzt der Kollege Eckart von Klaeden.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren Kollegen! Mich wundert es
nicht, dass es dem Kollegen Ströbele nicht auf die Rechtslage ankommt. Es wundert mich auch nicht, dass er zum
Ende seines Beitrags auf das gekommen ist, was ihn wirklich interessiert, nämlich nicht die Aufklärungsarbeit im
Untersuchungsausschuss, sondern die Diffamierung der
CDU.
({0})
Ich will ein paar Worte zur Rechtslage sagen, auch
wenn, wie sich häufig gezeigt hat, Sie, Herr Ströbele, mit
diesem Rechtsstaat auf Kriegsfuß stehen und Sie sich
nicht zuletzt auf dem Anwaltstag dafür eingesetzt haben,
die verfassungsmäßigen Auskunftsverweigerungsrechte
einzuschränken. Ein Ausschluss des Kollegen Schmidt
aus dem Untersuchungsausschuss wäre ein Verstoß gegen
Art. 38 des Grundgesetzes. Untersuchungsausschüsse arbeiten nicht wie Gerichte auf der Grundlage richterlicher
Unabhängigkeit. Sie ermöglichen vielmehr eine parlamentarische Kontrolle und sind damit ein politisches Instrument, bei dem die Mitglieder als Politiker und nicht
als Richter auftreten.
Das haben Sie in Ihrem Antrag, mit dem Sie den
Untersuchungsausschuss eingesetzt haben, selber beschlossen. Denn Sie haben in Ihrem Antrag die IPA-Regeln als Grundlage der Tätigkeit des Untersuchungsausschusses akzeptiert. Dort steht in § 5 Abs. 3 ausdrücklich,
dass die Vorschriften der Strafprozessordnung über die
Ablehnung und Ausschließung von Richtern auf Ausschussmitglieder keine Anwendung finden.
({1})
Ihre Kritik ist nicht nur nicht konform mit der Rechtslage, sondern auch unlogisch und scheinheilig.
({2})
Unlogisch ist sie deshalb, weil, gesetzt den Fall, es gäbe
die Möglichkeit einer Drehbuchaffäre,
({3})
also einer Absprache zwischen Ausschussmitgliedern und
Zeugen, was es unter der SPD-Mehrheit in SchleswigHolstein gegeben hat, wir dann, wie das in SchleswigHolstein der Fall war, die Verfahrensherrschaft bräuchten.
Die Verfahrensherrschaft hat man dann, wenn man im
Ausschuss die Mehrheit hat. Wie Sie aber wissen, ist die
CDU seit 1998 in der Opposition.
({4})
Das heißt, das, was Sie uns vorwerfen, kann es logischerweise gar nicht geben, weil wir gar nicht die Verfahrensherrschaft haben.
({5})
Ihre Kritik ist darüber hinaus scheinheilig, weil das,
was Sie unserem Obmann vorwerfen, von Ihnen selber
getan wird. Ihr Vorsitzender Neumann hat mehrfach mit
dem mit Haftbefehl gesuchten Zeugen Schreiber Kontakt
aufgenommen und mit ihm nicht nur Verfahrensfragen,
sondern auch inhaltliche Fragen besprochen.
({6})
Ich will offen sagen: Ich habe nichts dagegen, wenn
wir uns bei der Einsetzung des nächsten Untersuchungsausschusses darauf einigen, dass die Ausschussmitglieder
richterähnliche Verpflichtungen erhalten. Aber dann gilt
gleiches Recht für alle und nicht das, was Sie hier tun,
nämlich dass Sie auf der einen Seite die derzeit bestehenden Rechte selbstverständlich selber in Anspruch nehmen
und auf der anderen Seite unsere Kollegen diffamieren.
({7})
Es geht Ihnen überhaupt nicht um Aufklärung. Es geht
Ihnen auch nicht um ein faires und rechtsstaatliches Verfahren. Wie ist es denn sonst zu erklären, dass Ihr Ausschussvorsitzender im Dezember vergangenen Jahres
über die „Bild am Sonntag“ Ordnungsgeld und Beugehaft
für Helmut Kohl androht, ohne sein verfassungsmäßig
verbürgtes Auskunftsverweigerungsrecht anzuerkennen
und ohne ihm die Möglichkeit zu geben, in den nächsten
Wochen und Monaten überhaupt vor diesem Ausschuss
aufzutreten?
({8})
Wie wollen Sie überhaupt einen logischen Zusammenhang zwischen der illegalen Parteienfinanzierung
({9})
und angeblicher Käuflichkeit von Regierungsentscheidungen herstellen, wenn Sie im Ausschuss überhaupt kein
Interesse daran zeigen, der Frage der angeblichen Käuflichkeit nachzugehen?
({10})
Warum lehnen Sie jeden Antrag der CDU/CSU dahin gehend, diejenigen, die in der Regierung an verantwortlicher Stelle tätig waren, zu vernehmen, ab? Warum verweigern Sie die Vernehmung von Helmut Kohl zu diesen
Fragen und geben ihm erst im Dezember dieses Jahres die
Möglichkeit, dazu Stellung zu nehmen? Warum werfen
Sie ihm die angeblich von ihm und dem ehemaligen
Minister Bohl zu verantwortende Löschung von Dateien
vor,
(Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Nicht angeblich! Tatsächlich!
während Sie ihm gleichzeitig den Bericht des Sonderermittlers vorenthalten?
({11})
Warum nehmen Sie nicht zur Kenntnis, was in diesem Bericht auch steht - dies hat Herr Hirsch gegenüber Herrn
Bohl zum Ausdruck gebracht hat -, nämlich dass Herr
Hirsch nicht erkennen kann, dass sich im Laufe der Untersuchung eine Verantwortung seitens Herrn Bohl und
des Altbundeskanzlers Helmut Kohl für diese Datenlöschung nachweisen ließ?
({12})
Ich will Ihnen sagen, warum Sie das alles nicht tun: Ihnen ist in Wirklichkeit an Aufklärung nicht gelegen.
({13})
Aus parteipolitischer Sicht habe ich für Ihr Verhalten
durchaus Verständnis. Wären Sie aufgrund einer Parteispendenaffäre in einer ähnlich schwierigen Lage, würden
wir es genauso machen. Darauf können Sie sich verlassen.
({14})
Sie müssen aber doch wenigstens die Gesetze der Logik
einhalten. Wenn Sie also zwischen illegalen Spenden und
einer angeblichen Käuflichkeit einen Zusammenhang
herstellen wollen, dann müssen Sie doch zunächst einmal
die Käuflichkeit beweisen oder zumindest bei Ihrer Tätigkeit im Untersuchungsausschuss den Willen an den Tag
legen, diesen Vorwürfen überhaupt nachzugehen.
({15})
Nein, für Sie stand das Urteil bereits vor der Untersuchung fest.
({16})
Für Sie stehen die Beweisergebnisse fest, ohne zuvor eine
Beweisaufnahme durchgeführt zu haben.
({17})
Das ist kein rechtsstaatliches Verfahren.
({18})
Damit schaden Sie nicht nur dem Ansehen des Untersuchungsausschusses, sondern dem des ganzen Parlaments.
({19})
Nächster Redner für
die SPD-Fraktion ist der Kollege Frank Hofmann.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Herr von Klaeden, es geht
nicht darum, hier Gesetze der Logik einzuhalten, sondern
darum, dass Sie Gesetze einhalten müssen.
({0})
Unter dem Eindruck der Ausschusssitzung des gestrigen Abends muss ich hier noch einmal sagen: Herr
Dr. Kohl, nennen Sie die Namen der Spender!
({1})
Können Sie mir darin nicht zustimmen, meine Damen und
Herren von der CDU/CSU?
({2})
Ist das Ihre Art der Aufklärung?
Herr Dr. Kohl, was Sie sich selbst zugestehen wollen,
nämlich das Ehrenwort über das Gesetz zu stellen, müssten Sie doch auch jedem Bürger der Bundesrepublik
Deutschland zugestehen, und das wäre für unsere
Rechtsordnung untragbar. Dies ist ein Skandal!
({3})
Die Zusammenarbeit zwischen den CDU/CSU-Mitgliedern im Untersuchungsausschuss und dem Zeugen
Helmut Kohl ist ein weiterer Skandal. Am Donnerstag
vergangener Woche wollte man die Treffen zwischen
Schmidt und Kohl noch vertuschen. Dann wurden sie
heruntergespielt. Auf Druck musste man schließlich zugeben: Die Treffen fanden systematisch statt, nämlich immer vor wichtigen Zeugenaussagen, und dabei wurde - im Beisein von Mitarbeitern - über Inhalte des Untersuchungsausschusses gesprochen.
({4})
Trägt das zur Aufklärung durch den Untersuchungsausschuss bei oder ist das nicht vielleicht doch Vertuschung?
Ob man die Pflichten eines Abgeordneten im Untersuchungsausschuss sinngemäß aus der Strafprozessordnung
ableitet oder aus den gewachsenen Verhaltensregeln für
jene Mitglieder, ist unwichtig. Fest steht: Wenn Herr
Schmidt jederzeit mit Herrn Kohl über Inhalte des Untersuchungsausschusses reden möchte, dann darf er nicht
Mitglied des Untersuchungsausschusses bleiben.
({5})
Dass die CDU/CSU ihre Pflichten im Untersuchungsausschuss durchaus kennt, zeigt sich daran, dass der stellvertretende Ausschussvorsitzende, Herr Friedrich, es abgelehnt hat, mit dem Zeugen Erich Riedl zu reden.
({6})
Umso mehr verwundert es mich, dass er bei Helmut Kohl
antanzt.
({7})
Lässt man den gestrigen Beitrag seitens der Union Revue passieren, hat man wieder Steilvorlagen für das historische Geschwätz des Zeugen Kohl.
({8})
Zeigt sich bei Herrn Schmidt eigentlich Unrechtsbewusstsein? Ja, vergangenen Donnerstag mussten Kohl
und Schmidt zugeben, dass es nicht nur Gespräche am
Rande des Plenums, sondern auch systematische Treffen
gab.
({9})
Auf Nachfrage im Untersuchungsausschuss erklärte Kohl,
diese Treffen seien auf seinen Wunsch zustande gekommen. Aus dem Kalender von Frau Weber ergibt sich jedoch, dass es sich um eine Art Jour fixe handelte, immer
terminiert vor wichtigen Zeugenaussagen. Herr Schmidt
musste eingestehen, dass die Treffen mit Helmut Kohl
auch auf seine Initiative hin zustande gekommen sind.
({10})
Hätte Herr Schmidt kein schlechtes Gewissen gehabt,
hätte er die Karten an diesem Donnerstag vollständig auf
den Tisch gelegt und hätte nicht rumgeeiert.
({11})
Herr Schmidt denkt und handelt wie ein „Kohlianer“.
Treffend wird er in der heutigen Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ als Kleinausgabe von Helmut Kohl bezeichnet. Er gehört zu den Marionetten an den Fäden
Kohls und hält das System Kohl mit am Leben. Er beschädigt das Ansehen des Parlaments und des Untersuchungsausschusses und ist deshalb nicht weiter tragbar.
Eine Zusammenarbeit ist unzumutbar.
({12})
Die parlamentarische Kultur und die politische Hygiene erfordern,
({13})
dass man nicht einfach zur Tagesordnung übergeht, sondern Konsequenzen zieht. Herr Merz und Frau Merkel,
ziehen Sie Konsequenzen! Herr Merz und Frau Merkel,
ziehen Sie Herrn Schmidt aus dem Untersuchungsausschuss zurück!
({14})
Ich habe allerdings den Eindruck, dass die Fraktionsspitze dies überhaupt nicht will. Sie wurde nach Aussage
von Herrn Schmidt über die Treffen informiert; er hat
Herrn Repnik informiert. Ist der Fraktionsvorsitzende
Merz auch informiert worden? Ist er vielleicht in diesen
Fällen nur ein vorgeschobener Posten im weiter funktionierenden System Kohl?
({15})
Herr Merz und Frau Merkel, wenn Sie sich vom System Kohl lösen wollen, dann können Sie jetzt die richtigen Zeichen setzen. Entsenden Sie ein neues Mitglied in
den Untersuchungsausschuss, das keine krummen Touren
macht, sondern tatsächlich aufklären will! Entsenden Sie
jemanden, der weder der Kumpanei noch der Komplizenschaft verdächtig ist! Entsenden Sie jemanden, der nicht
in die Fußstapfen Schmidts tritt, sondern auf eigenen
Füßen steht! Erweisen Sie dem Parlamentarismus, dem
im Grundgesetz verankerten Untersuchungsausschuss
Ihren Dienst!
Danke.
({16})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Max Stadler.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Aufgeregtheit der letzten
Tage hat es einige retardierende Momente gegeben, bei
denen man den Eindruck gehabt hat - das war zum Beispiel am Ende der Ausschusssitzung am letzten Donnerstag oder auch heute Vormittag bei einer Diskussion zwischen Herrn Schmidt, Herrn Wend und mir der Fall -, es
gebe in diesem Parlament noch ein Bewusstsein dafür,
dass dieser Untersuchungsausschuss auf eine ganz kritische Situation hinsteuert, nämlich eine Situation, die das
Institut Untersuchungsausschuss schlechthin infrage
stellt.
({0})
So wie jetzt in dieser Aktuellen Stunde agiert wird, habe
ich allerdings nicht den Eindruck, dass dies allen klar ist.
({1})
Meine Damen und Herren, hören Sie sich draußen einmal um, wie dieser Untersuchungsausschuss wahrgenommen wird. Er ist lange Zeit als inkompetent und erfolglos
wahrgenommen worden. Jetzt werden seine Mitglieder
als befangen wahrgenommen. Man merkt, dass die Erkenntnis noch nicht überall vorgedrungen ist, dass jetzt
eine Diskussion um das Selbstverständnis solcher Untersuchungsausschüsse einsetzen muss.
({2})
Die Bevölkerung erwartet von uns - dazu gibt das gesamte Parlament den Mitgliedern der Untersuchungsausschüsse den Auftrag -, dass wir schwierige Sachverhalte,
deren Aufklärung im öffentlichen Interesse liegt, untersuchen, und zwar durchaus - das ist ja nicht verboten - von einer eigenen Position herkommend, aber mit
der Bereitschaft, am Ende zu akzeptieren, was die Untersuchung erbracht hat. Dazu gehört, dass man es nicht bei
Lippenbekenntnissen belässt, wenn man von der Bereitschaft zu umfassender Aufklärung spricht.
({3})
- Vorsicht, Herr Schmidt, Sie klatschen zu früh. - Denn in
einer Befragung nur Stichworte für Monologe zu geben,
die am zweiten Donnerstag wortgleich wie am ersten
Donnerstag wiederholt werden, und dann immer noch zu
sagen, der Zeuge komme hier nicht zu Wort, das ist es
nicht.
({4})
- So war es gestern.
Frank Hofmann ({5})
Wir brauchen, wie gesagt, nicht Lippenbekenntnisse,
sondern die echte Bereitschaft zu umfassender Aufklärung. Aber wir brauchen auch die Bereitschaft und die
Souveränität, an einem Ausschusstag nach der Beweisaufnahme vor die Fernsehkameras zu treten und zu erklären, heute habe sich ein bestimmter Verdacht, der zum
Beispiel gegen die frühere Bundesregierung erhoben worden sei, nicht oder noch nicht erwiesen.
({6})
Auch diese Souveränität wird von Ausschussmitgliedern
verlangt; ich vermisse sie bei anderen.
Meine Damen und Herren, wir sind nicht blauäugig.
Wir wissen genau, dass das, was unsere Fraktionen erwarten, in einem ziemlichen Gegensatz zur Erwartung der
Öffentlichkeit steht. Unsere Fraktionen - reden wir nicht
darum herum - wollen, dass das Ausschussergebnis so ist,
dass jeweils die eigene Fraktion möglichst ungeschoren
davonkommt und bei den anderen möglichst viel hängen
bleibt. Dazu sollen wir durch unsere Tätigkeit beitragen,
das ist die Erwartung, die an uns gestellt wird.
({7})
In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns.
Ich sage Ihnen dazu eines: Wer hier meint, dass ein
Untersuchungsausschuss ausschließlich ein politisches
Kampfinstrument ist, der legt die Hand an die Wurzel dieses Instituts.
({8})
Denn dann können Sie die Diskussion überhaupt nicht
mehr vermeiden, und diese Diskussion hat durch die eindrucksvolle Darlegung von Burkhard Hirsch in der letzten Woche noch gewonnen.
({9})
Ich konnte dabei nicht verstehen, dass man, bevor man
den Bericht kannte, gesagt hat, Burkhard Hirsch sei nicht
unparteilich.
Diese Diskussion wird auf Folgendes hinauslaufen: Es
ist womöglich besser, solche schwierigen Sachverhalte
durch unabhängige Dritte, externe Untersuchungsführer
überprüfen zu lassen, als sie den Parlamentariern in die
Hand zu geben, wenn Sie sich dieses Instruments weiterhin so bedienen, wie das in den letzten Wochen auf allen
Seiten geschehen ist.
Deswegen ist es jetzt höchste Zeit, dass hier Besonnenheit einkehrt und wir uns an einen Tisch setzen. Es
gibt dazu Gelegenheit, weil auf Antrag der F.D.P.-Fraktion und auf Antrag der Koalitionsfraktionen Gesetzentwürfe über das Recht des Untersuchungsausschusses vorliegen. Im Zuge der Beratungen muss klargestellt werden, dass die Ausschussmitglieder unabhängig und nicht
weisungsgebunden sind. Die Mitglieder müssen sich aber
auch so verhalten, Herr Kollege Schmidt, dass schon der
äußere Anschein vermieden wird, sie seien nicht mehr
unabhängig.
({10})
Es kommt nicht darauf an, was bei solchen Begegnungen
im Einzelnen genau besprochen wird. Die Grenzlinie ist
schon vorher überschritten. Wer das von außen beobachtet, kann nicht mehr glauben, dass ein solches Ausschussmitglied unbefangen ist.
({11})
Wenn wir aus dieser Krise der Untersuchungsausschüsse etwas lernen wollen, dann ist es höchste Zeit, an
die Gesetzgebung zu gehen und noch in diesem Jahr das
Untersuchungsausschussgesetz zu verabschieden, und
zwar mit den von uns vorgeschlagenen Ergänzungen, die
bisher in beiden Entwürfen nicht enthalten sind. Es wäre
etwas gewonnen, wenn wir uns für die Zukunft darauf einigen könnten, das Institut Untersuchungsausschuss so zu
gebrauchen, dass es in der Öffentlichkeit dem Parlament
an Ansehen zuträgt und nicht nimmt.
Das ist nicht blauäugig oder idealtypisch gedacht, das
ist unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit.
({12})
Für die PDS-Fraktion
spricht die Kollegin Dr. Evelyn Kenzler.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die letzten beiden Wochen
waren für unseren Untersuchungsausschuss wirklich
ereignisreich, allerdings im negativen Sinne. Der von
der Bundesregierung eingesetzte Sonderermittler, Herr
Burkhard Hirsch, wies in seinem Bericht nach, dass Datenlöschungen und Aktenvernichtungen in unglaublichem Umfang im Bundeskanzleramt im Zusammenhang
mit dem Regierungswechsel vorgenommen wurden, dass
es zwischen der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen in der 12. und 13. Wahlperiode und der Vernichtung sowie Manipulation von Akten einen unmittelbaren zeitlichen sowie inhaltlichen Zusammenhang
gibt und dass Akten für die entscheidungsrelevanten
Zeiträume nicht mehr aufzufinden sind.
Das bestärkt mich in meiner Auffassung, dass es sich
hierbei nicht um einen losgelösten Vorgang der Aktenvernichtung zum Ende der Regierungszeit Kohl handelt, sondern dass die Klärung der immer noch offenen Fragen,
wer aus welchem Grund welche Akten vernichtet bzw.
welche Aktenbestände „geflöht“ - so die Ausdrucksweise
eines früheren Mitarbeiters im Kanzleramt - hat, eine
Schlüsselaufgabe zur Erfüllung unseres Untersuchungsauftrags ist.
({0})
Eigentlich reicht schon dieser Aktenvernichtungsskandal. Aber die CDU sattelt noch eines drauf. Ich frage mich
wirklich ernsthaft: Was hat Sie geritten, quasi regelmäßige erweiterte Arbeitsgruppensitzungen Ihrer Ausschussmitglieder zusammen mit Helmut Kohl, einem der
wohl wichtigsten Zeugen, durchzuführen, und das auch
noch mit Zustimmung Ihrer Fraktionsführung?
({1})
Zu der weitgehend geschlossenen Front von schweigenden und höchst vergesslichen Zeugen und zu dem Dilemma, dass wir uns mit zum Teil dürren Aktenfragmenten herumschlagen müssen, kommt nun auch noch der
Verdacht der zielgerichteten Absprache von Zeugenverhalten unter Beihilfe von CDU-Ausschussmitgliedern.
Herr Kollege Schmidt hat zwar in seiner gestrigen Vernehmung als Zeuge vor dem Ausschuss erklärt, dass er
seine Rechte und Pflichten kenne und er keinerlei Absprachen mit Helmut Kohl im Hinblick auf dessen oder
das Verhalten anderer Zeugen getroffen habe. Er lieferte
aber keine plausible Erklärung dafür, dass er und weitere
seiner Ausschusskollegen sich jeweils zeitnah, das heißt
in der Regel einen Tag vor wichtigen Zeugenvernehmungen, mit Helmut Kohl getroffen haben. Wenn es jeweils
nur um informatorische bzw. orientierende Gespräche zu
den Komplexen Leuna/Minol und Saudi-Arabien ging,
fragt man sich nach wie vor, warum man sich hierzu jeweils einen Tag vor der Vernehmung von Zeugen zu ganz
anderen Themenkomplexen zusammengesetzt hat, und
dies in der für den Ausschuss kostbaren Vorbereitungszeit.
({2})
Ich wundere mich, dass niemand auf die Idee gekommen ist, die jeweiligen Themenkomplexe in Klausurtagungen abzuhandeln und hierzu auch noch einen größeren Kreis von Mitgliedern der Fraktion einzuladen.
({3})
Aber vielleicht bekommen wir Obleute aus den anderen
Fraktionen für Ihre nächsten informellen Treffen sogar
eine Einladung.
Der politische Anstand, lieber Kollege Schmidt, hätte
es aufgrund des dringenden Verdachts zielgerichteter
Zeugenabsprachen geboten, dass Sie als Obmann Ihrer
Fraktion im Ausschuss die entsprechenden Konsequenzen
ziehen; so sehr ich bedaure, Ihnen dies sagen zu müssen.
({4})
Nach dem Verlauf des gestrigen Tages und insbesondere
auch dem Eingeständnis, dass diese intensiven Konsultationen mit Billigung der Fraktionsspitze stattgefunden
haben, ist dies jedoch kaum noch zu erwarten.
Der ganze Vorgang ist Ausdruck des Dilemmas, in dem
sich die CDU-Führung befindet. Einerseits will sie ihren
großen Altvorsitzenden retten, kann sich andererseits aber
nicht von ihm lösen. Ihr ist das Unbehagen über Helmut
Kohls uneinsichtige Haltung sehr anzumerken.
Es wird deshalb höchste Zeit, Verhaltensregeln bzw. einen Ehrenkodex für das Verhalten von Ausschussmitgliedern gegenüber Zeugen interfraktionell zu verabreden.
Ich halte die hierzu von der F.D.P.-Fraktion gemachten
Vorschläge für eine sinnvolle Diskussionsgrundlage, um
möglichst zügig zu einer Einigung zu kommen. In jedem
Fall ist eine Verständigung noch vor Verabschiedung des
Untersuchungsausschussgesetzes erforderlich.
Zum Schluss sei mir noch eine Bemerkung erlaubt:
Wenn wir jetzt nicht trotz aller Zuspitzung und parteipolitischem Geklapper der letzten beiden Wochen schleunigst auf die Sach- und Arbeitsebene zurückkehren, laufen wir Gefahr, uns immer weiter vom Untersuchungsgegenstand zu entfernen und den letzten Kredit, den der
Ausschuss noch in der Öffentlichkeit besitzt, zu verspielen.
({5})
Wir sollten deshalb trotz aller berechtigten Kritik die
heutige Debatte dazu nutzen, zu einem vernünftigen Arbeitsklima zurückzufinden, denn dieser Ausschuss hat einen wichtigen Auftrag zu erfüllen und darf nicht in erster
Linie dem politischen Selbstzweck dienen.
({6})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In dieser Debatte geht es um die politische Kultur in
diesem Land. Es geht um Lauterkeit und Integrität von
Politik und um Ehrenhaftigkeit von Politikern und Politikerinnen.
({0})
Es geht um Moral und Politik. Es geht um den Umgang
mit der Verfassung und um die Achtung von Gesetzen,
also um den demokratischen Konsens. Es geht um die Zukunft der Demokratie, denn sie basiert auf Glaubwürdigkeit und Transparenz. Es geht aber auch um den Verweis
auf Ehrenworte, die höchst unehrenhaft sind, und das Bestehen darauf.
Wenn Politik in den Geruch kommt, korrupt zu sein,
wenn sie mit bemakeltem Geld beeinflusst wird, kommt
bemakelte, dubiose Politik heraus. Dies muss notwendigerweise zu einem dramatischen Ansehensverlust führen,
der eine Bedrohung für die Demokratie ist und ihr sehr
großen Schaden zufügt. Dies war die Ausgangsposition
des Untersuchungsausschusses. Dies ist der Anfangsverdacht.
Ich erinnere an die Phase der öffentlichen Beteuerungen der CDU/CSU, „rückhaltlos“ - ich kann das Wort eigentlich nicht mehr hören - aufklären zu wollen. Man
wolle dazu beitragen, dass offene Fragen beantwortet und
objektive Verdachtsmomente entkräftet werden. Man erinnere sich an die großen, hehren Worte und den Gestus
vom Neuanfang und von nachhaltiger Aufklärungsbereitschaft. Was ich in den letzten Tagen und Wochen im
Untersuchungsausschuss erleben musste, verkehrt diese
Ankündigungen in hohle Phrasen und ins pure Gegenteil.
({1})
Wo, bitte schön, sind der Neuanfang und die Aufklärungsbereitschaft, wenn Dr. Kohl in einer Art von
selbstgerechtem Autismus in der Pose des Staatsmannes
erstarrt, wenn er sich selbst auf das historische Podest erhebt, um sich dann mit all seiner Halsstarrigkeit
({2})
selber zu stürzen, wenn er verkündet: Ich denke gar nicht
daran, Namen zu nennen? - Das unehrenhafte Ehrenwort,
es bleibt die Richtschnur des Handelns und nicht Recht
und Gesetz.
({3})
Es gibt keine Spur von Unrechtsbewusstsein, sondern nur
Attacken auf den politischen Feind. In solchen Kategorien
denkt Dr. Kohl: Tiraden gegen die Presse, historische Vergleiche, die wirklich jeder Beschreibung spotten.
({4})
Das System Kohl, es schlägt um sich: Vertuschen, Verdrängen, Verdecken, Vergessen.
Aber es ist eben nicht nur Helmut Kohl, sondern
auch - ich bedauere das sehr - Andreas Schmidt, der Obmann der CDU/CSU-Fraktion, der dieses System, diese
Logik stützt und allerspätestens gestern gezeigt hat, was
er vom großen Meister alles gelernt hat.
({5})
Er war es, der Ausschusssitzungen mit Dr. Kohl kontinuierlich, systematisch und akribisch vorbereitet hat. Er hat
also gelernt, dass Verhaltensnormen in einem Untersuchungsausschuss für ihn scheinbar nicht gelten, dass die
Pflicht der Abgeordneten, sich lauter und ehrenhaft zu
verhalten, für ihn scheinbar nicht gilt; denn das würde und
müsste bedeuten, Herr Schmidt, das Verbot der Kollaboration
({6})
mit den Personen zu beachten, deren Verhalten Gegenstand der Untersuchungen ist.
Herr Schmidt, Sie haben gelernt, sich mit beachtlicher
Chuzpe uneinsichtig und unbelehrbar zu zeigen. Anstatt
gestern Einsicht walten zu lassen, haben Sie angekündigt,
dass Sie genauso weitermachen wie bisher. Ich muss Ihnen sagen, Herr Schmidt: Eine solche Frechheit macht
mich wirklich fast sprachlos.
({7})
Aber es ist mehr als freche Provokation, denn es bringt
den ganzen Ausschuss in Misskredit. Es ist eine beispiellose Erosion, ein beispielloser Verfall der politischen Sitten. Deswegen hat der Ausschuss beschlossen, die
CDU/CSU-Fraktion aufzufordern, Sie zurückzuziehen.
({8})
Es wird sehr deutlich, dass Neuanfang nicht nur heißt,
Führungskräfte auszuwechseln und ansonsten Gras über
den Skandal wachsen zu lassen nach dem Motto: Die Zeit
läuft eh für uns. Wissen Sie was: Die Zeit läuft gegen die
Demokratie in Deutschland; das ist das Schlimme.
({9})
Dazu trägt die CDU/CSU aktiv bei. Sie trägt dazu - das
bedauere ich am allermeisten - mit immer unappetitlicheren und unanständigeren Mitteln bei. Ich finde es unanständig und unappetitlich und erbärmlich, wie Sie versucht haben, Burkhard Hirsch zu diskreditieren.
({10})
Burkhard Hirsch ist ohne jeden Zweifel - das sage ich
nicht, weil ich einmal Jungdemokratin war - eine der integersten Persönlichkeiten der Bundesrepublik Deutschland. Was Sie mit dem Mittel der politischen Diskreditierung versucht haben, soll vom eigenen Skandal ablenken,
der Vorstellungskräfte sprengt. Systematisch wurden Daten, Akten vernichtet, manipuliert, wurde ein Anschlag
auf das Gedächtnis der Bundesrepublik Deutschland verübt. Es ist nicht nur Ihr Gedächtnis.
({11})
Es ist auch das Gedächtnis meiner - Kinder habe ich
nicht - Neffen und Nichten und deren Kindern. Es handelt
sich um Akten, die Regierungshandeln nachvollziehbar
machen. Diese Vernichtung war keine Panne, sie war kein
Zufall und sie war kein Umzugsschwund, sondern sie war
System. Jetzt müssen Sie beantworten, warum genau die
Akten verschwunden sind, die exakt etwas mit dem Untersuchungsgegenstand zu tun haben. Was dem Fass - ich
sage es jetzt als Schwäbin - de Bode endgültig naushaut,
ist, zu sagen, die neue Regierung sei für diese Vernichtung
verantwortlich, wie er es gestern getan hat. Aber es gibt ja
noch den gesunden Menschenverstand und da wird klar,
wie abenteuerlich eine solche Behauptung ist.
({12})
Frau Kollegin Roth,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Letzter Satz: Ich fordere im Sinne der Demokratie
in diesem Land die neue CDU/CSU-Führung wirklich
und aufrichtig auf, sich nicht zurückzuhalten, nichts stillschweigend zu billigen. Ich fordere Herrn Merz auf, von
dem „Ich muss mich schützend vor Kohl stellen“ abzukehren. Beweisen Sie endlich, dass Moral und Politik kein
Claudia Roth ({0})
Widerspruch sind, sondern dass Moral in die Politik
gehört. Wenn sie sich widersprechen, dann kommt unmoralische Politik heraus.
({1})
Der nächste Redner in
der Debatte ist Kollege Dr. Jürgen Gehb für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Tonart, Vokabular und Lautstärke meiner Vorrednerin zwingen mich jetzt, Folgendes
auszuführen: Bei allem Verständnis für die Notwendigkeit
einer gesetzlichen Regelung des Untersuchungsausschusses oder eines Ehrenkodexes muss ich sagen, dass ich den
größten Ehrabschneider dieses Hauses, den früheren Terroristenanwalt - und nicht nur Terroristenanwalt (Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
für den denkbar schlechtesten Fürsprecher für die Forderung eines irgendwie gearteten Ehrenkodexes halte,
meine Damen und Herren.
({0})
Das war die Provokation und die Antwort. Ich kann mich
nämlich des Eindrucks nicht erwehren, dass Herr Ströbele
seinen Kriegspfad noch nicht verlassen hat.
({1})
In meinem bisherigen politischen Leben bin ich davon
ausgegangen, dass die politisch Andersdenkenden Konkurrenten, allenfalls Gegner, aber jedenfalls keine Feinde
sind.
({2})
Diese an einen Vernichtungsfeldzug grenzende Kampagne, Herr Ströbele,
({3})
hat mich eines anderen, aber leider nicht eines Besseren
belehrt.
({4})
Damit auf den groben Klotz der Frau Roth ein grober
Keil kommt, will ich zu dem Teil der Rede kommen, die
ich gehalten hätte, wenn Frau Roth nicht diese Töne angeschlagen hätte.
({5})
Als ehemaliger Richter eines Obergerichts in Hessen
muss ich sagen: Ich kann nur den Kopf darüber schütteln,
wie einige - je nachdem, wie es ihnen passt - den Untersuchungsausschuss in die Nähe eines Gerichtsverfahrens
rücken. Weder die objektiven Kriterien - faires Verfahren,
Beweislast, rechtsstaatliche Grundsätze - noch die subjektiven Voraussetzungen, die an ein Mitglied zu stellen
sind - Herr Ströbele, dazu gehört unter anderem auch der
Mangel an rechtskräftiger Verurteilung - dienen dazu,
dieses Verfahren wie ein Gerichtsverfahren zu führen.
({6})
Herr Stadler, ich gebe Ihnen Recht: Es handelt
sich um eine gewisse Zwitterstellung. Nur, der Herr
Neumann ist mitnichten Vorsitzender einer Schwurgerichtskammer, die Mitglieder des Ausschusses sind mitnichten Geschworene und Herr Kohl ist in diesem Verfahren auch nicht der Angeklagte.
({7})
Ich will Ihnen sagen: Wenn Sie schon diese hohen Kautelen fordern, muss natürlich auch das Maß gleich sein.
Nachdem mich die Vorrednerin provoziert hat, Herrn
Ströbele aufs Korn zu nehmen, will ich einmal auf Herrn
Neumann zu sprechen kommen:
({8})
Wie ist eigentlich das Telefongespräch zwischen ihm und
einem der schillerndsten Figuren in diesem Komplex,
nämlich Herrn Schreiber, zu bewerten?
({9})
Wenn der Herr Neumann einen entscheidungserheblichen
Unterschied darin sieht, dass nicht er den Herrn Schreiber
angerufen habe, sondern mit der Bitte zurückzurufen Herr
Schreiber ihn, ist das eine groteske Einlassung.
({10})
Wenn die Konsequenz eines Gesprächs wie des Gesprächs von Herrn Schmidt mit Herrn Kohl ist, dass man
Herrn Schmidt als Zeuge benennt, dann muss sich der
Herr Neumann auch als Zeuge benennen lassen.
Das geht nicht anders, sonst wird hier mit zweierlei Maß
gemessen.
({11})
Allein die Einlassung, er habe offenkundige Tatsachen
genannt, ist eine vorweggenommene Beweiswürdigung,
Claudia Roth ({12})
die hier nicht zulässig ist. Herr Ströbele, Sie stigmatisieren jeden Ihrer politischen Gegner und verdächtigen ihn,
er habe als mittelbarer Zeuge von den Spendernamen
Kenntnis erhalten. Wer kennt denn eigentlich den Inhalt
des Gespräches zwischen Herrn Neumann und Herrn
Schreiber?
({13})
Ich will mir nicht die Diktion von Herrn Ströbele zu Eigen machen und mich nicht mit Ihnen gemein machen, indem ich den Vorwurf erhebe, hier würde eine Drehbuchlegende geschrieben. Wenn ich Ihre sophistische Art an
den Tag legen würde, müsste ich sagen, Sie hätten genug
Anlass gegeben.
Wie ist zum Beispiel das Schreiben von Holzer an den
früheren Bundeskanzler bereits am 27. September 1999
zum „Spiegel“ gelangt, obwohl erst am 13. Oktober der
Kollege Beucher in seiner Anfrage vermeintlich den Anlass zur Suche gegeben hat? Ich werde nicht behaupten,
dass dort Regie geführt wurde und der Regisseur im
Kanzleramt saß.
({14})
Ich werde mich nicht mit ähnlich verleumderischen Argumenten oder in der gleichen Tonlage wie Sie hier präsentieren.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({15})
Herr Kollege Gehb,
Sie haben das Stichwort „Tonlage“ gegeben. Bei allem
Verständnis, dass der Gegenstand dieser Aktuellen Stunde
manchmal das Temperament durchgehen lässt, muss ich
darauf hinweisen, dass dies dort seine Grenze findet, wo
Kolleginnen und Kollegen beleidigt werden.
({0})
Ich möchte zumindest den Ausdruck „Ehrabschneider“
zurückweisen. Dies ist kein Ordnungsruf, aber ich möchte
Sie darauf verweisen, dass ein solcher Umgang mit Kolleginnen und Kollegen nicht dem Stile des Hauses angemessen ist.
({1})
Ich erteile jetzt dem Kollegen Rainer Wend für die
SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Herr von Klaeden, ich
muss Ihnen vorab eines ganz deutlich sagen:
({0})
Was Sie hier vorgeführt haben, war nicht die von Ihnen
immer wieder beschworene brutalstmögliche Aufklärung,
sondern vielmehr die brutalstmögliche Verteidigung des
Systems Kohl, was ich in dieser Situation für unangebracht halte.
({1})
Herr von Klaeden, ich möchte Ihnen etwas Weiteres
sagen: Wenn Sie als jüngere Führungskraft in der CDU
nicht kapieren, dass Sie auf diesem Weg einhalten und
umkehren müssen, dann werden Sie Ihre Partei ins Verderben führen, und daran kann niemand in unserem Land
ein Interesse haben.
({2})
Ich muss Ihnen deutlich sagen - Herr Repnik ist leider
gerade herausgegangen -: Nach dem, was Herr Gehb hier
geboten hat, hätte sich die CDU einen Gefallen getan,
wenn sie ihn nicht als Redner nominiert hätte.
({3})
Er hat nicht nur andere Parlamentarier beleidigt. Wer in
unserem Lande angesichts der Tatsache, dass die CDU
Schwarzkonten bei einer Frankfurter Privatbank geführt
hat, Unterlagen in einem Safe in der Schweiz gelagert und
die Stiftung Norfolk in Liechtenstein gegründet hat, uns
einen Vernichtungsfeldzug vorwirft, hat jedes Maß an
Realitätssinn verloren.
({4})
Weder Herr von Klaeden noch Herr Gehb haben verstanden, dass ich Herrn Schmidt nicht vorwerfe, er habe
mit Kohl kollaborierend den Untersuchungsausschuss in
die Irre führen wollen.
({5})
Ich werfe ihm Folgendes vor: Wer sich am Vorabend der
Zeugenvernehmung von Herrn Weyrauch, der für die
CDU Schwarzkonten bei einer Frankfurter Privatbank angelegt hat, mit Herrn Kohl trifft, wer sich am Vorabend
der Vernehmung von Herrn Terlinden, der das Geld von
Herrn Kohl physisch entgegengenommen und an Herrn
Weyrauch weitergeleitet hat, aber vor dem Ausschuss
schweigt, mit Herrn Kohl trifft und wer dann zwei Tage
vor der Vernehmung Kohls mit diesem Termine in seinem
Büro vereinbart und sich von der Zeugin Weber den Kaffee servieren lässt - wie Sie es uns noch nett geschildert
haben -, der erweckt den Eindruck, er sei als Mitglied des
Untersuchungsausschusses nicht mehr unabhängig.
Sie tun etwas, was ich schlimmer finde: Sie laufen Gefahr, im System Kohl wiederum von Ihrem früheren Matador missbraucht zu werden. Kohl baut doch wieder ein
Netz von Abhängigkeiten auf. Das ist ein Netz von Kumpaneien. Das ist ein Versuch, um am Ende Frau Merkel
und Herrn Merz wieder in eine Loyalität mit ihm zu zwingen, um zu verhindern, dass die CDU den endgültigen
Bruch mit ihm vollzieht, Herr Schmidt. Vollziehen Sie
den Bruch und machen Sie keine Kumpanei mit Kohl!
({6})
Ich habe vor einer halben Stunde eine Tickermeldung
bekommen, in der es heißt:
Mehr als die Hälfte ({7}) der Deutschen ist
der Meinung, dass die Politik der Regierung von AltBundeskanzler Helmut Kohl ... käuflich war.
({8})
Nur 38 Prozent aller Befragten glauben, dass die
einstige Regierung bei ihren Entscheidungen nicht
bestechlich war, ...
Ich sage Ihnen heute eines: So lange Sie nicht auch über
gerichtliche Schritte Helmut Kohl zwingen, die Namen
der Spender bekannt zu geben, solange Sie die Geheimnisse um die Safes in der Schweiz, um die Stiftungen in
Liechtenstein und die Schwarzkonten einer Frankfurter
Privatbank nicht aufklären können, so lange werden Sie
den Ruf nicht los, dass Ihre Regierung bestechlich war,
meine Damen und Herren. Das ist Ihre Aufgabe.
({9})
Deshalb habe ich die dringende Bitte an Ihre Parteivorsitzende, Frau Merkel, und an Ihren Fraktionsvorsitzenden, Herrn Merz, dafür zu sorgen, dass Sie in Zukunft
in diesem Untersuchungsausschuss einen anderen Weg
gehen, Herr Schmidt. Verstehen Sie Ihre Hauptaufgabe im
Untersuchungsausschuss nicht darin, politisch gegen die
Sozialdemokratie zu kämpfen. Kämpfen Sie mit uns gemeinsam dafür, dass der dunkle Schleier über dem System
Kohl gelüftet wird. Dann hätten wir alle gemeinsam etwas
für unser Parlament und für die Arbeit im Untersuchungsausschuss geleistet.
({10})
Der Kollege Bötsch
hat seine Rede, die er jetzt halten wollte, zu Protokoll ge-
geben.1) Ob dies in der Aktuellen Stunde möglich ist, lasse
ich heute dahingestellt sein, weil wir alle in die Sommerpause gehen wollen.
Deswegen erteile ich jetzt dem Kollegen Cem Özdemir
vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über den Gegenstand der heutigen Diskussion stand in der „Süddeutschen
Zeitung“ vom gestrigen Tage von Herbert Riehl-Heyse im
Feuilleton:
Das Parlament gibt sich in solchen Momenten auf und es ist von großer innerer Logik, dass das im
Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Ära Kohl
so deutlich geworden ist. Helmut Kohl hat - als er
sein System erst einmal etabliert hatte - nur noch wenig Verständnis für die Notwendigkeit und die
Schönheit der Gewaltenteilung gehabt. In seinen
Kabinettssitzungen saßen kunterbunt unter die
Minister gemischt die Anführer und Einpeitscher der
Parlamentsfraktionen; von seinem Kanzleramt aus
wurde derart ungeniert die Partei regiert, dass sich
die Beamten, nachdem vor der Machtübergabe nächtens noch schnell die Festplatten gesäubert worden
waren, sogar noch darauf berufen haben, es habe sich
vor allem um CDU-Interna gehandelt. Als hätten die
etwas in der Regierungszentrale verloren.
Meine Damen und Herren, hier ist in vortrefflicher Weise
beschrieben worden, was wir heute als System Kohl bezeichnen und was Gott sei Dank der Vergangenheit angehören wird.
Meine Damen und Herren, von diesem System
Kohl - ich will das ohne Polemik sagen - haben Sie in
zum Teil sehr schwieriger Weise sich zu lösen versucht.
Sie haben Ihre gesamte Parteispitze, Ihre gesamte Fraktionsspitze ausgewechselt, nachdem in Bruchteilen deutlich geworden ist, was als System Kohl bezeichnet wird.
Dafür haben Ihnen viele Kollegen aus dem Hause Respekt
gezollt, insbesondere der neuen Parteivorsitzenden. Ich
erinnere an den Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen
Zeitung“ - er war in Ihren Reihen nicht unumstritten über die Abrechnung mit dem Ehrenvorsitzenden, den Sie
mittlerweile verloren haben.
Meine Damen und Herren, die Berichte, die wir jetzt
aus dem Untersuchungsausschuss bekommen und was
wir in diesen Tagen hören, ist nichts anderes als die Exhumierung des Altkanzlers, die gegenwärtig in Vorbereitung ist. Der Altkanzler soll als Denkmal und Symbol
wieder auferstehen. Die neue Unionsführung schafft es
gerade nicht, die Nabelschnur zu kappen. Sie laufen
herum wie geprügelte Kinder, die zwar über ihren Alten
schimpfen und jammern, sich aber trotzdem nicht von ihm
lösen können.
({0})
Frau Merkel und Herr Merz agieren ein bisschen so wie
Flugschüler, die zwar eifrig am Steuer drehen, sich dann
aber bei Turbulenzen darauf verlassen, dass der alte Leh-
rer noch immer den Kurs vorgibt und weiß, was richtig ist.
Herr Kollege Schmidt, Sie setzen Ihr eigenes Fehlver-
halten bewusst ein, den Ausschuss zu beschädigen und da-
mit das ganze Parlament und sein Ansehen zu demontie-
ren. Einen Untersuchungsausschuss einzusetzen ist eines
der zentralen Rechte des Parlaments. Sie sind ein Teil des
wiedererstarkten Systems Kohl. Herr Schmidt, Sie kön-
nen es drehen und wenden, wie Sie wollen: Nach Ihrem
Treffen mit dem Altkanzler haben Sie Ihre Glaubwürdig-
keit irreparabel beschädigt. Das allein wäre vielleicht
noch verkraftbar. Aber für die CDU, glaube ich, kommt
das einer Katastrophe gleich. Schaden haben nicht nur die
Union und Herr Schmidt genommen. Schaden nehmen
wir alle: Schaden nimmt das Ansehen des Parlaments;
Schaden nimmt das Ansehen der Politik; Schaden nimmt
das Ansehen jedes Politikers, der sich für Ziele und In-
1) Anlage 5
halte engagiert; denn wir alle setzen uns dem Verdacht
aus, dass das, was das System Kohl war, für uns alle gilt.
Deshalb appelliere ich: Gehen Sie weiter auf dem Weg,
den Sie schon einmal eingeschlagen hatten! Die Union
war schon einmal weiter.
({1})
Gegenwärtig laufen Sie mit Siebenmeilenstiefeln dorthin
zurück, wo Sie angefangen haben, die Ära Kohl aufzuarbeiten.
Machen wir uns für den Bruchteil einer Sekunde - länger hält man es nämlich nicht aus - einmal den Spaß, uns
vorzustellen, was eigentlich passiert wäre, wenn es keinen
Regierungswechsel gegeben hätte und wenn das, was wir
heute wissen, aufgedeckt worden wäre. Ich glaube, wir
hätten es mit einer Staatskrise zu tun. Ich weiß, wovon ich
rede. Stellen Sie sich vor: Helmut Kohl wäre noch immer
Kanzler und die Union wäre, so wie sie sich gegenwärtig
präsentiert, die größte Regierungsfraktion und müsste das
alles aufarbeiten.
({2})
Wir haben inzwischen gesehen, dass die Union es noch
nicht einmal schafft, sich vom Altkanzler loszulösen. Um
wie viel schwerer wäre es Ihnen gefallen, sich von einem
Kanzler zu lösen, der noch regiert hätte? Deshalb kann
man froh sein, dass es einen Regierungswechsel gegeben
hat, der uns die Chance bietet, alles aufzuarbeiten.
Vernunft wird bei Ihnen zunehmend durch die Definition von Gefolgschaft ersetzt. Es wird nur noch gefragt:
Bist du für oder bist du gegen Dr. Kohl? Es steht nicht
mehr die Frage im Mittelpunkt: Was ist eigentlich die
Wahrheit? Aber mit der Beantwortung dieser Frage sollten wir uns eigentlich beschäftigen.
({3})
Die Union ist - ich glaube, ich spreche für die Mehrheit in diesem Hause - bedauerlicherweise nicht bereit
bzw. noch nicht bereit - ich hoffe, dass sich die Bereitschaft noch einstellen wird -, aus der Sackgasse des
Schweigens auszubrechen, in die sie sich hat führen lassen. Sie zahlen dafür einen sehr hohen Preis oder - wie es
von Brauchitsch im Titel seiner Memoiren genannt - den
Preis des Schweigens.
({4})
Ich erteile jetzt das
Wort dem Kollegen Professor Dr. Rupert Scholz,
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man den
bisherigen Verlauf der Aktuellen Stunde Revue passieren
lässt, dann wird das evident, was mein Eindruck - ich
gehöre dem Untersuchungsausschuss nicht an - vom Untersuchungsausschuss ist: Er ist längst und ausschließlich
ein politisches Kampfinstrument geworden.
({0})
Er ist längst nicht mehr das Institut - ich nehme das auf,
was Herr Stadler gesagt hat - einer parlamentarischrechtsstaatlichen demokratischen Kontrolle zur Aufklärung von bestimmten Missständen oder Zuständen.
({1})
Hier werden im Grunde systematisch Kampfstrategien
gefahren. Dies setzt sich heute hier eindeutig fort.
({2})
Der Großteil der Reden, die heute hier gehalten worden
sind, besteht aus nichts anderem als aus der Wiederholung
bestimmter Urteile oder Vorverurteilungen, nur mit dem
Unterschied - das ist offenkundig der formale Ansatzpunkt für diese Debatte -, dass man jetzt ein neues Opfer
braucht. Das ist der Kollege Schmidt,
({3})
den man jetzt auch wegen irgendwelcher aus der Luft gegriffenen Dinge möglichst schnell verurteilen möchte.
({4})
Herr Hofmann hat Herrn Schmidt - Verzeihung, Frau Präsidentin, ich wünschte mir, dass Ihre Vorgängerin das aufgegriffen hätte - wörtlich als „Komplizen“ bezeichnet.
Komplize wovon?
({5})
Es gibt bisher keine Erkenntnisse, die in irgendeiner
Weise eine Verurteilung zulassen. Das Wort „Kollaborateur“ - was ist denn das für ein Begriff? - haben Sie
ebenfalls gegenüber Herrn Schmidt benutzt. Ist das Ihr
Stil,
({6})
mit dem Sie das in der Tat schwierige, diffizile Feld eines
Untersuchungsausschusses bearbeiten?
({7})
Sie setzen hier nichts anderes fort als das, was Sie im
Untersuchungsausschuss bisher getan haben.
Ich unterstreiche erneut das, was Herr Stadler gesagt
hat: Der Untersuchungsausschuss ist ein wichtiges Institut. Ein Untersuchungsausschuss hat sich aber an rechtsstaatliche Verfahren zu halten. Es ist nicht gut, dass ein
Untersuchungsausschuss nach dem sich inzwischen ständig wiederholenden Szenario abläuft: Eine Behauptung
wird in den Raum gestellt, anschließend kommt der große
öffentliche Auftritt im Fernsehen - die Verdächtigung und dann muss sich irgendjemand exkulpieren. Das hat
nichts mehr mit dem Prinzip eines objektiven Verfahrens,
bei dem es um Zeugenvernehmung geht, zu tun.
({8})
Die Strategie hinter der Diffamierung besteht darin, bestimmte Personen in einen Rechtfertigungs-, einen Exkulpationszwang zu versetzen.
({9})
Genau das gleiche Spiel veranstalten Sie jetzt mit dem
Kollegen Schmidt und anderen Kollegen meiner Fraktion.
({10})
Es ist absolut legal und legitim - ich benutze sehr bewusst
beide Worte -, dass in einer Situation wie der von Helmut
Kohl - er wollte vor Weihnachten aussagen; das wollen
Sie nicht; lieber fahren Sie die Szenarien mit immer neuen
Verdächtigungen - selbstverständlich auch ein Stück Fürsorge und Gewährleistung von rechtlichem Gehör stattgefunden hat.
({11})
Wenn ich etwas aus diesem Untersuchungsausschuss
höre, dann frage ich mich manchmal: Hat man eigentlich
den Begriff des rechtlichen Gehörs noch im Sinn? Hat
man das verstanden? Zu einem Untersuchungsverfahren
gehört auch rechtliches Gehör!
({12})
Das wird systematisch missachtet. Daher bleibt einer
Fraktion wie der Union, die insgesamt vielfältig diskriminiert und diffamiert wird, gar nichts anderes übrig, als
dass sie ihre Chancengleichheit zu wahren sucht.
({13})
Es gehört sich so, dass sie sich informiert und verständigt.
Das ist selbstverständlich.
Wenn Sie Mitglieder des Untersuchungsausschusses in
den Zeugenstatus erheben und sie damit, genau genommen, neutralisieren wollen - nichts anderes ist das -, dann
bedenken Sie bitte - das ist hier zu Recht angesprochen
worden -, dass das Recht und die Pflicht für alle gelten.
({14})
Sie alle, die Sie entsprechende Gespräche geführt haben,
werden dann im Zeugenstand sein. Ich erinnere an das Gespräch mit dem unsäglichen Herrn Schreiber.
({15})
Ich fordere die Bundesregierung an dieser Stelle auf, endlich dafür zu sorgen, dass dieser Herr Schreiber ausgeliefert wird, damit er endlich nach Deutschland kommt.
({16})
Wenn das geschieht, können Sie ihn im Untersuchungsausschuss vernehmen und dann müssen Sie nicht telefonieren. Das ist viel wichtiger. Aus meiner Sicht ist das das
Entscheidende.
Ein Schlusswort. Wenn Sie das Untersuchungsverfahren in dieser Art, wie es heute im Plenum geschieht, fortsetzen - weitere Diffamierungen, Verdächtigungen und
Ähnliches -, dann droht in der Tat das, was der Kollege
Stadler mit sehr berechtigter Ernsthaftigkeit zum Ausdruck gebracht hat.
Herr Kollege, wir
sind in der Aktuellen Stunde. Kommen Sie bitte um
Schluss!
Das wichtige parlamentarische - natürlich immer umkämpfte - Institut Untersuchungsausschuss droht in Gefahr zu geraten. Das
sollten Sie sich immer vor Augen halten.
Danke.
({0})
Ich erteile nun dem
Kollegen Peter Danckert, SPD-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Scholz,
Sie haben eben davon gesprochen, dass es um Diffamierungen und Verdächtigungen geht. Ich frage Sie: Was ist
denn mit den Millionen, mit den Schwarzgeldern? Handelt es sich dabei um Verdächtigungen oder um Fakten?
Wir wissen ja inzwischen, dass es sich um Tatsachen handelt.
({0})
Herr Scholz, was ist mit der Millionenspende, die Herr
Schreiber Herrn Kiep und damit der CDU gegeben hat?
Sind das Verdächtigungen? Was ist mit den 100 000 DM,
die Herr Schäuble bekommen hat? Handelt es sich um
Verdächtigungen oder um Tatsachen?
({1})
Wir versuchen im Untersuchungsausschuss, die Tatsachen, die uns bekannt sind, mit dem Untersuchungsauftrag in Einklang zu bringen. Wir werden sehen, was am
Schluss herauskommt. Diese Punkte sind knallharte Fakten und keine Verdächtigungen.
Nun zu dem, was uns eigentlich veranlasst hat, heute
diese Aktuelle Stunde durchzuführen. Herr Kollege
Schmidt, ich sage es ganz freimütig, auch wenn ich damit
teilweise etwas anderes sage als die Kollegen. Wenn es
nur um Ihre fünf bis acht Besuche bei Herrn Kohl gegangen wäre, dann hätte ich gesagt, das war ein grober Fehler - das habe ich Ihnen gesagt -, aber das hätte diese Aktuelle Stunde nicht erfordert.
Wir müssen das aber im Zusammenhang mit aktuellen
Ereignissen sehen. Uns liegen, wie Sie wissen, die Unterlagen der Staatsanwaltschaft Bonn vor. Darunter befindet
sich ein Papier - Sie wissen, Kommissar Zufall hilft uns
da weiter - von Herrn Lüthje, nicht von uns. In diesem
eindrucksvollen Papier berichtet er von einem Drehbuch,
das 1984 und 1986 zur Rettung von Herrn Kohl erstellt
worden ist. Mit Falschaussagen hat man ihn damals vor
dem Verlust der Kanzlerschaft gerettet. Das sind die Fakten, die sich aus diesem Papier ergeben.
Aufgrund der vielen Andeutungen, die Zeugen gemacht haben, sind wir zu dem Schluss gekommen, dass es
immer wieder Absprachen gegeben hat.
({2})
Damit haben Sie allerdings ein Problem bekommen, da
auch Sie jetzt den Verdacht hervorgerufen haben, an einem weiteren Drehbuch mitzuwirken. Das ist der Punkt.
({3})
- Regen Sie sich einmal ab, Herr Schmidt! Sie sind doch
derjenige, der das hier ausgelöst hat.
Auch wenn Sie nicht in richterlicher Funktion tätig gewesen sind, müssten Sie meines Erachtens als Anwalt - nicht als Abgeordneter - so viel Sachverstand haben, um zu begreifen, dass Sie den bösen Schein vermeiden müssen.
({4})
Den haben Sie doch zumindest durch Ihre Aktivitäten im
Umfeld von Herrn Kohl hervorgerufen. Jemand sagte sogar: als Marionette von Herrn Kohl. Diesen Ausdruck
möchte ich gar nicht übernehmen, er ist aus der Zeitung.
Aber durch Ihre ständigen Besuche bei Herrn Kohl - man
hat fast den Eindruck, dass Sie pflichtbewusst dort hingegangen sind - haben Sie einen bösen Schein hervorgerufen.
Wenn Sie das wenigstens noch eingeräumt hätten, dann
hätten wir ja einen Weg gefunden, um gemeinsam miteinander neue Verfahrensregeln zu vereinbaren. Mich hat
aber, ehrlich gesagt, betroffen gemacht, dass Sie darin
noch nicht einmal einen Fehler gesehen haben und kein
Wort dazu gesagt haben. Das hätte Ihnen dann auch keiner übel genommen.
({5})
In dem Moment, in dem Sie gesagt hätten: „Ich bekenne,
das war eine unbedachte Sache; ich glaubte, ich hätte etwas Richtiges gemacht, aber ich sehe die fatale öffentliche Wirkung“, wären wir wieder gemeinsam im Boot
gewesen. Das ist jedenfalls meine Meinung.
({6})
Ich glaube, auch den Kollegen Stadler hat es unangenehm berührt, dass Sie bis zum heutigen Tage sagen: Das
war richtig und - jetzt kommt’s - das mache ich weiter so.
Wir sind alle aufgerufen, darüber nachzudenken, ob
wir die Verfahrensregeln nicht so eindeutig gestalten, dass
Sie gar nicht mehr in die Versuchung kommen, so zu handeln, wie Sie gehandelt haben. Das bedeutet, dass wir unsere Regeln verändern müssen und wirklich ein vernünftiges Untersuchungsausschussgesetz zustande bringen
müssen, bei dem solche Dinge nicht mehr möglich sind.
Ich finde, das ist unabweisbar.
Auch wenn Sie, Herr Schmidt, an dieser Stelle nicht
das Amt eines Richters bekleidet haben, so sind Sie doch
auch nicht der Rechtsberater von Herrn Kohl. Es muss Ihnen doch einleuchten, dass Sie hier eine neutrale, zurückhaltende Position einnehmen müssen und dass Sie die in
dem Moment verlassen, sobald Sie den Zeugen permanent besuchen.
Es gibt hier für uns ja auch Regeln - Herr Scholz wird
mir das bestätigen -, die sich nicht nur aus der unmittelbaren Anwendung der StPO ergeben, sondern auch aus
den IPA-Regeln, die besagen, dass die Zeugen unabhängig voneinander nacheinander zu hören sind. Was macht
es für einen Sinn, wenn Sie regelmäßig den Hauptzeugen
über das, was abgelaufen ist, informieren? Es geht dabei
doch gar nicht um Zeugenbeeinflussung, sondern um
Informationen.
({7})
- Eine öffentliche Sitzung? Dann können wir es gleich so
machen, Herr Schmidt, dass wir alle Zeugen in den Zuschauerraum bitten, damit sie dort Platz nehmen und alles
hören können.
({8})
Gerade das soll durch die Übernahme der IPA-Regeln und
die unmittelbare Anwendung der Strafprozessordnung
unterbunden werden. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
Herr Kollege, denken
Sie an die Redezeit. Ihre fünf Minuten sind vorbei.
Ich komme zum Schluss.
Ich meine, dass wir aufgrund des von Ihnen zu verantwortenden Vorfalls aufgerufen sind - und zwar schnell;
ich sage: noch in diesem Jahr, möglicherweise noch für
das laufende Verfahren -, gemeinsam ein straffes, korrektes und vor allen Dingen auch scharfes Untersuchungsausschussgesetz zu schaffen; denn die bisherigen Regelungen dienen nur der Verunklarung und der Verhinderung der Aufklärung. Ich glaube, wir alle haben ein
Interesse daran - auch Sie müssten letztlich ein Interesse
daran haben -, dass dieser ungeheuerliche Verdacht mehr als ein Verdacht ist es im Moment ja noch nicht ({0})
aufgeklärt wird,
({1})
aber so, dass alle mitwirken und dass die Zeugen zur
Wahrheitsfindung beitragen.
({2})
Sie sollten sich nicht wie Herr Kohl verhalten, der jedes
Mal gebetsmühlenartig das wiederholt, was wir schon
lange zuvor von ihm gehört haben.
Herr Schmidt, insofern bedaure ich Sie wegen Ihrer
sechs Besuche bei Herrn Kohl. Sie haben wahrscheinlich
immer dasselbe gehört, nämlich das, was wir gestern und
auch vor acht Tagen gehört haben.
Vielen Dank.
({3})
Als letztem Redner
erteile ich dem Kollegen Friedhelm Julius Beucher von
der SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Tatort Kanzleramt“, ich greife dieses Wort von Herrn Kohl auf, das er gestern als ziemlich
wirren Vorwurf gegen die Bundesregierung erhoben hat.
Während bei mir die Entscheidung der FIFA am gestrigen
Tag, die Weltmeisterschaft nach Deutschland zu vergeben, Freude ausgelöst hat, hat der Freudentaumel bei
Herrn Kohl in der anschließenden Vernehmung offensichtlich einiges durcheinander gebracht.
Da setzt er doch mit unglaublicher Unverfrorenheit die
Behauptung in die Welt, das Kanzleramt unter Gerhard
Schröder habe mit der Aktensuche im Oktober 1999 gezielt diesen Untersuchungsausschuss vorbereitet. Er bezieht sich dabei auf ein Papier, das genau das Gegenteil
aussagt: Die Aktivitäten des Kanzleramtes im Oktober bezogen sich nämlich auf eine Anfrage von mir. Ich habe
mich dabei tatsächlich auf einen Untersuchungsausschuss
bezogen. An Herrn Kohl und seine Helfershelfer gerichtet, sage ich: Dieser Untersuchungsausschuss hieß „Veruntreutes DDR-Vermögen“ und existierte in der vorigen
Legislaturperiode.
Herr Gehb, man gebe Ihnen Verstand und vielleicht
auch eine Brille!
({0})
Meine Fragen an die Bundesregierung nach den verschwundenen Leuna-Akten waren nämlich von Ende
September 1999. Erst danach erschien der „Spiegel“-Bericht. Erst nachdem ich die Fragen an die Bundesregierung gestellt hatte, konnte sie mit der Suche beginnen, die
ja bekanntermaßen in einem Desaster endete.
({1})
- Das einzige, was wir von Ihrem Schreien verstanden haben, war die Angabe 13. Oktober. - Im Untersuchungsausschuss haben wir das gestern klarstellen können.
Helmut Kohl hat dann seine noch eine Stunde zuvor zusammenfantasierten Vorwürfe gegen die heutige Bundesregierung kleinlaut relativiert.
„Tatort Kanzleramt“, dieser Begriff passt aber tatsächlich wie die Faust aufs Auge. Nur: Die Tatzeit liegt in den
Jahren 1998, 1997 und auch in den Jahren zuvor, also in
den Jahren vor dem Regierungswechsel.
({2})
Der Hirsch-Bericht beweist, wie es im Kanzleramt unter
Kohl zugegangen ist. So schlimm ist es da zugegangen,
dass der Staatsanwalt jetzt tätig werden muss. Mit krimineller Energie wurden unter Kohls und Bohls Verantwortung Computerdaten gelöscht, Akten manipuliert und meterweise Unterlagen beseitigt.
({3})
- Herr Scholz, diesen Vorwurf können Sie an dieser Stelle
nicht schönreden. Das ist Fakt.
({4})
Herrn Schmidt muss ich an dieser Stelle sagen: Ihre
Treffen mit Herrn Kohl haben zumindest bewirkt, dass
sich das gestörte Verhältnis des Herrn Kohl zur Realität
auf Sie übertragen hat. Da laufen Sie seit Monaten immer
mit der gleichen Behauptung durch das Land, von den
verschwundenen Akten im Kanzleramt seien im Bundestag Kopien vorhanden.
({5})
Herr Schmidt, ich befürchte, Sie kriegen es einfach nicht
in den Kopf, weil Sie es nicht wahrhaben wollen. Wir reden hier nicht von der Vernichtung von sechs Ordnern mit
Originalen,
({6})
die zum Teil in Kopie vorliegen. Es geht hier um Akten in
einer Größenordnung zwischen 50 und 100 Ordnern, die
allein im Bereich Leuna vollständig beseitigt worden
sind.
({7})
Herr Schmidt, dem Deutschlandfunk haben Sie am
30. Juni gesagt, Sie hätten mit Herrn Kohl strategische
Fragen abgestimmt. Übrigens seltsam, dass Sie das gestern im Untersuchungsausschuss nicht wiederholt haben.
Aber unabhängig davon: Ich glaube Ihnen das insoweit,
als Herr Kohl Ihnen die Strategie vorgibt. Die unverschämte Art und Weise, wie Sie Burkhard Hirsch denunzieren,
({8})
egal ob Sie selbst oder Herr Repnik oder sonst einer aus
Kohls Komplizenschaft, ist auf Kohls Mist gewachsen.
Kein anderer als Herr Kohl hat diese ekelhafte Diffamierungskampagne bei dem Treffen der CDU-Ausschussmitglieder am 26. Juni vorgegeben. Am 27. Juni schicken Sie
Herrn Repnik in die Bütt, am 28. Juni steht es in der Zeitung und am 29. Juni wiederholt Herr Kohl diesen Mist im
Ausschuss noch einmal. Mir zeigt das deutlich, dass Ihre
so genannte neue CDU nach wie vor vom Alten regiert
wird.
({9})
Aber abgesehen von der richtigen Kritik meiner Vorredner an Ihrer Verhaltensweise als Obmann, abgesehen
von Ihren unglaubwürdigen Aussagen gestern im Untersuchungsausschuss, abgesehen von der dreisten Absicht,
diese Stillosigkeit fortzusetzen, frage ich Sie, Herr
Schmidt, und die Kolleginnen und Kollegen der CDUFraktion: Wie lange dauert es eigentlich noch, bis die Ära
Kohl bei Ihnen beendet ist? Ich sage Ihnen: Ganz
Deutschland wartet darauf. Die Bevölkerung hat sich
nämlich in Sachen Kohl längst entschieden. Ich lese Ihnen
einmal die Ergebnisse der Umfrage eines Fernsehsenders
vom heutigen Tage vor.
Aber das muss kurz
sein, weil Ihre Redezeit abgelaufen ist.
({0})
Dann, Frau Präsidentin, erwähne ich nur die zwei wichtigsten Aussagen.
Fast drei Viertel der Deutschen, nämlich 74 Prozent,
kritisieren das Verhalten von Herrn Kohl vor dem Untersuchungsausschuss.
({0})
74 Prozent der Deutschen vertreten zudem die Auffassung, Herr Kohl habe durch sein Verhalten als Bundeskanzler den Amtseid verletzt. Ich habe dem nichts mehr
hinzuzufügen.
({1})
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf:
23 a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Hermann
Bachmaier, Bernhard Brinkmann ({0}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Volker
Beck ({1}), Hans-Christian Ströbele, Kerstin
Müller ({2}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Rechts an Grundstücken in den neuen Ländern ({3})
- Drucksache 14/3508 ({4})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({5})
- Drucksache 14/3824 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Joachim Hacker
Andrea Voßhoff
Rainer Funke
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Rechtsausschusses ({6})
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Michael
Luther, Andrea Voßhoff und der Fraktion der
CDU/CSU
Entschädigungspflicht nach dem Vermö-
gensgesetz bei Einziehung von beweglichen
Sachen regeln
- Drucksache 14/1003, 14/3824 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Joachim Hacker
Andrea Voßhoff
Rainer Funke
Ich eröffne die Aussprache. Die Reden sind zu Proto-
koll gegeben.1) Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Grundstücksrechtsänderungsgesetzes. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungenen? - Gegen die
Stimmen von PDS, CDU/CSU und F.D.P. ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Gegen die Stimmen von PDS, CDU/CSU und
F.D.P. ist der Gesetzentwurf angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU zur Regelung der Entschädigungspflicht nach dem Vermögensgesetz bei Einziehung von
beweglichen Sachen, Drucksache 14/3824. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den Antrag auf Drucksache 14/1003 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Einstimmige Erledigungserklärung. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung und Ergänzung vermögensechtlicher und anderer Vorschriften ({7})
- Drucksache 14/1932 ({8})
a) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({9})
- Drucksache 14/3802 Berichterstattung:
Abgeordete Dr. Michael Luther
Reinhard Schultz ({10})
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({11}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 14/3803 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Susanne Jaffke
Hans Georg Wagner
Oswald Metzger
Dr. Günter Rexrodt
Dr. Uwe-Jens Rössel
Es liegen je ein Änderungsantrag der Fraktion der
F.D.P. und der Fraktion der PDS sowie ein Ent-
schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor.
Ich eröffne die Aussprache. Die Reden sind zu Proto-
koll gegeben.1) Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Vermögens-
rechtsergänzungsgesetzes in der Ausschussfassug, Druck-
sachen 14/1932 und 14/3802. Dazu liegen zwei Ände-
rungsanträge vor, über die wir zuerst abstimmen. Wir
kommen zunächst zum Änderungsantrag der Fraktion der
F.D.P. auf Drucksache 14/3826. Wer stimmt für diesen
Änderungsantrag? - Gegenprobe! - Gegen die Stimmen
von F.D.P. und CDU/CSU ist dieser Antrag abgelehnt.
Wir kommen zum Änderungsantrag der Fraktion der
PDS auf Drucksache 14/3827. Wer stimmt für diesen An-
trag? - Gegenprobe! - Der Antrag ist gegen die Stimmen
der PDS abgelehnt.
Wer stimmt für den Gesetzentwurf in der Ausschuss-
fassung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetz-
entwurf ist gegen die Stimmen von PDS, CDU/CSU und
F.D.P. in zweiter Beratung angenommen.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Ge-
genprobe! - Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen
von PDS, CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der CDU/CSU auf Drucksache
14/3836. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? -
Wer stimmt dagegen? - Der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 a und 24 b auf:
24 a) - Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter
- Drucksache 14/3372 ({12})
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter ({13})
- Drucksache 14/3645 ({14})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung
({15})
- Drucksache 14/3799 -
Berichterstattung:
Abgeordnete Claudia Nolte
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({16}) zu der Unterrich-
tung durch die Bundesregierung
Vizepräsidentin Anke Fuchs
1) Anlage 6 1) Anlage 7
Bericht der Bundesregierung über die Beschäftigung Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst
- Drucksachen 14/2415, 14/3799 Berichterstattung:
Abgeordnete Claudia Nolte
Zu diesem Gesetzentwurf liegen vier Änderungsanträge der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Damit sind
Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Silvia Schmidt, SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Schwerbehindertengesetz wird am 1. Oktober dieses Jahres in Kraft
treten. Darauf sind wir stolz. Wir sind in dieser wichtigen
Frage miteinander zu einem Konsens gekommen, der in
seiner Breite alle gesellschaftlichen Gruppen und Verbände einschließt, die den Willen bekunden, 50 000 arbeitslose schwerbehinderte Mitbürger in Arbeit zu bringen - ein hoher Anspruch, für den wir Lösungen gefunden haben.
Wir alle wissen: Menschen mit Behinderungen haben
es nicht nur schwerer; sie sind im Alltag auch massiv benachteiligt und noch immer Diskriminierungen ausgesetzt. Für Menschen mit Behinderungen ist es kaum möglich, sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten. Von Chancengleichheit kann hier nicht gesprochen werden.
Behinderte Mitbürger und Mitbürgerinnen sprechen von
sozialer Ungerechtigkeit und sie haben Recht.
Behinderte Menschen sind Experten in eigener Sache.
Sie wollen keine Almosen, sondern Chancengleichheit.
({0})
Die Tatsache, dass wir, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Verbände und Regierungsparteien, uns zusammengesetzt haben, zeigt, dass wir alle erkannt haben, dass es unsere
Pflicht ist, zu handeln, und das Ergebnis ist gut.
Die öffentliche Anhörung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf am 7. Juni war von der Zustimmung aller Seiten geprägt. Den Kollegen und Kolleginnen von der Opposition war die Einmütigkeit aller Beteiligten während
der Anhörung schon richtig unheimlich. Ja, man hat Hoffnung und diese Hoffnung darf nicht enttäuscht werden.
Wir werden das auch nicht tun.
Die Änderungswünsche und Hinweise der Beteiligten
in der Anhörung wurden ernst genommen. Wir haben sofort reagiert:
Erstens. Auch in Betrieben, die keine Schwerbehindertenvertretung haben, sind jetzt Integrationsvereinbarungen möglich.
Zweitens. Wir haben deutlich gemacht, dass sich die
Integrationsfachdienste für die betriebliche Ausbildung
einsetzen können.
Drittens. Durch eine Ergänzung des § 37 b des
Schwerbehindertengesetzes haben wir klargestellt, dass
die Schwerbehinderten, also die Betroffenen, in die Aufgaben der Integrationsfachdienste explizit mit einbezogen
werden.
Viertens. Wir haben auf die Bedenken des Vertreters
der Integrationsprojekte, Herrn Stadler, bei den Vermittlungsversuchen Schwerbehinderter - laut Gesetz - an
letzter Stelle zu stehen, reagiert, indem wir in § 53 a des
Schwerbehindertengesetzes eine Ergänzung vorgenommen haben.
Fünftens. Wir haben - da richte ich mich ausdrücklich
an die Opposition, um Wiederholungen, Vorwürfe und die
damit verbundenen Unsicherheiten zu vermeiden - auch
die letzten Zweifler überzeugt, dass die Förderung der
Werkstätten für Behinderte mit In-Kraft-Treten des Gesetzes ohne jede Einschränkung fortgesetzt wird.
({1})
Ein ganz besonders wichtiger Punkt ist: Schwerbehinderte, die an einer AB-Maßnahme teilnehmen, haben Anspruch auf Arbeitsassistenz. Ein kleines Beispiel dazu:
Ich habe vorhin mit meiner Freundin Gudrun Hesse telefoniert. Sie ist - leider - schwerbehindert und hat zurzeit
die Möglichkeit, an einer AB-Maßnahme teilzunehmen.
Dieser Frau täte es gut, wenn sie jetzt in Form von Arbeitsassistenz eine Unterstützung hätte. So könnte sie ihre
Arbeit mit Sicherheit noch leichter meistern. Ihr schwerbehinderter Mann Martin, Rollstuhlfahrer, hochgradig engagiert und ehrenamtlich tätig, hat jetzt wieder Chancen
auf dem ersten Arbeitsmarkt. Erst das Recht auf Teilzeitarbeit und Arbeitsassistenz macht dies möglich. Aber er
sagt ganz deutlich: Dies hätte schon viel früher kommen
müssen.
({2})
Meine Damen und Herren, ein weiteres, mir persönlich
besonders wichtiges Anliegen konnten wir in der Ausschusssitzung am 28. Juni dieses Jahres klären. Laut § 14
Abs. 4 des Schwerbehindertengesetzes werden auch
Behinderte, die ihren Erziehungspflichten nachkommen
müssen, einen Anspruch auf Teilzeitbeschäftigung haben. Das ist ein ganz wesentlicher Schritt hin zur Integration schwerbehinderter Frauen. Ich denke, das sehen
alle hier im Raum genauso. Der Anspruch auf Teilzeitarbeit wird zur Schaffung neuer Arbeitsplätze beitragen.
Dies gilt auch für die Arbeitsassistenz. Das kam in der
entsprechenden Anhörung zu diesem Thema besonders
zum Ausdruck. Zusammen mit den Integrationsfachdiensten und speziellen Stellen der Arbeitsämter wird es
jetzt möglich sein, auch Langzeitarbeitslose, Schwerbehinderte und Behinderte, die aufgrund besonders schwerer Benachteiligung von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sind, vermehrt in die reale Arbeitswelt zu integrieren. Arbeit gibt nicht nur materielle
Sicherheit. Arbeit gibt Lebensgefühl, Miteinander, Anerkennung und vor allem Selbstbestimmung.
({3})
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Wir werden nach In-Kraft-Treten des Gesetzes vor allem die Integrationsprojekte intensiv unterstützen. Das
heißt: Sobald wir erste Erfahrungen im Hinblick auf die
konkrete Förderung gesammelt haben, werden wir die
entsprechenden Bestimmungen konkretisieren, um direkt
auf die Ansprüche dieser Projekte zu reagieren, damit die
Förderung nicht irgendwo versandet. Sie muss vielmehr
greifen.
Unser Ziel kann nur erreicht werden, wenn wir gemeinsam offensiv an die Öffentlichkeit treten. Dazu fordere ich alle auf: die Verbände, die Arbeitgeber, die Gewerkschaften, die Politik - hiermit schließe ich die Opposition ein - und besonders die Medien. Denn auch
behinderte Menschen lesen Zeitung, sehen fern, haben
Computer und surfen im Internet. Auch sie sind Kunden.
Man sollte einmal für diese Kunden eine kostenlose Werbung schalten. Der Impuls für diese Kampagne könnte
schon von dieser Bundestagsdebatte ausgehen.
Ich wiederhole: Es ist eine Herausforderung an unsere
Zivilgesellschaft, soziale Gerechtigkeit für behinderte
Mitbürger herzustellen.
({4})
Das Wort hat nun die
Kollegin Claudia Nolte, CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Schon
nach recht kurzer Beratungszeit können wir heute die
zweite und dritte Lesung des Entwurfes eines Gesetzes
zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter
vornehmen. Da dieses Gesetz schon zum 1. Oktober dieses Jahres in Kraft treten soll, ist eine zügige Beratung
verordnet worden. Jedoch müsste sich inzwischen herumgesprochen haben, dass die Qualität eines Gesetzes nicht
unbedingt von der Geschwindigkeit des Gesetzgebungsverfahrens abhängt. Im Gegenteil! Das zeigt sich auch in
diesem Fall.
Aus der Sicht der CDU/CSU-Fraktion verliefen die
Beratungen sehr enttäuschend. Das halte ich für umso verwunderlicher, als wir von Anbeginn an deutlich gemacht
haben, dass wir hier ein gemeinsames Anliegen haben und
zu Gemeinsamkeiten gelangen wollen, und Gesprächsbereitschaft signalisiert hatten.
In dem Ziel, das wir erreichen wollen - auch in den
konkreten Punkten, die Sie mit Ihrem Gesetzentwurf aufgegriffen haben -, besteht eine große Übereinstimmung.
An erster Stelle zu nennen ist, dass für uns alle eine bei
den Schwerbehinderten bestehende Arbeitslosenquote
von 18 Prozent unakzeptabel und viel zu hoch ist und dass
wir deshalb Wege finden müssen, diese hohe Zahl abzubauen. Wie dringend das ist, zeigt im Übrigen der Bericht
der Bundesregierung über die Beschäftigung Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst für das Jahr 1998, der
heute auch zur Beratung ansteht. Denn prozentual gesehen ist ihre Einstellungsquote durch die Reduzierung der
Stellen im öffentlichen Dienst und die erhöhten Abgänge
wieder gesunken; sie beträgt jetzt 2,9 Prozent. Wir haben
es also mit einer Verschlechterung der Situation zu tun.
Die Bundesregierung sagt in ihrem Bericht selbst, dass
sich mit der bestehenden Einstellungspraxis die Schwerbehindertenquote im öffentlichen Dienst auf Bundesebene auf mittlere Sicht nicht halten lassen wird.
({0})
Dabei haben eigentlich alle Fraktionen in den letzten Debatten zu diesem Thema deutlich gemacht, dass der öffentliche Dienst eine Vorreiterfunktion hat. Wenn wir von
anderen etwas verlangen, müssen wir Vorbild sein. Deshalb haben wir hier eine gewisse Bringschuld.
Neben der grundsätzlichen Übereinstimmung in dem
Ziel, die Arbeitslosenquote der Schwerbehinderten zu
senken, sind wir uns auch über den Handlungsbedarf in
den Bereichen einig, die Sie in diesem Gesetzentwurf angesprochen haben. Unsere Ablehnung dieses Entwurfs ist
vor allem in der Art und Weise begründet, wie Sie diese
Regelungsbereiche ausgestaltet haben. Ich möchte dies
im Einzelnen benennen.
Ich beginne mit der Ausgleichsabgabe: Schon in der
ersten Lesung habe ich deutlich gemacht, dass ich der
Meinung bin, durch eine differenzierte Gestaltung der
Ausgleichsabgabe eine Lenkungswirkung - soweit dies
dadurch überhaupt möglich ist - erreichen zu können. Dabei ist aber wichtig, zu beachten, wer wie belastet wird.
Nun hat das Bundesarbeitsministerium mir freundlicherweise eine Schätzung darüber zur Verfügung gestellt,
wie sich die Veränderungen auswirken werden. Danach
werden Betriebe mit bis zu 100 Beschäftigten - das sind
also die kleineren Betriebe - ein wenig entlastet; sie werden künftig nicht mehr 35,7 Prozent, sondern nur noch
34,5 Prozent der Ausgleichsabgabe tragen. Aber bei Betrieben, die zwischen 100 und 300 Beschäftigte haben,
also bei dem klassischen Mittelstand, sieht das ganz anders aus: Statt 18,2 Prozent werden sie künftig 23,1 Prozent der Ausgleichsabgabe erbringen müssen. Demgegenüber werden die großen Unternehmen großzügig entlastet: Unternehmen mit mehr als 100 000 Beschäftigten
beispielsweise tragen statt 3,1 Prozent nur noch 1,2 Prozent zur Ausgleichsabgabe bei.
Natürlich kann man argumentieren, die Betriebe mit einer Beschäftigtenzahl zwischen 100 und 300 hätten ihre
Beschäftigungspflicht nicht erfüllt. Allerdings stellt sich
meines Erachtens eher die Frage, ob, wenn dies bei den
mittelständischen Unternehmen besonders auffällig ist,
eine stärkere Belastung ausgerechnet dieser Betriebe zum
gewünschten Ziel führt oder ob nicht ganz andere Gründe
vorliegen, warum die Beschäftigungsquote nicht erfüllt
wird. Man muss sich fragen, ob man nicht durch gezielte
Maßnahmen eine größere Effizienz der Einstellungen
hätte erreichen können.
Die Bundesregierung erwartet durch diese Neuregelung Mehreinnahmen in Höhe von 380 Millionen DM. Da
aber die kleinen und die großen Unternehmen entlastet
werden, beträgt die Belastung des klassischen Mittelstandes deutlich mehr als 380 Millionen DM. Das finde ich
schon ziemlich happig.
({1})
Silvia Schmidt ({2})
Die Bundesregierung hat sich in diesem Punkt lange
gewunden. Noch bei der ersten öffentlichen Aussprache
zu diesem Thema, in der Fragestunde, war von der Bundesregierung zu hören, dass eigentlich keine Mehreinnahmen erwartet werden. Das ist auch nicht unser Ziel; denn
wir wollen eine Veränderung der Einstellungspraxis erreichen. Es gab aber generell lange Zeit Stillschweigen
dazu - sicherlich, um die Wirtschaft nicht zu verschrecken, um sie im Boot zu haben; das kann ich auch
nachvollziehen. Nur musste man irgendwann erklären,
wie man den größeren Leistungskatalog, den dieser Gesetzentwurf beinhaltet, finanzieren will. Daher rühren
auch die berechtigten Ängste der Werkstätten und der Betreiber von Wohnheimen für Behinderte, hinten herunterzufallen und geringer gefördert zu werden. Frau
Schmidt, Sie haben deshalb versucht, diese Ängste auszuräumen.
Ich konnte diese Ängste sehr gut nachvollziehen und
für mich sind sie auch noch nicht vollständig ausgeräumt.
Wir werden sehen, wie sich die Einnahmen gestalten. Ich
kann nur hoffen, dass an den Bekräftigungen, es werde
sich an der Förderpraxis für Werkstätten und Wohnheime
nichts ändern, festgehalten wird.
Es ist generell nicht einzusehen, dass diese erwarteten
Mehreinnahmen aus der Augleichsabgabe über die Bundesanstalt für Arbeit fast ausschließlich an den Bund
fließen sollen. Ich habe das Gefühl, dass noch immer der
Irrglaube vorhanden ist, die zentrale starke Hand werde es
schon richten; denn sie kann es besser. Sie sollten stattdessen auf Dezentralisierung setzen, weil vor Ort, wie
sich immer wieder zeigt, besser entschieden werden kann.
Ich verstehe gar nicht, warum hier die Länder so aus der
Pflicht genommen werden und warum sie nicht mehr Mittel aus der Ausgleichsabgabe erhalten, um viel gezielter
entsprechende Maßnahmen ergreifen zu können.
({3})
Nein, sie werden vom Gesetzgebungsverfahren ausgeschlossen und damit werden ihnen auch die finanziellen
Mittel vorenthalten.
Das kann aber auch damit zu tun haben - damit komme
ich zu einem zweiten großen Bereich, der in unseren Augen in diesem Gesetz vollkommen fehlgeleitet ist -, dass
mit aller Macht versucht wurde, dieses Gesetz zustimmungsfrei auszugestalten. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ich muss Ihnen ehrlich sagen, ich
kenne bis heute noch nicht den Grund, warum die Länder
letztendlich ausgestiegen sind. Es muss ja einen Grund
dafür geben, warum es nicht möglich war, sich zu einigen.
Ganz sicher lag es nicht daran, dass nicht auch die Länder
ein Interesse daran hätten, die Zahl der arbeitslosen
Schwerbehinderten zu senken.
Die fatale Folge ist, dass dieses Gesetz dadurch ein
Torso bleibt. Um sich die Zustimmungsfreiheit zu erkaufen, mussten Sie alle Regelungsbereiche, die die
Hauptfürsorgestellen betreffen, außen vor lassen, obwohl
diese vor Ort für die berufliche Eingliederung der
Schwerbehinderten zuständig sind. Das führt nun zu dem
Versäumnis, dass die Strukturen - im Blick darauf, dass
ein SGB IX eine bessere Verzahnung zur beruflichen Rehabilitation schaffen soll - nicht vorausschauend anders
gestaltet werden. Eine solche Verzahnung wird jetzt
blockiert. Ohne eine gesetzliche Grundlage wird jetzt
mühsam versucht werden müssen, die Zusammenarbeit
zwischen Hauptfürsorgestellen und Arbeitsämtern mit
Vereinbarungen zu regeln. Das ist unbefriedigend, weil es
zu Unklarheit und Unverbindlichkeit führt.
({4})
Ebenso führt zu Unklarheit und Unverbindlichkeit,
dass vieles von dem, was in diesem Gesetz hätte geregelt
werden müssen, auf Rechtsverordnungen verschoben
wurde. Wir sind sehr für einen Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz. Wir sind sehr dafür, dass Integrationsfachdienste eingerichtet werden und über eine institutionelle
Förderung abgesichert werden. Das gilt auch für Integrationsbetriebe, -unternehmen und -projekte. Aber entscheidend sind doch die Rahmenbedingungen: Welche Fördervoraussetzungen müssen geschaffen werden, wie lange
erhält man die Förderung, wer wird gefördert? Hier auf
Rechtsverordnungen zu verweisen entzieht uns jegliche
parlamentarische Mitberatung. Das widerspricht meinem
parlamentarischen Selbstverständnis. Dies kann ich nicht
nachvollziehen, zumal es auch Unsicherheit für die Stellen schafft, die künftig Bewilligungen aussprechen sollen.
Da die Verordnungen noch nicht vorliegen, verfügen sie
über keinerlei Rahmenregelungen.
In diesem Punkt verblüffte mich die Anhörung sehr. Ich
hatte den Eindruck, bei den bei der Anhörung vertretenen
Verbänden herrsche das Prinzip Hoffnung vor.
({5})
Sie sagten, sie hätten es sich zwar anders gewünscht, aber
es kämen ja noch Rechtsverordnungen, die es dann schon
richteten. Hier kann ich nur die Frage stellen, wann
Rechtsverordnungen jemals mehr Spielräume ermöglicht
hätten. Verordnungen dienen dazu, Grenzen zu setzen und
zu bestimmen, wie es gemacht werden muss.
({6})
Ich weiß nicht, was bei den Vorgesprächen im Einzelnen
passiert ist. Ich befürchte jedenfalls, dass hier eher Restriktionen eingeführt werden, denen wir dann ausgeliefert
sein werden. Am Ende werden wir nur die Beschwerdebriefe freundlich beantworten dürfen.
Die Tatsache, dass grundsätzlich nur ein Integrationsfachdienst pro Arbeitsamtsbezirk bestehen bleiben soll,
hatte ich schon in der ersten Lesung kritisiert. Die Stellungnahmen der Fachverbände bestärken mich in dieser
Kritik. Auch da sehe ich im Moment noch keine befriedigende Regelung, wie man schon bestehende Fachdienste
zusammenschließen kann, ohne dass dabei der eine oder
andere unter die Räder kommt.
Zusammenfassend halte ich fest, dass wir trotz der
Übereinstimmungen in der Zielsetzung aus den genannten Gründen dem Gesetzentwurf nicht zustimmen können. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungskoalition, ich hoffe sehr, dass wir bei der Beratung
des SGB IX eine andere Form wählen. Dort sollte es
möglich sein, gemeinsam für schwerbehinderte Menschen etwas Gutes zu erreichen.
Vielen Dank.
({7})
Jetzt hat die Kollegin
Katrin Göring-Eckardt, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe
Kollegen! Liebe Frau Nolte, nein, das Gesetz ist kein
Torso, sondern es ist etwas, was wir, glaube ich, dringend
brauchen. Wir brauchen dieses Gesetz, weil es vor allem
um eines geht: um Integration. Dieses Gesetz ist so etwas wie ein Vorschaltgesetz zum SGB IX, in dem wir klar
darüber sprechen wollen, was Integration insgesamt bedeutet: Sie bedeutet Beteiligung, sie bedeutet Teilhabe
und vor allem Chancengleichheit. Gleich sein bedeutet
nach unserer Auffassung - das ist so etwas wie eine Philosophie -, verschieden sein zu dürfen und trotzdem die
gleichen Möglichkeiten zu haben.
({0})
Was wir in diesem Gesetz vorab regeln, betrifft den Arbeitsmarkt. Es geht um die Teilhabe am Arbeitsmarkt
und natürlich auch um ein Stück Teilhabe am normalen
Leben. 8 Prozent der Wohnbevölkerung sind schwerbehindert, das sind 6,6 Millionen Menschen. Davon stehen 1,1 Millionen Menschen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung.
Mit dem vorliegenden Gesetz sagen wir: Wir wollen
zusätzlich 50 000 Menschen in Arbeit bringen. Wir wollen sie nicht in Beschäftigung, sondern in Arbeit bringen,
und das ist ein qualitativer Unterschied - auch zur Politik
der alten Regierung. Es ist ein Unterschied, weil es um
selbstbestimmte Arbeit geht, weil es um das Recht auf Arbeitsassistenz geht, weil es darum geht, das Recht zu haben, in den ersten Arbeitsmarkt zu kommen, und weil es
darum geht, eine neue Arbeitsplatzqualität über die Werkstätten hinaus, deren Existenzberechtigung ich nicht in
Frage stellen möchte - wir brauchen aber etwas Zusätzliches, wir brauchen etwas qualitativ anderes -, zu verwirklichen.
Deswegen haben wir gesagt: Wir brauchen Integrationsfirmen, die eine Brücke zum ersten Arbeitsmarkt darstellen und die tatsächlich Integration in diesem Zusammenhang herstellen. Aus diesem Grund legen wir den
Gesetzentwurf vor. Wir wollen das Gesetz gemeinsam mit
denjenigen Kräften, die darauf Einfluss haben, nämlich
mit den Arbeitgebern, den Gewerkschaften und den Interessenverbänden, machen. Ich finde es, ehrlich gesagt,
schade, dass sich die Union nicht entscheiden kann, hier
zuzustimmen, obwohl wir doch in so vielen Zielen angeblich übereinstimmen.
Das Problem, wie wir die Arbeitslosigkeit bekämpfen wollen, sind wir mit differenzierten Möglichkeiten
angegangen. Ich glaube, es ist diese Differenzierung, die
am Ende zum Erfolg führen wird. Denn es geht nicht mehr
darum, nur ein Instrument zu haben, wie das bisher der
Fall gewesen ist. Stattdessen spielen jetzt viele Instrumente eine Rolle: Integrationsfirmen, Integrationsfachdienste, die Werkstätten für Behinderte und andere, vor allem das Recht auf Arbeitsassistenz. Ich glaube, hier haben
wir einen riesigen gesellschaftlichen Fortschritt erreicht.
Hier haben wir eine Vorwegnahme dessen, was im
SGB IX die Grundansage ist. Die Grundansage heißt
nämlich: Es geht nicht darum, etwas für jemanden zu regeln, sondern es geht darum, Menschen zu befähigen, für
sich selbst regeln zu können, was ihr Leben und ihre Arbeitswelt betrifft.
({1})
Die Arbeitslosenquote bei den Schwerbehinderten beträgt immer noch 17,4 Prozent. Das ist eine Herausforderung für uns. Wir haben gesagt: Wenn das, was wir hier
machen, nicht funktioniert, dann müssen wieder andere
Wege beschritten werden. Wir wollen aber die Gemeinsamkeit mit den Arbeitgebern und Gewerkschaften in der
Tat herstellen und das tun wir hiermit auch.
Ich möchte noch zwei Sätze zu den Änderungsanträgen
der PDS sagen. Bei dem Punkt, der die Arbeitsassistenz
betrifft, befinden wir uns in Übereinstimmung. Ich
glaube, wir haben im Bereich der Ausgestaltung das gemacht, was möglich war. Ich setze sehr auf dieses Instrument. Ich rechne damit, dass wir dieses Instrument bekommen, dass wir es stark machen und dass es vielen
Menschen mit Handicap tatsächlich zur selbstbestimmten
Arbeit verhelfen wird.
In der Frage der Erhöhung der Ausgleichsabgabe haben wir uns etwas anders entschieden. Wir haben uns
dafür entschieden zu differenzieren. Wir halten das für
sinnvoll und meinen, dass man Unternehmen, die
Schwerbehinderte beschäftigen, nicht genauso behandeln
kann wie Unternehmen, die sich dem völlig verweigern.
Deswegen haben wir uns für die Differenzierung entschieden.
Die einfache Erhöhung der Abgabe halten wir nicht für
sinnvoll, weil wir die Arbeitgeber mit im Boot haben wollen. Auch das ist für die gesellschaftliche Frage ganz entscheidend, weil Integration nur dann funktioniert, wenn
alle mitmachen. Wenn Integration funktionieren soll,
kann man nicht sagen: Wir tun etwas für euch im Sinne einer Minderheit; denn das bringt uns sehr viel weniger, als
wenn klar ist: Alle machen mit. Das haben wir mit diesem
Gesetzentwurf versucht. Dies werden wir auch weiterhin
versuchen, wenn wir die Reise antreten, um mit dem
SGB IX ein großes Gesetz zu machen, das Auswirkungen
auf alle Lebensbereiche hat.
Ich glaube, es ist gut, dass wir hier einen ersten Schritt
gemacht haben. Die Anhörung hat nicht gezeigt, dass es
um das Prinzip Hoffnung geht, sondern die Anhörung hat
gezeigt, dass Menschen mit Handicap zum ersten Mal auf
tatsächliche Integration hoffen können. Das ist der Unterschied.
Vielen Dank.
({2})
Jetzt hat die Kollegin
Irmgard Schwaetzer, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der Koalition, die
den Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter vorgelegt hat, teilen wir sicherlich die Zielsetzung. Wir wollen selbstverständlich
die überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit unter den
Schwerbehinderten spürbar abbauen. Der Gesetzentwurf
nennt als Zielvorgabe eine Verringerung um 25 Prozent
bis Oktober 2002. Das ist ein ehrgeiziges Ziel. Aber es ist
immer gut, sich ehrgeizige Ziele zu setzen.
Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist, ob mit diesem Gesetzentwurf der richtige Weg eingeschlagen wird.
Hier müssen wir leider feststellen, dass Sie bedauerlicherweise nicht alle Möglichkeiten in Erwägung gezogen
haben, die in diesem Zusammenhang geprüft werden
müssen. So waren Sie zum Beispiel nicht bereit, über Veränderungen im Bereich des besonderen Kündigungsschutzes oder des Sonderurlaubs zu sprechen oder über
diese Fragen überhaupt nur nachzudenken, obwohl vonseiten der BDA und auch des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks auf die einstellungshemmende Wirkung dieser Regelungen hingewiesen worden ist.
Den Ansatz, Schwerbehinderten verstärkt die Möglichkeit einer Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt
zu eröffnen, teilen wir selbstverständlich. Es ist durchaus
nicht so, Frau Göring-Eckardt, als seien Sie die Ersten, die
sich dies zum Ziel gesetzt hätten. Wenn Sie sich die vorhandenen Instrumente ansehen, sehen Sie schon, dass es
seit langer Zeit besondere Integrationshilfen für Schwerbehinderte auf dem ersten Arbeitsmarkt gibt.
Richtig ist, dass mit den Arbeitsassistenzen sicherlich
noch ein weiterer zusätzlicher Schritt gemacht wird. Wir
halten es für durchaus positiv, einen solchen Schritt zu
machen, allerdings nur dann, wenn eine vernünftige Umsetzung per Verordnung folgt. Es ist bedauerlich, dass
über die Ausgestaltung dieser Verordnung bisher so wenig
bekannt ist. Es ist alles offen. Ebenso wie die Betroffenen
warten wir gespannt auf die Vorstellungen der Bundesregierung zu diesem Punkt. In der Hoffnung, den Prozess etwas zu beschleunigen, haben wir dazu eine Kleine Anfrage eingebracht; denn ein Gesetz ohne Ausführungsbestimmungen ist zunächst ein zahnloser Tiger.
Die Klärung dieser Frage ist auch entscheidend, um
den Finanzbedarf beziffern zu können. In dieses Gesetz
ist eine Reihe von sinnvollen Dingen geschrieben worden,
aber alles das kostet Geld. Gleichzeitig - das hat die Bundesregierung wiederholt erklärt - gehen Sie davon aus,
dass das Aufkommen aus der Ausgleichsabgabe konstant
bleibt. Das heißt, Sie wollen auf der einen Seite zusätzliche Dinge finanzieren, geben aber auf der anderen Seite
in Gesprächen mit den Werkstätten für Behinderte, die
bisher den größten Finanzbedarf aus der Ausgleichsabgabe hatten, Finanzierungszusagen, die Sie nicht einhalten können, wenn Sie das Geld für andere Dinge ausgeben wollen. Dies ist nach Adam Riese so; das können wir
auch nicht durch Beschluss im Bundestag außer Kraft setzen Deswegen werden Sie uns auch nicht daran hindern
können, weiterhin misstrauisch zu bleiben.
Es ist auf der einen Seite zweifellos sinnvoll, die Integration von so vielen Schwerbehinderten wie irgend möglich in den ersten Arbeitsmarkt zu versuchen. Auf der anderen Seite ist völlig klar, dass in den Werkstätten für Behinderte viele arbeiten, für die in diesen Werkstätten eine
sehr viel bessere Förderung erfolgt, als es auf dem ersten
Arbeitsmarkt je möglich wäre.
({0})
Deswegen ist Ihr Misstrauen gegenüber den Werkstätten
für Behinderte in meinen Augen völlig verfehlt.
({1})
Zusammen mit der offenen Finanzierungsfrage führt
uns dies bedauerlicherweise dazu, dass wir dieses Gesetz
ablehnen werden.
Vielen Dank.
({2})
Jetzt hat der Kollege
Dr. Ilja Seifert, PDS, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Ich finde es schon ziemlich lustig, was
hier heute passiert. Da will die Regierungskoalition ein
Gesetz verabschieden, über das sie sich eigentlich freuen
sollte - jedenfalls habe ich Frau Schmidt so verstanden;
auch Frau Göring-Eckardt sagte, wir bräuchten ein solches Gesetz -, Sie reden hier aber alle so getragen, als
wäre es eine Beerdigung.
({0})
Vielleicht ist es auch eine - und das ist meine Befürchtung.
Wir brauchen ein Gesetz, das 50 000 schwerbehinderte
Menschen in Arbeit bringt. Aber, Frau Göring-Eckardt,
warum genügt es Ihnen dann - so haben Sie es in das Gesetz geschrieben -, dass nach zwei Jahren 25 Prozent weniger schwerbehinderte Arbeitslose in der Statistik verzeichnet sein müssen? Sie wissen so gut wie ich, dass in
dieser Zeit etliche Tausende über die Erwerbsunfähigkeitsrente aus der Statistik herausfallen.
({1})
Sie wissen so gut wie ich, dass in dieser Zeit etliche Tausende in Ruhestand gehen und in der Statistik nicht mehr
auftauchen. Sie erfüllen Ihre Quote, ohne dass ein einziger Schwerbehinderter Arbeit bekommt. Das kann nicht
sein.
({2})
Ich bin ja froh, dass eine Koalition regiert, die sich diesem Thema widmet. Das ist ein Wert an sich. Herr Haack,
in diesem Punkt alle Achtung auch von mir für Ihre
Bemühungen. Aber was hier vorliegt, ist wirklich alles
andere als ein Grund, sich zu freuen. Ich will das ausdrücklich sagen.
Ich bin auch ein bisschen traurig, Frau Nolte, dass Sie
hier zwar sagen, wie wichtig das alles ist, dass von Ihrer
Riesenfraktion insgesamt aber nur vier Mitglieder anwesend sind. Wie Sie sehen können, ist die kleine PDS-Fraktion stärker vertreten. Wir könnten Sie glatt überstimmen.
Man muss der Öffentlichkeit zumindest einmal mitteilen,
dass die Meinung, die Sie, Frau Nolte, hier vorgetragen
haben, offensichtlich nicht die Meinung Ihrer Fraktion ist.
Aber vielleicht ändert sich das noch; das kann auch nicht
schaden.
({3})
- Ja, allerdings muss man die Argumente auch ein bisschen durch Anwesenheit im Plenum untermauern.
Lassen Sie uns zur Sache kommen. Besonders positiv
wäre es, wenn es endlich einen Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz gäbe; das könnte wirklich etwas Gutes
sein. Aber Sie lehnen es ab - jedenfalls haben Sie das angekündigt -, unsere Kriterien für die Arbeitsassistenz in
das Gesetz hineinzuschreiben. Frau Nolte hat völlig
Recht: Die Verordnungsermächtigung kann nur dazu
führen, dass aus der notwendigen Arbeitsassistenz, die Sie
apostrophieren, eine Miniarbeitsassistenz wird. Wir schlagen vor: Macht aus der notwendigen eine bedarfsdeckende Arbeitsassistenz laut Gesetz. Dann könnten wir
uns nach unseren Kriterien richten. Dann hätten die Menschen mit Behinderungen vom ersten Tage an eine Handhabe, wann sie diesen Rechtsanspruch überhaupt geltend
machen können. Wenn wir den Klageweg beschreiten
wollten, würde das drei oder fünf Jahre dauern.
Frau Schmidt, Sie haben eben Bekannte angeführt, die
auf Arbeitsassistenz warten. Das Gesetz nützt ihnen
nichts, wenn es keine Kriterien für den Rechtsanspruch
auf Arbeitsassistenz gibt.
({4})
Deshalb ist es notwendig, das per Gesetz festzulegen.
Noch ein Wort. Sie haben eigentlich nur schwerbehinderte Frauen berücksichtigen wollen. Wir haben vorgeschlagen: Berücksichtigt sie bevorzugt. Danach haben Sie
„besonders berücksichtigen“ daraus gemacht. Ich muss
anerkennen - und dafür bin ich dankbar -, dass Sie auch
unsere Vorschläge zumindest teilweise aufgreifen.
Herr Kollege, ich
muss Sie leider auf die Redezeit aufmerksam machen.
Frau Präsidentin, ich bitte um
Entschuldigung, dass ich nicht auf die Uhr geschaut habe.
Ich will nur sagen: Ich wäre froh, wenn wir gemeinsam - Sie wissen, dass ich da auf Ihrer Seite stehe - einen
Schritt in eine vernünftige Richtung gehen könnten. Diesmal ist die Sache so ambivalent, dass sich die PDS enthalten wird. Ich hoffe, dass wir in Zukunft gemeinsam
voranschreiten können.
Danke schön für die Aufmerksamkeit.
({0})
Nun erteile ich dem
Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der
Behinderten, Karl-Hermann Haack, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es
wurde von Frau Nolte gesagt, dieses Gesetz sei schnell gemacht worden, es hätte langsamer und gründlicher beraten werden müssen. Frau Nolte, wir haben aus 16 Jahren
Helmut Kohl 180 000 Arbeitslose im Schwerbehindertenbereich geerbt.
({0})
Wir haben uns im Rahmen des Bündnisses für Arbeit vorgenommen, auch in diesem Bereich einen Beitrag zu leisten.
Dieses Gesetz, welches aus Ihrer Sicht zu schnell gemacht worden ist, ist ein erster Erfolg des Bündnisses für
Arbeit. Denn es ist zwischen Regierung, Arbeitgebern,
Arbeitnehmern und Behindertenverbänden verhandelt
worden. Wir haben uns dort verständigt. Die Eckdaten,
die diesem Gesetz zugrunde gelegt sind, stellen einen
Konsens gesellschaftlicher Gruppen dar. Deswegen meinen wir, dass wir recht gehandelt haben. Wir unternehmen
mit diesem Gesetz einen Versuch, zukünftig 50 000 Menschen - das sind 25 Prozent derer, die arbeitslos sind - in
Arbeit zu bringen.
({1})
Zu mäkeln, dass man aus der Statistik aus diesem oder jenem Grund schwerbehinderte Arbeitslose herausstreicht,
halte ich für müßig.
Ich will Ihnen darlegen, warum ich glaube, dass dieses
Gesetz erfolgreich sein wird. Wir haben in den letzten Jahren mit einer gemeinsamen Initiative von Arbeitgebern,
Arbeitnehmern und anderen gesellschaftlichen Gruppen
erreicht, dass junge Menschen in Ausbildungsverbünde
gekommen sind bzw. Ausbildungsplätze bekommen haben, mit dem Erfolg, dass wir alljährlich sagen können:
Die Bilanz ist relativ positiv.
Wir haben in dem Programm JUMP - Junge Menschen
in Arbeit, Ausbildung und Beruf des Bundesarbeitsministers erreicht, dass 200 000 junge Leute heute in Ausbildungsverbünden sind, ihre Schulabschlüsse nachmachen
können bzw. Traineemaßnahmen absolvieren. Diese
Maßnahmen sind Ausdruck von Konsenspolitik dieser
neuen rot-grünen Regierung.
Nach der Verabschiedung dieses Gesetzes werden wir
zum Frühherbst dieses Jahres eine Kampagne starten. Wir
glauben, wir werden erreichen, dass Menschen mit Behinderungen in Arbeit kommen.
({2})
Einen weiteren wichtigen Punkt der öffentlichen Debatte möchte ich hier aufgreifen. Frau Schwaetzer, Sie haben gesagt, wir hätten gegenüber den Werkstätten ein
Misstrauen. Das ist eine Kampagne, die läuft. Sie hängt
damit zusammen, dass die Länder Baden-Württemberg
und Bayern im Bundesrat einen Antrag eingebracht haben
mit der Zielsetzung, zu einer Neuverteilung der Ausgleichsabgabe zugunsten der Werkstätten zu kommen.
Wir ziehen mit der Etablierung der Integrationsfachdienste und Integrationsfirmen die Konsequenzen daraus, dass in 16 Bundesländern erfolgreich Versuche gelaufen sind. Wir sagen: Bevor wir die Berichte über diese
Integrationsfachdienste, über diese Integrationsfachfirmen endgültig abwarten, werden wir sie jetzt schon in dieses Vorschaltgesetz „Neue Arbeit für Menschen mit Behinderungen“ aufnehmen.
Sie wissen genauso gut wie ich - es ist im Ausschuss
hinreichend gesagt worden -, dass es Spitzengespräche
gegeben hat. Dafür bin ich dem Minister mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dankbar. Es waren Spitzengespräche mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der
Werkstätten auf der einen Seite und auf der anderen Seite
mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsfachdienste. Wir haben uns auf meinen Vorschlag hin darüber
verständigt, dass wir den gesamten Bereich einer kritischen Überprüfung unterziehen unter der Fragestellung:
Was sind zukünftig die Aufgaben der Werkstätten? Was
sind zukünftig die Aufgaben der Integrationsfachdienste?
Welche Brückenfunktionen müssen Integrationsfachdienste haben, um Menschen von dem zweiten in den ersten
Arbeitsmarkt überzuleiten? Das Ziel dieser Untersuchung
ist, das Kästchendenken zur Seite zu schieben und ein flexibles, durchgängiges System zu organisieren.
({3})
Ein weiterer Punkt, der von Herrn Seifert und auch von
anderen Kollegen angesprochen wurde, ist das Recht auf
Arbeitsassistenz. Ich möchte Ihnen unseren qualitativen
Sprung an diesem Punkt deutlich machen: Wir haben
Art. 3 des Grundgesetzes 1994 um die Bestimmung ergänzt, dass Menschen mit Behinderungen nicht benachteiligt werden dürfen. Wir haben daraus die Konsequenz
gezogen, die Integration zu ermöglichen. Somit darf das
Recht auf Arbeitsassistenz nicht mehr in die Beliebigkeit
der Entscheidung der Hauptfürsorgestelle gestellt werden. Es darf nicht sein, dass sich ein Mensch mit Behinderung vor dem Mitarbeiter der Hauptfürsorgestelle in der
Hoffnung „inszenieren“ muss, je besser er seine Behinderung vorführe, desto eher werde er Arbeitsassistenz finanziert bekommen.
Menschen mit Behinderung nicht zu benachteiligen
bedeutet, sie zu integrieren. Es bedeutet, dass sie auf dem
ersten Arbeitsmarkt eine Chance haben müssen. Deshalb
schaffen wir jetzt einen Rechtsanspruch auf Arbeitsassistenz. Die Begründung dafür, dass wir das Gesetz
„zustimmungsfrei“ formuliert haben, ist ganz einfach:
Die Länder Baden-Württemberg und Bayern haben versucht, diese neue Konzeption zur Reform des Schwerbehindertenrechtes zu einer Verhandlungsmasse der
Neuaufteilung der Ausgleichsabgabe zwischen Bund und
Ländern zu machen. Die Länder wollen ihren Anteil deutlich erhöhen und damit die Gestaltungsaufgabe des Bundes entsprechend beschneiden.
Insofern habe ich volles Verständnis, dass diese Bundesregierung vor dem Hintergrund der Tatsache, dass
182 314 schwerbehinderte Menschen arbeitslos sind, versuchen will, diesen Missstand möglichst schnell zu ändern. Ich trage es auch politisch mit, dass die Bundesregierung dies mit einem neuen Instrumentarium versucht
und darauf verzichtet, lange strategische Verhandlungen
mit den Ländern zu führen.
({4})
Ich halte die Notwendigkeit der Hilfe für arbeitslose
Schwerbehinderte für wichtiger als das Feilschen mit
Frau Stamm oder anderen.
Ich möchte in diesem Zusammenhang auch meinen
Dank an die Träger der Werkstätten ausdrücken, die nach
diesen Gesprächen in einer hervorragenden Arbeit mit uns
kommuniziert haben. Ich darf Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, sagen: Im
Rahmen der Beratungen über das SGB IX werden wir
auch mit Ihnen das Gespräch suchen. Herr Seehofer als
Ihr sozialpolitischer Sprecher hat einen entsprechenden
Brief verfasst. Wir werden nach der Verabschiedung dieses Gesetzes, nachdem wir uns auch mit den Ländern über
die Grundzüge des SGB IX verständigt haben, auf Sie zukommen und versuchen, mit Ihnen gemeinsam zu einem
Ergebnis zu kommen. Insofern bitte ich noch um etwas
Geduld.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Zur Abstimmung hat
der Kollege Dr. Seifert eine Erklärung nach § 31 der Ge-
schäftsordnung zu Protokoll gegeben1).
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie der
Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter in der
Ausschussfassung, Drucksachen 14/3372, 14/3645 und
14/3799. Dazu liegen vier Änderungsanträge der Fraktion
der PDS vor, über die wir zuerst abstimmen.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS auf
Drucksache 14/3837? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Gegen die Stimmen der PDS ist dieser Antrag abgelehnt.
Karl Hermann Haack ({0})
1) Anlage 4
Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS auf
Drucksache 14/3839? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch dieser Antrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS auf
Drucksache 14/3840? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch dieser Antrag ist abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache
14/3841? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist auch dieser Antrag abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei
Enthaltung der PDS und gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. ist der Gesetzentwurf in zweiter
Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Bei Stimmenthaltung der PDS und gegen die Stimmen von CDU/CSU und
F.D.P. ist der Gesetzentwurf angenommen.
({1})
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Bericht der
Bundesregierung über die Beschäftigung Schwerbehinderter im öffentlichen Dienst, Drucksache 14/3799. Der
Ausschuss empfiehlt etwas Sensationelles, meine Damen
und Herren, nämlich unter Buchstabe b seiner Beschlussfassung, den Bericht der Bundesregierung auf Drucksache 14/2415 zur Kenntnis zu nehmen. Wer möchte dieser
Beschlussempfehlung folgen? - Damit haben wir den Bericht mit einem einstimmigen Beschluss des Deutschen
Bundestages zur Kenntnis genommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für die Anlgelegenheiten
der Europäischen Union ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Prof. Dr.
Jürgen Meyer ({3}); Joachim Poß, Günter
Gloser, weiterer Abgordneter und der Fraktion
der SPD sowie der Abgeordneten Christian
Sterzing, Volker Beck ({4}), Rita Grießhaber,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Charta der Grundrechte der Europäischen
Union
- zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Hintze,
Peter Altmaier, Dr. Ralf Brauksiepe, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU
Die Rechte der Bürger stärken - Für eine
bürgernahe Charta der Grundrechte der
Europäischen Union
- zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Werner Hoyer,
Dr. Helmut Haussmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Verbindlichkeit der europäischen Grundrechtecharta und Beitritt der Europäischen
Union zur europäischen Menschenrechtskonvention
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Klaus
Grehn, Uwe Hiksch, Ulla Lötzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion PDS
Für eine rechtsverbindliche europäische
Grundrechtecharta
- Drucksachen 14/3387, 14/3368, 14/3322,
14/3513, 14/3800 Berichterstattung:
Abgeordnete Prof. Dr. Jürgen Meyer ({5})
Claudia Roth ({6})
Sabine Leutheuser-Schnarrenberger
Klaus Grehn
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Jürgen Meyer, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich die
Debatte über die europäische Grundrechtecharta mit zwei
Vorbemerkungen beginnen.
In der letzten Sitzung des Konvents in Brüssel hat das
Präsidium mitgeteilt, dass Roman Herzog den Vorsitz des
Konvents demnächst wieder übernehmen wird.
({0})
Wir alle wissen, dass er wegen der schweren Erkrankung
seiner Frau den Vorsitz im Konvent niedergelegt hatte.
Die Rückkehr von Roman Herzog ist vom Konvent und,
wie ich sehe, auch von Ihnen sehr positiv aufgenommen
worden. Roman Herzog gelingt es, mit seiner Kompetenz
und seinem Ansehen, auch widerstreitende Gruppen im
Konvent zusammenzuführen und das Projekt der Grundrechtecharta zum Erfolg zu führen.
Meine zweite Vorbemerkung gilt der Rede von Präsident Chirac, die er im Deutschen Bundestag gehalten hat.
Ich fand es sehr erfreulich, dass Präsident Chirac deutlich
gemacht hat, dass es auch bei der Grundrechtecharta darum geht, mehr Demokratie in Europa zu wagen. Dies
spiegelt sich bereits in der Zusammensetzung des Konvents wider, denn drei Viertel der Mitglieder dieses Gremiums sind Parlamentarier. Es ist ein Signal für mehr
Demokratie, wenn eine Weichenstellung in Richtung einer Konkretisierung der Werteordnung in Europa durch
ein solches Gremium vorgenommen wird. Deshalb sollten wir alle dazu beitragen, das Projekt zum Erfolg zu
führen.
Weil wir in früheren Debatten und auch in der Debatte
im Mai in diesem Hause ein hohes Maß an Konsens festgestellt hatten, habe ich seinerzeit vorgeschlagen, nachdem die Anträge der Koalitionsfraktionen einerseits und
Vizepräsidentin Anke Fuchs
der Oppositionsfraktionen andererseits vorgelegt worden
waren, diese zu einer gemeinsamen Entschließung zusammenzufassen. Die fast zweimonatigen Bemühungen
nach der letzten Debatte schienen erfolgreich zu sein. Leider ist es heute doch nicht möglich, eine gemeinsame Entschließung zu verabschieden.
Bevor ich dazu eine Bemerkung mache, möchte ich
aber feststellen, dass alle Fraktionen in diesem Parlament
in zahlreichen Punkten inhaltlich übereinstimmen. Wir
sind uns darin einig, dass die Arbeiten des Konvents zur
Erarbeitung der Grundrechtecharta weiter unterstützt
werden. Wir sind uns einig darin, dass die Bedeutung der
Grundrechtecharta auch in der deutschen Öffentlichkeit
erkannt und gewürdigt und darüber eine breite gesellschaftliche Debatte geführt werden sollte.
Gemeinsam fordern wir die Bundesregierung auf, für
den Beitritt der Europäischen Union zur europäischen
Menschenrechtskonvention einzutreten. Wir sind uns einig darin, dass der Konvent fortschrittliche und für die
europäische Integration zentrale Grundrechte formulieren
sollte, wozu insbesondere ein Diskriminierungsverbot,
ein aktives Gleichstellungsgebot sowie kulturelle Grundrechte gehören. Wir sind uns auch einig darin, dass die
Aufnahme von wirtschaftlichen und sozialen Rechten unter Berücksichtigung der europäischen Sozialcharta und
der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der
Arbeitnehmer in die Charta unterstützt werden sollte. Und
ich denke, wir sind uns einig darüber, dass sich die Bundesregierung im Europäischen Rat für die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta mit individueller
Klagemöglichkeit einsetzen sollte.
Nun werden manche mit Recht fragen: Warum legen
die Fraktionen des Deutschen Bundestages angesichts
von so viel Einigkeit nicht eine gemeinsame Entschließung vor? Dabei kann es natürlich nicht darum gehen, so
etwas wie einen Einheitsbrei herzustellen oder abstrakte
Formulierungen, die letztlich wenig aussagen, zu Papier
zu bringen. Aber die Substanz dessen, was uns verbindet,
ist so groß, dass die Frage, warum es nicht zu einer gemeinsamen Entschließung gekommen ist, tatsächlich
schwer zu beantworten ist.
Die Ablehnung kam Anfang dieser Woche - für viele
von uns überraschend - aus der CDU/CSU-Fraktion. Ich
habe natürlich versucht, rational nachzuvollziehen, worauf sich diese Ablehnung gründet, und festzustellen, ob
diese Ablehnung vielleicht nur ein Mittel ist, Profil auf einem ungeeigneten Feld der Auseinandersetzung zu zeigen. Es wurde auf nicht zuzudeckende Meinungsunterschiede - es hat ja keinen Sinn, darum herumzureden bezüglich des Grundrechts auf Asyl hingewiesen. Wir
hatten uns aber ursprünglich darauf verständigt, dass wir
uns dem Bekenntnis des Europäischen Rates von Tampere, dem künftigen europäischen Asylrecht die Genfer
Flüchtlingskonvention uneingeschränkt und allumfassend zugrunde zu legen, anschließen wollten.
Nun bin ich der Auffassung, dass die auf nationaler
Ebene sicherlich notwendige Auseinandersetzung um das
von der CDU/CSU-Fraktion gewünschte lediglich institutionelle Asylrecht und das von uns weiterhin für richtig
gehaltene einklagbare individuelle Grundrecht auf Asyl
auch geführt werden muss. Aber jetzt geht es um den Konvent in Brüssel. Ich finde, man sollte die Auseinandersetzung, die auf nationaler Ebene zu führen ist, vor allem
dann nicht nach Brüssel verlagern, wenn man sie nicht
gewinnen kann; denn für eine Grundgesetzänderung gibt
es keine Mehrheit.
Außerdem werden wir in die Grundrechtecharta hineinschreiben, dass durch sie in keinem Fall das Niveau
weiter gehender nationaler Grundrechte gesenkt werden
darf. Darauf haben wir uns verständigt. Das betrifft übrigens nicht nur ein einzelnes Grundrecht. Diese Forderung
wurde von Delegierten verschiedener Länder erhoben.
Die Finnen sind zum Beispiel in Sorge, dass das Niveau
ihrer hochmodernen Verfassung durch die Grundrechtecharta gesenkt werden könnte. Dies darf nicht geschehen.
Deshalb sind wir der Auffassung - mit den eben skizzierten Folgen für das deutsche Asylrecht -, dass durch die
Grundrechtecharta der hohe Grundrechtsstandard der nationalen Verfassungen in keinem Fall gesenkt werden
darf. Warum also streiten wir im Zusammenhang mit der
Charta dann über diesen Punkt?
Ein weiteres Thema, mit dem wir uns in den nächsten
zwei Wochen im Konvent sehr intensiv beschäftigen werden, sind die sozialen Grundrechte. Wir hatten uns eigentlich darauf verständigt, klarzustellen: Es ist an der
Zeit, die immer wieder beschworene Unteilbarkeit und
Universalität der Menschenrechte auch dadurch zu dokumentieren, dass - dem Auftrag von Köln entsprechend die wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte Eingang in
die Charta finden. Warum streiten wir also darüber? Im
Konvent besteht Einigkeit darüber, dass durch die Grundrechtecharta die Kompetenzen der EU-Organe nicht erweitert werden können.
Ich bin der Auffassung, wir sollten gemeinsam überlegen, ob die bevorstehende Debatte im Konvent in Brüssel
nicht auch von uns unterstützt werden sollte. Es ist offensichtlich, dass es Streit über die sozialen Grundrechte
gibt. Wer wollte das in Abrede stellen? Es ist auch offensichtlich, dass einige Länder großen Wert darauf legen,
eine riesengroße Zahl an sozialen Grundrechten zu formulieren. Wir sind dagegen der Auffassung - ich habe das
eben als gemeinsame Auffassung dargestellt -, dass man
nur Grundrechte formulieren sollte, die auch einklagbar
sind. Deshalb werbe ich um die Unterstützung für den
Versuch - den ich gemeinsam mit dem Delegierten der
französischen Regierung, Herrn Braibant, unternommen
habe - hier einen Mittelweg zu finden. Roman Herzog
hat, als die Debatten im Konvent sehr streitig ausgetragen
wurden, ausdrücklich aufgefordert, einen solchen Mittelweg zu finden.
Der Mittelweg besteht darin, dass wir - das ist die erste
Säule - in die Präambel der Charta und in die Überschrift
des Kapitels über die sozialen Grundrechte den Grundsatz
der Solidarität hineinschreiben, dass wir - das ist die
zweite Säule - in acht Artikeln, gruppiert um die Elemente
Arbeit, Gesundheit, Bildung und soziale Sicherheit, die
Respektierung und den Schutz sozialer Grundrechte hineinschreiben und dass wir - das ist die dritte Säule deutlich machen: Es wird auch künftig Konventionen mit
neuen - auch sozialen - Grundrechten geben. Diese sind,
wenn alle Mitgliedstaaten zugestimmt haben, Grundlage
der Auslegung und Anwendung der Charta.
Prof. Dr. Jürgen Meyer ({1})
Um deutlich zu machen, dass wir uns eigentlich verständigen könnten, will ich einmal die drei Sätze vorlesen,
die Herr Braibant und ich in Bezug auf das Recht der Arbeit vorgeschlagen haben. Ich wüsste gerne, ob irgend-jemand in diesem Raum ist, der dem nicht zustimmt. Wir
formulieren da:
Jeder hat das Recht, zu arbeiten, und das Recht auf
Schutz seines Arbeitsplatzes. Insbesondere hat jeder
das Recht, seinen Beruf frei zu wählen und auszuüben, sowie das Recht auf freien Zugang zu unentgeltlicher Arbeitsvermittlung. Jeder hat Anspruch auf
Schutz vor ungerechtfertigter oder missbräuchlicher
Entlassung.
Wer kann denn gegen ein so formuliertes soziales Grundrecht der Arbeit sein?
({2})
Ich habe gehört, dass die Debatte in der CDU/CSUFraktion letztlich deshalb zum Nein zu einer gemeinsamen Entschließung führte, weil man sich über die Aufnahme eines kleinen Satzes nicht einig geworden sei. Wir
hatten im Entwurf der gemeinsamen Entschließung folgenden Satz vorgesehen:
Die Charta soll klarstellen, dass gleichgeschlechtliche Paare nicht benachteiligt werden dürfen.
({3})
Was haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der CDU/CSU-Fraktion - mir ist schon klar, dass ich eigentlich diejenigen ansprechen müsste, die nicht da
sind -, gegen diesen Satz?
({4})
Ich will Ihnen einmal in Gegenüberstellung zu diesem
ganz bescheidenen kurzen Satz in Erinnerung rufen, was
Sie vor kurzem auf Ihrem Parteitag zu diesem Thema beschlossen haben, Frau Merkel hat es sehr unterstützt, - ich
zitiere aus Ihrem Parteitagsbeschluss -:
Wir respektieren die Entscheidung von Menschen,
die in anderen Formen der Partnerschaft ihren Lebensentwurf zu verwirklichen suchen.
({5})
Wir anerkennen, dass auch in solchen Beziehungen
Werte gelebt werden können, die für unsere Gesellschaft grundlegend sind. Dies gilt für nicht eheliche
Partnerschaften zwischen Frauen und Männern; dies
gilt auch für gleichgeschlechtliche Partnerschaften.
Wir werben für Toleranz und wenden uns gegen jede
Form von Diskriminierung.
({6})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, genau dies hatten
wir für unsere gemeinsame Entschließung vorgesehen.
({7})
Mir ist klar, dass Sie in Ihrer Fraktion dafür gekämpft
haben und sich letztlich gegenüber Ihren CSU-Kollegen
nicht durchgesetzt haben. Ich bitte Sie dringend, dieses
Problem zu lösen und nicht zuzulassen, dass das, was Frau
Merkel zu diesem Thema gesagt und durchgesetzt hat,
von Herrn Stoiber wieder aus dem Gefecht gezogen wird.
({8})
Ich habe sehr genau beobachtet, dass Sie in unserer
letzten Debatte am 18. Mai irritiert reagierten, als der
CSU-Kollege Dr. Müller zu der Bedingung für die Ratifizierung der Charta sagte:
Wir wollen keine Kompetenzausweitung, sondern
erwarten Kompetenzbeschränkungen.
Wie kann man so etwas von der Grundrechtecharta, die
sich mit der Kompetenzfrage bekanntlich nicht zu befassen hat, überhaupt erwarten? Kommen Sie zu einer vernünftigen Einigung mit den CSU-Kollegen in Ihrer Fraktion! Wenn das geschehen ist, dann legen wir - das ist
meine Überzeugung - wieder gemeinsame Entschließungen vor. Die Grundlage dafür ist breit genug.
Lassen Sie uns gemeinsam feststellen: Es geht bei der
Grundrechtecharta um die Identität der Europäer, die ihre
Werteordnung, an die sie gebunden sind, deutlich machen
sollten. Genauso wichtig ist: Es geht um die Kontrolle von
Machtausübung durch die EU-Organe in Brüssel.
({9})
Dass wir dafür gemeinsam eintreten, das sollte künftig
wieder deutlicher werden, als es heute durch Mehrheitsentscheidungen über einen Antrag der Koalition deutlich
werden kann. Überlegen Sie bitte, ob Taktik nicht manchmal Übertaktieren - Taktik wird über die Sache gestellt bedeutet.
Ich werde mich jedenfalls durch die Abstimmungen,
die heute leider nicht im Konsens erfolgen werden, nicht
davon abhalten lassen, auch mit den Europapolitikern der
Oppositionsfraktionen, die für eine gemeinsame Entschließung gekämpft haben und denen es in erster Linie
um die Sache und nicht um parteitaktischen Vorteil geht,
weiter konstruktiv zusammenzuarbeiten.
Ich danke Ihnen.
({10})
Eine Kurzintervention? - Bitte, Herr Kollege Hintze, wenn es denn sein
muss.
({0})
Prof. Dr. Jürgen Meyer ({1})
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen, die Sie um diese Stunde noch
im Deutschen Bundestag sind! Der Beitrag des Kollegen
Professor Meyer erfordert doch eine kurze, friedliche
Klarstellung.
Sie haben unseren Parteitagsbeschluss ausgesprochen
zutreffend zitiert und auch ausgesprochen zutreffend festgestellt, dass für CDU und CSU die Wahl der persönlichen Lebensform zur Bestimmungsfreiheit jedes einzelnen Menschen gehört. Sie haben dann fälschlicherweise
mit Blick auf die Grundrechtecharta den Eindruck erweckt, dies sei nicht mehr unsere Auffassung. Richtig ist,
dass wir bei der Gesamtwürdigung des Antrages, der hier
gemeinsam eingebracht werden sollte, zu der Auffassung
kamen, dass die Gewichte insbesondere durch die gewählten Formulierungen zwischen dem von uns allen hoffentlich für richtig gehaltenen Schutz von Ehe und Familie auf der einen Seite und der Wahlfreiheit der persönlichen Lebensform auf der anderen Seite ein bisschen
ungleich verteilt waren. Deswegen erschien es uns richtiger, die Vorstellungen unserer Fraktion in der Form eines
eigenen Antrages einzubringen.
({0})
Im Übrigen sollten wir uns auch in Zukunft nicht den
Weg zu gemeinsamen Vorhaben dadurch verstellen, dass
in Plenardebatten eklektisch aus der Entstehungsgeschichte eines gemeinsamen Antragsversuches berichtet
wird. Sie wissen ja, dass dieser gemeinsame Antrag verschiedene Ecken und Kanten hatte und noch andere
Aspekte berührte. Wenn Sie ein Interesse daran haben,
dass wir in Zukunft europapolitische Projekte gemeinsam
betreiben, dann bitte ich Sie doch, hier nicht einseitig im
Plenum Dinge zu zitieren,
({1})
die viele Kolleginnen und Kollegen nicht mitverfolgen
konnten, und nicht unruhig zu werden, wenn man einmal
versucht, das kurz klarzustellen.
({2})
Nun sind wir gespannt auf die Rede des Kollegen Peter Altmaier, dem ich
nun das Wort erteile.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Der Konvent zur Erarbeitung der
Grundrechtecharta beschäftigt sich seit ungefähr einem
halben Jahr mit diesem Thema. Dabei zeigt sich immer
mehr, dass dieses Projekt zu Anfang unterschätzt wurde.
Es ist ein großes, ein richtiges und möglicherweise auch
ein historisches Projekt der europäischen Integration.
Wir sind aber noch weit davon entfernt, es als gelungenes
Projekt bezeichnen zu können. Dieses Projekt kann scheitern: Es kann auf den letzten Metern im Konvent selber
scheitern, es kann scheitern, wenn es in Nizza nicht feierlich proklamiert wird, weil es keinen Konsens zwischen
den beteiligten Mitgliedstaaten und dem Europäischen
Parlament gibt, und es wäre de facto auch gescheitert,
wenn es nicht irgendwann einmal als verbindlich in die
europäischen Verträge übernommen würde. Aus unserer
Sicht wäre das schade. Die Charta wäre dann nämlich das
Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt ist. Deshalb meine
ich, dass wir bei dieser Debatte, die wir heute und in den
nächsten Wochen führen, bei allen Unterschieden in der
Sache deutlich machen müssen, dass uns daran gelegen
ist, einen Konsens über die grundlegenden Fragen im Zusammenhang mit der Charta zustande zu bringen.
({0})
Lieber Kollege Meyer, ich glaube nicht, dass es uns
weiterführt, wenn wir uns gegenseitig taktische Motive
unterstellen oder unterstellen, dass wir vorsätzlich gemeinsame Anträge nicht hätten zustande kommen lassen.
Sie wissen doch ganz genau, dass jeder hier in diesem
Haus, dass CDU/CSU, SPD, F.D.P. und Bündnis 90/Die
Grünen von Anfang an dieses Projekt einer europäischen
Grundrechtecharta gemeinsam mitgetragen und unterstützt haben. Gerade auch Kollegen aus der CDU/CSU, in
erster Linie Professor Roman Herzog, der ehemalige
Bundespräsident, aber auch der Kollege Gnauck, der den
Bundesrat im Konvent vertritt, und meine Wenigkeit als
Stellvertreter, haben ihren Beitrag dazu erbracht, dass die
Arbeiten so weit gediehen sind. Wir arbeiten doch konstruktiv und sachlich zusammen. Und deshalb bin ich der
Auffassung, dass wir die heutige Debatte über unterschiedliche Anträge in der gebotenen Sachlichkeit führen
sollten.
({1})
Ich hätte mir in der Tat gewünscht, dass wir einen gemeinsamen Antrag zustande bringen. Wir waren auch
sehr weit gediehen; es hat uns zum Schluss nicht mehr
sehr viel getrennt. Eine Situation war erreicht, in der man
sich die Frage stellen konnte, ob dieser Antrag gerade
noch annehmbar ist oder ob er gerade nicht mehr konsensfähig ist. Wir haben uns letzen Endes nach langen
Diskussionen, in denen wir es uns nicht einfach gemacht
haben, dafür entschieden, streitig über die einzelnen Anträge abzustimmen, weil wir glauben, dass es unter Umständen sogar besser sein kann - wenn also klar ist, dass
es nicht um eine grundsätzliche Haltung zur Charta geht,
aber um einzelne Rechte, die aufgenommen werden sollen und über die diskutiert werden muss -, wenn die unterschiedlichen Auffassungen, die es in inhaltlichen Fragen gibt, in diesem Hohen Haus auch zum Ausdruck
kommen.
Wir schulden der Öffentlichkeit auch ein gewisses Maß
an Ehrlichkeit. Wir dürfen nicht jeden Unterschied mit
Worten von großer Einigkeit zudecken.
({2})
Und deshalb frage ich mich, ob wir mit dem, was wir gemeinsam formuliert hatten, nicht einfach auch der Versuchung erlegen sind, mit schönen Worten eine Einigkeit
vorzutäuschen, die in der Sache in dieser Form gar nicht
besteht.
Ich will dazu drei Beispiele nennen. Das erste Beispiel
betrifft die so genannten wirtschaftlichen und sozialen
Rechte. Wir unterscheiden uns doch überhaupt nicht
darin, dass wir das, was wir als europäisches Sozialmodell
bezeichnen, dass wir die Sozialstaatsverpflichtung, wie
wir sie aus dem Grundgesetz kennen, auch in dieser
Grundrechtecharta deutlich zum Ausdruck bringen wollen. Aber ich meine, man muss den Menschen schon klar
sagen, was man mit den einzelnen Vorschriften konkret
erreichen will. Wenn wir in die Charta Vorschriften über
ein faires Verfahren, über eine ordnungsgemäße Verwaltung und über einen Zugang zu Informationen aufnehmen, dann handelt es sich um ganz konkrete Rechte, die
der Bürger gegenüber den europäischen Institutionen einklagen kann. Das heißt, wir verbessern seine Rechtsposition. Wir geben dem Bürger etwas an die Hand, sodass er
zum Beispiel künftig in Brüssel bei der Europäischen
Kommission Akten für bestimmte Bereiche einsehen
kann.
Ähnliche Fragen müssen wir auch in Bezug auf die sozialen Grundrechte beantworten. Was soll sich nach Ihrer
Auffassung für die Bürger in Europa mit der Aufnahme
dieser sozialen Grundrechte ändern? Sind es nur unverbindliche Zielbestimmungen, die nichts ändern? Wollen
Sie, dass diese Rechte einklagbar sind? Was bedeutet das?
Sie haben gesagt, es solle keine neuen Kompetenzen
geben.
Sie haben in Ihrem Antrag ein Recht auf Zugang zu
Leistungen der Gesundheitsfürsorge - damit ist die Krankenversicherung gemeint - gefordert. In jedem Mitgliedsland gibt es dieses Recht. Bedeutet das aber in Zukunft auch, dass jemand den Europäischen Gerichtshof
anrufen kann, weil er der Auffassung ist, dass die Wartelisten in Großbritannien oder die rot-grüne Reform im Gesundheitswesen die Einlösung genau dieses Anspruchs
unmöglich machen? Das würde nämlich bedeuten, dass
wir im nationalen Bereich zwar weiterhin für die Sozialpolitik zuständig sind, dass aber der Europäische Gerichtshof in Luxemburg darüber entscheidet, wie diese
Zuständigkeit ausgeübt wird.
Damit wir uns richtig verstehen: Ich halte weder die
Wartelisten in Großbritannien noch die rot-grüne Budgetierung im Gesundheitswesen für wegweisende Erfindungen des 21. Jahrhunderts. Aber ich möchte, dass wir die
politische Debatte über diese Themen im Deutschen Bundestag führen und dass entsprechende Fragen nicht durch
Richterrecht in Luxemburg entschieden werden.
Wir müssen uns die entsprechenden Fragen auch beim
Thema Asyl stellen. Was wollen wir zu diesem Thema in
die Charta aufnehmen? Wir haben mit unserem Antrag
deutlich gemacht - das wird die Kollegin Roth wahrscheinlich als nicht akzeptabel empfinden -, dass wir die
Genfer Flüchtlingskonvention uneingeschränkt, aber als
Institutsgarantie und eben nicht als Individualanspruch
wollen.
({3})
Wir wollen dies aus folgendem Grund, Frau Kollegin
Roth: Wenn wir jetzt in diese Charta hineinschreiben würden, es gibt einen Individualanspruch auf Asyl, würde das
bedeuten, dass die Debatte über eine künftige europäische
Harmonisierung des Asylrechts beendet ist, weil es sich
nämlich um einen Mindeststandard handelt, der niemals
mehr unterschritten werden kann. Ich sage Ihnen deshalb:
Es wird im Konvent keinen Konsens über diese Frage geben. Es wird auch keine Chance geben, dass eine solche
Charta jemals rechtsverbindlich wird, wenn Sie darauf
bestehen, die hohen Standards des deutschen Grundgesetzes dort festzuschreiben. Bei der Charta geht es um
Mindeststandards. Deshalb kann es nur darum geben,
dass wir in dieser Charta eine Institutsgarantie auf Asyl
festschreiben und unser Bekenntnis zur Genfer Flüchtlingskonvention deutlich machen. Es muss dann im Rahmen des Tampere-Prozesses darüber diskutiert werden,
wie ein harmonisiertes europäisches Asylrecht auszusehen hat.
Nun frage ich Sie, Herr Kollege Meyer: Was bezweckt
denn Ihr Antrag? Wollen Sie mit Ihrem Antrag die Institutsgarantie, wie das Ihr Innenminister bei jeder Gelegenheit propagiert? Wollen Sie das Individualgrundrecht festschreiben mit dem Ergebnis, dass Herr Schily gar nicht
mehr nach Brüssel fahren muss, weil die von ihm eingeforderte Harmonisierung gar nicht mehr möglich ist? Das
wird aus Ihrem Antrag nicht klar. Deshalb meine ich: Sie
schulden Ihren eigenen Wählerinnen und Wählern, der
Öffentlichkeit sowie den NGOs Auskunft darüber, was
Sie mit dieser Charta im Einzelnen erreichen wollen. Das
wird in diesem Antrag nicht klar.
Ein drittes Beispiel, meine Damen und Herren. Wir haben uns in der Tat bis zum Schluss darüber gestritten, ob
in diese Charta ein Verbot der Benachteiligung von
gleichgeschlechtlichen Paaren aufgenommen werden
soll. Heute Morgen haben wir im Bundestag über eine entsprechende gesetzliche Regelung in Deutschland debattiert. Ich denke, dass meine Fraktion deutlich gemacht hat,
dass sie in diesem Bereich Diskussionsbedarf sieht und
dass man wirklich darüber nachdenken muss, was man an
der gegenwärtigen Rechtslage ändern muss. Die Frage ist
nur, wo wir diese Diskussion führen. Wollen Sie wirklich,
dass wir entscheidende Teile des deutschen Familienrechts auf europäischer Ebene harmonisieren?
Sie haben in Ihrem Antrag die Freiheit der Wahl des
Statuts für gleichgeschlechtliche Paare gefordert. Das
heißt, dass es in Zukunft in jedem Mitgliedsland möglich
sein muss, dass man eine eingetragene Partnerschaft in
Anspruch nehmen kann. So habe ich Ihren Antrag verstanden, so verstehen es viele draußen. Wenn das nicht so
gemeint ist, müssen Sie das sagen. Ich finde, es ist nicht
richtig, Erwartungen zu wecken, die man nachher nicht
einlösen kann.
Meine Damen und Herren, wenn wir über das Zustandekommen einer solchen Charta sprechen, gehört auch
dazu, dass wir uns darüber klar werden, dass in Europa
solche Entscheidungen nur funktionieren, wenn man zum
Kompromiss bereit ist. Wir haben eine unglaublich vielfältige politische Landschaft in Europa, unterschiedliche
politische Kulturen, unterschiedliche GrundrechtstradiPeter Altmaier
tionen. Wenn Sie jede Debatte mit der Erklärung beginnen, Sie seien für eine Charta, Sie seien dafür, dass dieses
und jenes geregelt werde, dies dürfe aber nicht dazu
führen, dass die deutschen Rechtsstandards unterschritten
würden, werden wir, wenn jeder dies für sich in Anspruch
nimmt, niemals zu einem Ergebnis kommen. Diese Charta
wird im September nur dann zum Erfolg kommen, wenn
es bei allen Beteiligten ein hohes Maß an Kompromissbereitschaft gibt.
Wir müssen zum Beispiel auch über neue Rechte diskutieren, die wir in diese Charta hineinschreiben. Wir hatten uns in dem gemeinsamen Antrag zu dem Informationszugangsanspruch bekannt. Ich halte das für ganz wichtig. Das tragen wir mit. Wir haben uns auch dazu bekannt,
dass wir im Bereich des Datenschutzes, im Bereich der
Gen- und Biotechnologie Regelungen aufnehmen.
Aber nun frage ich Sie: Warum war es denn so schwierig, mit Ihnen über ein Verbot der Vertreibung, über ein
Grundrecht auf Heimat zu reden? Das war mit der Koalition nicht zu machen. Ich verstehe ja, dass viele sagen, die
Debatte sei historisch belastet, aber angesichts der Vertreibungen, die im ehemaligen Jugoslawien, in Bosnien,
im Kosovo bis in die allerjüngste Zeit stattgefunden haben und möglicherweise in anderen Teilen Europas noch
stattfinden werden, was niemand von uns hofft, müssen
wir uns doch der Frage stellen, wie wir damit umgehen.
Dann kann es doch nicht verboten sein, darüber nachzudenken, ob in dieser Charta erstens ein Recht auf Minderheitenschutz und zweitens ein Vertreibungsverbot deutlich sichtbar verankert werden sollen.
Meine Damen und Herren, ich bin optimistisch, dass
wir es schaffen werden, in der verbleibenden Zeit und mit
einer lebhafter werdenden innerstaatlichen Debatte - das
ist ganz normal - dazu zu kommen, dass die europäische
Charta, die wir hoffentlich im September im Konvent verabschieden werden, einen Schritt nach vorn bedeutet,
auch wenn sie nicht alle Erwartungen und sicherlich nicht
jede einzelne Wunschvorstellung in Bezug auf konkrete
Rechte erfüllt. Wichtig ist aber, dass wir uns diesen
Bemühungen unterziehen. Die Diskussion, die nun in
Gang gekommen ist, die auch von Joschka Fischer und
von dem französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac
aufgegriffen worden ist, zeigt, dass diese Grundrechtechartadiskussion im Umfeld einer generellen Debatte
über die Zukunft der Europäischen Union bis hin zur
Frage einer europäischen Verfassung und der Finalität der
europäischen Integration stattfindet.
Ich meine, das lohnt die Mühe, auch in Zukunft an einer gemeinsamen Position nicht in jeder einzelnen Frage,
aber im Hinblick auf das große Ziel der Charta festzuhalten.
Vielen Dank.
({4})
Jetzt hat die Kollegin
Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat ist die Grundrechtecharta im Rahmen der
Diskussion über eine europäische Verfassung sicher ein
ganz wichtiger Aspekt des verfassunggebenden Prozesses. Ich habe immer Angst, von „Verfassung“ zu sprechen,
({0})
weil ich weiß, wie unterschiedlich der Begriff „Verfassung“ in Europa verstanden wird. Deshalb halte ich es für
besser, vom „verfassunggebenden Prozess“ zu sprechen,
da sich in diesem Begriff unterschiedliche Traditionen
vereinen können.
Über die Notwendigkeit einer Grundrechtecharta besteht in diesem Hause sicher ein großer Konsens. Ich
denke, es ist unstrittig, dass die Entwicklung der Wirtschaftsgemeinschaft hin zur politischen Union einer
Flankierung durch einen effektiven Grundrechtsschutz
bedarf, dass die Europäische Union endlich ein bürgerrechtliches Fundament braucht und dass dieser Grundrechtsschutz nicht nur im Bereich der Asyl- und Migrationspolitik sowie im Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit notwendig ist, in dem es große schwarze
Demokratielöcher gibt, sondern auch in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Ebenso gibt es im Bereich der Sozialunion einen Nachholbedarf an Grundrechten.
Die Grundrechtecharta stärkt zudem die Idee einer
Unionsbürgerschaft; denn die Handlungsmöglichkeiten
der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger werden sich erweitern. Wir haben in diesem Zusammenhang immer darauf bestanden, dass es nicht zu unterschiedlichen Grundrechtsstandards kommen darf, dass es nicht innerhalb der
Europäischen Union Menschen mit unterschiedlichen
Rechten geben darf. Deswegen plädiere ich eindringlich
dafür, die Unterscheidung zwischen Unionsbürgerinnen
und Unionsbürgern und anderen Bürgern nicht in der
Charta der Grundrechte, die für alle Menschen gelten soll,
zu vertiefen.
Man kann sagen, dass die bisherigen Arbeiten des Konvents sehr ermutigend waren, wenn es auch noch viele
Dinge zu kritisieren gibt und noch ein großer Verbesserungsbedarf besteht. Ich glaube, das Forum des Konvents
ist ein gutes neues Mittel zur Förderung der europäischen
Integration. Ich denke auch, dass durch eine erfolgreiche
Arbeit des Konvents die bisherige alleinige Herrschaft der
Regierungskonferenzen um etwas sehr Positives ergänzt
wird.
Warum kein gemeinsamer Konsens auf dem Tisch
liegt, haben schon meine Vorredner ausführlich geschildert. Auch ich bin der Meinung, dass es, wenn es keinen
Konsens geben konnte, besser ist, dass die unterschiedlichen Positionen dargestellt werden. Ich denke, das ist
sinnvoller als ein entleerter Kompromiss. So war zumindest unsere Meinung im Menschenrechtsausschuss, der
beratend an der Grundrechtecharta mitwirkt.
Ich möchte ein paar Sätze zu meiner Kritik an den Anträgen der anderen Fraktionen sagen. Ich finde viele
Punkte im Antrag der F.D.P.-Fraktion sehr gut. Aus
meiner Sicht ist jedoch der Bereich der wirtschaftlichen
und sozialen Grundrechte bei Ihnen zu stark eingeschränkt. Mit dieser eingeschränkten Sichtweise fallen
Sie, glaube ich, sogar hinter die großen UNO-Pakte und
die Forderungen der Wiener Menschenrechtskonferenz
und des Kopenhagen-5-Prozesses zurück.
Zu dem Antrag der Union: Ich bin froh, Herr Altmaier
und Herr Hintze, dass Sie sich eindeutig zu der Notwendigkeit einer Grundrechtecharta bekannt haben. In der
Union gibt es sicher auch andere Positionen; von daher ist
das zu begrüßen. In Ihrem Antrag gibt es im Wesentlichen
drei Punkte, mit denen ich große Probleme habe.
Zunächst habe ich große Schwierigkeiten damit, dass Sie
in der Charta die christlich-abendländische Tradition Europas festschreiben wollen.
({1})
Für mich ist das ein Anachronismus. Wie um alles in der
Welt wollen Sie zum Beispiel dem Beitrittskandidaten
Türkei die Möglichkeit geben, sich in einem solchen gemeinsamen europäischen Raum wiederzufinden?
({2})
- Ich weiß. - Ich gehe davon aus, dass damit klar ist, dass
Sie die Türkei nicht als Teil dieser Europäischen Union
wahrnehmen wollen; denn sonst würden Sie sich nicht auf
die christlich-abendländische Tradition beschränken.
({3})
Darüber würde ich gerne eine ausführliche Debatte mit
Ihnen führen.
Ferner glaube ich, dass auch bei Ihnen der Grundsatz
der Unteilbarkeit der Menschenrechte eingeschränkt
wird. Unteilbarkeit heißt ja, dass politisch-bürgerliche
Freiheitsrechte in Verbindung mit den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechten zwei Seiten einer
Medaille sind. Wenn Sie nun aber in Ihrem Antrag schreiben, dass es in erster Linie um die klassischen Freiheitsund Verfahrensrechte geht, dann etablieren Sie eine Hierarchie, wodurch die Unteilbarkeit in ein Ungleichgewicht gerät. Das ist mein Kritikpunkt.
Herr Altmaier, Sie haben es natürlich angesprochen:
Ich bin tatsächlich ganz anderer Auffassung als Sie, was
das Asylrecht angeht. Angesichts dessen, dass Sie von
der Notwendigkeit der Kompromissfindung sprechen,
muss ich unterstellen, dass die Europäische Union ein
Stück weit dazu dienen soll, das Asylrecht auf niedrigem
Niveau zu harmonisieren. Seit vielen Jahren wird immer
wieder versucht, Europa dazu zu benutzen, Unliebsames
aus dem eigenen Land wegzuharmonisieren. Sie haben
sich ja nicht einmal bereit erklärt, den Beschluss von
Tampere zu übernehmen, in dem von einem uneingeschränkten und allumfassenden Bezug auf die Genfer
Flüchtlingskonvention gesprochen wird, wobei ich die
Genfer Flüchtlingskonvention in der Tat ganz anders interpretiere.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Entschuldigen Sie, ich bin etwas langsam, weil ich
allmählich wirklich müde werde.
Das verstehe ich angesichts dessen, dass wir beide hier wirklich lange gesessen haben.
Deswegen möchte ich das Ganze auch nicht weiter in die Länge ziehen.- Ich wünsche unseren Männern,
die im Konvent arbeiten, viel Kraft. Sie werden von uns
noch viele gute Vorschläge bekommen. Herr Altmaier, da
hoffe ich auch auf Sie. Bei Herrn Meyer bin ich mir sehr
sicher. Uns wünsche ich ein paar schöne Sommertage. Vielen Dank, Frau Präsidentin.
({0})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht nun Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das
Projekt europäische Grundrechtecharta wirkt auf mich
elektrisierend. Das macht mich munter und überhaupt
nicht müde.
({0})
Deshalb bin ich froh, dass wir heute die Gelegenheit haben, nicht zum letzten, sondern erst zum zweiten Mal über
dieses meiner Meinung nach wichtigste Projekt im Rahmen des derzeitigen europäischen Integrationsprozesses
zu diskutieren.
({1})
Die F.D.P. bekennt sich uneingeschränkt zur europäischen Grundrechtecharta,
({2})
die im Rahmen der Integration und des Verfassunggebungsprozesses in der Europäischen Union ein wesentliches Projekt ist.
({3})
Selbstverständlich muss die Wirtschafts- und Währungsunion ergänzt und zu einer europäischen Wertegemeinschaft weiterentwickelt werden. Kann man das besser
machen als mit einer klar, verständlich und präzise formulierten europäischen Grundrechtecharta?
Deshalb ist für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland ganz eindeutig, Herr Meyer: Der Deutsche Bundestag ist für dieses Projekt. Aber es gibt unterschiedliche
Claudia Roth ({4})
Akzentuierungen und Schwerpunktsetzungen. Ich finde
es richtig und gut, wenn diese hier herausgearbeitet werden, wenn aber auch deutlich wird: Wir verfolgen letztendlich - ich hoffe, darin sind wir uns einig - dieselbe
Zielrichtung. Diese ist gerade durch die hier im Hohen
Hause von Staatspräsident Chirac gehaltene Rede - Herr
Meyer, Sie haben es erwähnt - klarer geworden. Er hat das
enttabuisiert, was ein bisschen wie Mehltau auf vielen,
auch auf den Mitgliedern im Konvent, lag. Es musste
nämlich einmal deutlich ausgesprochen werden, dass wir
dieses Grundrechteprojekt in den langfristig angelegten
Verfassunggebungsprozess der Europäischen Union einordnen müssen, wobei wir als Liberale am Ende eine Föderation anstreben und die Grundrechtecharta in diesen
Prozess eine ganz wichtige Dynamik hineinbringen muss.
({5})
Denn diese Charta muss ein großes Defizit beseitigen.
Sie muss das Defizit beseitigen, dass wir heute einen nicht
unwesentlich großen Raum europäischen Handelns haben, in dem sich eben nicht an Grundrechten orientiert
werden muss.
Wir bekommen immer mehr europäische Organe:
Wir haben Europol, die Betrugsbekämpfungseinheit, eine
handlungsfähige Kommission - dies wurde von uns allen
gefordert -, die wir noch handlungsfähiger machen wollen. Wir wollen auch das Parlament stärken und entscheidungskräftiger machen und dem Rat mehr Mehrheitsentscheidungen zugestehen, damit der Prozess vorangeht.
Es kann aber doch nicht sein, dass die Ausübung gemeinschaftlicher Gewalt weiterentwickelt wird, ohne dies
mit der Ausgestaltung einer Grundrechtecharta zu verbinden,
({6})
auf die sich nicht nur die Bürger der Europäischen Union,
sondern auch die Bürger, die sich in der Europäischen
Union aufhalten, berufen können.
Wir sind mit Sicherheit alle der Meinung, dass wir hier
differenzieren müssen: Wenn es um die politische Partizipation geht, gilt dies natürlich nur für die Bürger der Europäischen Union. Geht es aber zum Beispiel um selbstverständliche Menschenrechte, gilt dies für jeden Bürger,
der sich in der Europäischen Union aufhält.
Wir als Liberale wollen eine Grundrechtecharta, die
diesen Namen auch verdient. Grundlage muss die europäische Menschenrechtskonvention mit den klassischen
Freiheitsrechten sein; darüber brauchen wir hier kein
Wort zu verlieren. Aber was will man darüber hinaus in
der Grundrechtecharta verankert wissen? Hier gibt es
natürlich Unterschiede - im Verständnis, vielleicht auch
nur in der Formulierung, was natürlich juristisch eine andere Bewertung zur Folge haben kann.
Neben den klassischen Freiheitsrechten auf der Grundlage der europäischen Menschenrechtskonvention ist für
uns Liberale das Recht auf informationelle Selbstbestimmung hinsichtlich der Verwendung personenbezogener
Daten auf europäischer Ebene unverzichtbar. Es geht darum, wie man besser Kontrolle über das ausüben kann,
was häufig noch immer in nicht nachvollziehbarer Weise
in den europäischen Gremien passiert. Wir wollen auf
europäischer Ebene ein Recht auf Asyl und den Schutz
vor Abschiebung bei Gefahr der politischen Verfolgung
im Heimatland, der Gefahr für Leib und Leben.
Wie aber kann das Endprodukt aussehen, wenn man
nicht ehrgeizig an ein Projekt herangeht, sondern die Gesetze immer nur auf Basis des kleinsten gemeinsamen
Nenners formuliert?
({7})
Ich denke, es ist jetzt an der Zeit, uns ambitioniert den Zielen zu stellen und ehrgeizig zu formulieren, und zwar in
einer Auseinandersetzung, durch die den Bürgerinnen und
Bürgern in Deutschland deutlich wird, was wir im Rahmen der Entwicklung der Europäischen Union für sie erreichen wollen.
Durch das Projekt der europäischen Grundrechtecharta
wollen wir mehr europäisches Bewusstsein und mehr
Identität mit Europa schaffen. Das gelingt uns aber nicht,
wenn wir nur miteinander diskutieren. Es muss vielmehr
eine öffentliche Diskussion stattfinden. Wir müssen den
Bürgerinnen und Bürgern deutlich machen, dass sie sich
auf diese Grundrechte berufen und sie letztendlich auch
einklagen können.
({8})
Deshalb ist ganz entscheidend, dass diese Charta, wenn
sie denn diesen Anforderungen grundsätzlich genügt, verbindlich ist.
Sollte es aufgrund der verschiedenen Interessen im
Konvent - dort schlagen sich die unterschiedlichen Meinungen der Mitgliedstaaten nieder - nicht zu einer Verbindlichkeitserklärung, sondern, was im Moment wahrscheinlicher ist, nur zu einer Deklaration, also einer unverbindlichen Erklärung, kommen, muss - das ist die
Meinung der F.D.P.-Bundestagsfraktion - der Meinungsbildungsprozess sehr engagiert weitergeführt werden. Wir
können den Bürgern nicht sagen: Es ist etwas deklariert
worden; das müsst ihr hinnehmen. Wir wissen aber nicht,
wann dies einen verbindlichen Charakter bekommt. - Wir
müssen sie vielmehr zur Teilhabe an diesem Prozess auffordern. Und wenn es dann zur Ratifikation der Charta
kommt, dann - das kann ich für die Liberalen sagen - unter Partizipation der Bürger. Wir wollen, dass dies in
Deutschland im Rahmen eines Referendums geschieht.
({9})
Dies wurde in der Vergangenheit vielleicht versäumt. Wir
sollten dieses Instrument aber nutzen, auch wenn es damit
zum ersten Mal auf europäischer Ebene Anwendung
findet.
Vielen Dank.
({10})
Ich gebe bekannt,
dass der Kollege Dr. Klaus Grehn seine Rede für die PDS-
Fraktion zu Protokoll gegeben hat.1)
Nun hat Dr. Christoph Zöpel, Staatsminister im Auswärtigen Amt, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Schon jetzt lässt sich die Feststellung treffen, dass
der Weg richtig ist, den der Europäische Rat für die Erarbeitung einer Grundrechtecharta gewählt hat. Er hat damit nämlich überwiegend Vertreter von Parlamenten beauftragt. Hier wird mit einer für mich erstaunlichen Effizienz gearbeitet.
({0})
- Jetzt mache ich noch eine unvorsichtige Bemerkung:
Mein Maßstab war eben der Ministerrat.
({1})
Mit einer erstaunlichen Effizienz hat dieses Gremium
die vorgegebenen ebenso wie die selbst gesteckten Ziele
erreicht. Dies ist sicherlich allen Mitgliedern zu verdanken, die von den 15 Mitgliedsländern entsandt sind.
Aber ich möchte auf deutscher Seite Herrn Bundespräsidenten Professor Herzog in besonderer Weise danken,
ebenso Ihnen, Herr Kollege Meyer, Herr Kollege
Altmaier und Herr Kollege Gnauck.
({2})
Für die Bundesregierung gibt es die klare Hoffnung,
dass es einen rechtsverbindlichen Wortlaut geben wird,
der zum geeigneten Zeitpunkt und im geeigneten Verfahren in die Verträge übernommen werden kann. Sollte es
im Gegensatz zur derzeitigen Vorstellung nicht bereits in
Nizza dazu kommen, muss sehr schnell die Frage beantwortet werden, ob auf dem Weg der Vertragsratifizierung
oder eines Referendums das Ziel erreicht wird.
Die französische Regierung unterstützt uns Deutsche
in unserer Hoffnung. Wir haben mit ihr Einigkeit darüber
erzielt, wie diese deutsche Hoffnung, die an einklagbare
Grundrechte gekoppelt ist, mit der Formulierung von sozialen Grundrechten zu verbinden ist, die einen anderen
Verbindlichkeitsgrad hätten.
Herr Kollege Meyer, im Namen der Regierung danke
ich Ihnen für die Beiträge, die Sie in der Konventsarbeit
leisten, und vor allem für Ihre Zusammenarbeit mit dem
Vertreter der französischen Regierung.
({3})
- Ihm habe ich auch schon gedankt. Aber mit dem französischen Regierungsvertreter spricht nun wirklich Herr
Meyer. Im Übrigen, Herr Hintze, darf man Dank nicht beliebig machen, weil dann niemand mehr glaubt, dass ihm
wirklich gedankt wird.
({4})
- Das verstehe ich in diesem Zusammenhang nicht.
Was erwarten wir im Endergebnis von der Charta? Erstens Rechte der Bürger der Europäischen Union im Zusammenhang mit Rechtshandeln der Union selbst und mit
auf EU-Recht gestütztem Rechtshandeln der Staaten sowie die Möglichkeit, dass sie ihr Recht auch einklagen
können, und zweitens tatsächlich eine Wertegemeinschaft. Die großen Verfassungen in Europa seit der Französischen Revolution einschließlich des deutschen Grundgesetzes haben nach und nach eine Wertegemeinschaft,
zuerst in den Nationalstaaten - diese immer mehr zusammenführend -, geschaffen. Wenn wir uns einig sind, dass
all diesen Verfassungen Ideen der Aufklärung zugrunde
liegen, und wenn am Ende der Entwicklung eine Verfassung steht, die für ganz Europa die Prinzipien der Aufklärung auch rechtlich stärker durchsetzbar machen, soweit sie die Rechte des einzelnen Bürgers betreffen, werden wir einen Meilenstein europäischer Geschichte
erreicht haben. Alle, die daran mitgewirkt haben, dürfen
dann darauf stolz sein.
Herzlichen Dank.
({5})
Für den Bundesrat
spricht Minister Gnauck aus dem Lande Thüringen.
Jürgen Gnauck, Minister ({0}) ({1}): Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich
meine Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass Sie,
Frau Präsidentin, das Thema als spannend bezeichnet ha-
ben und dass Frau Leutheusser-Schnarrenberger von
„elektrisierend“ gesprochen hat. Daher möchte ich mich
zu dieser späten Stunde bemühen, einige neue Gedanken
beizutragen.
Ich bin Ihnen zunächst dankbar, dass der Deutsche
Bundestag noch vor der Sommerpause Gelegenheit
nimmt, dieses wichtige Thema zu diskutieren. Auch der
Bundesrat wird sich in seiner letzten Sitzung vor der Som-
merpause in Bonn nächste Woche Freitag mit einem Ent-
schließungsantrag befassen. Ich denke, dass die Diskus-
sion am heutigen Nachmittag anschaulich gemacht hat,
dass man sich im Grundsatz zwar einig ist, dass aber der
Teufel ganz offensichtlich im Detail steckt. Denn wenn es
an das Eingemachte geht, liegen die Auffassungen ganz
offensichtlich ein Stück weit auseinander.
Im Konvent - das ist bereits angesprochen worden; ich
danke insbesondere dem Kollegen Meyer und dem Kolle-
1) Anlage 8
gen Altmaier, dass sie durch ihre sachkundigen Beiträge
daran mitarbeiten, das Projekt zum Erfolg zu machen -,
zeichnet sich ein Konsens ab.
Nachdem wir leider heute auch sehr viel Trennendes
gehört haben, will ich Ihnen sagen, was die deutschen
Länder im Konvent verbindet. Wir sind der festen Überzeugung, dass keinerlei neue Kompetenzen auf die Europäische Union übertragen werden dürfen. Das ist - ich
werde gleich noch darauf eingehen - die Conditio sine
qua non. Es gibt allerdings noch zwei Probleme, die heute
schon in einigen Beiträgen anklangen und die ich noch
einmal kurz anreißen möchte:
Der langjährige deutsche Richter am Europäischen Gerichtshof Hirsch wies darauf hin, dass wir darauf achten
müssen, dass nicht eine so genannte kompetenzansaugende Wirkung dann zum Tragen kommt, wenn wir die
Charta ratifizieren und in die Verträge überführen. Das ist
ein juristischer Begriff, ich bitte um Nachsicht, ich habe
nicht das Copyright auf ihn. Wir müssen aufpassen, dass
dieses Risiko nicht durch das europäische System eintritt.
Mein zweiter Gedanke wurde auch von einem anerkannten Europarechtler, Professor Huber aus Jena, betont.
Wir müssen darauf achten, dass die verbindliche Charta
nicht zu dem Problem führt, das wir im Verhältnis von
Bundesverfassungsgericht zu Landesverfassungsgerichten schon einmal festgestellt haben, dass nämlich die so
genannte unitarisierende Wirkung dann eintritt, wenn
wir einen verbindlichen Grundrechtekatalog bekommen.
Ich denke daran, dass die nationalen Gerichte, insbesondere durch verschiedene Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, bereits heute ein Stück ihrer Bedeutung verloren haben. Ich habe mir einmal vorgestellt, was
passiert wäre, wenn das Bundesverfassungsgericht das
Bundeswehrurteil gefällt hätte. Allein deswegen, weil das
Urteil vom Europäischen Gerichtshof gefällt worden ist,
ist das ganz offensichtlich - zu meiner Überraschung - in
der Bundesrepublik Deutschland als völlig natürlich hingenommen worden.
Es ist Aufgabe - auch das klang in verschiedenen
Beiträgen bereits an -, das zusammenzutragen, was gemeinschaftsrechtlicher Grundrechtsstandard ist. Das
soll kodifiziert, konkretisiert und vielleicht auch - das ist
noch ein Streitpunkt - aktualisiert werden. Dabei muss
man sich auf der Grundlage der europäischen Menschenrechtskonvention auseinander setzen und das, was nach
meiner Meinung vom Status quo her gemeinsame Verfassungsüberlieferung ist, zusammentragen.
Die meisten Mitglieder im Konvent, vielleicht nicht
alle, sind dabei durchaus aufgeschlossen gegenüber den
so genannten modernen Grundrechten. Das klang auch
hier heute Nachmittag bereits an. Dinge, die für uns völlig selbstverständlich sind, weil sie in anderen Gesetzen
geregelt sind, stoßen insbesondere in nordeuropäischen
Staaten auf helle Begeisterung. So wird vom Recht auf
eine ordnungsgemäße Verwaltung gesprochen -, was für
uns völlig selbstverständlich ist.
Auch weitere Punkte, die in der Diskussion streitig
sind, könnten in der Charta durchaus auftauchen. Ich
denke an die Bereiche Gentechnologie und Informationstechnik.
Ich möchte noch einen Aspekt betonen, der bisher noch
nicht von den Rednern vorgetragen worden ist. Das ist die
Frage der Grundrechtseinschränkungen. Da geht man
im Konvent einen anderen Weg, als wir ihn aufgrund unserer Verfassungstradition her kennen. Man versucht,
über allgemeine beschränkende Regelungen quasi etwas
vor die Klammer zu ziehen, was sonst in unserem Grundgesetz in einzelnen Grundrechten selbst geregelt worden
ist. Bis jetzt scheint es - Kollege Meyer und Kollege
Altmaier betrachten es auch mit großer Spannung - zu gelingen und wir hoffen, dass über eine so genannte Querschnittsbestimmung keine Kompetenzerweiterung droht.
Einen weiteren Punkt will ich betonen: Der Europäische Gerichtshof betreibt bereits seit einigen Jahren
eine durchaus europarechts- und grundrechtsfreundliche
Rechtsprechung. Wenn man aber in die Entscheidungen
hineinschaut, muss man feststellen, dass immer dann,
wenn es um die europäischen Organe gegangen ist, Eingriffe als gerechtfertigt bezeichnet worden sind.
Ich wünsche mir von der Charta, dass sie, wenn sie
denn verbindlich wird, dazu beitragen kann, die Schranken transparenter zu machen, und dass sie zulässt, dass
nicht alle Eingriffe auch tatsächlich gerechtfertigt sein
werden, wie es momentan nach der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofes der Fall ist.
Wenn es nicht so spät und meine Redezeit nicht begrenzt wäre, würde ich mich noch breit über die sozialen
Rechte auslassen. Es ist meine Überzeugung - das gehört
zu dem Mandat von Köln -, dass die Charta auch insoweit
keine großen Programmsätze enthalten sollte. Wer die
Diskussion verfolgt hat, weiß, dass es im Präsidium am
Anfang durchaus andere Vorstellungen gab.
Anhand der Ausführungen des Kollegen Meyer will
ich aber noch einmal eines betonen: Die deutschen Länder werden die von Ihnen so bezeichnete erste Säule sicherlich mittragen. Das ergeben die bisherigen Abstimmungen. Das heißt, wir werden nicht über den
Grundsatz der Solidarität streiten. Ob es so weitergeht,
werden die Koordinierungen und auch Ihre Vorstellungen
der nächsten Wochen zeigen.
Die wesentliche Frage darf der Konvent - da wird
Roman Herzog hoffentlich eine wesentliche Rolle spielen; ich freue mich, wenn er an die Spitze des Konvents
zurückkehrt - nicht entscheiden, nämlich: Wird die
Charta eines Tages rechtsverbindlich werden?
Zur Klarstellung möchte ich noch eines sagen: Zu einer Proklamation der Charta wird es aller Voraussicht
nach dann kommen, wenn man einen für alle Seiten zustimmungsfähigen Entwurf hat. Das heißt, wir werden
nicht über eine Proklamation oder über eine Deklaration
streiten. Wir werden aber sehr wohl darüber streiten - je
nach Inhalt -, ob es zu einer Überführung in die europäischen Verträge kommt oder nicht. Da haben sich die deutschen Länder heute bewusst noch nicht festgelegt. Bevor
sie sich entscheiden, wollen sie wissen, was in dieser
Wundertüte - wenn ich den Vergleich wagen darf - enthalten sein wird.
Minister Jürgen Gnauck ({2})
In der „Zeit“ wurde gefragt: Was wird aus der
„Wertegemeinschaft Europa im Labor“? Wird tatsächlich
eine Volksausgabe der Grundrechte daraus, wie man es
sich im Zuge der Mandate von Köln und Tampere vorgestellt hat? Ich bin hoffnungsvoll und zuversichtlich, dass
die deutschen Länder ihren Beitrag dazu leisten werden.
Ich hoffe, ich habe die mir zugedachte Redezeit nicht
überschritten, bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und
wünsche Ihnen schöne Sommerferien.
({3})
Sie haben Ihre Redezeit nicht überschritten, Herr Gnauck; das zu Ihrer Beruhigung.
Als letzter Redner in dieser Debatte hat Christian
Sterzing das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum
Schluss dieser Debatte möchte ich nur noch einige Randbemerkungen machen. Ein Ziel dieses Grundrechtechartaprozesses war, von Anfang an Transparenz zu schaffen
und Partizipation herbeizuführen. Ich ziehe eine kurze
Zwischenbilanz und sage im Hinblick auf die Transparenz: Hier ist ein hoher Grad an Durchsichtigkeit, an Offenheit erreicht worden, der wirklich Schule machen
sollte.
Zum Thema Partizipation: Auch hier sind vom Konvent neue Wege beschritten worden; es wurde vorhin
schon einmal darauf hingewiesen: In vielen gesellschaftlichen Bereichen sind Gruppen, Institutionen, Nichtregierungsorganisationen aktiv geworden und haben sich
an diesem Prozess beteiligt. Ich glaube, diese Partizipation zivilgesellschaftlicher Kräfte hat Vorbildcharakter.
Ein kleines Beispiel haben wir hier im Bundestag erlebt - ich weise in diesem Zusammenhang auf den veränderten Antrag der Koalitionsfraktionen hin -, nämlich
dass die Enquete-Kommission einen spezifischen Beitrag
zum Thema „Herausforderungen der Biotechnologie“ geleistet hat. Hier hat vielleicht so etwas wie Elektrisierung
durch den Grundrechtechartaprozess stattgefunden; denn
die Enquete-Kommission hat sich gleich zu Beginn ihrer
Arbeit darauf gestürzt. Sicher, es gibt noch keine breite
gesellschaftliche Debatte. Die 350 Millionen EU-Bürger
diskutieren nicht von morgens bis abends über die Grundrechte. Wir müssen sehen, dass wir hier noch ein gutes
Stück Arbeit zu leisten haben.
Die zweite Randbemerkung betrifft den Zusammenhang mit der Verfassungsdebatte. Ich glaube, wir sind da
ein Stück weitergekommen. Die Grundrechtecharta wird
im Augenblick in einem anderen europapolitischen
Zusammenhang diskutiert als noch vor einigen Monaten.
Das hat mit der Rede des Außenministers zu tun; das hat
auch mit der Rede von Präsident Chirac hier im Bundestag zu tun. Im Zusammenhang mit der Grundrechtecharta
wird mittlerweile auch über eine Verfassung geredet. Ich
glaube, es ist wichtig, festzuhalten, dass die Debatte über
die Grundrechtecharta vor einem veränderten europapolitischen Horizont stattfindet.
Aber die Situation hat sich auch tendenziell verschlechtert. Es haben sicherlich alle das Signal von Feira
aufgenommen, dass es wohl schwierig sein wird, zu einer
Grundrechtecharta zu kommen, die dann auch Teil der
Verträge wird. Insofern müssen wir uns von einer etwas
kurzfristigen Perspektive verabschieden und uns vielleicht auf eine mittelfristigere einrichten. Ich glaube, es ist
wichtig, dass wir auf dieses Signal von Feira auf keinen
Fall mit Resignation reagieren, sondern im Grunde wieder deutlich machen, wie lang der Atem sein muss, der
nötig ist, um diesen Prozess voranzutreiben. Dies beweisen wir hier im Bundestag unter anderem natürlich dadurch, dass wir am Freitag Nachmittag noch darüber debattieren. Aber dies macht auch deutlich, dass ein Randproblem des Grundrechtechartaprozesses weiter an
Bedeutung gewinnt, nämlich der geforderte Beitritt der
EU zur EMRK, zur europäischen Menschenrechtskonvention. Ich glaube, wir müssen dies als einen zentralen
Punkt im Blick behalten.
Zum Schluss will ich mein Bedauern zum Ausdruck
bringen, dass es nicht zu einem gemeinsamen Antrag gekommen ist. Ein Signal aus dem Bundestag wäre sicherlich wünschenswert gewesen. Der Geist war willig, die
Fraktion war schwach. Das müssen wir hinnehmen. Aber
wir müssen uns auch bewusst sein, dass wir nicht das
letzte Mal über die Grundrechtecharta debattieren.
({0})
Bei der nächsten Debatte im Herbst werden die Differenzen angesichts einer konkreten Vorlage wahrscheinlich
steigen.
({1})
- Das hängt von der Vorlage ab.
Insofern werden sich die Meinungen ausdifferenzieren. Wir werden darüber weiter angeregt diskutieren.
Ein spezifisches Grundrecht verdient zum Schluss Erwähnung, das Grundrecht auf Erholung. Ich wünsche Ihnen bei der Wahrnehmung dieses Grundrechts viel Erfolg.
Vielen Dank für Ihre besondere Geduld zu dieser
Stunde.
({2})
Dieses Grundrecht
sollte einvernehmlich in die europäische Grundrechtecharta aufgenommen werden.
Da ich das Glück hatte, auch die Debatte im März als
Präsidentin verfolgen zu dürfen, war ich ein bisschen betrübt, dass die sich damals abzeichnende große Einigkeit
offensichtlich wieder ein wenig aufgelöst hat. Aber ich
tröste Sie alle, die Europäer und auch den Herrn Minister
aus Thüringen: Dies ist ein Prozess, in dem man sich nicht
durch Tagesschwierigkeiten vom Wege abbringen lassen
Minister Jürgen Gnauck ({0})
soll. Insofern danke ich Ihnen allen für die Diskussion.
Hier kommen wir sicherlich weiter.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen über die Beschlussempfehlungen des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf Drucksache 14/3800.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktionen von SPD und
Bündnis 90/Die Grünen zur Charta der Grundrechte der
Europäischen Union auf Drucksache 14/3387 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. und bei Enthaltung der PDS angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit
dem Titel „Die Rechte der Bürger stärken - Für eine bürgernahe Charta der Grundrechte der Europäischen Union“
auf Drucksache 14/3368 abzulehnen. Wer folgt dieser Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt weiterhin unter Nr. 2 seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der F.D.P.
mit dem Titel „Verbindlichkeit der Europäischen Grundrechtecharta und Beitritt der Europäischen Union zur europäischen Menschenrechtskonvention“ auf Drucksache 14/3322 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der PDS gegen die Stimmen der F.D.P. angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt weiterhin unter Nr. 2 seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der PDS
mit dem Titel „Für eine rechtsverbindliche Europäische
Grundrechtecharta“ auf Drucksache 14/3513 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred
Hartenbach, Erika Simm, Joachim Stünker, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie
den Abgeordneten Volker Beck ({1}), HansChristian Ströbele, Kerstin Müller ({2}), Rezzo
Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Fünften
Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugs-
gesetzes
- Drucksache 14/3763 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Alle Reden sind zu Protokoll gegeben.1)
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/3763 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. - Es gibt
keine anderen Vorschläge. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss der heutigen Tagesordnung. Um die Bemerkung
des Staatsministers Zöpel aufzunehmen: Ich danke Ihnen
aufrichtig dafür, dass Sie so lange ausgeharrt haben. Ich
wünsche Ihnen erholsame, interessante, ruhige Ferienund Erholungstage - ohne Sondersitzung des Deutschen
Bundestages.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 12. September 2000, 11 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.