Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 7/6/2000

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Lieber Kollege Lambsdorff, ich darf Ihnen im Namen des ganzen Hauses unseren herzlichen Dank für Ihre Arbeit aussprechen. ({0}) Nun erteile ich dem Kollegen Wolfgang Bosbach, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Wolfgang Bosbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002632, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine große Mehrheit der Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag wird dem Gesetzentwurf zur Errichtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ heute zustimmen. ({0}) Dies geschieht allerdings nicht deshalb, weil sie der Auffassung ist, dass im Verlaufe der Beratungen über diesen Gesetzentwurf alle offenen Fragen beantwortet, alle Probleme gelöst, ein Höchstmaß an Gerechtigkeit gegenüber allen Opfern und eine hundertprozentige Rechtssicherheit erzielt worden seien, sondern in der Überzeugung, dass durch dieses Gesetz eine entscheidende Voraussetzung dafür geschaffen wird, dass 55 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und damit auch der Naziherrschaft den ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangarbeitern, die verschleppt, entrechtet, misshandelt und ausgebeutet wurden, spät - für viele leider zu spät - in Form einer humanitären Geste ein Stück Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für erlittenes Leid widerfährt. Dies gilt insbesondere für jene Opfer, die bis heute die umfangreichen Entschädigungs- und Wiedergutmachungsleistungen der Bundesrepublik nicht in Anspruch nehmen konnten. Dieses Gesetz ist nicht zuletzt - in Verbindung mit den Begleitabkommen und mit den völkerrechtlich verbindlichen Erklärungen der Verhandlungspartner - eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass deutschen Firmen im In- und Ausland und insbesondere in den USA ein hohes Maß an Rechtssicherheit und Rechtsfrieden und ein weitgehender Schutz vor administrativen Schikanen garantiert wird. Wer will bestreiten - darauf hat Graf Lambsdorff zu Recht hingewiesen -, dass auf diesem ebenso wichtigen wie sensiblen Gebiet der Entschädigung für nationalsozialistische Zwangsarbeit Geschäft und Moral eng beieinander liegen? Angesichts der Klagen, insbesondere der Sammelklagen und der Droh- und Boykottkulisse in den USA, haben die deutschen Unternehmen ein berechtigtes und nachvollziehbares Interesse daran, dass die schwierigen und komplexen humanitären, aber auch rechtlichen Fragen und Anliegen möglichst rasch zur Zufriedenheit aller Beteiligten auf Dauer, endgültig geklärt werden. Wenn einige Kolleginnen und Kollegen unserer Fraktion dem Gesetzentwurf dennoch nicht zustimmen können, dann bedeutet das weder, dass diese Kolleginnen und Dr. Otto Graf Lambsdorff Kollegen für das humanitäre Anliegen der Stiftung oder für die berechtigten Interessen der deutschen Wirtschaft kein Verständnis hätten, noch, dass sie dem Leid und dem Unrecht, das den ehemaligen Zwangsarbeitern zugefügt wurde, gar gleichgültig gegenüberstehen. Bei ihnen überwiegt die Sorge, dass durch diese Stiftung zwar Unrecht zumindest teilweise wieder gutgemacht werden soll, gleichzeitig aber neue Ungerechtigkeiten entstehen könnten, dass zwar formal von einer abschließenden Regelung zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts gesprochen wird, dass aber tatsächlich schon bald neue Forderungen gestellt und akzeptiert werden könnten und dass sich auch der vereinbarte Rechtsfrieden möglicherweise als trügerische Hoffnung erweisen könnte. Auch wenn ich selber mit der großen Mehrheit meiner Fraktion bei Abwägung aller Argumente zu dem Ergebnis komme, dass ich dem Gesetzentwurf trotz der auch hier schon angesprochenen Probleme in einzelnen Detailfragen, die nicht verschwiegen, sondern offen angesprochen werden sollten, aus Überzeugung zustimme, so darf ich dennoch darum bitten, die Argumente derjenigen Kolleginnen und Kollegen, die eine andere Auffassung vertreten, nicht als schlichtweg unbegründet abzulehnen oder ihrem Nein eine Motivlage zu unterstellen, die tatsächlich nicht vorhanden ist. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dankt Ihnen, lieber Graf Lambsdorff, für Ihre umsichtige und kluge Verhandlungsführung. Gerne wiederhole ich das, was ich bereits bei Einbringung des Gesetzentwurfes gesagt habe: Sie waren zur richtigen Zeit der richtige Mann am richtigen Ort. Ohne Ihr unermüdliches Engagement in dem langwierigen und schwierigen Verhandlungsprozess wäre die Einigung nicht zu erzielen gewesen. Die Opfer und unser Land haben Ihnen viel zu verdanken. ({1}) Unser aller Dank gebührt aber auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Ihres Arbeitsstabes. Auch sie haben viel mehr als nur ihre Pflicht getan und einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass wir diesen Gesetzentwurf heute abschließend beraten und verabschieden können. ({2}) Die Haltung der Unionsfraktion zu einigen besonders wichtigen Punkten des gemeinsamen Gesetzentwurfes aller im Bundestag vertretenen Fraktionen haben wir in einer gesonderten Erklärung zur Abstimmung zusammengefasst. Lassen Sie mich zu einigen Punkten Stellung nehmen: Die gelegentlich geäußerte Kritik, es werde aber auch allerhöchste Zeit, dass sich die Bundesrepublik Deutschland 55 Jahre nach dem Ende der Nazi-Barbarei endlich einmal des Themas Entschädigung für NS-Unrecht annehme, ist zumindest in dieser Form nicht nachvollziehbar. Diese Stiftungsinitiative zur Entschädigung von NSZwangsarbeitern knüpft an das Entschädigungs- und Versöhnungswerk an, das schon Anfang der 50er-Jahre unter Bundeskanzler Konrad Adenauer begründet wurde. Leider gab es in den letzten Monaten nur wenige Veröffentlichungen, in denen darauf hingewiesen wurde, dass die Bundesrepublik in den vergangenen Jahrzehnten bereits über 104 Milliarden DM an Wiedergutmachungsleistungen erbracht hat. Auf den Wert der D-Mark von heute umgerechnet ergibt dies einen Betrag von 200 Milliarden DM. Auch zukünftig werden wir auf der Grundlage des schon jetzt geltenden Rechts und ohne Berücksichtigung des hier in Rede stehenden Stiftungsvermögens noch weitere 20 Milliarden DM als Entschädigungsleistungen zu zahlen haben. Es muss erlaubt sein, auch im Deutschen Bundestag einmal darauf hinzuweisen, dass sich unser Land in den vergangenen Jahrzehnten, wenn auch manchmal quälend, so doch redlich darum bemüht hat, die dunklen Kapitel seiner Geschichte nicht zu verdrängen oder gar zu vergessen, sondern aufzuarbeiten und aus ihnen für die Zukunft notwendige Konsequenzen zu ziehen. Wir haben den Worten stets auch Taten folgen lassen. In diesem Zusammenhang darf ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass für die Unionsfraktion das Kapitel Reparationen spätestens seit dem Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages vom 12. September 1990 endgültig abgeschlossen ist, ({3}) dass für uns auch heute im Zusammenhang mit diesem Gesetzentwurf keinerlei Veranlassung besteht, mit anderen Staaten über Reparationsforderungen zu sprechen oder gar zu verhandeln, und dass sich an dieser Haltung auch zukünftig nichts ändern wird. Bislang haben alle Bundesregierungen, auch diese, aus guten Gründen folgenden Rechtsstandpunkt vertreten: Soweit ausländische Zwangsarbeiter außerhalb des Bundesentschädigungsgesetzes, einschließlich Art. 6 des BEG-Schlussgesetzes, Schadensersatzansprüche geltend machen, stehe dem das Londoner Schuldenabkommen aus dem Jahre 1953 entgegen. Bei Forderungen nach Entschädigung wegen Zwangsarbeit handele es sich um Reparationszahlungen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg. Dies gelte auch für Forderungen ehemaliger Zwangsarbeiter gegenüber privaten Unternehmen. Eine völlig andere Frage ist es jedoch, ob man das Thema Entschädigung für Zwangsarbeit wegen der besonderen historischen Verantwortung insbesondere gegenüber den noch lebenden Opfern nicht eher unter humanitären als unter rechtlichen Aspekten betrachten muss. Gerade aufgrund dieser Überlegung wurden in der Vergangenheit zunächst mit elf westlichen Staaten Globalabkommen zur Wiedergutmachung abgeschlossen. Darüber hinaus hat die Bundesrepublik nach dem Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages als humanitäre Geste für die Errichtung von Stiftungen in Warschau, Moskau, Kiew und Minsk sowie für die Einrichtung des deutsch-tschechischen Zukunftsfonds Beträge in Höhe von insgesamt 1,5 Milliarden DM zur Verfügung gestellt. Diese Beträge sollten auch ehemaligen Zwangsarbeitern zugute kommen. Mit der neu zu gründenden Bundesstiftung soll nun eine umfassende und abschließende Regelung erreicht werden, die insbesondere auch jenen alten, kranken und gebrechlichen Opfern zugute kommen soll, die bislang aus unterschiedlichsten Gründen noch keine Chance hatten, aus den umfangreichen Wiedergutmachungsprogrammen eine finanzielle Leistung zu erhalten. Gerade weil es ein wichtiges Ziel und Anliegen dieser Stiftung ist, das Kapitel Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts umfassend und abschließend zu regeln, muss dafür gesorgt werden, dass die zur Verfügung stehenden Mittel die Leistungsberechtigten und insbesondere die noch lebenden Opfer auch tatsächlich so rasch wie möglich und in voller Höhe erreichen. Diese Stiftungsinitiative soll keine institutionelle Förderung betreiben, keine Sachinvestitionen tätigen oder gar den Aufbau neuer Bürokratien finanzieren. Sie soll gegenüber den Opfern, gegenüber jedem einzelnen ehemaligen Zwangsarbeiter, durch eine Entschädigung in Form einer humanitären Geste ein Stück Wiedergutmachung leisten. Die Verantwortung dafür, dass die Stiftungsmittel nicht in irgendwelchen Administrationen versickern oder gar zweckwidrig verwendet werden, tragen die Partnerorganisationen, das noch zu bildende Kuratorium und der Stiftungsvorstand - nicht allein gegenüber dem deutschen Steuerzahler, der mit circa 7,5 Milliarden DM belastet wird, sondern auch und in erster Linie gegenüber den Opfern der Nazi-Diktatur. Die Unionsfraktion - ich glaube, dies auch im Namen der anderen Fraktionen des Hauses sagen zu können - ist mit Ihnen, Graf Lambsdorff, über die drohende Unterfinanzierung der so genannten sechsten Partnerorganisation, der International Organization for Migration, besorgt. Sie soll jene Opfer nicht jüdischen Glaubens betreuen und entschädigen, die in den Ländern leben, die über keine eigene Partnerorganisation verfügen. Für die Frage, ob überhaupt ein Leistungsanspruch geltend gemacht werden kann und, wenn ja, in welcher Höhe, können nach übereinstimmender Auffassung aller Berichterstatter nur das Lebensschicksal des Opfers, also dessen Leid und das an ihm begangene Unrecht, maßgeblich sein, nicht jedoch die Frage, welcher Glaubensgemeinschaft das Opfer angehört und in welchem Land das Opfer heute lebt. ({4}) Es darf im Ergebnis nicht so sein, dass ein heute in Frankreich oder in England lebender ehemaliger polnischer Zwangsarbeiter nicht jüdischen Glaubens nur deshalb eine geringe oder möglicherweise überhaupt keine Entschädigung erhält, weil er nach dem Kriege - aus welchen Gründen auch immer - aus Polen nach Frankreich oder England ausgewandert ist. Diese Stiftungsinitiative soll zumindest ein Stück Wiedergutmachung leisten und damit der Gerechtigkeit dienen. Sie darf keine neuen Ungerechtigkeiten schaffen. Angesichts des zur Verfügung stehenden Datenmaterials hätte es nahe gelegen, an eine andere Verteilung und damit gleichzeitig an eine Revision des Allokationsbeschlusses zu denken. Damit wäre jedoch der gesamte ich betone: der gesamte - Verhandlungsprozess mit einem völlig ungewissen Ausgang neu eröffnet worden. Unser gemeinsames Ziel war es jedoch, den Gesetzgebungsvorgang noch vor der parlamentarischen Sommerpause abzuschließen, das heißt vor der Sitzung des Bundesrates am 14. Juli, damit das Gesetz möglichst rasch in Kraft tritt. Angesichts des Umstandes, dass pro Jahr etwa 10 Prozent der ehemaligen Zwangsarbeiter sterben, muss es unser gemeinsames Anliegen sein, dass schon in wenigen Monaten mit den ersten Akontozahlungen an die Opfer begonnen werden kann. ({5}) Wir alle wollen die jetzt noch lebenden Opfer erreichen, nicht deren Hinterbliebene. Zu den Problemen, über die wir im Zuge der Verhandlungen und Beratungen über diesen Gesetzentwurf in den vergangenen Wochen sehr intensiv gesprochen haben, gehörte auch der Wunsch der Opfer in den baltischen Staaten, mit der Geltendmachung ihrer Ansprüche nicht an die Stiftungen in Moskau und Minsk verwiesen zu werden. Das Anliegen ist verständlich; in dem gewünschten Umfange konnten wir ihm leider nicht entsprechen, denn im Ergebnis hätte auch das bedeutet, dass zumindest der Allokationsbeschluss infrage gestellt worden wäre - mit möglicherweise unabsehbaren Folgen. Jedenfalls hätten wir unser Ziel, das Gesetzgebungsverfahren noch vor der parlamentarischen Sommerpause abzuschließen, um möglichst bald mit Zahlungen zu beginnen, nicht erreichen können. Wir sind froh, dass wir dieses Ziel erreicht haben. Das verdanken wir auch meinem Freund Bernd Reuter. Ich darf mich im Namen der Fraktionen herzlich für deine gute Verhandlungsführung bedanken. Du warst ein guter Moderator und hast uns sehr geholfen. ({6}) Und ob zu einem späteren Zeitpunkt mit den übrigen Verhandlungspartnern ein Einvernehmen auch in dieser Frage hätte erzielt werden können, ist höchst ungewiss. Wichtig wird es jetzt sein, dass im Gesetzesvollzug, in der praktischen Abwicklung durch die zuständigen Partnerorganisationen in Moskau und Minsk die berechtigten Interessen der baltischen Staaten unter Berücksichtigung der Auffassungen des Deutschen Bundestages, die sich in der Begründung des Gesetzestextes wiederfinden, ausreichend berücksichtigt werden. Dies gilt insbesondere für etwaige Widerspruchsverfahren. Für die Unionsfraktion ist dieser Gesetzentwurf auch deshalb von Bedeutung, weil wir mit ihm den Blick nicht nur zurück, sondern auch nach vorne richten. Die Idee der Gründungsunternehmen der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft war es, das Stiftungsvermögen jeweils zur Hälfte für individuelle Entschädigungsleistungen einerseits und für zukunftsbezogene Projekte andererseits zur Verfügung zu stellen. Ich persönlich und mit mir viele Kolleginnen und Kollegen bedauern es sehr, dass der Gedanke eines großzügig ausgestatteten Zukunftsfonds, der ja aus seinen Erträgnissen auf Dauer tätig sein soll, in den vergangenen Monaten immer mehr an Strahlkraft verloren hat. Im Zuge der Verhandlungen sank sein Anteil am Stiftungsvermögen von zunächst 10 Prozent auf nunmehr 7 Prozent. Und wenn von diesem Betrag auch noch 100 Millionen DM für Forderungen aus Versicherungsansprüchen bereitgestellt werden müssten, hätten wir eine Untergrenze erreicht, die nicht weiter unterschritten werden darf. Wir sehen in dem Zukunftsfonds die besondere Chance, nicht nur als Mahnung für kommende Generationen die Erinnerung an das NS-Unrecht wach zu halten, sondern auch der Ausbreitung von extremistischem und rassistischem Gedankengut sowie totalitären Systemen aller Art entgegenzuwirken. Es ist unbedingt notwendig, dass der Zukunftsfonds Schwerpunkte auf solche Projekte legt, die dem Jugendaustausch, der Versöhnung, der Völkerverständigung, der Achtung von Menschenrechten, aber auch der Pflege von Beziehungen zu den überlebenden Opfern dienen. Auch vor dem Hintergrund dieses wichtigen Projektes, dessen Bedeutung nicht unterschätzt werden sollte, ist die - nach wie vor zu beklagende - mangelnde Bereitschaft vieler Wirtschaftsunternehmen, sich an der Aufbringung des Fondsvermögens zu beteiligen - milde formuliert -, mehr als nur enttäuschend. Etwa 200 000 Unternehmen aller Branchen wurden von den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft aufgefordert, der Initiative beizutreten, und wenn es stimmt, dass bislang nur gut 1,5 Prozent der Unternehmen der Aufforderung gefolgt sind, dann ist das für die deutsche Wirtschaft kein Ruhmesblatt. ({7}) Dies muss insbesondere für diejenigen Unternehmen enttäuschend sein, die durch die Gründung der Stiftungsinitiative Verantwortung übernommen haben, und für solche Firmen, die erst vor wenigen Jahren gegründet wurden, die also nie in das nationalsozialistische Unrechtssystem verstrickt waren und die sich trotzdem mit zum Teil erheblichen Beträgen engagieren. Von denjenigen Unternehmen, die sich bislang vornehm zurückhalten, wurde zunächst eingewandt, man müsse das Ergebnis der internationalen Verhandlungen abwarten. Die Verhandlungen sind seit vier Monaten abgeschlossen. Dann wurde vorgetragen, dass auch Rechtssicherheit und dauerhafter Rechtsfrieden, vor allen Dingen in den USA, gewährleistet sein müssten. Auch diese schwierige Problematik wurde in der Zwischenzeit zur Zufriedenheit aller Beteiligten, nicht nur der Bundesregierung, sondern auch der deutschen Wirtschaft, gelöst. Wir alle wissen, dass es hundertprozentigen Rechtsschutz auch und gerade in den USA nicht geben kann. Aber wenn nicht nur die Bundesregierung, sondern auch führende Repräsentanten der deutschen Wirtschaft erklären, dass das erzielte Verhandlungsergebnis für sie auch in puncto Rechtssicherheit befriedigend sei, dann kann ein Beitritt zur Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft nicht mehr unter Hinweis auf angeblich fehlende Rechtsgarantien der USA verweigert werden. Wenn heute dieser Gesetzentwurf - wie ich hoffe, mit einer breiten Mehrheit dieses Parlamentes - verabschiedet wird, dann gibt es insbesondere für jene Firmen, die im Dritten Reich Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter beschäftigt haben, keinen einzigen vernünftigen Grund mehr dafür, sich nicht mit einem angemessenen Betrag am Stiftungsvermögen zu beteiligen. ({8}) Diese Stiftungsinitiative kann und darf nicht ein Projekt des Staates und relativ weniger Unternehmen bleiben. Hier geht es vielmehr, wie gerade die kommunalen Aktivitäten zeigen, um eine gesamtstaatliche Initiative und um eine gesamtstaatliche Verantwortung, der sich mehr als nur 1,5 Prozent aller Unternehmen stellen müssen. Wenn man in diesem Zusammenhang berücksichtigt, dass die Wirtschaftsunternehmen ihre Beträge steuerlich absetzen können und dass infolgedessen der deutsche Steuerzahler durch die Addition von direkten Zahlungen und Steuermindereinnahmen wirtschaftlich betrachtet drei Viertel aller Lasten trägt, dann sollte es eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, dass die heute noch fehlenden 1,8 Milliarden DM aus den Kreisen der deutschen Wirtschaft bald aufgebracht werden. ({9}) Einig sind wir uns auch darin, dass die Auszahlung der Stiftungsmittel an die Partnerorganisationen und an die Opfer grundsätzlich erst dann erfolgen kann, wenn die vor den US-Gerichten anhängigen Klagen konsolidiert bzw. abgewiesen sind. Die Bereitschaft, diese Klagen umgangssprachlich formuliert - zu erledigen, wird nach aller Lebenserfahrung nach Auszahlung des Geldes stark nachlassen. Deshalb muss es bei folgender Reihenfolge bleiben: erst Konsolidierung und Abweisung der Klagen, dann die Auszahlung der Stiftungsmittel an die Partnerorganisationen und an die Opfer. Abschließend darf ich noch einmal auf die Erklärung unserer Fraktion hinweisen, insbesondere auf Ziffer 11: Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert die Bundesregierung auf, mit denjenigen Staaten, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Deutsche verschleppt und unter unmenschlichen Bedingungen zur Arbeit gezwungen haben, oder mit deren Nachfolgestaaten Kontakt aufzunehmen mit dem Ziel, dass auch die noch lebenden deutschen Opfer von diesen Staaten eine - der deutschen Regelung entsprechende - Entschädigung in Form einer humanitären Geste erhalten. ({10}) Viele Mitbürgerinnen und Mitbürger haben die Verhandlungen in den vergangenen Monaten mit großem Interesse verfolgt, insbesondere jene, die selber verschleppt, gequält und unter grausamen Bedingungen in Russland oder in anderen Staaten Zwangsarbeit verrichten mussten. Vermutlich ist es politisch nicht korrekt, wenn auch an deren Schicksal erinnert wird. Es geht uns nicht um Aufrechnung, es geht uns auch nicht darum, den Eindruck zu vermitteln, als habe es hüben und drüben in gleicher Weise Unrecht gegeben und daher sei man quitt, als müsse ein Schlussstrich gezogen werden. Es wäre geradezu töricht, eine solche Auffassung zu vertreten. Aber es muss erlaubt sein, in dieser Debatte darauf hinzuweisen, dass auch viele Deutsche Opfer von Ausbeutung unter unmenschlichen Bedingungen waren. Die heute noch lebenden deutschen Opfer werden nicht eine finanzielle Entschädigung erwarten oder diese gar einklagen. Aber zumindest auf eine humanitäre Geste haben sie am Ende dieses Jahrhunderts bzw. zu Beginn eines neuen Jahrhunderts ebenso ein Recht wie alle anderen Opfer von Unmenschlichkeit und Tyrannei auch. Danke schön. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Bernd Reuter, SPD-Fraktion.

Bernd Reuter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001828, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Gesetz zur Errichtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, das wir heute in zweiter und dritter Lesung behandeln und verabschieden wollen, ist ein Meilenstein in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands. Dieses Gesetz symbolisiert die historische und moralische Verantwortung des deutschen Volkes, auch hier für nationalsozialistisches Unrecht, dem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte, Verantwortung zu tragen. Menschen aus vielen Ländern Europas wurden von Deutschen verschleppt, misshandelt und durch Zwangsarbeit getötet. Die Sklaven- und Zwangsarbeit hatte oft nur ein Ziel, nämlich Leben zu vernichten. Ich habe wie viele andere Bundestagskolleginnen und -kollegen erschütternde Berichte über die Leidenswege von überlebenden Opfern gehört. Mit der Errichtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ setzen wir ein Zeichen der Entschuldigung und Versöhnung an alle Opfer, an „die Untergegangenen und die Geretteten“, wie sie Primo Levi nannte. Es ist nicht übertrieben, diese Stiftung 55 Jahre nach Ende des Krieges als einen historisch bedeutsamen Schritt zu bezeichnen. ({0}) Mit aller Deutlichkeit möchte ich betonen, dass es sich hier nur um eine humanitäre Geste handeln kann. Auch mit noch so großem finanziellen Aufwand kann das unendliche Leid der Zwangsarbeit nicht wirklich wieder gutgemacht werden. ({1}) Aber wir können dieses Leid anerkennen und unsere historische Verantwortung annehmen. Dies ist die Grundlage unserer Gesetzesinitiative. Dass alle Fraktionen des Deutschen Bundestages gemeinsam diesen Gesetzentwurf tragen, zeigt, dass sich der Deutsche Bundestag seiner Verantwortung bewusst ist. Mit dieser Stiftung dürfen wir keinen Schlussstrich unter unsere Geschichte ziehen. Die Ungeheuerlichkeiten, die Menschen anderen Menschen angetan haben, dürfen wir nicht vergessen. Denn nur so stellen wir sicher, dass sich in der Zukunft ein System wie das NS-Regime nicht wiederholt. ({2}) Die künftigen Generationen sollen in einer gesicherten Demokratie, frei von Repressionen und in freundschaftlichem Einvernehmen mit anderen Staaten leben können. Dabei möchte ich nicht versäumen, auch an die jüngeren Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserem Lande zu appellieren, die Erinnerung an die deutsche Vergangenheit wach zu halten und dafür Sorge zu tragen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. ({3}) Mit der heutigen Verabschiedung des Gesetzentwurfes ist sichergestellt, dass die Stiftung mit ihrer Arbeit in Kürze beginnen kann. Auch hierbei werden wir als Parlamentarier im Kuratorium intensiv mitarbeiten. Ich unterstreiche, was mein Kollege Wolfgang Bosbach gesagt hat: Noch in diesem Jahr sollte mit der Auszahlung an die meist hoch betagten Opfer begonnen werden. Die Voraussetzungen dafür sind geschaffen. Der Bundesfinanzminister wird sicherstellen, dass der Bund die Stiftung mit der vereinbarten Summe von 5 Milliarden DM ausstattet, und zwar noch in diesem Jahr. In einem Brief an Bundesfinanzminister Hans Eichel hat die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft nochmals versichert, dass sie in ihren Bemühungen, die vollen 5 Milliarden DM zu sammeln, nicht nachlassen wird und dass das Geld rechtzeitig zur Auszahlung zur Verfügung steht. Herr Gibowski, der Sprecher dieser Initiative, hat heute Morgen im Deutschlandfunk erklärt, dass die heutige Verabschiedung des Gesetzentwurfes durch den Deutschen Bundestag helfen wird, den Druck auf die Industrie zu erhöhen, damit die Sammelaktion erfolgreich abgeschlossen werden kann. ({4}) Durch dieses Gesetz, das deutsch-amerikanische Regierungsabkommen und die gemeinsame Erklärung aller an den Verhandlungen beteiligten Parteien haben wir ein ausreichendes Maß an Rechtssicherheit für die deutschen Unternehmen erreicht. Deshalb gibt es für deutsche Firmen keinen vernünftigen Grund mehr, sich der Stiftungsinitiative nicht anzuschließen. ({5}) Ich fordere alle Unternehmen nachdrücklich auf, sich ihrer historischen Verantwortung bewusst zu werden. Die deutsche Wirtschaft muss ihren finanziellen Beitrag von 5 Milliarden DM umgehend leisten. ({6}) Es ist überdies notwendig, dass alle Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben, ihre Firmenarchive für den Nachweis der Leistungsberechtigung öffnen. ({7}) Das Gleiche gilt auch für die Bundesländer und für die Kommunen. Der Internationale Suchdienst des Roten Kreuzes in Arolsen ist durch geeignete Maßnahmen und Aufstockung des Personals in die Lage zu versetzen, den Opfern schnell und unbürokratisch den Nachweis der Leistungsberechtigung zu liefern. Das gilt vor allem für jene sechste Partnerorganisation, die Internationale Organisation für Migration - sie wird manchmal auch siebte Partnerorganisation genannt -, die für alle Opfer im „Rest der Welt“ zuständig ist. Eine Gleichbehandlung aller Opfer nach dem vorliegenden Gesetz, unabhängig von ihrem jetzigen Wohnsitz und ihrer Nationalität, ist oberstes Gebot. Das gilt nicht nur für die Bearbeitung ihrer Anträge, sondern vor allem für den Erhalt gleicher Leistungen. Ein ehemaliger Zwangsarbeiter, der heute in Slowenien wohnt, darf bei gleichem Schicksal der Verfolgung nicht weniger erhalten als ein Opfer in einem anderen Land. ({8}) Aufgrund der geschätzten Zahl dieser Opfer ist zu befürchten - das ist auch bei Graf Lambsdorff und bei Herrn Bosbach angeklungen -, dass die vorgesehenen Mittel für die sechste Partnerorganisation in Höhe von 540 Millionen DM vermutlich nicht ausreichen werden. Deshalb muss sichergestellt werden, dass alle Mittel, die in anderen Bereichen nicht in Anspruch genommen werden, an die sechste Partnerorganisation fließen, damit keine neuen Ungerechtigkeiten entstehen. ({9}) Die Stiftung ist auch berechtigt, Zuwendungen von Dritten anzunehmen und sich um weitere Zuwendungen zu bemühen. Wer schon jetzt einen Beitrag leisten will, kann dies tun. Das Bundesfinanzministerium hat dafür ein Konto eingerichtet, auf dem bereits Beiträge eingegangen sind. Bei der Aufteilung des Stiftungsvermögens ist sichergestellt, dass 8,1 Milliarden DM den Opfern direkt zugute kommen. 1 Milliarde Mark werden für Vermögensschäden bereitgestellt. Besondere Aufmerksamkeit gilt dem Fonds „Erinnerung und Zukunft“. Er ist mit 700 Millionen DM ausgestattet; wir hätten allerdings gerne 1 Milliarde DM vorgesehen. Es geht darum, eine dauerhafte Aufgabe zu bewerkstelligen, Projekte der Völkerverständigung und Ver-söhnung zu finanzieren, Jugendaustausch und Zusammenarbeit auf humanitärem Gebiet sowie die Aufarbeitung der Geschichte zu organisieren. Wir dürfen die Zahlungen an die Opfer nicht gegen diesen Zukunftsfonds ausspielen. Beide Dinge gehören gemeinsam in unsere Initiative. ({10}) Es war ein ungewöhnliches Gesetzgebungsverfahren. Ich möchte an dieser Stelle den Beteiligten aus allen Fraktionen des Deutschen Bundestages und den beteiligten Ministerien für die Zusammenarbeit herzlich danken. Mein besonderer Dank und meine Anerkennung gilt dem Beauftragten des Bundeskanzlers, Graf Lambsdorff. Es ist nicht zuletzt sein bleibendes Verdienst, dass wir heute dieses Gesetz verabschieden können. ({11}) Das Ergebnis vieler Beratungen liegt uns heute vor. Es geht nicht um theoretische und juristische Formulierungen, gespickt mit Zahlen; es geht um menschliche Schicksale. Wer noch immer Zweifel hat, diesem Gesetz zuzustimmen, dem empfehle ich eindringlich, den Artikel über einen ehemaligen polnischen Zwangsarbeiter zu lesen, der in der Zeitschrift „Publik-Forum“ abgedruckt war und den ich allen Abgeordneten in die Fächer habe legen lassen. Dieser polnische Zwangsarbeiter ist der einzige Überlebende einer 23-köpfigen jüdischen Familie. Er hat in zweidreiviertel Jahren sechs Konzentrationslager durchlitten und hat überlebt. Dieser Mann wartet nun auf unser Gesetz: Er möchte mit seiner Frau noch einmal in seinem Leben nach Israel fahren und möchte das Geld dafür nutzen. Nach der Lektüre dieses Artikels dürfte eigentlich kein Mitglied dieses Hohen Hauses diesem Gesetz seine Zustimmung verweigern. Ich danke Ihnen. ({12})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Max Stadler, F.D.P.-Fraktion, das Wort.

Dr. Max Stadler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002805, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn es nach einem so langen Verhandlungsprozess und nach so schwierigen Beratungen zu einem konkreten Ergebnis kommt, dann stellt sich bei denen, die daran beteiligt waren, schon eine gewisse Zufriedenheit ein. Für Selbstzufriedenheit ist dennoch kein Anlass: Uns ist bewusst, wie begrenzt unsere Möglichkeiten sind, mit einer humanitären Geste den Opfern der Zwangsarbeit im Nazistaat unsere Reverenz zu erweisen, und uns ist bewusst, dass diese humanitäre Geste für viele Opfer zu spät kommt. Den Opfern gilt daher der erste Gedanke in dieser Debatte. Ich bin froh, dass im Zuge dieses Verhandlungsprozesses die rein juristische Betrachtungsweise verlassen worden ist, die uns in der Vergangenheit daran gehindert hat, das Problem zu lösen. Eine weitere Debatte um die Fragen, ob Ansprüche juristisch oder nur moralisch gerechtfertigt seien, ob Verjährung vorliege oder nicht und wer denn der eigentliche Anspruchspartner sei, die öffentliche Hand oder die Privatfirmen, hätte nicht weitergeführt. Mit dem jetzt vorliegenden Stiftungsgesetz stellen sich der Deutsche Bundestag und die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft der historischen Verantwortung. ({0}) Der Bundestag hat das getan, was seine Pflicht war und was er nach diesen vielen Jahren und Jahrzehnten wenigstens tun konnte. Er hält das den Opfern gegebene Versprechen, das Ergebnis der verdienstvollen Verhandlungen von Graf Lambsdorff noch vor der Sommerpause in ein konkretes Gesetz umzusetzen. Das waren wir den Opfern schuldig; das sind wir auch der Stiftungsinitiative der deutschen Industrie und ihren berechtigten Interessen schuldig gewesen. ({1}) Jetzt sind andere am Zuge. Die Stiftungsinitiative wird von uns nachdrücklich in ihrem Bemühen unterstützt, endlich den zugesagten Gesamtbetrag von 5 Milliarden DM in die Stiftung einzubringen. Alle anderen Redner haben es auch schon gesagt - ich wiederhole es für die F.D.P.-Fraktion -: Jetzt gibt es keine Ausreden mehr. ({2}) Am Zuge sind auch die Anwälte, die insbesondere in den Sammelklagen in den USA die Kläger vertreten und die auf ihre Weise ja auch einen Beitrag geleistet haben, um die Lösung der Problematik voranzutreiben. Aber diese Sammelklagen müssen jetzt erledigt werden, damit - so ist es vereinbart - mit der Auszahlung an die Opfer begonnen werden kann. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich kurz auf das Gesetzgebungsverfahren zurückblicken; denn es war schon so ungewöhnlich, dass es noch einer Erwähnung wert ist. In letzter Zeit ist eine berechtigte Debatte über die Frage entstanden, ob denn Konsensrunden das angemessene Mittel zur Lösung von Problemen seien. In der Tat entspricht es dem traditionellen, vom Angelsächsischen her geprägten Demokratiemodell, dass sich die klaren Vorstellungen von Regierungsseite einerseits und Opposition andererseits deutlich gegenüberstehen und auch zueinander in Kontrast gebracht werden. In diesem Gesetzgebungsverfahren haben wir uns eher am Schweizer Konkordanzmodell orientiert. Das heißt, in völlig ungewöhnlicher Weise haben sich alle Fraktionen des Deutschen Bundestages in den Beratungen bemüht, die vorliegenden Entwürfe, die von der Bundesregierung und den Fraktionen eingebracht wurden, gemeinsam zu verbessern. Ein solches Verfahren, das man im Bundestag nur höchst selten erlebt, fand seine Rechtfertigung darin, dass hier eben nicht die übliche Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition stattgefunden hat, sondern dass der Deutsche Bundestag als Gesamtheit Partner in einem internationalen Verhandlungsprozess gewesen ist und die Aufgabe hatte, die Ergebnisse dieses Verhandlungsprozesses gemeinsam umzusetzen. Die Verhandlungen der Berichterstatter mit den Ministerien und dem Arbeitsstab von Graf Lambsdorff waren außerordentlich konstruktiv. Ich will damit das Konsensmodell nicht für weitere Fälle empfehlen, aber es ist doch festzuhalten, dass alle Seiten dieses Hauses in dem Gesetzgebungsverfahren ihre Vorstellungen nicht nur vortragen konnten, sondern dass für das bessere Argument die echte Chance bestanden hat, sich durchzusetzen. Meine Damen und Herren, wir haben intern vereinbart, entgegen dem, was noch in der ersten Lesung üblich gewesen ist, mit Dankesarien sparsam umzugehen, weil es vielleicht dem Ernst der Thematik nicht angemessen wäre, wenn wir uns selber zu sehr auf die Schulter klopften. Ich fand die Zusammenarbeit mit den Berichterstattern der anderen Fraktionen jedoch so bemerkenswert, dass ich sie hier doch hervorheben und sagen möchte: Alle, die beteiligt waren - Ulla Jelpke, Dieter Wiefelspütz, Bernd Reuter, Volker Beck, Wolfgang Bosbach und Martin Hohmann -, haben ihren Anteil daran. Diesen Dank möchte ich gern hier aussprechen. ({3}) Die so ungewöhnlich strukturierten Beratungen der Berichterstatter und des Innenausschusses haben nach meinem Urteil auch deutliche Verbesserungen gegenüber den Ursprungsentwürfen gebracht. Ich erinnere an einige Monita, die wir von der F.D.P. in der ersten Lesung vorgetragen haben, aber vor allem an Anliegen, die sich aus der äußerst interessanten Anhörung des Innenausschusses ergeben haben. Ich nenne fünf Punkte: Es ist in den Verhandlungen seit dem Allokationsbeschluss vom 23. März offen thematisiert worden, dass die finanzielle Ausstattung für die Opfer derjenigen Staaten, die nicht am Verhandlungsprozess beteiligt waren, möglicherweise nicht ausreichen wird. Genaues weiß man erst, wenn die Anträge gestellt und bewertet worden sind. In unseren Beratungen ist dieses Thema jedenfalls ganz offen angesprochen worden. Lösungsmöglichkeiten sind aufgezeigt worden, und sofern diese nicht ausreichen sollten, bringt der Deutsche Bundestag heute mit einem Entschließungsantrag deutlich zum Ausdruck, dass das Problem, sollte es denn eines sein, gelöst werden wird. Das sind wir dem Gedanken der Gleichbehandlung aller Opfer schuldig, und deswegen ist der Entschließungsantrag neben dem Gesetz ebenfalls von großer Bedeutung. ({4}) Wir konnten erreichen, dass es eine Gleichbehandlung der Opfer hinsichtlich der von ihnen aufgewendeten Verfahrenskosten geben wird. Auch das ist für die einzelnen Betroffenen von größter Bedeutung. Die Zusammensetzung des Kuratoriums ist größer und nach unserer Meinung auch sinnvoller ausgestaltet geworden. Endlich ist aus dem Gesetzentwurf der Absatz entfernt worden, der einige Vertreter bestimmter Staaten von der weiteren Mitarbeit im Kuratorium nach der ersten Amtszeit ausgegrenzt hätte. Dies war völlig unverständlich, das konnten wir so nicht belassen. Schließlich haben wir Mechanismen gefunden, die es ermöglichen, dass bei der Auszahlung der ersten Rate flexibler vorgegangen wird, als dies der Ursprungsentwurf vorgesehen hatte; denn die Zielsetzung besteht nun einmal darin, so rasch wie möglich so viel wie möglich von den zur Verfügung stehenden Mitteln an die Opfer auszuzahlen. Die Einbeziehung nationaler Opferverbände ist ein Ergebnis der schon von mir erwähnten Anhörung des Innenausschusses. Meine Damen und Herren, es stellt sich die Frage: Erleben wir heute den Abschluss eines historischen Vorgangs? Man ist geneigt zu sagen: Wir sind nahe daran. Hoffen wir, dass die letzten Hürden, die außerhalb dieses Parlaments liegen, ebenfalls noch überwunden werden. Erst dann, wenn das Ziel erreicht wird, noch in diesem Jahr die ersten Auszahlungen an die Opfer tatsächlich durchzuführen, können wir wirklich zufrieden sein. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute bringen wir ein Gesetzeswerk zum Abschluss, für das unsere Fraktion seit 15 Jahren gekämpft hat: eine Bundesstiftung für die ehemaligen Zwangsarbeiter unter Beteiligung der deutschen Wirtschaft. Angesichts des Unrechts, das diesen Menschen angetan wurde, war es für uns immer unverständlich und inakzeptabel, dass sie vom deutschen Entschädigungsrecht ausgeschlossen waren. Der Holocaust an Juden, Sinti und Roma ist meiner Generation aus dem Schulunterricht bekannt gewesen. Er bedeutete millionenfache Deportation, Vernichtungslager, für die Sklavenarbeiter auch Vernichtung durch Arbeit. Über das Schicksal der anderen deportierten zivilen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen hingegen habe ich in der Schule nichts erfahren: nichts davon, dass ungehorsamen Zwangsarbeitern so genannte Arbeitserziehungslager angedroht wurden, nichts davon, dass die Bedingungen dort vielfach den Bedingungen von KZs vergleichbar waren, nichts davon, dass in diesen Lagern Menschen zu Wracks gemacht wurden, nicht wenige schon nach wenigen Wochen starben. Juden hatten einen Davidstern zu tragen. Wenig bekannt ist, dass Polen ein „P“ und Russen und Ukrainer ein „Ost“ auf ihrer Kleidung tragen mussten. Habe ich in der Schule erfahren, dass diese Menschen vielfach um ihren Lohn gebracht und am Arbeitsplatz geschlagen wurden, dass sie unterernährt und oftmals ohne medizinische Versorgung leben mussten, dass für sie als so genannte Fremdvölkische der sexuelle Kontakt zu Deutschen mit der Todesstrafe bedroht war? Nein, diese Wahrheit war weithin verschüttet geblieben. Das ganze Ausmaß des nationalsozialistischen Zwangsarbeitersystems ist uns erst durch die bahnbrechenden Arbeiten von Ulrich Herbert bewusst geworden. Erst in den letzen 15 Jahren sind erschütternde Dokumentationen über die Lebens- und Leidensbedingungen dieser NS-Opfer erstellt worden. Sie machen auch deutlich, wie das Räderwerk des NS-Staates mit der Ausbeutung durch die Privatwirtschaft verzahnt war. Diese Dokumentationen und die vielen Briefe, die wir als Abgeordnete in den letzen Wochen von den überlebenden Opfern bekommen haben, zeigen mir vor allem: Wir als Deutscher Bundestag müssen und wollen uns stellvertretend für das deutsche Volk bei denen entschuldigen, denen man so etwas angetan hat. ({0}) Auch wenn unser Staat und die Gerichte es lange nicht wahrhaben wollten: Der Einsatz von Zwangsarbeitern war nationalsozialistisches Unrecht und dieses Gesetz ist die späte Anerkenntnis dieses Tatbestandes. Ich will Ihnen aus einer bemerkenswerten Lokalstudie aus Goslar einige Briefe zitieren. Diese hat Friedhart Knolle unter dem Titel „Gebt uns unsere Würde wieder“ zusammengestellt. Eine Frau aus der Ukraine, die als junges Mädchen im Frühjahr 1942 nach Grauhof im Harz verschleppt wurde, schreibt: Nach langer Fahrt musste ich vom 30. April 1942 bis zum 6./7. April 1945 in der Mineralwasserfabrik Harzer Grauhof-Brunnen in Goslar gemeinsam mit 11 weiteren jungen Frauen Zwangsarbeit leisten. Ich war im dortigen Zwangsarbeiterlager unter gefängnisartigen und schlimmen Bedingungen eingesperrt. So gab es zum Beispiel kein Haarwaschmittel; wir mussten dafür die Soda benutzen, ... mit allen gesundheitlichen Folgen wie zum Beispiel Haarausfall bei uns. Wir durften das Lager in der ersten Zeit bis auf die Produktionsräume und unsere Unterkunft nicht verlassen; erst viel später erhielten wir zwei bis drei Stunden Freigang täglich. Wir litten ständig Hunger, es gab nur schlechtes Essen, das zudem häufig durch Kakerlaken und Glasscherben gefährlich verunreinigt war. ... Es herrschte uneingeschränkter Arbeitszwang; wir wurden geschlagen und Tritte gehörten zu den Alltäglichkeiten. Unser Meister hat uns so häufig und intensiv schikaniert, dass ich seinerzeit mehrfach an Selbstmord gedacht habe. An die Autoren der Ausstellung schrieb Anastasia B. aus Bogdanowka folgenden Brief, den ich auszugsweise zitiere: Ich wurde am 25. Mai 1943 nach Deutschland verschleppt. Ich war damals 18 Jahre alt. Wir wurden nach Goslar gebracht und dann in der Zinkhütte Oker/Harz eingesetzt. Wir haben im Lager gewohnt und unsere Bewacher haben uns nicht wie Menschen gehalten. Unser Arbeitstag war 11 Stunden lang, die Deutschen arbeiteten 6 Stunden. Am Tag haben wir 130 g Brot bekommen, nicht reines Brot, sondern mit Sägemehl. Unsere Arbeit war sehr schwer. ... Mein Bein wurde verletzt und zwei Wochen habe ich kein Brot bekommen. Dann habe ich gebetet, dass ich vielleicht irgendeine Arbeit bekomme im Sitzen, dass ich wenigstens meine Brotration bekomme. ... Die deutschen Mütter kamen zu unserem Lager mit Kindern; sie waren sehr gut angezogen. Sie haben uns angespuckt. Und wir jungen schönen Mädchen mussten schweigend stehen und unter Tränen diese Spucke im Gesicht wegwischen. ... Die Erinnerung ist schmerzhaft und bitter. Ich habe keine Gesundheit, das, was wir erlebt haben, wie wir als Menschen gedemütigt wurden, so etwas wünsche ich keinem Menschen, nicht einmal meinen Feinden. ... Vielleicht werde ich auch nie Hilfe bekommen, aber ich hoffe und warte, vielleicht kommt zu meiner kleinen Rente etwas dazu. Ich hoffe, die gute Nachricht für diese Frau - hoffentlich lebt sie noch - ist heute, dass bald eine Zahlung, eine humanitäre Hilfe für sie erfolgt - als Versöhnungsgeste des deutschen Volkes. ({1}) Dass diese zitierten Beispiele keine Einzelbeispiele waren, sondern der Regelfall, sieht man an der Vielzahl von rechtlichen Sonderregelungen des NS-Regimes gerade für NS-Verfolgte und für die Opfer slawischer Abstammung. Auch die geschilderten Lebensumstände der in Goslar eingesetzten Zwangsarbeiter, etwa bei den Firmen Chemische Fabrik Borchers, Harzer Grauhof-Brunnen, Luthe Bleiwerk oder dem Reichsbahnbetriebsamt Goslar, waren sicherlich keine Sonderfälle. Wir könnten auch Hamburg, Hannover, Stuttgart, München, Berlin oder Köln nehmen. Aber ich frage beispielsweise: Gehört Harzer GrauhofBrunnen zu denen, die sich nach 1945 bei den Opfern entschuldigt und ihnen einen finanziellen Ausgleich gezahlt haben? Nein. Gehören zum Beispiel Harzer GrauhofBrunnen oder die Chemische Fabrik Borchers aus Goslar oder ihre Rechtsnachfolger zu den Mitgliedern der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft? Wie viel haben sie gezahlt? Das wüssten wir gerne. In der veröffentlichten Mitgliederliste der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft sind diese Betriebe nicht verzeichnet. Gerade die Unternehmen, die oder deren Rechtsvorgänger sich Sklaven und Zwangsarbeiter beschafft und eingesetzt haben, sind aber in einer besonderen Pflicht. Ich frage zum Beispiel die Firma Haribo in Bonn, warum sie nicht an der Stiftungsinitiative beteiligt ist. Ich frage die Firma Richard Hengstenberg, ich frage die EdekaZentrale AG in Hamburg, ({2}) ich frage die Sektkellerei Henkel und Söhne, ich frage die Stollwerck AG in meinem Wahlkreis in Köln, ich frage die Bierbrauerei Warsteiner und ich frage die Südfleisch Holding AG in München, warum sie sich bis heute ihrer historischen Verpflichtung entziehen. ({3}) Selbst wenn man nicht wie wir von Bündnis 90/Die Grünen eine besondere rechtliche Verantwortung der Firmen für den Zwangsarbeitereinsatz bejaht und man sich stattdessen das Paradigma der deutschen Wirtschaft zu Eigen macht, es gehe heute allein um Verantwortung der gesamten deutschen Wirtschaft, muss man sich fragen: Wo bleibt die angemessene finanzielle Bereitschaft des Transportgewerbes, wo der Bauwirtschaft, wo schließlich des Medienbereichs, der die mangelnde Zahlungsbereitschaft durch Zeitungen, Zeitschriften usw. hundertfach öffentlich dokumentiert und auch beklagt hat?

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Beck, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Eckhardt?

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Dr. Peter Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000431, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Beck, Sie haben mehrere Firmen aus meiner Heimatstadt genannt. Ich weiß nicht, wie gut Sie recherchiert haben. Ist Ihnen bekannt, dass die Firmen heute zu Konzernen gehören, die sich an der Initiative beteiligt haben, etwa die Firma Borchers über Bayer Leverkusen? ({0})

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist mir so nicht bekannt. Sollte es in Einzelfällen der Fall sein, würde ich das begrüßen. Ich habe versucht zu recherchieren. Ich habe es bei den Goslarer Firmen sehr bewusst als Frage formuliert. Bei den anderen Firmen weiß ich aber, dass sie nicht in der Liste auftauchen; da gibt es eine Kontinuität. ({0}) Ich denke, wir sollten den Schwerpunkt hier vor allen Dingen darauf legen, dass der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft nur eineinhalb Prozent, wie Kollege Bosbach vorhin gesagt hat, beigetreten sind. Das ist der Skandal. Jeder, der dabei ist, ist okay und jeder, der fehlt, muss aufgefordert werden, endlich mitzumachen. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Beck, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Deß, CDU/CSU-Fraktion?

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte schön.

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Beck, ich möchte fragen: Haben Sie geprüft, ob die SPD für ihre Verlagsanteile bezahlt hat?

Volker Beck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002625, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich finde diese Frage der Debatte nicht angemessen und beantworte Sie deshalb nicht. ({0}) Volker Beck ({1}) Meine Damen und Herren, nun zum Medienbereich. Warum ist die Bertelsmann AG zum Beispiel dabei - was zu begrüßen ist -, nicht aber die Holtzbrinck-Gruppe? Wichtig ist natürlich nicht nur, wer zahlt, sondern auch, in welcher Höhe gezahlt wird. Wenn uns die Stiftungsinitiative berichtet, es gebe historisch belastete Firmen, die sich mit einmalig 50 000 DM an den Fonds freikaufen wollten, während junge unbelastete IT-Firmen den x-fachen Betrag freiwillig bezahlten, dann ist das ein unmoralisches Angebot und eine Beleidigung der Opfer. ({2}) Das Gesetz gewährt allen Unternehmen ausreichende Rechtssicherheit. Diese gibt es aber nur, wenn auch die zugesagten 5 Milliarden DM möglichst bald eingezahlt werden. Gefordert sind hier an erster Stelle die ehemaligen Profiteure der Zwangsarbeit. Ich habe die Schreiben der Opfer gewählt, weil sie zeigen, dass es angesichts des unermesslichen Leids unangemessen wäre, davon zu sprechen, wir könnten mit diesem Stiftungsgesetz das an Sklaven- und Zwangsarbeitern verübte Leid wieder gutmachen oder es auch nur angemessen entschädigen. 10 Milliarden DM sind eine beachtliche Summe. Aber angesichts des Leids der Opfer ist dies eine Summe, die wir als Bundestag nur als humanitäre finanzielle Zuwendung begreifen können. Gleichwohl hat sie für Zwangsarbeit und Vermögensschäden abschließenden Charakter. Den zumeist verarmten Opfern, die auf dieses Geld dringlich warten, ist es aber vielleicht auch egal, welchen Namen wir dieser Zuwendung geben, wenn sie diese nur endlich bald erleben dürfen. Eine moralische Qualität bekommt diese Zahlung aber erst dann, wenn wir uns zu dem Unrecht bekennen und uns dafür entschuldigen, was den Opfern im Namen Deutschlands angetan wurde. Nur so können wir den Menschen auch ihre verlorene Würde wiedergeben. Das hat unser Bundespräsident Johannes Rau vor allen anderen in der Öffentlichkeit zu Recht herausgestellt. An der moralischen Qualität der Debatte hat es bei den Auseinandersetzungen über die Höhe des Fonds, den Verteilungsschlüssel und die Rechtssicherheit für Firmen in den letzten eineinhalb Jahren manchmal gefehlt. Das hat bei den Opfern zu Recht oft Bitterkeit hinterlassen. Fraktionsübergreifend wollen wir Abgeordneten dazu beitragen, dieser moralischen Qualität wieder ihren Platz zu geben. Wir stellen nun durch dieses Gesetz fest: Der nationalsozialistische Staat hat Sklaven- und Zwangsarbeitern durch Deportation, Inhaftierung, Ausbeutung bis hin zur Vernichtung durch Arbeit und durch eine Vielzahl weiterer Menschenrechtsverletzungen schweres Unrecht zugefügt. Deutsche Unternehmen, die an diesem Unrecht beteiligt waren, tragen dafür historische Verantwortung und müssen ihr gerecht werden. Wir wollen bei der Gesetzgebung Regelungen finden, die dem Schicksal der Opfer angemessen sind. Dies hat manches Mal auch öffentlich ausgetragenen Streit mit der Wirtschaft, zum Teil auch mit einigen Fachbeamten der Bundesregierung bedeutet. Aber es war die Sache um der Opfer willen wert. Wir haben als Deutscher Bundestag trotz der Besonderheit des Beratungsverfahrens, das Herr Stadler betont hat, nicht nur einfach als Notar agiert. Wir haben im Sinne der Opfer und der maximalen Gerechtigkeit versucht, alle Spielräume zu nutzen, um unserer Verantwortung als Gesetzgeber bei dieser historischen Aufgabe gerecht zu werden. Die größte Gefahr, die dieser Gesetzgebungsprozess beinhaltet, ist, dass die Opfer, die von der IOM entschädigt werden sollen - also die nicht jüdischen Opfer außerhalb des Bereiches der osteuropäischen Versöhnungsstiftungen - zum Teil gar nichts oder ungleich weniger erhalten als die Opfer, die von anderen Organisationen entschädigt werden sollen. Hier hat der Deutsche Bundestag in seiner Entschließung der vier Fraktionen zum Ausdruck gebracht, dass wir bei der Administration in der Stiftung, aber auch darüber hinaus, eine ganz besondere Verantwortung sehen. Wir haben die Verantwortung dafür, dass alle Opfer für gleiches Leid auch gleiche Entschädigungen bekommen. ({3}) Wir lösen heute das Versprechen an die Opfer ein, das Gesetz noch vor der Sommerpause zu verabschieden. Wir haben damit auch die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Opfer noch in diesem Jahr eine erste Auszahlung erhalten. Wir hoffen nun, dass die Rücknahme der Klagen in den USA eingeleitet wird. Die weiteren Geschicke werden in die Hände des Kuratoriums und der Partnerorganisationen gelegt. Wir wünschen uns und den Opfern, dass sie ihre schwierige Aufgabe verantwortungsbewusst und zügig wahrnehmen. Lassen Sie mich zum Schluss für das gute Klima in den Berichterstattergesprächen sowie für die vorzügliche Arbeit und Unterstützung durch den Arbeitsstab Lambsdorff und für die Verhandlungsführung durch Graf Lambsdorff danken. Ich möchte auch einen Dank an einen unserer Mitarbeiter, Herrn Saathoff, anschließen, der mit seiner Fachkompetenz in den Berichterstattergesprächen beispiellos für alle Fraktionen hilfreiche Zuarbeit im Dienste der Sache geleistet hat. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Ulla Jelpke, PDS-Fraktion.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie Sie in den Beiträgen heute Morgen schon vernommen haben, hat es bei der Vorbereitung des vorliegenden Gesetzesentwurfs weit auseinander liegende Interessen gegeben. Unser Leitmotiv bei diesen Verhandlungen und auch bei diesem Gesetz war und ist die Entschädigung der Opfer. Das Nürnberger Gericht hat nach Volker Beck ({0}) 1945 die Zwangsarbeit für Millionen von Menschen, vor allem aus Osteuropa, richtig als ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ eingestuft. Für dieses Verbrechen muss endlich gezahlt werden. ({1}) Für die PDS-Fraktion will ich mich deshalb an dieser Stelle noch einmal bei allen noch lebenden NS-Opfern und ihren Angehörigen ausdrücklich für diese Verbrechen und für das ihnen angetane Leid entschuldigen, auch dafür, dass erst 55 Jahre nach Kriegsende etwas für sie getan wird. ({2}) Wir werden auch in Zukunft mit diesen Opfern solidarisch sein und helfen, wo wir können. Wir werden dem Gesetz trotz vieler Bedenken und Kritik zustimmen. Die 10 Milliarden DM, die nun an vermutlich 1,6 Millionen noch lebende Opfer und ihre Angehörigen gezahlt werden, sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Selbst die VW-Regelung, die eine Zahlung von immerhin 10 000 DM pro Person vorsah, hätte den Opfern - wenn man alle entschädigt hätte - etwas mehr Gerechtigkeit gebracht. Das hatten wir auch mit unserem ursprünglichen Antrag gefordert. Jetzt erhalten die Zwangsarbeiter, die im KZ waren, wahrscheinlich etwas mehr, aber die anderen leider nur halb so viel. Trotzdem bestreiten wir nicht: Es gibt Verbesserungen gegenüber dem ersten Entwurf. Es sind Verbesserungen, die vor allem dem Druck und den Protesten der Opfer, ihrer Anwälte und der osteuropäischen Länder zu verdanken sind. Ich möchte mich an dieser Stelle bei diesen bedanken, da sie uns viele Vorschläge eingereicht haben, um die Gesetzesarbeit zu verbessern und zu erleichtern. ({3}) Ich möchte mich auch dafür bedanken, was schon meine Kolleginnen und Kollegen getan haben, dass die Atmosphäre, in der diese Verhandlungen stattgefunden haben, ausgesprochen angenehm war. Ich brauche nicht zu wiederholen, dass es in der Tat ein außergewöhnlicher Prozess war. Anlässlich des heutigen Tages ist es mir wichtig, stellvertretend für viele von ihnen einen Menschen zu nennen. Er heißt Hans Frankenthal. ({4}) Er war der Sohn eines jüdischen Viehhändlers und wurde bereits 1940 mit 14 Jahren von den Nazis zu Straßenbauarbeiten gezwungen. 1943 deportierten ihn die Nazis mit seiner Familie nach Auschwitz. In seinem Buch „Verweigerte Rückkehr“ schildert Hans Frankenthal sein Zwangsarbeiterleben. Er schreibt - ich zitiere -: Wenn man nicht irgendwie einen Druckposten bekam, überlebte man keine acht Wochen. Hans Frankenthal überlebte Auschwitz, die Zwangsarbeit im Lager Monowitz und das KZ Mittelbau-Dora. 1945 wurde er in Theresienstadt befreit. Hans Frankenthal hat wie viele andere jahrzehntelang für die Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter gekämpft, zuletzt als Mitglied im Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Westfalen, im Zentralrat der Juden in Deutschland und als stellvertretender Vorsitzender des Auschwitz-Komitees. Hans Frankenthal ist im Dezember vergangen Jahres gestorben. Er gehört damit zu den NS-Opfern, die keine Entschädigung mehr für die Zwangsarbeit bekommen. Ich finde das auch an diesem Tag nach wie vor beschämend. Ein weiterer Punkt. In dem Gesetz findet sich ein kleiner Titel von 50 Millionen DM. Dieses Geld ist insbesondere für Opfer medizinischer Versuche und so genannter Kinderheimfälle vorgesehen. Tausende von Kindern, vor allem so genannte schlechtrassische Kinder von Ostarbeiterinnen, starben in den mörderischen Kinderheimen der NS-Zeit. Auch die Menschenversuche in den KZs, für die nunmehr eine Entschädigung gezahlt werden soll, fanden vielfach auf direkten Wunsch deutscher Pharmaunternehmen statt. Dass für diese Opfer nur 50 Millionen DM bereitgestellt werden, liegt einzig und allein daran, dass sie in den USA gegen Konzerne wie VW und Bayer geklagt haben. Die 50 Millionen DM, mit denen die Klagen abgewendet werden sollen, entsprechen gerade einmal 5 Prozent eines Jahresgewinns von VW und Bayer. Diese Klagen abzuwenden und das Ansehen der Industrie wieder herzustellen ist in meinen Augen das dominierende Motiv bei der Bundesregierung und vor allem bei der Industrie. Das soll hier nicht verschwiegen werden. In der Erklärung, die das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung am 16. Februar 1999 bei der Gründung der Stiftungsinitiative veröffentlicht hat, ist es sehr deutlich ausgesprochen worden. Darin heißt es - ich zitiere -: Die Stiftungsinitiative wolle Klagen, insbesondere Sammelklagen in den USA, ... begegnen und Kampagnen gegen den Ruf unseres Landes und seiner Wirtschaft den Boden ... entziehen. Ich erinnere an den Schweizer Bankenvergleich, in dem sich Schweizer Banken zu Zahlungen von Milliardenhöhe verpflichtet haben. Für die deutsche Industrie, die ganz andere Verbrechen während der NS-Zeit begangen hat als die Schweizer Banken, drohen ganz andere Urteile und viel höhere Zahlungen. Das zu verhindern war und ist das dominierende Motiv bei der Industrie und leider auch bei der Bundesregierung. Es geht und ging ihnen, wenn überhaupt, nur in zweiter Linie um die Opfer. Die Industrie zahlt laut Gesetz 5 Milliarden DM. In Wirklichkeit muss man davon 2,5 Milliarden DM abziehen. Diese bekommt die Industrie vom Finanzamt zurück. Zieht man dann noch die 1 bis 1,2 Milliarden DM ab, die für die so genannten Arisierungsschäden vorgesehen sind, also für Versicherungsbetrug und Arisierungsgewinne der Banken, dann bleiben nur 1,3 bis 1,5 Milliarden DM übrig, die die Industrie für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zahlt - hoffentlich! Denn bis heute ist noch unklar, wann das Geld wirklich vorhanden sein wird. Noch unsicherer ist es, wann das Geld wirklich bei den Opfern ankommt. Das Verhalten der Industrie ist und bleibt ein Skandal. ({5}) Wissenschaftler, wie Professor Kuczynski, haben schon vor einiger Zeit ausgerechnet, dass die deutsche Industrie in der NS-Zeit den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern allein an Löhnen einen Betrag - umgerechnet auf heutige Preise - von 180 Milliarden DM vorenthalten hat. Verglichen damit sind die 1,5 Milliarden DM, die die Industrie nun zuzahlt, einfach kläglich. Wir haben - darauf habe ich schon hingewiesen - Verbesserungen im Gesetz erreicht. Ich nenne jetzt einige, die für uns wichtig sind: Die zuerst vorgesehene Regelung, Landarbeiter und Nichtdeportierte auszugrenzen, ist durch eine Öffnungsklausel korrigiert werden. Die Opfer, die gegen die deutsche Industrie geklagt haben, müssen jetzt nicht ihre eigenen Gerichts- und Anwaltskosten zahlen. Das Kuratorium ist durch Opfer und Vertreter von Partnerorganisationen vergrößert worden, die nicht am Verhandlungstisch gesessen haben. Auch die verharmlosende Sprache - das ist nicht ganz unwichtig; im ersten Gesetzentwurf war noch von „Geschehnissen“ und „Verstrickungen“ die Rede - ist weitgehend verschwunden. In der Präambel werden Täter und Opfer deutlich beim Namen genannt. Wichtig bleibt das Problem, dass der im Gesetz vorgesehene Betrag für die Opfer, die nicht am Verhandlungstisch gesessen haben, nicht ausreicht. Der Entschließungsantrag ist zwar ein Versuch, dafür den Bundestag bzw. die Bundesregierung in die Pflicht zu nehmen, aber ich sage: Papier ist geduldig. Uns wäre es lieber gewesen, wenn die Lösung dieses Problems im Gesetz geregelt worden wäre. Ich erkläre hier klipp und klar für meine Fraktion: Wenn das Geld am Ende nicht reicht, dann muss nachgezahlt werden. Darauf werden wir bestehen. ({6}) Die Industrie und auch die CDU/CSU - damit komme ich zum Schluss - möchte dieses Gesetz gerne als Schlussstrichgesetz sehen. Für uns ist das Gesetz kein Schlussstrich, weder bezüglich der Entschädigung der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter noch der anderen Opfer - für die schon gar nicht -, die bislang noch keine Entschädigung für ihr Leid und keine Rehabilitierung erhalten haben. Für sie werden wir uns auch in Zukunft einsetzen, und zwar sowohl im Parlament als auch außerhalb des Parlaments. Einen Schlussstrich unter die NS-Zeit und die in ihr begangenen Verbrechen wird es mit uns niemals geben. Ich danke Ihnen. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Dietmar Nietan, SPD-Fraktion.

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn meiner Ausführungen den Menschen Dank sagen, denen hier noch keiner gedankt hat. Ich möchte all denjenigen Dank sagen, die wie Lothar Evers und andere über viele Jahre hinweg die Opfer von NS-Verbrechen beraten und ihnen in all den Jahrzehnten Mut gemacht haben, nicht die Hoffnung aufzugeben, ({0}) dass ihnen irgendwann doch noch Gerechtigkeit widerfährt. Auch diesen Menschen muss man heute Dank sagen. Ich möchte auch Deidre Berger und den anderen Kolleginnen und Kollegen vom American Jewish Committee Dank sagen, die mit ihrer mutigen Aktion, die Namen der Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben und die damals noch nicht der Stiftungsinitiative beigetreten waren, ins Internet zu stellen, Öffentlichkeit hergestellt haben und auf dieses düstere Kapitel das Licht geworfen haben, das es verdient hat. ({1}) Ich möchte an dieser Stelle auch meinen Fraktionskolleginnen und -kollegen Andrea Nahles, Simone Violka, Michael Roth, Christoph Moosbauer und Christian Simmert vom Bündnis 90/Die Grünen Dank sagen. Gemeinsam mit diesen Kolleginnen und Kollegen haben auch gerade wir jungen Abgeordneten von Anfang an die Diskussion nicht nur in unserer Fraktion, sondern auch mit vielen Vertretern der NGOs über das Stiftungsgesetz und insbesondere über den Zukunftsfonds geführt, weil wir dies als Verpflichtung auch unserer jungen Generation ansehen. Ich danke in diesem Zusammenhang auch meiner Fraktion, dass sie mir als Vertreter der jungen Generation die Möglichkeit gibt, dies heute hier zu sagen. Es ist sehr oft gesagt worden, dass dies heute eine historische Stunde sei. Zwar teile ich diese Einschätzung es ist ein historischer Moment, weil wir uns zu unserer Verantwortung bekennen -, aber ich empfinde diesen Moment auch als einen Moment, der mich beschämt. 55 Jahre haben die Opfer darauf warten müssen, dass das an ihnen begangene Unrecht endlich anerkannt wird. 55 Jahre haben Menschen warten müssen, denen von Nazideutschland unendlich großes Leid angetan wurde. Wir wissen nicht, wie viele von ihnen daran zerbrochen sind. Wir wissen nicht, wie viele von ihnen in dem Bewusstsein gestorben sind, dass ihnen auch die Nachfahren der Täter eine Entschädigung und damit die Anerkennung des an ihnen begangenen Unrechts letztlich versagt haben. Das ist, wie ich finde, schon etwas, was einem bei allem Frohsein darüber, dass wir weitergekommen sind, immer noch beschämen muss. Trotz dieses bitteren Beigeschmacks möchte ich dem Bundeskanzler ausdrücklich dafür danken, dass er sich anders als sein Vorgänger intensiv für die zügige Realisierung der längst überfälligen Entschädigungsleistungen eingesetzt hat. Herr Bundeskanzler, an dieser Stelle gebührt Ihnen unser Dank. ({2}) Mein Dank gilt aber auch den mittlerweile fast 3 000 Unternehmen, die sich in der Stiftungsinitiative zusammengeschlossen haben. Diese Unternehmen - ich betone: nur diese 3 000 Unternehmen - bekennen sich zu der Verantwortung; aber es handelt sich gerade einmal um ganze 1,4 Prozent der Gesamtzahl. Anders herum gesagt: 98,6 Prozent der deutschen Unternehmen denken bisher nicht daran, gesellschaftliche Mitverantwortung für diesen Bereich zu übernehmen. Ich halte es in diesem Zusammenhang für einen Skandal, dass es junge Menschen gibt, die gerade eine Firma gegründet haben und sich trotzdem, obwohl sie mit dieser ganzen Sache persönlich nichts zu tun haben, an der Stiftungsinitiative beteiligen, während es andere, saturierte große Unternehmen gibt, die es bis heute nicht für nötig erachten, dabei mitzumachen. Man kann es nicht deutlich genug sagen: Das ist ein Skandal. ({3}) Es ist schon höchst interessant, dass nun ins Felde geführt wird, dass zuerst die Rechtssicherheit - das ist der ausschlaggebende Punkt - zu 100 Prozent garantiert sein müsse, bevor man sich beteiligen könne. In diesem Sinne äußern sich gerade solche Personen, die sonst immer sagen, der Staat möge sich doch aus möglichst allen Dingen heraushalten. Von der amerikanischen Regierung verlangen sie jetzt, den unabhängigen Gerichten genau zu sagen, wie man Rechtssicherheit herzustellen hat. Auch wenn ich akzeptiere, dass Rechtssicherheit für die deutschen Firmen zweifellos eine wichtige Frage ist, muss ich ehrlich sagen: Wenn man die Frage der Rechtssicherheit vor die Entschädigung der Opfer - unser eigentliches Anliegen - stellt, dann offenbart man eine Geisteshaltung, die nicht nur eine Geringschätzung der durch die Gewaltenteilung garantierten Unabhängigkeit der Gerichte darstellt, sondern auch die Opfer erneut als Mittel für einen ökonomischen Zweck missbraucht. Das darf man nicht durchgehen lassen. Wir als Bundestagsabgeordnete müssen ein deutliches Zeichen setzen, dass die zügige Entschädigung aller Opfer, die noch leben, für uns weiterhin im Vordergrund aller Bemühungen stehen muss. ({4}) Im Zentrum unserer Anstrengungen muss ebenfalls stehen - das sage ich auch als Vertreter der jungen Generation -, den Opfern dadurch gerecht zu werden, dass wir durch den Zukunftsfonds einen Beitrag dazu leisten, dass die Erinnerung an das, was ihnen angetan wurde, nie verblasst. Allein dieser Auftrag - die Erinnerung an Verfolgung, Ausbeutung und Vernichtung der Opfer des Nationalsozialismus auch dann noch bei den zukünftigen Generationen wach zu halten, wenn die Opfer gestorben sind und sie den jungen Menschen ihr Schicksal nicht mehr selbst als Zeitzeugen berichten können - rechtfertigt es, einen Teil der Mittel der Stiftung den noch lebenden Opfern nicht direkt zukommen zu lassen, sondern in den Zukunftsfonds fließen zu lassen. Für mich ist der Zukunftsfonds der Teil der Stiftung, der den Opfern gewidmet werden muss, die mittlerweile schon verstorben sind. Ihnen kann man keine materielle Entschädigung mehr zukommen lassen. Aber indem man wegweisende, neue Projekte durch diesen Zukunftsfonds fördert, mit denen der Jugendaustausch und das Wachhalten bzw. die Erinnerung unterstützt werden, kann man ihnen noch gerecht werden; darin liegt die wesentliche Berechtigung des Zukunftsfonds. Wenn man es so versteht, dann muss jedem Versuch, den Zukunftsfonds als Steinbruch zu benutzen, um irgendwelche anderen Angelegenheiten, die man in den Verhandlungen nicht geregelt hat, bezahlen zu können, widerstanden werden. Wir müssen jeden Schritt in diese Richtung zurückweisen. ({5}) Es geht bei diesem Zukunftsfonds nicht darum, Prestigeprojekte zu fördern - bei einigen Vorschlägen der Wirtschaft hatte ich diesen Eindruck -; vielmehr geht es darum, vielen jungen Menschen - gerade von unten - in Deutschland, in Israel und in den mittel- und osteuropäischen Staaten die Möglichkeit zu geben, einander zu begegnen. Das sollte aber immer vor dem Hintergrund des Sichvergegenwärtigens der Geschichte des Holocaust und seiner Einmaligkeit geschehen. Es geht darum, die Erinnerung an die Unvergleichbarkeit wach zu halten und in die Zukunft zu retten. Dadurch können für junge Menschen Brücken gebaut werden, damit sie durch das Lernen aus der Vergangenheit in der Lage sind, eine menschlichere Zukunft ohne Faschismus, ohne Rassismus und ohne Fremdenhass zu gestalten. ({6}) Ich glaube, das ist gerade auch für uns als junge Generation sehr wichtig; denn es darf in keiner Weise einen Schlussstrich geben. Mich irritiert, in welcher Art und Weise jetzt einige davon reden, dass man den Gerichten vorschreiben kann, in Bezug auf finanzielle Fragen einen Schlussstrich zu akzeptieren. Wir sollten wirklich in aller Deutlichkeit sagen: Diesen Schlussstrich darf es nicht geben. Erlauben Sie mir zum Schluss, etwas von dem zu zitieren, was uns Elie Wiesel am 27. Januar dieses Jahres hier an dieser Stelle gesagt hat: Wer einen Schlussstrich ziehen will, hat es schon längst getan. Er hat nicht nur das Blatt gewendet, sondern es aus seinem Bewusstsein gerissen. Wer sich dazu herbeilässt, die Erinnerung an die Opfer zu verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal. Das, meine Damen und Herren, darf in Deutschland nie passieren. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Hans-Peter Uhl, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Hans Peter Uhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003247, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie auch mir zu Anfang eine Bemerkung zur Arbeit des Beauftragten der Bundesregierung, des Grafen Lambsdorff. Völlig unbestritten haben Sie, Herr Kollege Graf Lambsdorff, vor einem Jahr ein unglaublich schweres Erbe von Ihrem Vorgänger übernommen. ({0}) Ohne Rücksicht auf Ihre Gesundheit haben Sie sich einem nervenaufreibenden Verhandlungsmarathon zur Verfügung gestellt. Dabei waren Sie auch ungerechtfertigten Angriffen ausgesetzt. Deswegen gebührt Ihnen heute umso mehr der Respekt und der Dank des Hohen Hauses. ({1}) Zu Recht, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, trägt die Stiftung den Titel „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“; denn ohne Erinnerung und Übernahme der Verantwortung für das Geschehene kann es keine gedeihliche Zukunft geben, kein friedliches Miteinander unter Nachbarn. Wir beweisen heute unsere Verantwortung vor der historischen Wahrheit. Der deutsche Staat und die deutsche Wirtschaft wollen mit dieser Stiftung die bereits geleisteten Wiedergutmachungszahlungen noch einmal ergänzen und dadurch abermals ein Zeichen der Versöhnung setzen. Das Wachhalten der Erinnerung an das vergangene Leid darf aber nicht dazu führen, dass das Erinnern zur alleinigen Verpflichtung der Deutschen wird. Die richtige Erinnerung darf nicht bei unserer schonungslosen Aufdeckung von Verbrechen durch die Naziherrschaft stehen bleiben. Ohne jede Aufrechnungsabsicht muss festgestellt werden: Das Unrecht des Naziregimes hat letztlich auch das Unrecht an vielen Deutschen ausgelöst. Aber ebenso gilt, dass ein Unrecht das andere Unrecht niemals rechtfertigen kann. ({2}) Es kann kein Aufrechnen geben, weder für uns noch für andere. Erinnern kann nicht teilbar sein. Heute erinnern wir an die Opfer des Naziregimes und übernehmen wieder Verantwortung. Gerade heute ist es deshalb aber auch eine Verpflichtung des Deutschen Bundestages, jener unschuldigen Deutschen zu gedenken, denen als Zwangsarbeiter schweres Leid und grausamste Behandlung widerfahren sind. So müssen wir uns daran erinnern, wie der jüdische Deutsche Hans-Georg Adler, der während des Zweiten Weltkriegs in Theresienstadt inhaftiert war, die Verhältnisse im ehemaligen KZ Theresienstadt im Jahre 1946, also nach dem Krieg, schilderte: Bestimmt gab es unter ihnen welche, die sich während den Besatzungsjahren manches haben zuschulden kommen lassen, aber die Mehrzahl, darunter viele Kinder und Halbwüchsige, wurden bloß eingesperrt, weil sie Deutsche waren. Er fährt fort: Nur weil sie Deutsche waren ...? Der Satz klingt erschreckend bekannt; man hatte bloß das Wort „Juden“ mit „Deutsche“ vertauscht. ... Die Menschen wurden elend ernährt, misshandelt und es ist ihnen um nichts besser gegangen, als man es von deutschen Konzentrationslagern her gewohnt war. Wir stimmen der Zwangsarbeiterentschädigung zu. Aber wir müssen auch an das Folgende erinnern: Allein in einem von 1 255 polnischen Arbeits- und Deportationslagern kamen beispielsweise von 8 064 Insassen 6 488 Deutsche ums Leben. Darunter waren auch 628 Kinder, die wirklich nichts für Hitlers Herrschaft konnten. Viele der Zwangsarbeiter ließ man verhungern, prügelte sie zu Tode oder erschoss sie. Wer nicht arbeiten konnte, wurde ermordet. Wir stimmen heute der Zwangsarbeiterentschädigung zu. Aber wir müssen auch daran erinnern: In der Tschechoslowakei gab es 2 061 Arbeits-, Straf- und Internierungslager. In Jugoslawien gab es 1 562 Lager. Dort wurde zwischen Arbeitslagern und Lagern für Arbeitsunfähige unterschieden. In diesen letzteren Lagern wurden die Menschen systematisch vernichtet. Im größten jugoslawischen Vernichtungslager, Rudolfsgnad, sind von 33 000 deutschen Insassen 9 503 umgebracht worden, darunter 491 Kinder unter 14 Jahren. Wir stimmen der Zwangsarbeiterentschädigung zu. Aber wir müssen auch an die 700 000 deutschen Zivilisten erinnern, darunter viele Frauen und Kinder, die nach 1945 zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert wurden. ({3}) Hunderttausende von deutschen Kriegsgefangenen mussten sich völkerrechtswidrig in Sibirien bis Mitte der 50er-Jahre zu Tode schuften. Weit über 2 Millionen Deutsche sind nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges durch Vertreibung, Internierung und Zwangsarbeit zu Tode gekommen. All dies geschah übrigens in demselben Zeitraum, als in den Nürnberger Prozessen gegen Nazigrößen Todesurteile wegen ebendieser Straftaten, also wegen Deportation, Zwangsarbeit und Vernichtung, ausgesprochen wurden. Verantwortung beginnt mit der Wahrhaftigkeit und sie endet mit ihr. Ob Christ, Jude oder Atheist, ob Pole, Russe oder Deutscher: Was man ihnen in den Arbeitslagern des Zweiten Weltkrieges und danach angetan hat, waren Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der englische Berichterstatter Bashford schrieb bereits im Sommer 1945 an das englische Außenamt: Die Konzentrationslager sind nicht aufgehoben, sondern von den neuen Besitzern übernommen worden. ... In Swientochlowice, einem Ort in Oberschlesien, müssen Gefangene, die nicht verhungern oder zu Tode geprügelt werden, Nacht für Nacht bis zum Hals im kalten Wasser stehen, bis sie sterben. In Breslau gibt es Keller, aus denen Tag und Nacht die Schreie der Opfer dringen. In einem Bericht an den amerikanischen Senat vom 28. August 1945 heißt es: Man hätte erwarten dürfen, dass nach der Entdeckung der Scheußlichkeiten, die sich in den Konzentrationslagern der Nazis ereigneten, niemals wieder Derartiges geschehen würde; das aber scheint leider nicht so zu sein. So wie das Erinnern unteilbar und Leid nicht teilbar ist, so ist auch die Verantwortung für Verbrechen nicht teilbar. Willy Brandt kniete in Auschwitz nieder. Roman Herzog bat im Warschauer Getto um Vergebung. Deutsche haben sich zu Recht für deutsche Untaten immer wieder entschuldigt und um Vergebung gebeten. Wir vermissen aber, dass sich auch die Gegner von einst ihrer Verantwortung stellen. Eine wahre Aussöhnung kann es aber nicht geben, wenn das Leid des einen anerkannt und das Leid des anderen geleugnet wird. ({4}) Der Dichter sagt: Wer sich nicht erinnert und damit die eigene Verantwortung leugnet, der sät die Blumen des Bösen: Auf dieser Saat der Selbstgerechtigkeit blüht keine Zukunft und gedeiht keine gute Nachbarschaft in Europa. Wir stimmen der Stiftung zu, aber in unserer heutigen Fraktionserklärung fordern wir diejenigen Staaten auf, „die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Deutsche verschleppt und unter unmenschlichen Bedingungen zur Arbeit gezwungen haben, den noch lebenden deutschen Opfern eine der deutschen Regelung zur Zwangsarbeiterfrage entsprechende Entschädigung in Form einer humanitären Geste zu gewähren“. Wer dies verweigert mit der Begründung, dass das deutsche Leid auf das Konto der Nazis gehe, vergisst zweierlei: Zum einen war der Zweite Weltkrieg zu diesem Zeitpunkt bereits zu Ende. Zum anderen wurden diese Verbrechen zumeist an unschuldigen Zivilisten begangen. Wir wollen nur, dass die Prinzipien der Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit für alle Menschen, also auch für Deutsche, gelten. Vaclav Havel hat Recht, wenn er fordert: Jedes Volk sollte sich um einen ehrlichen Umgang mit seiner Geschichte bemühen. Die Geschichte kennt keinen Schlussstrich. Das wissen wir. Verantwortung für die Zukunft bedeutet deshalb, dass wir die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus fortführen werden. Wohl aber muss es für die Menschen in diesem Lande die Gewissheit geben, dass die materiellen Wiedergutmachungsleistungen irgendwann ein Ende haben. Denn über 70 Prozent der heute lebenden Deutschen sind nach 1945 geboren. Als Opposition gehen wir davon aus, dass die Bundesregierung, die die entscheidenden Gespräche geführt hat, den Gesamtkomplex der Entschädigung nun so geregelt hat, dass sich die vielfältig geäußerte Besorgnis, es könne zu immer neuen Nachforderungen kommen, als haltlos erweist. Wir sind aber umso mehr überrascht über den heute vorgelegten gemeinsamen Entschließungsantrag der SPD, der F.D.P., der Grünen und der PDS. Darin wird nämlich unmissverständlich die Bereitschaft zu neuen finanziellen Leistungen bereits jetzt in Aussicht gestellt. Wir lehnen das ab. ({5}) Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ - dieser Titel der Stiftung ist Ausdruck des deutschen Bemühens um Versöhnung und materiellen Ausgleich für das von deutscher Seite verursachte Leid. Über ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges muss es aber auch für Deutsche eine historische Gerechtigkeit geben. Wir fordern nicht mehr und nicht weniger als diese Gerechtigkeit. Wir Deutschen werden das Leid, das unsere Vorväter anderen angetan haben, bestimmt nicht vergessen. Aber nur mit Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit schaffen wir Vertrauen und nur mit Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit schaffen wir eine wahre Versöhnung zwischen den Völkern im zusammenwachsenden Europa. ({6})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Christian Simmert, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.

Christian Simmert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003237, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich bin froh und dankbar, hier im Deutschen Bundestag eine Entscheidung mit treffen zu können, die allerdings schon längst hätte getroffen werden müssen. Für uns alle ist das Gesetz zur Entschädigung der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ein historischer Schritt, vor allem für die Opfer, von denen nach so vielen Jahrzehnten leider nur noch zu wenige diesen Augenblick erleben können. Dieser historische Schritt kann aber nicht der letzte Schritt in der Auseinandersetzung um die deutsche Vergangenheit sein - weder im politischen noch im gesellschaftlichen Raum. Vielmehr muss ein neues Kapitel in der Erinnerungsarbeit aufgeschlagen werden, ein Kapitel, das gerade der jungen Generation eine Auseinandersetzung mit Naziterror, Holocaust und Zwangsarbeit ermöglicht. ({0}) Das Gesetz zur Entschädigung von ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern ist kein Schlussstrich und darf kein Schlussstrich sein. Ich denke, das haben die Beteiligten mit dem Titel der Stiftungsinitiative „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ ausdrücken wollen. Gerade der Zukunftsfonds hat in diesem Sinne eine zentrale Bedeutung. Dieser kann mit dafür sorgen, dass nicht Schlussstrichgedanken vorherrschen, sondern die Erinnerungsarbeit eine neue Dimension bekommt. Wenn immer weniger Zeitzeuginnen und Zeitzeugen jungen Menschen unmittelbar aus ihren Erfahrungen berichten können, dann werden wir lernen müssen, neue Wege der Erinnerung zu gehen. Der Zukunftsfonds sollte deshalb besonders für neue, innovative Projekte genutzt werden, die sich gerade dieser Entwicklung stellen. Was können zukünftige Generationen nicht nur über die deutsche Vergangenheit erfahren, sondern vor allem daraus lernen? Wie kann Erinnerungsarbeit in Schulen nicht verschult, sondern lebendig gestaltet werden, und dies vor dem Hintergrund, dass sich Europa näher kommt und sich unsere Gesellschaft verändert? Wie gehen junge Menschen in einem anderen kulturellen Kontext mit der deutschen Vergangenheit um und welche Verantwortung leiten sie für sich daraus ab? Neue und alte Fragen müssen gerade für die junge Generation und die zukünftigen Generationen immer wieder beantwortet werden. Schon deshalb kann es keinen Schlussstrich geben. Es wäre jedoch falsch, zu glauben, dass sich die Erinnerungsarbeit in Zukunft „nur“ auf den Zukunftsfonds der Stiftungsinitiative beschränkt. So wichtig der Fonds an sich ist, so wichtig ist es auch, dass die bisherige Erinnerungsarbeit weiterhin geleistet und finanziert wird. ({1}) Grundvoraussetzung für die Stiftungsinitiative generell und damit auch für den Zukunftsfonds ist jedoch, dass die deutsche Wirtschaft endlich ihren Teil der Verantwortung annimmt. Es kann nicht sein - auch ich finde das beschämend -, dass es noch immer Unternehmen gibt, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben und die sich jetzt ihrer Verantwortung entziehen wollen, junge Unternehmen aber, die es erst seit kurzem gibt, Mitglied der Stiftungsinitiative sind. Es geht bei der Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter um die moralische Gesamtverantwortung der deutschen Wirtschaft. Vor dem Hintergrund von Fusionen und den Summen, die dabei im Spiel sind, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es für einige Unternehmen eher um Peanuts geht als um einen finanziellen Kraftakt. Auch ich möchte mich für die gute Zusammenarbeit bedanken. Ich hoffe, dass wir in Zukunft an diesem Thema weiterarbeiten und gemeinsam für eine Erinnerungsarbeit eintreten, die diesen Namen auch verdient. Danke schön. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel.

Hans Eichel (Minister:in)

Politiker ID: 11003522

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zum Ende dieser sehr bewegenden Debatte, nachdem Graf Lambsdorff als Beauftragter der Bundesregierung schon vorgetragen hat, wie diese Stiftungsinitiative zustande gekommen ist, für die Bundesregierung noch wenige Bemerkungen machen. ({0}) Wir dürfen nie vergessen, welch unvergleichliche Verbrechen in der Zeit zwischen 1933 und 1945 von unserem Lande ausgegangen sind. 55 Millionen Tote und die systematische Ausrottung ganzer Völker und Ethnien mit der unglaublichen Begründung, dass das eigentlich gar keine Menschen seien, gehören in diese Phase. Sich daran zu erinnern ist schmerzhaft. Die deutsche Nachkriegsgeschichte ist sehr schmerzhaft und auch sehr widersprüchlich verlaufen. Aus dieser Geschichte auszutreten ist niemandem erlaubt. Auch jetzt noch, da eine andere Generation hier sitzt, haben wir Verantwortung. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte doch wenigstens bei diesem Thema um eine gewisse Ruhe, damit der Redner überhaupt noch zu verstehen ist. ({0})

Hans Eichel (Minister:in)

Politiker ID: 11003522

Wir tragen Verantwortung, weil wir das Erbe nicht ausschlagen können, das Gute nicht - das wollen wir auch nicht -, aber das Schlechte ebenso wenig. Deswegen tragen wir Verantwortung dafür, dass sich das Geschehene in der Zukunft nie wiederholt. So sind übrigens viele meiner Generation überhaupt zum politischen Engagement gekommen: Sie wollten nie wieder so etwas wie das erleben, was wir von 1933 bis 1945, ausgehend von Deutschland, erlebt haben. ({0}) Wir haben uns schwer getan. Wir haben uns bemüht, wieder gutzumachen - wenn das denn überhaupt geht. Jedenfalls kann dieses Leid auf materiellem Wege nicht wirklich ausgeglichen werden. Aber man kann sich bemühen. Ich will ausdrücklich betonen: Das ist seit Anfang der 50er-Jahre geschehen; dieser Hinweis ist richtig. Die Vereinten Nationen haben das deutsche Vorgehen in diesem Zusammenhang als eine beispielhafte Aufarbeitung von Krieg und Diktatur anerkannt. Aber wir haben lange gebraucht. Das, worüber wir heute diskutieren und was wir heute entscheiden wollen, hätte vielleicht schon viel früher entschieden werden können. ({1}) Aber da dies bisher nicht der Fall gewesen ist, müssen wir dies jetzt tun. Ich freue mich darüber - dazu möchte ich herzlichen Dank sagen -, dass es in diesem Hause bei dieser Gesetzgebung die Zustimmung aller Fraktionen und wohl fast aller Mitglieder geben wird. Dies ist keine Schlussstrichgesetzgebung in dem Sinne, dass wir uns danach umdrehen und sagen könnten: Damit ist für uns die Zeit von 1933 bis 1945 ein für alle Mal historisch abgeschlossen. Das wird sie nie sein. ({2}) Wir versuchen aber, materiell zu einem Ergebnis zu kommen. Dass wir im Rahmen des Haushaltes - ich sage das als Finanzminister - weiter helfen werden, dass wir weiter Entschädigungsleistungen erbringen - etwa 150 000 Rentnerinnen und Rentner bekommen weiter Entschädigungsleistungen; das muss auch so sein -, ist auch hier eine humanitäre Geste unsererseits. Ich will - wie alle anderen Redner auch - zuallererst Graf Lambsdorff sehr herzlich dafür danken, dass er diese außerordentlich schwierige Frage sehr sensibel und sehr bestimmt zu einem Ergebnis geführt hat. ({3}) Ich sage Dank auch an die amerikanische Regierung und stellvertretend an Stuart Eizenstat, den stellvertretenden Finanzminister und für Graf Lambsdorff führenden Gesprächspartner auf der anderen Seite des Verhandlungstisches. ({4}) Ich sage Dank an die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft sowie ganz besonders an Herrn Dr. Gentz und an die an die Spitze der Initiative getretenen Unternehmen, die es geschafft haben, dass alle anderen Unternehmen ihrem Beispiel folgen, egal ob sie Zwangsarbeiter beschäftigt haben oder nicht. ({5}) Denn hier wird von denjenigen, die sich engagieren, eine beispielhafte Initiative geleistet. Wenige fragen danach, ob sie rechtlich verpflichtet sind oder nicht. Diejenigen Unternehmen, die nach dem Krieg neu gegründet worden sind und historisch mit der Entschädigung der Zwangsarbeiter nichts zu tun haben, aber die wie wir als Bürgerinnen und Bürger begreifen, dass wir nicht aus der Geschichte austreten können, geben ein hervorragendes Beispiel. Diejenigen, die schon in der Vergangenheit dabei gewesen sind, hätten nun allen Grund, sich jetzt auch an den Entschädigungszahlungen zu beteiligen. ({6}) Für die Bundesregierung ist aber auch klar: Hier wird kein neues Kapitel im Hinblick auf Reparationen eröffnet. Dieses Kapitel ist abgeschlossen. Die Bundesregierung und das ganze deutsche Volk leisten zum Beispiel im Rahmen ihrer Hilfe zur Integration der mittel- und osteuropäischen Länder in die Europäische Union große Anstrengungen. Unsere eigentliche Zukunftsaufgabe ist denn das ist die Lehre, die wir aus der Vergangenheit zu ziehen haben -, alle diese Länder zu einem vereinigten Europa zusammenzuschließen ({7}) und zu helfen, dass sie dieselbe Entwicklung nehmen, wie wir sie, ökonomisch gesehen, erfahren haben. Das ist unser Zukunftsbeitrag, den wir - ich hoffe, das bleibt auch so - gerne leisten wollen. Ich wiederhole es: Reparationen haben keine Zukunft. Es wird von Deutschland aus keine Debatten darüber geben. Dazu werden wir nicht mehr die Hand reichen. ({8}) Eine humanitäre Geste aber musste von uns ausgehen das ist die Errichtung dieser Stiftung -, wenigstens heute, wenn dies schon in den vergangenen Jahren nicht geleistet worden ist. Die Stiftung kann auch unmittelbar tätig werden. Dies setzt allerdings voraus, dass alle, die an dem Tisch gesessen haben, an dem Graf Lambsdorff für uns die Verhandlung führte, ihren Beitrag dazu leisten. Das sage ich mit Nachdruck gerade angesichts der Sammelklagen in den Vereinigten Staaten und denen, die noch angedroht werden. Ich unterstreiche ausdrücklich, dass es im Rahmen dieser Stiftung möglich sein wird - das ist die Position der Bundesregierung -, alle gerecht zu behandeln. Das bezieht sich auch auf diejenigen, die nicht am Verhandlungstisch gesessen haben. Wir sollten auch so schnell wie irgend möglich mit den Auszahlungen beginnen; denn die Menschen sind alt. Graf Lambsdorff hat darauf hingewiesen, wie viele Menschen sozusagen wegsterben. Wenigstens unsere Geste sollte diese Menschen noch erreichen und etwas versöhnen. ({9}) Deswegen sind wir an einer schnellen Auszahlung interessiert. Lassen Sie mich noch eines sagen: Es ist ein gutes Zeichen, dass alle Fraktionen bzw. fast alle Mitglieder des Deutschen Bundestages zustimmen. Das symbolisiert unsere ausgestreckte Hand gegenüber den Opfern. Wir wissen, dass dies keinen Schlussstrich darstellt. Es ist vielmehr die Verpflichtung, für alle Zukunft dafür zu sorgen, in unserem Lande und überall, dass Menschen als Menschen behandelt werden und nicht so, wie wir es in den zwölf Jahren von 1933 bis 1945 - dies hatte auch große Nachwirkungen - erlebt haben. Herzlichen Dank für Ihre Zustimmung. ({10})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak- tionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen, der F.D.P. und der PDS sowie der Bundesregie- rung eingebrachten Gesetzentwurf zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, Drucksachen 14/3206, 14/3459 und 14/3758. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Die Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen verlangen namentliche Ab- stimmung. Ich bitte also die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Bevor ich die Abstimmung eröffne, möchte ich mittei- len, dass zahlreiche Erklärungen zur Abstimmung zu Pro- tokoll gegeben worden sind.1) Ich erspare mir die Verle- sung der Namen, da dies sehr lange dauern würde. Ich möchte nur noch darauf hinweisen, dass der Kollege Volker Beck eine schriftliche Erklärung zur Aussprache abgegeben hat.2) Sind alle Urnen besetzt? - Dann können wir mit der Abstimmung beginnen. Ich eröffne die Abstimmung. - Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stim- me noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt ge- geben.3) Wir setzen die Beratungen fort und kommen jetzt zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P. und PDS auf Drucksache 14/3790. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P. und PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Zügige Entschädigung für Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und Errichtung einer Bundesstiftung“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1694 für erledigt zu erklären. Die PDS-Fraktion ist damit einverstanden. Damit ist dieser Antrag erledigt. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der PDS zur Änderung des Einkommensteuergesetzes auf Drucksache 14/472. Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/3731, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf: Vereinbarte Debatte zur Steuerpolitik Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kollege Joachim Poß, SPD-Fraktion.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag entscheidet heute über eine wichtige Frage des Standorts Deutschland: über den Fortgang des wirtschaftlichen Aufschwungs, über die weitere Rückführung der Arbeitslosigkeit und über massive Steuerentlastungen für Arbeitnehmer, Wirtschaft und Mittelstand. Ich habe keine Zweifel, dass der Deutsche Bundestag dem Vermittlungsergebnis zum Steuersenkungsgesetz mit überzeugender Mehrheit zustimmen wird. ({0}) - Herr Fromme, mit Ihrer Stimme wird man nicht rechnen können, aber, ehrlich gesagt, beruhigt mich das eher. ({1}) Alle müssen wissen, dass die Wachstumsaussichten ohne diese Steuerreform erheblich zurückgeschraubt werden müssen. Das DIW zum Beispiel rechnet für das nächste Jahr mit einem Wachstum von nur noch 2 Prozent statt der ursprünglich erwarteten 2,75 Prozent. Bei der Entscheidung, die wir heute Morgen treffen, geht es ganz konkret um Arbeitsplätze und neue Chancen für Arbeitslose in Deutschland. ({2}) Das müssen Sie von der Opposition bedenken und wissen. Das müssen die Ministerpräsidenten der Länder am nächsten Freitag bedenken, wenn sie über dieses Vermittlungsergebnis abstimmen. Das gilt insbesondere für die unionsgeführten oder von der Union mitregierten Landesregierungen. ({3}) Ich verhehle aber nicht: Das gilt auch für sozialdemokratische Ministerpräsidenten. Es muss bedacht werden, was hier auf dem Spiel steht. ({4}) 1) Anlagen 7-20 2) Anlage 21 3) s. Seite 10773 Sie werden sich in den nächsten acht Tagen entscheiden müssen, ob Sie der totalen Blockadestrategie des Herrn Merz folgen wollen. ({5}) Denn dann kann die Steuerreform endgültig scheitern. Die Landesregierungen sollten sich vor Augen führen, was das bedeutet. Herr Merz behauptet: Kein Gesetz ist besser als dieses Gesetz. So lautet seine Kernbotschaft. ({6}) Eigentlich können die Länder, egal ob SPD- oder CDU-geführt, diese Botschaft nicht teilen. Sie wissen nämlich: Verhandlungsgegenstand war zumindest aus Sicht der CDU/CSU bisher leider nicht unser Steuerreformkonzept, auf dem Spiel stand das politische Prestige des Fraktionsvorsitzenden Merz. ({7}) Das hat er selbst so gewollt und deshalb war Herr Merz bisher eine schwere Hypothek für das Vermittlungsverfahren. Es ist eine sehr teure Rehabilitationsmaßnahme, die hier durchgeführt wird. ({8}) Es ist nicht hinzunehmen, dass sich das negativ auf die Chancen unserer Republik auswirkt. Die Opposition ist in dieses Vermittlungsverfahren offensichtlich ohne den Willen zu einer Vermittlung gegangen. ({9}) Das ist das Entscheidende. ({10}) Dagegen sind SPD und Grüne der Union ein großes Stück entgegengekommen, zum Beispiel beim Spitzensteuersatz, beim Tarif und beim so genannten Optionsmodell. Das alles soll jetzt wegen des verbissenen Kampfs des Herrn Merz um sein politisches Profil nicht in Kraft treten? ({11}) Ist es denn nicht so, dass es mittlerweile in der Union hinter vorgehaltener Hand heißt: „Kein Merz ist besser als dieser Merz“? ({12}) Das Steuersenkungsgesetz sieht Steuerentlastungen für alle vor: Arbeitnehmer, Mittelstand und Großunternehmen. Es begünstigt Arbeiter, Angestellte, Freiberufler, kleine, mittlere und große Personenunternehmen sowie Kapitalgesellschaften. Die Steuerentlastungen sind massiv. Das Steuersenkungsgesetz hat nach dem Ergebnis des Vermittlungsverfahrens ein Entlastungsvolumen von rund 50 Milliarden DM. Was ist das für eine Logik, Herr Merz: Keine Entlastung ist besser als diese Entlastung von 50 Milliarden DM? Darum geht es: Wollen Sie den Menschen wirklich weismachen, dass das geltende Vollanrechnungsverfahren bei der Körperschaftsteuer es wert ist, auf diese Steuerentlastung verzichten zu müssen? Ein Lediger mit einem Einkommen in Höhe von 70 000 DM muss im Jahre 2005 - das wird voraussichtlich das Durchschnittseinkommen sein - 2 640 DM weniger und ein Verheirateter muss 3 316 DM weniger im Jahr zahlen. Darauf sollen die Steuerzahler wegen dieses durchsichtigen Spiels, das auf der rechten Seite des Hauses gespielt wird, verzichten? Das kann doch wohl nicht wahr sein! ({13}) Ich will hier nicht in den Streit über das Für und Wider des Vollanrechnungsverfahrens und des von uns vorgeschlagenen Halbeinkünfteverfahrens einsteigen. Aber eines sollten die Menschen wissen: Den Systemwechsel zum Halbeinkünfteverfahren hat eine Kommission vorgeschlagen, die mit Wissenschaftlern, Steuerexperten von Wirtschaft und Gewerkschaften, Verbänden, mit Rechtsanwälten und Praktikern der Finanzverwaltung besetzt war, also mit Leuten, die wissen, wovon sie sprechen, weil sie aus der Praxis kommen. ({14}) Wenn Herr Merz sich auf Professoren stützt, ({15}) - natürlich wissen die etwas; ich stelle deren Autorität gar nicht infrage; selbstverständlich gibt es Argumente für das Vollanrechnungsverfahren; dies haben wir auch in der Diskussion im Vermittlungsausschuss nicht infrage gestellt -, ({16}) denen zur fehlenden Europatauglichkeit des Vollanrechnungsverfahrens nur einfällt, dass man ja über alle betroffenen Doppelbesteuerungsabkommen neu verhandeln kann, darf man sich nicht wundern, wenn sich alle über Merz wundern. ({17}) Dies gilt umso mehr, als Herr Merz am 15. Februar 2000, damals noch als stellvertretender Fraktionsvorsitzender, der „FAZ“ gesagt hat, man könne über einen Ersatz des derzeit geltenden Vollanrechnungsverfahrens sprechen. Die Union sei hier nicht für alle Tage festgelegt. Welch eine Formulierung! Das heißt, man hat sich auf diese Frage möglicherweise nur bis zum 14. Februar festgelegt und dann wird man weitersehen. Man kann im Zweifel für alles auf ein Zitat zurückgreifen. Welch ein fatales Spiel, meine Damen und Herren! ({18}) Herr Merz, Sie sollten sich wieder an das erinnern, was Sie als stellvertretender Fraktionsvorsitzender gesagt haben. Ist es nicht höchste Zeit, dass Sie Ihre vorgeschobenen Argumente, dass es um einen Systemwechsel oder um die angeblich fehlende Gleichmäßigkeit der Besteuerung gehe, beiseite räumen und sich dem Kern nähern? Zu unserem Konzept gibt es nämlich keine vernünftige und vor allen Dingen finanzierbare Alternative. ({19}) Mit unserem Kompromissangebot im Vermittlungsverfahren haben wir die bereits im Gesetzentwurf vorgesehene Steuerentlastung um weitere 5 Milliarden DM ausgeweitet. Dies können wir mit Blick auf die Haushalte des Bundes und der Länder noch verantworten, weil wir unser Konsolidierungsziel, im Jahre 2006 ohne Neuverschuldung auszukommen, damit noch darstellen und auch die Länder damit noch verfassungsmäßige Haushalte verabschieden können. Wir halten an unseren Leitplanken fest: Haushaltssanierung auf der einen und Steuerentlastung auf der anderen Seite. ({20}) Das sind die Markenzeichen dieser Koalition: Nachhaltigkeit der Finanzpolitik und Generationengerechtigkeit. Dies spiegelt sich auch in unserem Kompromissvorschlag im Vermittlungsverfahren wider. Dagegen sind Ihre Vorschläge - was alle wissen - nicht finanzierbar. ({21}) Dies hat Herr Merz in einem Interview mit der „Financial Times“ am 20. Juni zugegeben; sehr zum Ärger der CSU und von Herrn Faltlhauser. Herr Merz, warum wollen Sie plötzlich keinen Spitzensteuersatz von 35 Prozent mehr? Dies ist doch Gegenstand Ihres Konzeptes. Glauben Sie, die Bürger nehmen solche Zickzackerklärungen eines Fraktionsvorsitzenden noch ernst? Sie wussten doch, dass ein Spitzensteuersatz von 35 Prozent nur zu finanzieren ist - darüber gibt es zig Äußerungen -, wenn zum Beispiel die Steuerfreiheit von Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeitszuschlägen abgeschafft wird. Nur unter solchen Umständen ist das möglich. Da sage ich Ihnen für die Sozialdemokraten: Mit der SPD wird es keine Absenkung des Spitzensteuersatzes zulasten von Krankenschwestern, Facharbeitern, Handwerksgesellen und anderen Arbeitnehmern geben. ({22}) Dabei kennen wir die steuersystematischen Argumente und wissen auch, dass der Ball eigentlich ins Feld der Tarifparteien gehört. ({23}) Aber so kann man eine Praxis, die sich in 50 Jahren eingeschliffen hat und deren Änderung auch während Ihrer Regierungsverantwortung, Herr Gerhardt, nur zaghaft angepackt wurde, leider nicht ändern. Eines muss klar sein: Eine Krankenschwester muss zu den Gewinnern der Steuerreform gehören und darf am Ende nicht dafür bluten, dass Sie, Herr Gerhardt, hier wahnsinnige, unfinanzierbare Tarife vorschlagen. Das ist doch der Punkt. ({24}) - Die profitiert auch von den Tarifsenkungen, Herr Gerhardt. Schauen Sie einmal nach. Möglicherweise gebricht es Ihnen auch an dieser Stelle wieder an Sachverstand. ({25}) Auch die größte Oppositionspartei im Bundestag hat neben ihrer Rolle, die Regierung zu kontrollieren, eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Herr Merz und alle anderen, Sie sind doch auch Ihren Wählerinnen und Wählern verpflichtet - und die wollen jetzt auch entlastet werden, ob sie Mittelständler sind oder Arbeitnehmer. ({26}) Wir haben eine Entscheidungsgrundlage geschaffen, in der sich nicht nur die Vorstellungen der Sozialdemokraten und der Grünen wiederfinden, sondern auch Ihre Vorstellungen. ({27}) Das jetzt vorliegende Gesetz ist für uns, für Sie und für die Bundesländer akzeptabel. Es ist ein Gesetz, das die Wirtschaft jetzt braucht. Es ist ein Gesetz, auf das die Arbeitnehmer nicht länger warten wollen. Wer sagt: „Lieber kein Gesetz als dieses Gesetz“, der will das Scheitern der Reform. ({28}) Ich bin aber zuversichtlich, dass wir heute und auch in der nächsten Woche, am 14. Juli, eine Mehrheit für die politische Vernunft und die Interessen aller Steuerzahler erreichen, eine Mehrheit für mehr Arbeitsplätze und den Abbau der Arbeitslosigkeit. ({29})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Bevor ich den nächsten Redner aufrufe, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ bekannt. Abgegebene Stimmen 620. Mit Ja haben gestimmt 556, mit Nein haben gestimmt 42, Enthaltungen gab es 22. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 620 ja: 556 nein: 42 enthalten: 22 Ja SPD Gerd Andres Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Hermann Bachmaier Ernst Bahr Doris Barnett Dr. Hans Peter Bartels Eckhardt Barthel ({0}) Klaus Barthel ({1}) Ingrid Becker-Inglau Wolfgang Behrendt Dr. Axel Berg Hans-Werner Bertl Friedhelm Julius Beucher Petra Bierwirth Rudolf Bindig Lothar Binding ({2}) Kurt Bodewig Klaus Brandner Anni Brandt-Elsweier Willi Brase Dr. Eberhard Brecht Rainer Brinkmann ({3}) Bernhard Brinkmann ({4}) Hans-Günter Bruckmann Ursula Burchardt Dr. Michael Bürsch Hans Büttner ({5}) Marion Caspers-Merk Wolf-Michael Catenhusen Dr. Peter Danckert Christel Deichmann Karl Diller Rudolf Dreßler Detlef Dzembritzki Dieter Dzewas Sebastian Edathy Ludwig Eich Marga Elser Peter Enders Gernot Erler Annette Faße Lothar Fischer ({6}) Gabriele Fograscher Iris Follak Norbert Formanski Rainer Fornahl Hans Forster Dagmar Freitag Lilo Friedrich ({7}) Harald Friese Anke Fuchs ({8}) Arne Fuhrmann Prof. Monika Ganseforth Konrad Gilges Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner Renate Gradistanac Günter Graf ({9}) Angelika Graf ({10}) Dieter Grasedieck Kerstin Griese Karl Hermann Haack ({11}) Hans-Joachim Hacker Klaus Hagemann Manfred Hampel Christel Hanewinckel Alfred Hartenbach Anke Hartnagel Klaus Hasenfratz Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Monika Heubaum Reinhold Hiller ({12}) Gerd Höfer Jelena Hoffmann ({13}) Walter Hoffmann ({14}) Iris Hoffmann ({15}) Frank Hofmann ({16}) Ingrid Holzhüter Christel Humme Lothar Ibrügger Barbara Imhof Brunhilde Irber Gabriele Iwersen Renate Jäger Jann-Peter Janssen Ilse Janz Prof. Dr. Uwe Jens Volker Jung ({17}) Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Sabine Kaspereit Susanne Kastner Klaus Kirschner Marianne Klappert Siegrun Klemmer Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Anette Kramme Nicolette Kressl Volker Kröning Angelika Krüger-Leißner Horst Kubatschka Ernst Küchler Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Konrad Kunick Dr. Uwe Küster Werner Labsch Brigitte Lange Christian Lange ({18}) Detlev von Larcher Waltraud Lehn Robert Leidinger Dr. Elke Leonhard Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann ({19}) Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Dieter Maaß ({20}) Winfried Mante Dirk Manzewski Tobias Marhold Lothar Mark Christoph Matschie Markus Meckel Ulrike Mehl Ulrike Merten Angelika Mertens Prof. Dr. Jürgen Meyer ({21}) Ursula Mogg Siegmar Mosdorf Michael Müller ({22}) Jutta Müller ({23}) Christian Müller ({24}) Franz Müntefering Andrea Nahles Volker Neumann ({25}) Gerhard Neumann ({26}) Dr. Edith Niehuis Dr. Rolf Niese Eckhard Ohl Leyla Onur Manfred Opel Holger Ortel Adolf Ostertag Kurt Palis Albrecht Papenroth Prof. Dr. Martin Pfaff Georg Pfannenstein Johannes Pflug Prof. Dr. Eckhart Pick Karin Rehbock-Zureich Dr. Carola Reimann Renate Rennebach Dr. Edelbert Richter Reinhold Robbe Gudrun Roos René Röspel Dr. Ernst Dieter Rossmann Michael Roth ({27}) Birgit Roth ({28}) Gerhard Rübenkönig Marlene Rupprecht Thomas Sauer Dr. Hansjörg Schäfer Gudrun Schaich-Walch Rudolf Scharping Bernd Scheelen Siegfried Scheffler Horst Schild Dieter Schloten ({29}) Ulla Schmidt ({30}) Silvia Schmidt ({31}) Dagmar Schmidt ({32}) Wilhelm Schmidt ({33}) Heinz Schmitt ({34}) Carsten Schneider Dr. Emil Schnell Walter Schöler Olaf Scholz Karsten Schönfeld Fritz Schösser Ottmar Schreiner Gerhard Schröder Gisela Schröter Dr. Mathias Schubert Richard Schuhmann ({35}) Brigitte Schulte ({36}) ({37}) Volkmar Schultz ({38}) Ewald Schurer Dr. R. Werner Schuster Dietmar Schütz ({39}) Dr. Angelica Schwall-Düren Rolf Schwanitz Bodo Seidenthal Erika Simm Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Wieland Sorge Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Dr. Ditmar Staffelt Ludwig Stiegler Rita Streb-Hesse Reinhold Strobl ({40}) Dr. Peter Struck Joachim Stünker Jörg Tauss Jella Teuchner Dr. Gerald Thalheim Franz Thönnes Uta Titze-Stecher Adelheid Tröscher Hans-Eberhard Urbaniak Rüdiger Veit Simone Violka Ute Vogt ({41}) Hans Georg Wagner Hedi Wegener Dr. Konstanze Wegner Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Wolfgang Weiermann Reinhard Weis ({42}) Matthias Weisheit Gunter Weißgerber Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker Jochen Welt Dr. Rainer Wend Hildegard Wester Lydia Westrich Inge Wettig-Danielmeier Dr. Margrit Wetzel Dr. Norbert Wieczorek Helmut Wieczorek ({43}) Jürgen Wieczorek ({44}) Dieter Wiefelspütz Heino Wiese ({45}) Brigitte Wimmer ({46}) Engelbert Wistuba Barbara Wittig Dr. Wolfgang Wodarg Hanna Wolf ({47}) Waltraud Wolff ({48}) Heidemarie Wright Dr. Christoph Zöpel Peter Zumkley CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Altmaier Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Brigitte Baumeister Meinrad Belle Otto Bernhardt Dr. Joseph-Theodor Blank Renate Blank Dr. Heribert Blens Friedrich Bohl Dr. Maria Böhmer Jochen Borchert Dr. Wolfgang Bötsch Dr. Ralf Brauksiepe Paul Breuer Cajus Caesar Wolfgang Dehnel Hubert Deittert Renate Diemers Thomas Dörflinger Hansjürgen Doss Marie-Luise Dött Rainer Eppelmann Anke Eymer ({49}) Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Ingrid Fischbach Dirk Fischer ({50}) ({51}) Dr. Hans-Peter Friedrich ({52}) Erich G. Fritz Jochen-Konrad Fromme Dr. Heiner Geißler Michael Glos Dr. Reinhard Göhner Peter Götz Kurt-Dieter Grill Hermann Gröhe Manfred Grund Gottfried Haschke ({53}) Norbert Hauser ({54}) Helmut Heiderich Ursula Heinen Manfred Heise Siegfried Helias Hans Jochen Henke Peter Hintze Klaus Hofbauer Klaus Holetschek Joachim Hörster Hubert Hüppe Georg Janovsky Dr.-Ing. Rainer Jork Bartholomäus Kalb Eckart von Klaeden Ulrich Klinkert Manfred Kolbe Norbert Königshofen Eva-Maria Kors Thomas Kossendey Dr. Martina Krogmann Dr.-Ing. Paul Krüger Dr. Hermann Kues Karl Lamers Dr. Norbert Lammert Helmut Lamp Dr. Paul Laufs Werner Lensing Ursula Lietz Walter Link ({55}) Eduard Lintner Dr. Klaus W. Lippold ({56}) ({57}) Dr. Michael Luther Erich Maaß ({58}) Erwin Marschewski ({59}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Hans Michelbach Meinolf Michels Bernward Müller ({60}) Bernd Neumann ({61}) Claudia Nolte Günter Nooke Friedhelm Ost Eduard Oswald Dr. Peter Paziorek Anton Pfeifer Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp Ruprecht Polenz Marlies Pretzlaff Dr. Bernd Protzner Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Helmut Rauber Christa Reichard ({62}) Katherina Reiche Erika Reinhardt Hans-Peter Repnik Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Hannelore Rönsch ({63}) Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose Adolf Roth ({64}) Dr. Christian Ruck Volker Rühe Dr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte Heinz Schemken Karl-Heinz Scherhag Gerhard Scheu Dietmar Schlee Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({65}) Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({66}) Andreas Schmidt ({67}) Birgit Schnieber-Jastram Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Erika Schuchardt Wolfgang Schulhoff Diethard Schütze ({68}) Dr. Christian SchwarzSchilling Horst Seehofer Rudolf Seiters Bernd Siebert Werner Siemann Wolfgang Steiger Erika Steinbach Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Andreas Storm Dorothea Störr-Ritter Thomas Strobl ({69}) Michael Stübgen Edeltraut Töpfer Gunnar Uldall Andrea Voßhoff Peter Weiß ({70}) Gerald Weiß ({71}) Annette Widmann-Mauz Heinz Wiese ({72}) Matthias Wissmann Dagmar Wöhrl Aribert Wolf Elke Wülfing Wolfgang Zeitlmann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gila Altmann ({73}) Marieluise Beck ({74}) Volker Beck ({75}) Angelika Beer Grietje Bettin Annelie Buntenbach Dr. Thea Dückert Dr. Uschi Eid Hans-Josef Fell Andrea Fischer ({76}) Katrin Dagmar GöringEckardt Antje Hermenau Ulrike Höfken Michaele Hustedt Monika Knoche Steffi Lemke Dr. Helmut Lippelt Oswald Metzger Kerstin Müller ({77}) Winfried Nachtwei Christa Nickels Cem Özdemir Simone Probst Claudia Roth ({78}) Christine Scheel Rezzo Schlauch Albert Schmidt ({79}) Werner Schulz ({80}) Christian Sterzing Hans-Christian Ströbele Jürgen Trittin Dr. Ludger Volmer Sylvia Voß Helmut Wilhelm ({81}) Margareta Wolf ({82}) F.D.P. Ina Albowitz Hildebrecht Braun ({83}) Ernst Burgbacher Jörg van Essen Gisela Frick Paul K. Friedhoff Horst Friedrich ({84}) Rainer Funke Dr. Wolfgang Gerhardt Joachim Günther ({85}) Dr. Karlheinz Guttmacher Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Der Gesetzentwurf ist damit mit der großen Mehrheit des Hauses angenommen worden. ({86}) Wir fahren jetzt in der Debatte fort. Als Nächste hat die Abgeordnete Gerda Hasselfeldt das Wort.

Gerda Hasselfeldt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000825, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt in diesem Haus eine breite Übereinstimmung darüber, dass wir eine Steuerreform brauchen. Es gibt auch eine breite Übereinstimmung darüber, dass wir eine solche wollen. ({0}) Ihr ständiges Gerede, Herr Poß, von einer Blockade ist, mit Verlaub gesagt, nichts als leeres Gequatsche ohne jegliche Grundlage. ({1}) Das Wort „Blockade“ war in der letzten Legislaturperiode angebracht. Sie haben damals nicht einmal einen eigenen Entwurf vorgelegt. Wir sind in diese AuseinanderDr. Helmut Haussmann Ulrich Heinrich Walter Hirche Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Ulrich Irmer Dr. Klaus Kinkel Dr. Heinrich Leonhard Kolb Gudrun Kopp Jürgen Koppelin Ina Lenke Sabine LeutheusserSchnarrenberger Günther Friedrich Nolting Hans-Joachim Otto ({2}) Cornelia Pieper Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Gerhard Schüßler Dr. Hermann Otto Solms Carl-Ludwig Thiele Dr. Dieter Thomae Jürgen Türk PDS Dr. Dietmar Bartsch Maritta Böttcher Heidemarie Ehlert Dr. Heinrich Fink Wolfgang Gehrcke Dr. Klaus Grehn Uwe Hiksch Sabine Jünger Gerhard Jüttemann Dr. Evelyn Kenzler Rolf Kutzmutz Ursula Lötzer Dr. Christa Luft Heidemarie Lüth Angela Marquardt Kersten Naumann Rosel Neuhäuser Christine Ostrowski Dr. Uwe-Jens Rössel Gustav-Adolf Schur Dr. Ilja Seifert Nein CDU/CSU Dietrich Austermann Peter Bleser Sylvia Bonitz Wolfgang Börnsen ({3}) Klaus Brähmig Georg Brunnhuber Leo Dautzenberg Albrecht Feibel Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Georg Girisch Dr. Wolfgang Götzer Horst Günther ({4}) Ernst Hinsken Martin Hohmann Josef Hollerith Siegfried Hornung Susanne Jaffke Steffen Kampeter Dr.-Ing. Dietmar Kansy Volker Kauder Peter Letzgus Julius Louven Elmar Müller ({5}) Franz Obermeier Kurt J. Rossmanith Anita Schäfer Norbert Schindler Michael von Schmude Clemens Schwalbe Wilhelm-Josef Sebastian Carl-Dieter Spranger Max Straubinger Hans-Otto Wilhelm ({6}) Klaus-Peter Willsch Werner Wittlich Peter Kurt Würzbach Benno Zierer Wolfgang Zöller Enthalten CDU/CSU Klaus Bühler ({7}) Hartmut Büttner ({8}) Dankward Buwitt Manfred Carstens ({9}) Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein Rudolf Kraus Dr. Karl A. Lamers ({10}) Dr. Manfred Lischewski Dr. Martin Mayer ({11}) Dr. Gerd Müller Norbert Otto ({12}) Dr. Rupert Scholz Margarete Späte Arnold Vaatz F.D.P. Marita Sehn PDS Eva-Maria Bulling-Schröter Christina Schenk Dr. Winfried Wolf Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU Abgeordnete Adler, Brigitte Bierling, Hans-Dirk Grießhaber, Rita BÜNDNIS 90/DIE SPD CDU/CSU GRÜNEN Moosbauer, Christoph Raidel, Hans Dr. Süssmuth, Rita SPD CDU/CSU CDU/CSU Prof. Weisskirchen, Gert ({13}) Wimmer, Willy ({14}) Zapf, Uta SPD CDU/CSU SPD setzung mit einem eigenen, ausformulierten, konkret durchgerechneten Entwurf gegangen. ({15}) Wir haben die Verhandlungen in den letzten Monaten im Finanzausschuss konstruktiv geführt. Wir haben im Vermittlungsausschuss auf die Defizite, auf die Schwachstellen hingewiesen. ({16}) Wir haben deutlich auf den falschen Grundansatz hingewiesen. Aber auf all diese Argumente sind Sie nicht eingegangen. ({17}) Dann können Sie von uns nicht erwarten, dass wir sehenden Auges einen falschen politischen Weg mitgehen, ({18}) dass wir sehenden Auges eine falsche politische Weichenstellung mittragen. Genau diese ist in diesem Gesetzentwurf vorhanden. ({19}) Auch in Ihren geänderten Vorschlägen ist der Grundansatz nach wie vor falsch und die Entlastungswirkung insbesondere für die Personenunternehmen und für die Arbeitnehmer unzureichend. ({20}) Die Konsequenzen, die dadurch zu verzeichnen sind, sind unsozial und ungerecht. Lieber Herr Poß, ich stimme mit Ihnen überein: Auch die Krankenschwestern müssen zu den Gewinnerinnen dieser Reform zählen. ({21}) Aber sie zählen eben nicht dazu, weil Sie die Arbeitnehmer letztlich ganz außen vor lassen. ({22}) Die Besteuerung der Sonntags- und Nachtzuschläge spielt da überhaupt keine Rolle. Ich komme gleich noch darauf zu sprechen. Der Grundansatz ist falsch. Ich sage Ihnen noch etwas zum Systemwechsel. Sie tun ja so, als wäre das Ganze etwas Neues gewesen und als wäre es eine Alleinveranstaltung unseres Fraktionsvorsitzenden. ({23}) Wissen Sie, es ist nicht unser Problem, dass wir einen Fraktionsvorsitzenden haben, der von der Steuerpolitik etwas versteht. Das ist Ihr Problem. ({24}) Wir haben von Anfang an auf die Konsequenzen dieser Systemumstellung - sie ist falsch - hingewiesen, nämlich als da sind: erstens die Bevorzugung der Unternehmen und Benachteiligung der Unternehmer - es ist schon bezeichnend, dass man überhaupt zwischen Unternehmen und Unternehmer trennt -; zweitens die Bevorzugung der Kapitalgesellschaften gegenüber den Personenunternehmen und den Arbeitnehmern; drittens die Bevorzugung der einbehaltenen Gewinne gegenüber den ausgeschütteten Gewinnen und viertens, nicht zu vernachlässigen, die Benachteiligung der Kleinaktionäre durch die Umstellung des Systems. ({25}) Das sind nur die wichtigsten Konsequenzen. Wir haben von Anfang an deutlich gemacht, dass unsere Alternative dagegen die Beibehaltung des bewährten Anrechnungssystems und die Senkung aller Steuersätze sowohl im Körperschaftsteuerbereich als auch im Einkommensteuerbereich beinhaltet. Wir haben von Anfang an darauf hingewiesen, dass die Gerechtigkeit und die Gleichmäßigkeit der Besteuerung sowie die gerechte Entlastung aller Steuerpflichtigen Ziel dieser Reform sein müssen. ({26}) Sie heben immer auf die 25 Prozent bei den Kapitalgesellschaften und die 43 Prozent Spitzensteuersatz bei den Personenunternehmen ab. Ich will darauf hinweisen, dass wir, bezogen auf das Jahr 2001, nicht über 43 Prozent reden. Vielmehr reden wir bei dem Vorschlag der Regierung im Jahr 2001 über folgende Situation: Körperschaftsteuersatz 25 Prozent, Spitzensteuersatz bei den Personenunternehmen und den Arbeitnehmern nicht 43 Prozent, sondern 48,5 Prozent. Das ist der treffende Vergleich. Wenn Sie etwa einen Bäckermeister und seine Familie mit einer Spitzenbelastung von 48,5 Prozent belasten und eine Backfabrik als GmbH mit einer Spitzenbelastung von 25 Prozent, dann stimmt da irgendetwas nicht. ({27}) Ich weiß sehr wohl zwischen dem Grenzsteuersatz und dem Durchschnittsteuersatz zu unterscheiden; das können Sie mir abnehmen. Sie müssen dabei berücksichtigen, dass beim Grenzsteuersatz, bei dieser 48,5-prozentigen Belastung, jede zusätzlich verdiente Mark ab einer gewissen Größenordnung mit diesem hohen Grenzsteuersatz zu versteuern ist. ({28}) Sie müssen bei diesem Beispiel des Bäckermeisters berücksichtigen, dass er von seinem gesamten Gewinn auch noch seine Familie ernähren muss, den Lebensunterhalt zu bestreiten hat und nicht alles im Unternehmen belassen werden kann. ({29}) Sie behaupten, die Systemumstellung sei notwendig wegen der so genannten Europatauglichkeit. Jetzt will ich Ihnen einmal sagen, was Sie dabei ändern. ({30}) Für den ausländischen Investor, der an einem inländischen Unternehmen beteiligt ist, ändert sich überhaupt nichts. ({31}) Da ist nämlich nur ausschlaggebend, wie hoch der Ausschüttungssatz ist. Er kann weder in dem einen noch in dem anderen Verfahren etwas anrechnen. Für den inländischen Investor, für den deutschen Bürger, der an einem ausländischen Unternehmen beteiligt ist, ist das neue Verfahren in der Tat besser. Für den deutschen Bürger, der eine inländische Beteiligung hat, ist das neue Verfahren besser, wenn er in der oberen Einkommensklasse ist, und schlechter, wenn er in der unteren Einkommensklasse ist. ({32}) Wenn man dies vergleicht, muss man sich die Frage stellen: Wo bleibt denn da die Gerechtigkeit, ({33}) wo bleibt das von Ihnen verfolgte Ziel, die Arbeitsplätze im Inland in den Vordergrund der Bemühungen zu stellen? Ich denke, dass eine Steuerreform folgende Ziele verfolgen muss: Sie muss erstens eine gerechte Besteuerung gewährleisten und zweitens zur Schaffung von Arbeitsplätzen im Inland beitragen. Genau diese beiden Ziele verfolgen Sie mit Ihren Vorschlägen nicht. ({34}) Was ist an Ihrem Entwurf zu verbessern? Sie haben einen Kompromissvorschlag vorgelegt, der eine Tarifänderung bei der Einkommensteuer ab dem Jahr 2005 vorsieht. Wenn wir von einer Senkung des Spitzensteuersatzes auf 43 Prozent reden, reden wir vom Jahr 2005 - das ist viel zu spät! Für die Jahre 2001 bis 2004 planen Sie Verschlechterungen. Wenn Sie die Tabellen vergleichen, wird deutlich, dass die Steuerpflichtigen in den Jahren 2001 bis 2004 gegenüber dem Gesetzentwurf, den Sie im Bundestag beschlossen haben, noch weniger entlastet werden, nämlich um 15 Milliarden DM weniger in diesen Jahren. ({35}) Das Optionsmodell ist nun vom Tisch. Sie sagen nun: Das wollt ihr doch immer. - Wir haben das Optionsmodell - zu Recht - immer kritisiert. Aber wir haben es nie isoliert kritisiert, sondern immer gesagt: Das Modell muss weg, weil es eine Krücke ist, um die Ungleichbehandlung zwischen Kapitalgesellschaften und Personenunternehmen zu umschiffen. Sie müssen die Wurzel des Übels bekämpfen. Die Wurzel des Übels ist eben diese Ungleichbehandlung und nicht allein das Optionsmodell. ({36}) Sie haben eine zweite Änderung vorgesehen, nämlich die Änderung bei der Gewerbesteueranrechnung. Das ist keine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung für den Mittelstand. Diese trifft den Mittelstand nicht erst ab dem Jahr 2005, sondern sie greift bereits im Jahre 2001. ({37}) Sie haben somit die leichten Verbesserungen im Tarif, die ich durchaus anerkenne, erst ab dem Jahr 2005 vorgesehen, während Sie alles Negative in Ihrem Kompromissvorschlag bereits für die Jahre 2001 bis 2004 zur Anwendung bringen wollen. Dass wir einem solchen Vorschlag nicht zustimmen können, sollte ein jeder begreifen, der sich mit dieser Materie beschäftigt. ({38}) Sie verweisen weiter darauf, Sie hätten eine Mittelstandskomponente eingeführt. Dabei anerkenne ich ausdrücklich, dass Sie von Ihrem Vorhaben, die Ansparabschreibungen und die Sonderabschreibungen nicht mehr zuzulassen, abgegangen sind und auch beim Mitunternehmererlass etwas korrigieren wollen. Ich muss Ihnen aber vorhalten, dass Sie nicht vollständig korrigieren. Für den Mittelstand besteht nach wie vor das ungelöste Problem - das Sie mit dem Steuerentlastungsgesetz erst geschaffen haben -,wie mit den Veräußerungsgewinnen bei Betriebsaufgabe umgegangen wird. Dieses Problem muss in einem Reformkonzept mit gelöst werden. ({39}) Wir wollen eine Reform, aber wir wollen eine gute Reform. Wir wollen eine Reform, die wir alle miteinander verantworten können. Wir wollen eine Reform, die alle Steuerpflichtigen entlastet und gerecht ist. Wir wollen eine Reform, die zum 1. Januar 2001 in Kraft tritt. Darum müssen wir in den nächsten Wochen ernsthaft ringen, nicht so oberflächlich, wie Sie es gemacht haben. Es geht nicht darum, Zeitdruck zu erzeugen, sondern darum, eine inhaltlich saubere und gute Reform für die Bürger dieses Landes zu machen. ({40})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Kerstin Müller.

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Merz, das, was Sie in den vergangenen Tagen und auch im Vermittlungsausschuss gemacht haben, kann man meines Erachtens nicht mehr mit Anfangsfehlern erklären. Sie wissen doch selbst, dass Sie mit dem störrischen Beharren, die Steuerreform wegen des Verfahrens der Besteuerung von Dividenden, der so genannten Systemfrage, zu blockieren, keinerlei Rückhalt in der Bevölkerung haben. Die Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande verstehen nicht, worum es geht. Fragen Sie einmal die Menschen auf der Straße, was sich hinter dem Begriff Systemfrage verbirgt. ({0}) Diejenigen, die aus ihrer täglichen Praxis wissen, worum es geht, raten Ihnen dringend, Ihren Widerstand aufzugeben. Zuletzt hat Sie gestern der Bundesverband deutscher Banken nachdrücklich aufgefordert, unserem Vorschlag zuzustimmen, meine Damen und Herren. ({1}) - Soll ich es zitieren? ({2}) - Hören Sie einmal zu! Vielleicht können Sie sich dann wieder ein bisschen beruhigen. Sie haben die so genannte Systemfrage nur deshalb in den Mittelpunkt gestellt, weil Sie fürchten, dass Sie, sobald es um die inhaltliche Debatte geht, Ihr eigenes Lager, die B-Länder, die CDU- und CSU-geführten Länder, nicht mehr zusammenhalten können. Die Länder brauchen eine Steuerreform, die die Länderhaushalte verkraften können. ({3}) Die Vorschläge, die Sie gemacht haben, sind nicht finanzierbar. Deshalb haben Sie jede konstruktive Debatte über wichtige Einzelfragen der Steuerreform konsequent torpediert. Erst haben Sie sich geweigert, überhaupt eine Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses einzurichten, dann haben wir von Ihnen in fünf Sitzungen des Vermittlungsausschusses nicht einen einzigen inhaltlichen Kompromissvorschlag gehört. Bis heute sind Sie nicht in der Lage, zu den zentralen Fragen der im Vermittlungsausschuss vorgelegten Steuerreform Stellung zu beziehen. Auch heute hat Frau Hasselfeldt hierzu nichts gesagt. Wie hoch soll nach Auffassung der Union die Gesamtentlastung von Bürgern und Wirtschaft ausfallen? Welchen Spitzensteuersatz, der auch finanzierbar ist, wollen Sie? Mit welchen konkreten Maßnahmen wollen Sie den Mittelstand tatsächlich entlasten? Vor allen Dingen: Wie wollen Sie sicherstellen, dass die Reform von Bund, Ländern und Kommunen auch dauerhaft finanzierbar ist? Auf all diese Fragen sind Sie bis heute die Antwort schuldig geblieben. Herr Stoiber und Herr Teufel wollen Geld verschenken, das die Ministerpräsidenten Müller, Biedenkopf und Vogel nicht haben. Die Landesregierungen von Saarland, Sachsen und Thüringen hoffen doch insgeheim, dass sich die Bundesregierung mit ihrem Konzept durchsetzt. ({4}) Und noch mehr gilt das für die Länder Brandenburg, Bremen und Berlin. In deren Haushalten ist doch jetzt schon „Land unter“ angesagt. Wie sollen diese Länder weitere Steuerausfälle finanzieren, meine Damen und Herren? ({5}) Inzwischen merkt es doch auch der Letzte: Sie verstecken sich hinter der Frage des Halbeinkünfteverfahrens, um zu vertuschen, dass es bei Ihnen drunter und drüber geht und dass Sie in Ihrem Lager bei diesen Fragen keine Einigung finden. ({6}) Wir dagegen haben gemeinsam mit den SPD-geführten Ländern einen Kompromissvorschlag vorgelegt. Dabei sind wir Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, weit entgegengekommen. Rot-Grün macht den Menschen und der Wirtschaft ein hervorragendes Angebot. Wir sorgen dafür, dass alle Steuerzahler nachhaltig entlastet werden. Insgesamt bringt die Steuerreform bis zum Jahre 2005 eine Entlastung von rund 56 Milliarden DM. Davon kommen drei Viertel den Privathaushalten und den kleinen und mittleren Unternehmen zugute. Wir senken schrittweise den Eingangsteuersatz, der 1998 noch bei 25,9 Prozent gelegen hat, in den nächsten vier Jahren auf 15 Prozent. Zusätzlich erhöhen wir den Grundfreibetrag. Wir senken den Spitzensteuersatz von 53 Prozent in 1998 in vier Jahren auf 43 Prozent und wir erhöhen die Einkommensgrenze, ab der dieser Satz gezahlt werden muss. Das ist die größte Steuerentlastung in der Geschichte der Bundesrepublik. Diese Steuerentlastung für die Menschen und die Wirtschaft wollen Sie im Moment verhindern. Das bringt Schaden für die ökonomische Entwicklung in der Bundesrepublik. ({7}) Wir entlasten auch und gerade kleine und mittelständische Unternehmen. Diese profitieren von der Reform, nicht nur im Wege der Senkung der Steuersätze. Sie werden zusätzlich entlastet, weil sie die Gewerbesteuer zur Hälfte auf die Einkommensteuer anrechnen können und weil die Anspar- und Sonderabschreibungen nach dem neuen Vorschlag doch beibehalten werden. Dafür haben wir Grüne uns von Anfang an besonders stark gemacht. Das ist für den Mittelstand und für eigenkapitalschwache Unternehmen in den neuen Ländern ganz besonders wichtig. ({8}) Genau das beschließen wir heute. Damit schaffen wir die Voraussetzung für mehr Investitionen, für mehr Arbeitsplätze und für mehr Ausbildungsplätze gerade im mittelständischen Bereich. Dies ist auch der Motor für jede weitere wirtschaftliche Entwicklung. Das Land wartet auf diese Reform. Sie ist sozial gerecht und fördert die Kaufkraft der Haushalte und die Investitionskraft der Unternehmen. Jede weitere Verzögerung hinsichtlich ihrer Umsetzung schadet dem Standort Deutschland. ({9}) Kerstin Müller ({10}) Unternehmen und Verwaltungen brauchen jetzt Planungssicherheit. Wenn Sie diese Reform weiterhin blockieren das wollen Sie ja tun -, dann machen Sie Politik gegen die Arbeitslosen und bremsen den weiteren wirtschaftlichen Aufschwung. ({11}) Ich komme gerne auf Ihr derzeitiges Lieblingsthema zurück. Sie verkennen mit Ihrer Kritik am Halbeinkünfteverfahren, dass nur das rot-grüne Steuerkonzept eine Senkung des Körperschaftsteuersatzes auf einheitlich 25 Prozent ermöglicht. Unter Ihrer Verantwortung hatte Deutschland die höchsten Unternehmensteuersätze weltweit. ({12}) Durch unseren Vorschlag erreichen wir - ohne Einbeziehung der Gewerbesteuer - mit einem Schlag Platz eins im internationalen Vergleich. Bei Berücksichtigung der Gewerbesteuer liegen wir noch immer im guten Mittelfeld. Noch eines: Hören Sie endlich auf, das Märchen von der Ungleichmäßigkeit der Besteuerung zu erzählen! Sie wissen doch genau, dass es unredlich ist, den reinen Körperschaftsteuersatz ausschließlich mit dem Spitzensteuersatz der Einkommensteuer zu vergleichen. Sie unterschlagen bei diesem Vergleich regelmäßig, dass auch die Kapitalgesellschaften Gewerbesteuer zahlen. Mit Gewerbesteuer zahlen diese tatsächlich nicht 25 Prozent, sondern im Schnitt nur rund 38 Prozent. Dagegen erreicht nach unserem Konzept fast kein Personenunternehmen auch nur annähernd einen Steuersatz von 38 Prozent, geschweige denn den Spitzensteuersatz. Im Gegenteil: Über 95 Prozent der Personenunternehmen liegen weit darunter. Fast 80 Prozent der Personenunternehmen haben einen Gewinn vor Steuern von unter 100 000 DM pro Jahr. Die übergroße Mehrheit dieser Unternehmen zahlt ab 2005 weniger als 20 Prozent Steuern, inklusive der Gewerbesteuer. Während Ihrer Regierungszeit, meine Damen und Herren von der Opposition, mussten die Personenunternehmen noch über 25 Prozent an Steuern verkraften. Das ist die Wahrheit über die Steuersätze in diesem Land. ({13}) Ihre Behauptung, wir würden Personenunternehmen mit unserem Konzept benachteiligen, ist eine freie Erfindung Ihrer Buchhaltertheorie, Herr Merz, und sonst gar nichts. ({14}) Unser Konzept ist gerecht, praktikabel und überzeugend. Nicht umsonst fordern Wirtschaft, Industrie und Banken seit Wochen, dass diese Steuerreform nicht verzögert werden und erst recht nicht scheitern darf. So schrieb zum Beispiel Herr Walter, Chefökonom der Deutschen Bank, am letzten Donnerstag in der „Welt“ - das möchte ich Ihnen wirklich nicht vorenthalten -: Das Steuersenkungsgesetz richtet sich eindeutig an Zielsetzungen aus, die zur langfristigen Sicherung der Wachstumsperspektive in Deutschland ohne Alternative sind. Weiter schreibt er: Wenn die Aufbruchstimmung in Deutschland im Sommerloch des Jahres 2000 dadurch verschwände, dass die Union den Reformwillen der Bundesregierung bei Steuern und Rente mit einer reinen, aber destruktiv wirkenden Prinzipiendebatte bricht, statt ihn mit möglichen Verbesserungen zu stärken, dann hilft das weder unserem Land noch der CDU/CSU. Freilich wird dann dieses Land zur internationalen Lachnummer. Das ist die Wahrheit. Dem braucht man nichts hinzuzufügen. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Michelbach?

Kerstin Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002741, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, heute nicht. Ausgerechnet das, wovor Dr. Norbert Walter warnt, haben Friedrich Merz und Angela Merkel mit den unionsgeführten Ländern verabredet, gegen jede Vernunft und gegen den erklärten Willen der deutschen Wirtschaft. Sie haben sich und die Union damit völlig isoliert. Auch das Ausland schaut mit Argusaugen auf uns; denn wenn wir zulassen, dass Sie sich durchsetzen, dann erhalten ausländische Investoren das Signal, dass sie künftig einen höheren Steuersatz zahlen müssten. Das wäre eine schlechte Nachricht, die Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, zu verantworten hätten. Wir, Grüne und SPD, wollen dagegen ein klares Zeichen setzen. Wir wollen einen einheitlichen Körperschaftsteuersatz von 25 Prozent. Wir wollen ausländisches Kapital für Deutschland gewinnen. Wir wollen Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze schaffen. Während Sie sich weiter um die Lehrmeinungen von einigen Professoren kümmern, sorgen wir für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Wir haben einen mutigen Kompromissvorschlag vorgelegt, einen Kompromiss, durch den alle Bürger und die Wirtschaft spürbar entlastet werden, eine Steuerreform, durch die die wirtschaftliche Entwicklung gefördert wird und durch die Arbeitsplätze geschaffen werden. An dieser Stelle möchte ich auch sagen: Wir sind dabei an die Grenze dessen gegangen, was die öffentlichen Haushalte von Bund, Ländern und Kommunen verkraften können. Wir wollen weiterhin eine seriöse Finanzpolitik betreiben. Wir wirtschaften nicht auf Kosten künftiger Generationen, wie Sie es über Jahrzehnte gemacht haben. Für uns gilt: Steuergerechtigkeit ist nur im Paket mit Generationengerechtigkeit zu haben. Mit uns wird es keine Steuerreform auf Pump geben. Das ist gegenüber den künftigen Generationen nicht zu verantworten. ({0}) Aber, meine Damen und Herren, da der Appell an die Vernunft hier im Bundestag bei Ihnen ins Leere zu gehen Kerstin Müller ({1}) scheint, lautet mein Appell an die Ministerpräsidenten von CDU und CSU: Wer jetzt blockiert, der zahlt später möglicherweise die Zeche. Sie sollten den Interessen Ihrer Länder folgen und sich nicht zum Büttel von CDUPräsidiumsbeschlüssen machen lassen. Das liegt nämlich nicht im Interesse Ihrer Länder. Ich kann Sie nur auffordern, dem Gesetzentwurf am nächsten Freitag im Bundesrat zuzustimmen. Die Regierungsfraktionen haben in den vergangenen Wochen unzählige Kompromissangebote gemacht. Wir sind der Opposition weit entgegengekommen. Wenn diese Steuerreform jetzt noch scheitert, dann tragen Sie die Verantwortung dafür. Kommen Sie endlich zur Vernunft und geben Sie Ihren Widerstand auf! Danke schön. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt spricht der Abgeordnete Carl-Ludwig Thiele.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Warum schicken die Grünen eigentlich keinen steuer- und finanzpolitischen Sachverstand in den Vermittlungsausschuss? ({0}) Warum haben die Grünen in der letzten Wahlperiode die Blockadepolitik von Oskar Lafontaine unterstützt? Warum haben sie nicht konstruktiv dazu beigetragen, dass es schon in der letzten Wahlperiode zu einer Steuerreform gekommen ist? ({1}) Die Grünen haben in der letzten Legislaturperiode gegen eine Nettoentlastungslüge polemisiert. Das zeigt ganz deutlich: Die Grünen wollen mehr Steuern und mehr Staat. Wir von der F.D.P. wollen hingegen weniger Steuern und weniger Staat. ({2}) Die F.D.P. bedauert, dass das Vermittlungsausschussverfahren zur Steuerreform gescheitert ist. Niemand ist heute Gewinner; die Bürger und die Steuerzahler sind Verlierer. Die Bürger erwarten von der Politik nicht nur Lösungsvorschläge, sondern auch Lösungen. Die F.D.P. hat schon zu Beginn der vergangenen Wahlperiode als erste Partei des Deutschen Bundestages eine Steuerreform mit einem Eingangsteuersatz von 15 Prozent und mit einem Spitzensteuersatz von 35 Prozent, mit einer deutlichen Entlastung der Bürger und der Unternehmen in unserem Lande, vorgelegt. Diese Reform wurde vom gesamten Sachverstand - auch vom Steuersystem her - als positiv bewertet. ({3}) Diese Reform ist von Rot-Grün blockiert worden. Das einzig Positive, das wir einräumen können, ist, dass RotGrün inzwischen erkennt, dass wir auch in einem Wettbewerb der Steuersysteme stehen und dass die Steuersätze gesenkt werden müssen. In dem Gesetzgebungsverfahren für diese Steuerreform hat die F.D.P. immer erklärt: Die Gleichmäßigkeit der Besteuerung ist für uns die zentrale Frage; es darf keine Benachteiligung des Mittelstandes, der Selbstständigen, der Handwerker und auch der Arbeitnehmer in unserem Land gegenüber den Kapitalgesellschaften geben. ({4}) Das ist die Kernforderung der F.D.P., von der wir nicht abrücken werden. Die Bürger erwarten von der Politik und den Politikern Glaubwürdigkeit. Wenn wir diese verspielen, dann tragen wir selbst zur Parteienverdrossenheit bei. ({5}) Neben den unterschiedlichen Runden, die der Herr Bundeskanzler nach Gutsherrenart zur Vorbereitung von Lösungsvorschlägen einberufen hat, gibt es ein überparteiliches Gremium, und zwar den Vermittlungsausschuss. Er ist in Art. 77 des Grundgesetzes konstituiert. Im Vermittlungsausschuss, wo eine Lösung gefunden werden soll, ist nicht irgendeine Parteiräson, sondern das Verantwortungsprinzip maßgeblich. Deshalb erwarten wir, dass spätestens in diesem Gremium die Bedenken und die Kritik der Opposition und der Länder tatsächlich Gehör finden, was vorher überhaupt nicht der Fall war. ({6}) Ich war schon erstaunt darüber, Herr Finanzminister, wie Sie diese Bedenken in den Beratungen des Vermittlungsausschusses als unbegründet und überhaupt nicht sachgerecht zur Seite gewischt haben. Herr Finanzminister Eichel, ich sage Ihnen das hier sehr persönlich: Es war Ihr Fehler, diese Kritik nicht aufzunehmen. Es war Ihr Fehler, diese Kritik als unwichtig und falsch einzuschätzen. Es war Ihr Fehler, eine Diskussion darüber abzulehnen. ({7}) Deshalb haben Sie selbst, Herr Finanzminister, das Zustandekommen dieser Steuerreform blockiert. Schon während des Gesetzgebungsverfahrens hat RotGrün gezeigt, dass es an einer Einigung mit der Opposition überhaupt nicht interessiert war: ({8}) Erstens. Die Zahl der Sachverständigen wurde willkürlich entsprechend rot-grüner Vorstellung reduziert, um unliebsame Kritiker auszuschalten. ({9}) Kerstin Müller ({10}) 78 Professoren haben sich hiergegen verwahrt. Ich zitiere aus ihrer Erklärung: Nachdem zur Anhörung vor dem Finanzausschuss Fachvertreter der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre wohlweislich nicht mehr eingeladen wurden, möchten wir auf diesem Wege versuchen, uns Gehör zu verschaffen. Es ist doch ein Armutszeugnis für dieses Parlament, dass im Vorfeld Kritiker ausgeschaltet werden. ({11}) Zweitens. Der erste Termin des Vermittlungsausschussverfahrens wurde mit Hilfe Ihrer Stimmenmehrheit so gelegt, dass die Vertreter der F.D.P. nicht daran teilnehmen konnten. ({12}) Das hat es überhaupt noch nicht gegeben. Normalerweise wird auf Bundesparteitage Rücksicht genommen. Drittens. Die Tagung des Vermittlungsausschusses am letzten Freitag wurde parallel zur Debatte über zehn Jahre Wirtschafts- und Währungsunion in unserem Lande durchgeführt. Als wir im Vermittlungsausschuss saßen, hat Ihr Sprecher vor der Tür Papiere verteilt und vor der Presse erläutert, die wir im Vermittlungsausschuss noch nicht einmal gesehen hatten. ({13}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wer im Verfahren bei der Behandlung berechtigter Interessen der Opposition zu erkennen gibt, dass ihm diese schnurzegal sind, wer sich mit seiner Verfahrensmehrheit rücksichtslos über die Opposition hinwegsetzt, ({14}) wer ein unechtes Vermittlungsausschussergebnis vorlegt, zeigt deutlich, dass ihm an einem Ergebnis in der Sache gar nicht gelegen ist. ({15}) Sie alle wissen doch selbst, dass das mutwillige Herbeiführen eines unechten Vermittlungsausschussergebnisses ein echtes Vermittlungsausschussergebnis unmöglich macht. Das war immer so und wird auch bei diesem unechten Vermittlungsausschussergebnis nicht anders sein. ({16}) Noch einmal zur Frage, warum es keine Bewegung gegeben hat: Die Hauptkritik der F.D.P. bleibt weiterhin, dass die Gleichmäßigkeit der Besteuerung von Kapitalgesellschaften auf der einen Seite und von Personen, Personengesellschaften, dem Mittelstand und den Arbeitnehmern auf der anderen Seite nicht gegeben ist. Der Mittelstand und die Arbeitnehmer werden bis zum Jahr 2004 deutlich höher belastet als die Kapitalgesellschaften. ({17}) Auch nach dem Jahre 2005 halten Sie diesen Systembruch weiter aufrecht, denn ein Spitzensteuersatz von 43 Prozent plus Solidarzuschlag steht dann einem Körperschaftsteuersatz von 25 Prozent gegenüber. Das ist nicht hinnehmbar. ({18}) Hier werden Sie sich noch erheblich bewegen müssen. Diese Spreizung der Steuersätze widerspricht Art. 3 des Grundgesetzes und dürfte deshalb verfassungswidrig sein. Dieser Verstoß gegen Art. 3 des Grundgesetzes wird jetzt noch deutlicher, nachdem Sie das Optionsmodell, das nie funktioniert hätte, gestrichen haben. Damit ist die Hoffnung vieler Personengesellschaften, sie könnten wie eine Kapitalgesellschaft steuerlich belastet werden, endgültig geschwunden. Dieses Feigenblatt ist weg. Die Verfassungswidrigkeit wird offensichtlich. ({19}) Das vorgelegte, geänderte Konzept reicht nach unserer Meinung bei weitem nicht aus: Erstens. Die Gleichmäßigkeit der Besteuerung ist nicht gewahrt. Die ideologische Unterscheidung, Unternehmen müssten entlastet werden, Unternehmer hingegen nicht, bleibt bestehen. Das ist eine krasse Benachteiligung des Mittelstandes, der Bürger und der Arbeitnehmer in unserem Lande. ({20}) Zweitens. Bei den Veräußerungsgewinnen wird der Mittelstand gegenüber den Großunternehmen weiter deutlich benachteiligt. Die rot-grüne Koalition hat zu Beginn dieser Wahlperiode durch die Abschaffung des halben Steuersatzes den deutschen Mittelstand um ein Viertel seines Vermögens enteignet. ({21}) Das ist die Wahrheit. Auf der anderen Seite sollen aber Veräußerungsgewinne für Kapitalgesellschaften komplett steuerfrei gestellt werden. Das kann nicht der richtige Weg sein. Das ist mittelstandsfeindlich und reine Willkür. Drittens. Der Kleinaktionär und Kleinanleger wird gegenüber dem Großaktionär drastisch benachteiligt. Viertens. Die Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen und der Abschreibungstabellen wirkt wie eine Desinvestitionsteuer und wird dafür sorgen, dass der Anreiz für Investitionen, die wir brauchen, um mehr Arbeitsplätze und Beschäftigung in unserem Land zu erreichen, nicht zum Tragen kommen kann. Fünftens. Das angebliche Entlastungsvolumen wird mit diesem Kompromissvorschlag in den Jahren 2001 bis 2004 um 15 Milliarden DM gekürzt. Auf der anderen Seite - die Steuerreform verfolgt eine Zeitschiene von 2001 bis 2005 - werden die Steuereinnahmen des Staates bzw. die Steuerbelastung der Bürger und der Wirtschaft um mehr als 200 Milliarden DM steigen. ({22}) Davon sollen ihnen 45 Milliarden DM als Entlastung zurückgegeben werden. ({23}) Gleichzeitig wird die Ökosteuer die Bürger mit zusätzlich 35 Milliarden DM belasten. Da wird jeder Bürger fragen: Wo bleibt die Entlastung? - Sie ist wahrhaftig nicht zu finden. ({24}) Aus Sicht der F.D.P. müssen die Bürger und der Mittelstand deutlich stärker entlastet werden als bisher geplant. Der Spitzensteuersatz muss deutlich unter 40 Prozent liegen. Das Sinken des Spitzensteuersatzes hat zwangsläufig eine Senkung des Tarifes auch für diejenigen Steuerpflichtigen zur Folge, die den Spitzensteuersatz nicht zu bezahlen haben. Das ist genau das Ziel, das wir anstreben. ({25}) Es ist auch unseriös, jeden Tag neue Zahlenspielereien auf den Tisch zu legen. Deshalb hat die F.D.P. in den vergangenen Wochen nicht täglich neue Modelle auf den Tisch gelegt. Unser Modell ist bekannt und hat die Sachverständigen und die Wirtschaft überzeugt. Es könnte noch heute übernommen werden, wenn Sie ein bisschen Mut hätten. ({26}) Das Steuersystem, das wir brauchen, benötigt niedrige Steuersätze, klare Regelungen und die Beachtung steuerlicher Grundsätze. Im Steuerrecht muss es nach Auffassung der F.D.P. bei einer Besteuerung entsprechend der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen bleiben. Deshalb dürfen Unternehmen nicht anders als Unternehmer belastet werden. Wie mein Kollege Solms in einer anderen Debatte in diesem Haus zu dem Thema erklärte, war die Aussage des Bundeskanzlers die wirtschaftspolitisch dümmste Aussage, die ein Bundeskanzler je gemacht hat. ({27}) Kapitalgesellschaften dürfen nicht anders behandelt werden als Handwerker, Selbstständige und Arbeitnehmer. Ich appelliere daher - damit komme ich zum Schluss, Frau Präsidentin ({28}) an die rot-grüne Koalition: Akzeptieren Sie endlich diese steuerlichen Grundsätze! Bürger erwarten vernünftige Lösungen und nicht nur gute Absichten. Die F.D.P. wird sich einer systematisch sauberen und vernünftigen Steuerreform nach einem erneuten Vermittlungsausschussverfahren nicht verschließen. Herzlichen Dank. ({29})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Zu einer Kurzintervention erhält jetzt der Kollege Oswald Metzger das Wort.

Oswald Metzger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002736, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Meine Damen und Herren! Ich finde es schon bemerkenswert, Herr Kollege Thiele - jetzt zunächst die Polemik, weil Sie in Ihrer Rede mit diesem Punkt eingestiegen sind -, dass jemand wie Sie heute solche Töne spuckt, der zur Zeit der alten Regierung Vorsitzender des Finanzausschusses war, der Mitglied einer Partei ist, die von 1969 bis 1998 fast ohne Unterbrechung die Vorsitzenden des Finanzausschusses gestellt hat, und der in Bezug auf Haushaltskonsolidierung, Steuersenkung und Lohnnebenkostensenkung in diesen 29 Jahren fast immer das Gegenteil von dem zu verantworten hatte, was Sie in Ihren Programmen geschrieben und öffentlich verkündet haben. ({0}) Ich bedauere, dass manche Kollegen, die sehr genau wissen, dass zu einer pragmatischen Position auch die Beachtung der finanziellen Machbarkeit und die Durchsetzbarkeit in Verhandlungen mit den Ländern im Rahmen des Vermittlungsausschusses gehört, so tun, als hätten sie keine Kenntnis von der Finanzlage der Länder, in denen Ihre eigenen Parteifreunde, Herr Thiele, mit regieren - in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen -, und wüssten nicht, dass sie dort sehr viel kleinere Brötchen backen müssen. Nicht umsonst haben die F.D.P. und die Union in den letzten zwei Wochen im Vermittlungsausschuss überhaupt keine Vorschläge gemacht. Sie führen lediglich zum Schein eine Diskussion über das Halbeinkünfteverfahren, obwohl inzwischen feststeht, dass sich Deutschland mit der von Ihnen gewollten Rückkehr zum Vollanrechnungsverfahren international isolieren würde. Wenn wir zum Vollanrechnungsverfahren zurückkehren würden, meine Damen und Herren, würde gerade angesichts der Internationalisierung der Wirtschaft im deutschen Steuerrecht ein Konzept festgezurrt, das nicht mehr wettbewerbsfähig wäre. ({1}) Deshalb entledigen Sie sie doch bitte in der Debatte Ihrer ideologischen Verblendung und kehren Sie auf die Sachebene zurück! Wir alle wollen Planungssicherheit für unsere Wirtschaft. Kollege Merz, wenn unser Fraktionsvorsitzender Rezzo Schlauch Sie heute Morgen als „Oskar Merz“ betitelte, so geschah das doch nicht ohne Grund. Sie versuchen ständig eine Blockadeposition herbeizureden - und das zu einem Zeitpunkt, da alle Fraktionen in diesem Parlament die Steuersätze für die Bürgerinnen und Bürger wirklich senken wollen. Lassen Sie ab von Ihrer Blockade! In neun Jahren, von denen Sie sieben Jahre lang Regierungsverantwortung getragen haben, wurde Deutschland hinsichtlich des ökonomischen Wachstums Schlusslicht in Europa. Gott sei Dank rücken wir seit Mai wieder an die Spitzenpositionen heran. Wenn wir aber Planungssicherheit für unsere Wirtschaft wollen, brauchen wir das Signal einer Steuerreform und keine Hängepartie über den Sommer. Anderenfalls sind Sie dafür verantwortlich, wenn die nächsten Frühindikatoren im „Handelsblatt“ im Gegensatz zur gestrigen Veröffentlichung einen Knick nach unten bekommen und die Aufbruchstimmung, die doch allenthalben spürbar ist, abbricht. ({2}) Wenn Sie glauben, mit dieser Strategie Erfolg zu haben und damit auch noch die Rentenreform in diesem Land verzögern zu können, dann wird die Union sich selber, aber vor allem unserem Land einen Bärendienst erweisen. Vielen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort zur Antwort hat Herr Kollege Thiele.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich vermute, ich bekomme eine ähnliche Redezeit wie der Kollege Metzger. Erstens. Herr Kollege Metzger, ich bin in den Debatten zu diesem Thema immer wieder darüber erstaunt, dass die letzten 16 Jahre immer als 16 Jahre bezeichnet werden und nicht als zweimal acht Jahre. ({0}) Es waren zweimal acht Jahre, davon einmal acht Jahre bis zur deutschen Einheit. In dieser Zeit wurde die Staatsquote von der alten Koalition um 2,5 Prozent gesenkt. ({1}) Im Jahre 1990 hätten wir keinerlei Neuverschuldung gehabt, wenn nicht die deutsche Einheit gekommen wäre, die wir - im Gegensatz zu vielen anderen in diesem Hause - gewollt haben und über die wir nach wie vor glücklich sind. ({2}) Es ist zwar richtig, dass zur Finanzierung der Kosten der deutschen Einheit bzw. der Sanierung der sozialistisch heruntergewirtschafteten DDR von uns Steuern und Sozialabgaben sowie die Neuverschuldung erhöht wurden. Aber ich sage Ihnen: Das war absolut alternativlos. ({3}) Und wenn Herr Eichel momentan beklagt, dass die Länder den Bund allein lassen, so war das beim Solidarpakt 1993 genauso der Fall. Rudi Walther von der SPD hat als Vorsitzender des Haushaltsausschusses immer erklärt, die Länder hätten sich an dieser Stelle ihrer Mitverantwortung entzogen. Das muss man erst einmal zur Kenntnis nehmen. ({4}) Seit 1990 haben wir versucht, die Staatsquote wieder zu senken und eine steuerliche Entlastung der Bürger zu erreichen. Es wird von Ihnen verschwiegen, dass der Familienleistungsausgleich in der vergangenen Legislaturperiode dazu führte, dass das Kindergeld von 70 auf 220 DM am Ende der Legislaturperiode gestiegen ist. ({5}) - Das ist Ihre Art der Geschichtsklitterung. Mir ist nicht bekannt, Herr Poß, dass Sie seinerzeit die Mehrheit in diesem Hause gehabt hätten. Das war nicht der Fall. Die Mehrheit hatte die Koalition der alten Regierung. Zum zweiten Punkt, dem Anrechnungsverfahren: Das Anrechnungsverfahren ist 1977 in der sozialliberalen Koalition mit dem Finanzminister Hans Apel eingeführt worden. Das war ein Riesensprung in Richtung mehr Einzelfallgerechtigkeit für den einzelnen Bürger, weil sichergestellt wurde - und das wird auch heute noch sichergestellt -, dass jeder Aktionär entsprechend seiner persönlichen Leistungsfähigkeit im Einkommensteuerrecht besteuert wird. Dass Sie diese Errungenschaft des Steuerrechts hier einfach opfern wollen, weil eine EuGH-Entscheidung Sie angeblich dazu verpflichtet, die aber tatsächlich dazu nichts hergibt, ist mir unbegreiflich. ({6}) Da nur der Staatssekretär des Finanzministers diese Auffassung vertritt, erwarte ich vom Finanzminister die Sprungkraft, bei der bisherigen gesetzlichen Regelung zu bleiben und von seinen unsinnigen Vorstellungen an dieser Stelle Abstand zu nehmen. ({7}) Drittens. Wenn Haushalte konsolidiert werden sollen -

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Thiele, Sie hatten drei Minuten Zeit für Ihre Antwort und die sind jetzt vorbei. ({0})

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Dann möchte ich zumindest ausreden.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe die Uhr genau im Blick; ich habe das auch Herrn Ramsauer erklärt. Herr Thiele hat sogar sechs Sekunden mehr als drei Minuten geantwortet.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich möchte gerne noch einen letzten Satz sagen, Frau Präsidentin, wenn Sie gestatten.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Nein, Herr Kollege Thiele. Kurzinterventionen dürfen drei Minuten dauern und nicht länger. Ich muss Sie bitten, wieder Platz zu nehmen.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Aber ich werde doch trotzdem einen letzten Satz sagen dürfen, Frau Präsidentin!

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich möchte Sie jetzt bitten, sich hinzusetzen.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Der Unterschied zwischen uns und den Grünen ist: Wir wollen die Steuern senken, die Grünen nicht.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Thiele, ich möchte Sie bitten, sich jetzt hinzusetzen! Das Wort hat nun der Abgeordnete Roland Claus.

Roland Claus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003065, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vielleicht kann ich ein wenig zu Ihrer Beruhigung beitragen: Gestern Abend haben wir alle Gerechtigkeit à la Schröder erlebt; vielleicht haben auch Sie das gesehen. Wir haben uns - unsere Fraktion in besonderem Maße bedrückt, da wir nicht im Vermittlungsausschuss vertreten sind - durch den Dschungel der Steuergesetze gequält, während unser Bundeskanzler eine, wie ich finde, lobenswerte Initiative ergriffen hat, indem er sich an der Bewerbung um die Austragung der Fußball-WM 2006 beteiligt hat. ({0}) Wir haben also die harten Bänke der Opposition drücken müssen, während er die Daumen für diese Bewerbung gedrückt hat. Ich wollte ihm eigentlich nur noch einen Tipp geben: Hätte der Kanzler den Kollegen Gregor Gysi mitgenommen, dann wäre er gestern Abend unter den Fußballzwergen nicht der kleinste gewesen. ({1}) Der Vermittlungsausschuss legt uns ein Ergebnis vor, das keines ist. Sie nennen es deshalb auch ein „unechtes Ergebnis“. Hier läuft genau das ab, was zu erwarten war: Die Koalition erklärt an die Adresse der CDU/CSU, dass diese schuld sei, dass die Politik der Koalition alternativlos sei, und die Opposition, vor allem die CDU/CSU, sagt, die Regierung sei daran schuld. Nun muss ich allerdings eingestehen: Der Kollege Merz hat sich wirklich in einem magischen Viereck verfangen. Da sind zu viele Dinge zusammengekommen: erstens die nicht ganz wegzuleugnende Verantwortung für die frühere Steuerpolitik der CDU/CSU, die in diesem Lande natürlich nicht vergessen ist; zweitens das unerwartete Lob der Industrie für die rot-grüne Regierung das passt ja nicht so richtig dazu -; drittens die traditionelle Kritik an der Regierung, die aus der Opposition notwendig wäre; viertens etwas, das in diesem Hause wirklich überrascht, und zwar die in der CDU/CSU-Fraktion so plötzlich entdeckte Verantwortung für soziale Gerechtigkeit. Da hat er sich also ein bisschen vermanövriert. ({2}) So hat er das Prinzip kennen gelernt, dass man sich in der Politik die meisten Beulen nicht vom politischen Gegner, sondern in den eigenen Reihen holen kann. ({3}) Ich neige ja nicht dazu, die PDS zu überschätzen, wie Sie wissen. Aber ich sage einmal ein bisschen salopp: So ein Murks kommt im Vermittlungsausschuss eben dann zustande, wenn Sie die PDS dort nicht mitmachen lassen. ({4}) Kompetenzen hinsichtlich knapper Kassen haben wir allemal. Ich will aber im Ernst sagen: Die PDS kritisiert nach wie vor und auch an dieser Stelle, dass wir durch unsere Nichtbeteiligung am Vermittlungsverfahren in unseren parlamentarischen Rechten eingeschränkt sind. Warum lehnt die PDS das Gesetz ab? ({5}) Erstens. Diese Reform stellt sich bei genauer Analyse als eine arbeitnehmerfeindliche Reform heraus. ({6}) Auch wir verkennen natürlich nicht, dass mit der Senkung des Eingangssteuersatzes ein Fortschritt erreicht ist. Aber im Verhältnis zu den Verbesserungen für Spitzenverdiener kommen die meisten Arbeitsnehmerinnen und Arbeitnehmer bei dieser Reform sehr schlecht weg. Ich will hier einfach einmal einen Fakt in Erinnerung rufen: Es ist erst zwei Wochen her, dass wir in dieser Republik etwas ganz Bemerkenswertes zur Kenntnis nehmen mussten, nämlich dass sich von 1990 bis 1999 die privaten Geldvermögen verdoppelt haben. Daher wäre es wirklich möglich gewesen, den Spitzenverdienern eine höhere Solidarität für die Gesellschaft abzuverlangen. ({7}) Das, was Sie vorhaben, sind Peanuts für die Malocher und Kniefälle vor den Banken und der großen Industrie. So offenbart sich wohl, was wirklich damit gemeint war, als der Kanzler zu Beginn seiner Amtsperiode sagte, er wolle nicht viel anders, aber vieles besser machen. Mit dieser Steuerreform hat er Dinge angepackt, die anzugehen Helmut Kohl sich nie getraut hat. Damit hat er leider - das ist unsere Kritik - einen weiteren Schritt auf dem Weg in die Ellenbogengesellschaft zurückgelegt. ({8}) Ein zweiter Punkt unserer Kritik: Diese Reform ist mittelstandsfeindlich und widerspricht marktwirtschaftlichen Prinzipien. Aber auch hier gibt es Fortschritte. Sie haben jetzt wieder die Beibehaltung der Ansparabschreibung vorgesehen. Das hätten Sie leichter haben können. ({9}) Die PDS hatte nämlich bekanntlich bei der zweiten und dritten Lesung des Steuergesetzes einen gleich lautenden Antrag eingebracht. Den haben Sie damals abgelehnt. Jetzt sehen Sie doch eine Beibehaltung vor. Dies ist zu begrüßen. Aber es ist nach wie vor eine Benachteiligung der kleinen und mittelständischen Unternehmen gegenüber der großen Industrie zu verzeichnen. Sie schreiben hiermit auf Dauer eine Ungleichbesteuerung fest - und das zulasten der allermeisten Personengesellschaften. Eine Alternative wäre möglich gewesen. Wir haben Ihnen eine progressive Körperschaftsbesteuerung vorgeschlagen. Ein dritter Punkt unserer Kritik: Dieses Gesetz richtet sich gegen die Länder und Kommunen und widerspricht dem Prinzip des Föderalismus; dies ist immerhin ein Verfassungsgrundsatz. Ich weiß, dass diese Kritik selbstverständlich auch aus Bayern kommt - und dies zu Recht; denn das Land Bayern ist nach jetzt vorliegenden Schätzungen, die von Steuerausfällen in Höhe von 14 Prozent ausgehen, am härtesten betroffen. Damit wird ein Verfassungsgrundsatz ernsthaft angegriffen. Ich frage mich in diesem Zusammenhang manchmal, ob die Videoüberwachung, die derzeit in aller Munde ist, nicht langsam in das Bundeskabinett gehört. Vierter Punkt unserer Kritik: Dies ist ein Gesetz, das sich gegen die neuen Bundesländer richtet, wenn ich nur an den Fakt erinnere, dass zum Beispiel Sachsen-Anhalt mit Steuerausfällen in Höhe von 500 Millionen DM rechnen muss. Mit dem Haushalt von Sachsen-Anhalt kenne ich mich reichlich aus; da habe ich viele Umschichtungen miterlebt. Wenn in einem Landeshaushalt im Zuge der Haushaltsverhandlungen 200 oder 300 Millionen DM umgeschichtet werden - das wissen Sie doch selbst -, dann ist das ein großer Akt. Wenn aber jetzt auf diesem Wege Steuereinnahmen in Höhe von 500 Millionen DM und mehr verloren gehen, dann geht der gesamte im Hinblick auf die landespolitische Gestaltung bestehende Spielraum flöten. Das kann man so nicht hinnehmen; das ist zu kritisieren. ({10}) Dann wird der immer als Gegenargument vorgebrachte selbst tragende Aufschwung infolge der mit diesem Gesetz beabsichtigten Steuerentwicklung nicht zum Tragen kommen. Für besonders bemerkenswert halte ich - ich hoffe, dass ich mich da irre -, dass es einen nicht unerheblichen Druck auf die neuen Bundesländer gegeben hat, diese Steuergesetze mit dem zweiten Solidarpakt zu verbinden. Ich möchte Ihnen einen fünften und letzten Punkt nennen, warum wir gegen dieses Gesetz sind: Es nimmt keine Rücksicht auf die über 10 Millionen sozial Schwachen in dieser Republik. Nun werden Sie sagen: Die kommen in diesem Gesetz gar nicht vor. ({11}) Genau das ist unsere Kritik. Sie kommen nämlich nicht vor. Aber sie sind von Kürzungen im Sozialbereich und von steigenden Lebenshaltungskosten betroffen. ({12}) Aus all diesen Gründen werden wir Ihren Vorschlag ablehnen. Politiker haben mitunter eine ganze Reihe von Sammelleidenschaften. Die einen sammeln Akten; Kohl gehört bekanntlich nicht dazu. Die anderen sammeln Kompromisse am Kamin; das tut unser Bundeskanzler sehr gern und nennt es dann Konsens. ({13}) Um bei meinem anfangs gebrachten Vergleich zu bleiben: In diesem Falle müssen Sie in die Verlängerung gehen, Herr Bundeskanzler. Ich hoffe, dass Sie bei der Bewerbung um die Fußball-WM 2006 mehr Glück haben als mit diesem Gesetz. Vielen Dank. ({14})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Bundesminister Hans Eichel.

Hans Eichel (Minister:in)

Politiker ID: 11003522

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als wir, der Bundeskanzler und ich, im Dezember vergangenen Jahres das Konzept zum Steuersenkungsgesetz, zur Steuerreform 2000 vorgelegt haben, da ging dem der Einstieg in die Haushaltskonsolidierung voraus. An den Anfang meiner Rede möchte ich daher die Frage stellen, die Sie bis heute nicht beantwortet haben: Bleibt es dabei, dass wir Haushaltskonsolidierung und Steuerentlastung in einem Paket und im Rahmen der international eingegangenen Verpflichtungen behandeln - ja oder nein? ({0}) Damit ist gleichzeitig die Frage verbunden, wie hoch das Entlastungsvolumen durch dieses Steuerpaket sein kann. Hier liegt der fundamental falsche strategische Ansatz der Opposition; ({1}) hieraus habe Sie sich - das sagen alle draußen - mit einer überraschenden Volte in eine völlig abwegige Systemdebatte geflüchtet. An der Haushaltskonsolidierung haben Sie sich nicht beteiligt. Ich kann mich nicht erinnern, von Ihnen irgendeinen hilfreichen Beitrag gehört zu haben. Sie haben in allen Haushaltsberatungen gesagt, überall müsse mehr ausgegeben werden. Denselben Kommentar haben wir auch zum Haushaltsplan für das Jahr 2001 gehört. ({2}) Aber wir müssen eine Haushaltskonsolidierung vornehmen und von den Schulden wegkommen. Ich sage ausdrücklich: Ja, die deutsche Einheit war eine besondere Last. Wir werfen Ihnen auch gar nicht vor, dass dadurch Ausgaben entstanden sind. Unser Vorwurf aber ist, dass Sie die Einheit nicht solide finanziert haben und wir dieses Versäumnis jetzt sozusagen abarbeiten müssen. Das ist das Problem. ({3}) Fünf Sitzungen lang sind Sie im Vermittlungsausschuss wie Ölgötzen dagesessen und haben keinen einzigen Ton gesagt. Übrigens, Herr Thiele - da Sie persönlich geworden sind -, ich kann mich nicht erinnern, von Ihnen im Vermittlungsausschuss einen Beitrag gehört zu haben. Ich erinnere mich wohl an Ihre Beiträge vor den Türen des Sitzungssaales, nicht aber im Ausschuss. ({4}) Eine Antwort auf die von mir eingangs gestellte zentrale Frage sind Sie schuldig geblieben, meine Damen und Herren. Schon im vergangenen Herbst haben Sie versucht, die Konsolidierungsdebatte zu unterlaufen, indem Sie den Menschen ein Wolkenkuckucksheim vorgegaukelt haben. Von Bayern, Baden-Württemberg und Thüringen liegt bereits ein Gesetzentwurf auf dem Tisch. Er findet aber keine Mehrheit, im Deutschen Bundestag nicht, aber natürlich auch im Bundesrat nicht, weil sich die Länder dies gar nicht leisten können. ({5}) Die CDU-Finanzminister kommen doch in mein Dienstzimmer und sagen, dass sie schon diese Steuerreform nicht bezahlen könnten. Das ist die Wahrheit! ({6}) - Gut, ich möchte Ihnen einige Namen nennen. Zum Beispiel Herr Müller hat in einer öffentlichen Diskussion mit mir gesagt - das musste er hinterher offenkundig revozieren -, ein nennenswert größeres Entlastungsvolumen, als ich es vorgesehen habe, könne man sich nicht leisten. Dies geschah in einer Diskussion mit dem Chefvolkswirt der Dresdner Bank, Dr. Friedrich. Auch der Staatssekretär im hessischen Finanzministerium - Sie haben ja alle zum Schweigen verdonnert - hat erklärt, Hessen sei an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit. Das können Sie in den Zeitungen nachlesen. Sie haben das Glück, dass Ihr Gesetzentwurf gar nicht erst zur Debatte steht, weil er nirgendwo eine Mehrheit gefunden hat; sonst müssten einige Leute die Finger heben. ({7}) Wir können also festhalten, dass die zentrale Frage, was überhaupt machbar und vereinbar ist, von Ihnen in fünf Sitzungen des Vermittlungsausschusses nicht beantwortet worden ist. Ich kann auch verstehen, warum eine Reihe von Finanzministern an dem Vermittlungsverfahren gar nicht erst teilgenommen hat. Das hätte ich an deren Stelle auch nicht getan, wenn ich so unter Kuratel stünde und wüsste, dass ich die eingangs gestellte Frage wahrheitsgemäß beantworten muss. Man hat ja schließlich eine Reputation zu verlieren. ({8}) Übrigens - aber das wissen Sie alles - haben Sie in der vergangenen Wahlperiode zwei Fehler gemacht. Der erste zentrale Fehler - das können Sie in dem Buch von Herrn Koch nachlesen -: Eine Steuerreform macht man nicht am Ende einer Wahlperiode, sondern am Anfang. Der zweite zentrale Fehler: Eine Steuerreform kann man nicht mit großen Steuersenkungen verbinden, wenn die Staatseinnahmen aus Steuern zurückgehen. Diese Einnahmen müssen steigen; ansonsten ist dies nicht machbar. Deswegen war völlig klar, dass niemand die Umsetzung der Petersberger Beschlüsse verkraften kann. Alle Länderhaushalte wären sonst sofort verfassungswidrig geworden. Dieses Problem haben die Länder auch für das Jahr 2001; inzwischen geben sie das indirekt zu. Ich höre ja jetzt schon aus München, dass man auf die schwächeren Länder Rücksicht nehmen müsse; der Bund solle gefälligst Privatisierungserlöse einsetzen. Herr Rauen beispielsweise hat erklärt, ich solle dafür die Erlöse aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen verwenden. Diese unseriöse Finanzpolitik, Herr Thiele, habe ich gemeint; wir betreiben sie nicht weiter. ({9}) Einmaleinnahmen darf man nicht für laufende Ausgaben einsetzen. Zu dieser Aussage gab es übrigens viel Zustimmung aus Ihren Reihen: von Frau Merkel, von Herrn Biedenkopf und auch von Kurt Faltlhauser, der dies noch in unserem gemeinsamen Gespräch mit dem „Handelsblatt“ bestätigte. Das ist das kleine Einmaleins einer seriösen Finanzpolitik, meine Damen und Herren. ({10}) Deswegen will ich von Ihnen wissen, was Sie für verkraftbar halten, quergeschrieben von allen Finanzministern, die Sie stellen. Dann will ich von Ihnen wissen, ob wir im europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt bleiben. Alle Europäer haben sich nämlich verpflichtet, im Jahre 2002 allenfalls noch ein Defizit von 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu haben; nach Möglichkeit sollten wir sogar Haushaltsüberschüsse haben. Bei dieser Planung bleibe ich, meine Damen und Herren. Aber bleiben auch Sie dabei? Was bedeutet dies denn für das Entlastungsvolumen? Die meisten europäischen Länder haben das Ziel schon erreicht. Es gibt eine Reihe von Ländern mit Haushaltsüberschüssen. Wir dagegen sind noch lange nicht so weit; das macht mir Sorgen. Wollen Sie denn im Zusammenhang mit dieser Steuerreform für Deutschland eine Debatte über das Nichteinhalten der Stabilitätskriterien einläuten, wie sie im vergangenen Frühjahr mit Italien geführt worden ist? Sie, meine Damen und Herren, waren es doch, die den Stabilitäts- und Wachstumspakt abgeschlossen haben. ({11}) Deswegen bleibt die erste Frage, auf die Sie bis heute jede Antwort schuldig geblieben sind: Welches Entlastungsvolumen ist verkraftbar? ({12}) Kriterium hierfür dürfen aber keine „voodoo economics“ sein nach dem Motto, ({13}) man müsse nur die Steuern ordentlich senken, dann werde das Wachstum so kräftig sein, dass es so viele Steuern gibt, dass man schneller aus den Schulden herauskommt und den Staatshaushalt sanieren kann; alle verdienen daran und das Schlaraffenland ist perfekt. Nein, meine Damen und Herren, so sieht die Wirklichkeit nicht aus! ({14}) Jeder von Ihnen, der einen Betrieb sanieren muss - der Bundeshaushalt, den ich übernommen habe, ist ein Sanierungsfall -, weiß, dass die Arbeitnehmer, die Eigentümer und die Banken etwas hergeben müssen. Am Schluss steht oft auch noch der Staat mit einer Bürgschaft daneben. Erst dann kriegen wir die Sanierung hin. Anders ist das nicht in Schweden und nicht in den Vereinigten Staaten gelaufen und anders wird es auch bei uns nicht laufen. Deswegen müssen Sie die von mir gestellte Frage einmal beantworten, meine Damen und Herren. ({15}) Vor diesem Hintergrund unternehmen wir große Anstrengungen zur Senkung der Steuern für alle. In diesem Zusammenhang erzählen Sie hier ja Märchen. Das Entlastungsvolumen beträgt 80 Milliarden DM und baut sich ab 2005 in drei Stufen nachhaltig auf. Das sind rund 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Davon kommen über 55 Milliarden DM bei den privaten Haushalten an, insbesondere - das sage ich ganz ausdrücklich - bei den Arbeitnehmern und Beziehern kleiner Einkommen. Aber Sie brauchen immer erst ein Verfassungsgerichtsurteil, bis Sie endlich Steuergesetze machen, die mit der Verfassung in Einklang stehen. ({16}) Das steuerfreie Existenzminimum war bei Ihnen unerträglich niedrig. In der ganzen Zeit, in der Sie an der Regierung waren, haben Sie die kleinen Einkommen verfassungswidrig hoch besteuert. ({17}) Das Verfassungsgericht musste Sie zu einer Änderung zwingen. ({18}) Das war der Grund für den Sprung beim steuerfreien Existenzminimum von 1995 auf 1996. Außerdem haben Sie die Familien verfassungswidrig besteuert. Das mussten wir in Ordnung bringen, meine Damen und Herren. ({19}) Uns dann zu erzählen, Sie wollten bei der Steuerreform die Arbeitnehmer stärker entlasten als wir, wirkt unglaubhaft angesichts der Tatsache, dass es noch gar nicht so lange her ist, dass Sie die Menschen kujoniert haben. Die Zahlen liegen alle auf dem Tisch. Nun komme ich zum Mittelstand: Von dem Entlastungsvolumen in Höhe von 80 Milliarden DM kommt der Teil, der nicht an die Privathaushalte geht, ausschließlich beim Mittelstand an; Sie wissen das auch. ({20}) Ich komme hier einmal auf die Kapitalgesellschaften zu sprechen. Sie, Herr Merz, haben im vergangenen Frühjahr von dieser Stelle aus gesagt, wir trieben mit dem Steuerentlastungsgesetz die Konzerne aus dem Land. Damals waren Sie der Patron der großen Unternehmen. Heute sollen wir das sein. Die Wahrheit ist aber ganz einfach folgende: Wir haben sie mit dem Steuerentlastungsgesetz ordentlich belastet. Das war auch verantwortbar. Jetzt entlasten wir sie mit ordentlich gesenkten Steuersätzen. Das geht für die Körperschaften als Nullsummenspiel aus. Die Gewinner aber sind die Personengesellschaften, also der Mittelstand, der um über 20 Milliarden DM entlastet wird. Sie kennen diesen Sachverhalt doch! ({21}) - Vorsicht, darauf komme ich gleich noch zu sprechen. Die Rechnung ist doch ganz einfach. Betrachten wir die Definitivbesteuerung der Körperschaften. Dabei lassen wir den Soli weg, weil ihn alle bezahlen. Ab 1. Januar nächsten Jahres zahlen die Kapitalgesellschaften 38 Prozent: 25 Prozent Körperschaftsteuer und 13 Prozent Gewerbesteuer. Bei den Personengesellschaften entfällt die Gewerbesteuer - auf diesen Punkt komme ich gleich noch einmal zu sprechen - durch die Anrechnung auf die Einkommensteuerschuld. Das bedeutet, dass überhaupt nur noch weniger als 5 Prozent der Personengesellschaften in die Gefahr geraten, eine höhere tarifäre Belastung zu haben als die Kapitalgesellschaften. Über 95 Prozent werden tarifär niedriger belastet als Kapitalgesellschaften. So einfach ist das. ({22}) Sie haben in einem Punkt Recht: Das Ganze passiert bei der Körperschaft in der Mitte der Wahlperiode, im Jahre 2001, auf einen Schlag, während die Senkung für die Personengesellschaften bereits begonnen hat. Das muss ich hier ausdrücklich erwähnen, weil Sie es Ihrerseits nicht tun. Die Senkung begann mit dem 1. Januar 1999 und verläuft systematisch in mehreren Schritten weil das alle betrifft, ist das sehr viel teurer - bis 2005. ({23}) Jetzt können Sie sagen - den Punkt kann ich zwar verstehen, aber es ist nur die halbe Wahrheit -: In 2001 geraten mehr als 5 Prozent der Personengesellschaften in die Gefahr, mehr zu zahlen als die Kapitalgesellschaften. Nun, vielleicht sind es 7 oder 8 Prozent, weil der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer in der Tat noch höher ist. Mehr Personengesellschaften wird das aber nicht betreffen. Wir haben noch ein paar weitere Veränderungen vorgenommen, und zwar auch mit dem Willen der Länder, jedenfalls mit dem der sozialdemokratisch geführten. Das hat dazu geführt, dass wir auf all das, was Sie vorher gesagt haben, eingegangen sind. Sie haben einen Strategiewechsel vorgenommen. Das hat jeder bemerkt, auch wenn Sie das hier am Rednerpult noch ein paar Mal bestreiten. Ein halbes Jahr lang haben Sie mit einem Gesetzentwurf aus München Ihre Politik bestritten und gesagt: Es muss mehr sein, die Sätze müssen weiter gesenkt werden. Ich habe immer gesagt: Wenn wir uns den Beratungen im Vermittlungsausschuss nähern, kommt die Stunde der Wahrheit. Wenn die Finger für die Entlastungsvolumina gehoben werden müssen, dann müssen die Länderfinanzminister sagen, was mit ihren Haushalten wirklich möglich ist. Siehe da: Sogar Herr Faltlhauser erklärt inzwischen, das Jahr 2001 sei ein Problem. Nun ist er nah genug an der Wahrheit. Sehen Sie, meine Damen und Herren, da lag Ihr eigentliches strategisches Problem. Sie hätten sich doch die Senkung des Spitzensteuersatzes, die wir zusätzlich angeboten haben, auf Ihre Fahnen schreiben können, Herr Merz. Sie hätten sich doch die Senkung der Progression, die Rechtsverschiebung - das ist nämlich das eigentlich interessante Thema - auf Ihre Fahnen schreiben können. Die bloße Senkung des Spitzensteuersatzes von 45 Prozent auf 35 Prozent kostet allein 50 Milliarden DM. Es glaubt doch kein Mensch, dass das finanzierbar ist. Jeder weiß doch, dass das nicht geht. ({24}) Sie hätten sich das im Vermittlungsverfahren auf Ihre Fahnen schreiben können. Wir haben für den Mittelstand noch ein paar Dinge erreicht: Wir haben den Freibetrag bei der Betriebsveräußerung, den Sie in der vorigen Wahlperiode auf 60 000 DM gesenkt haben, wieder auf 100 000 DM angehoben. Zu der Frage halber Steuersatz oder Fünftelungsregelung sage ich Ihnen, Herr Thiele: Für die meisten Fälle ist die Fünftelungsregelung günstiger als der halbe Steuersatz. Das ist die Wahrheit. Wir haben die Ansparabschreibung erhalten. Wir haben gleichzeitig - das waren Voten, die aus RheinlandPfalz gekommen sind - die Umstrukturierung für die Personengesellschaften erleichtert. Auch das kostet über 1 Milliarde DM. Man findet fast nichts mehr, was man im Bereich des Mittelstandes noch tun könnte, und das alles hätten Sie sich auf Ihre Fahnen schreiben können. ({25}) Zu der absurden Vorstellung, eine Systemfrage zur zentralen Frage zu machen, will ich Ihnen noch Folgendes sagen: ({26}) - Darauf komme ich sofort, Herr Michelbach. Vorsicht mit Ihrem Zwischenruf! Man hätte über diese Frage nachdenken können. Sehen Sie sich doch einmal an, was Sie in der Hand hätten, wenn Sie sich mit Ihrer Strategie, wenn sie nicht auf totale Blockade gerichtet wäre, Herr Merz, durchgesetzt hätten. Was hätten Sie denn in der Hand? Sie würden der staunenden Öffentlichkeit im Bundestagswahlkampf 2002 erklären: Wir haben zwar nichts mit der Senkung des Spitzensteuersatzes zu tun - das haben die von Rot-Grün gemacht -; wir haben zwar nichts mit der Rechtsverschiebung, der Progression zu tun - das haben die anderen gemacht -; wir haben nichts mit der Erhöhung des Freibetrags bei der Betriebsveräußerung und mit der Ansparabschreibung zu tun und wir haben auch nichts damit zu tun, dass der Mitunternehmererlass für die kleinen und mittleren Betriebe erhalten bleibt. Das alles haben wir, die Union, abgelehnt. Aber wir haben das Vollanrechnungsverfahren erhalten. Die Freude im nächsten Wahlkampf wird groß sein. ({27}) Verehrter Herr Merz, man könnte ja einmal die Probe aufs Exempel machen. Ich lasse mich gedanklich auf ein Spiel ein. Es kann ganz gut sein - dann hätten Sie sogar noch Glück -, dass bis dahin der EuGH das Ding aus der Welt geschafft hat, wie er es in Bezug auf die Niederlande bereits getan hat. Das wissen auch Sie alles. Wie lautete denn Ihre Antwort im Vermittlungsverfahren? Es war ja klar - auch Herr Milbradt hat das eingeräumt und es ist übrigens nicht nur eine Gruppe, die damit ein Problem hat -, dass nur noch ein Drittel der Dividenden über das Vollanrechnungsverfahren läuft. In einer internationalisierten Wirtschaft muss das auch so sein. Ausländische Unternehmer, die bei uns anlegen, fallen nicht mehr darunter. Inländer, die im Ausland anlegen, fallen ebenfalls nicht mehr darunter. Inländer, die steuerbefreit sind, haben nichts von dieser Veranstaltung. Deswegen fällt überhaupt nur noch ein Drittel der Dividenden unter das Vollanrechnungsverfahren. In einer internationalisierten Wirtschaft wird dieser Anteil immer geringer werden. Es gibt aber ein anderes Problem. Jetzt komme ich auf die Behauptung zurück, wir seien die Befürworter der Kapitalgesellschaften. ({28}) Für diese gibt es aber gar keine Entlastung. Fragen Sie einmal die Versicherungsunternehmen. Denen haben wir im vorigen Jahr ihre Bilanzen ganz schön verhagelt. Fragen Sie einmal die Energieversorgungsunternehmen. Sie wissen das, denn Sie haben das alles vor einem Jahr an dieser Stelle selber vorgetragen. ({29}) Aber, meine Damen und Herren, jetzt wollen wir einmal fragen: Welches ist denn der Sinn dieses Teils der Unternehmensteuerreform? Ein Sinn ist, die kleinen und mittleren Unternehmen, die 70 Prozent der Arbeitsplätze und 80 Prozent der Ausbildungsplätze stellen, ordentlich zu entlasten. Genau das machen wir. ({30}) Ein anderer Sinn ist: Die großen Unternehmen hatten nie das Problem. Sie haben dies übrigens von diesem Pult aus alles anders behauptet. Sie haben immer behauptet, die großen Unternehmen würden bei uns zu hoch besteuert. Übrigens war das, wenn es überhaupt der Fall war, zu Ihrer Regierungszeit. Darauf will ich nur hinweisen. Die großen Unternehmen gehen plus/minus null aus dem Geschäft heraus, aber sie bekommen ein international wettbewerbsfähiges Steuerrecht und international wettbewerbsfähige Steuersätze. Gehen Sie doch einmal raus und erklären Sie denen, dass sie einen Körperschaftsteuersatz von 30 Prozent behalten, statt einen von 25 Prozent zu bekommen. Dies müssen Sie denen einmal klarmachen. Dies ist ja fast eine Verschlechterung. Und Sie glauben - das habe ich mir angesehen -, damit bekäme man ausländische Investoren nach Deutschland? Die 90er-Jahre, für die Sie hauptsächlich die politische Verantwortung tragen - ich wische nicht weg, dass auch der Bundesrat beteiligt war, lieber Herr Thiele -, waren die wachstumsschwächsten in der deutschen Nachkriegszeit. Seit Mitte der 90er-Jahre steht Deutschland beim Wirtschaftswachstum auf dem vorletzten Platz. Dies ist nicht erst so, seit wir an der Regierung sind. Jetzt geht es wieder aufwärts. Ich will auch nicht sagen, dass das an uns liegt. Aber ich halte fest: Seit Mitte der 90er-Jahre sind wir beim Wirtschaftswachstum auf dem vorletzten Platz. ({31}) Ich will Ihnen gerne etwas vorlesen: Die ausländischen Direktinvestitionen sind bei uns eine Katastrophe. Slowenien hat mehr Auslandskapital bekommen als wir. Jetzt geht die Zahl hoch, aber Sie schlagen uns mit dem Vollanrechnungsverfahren einen Körperschaftsteuersatz von 30 Prozent vor. Dieser aber würde genau nicht dazu führen, dass auch wir ausländisches Kapital ins Land bekommen. Aber dies zu erreichen, ist die andere Aufgabe, die wir mit unserer Reform zu erfüllen haben. ({32}) Nun will ich noch etwas - ich weiß gar nicht, ob Sie wissen, wovon Sie an diesem Punkt reden - zur Gleichmäßigkeit der Besteuerung sagen. ({33}) Nicht nur die Öffentlichkeit versteht das gar nicht; auch Ihre Vermittlungsausschussmitglieder verstehen es zum Teil nicht. Herr Rauen hat uns 20 Minuten lang gesagt, dass wir den Mittelstand kaputtmachen, und hat das auf das Halbeinkünfteverfahren bezogen. Damit hat es aber nun gar nichts zu tun. ({34}) Er hat das Optionsmodell gemeint. Sehen Sie, so informiert sind Sie über die Themen. ({35}) Jetzt frage ich Sie einfach, was Sie meinen. Wenn Sie meinen sollten, dass bei der Besteuerung der Kapitalgesellschaften der Steuersatz für thesaurierte Gewinne definitiv mit dem Spitzensteuersatz in der Einkommensteuer identisch sein sollte, sage ich Ihnen: Aus dieser Situation sind Sie selber ausgestiegen, und zwar im Jahre 1990. Bis dahin stimmte das. Bis dahin lag der Körperschaftsteuersatz für thesaurierte Gewinne bei 56 Prozent und der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer ebenfalls. Seit 1990 ging der Körperschaftsteuersatz weil Sie gemerkt haben, dass es international nicht funktioniert - auf 50 Prozent runter, der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer aber nur auf 53 Prozent. 1995 sank er - da liegt doch das Problem - auf 45 Prozent. Das, was Sie hier offenbar kritisieren - mir ist immer noch nicht ganz klar, was Sie eigentlich meinen -, haben Sie doch selber eingeführt. Ein entscheidender Unterschied zu uns heute ist: Sie haben in beiden Fällen die Gewerbesteuer vorgesehen. Wir haben die Gewerbesteuer für die Personengesellschaften als Kostenfaktor beseitigt. Nun will ich Ihnen sagen, was wir von Ihnen übernommen haben. 1998 hatten wir eine Spreizung zwischen der Körperschaftsteuer plus Gewerbesteuer und dem Spitzensteuersatz der Einkommensteuer plus Gewerbesteuer von acht Punkten. Sie haben Recht: Die Differenz steigt kurzfristig ein bisschen, nämlich auf 10,5 Prozent ab dem 1. Januar 2001. Aber bereits in 2003 sinkt sie auf neun Punkte - Sie hatten acht - und geht in 2005 auf fünf Punkte zurück. Das ist so wenig, wie es das zu Ihrer Zeit nie gab. ({36}) Mir ist aber noch immer nicht klar, was Sie mit Gleichmäßigkeit meinen. In diesem Punkt wird unser Steuerrecht am Ende der Legislaturperiode jedenfalls deutlich besser sein als das, was Sie uns hinterlassen haben. ({37}) In anderen europäischen Ländern gibt es allerdings eine Riesenspreizung. Betrachten Sie einmal die Niederlande. Die Niederlande haben einen KörperschaftsteuerBundesminister Hans Eichel satz von 35 Prozent und bei der Einkommensteuer einen Spitzensteuersatz von 60 Prozent. Wir müssen eine Steuerreform machen, die die Unternehmen in Deutschland im europäischen Umfeld und auch im amerikanischen Umfeld wettbewerbsfähig macht. Muss ich Ihnen das erzählen? Muss Ihnen das ein sozialdemokratischer Finanzminister sagen? ({38}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie sprechen von der Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Dann will ich doch einmal darauf hinweisen, dass Sie eine Situation geschaffen und in Ihrem Modell beibehalten haben, in der der Handwerksmeister und der Einzelhändler höher besteuert werden als der Freiberufler und der Arbeitnehmer. Diese ungleiche Besteuerung beseitigen wir. Das ist Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Wovon reden Sie in diesem Zusammenhang also überhaupt? Deswegen ist Ihre Behauptung, der Mittelstand komme bei diesem Gesetz schlechter weg, falsch und in allen Aspekten widerlegbar. Die Reform, die Sie uns anbieten, ist, wenn der Vorschlag von Bayern und Baden-Württemberg ernst genommen wird, für die öffentlichen Kassen unbezahlbar und beschert uns im Übrigen noch nicht einmal international wettbewerbsfähige Steuersätze bei der Körperschaftsteuer. Das macht keinen Sinn. ({39}) Wir tragen die Verantwortung, diese Steuerreform in Gang zu setzen. Sie, Herr Merz, machen einen schwerwiegenden Fehler, wenn Sie sagen: Besser keine Steuerreform als diese. Das sehen Sie in diesem Lande ganz alleine so. ({40}) Ich will das jetzt gar nicht weiter vertiefen. Sie wissen das ganz genau. Lesen Sie einmal nach, was der Internationale Währungsfonds vorgestern zu unserer Steuerpolitik geschrieben hat. Sie wissen ja, wer an der Spitze des IWF steht. Ich will Herrn Köhler gar nicht für alles verantwortlich machen. Aber der Internationale Währungsfonds, der die weltweit höchste Autorität bei der Beurteilung dieser Fragen hat, sagt: Jawohl, ihr seid genau auf dem richtigen Wege, mit eurer Haushaltskonsolidierung genauso wie mit eurer Steuerpolitik. Er sagt weiter: Wir können hinnehmen, dass 2001 - das habe ich immer gesagt wegen des Vorziehens der Steuerreform - das Defizit einmalig ein Stückchen wächst. Aber eigentlich solltet ihr auch das nicht machen. Sie müssen sich überlegen, was das bedeutet. Das heißt, zumindest die internationalen Institutionen sagen - übrigens die Europäische Zentralbank, die Europäische Kommission und alle anderen Finanzminister der Europäischen Union ganz genauso -: Ihr dürft keine Steuerreform mit einer Erhöhung des Staatsdefizits machen. Recht haben sie. Deswegen, meine Damen und Herren: Sie sind da eine Antwort schuldig. Sie dürfen nicht nur einen Hinweis auf eine Systemfrage geben, die wir übrigens gar nicht erfunden haben. Es handelt sich hierbei um eine Frage der praktischen Vernunft. Sie haben dazu nur erklärt: Na gut, dann lassen wir uns eben vom Europäischen Gerichtshof verurteilen. - Das ist keine vernünftige Maxime für die Steuerpolitik. ({41}) Wir haben hier alle eine Verantwortung und der Bundesrat hat eine Verantwortung. ({42}) Jeder weiß, worum es geht, weil alles offen ausgetauscht wird. Wir haben eine Fülle von Angeboten gemacht, die Sie alle hätten übernehmen können. Sie hätten sich damit schmücken können. Es geht in Wirklichkeit um die Frage, ob der Herr Merz seine Autorität als Fraktionsvorsitzender durchsetzen kann oder nicht. Das ist alles. ({43}) Genauso wird die Sache in den Landeshauptstädten auch diskutiert. Sie müssen sich überlegen, ob Sie mit dem Föderalismus in Deutschland so umgehen wollen ({44}) oder ob Sie sagen: Föderalismus heißt, dass die Interessen der Länder richtig wahrgenommen werden, und nichts anderes. ({45}) Sie alle haben eine Verantwortung. Die CDU/CSU trägt in einer Fülle von Landesregierungen die Verantwortung. Die F.D.P. kommt übrigens in dieser ganzen Debatte, solange sie in der Babylonischen Gefangenschaft bleibt, überhaupt nicht vor und wird auch nicht gebraucht, wenn sie sich so verhält. Sie müssen doch sehen, was Sie da anrichten. ({46}) Meine Damen und Herren, es ist nicht vernünftig, was Sie an dieser Stelle tun. Wenn Sie das Ganze weiter blockieren, schaden Sie dem Land. Und jeder weiß auch, wer hier blockiert. ({47})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Friedrich Merz.

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Eichel, ich habe mir, als ich sie hier gehört habe, so gedacht: Besonders souverän und in der Sache überzeugend war dieser Auftritt des Finanzministers nicht. ({0}) Ich habe eine Bitte: Wenn Sie beim nächsten Mal Finanzminister der Länder zitieren, die Ihr Dienstzimmer aufsuchen, dann sagen Sie uns doch wenigstens, wer das war. ({1}) Wenn Sie es nicht tun, setzen wir einen Untersuchungsausschuss ein und werden Ihre Terminkalender beschlagnahmen, Herr Eichel. ({2}) Ich habe nämlich den Verdacht, dass Sie immer wieder versuchen, mit Gesprächen Eindruck zu schinden, die in Wahrheit gar nicht stattgefunden haben. ({3}) Herr Eichel, wir haben keinen Entwurf der Länder Bayern und Baden-Württemberg, sondern einen Gesetzentwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion eingebracht. Alle unionsregierten Länder haben im Bundesrat einen Gesetzentwurf für eine große Steuerreform eingebracht. Das unterscheidet uns von Ihnen, als Sie in der Opposition waren: Wir haben eine klare Alternative angeboten. ({4}) Zu dieser Alternative zählt, dass wir in der Tat die gleichmäßige Entlastung von großen, mittleren und kleinen Unternehmen genauso wie von Arbeitnehmern wollen. Ich habe in diesem Zusammenhang immer gesagt: Wir sind bereit, uns über Zeitpläne, über Entlastungsvolumina, über Steuertarife und über den Körperschaftsteuersatz zu unterhalten. Das alles haben wir immer zur Diskussion gestellt. Aber die Haushaltskonsolidierung ist von uns nie infrage gestellt worden. ({5}) Die Notwendigkeit einer Haushaltskonsolidierung ist von uns immer bestätigt worden. Damit wir auch wissen, worüber wir hier sprechen, will ich Ihnen nur eine Zahl nennen. In den Jahren von 1998 bis 2001 nehmen allein die Steuereinnahmen des Bundes von 341 Milliarden DM auf 442 Milliarden DM, also um mehr als 100 Milliarden DM, zu. Das ist das Dreifache des Entlastungsvolumens, das Sie den Bürgern dieses Landes bis zum Jahre 2005 in Aussicht stellen. ({6}) Nun tun Sie nicht so, als ob mit den von uns gemachten Vorschlägen das notwendige und richtige Ziel der Haushaltskonsolidierung infrage gestellt wird. Herr Eichel, die Wahrheit ist: Seitdem diese Regierung im Amt ist, steigt die Steuerquote, steigt die Abgabenquote, steigt der Anteil des Staatsverbrauchs am Sozialprodukt und ist Stillstand auf dem Arbeitsmarkt eingetreten. Das ist die Wahrheit. ({7}) Ich will ein Zweites sagen, was uns in dieser Frage grundlegend voneinander unterscheidet: Wir führen hier keine Debatte über steuerpolitische Dogmen, sondern wir führen eine Diskussion um die Frage, wie ein begrenztes Entlastungsvolumen, das Bund, Länder und Gemeinden aufbringen müssen, gleichmäßig auf große, mittlere und kleine Unternehmen sowie auf Arbeitnehmer verteilt werden soll. Für eines lassen wir uns nicht mit in Haftung nehmen: Sie haben gerade selbst zugegeben, dass Sie im letzten Jahr die Körperschaften in der Bundesrepublik Deutschland mit einer drastischen Verschärfung der Gewinnermittlungsvorschriften steuerlich erheblich höher belastet haben. Offensichtlich haben Sie denen dabei versprochen, dass es im nächsten Jahr eine Senkung des Körperschaftsteuersatzes auf 25 Prozent geben wird. Herr Eichel, wir lassen uns für die Fehler, die Sie im letzten Jahr gemacht haben, nicht durch niedrigere Körperschaftsteuersätze in Haftung nehmen. ({8}) Es geht in der Tat um eine große Steuerreform, die dieses Land dringend braucht. Wir wollen aber eine Steuerreform, die auch und gerade den Mittelstand erreicht, und keine Steuerreform, die nur die großen Kapitalgesellschaften mit angeblich international wettbewerbsfähigen Körperschaftsteuersätzen ausstattet. ({9}) Es mag ja sein, dass Sie den guten Rat, den Sie während der Ausschusssitzungen nie hören wollten, in den Wind schlagen, auch wenn er öffentlich erteilt wird. Es kommt nicht darauf an, ob das gewählte Verfahren als Anrechnungsverfahren oder Halbeinkünfteverfahren bezeichnet wird. Es kommt entscheidend darauf an, dass Anteilseigner an Unternehmen - sei es an Kapitalgesellschaften oder an Personengesellschaften - steuerlich gleich behandelt werden. Das ist der entscheidende Punkt. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Merz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Dr. Barbara Hendricks?

Friedrich Merz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002735, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, Frau Präsidentin, ich möchte meine Rede gerne im Zusammenhang vortragen. ({0}) - Entschuldigung, ich möchte das jetzt gerne im Zusammenhang vortragen und mich nicht durch Zwischenfragen unterbrechen lassen. ({1}) Wenn es richtig ist, was Sie hier bezüglich der gleichmäßigen Entlastung des Mittelstandes sagen, warum muss der Mittelstand in der Bundesrepublik Deutschland dann bis zum Jahr 2005 warten, während gleichzeitig für die großen Kapitalgesellschaften die Körperschaftsteuersätze zum 1. Januar 2001 gesenkt werden? Warum? ({2}) Sie haben am letzten Freitag so genannte Kompromissvorschläge unterbreitet. Der Inhalt dieser Kompromissvorschläge, die Sie auch im Vermittlungsausschuss verbreitet und vorher der Presse gegeben haben - Ihr Vorgehen hat auch etwas mit Stil und Umgang zu tun; aber sei es drum -, ({3}) entpuppt sich bei Licht betrachtet als eine weitere Verschlechterung der Lage des Mittelstandes. Das weisen Sie in Ihren Finanztableaus ja selbst aus. Gerda Hasselfeldt hat bereits darauf hingewiesen. Für die Jahre 2001 bis 2004 wird der Mittelstand gegenüber dem, was Sie hier mit Ihrer rot-grünen Mehrheit beschlossen haben, noch einmal um 15 Milliarden DM höher belastet, bis dann im Jahr 2005 eine Entlastung eintreten soll. ({4}) Ich will in diesem Zusammenhang ein weiteres wichtiges Thema ansprechen: Wie halten Sie es eigentlich mit der Steuerfreistellung der so genannten Veräußerungserlöse? Sie haben für die großen Kapitalgesellschaften in Aussicht gestellt, eine solche ab dem Jahre 2001 vorzunehmen. Nun soll diese Freistellung auf das Jahr 2002 verschoben werden. Darüber gibt es mit Recht ziemlichen Ärger; aber das ist Ihre Sache. Was aber machen Sie mit den Veräußerungserlösen im Bereich des Mittelstandes? Was passiert mit denen, die beispielsweise ihr Unternehmen an die nächste Generation weitergeben wollen? In diesem Fall werden die Veräußerungsgewinne voll versteuert. Dort, wo es um Kapitalgesellschaften geht, werden die Veräußerungserlöse steuerfrei gestellt. Das hat weder mit einer Gleichmäßigkeit der Besteuerung noch mit einer Mittelstandsförderung etwas zu tun. ({5}) Ich will Sie nun auf eine Konsequenz Ihrer Steuerpolitik aufmerksam machen, die Sie selbst wahrscheinlich noch gar nicht gesehen haben. Sie kritisieren Vorschläge mit den Schlagworten Krankenschwester und Chefarzt, die wir gar nicht gemacht haben. Ich will mich auf das konzentrieren, was Sie vorschlagen und was in diesem Lande Wirklichkeit werden soll. Sie wollen mit der Absenkung der Körperschaftsteuersätze eine differenzierte Besteuerung der Unternehmen gegenüber den natürlichen Personen erreichen. Was ist die Folge davon? Jemand, der in diesem Land ein großes Vermögen besitzt, ist gut beraten, mit In-Kraft-Treten dieser Steuerreform die Vermögensverwaltung von privater Hand auf eine GmbH zu übertragen. Die Folge ist, dass die Vermögenserträge in privater Hand, in einer GmbH organisiert, in Zukunft nur noch mit 25 Prozent besteuert werden. Was soll eigentlich Ihre viel zitierte Krankenschwester davon halten, wenn sie mit dem oberen Teil ihres Einkommens mittlerweile den Spitzensteuersatz von 48,5 Prozent erreicht ({6}) und der Chefarzt mit seiner Vermögensverwaltung durch eine GmbH nur noch 25 Prozent Steuern bezahlt? ({7}) Meine Damen und Herren, die Steuerberater in der Bundesrepublik Deutschland, die eine Mandantschaft haben, die zu den Vermögenden in diesem Land zählen, lachen sich über die Vorschläge im Hinblick auf die Vermögensverwaltung tot, die von der rot-grünen Bundesregierung kommen. ({8}) Sie, Herr Eichel, haben nicht ohne Grund darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber in der Bundesrepublik Deutschland mehrfach vom Bundesverfassungsgericht aufgefordert worden ist, eine verfassungskonforme Steuergesetzgebung zu machen. Das war in der Tat begründet. Angesichts der von mir beschriebenen eklatanten Verletzung des Grundsatzes der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, eines Grundsatzes, der in der Bundesrepublik Deutschland Verfassungsrang hat, der dem Gleichbehandlungsgebot des Grundgesetzes entspricht, frage ich: ({9}) Erwarten Sie allen Ernstes, dass wir einer Steuergesetzgebung zustimmen, die erneut die Frage aufwirft, ob nicht Teile unseres Steuerrechts in der Bundesrepublik Deutschland verfassungswidrig sind? Hierfür bekommen Sie die Zustimmung der Union nicht, Herr Bundesfinanzminister. ({10}) Nun rühmt sich diese Regierung besonders gern ihrer Hinwendung zur so genannten New Economy. Ich habe Ihnen bei der ersten Lesung am 18. Februar 2000 von dieser Stelle aus den Vorwurf gemacht, es handele sich bei der Steuerreform, die Rot-Grün mache, um eine Steuerreform, die sich im Wesentlichen auf die Old Economy konzentriere. Daraufhin habe ich viel hämisches Gelächter bekommen. In der Zwischenzeit haben einige Leute nachgerechnet, welche Konsequenzen diese Steuerreform hat. Kein Geringerer als der Chef des Weltwirtschaftsinstituts in Kiel, Professor Siebert, der nicht im Verdacht steht, immer mit dem einverstanden gewesen zu sein, was wir in früheren Jahren gemacht haben, hat in jüngster Zeit darauf hingewiesen, dass diese Steuerreform die Sachkapitalbildung in den Unternehmen privilegiert und die Bildung von Humankapital diskriminiert. ({11}) Was hat das noch mit New Economy und moderner Wirtschaftspolitik zu tun, wenn alte Unternehmen steuerlich entlastet und junge Unternehmensgründer der New Economy höher belastet werden, Herr Eichel? Nichts. ({12}) Deswegen ist es völlig richtig, was Professor Siebert vor einigen Tagen sagte - wörtlich -: Der Steuersatz sollte gerade in der neuen Informationsgesellschaft zwischen Unternehmen und natürlichen Personen nicht gespalten sein, wenn man Wachstumskräfte in der Breite freisetzen will. Meine Damen und Herren, es gibt eine ganze Reihe von ernsthaften sachlichen Einwendungen gegen das Konzept der rot-grünen Steuerreform. Damit es allen, die uns in dieser Debatte zuhören und langsam die Nase voll davon haben, dass wir zu keinem Ergebnis kommen, klar wird, worum es geht: Wir streiten nicht über irgendwelche steuertechnischen Verfahren, sondern wir streiten über die Grundfrage, ob es in der Bundesrepublik Deutschland auch in Zukunft dabei bleibt, dass die Einkünfte und Gewinne, gleich wo sie entstehen und wie sie verwendet werden, steuerlich neutral behandelt werden und steuerlich gleich belastet werden. Das ist die entscheidende Frage, um die es geht. ({13}) Es ist ja wahr, dass dies alles sehr schwer verständlich ist. Aber wir gehören zu denen, die noch immer bereit sind, sich auch einmal einen Rat von außen anzuhören, ihn anzunehmen und über ihn nachzudenken. ({14}) Man muss nicht in allen politischen Fragen der Wissenschaft folgen. Manches findet dort auch ziemlich weit von der Realität entfernt statt. Aber die 78 Professoren, die einen geradezu dramatischen Aufruf an die deutsche Öffentlichkeit gerichtet haben, ({15}) den Fehler, den Sie jetzt planen, nicht zu machen, schließen ihren Beitrag mit einem Zitat aus einer Bundestagsdebatte, das ich an dieser Stelle gerne vortragen möchte. Das Zitat lautet wörtlich: Um die gravierenden Fehler der geplanten Steuerreform bloßzulegen, muss man nicht Wissenschaftler sein. Auch Politiker haben erkannt: Die Meinung, - jetzt wird das zitiert, was unser Kollege Solms in der ersten Lesung gesagt hat ({16}) dass die Unternehmen - ({17}) - Offen gestanden nehme ich das, was vor der Regierungsbank stattfindet, nicht ernst. Das zeigt vielmehr, dass die Regierung zu einem hohen Grad nervös ist und nicht weiß, wie sie ihre Steuerreform durchsetzen kann. ({18}) Ich versuche, noch einmal zu zitieren: ({19}) Um die gravierenden Fehler der geplanten Steuerreform bloßzulegen, muss man nicht Wissenschaftler sein. Auch Politiker haben erkannt: Die Meinung, dass die Unternehmen entlastet werden müssen, aber nicht die Unternehmer, ist die wirtschaftspolitisch dümmste Aussage eines Bundeskanzlers seit der Existenz der Bundesrepublik Deutschland. ({20}) Der Beitrag endet mit den Worten: Wir können nur hoffen, dass sich die Mehrheit der verantwortlichen Politiker dieser Erkenntnis noch rechtzeitig anschließt. ({21}) Ich habe für die Mehrheit in diesem Hause jede Hoffnung aufgegeben. ({22}) Sie werden sich dieser Erkenntnis nicht mehr anschließen, weil Sie völlig verbohrt und fixiert auf Ihre Ideologie der Entlastung der Unternehmen und der höheren Belastung der Unternehmer sind. ({23}) Das ist Ihre Entscheidung. ({24}) Es gibt für diese politische Position keine Mehrheit im Bundesrat. Das werden Sie am nächsten Freitag bei der letzten Sitzung des Bundesrates in Bonn erfahren. Wir werden danach in ein zweites Vermittlungsverfahren eintreten können. Ich sage Ihnen im Namen meiner Fraktion: Lieber eine gute Steuerreform am 29. September bei der nächsten Sitzung des Bundesrates als eine schlechte am 14. Juli! ({25}) Wir schließen uns dem nicht an, was Sie im letzten Jahr gemacht haben, als ein großes Unternehmen Pleite zu gehen drohte: Wenn Philipp Holzmann Pleite geht, dann kommt der Bundeskanzler. Aber wenn die Kleinen Pleite gehen, dann kommt der Konkursverwalter. Ich sage Ihnen: Wir machen Steuerpolitik nicht nur für die Großen in unserem Lande. ({26}) Wir werden uns auch in Zukunft - wenn wir in den vergangenen Jahren etwas anderes versucht haben, dann ist es von Ihnen blockiert worden - unserer Verantwortung im Bundestag und im Bundesrat stellen. Wir werden dafür sorgen, dass dieses Land eine gute Steuerreform bekommt. Wir werden auf jede Weise verhindern, dass Sie mit dem, was Sie vorhaben, am nächsten Freitag Erfolg haben. ({27}) Wir werden Sie zwingen, ({28}) mit uns über eine Steuerreform zu verhandeln, die ihren Namen wirklich verdient, durch die große, mittlere und kleine Unternehmen und Betriebe entlastet werden und die auch die Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland nicht völlig unberücksichtigt lässt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({29})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich erteile noch einmal Herrn Bundesminister Hans Eichel das Wort. Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen ({0}): Sehr geehrter Herr Merz, erstens möchte ich noch einmal auf das Thema Gleichmäßigkeit der Besteuerung zu sprechen kommen. Wie passt es zu Ihrer Forderung, Einkünfte und Gewinne, egal wo sie entstehen, steuerlich gleich zu behandeln, dass in Ihrem Steuerkonzept eine Abgeltungsteuer vorgesehen ist? Das bedeutet, dass Sie die Kapitalerträge günstiger als die Arbeitseinkommen besteuern. Das ist Ihre Vorstellung von gleichmäßiger Besteuerung der Einkommen. ({1}) Zweiter Punkt: Sie behaupten, eine Politik für die Arbeitnehmer zu betreiben. Deswegen senken Sie in Ihrem Steuerkonzept den Arbeitnehmerfreibetrag von 2 000 DM auf 1 500 DM; die Kilometergeldpauschale machen Sie zu einer Entfernungspauschale, indem Sie die Kilometergeldpauschale von 70 Pfennig auf 50 Pfennig verringern, ({2}) und Sie erkennen 15 Kilometer des Weges zum Arbeitsplatz nicht mehr an. Es ist die Masse der deutschen Arbeitnehmer, die Sie damit ordentlich belasten. ({3}) An keiner Stelle Ihres Konzepts befindet sich ein Ausgleich für diese zusätzliche steuerliche Belastung von Beziehern kleiner Einkommen. Ihre Behauptung, eine Politik für die Arbeitnehmer zu betreiben, ist also schlicht unwahr. ({4}) Im Übrigen wiederhole ich nur die Zahlen: Wir sorgen für eine Nettoentlastung von über 20 Milliarden DM für den Mittelstand und für die Kapitalgesellschaften, was die Gesamtwirkung unserer Steuerpolitik - Steuerentlastungsgesetz und Steuersenkungsgesetz - angeht. ({5}) Die Kapitalgesellschaften - Sie haben früher im Deutschen Bundestag immer davon geredet, sie steuerlich zu entlasten - haben es nötig, ein international wettbewerbsfähiges Steuerrecht und international wettbewerbsfähige Steuersätze zu bekommen, damit der Standort Deutschland auch für ausländisches Kapital, das zu Ihrer Regierungszeit dieses Land gemieden hat, wieder interessant wird. Das ist konkrete Politik für Arbeitsplätze und nicht für Konzerne. ({6}) Was hier gespielt wird, das ist schon klar. Übrigens hat Herr Kollege Faltlhauser - er wäre nie auf die Idee gekommen, das Thema Halbeinkünfteverfahren ins Zentrum zu rücken; er hat die Gesamtentlastung zum Thema gemacht - in dankenswerter Offenheit schon Wochen vor dem Beginn des Vermittlungsverfahrens gesagt, man habe viel Zeit und man könne im Herbst noch weitermachen. Das Einzige, was Sie erreichen wollen, ist, zu beweisen, dass wir unser Ziel nicht gleich erreichen. Das kann ich sozusagen als oppositionellen Kraftakt - zwar noch verstehen; dem Lande dient es aber nicht. Das ist ganz klar. ({7}) Ich wiederhole: Alle Landesregierungen werden sich deswegen überlegen müssen, ob sie am 14. Juli eine rein parteitaktisch motivierte Position beziehen ({8}) oder ob sie die Interessen dieses Landes in den Mittelpunkt Ihrer Entscheidung stellen. ({9})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat der Kollege Peter Rauen, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Peter Rauen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001783, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Finanzminister Eichel, ich habe den Eindruck, dass Sie doch sehr nervös geworden sind, ({0}) auch aufgrund der Rede von unserem Fraktionsvorsitzenden, weil Sie jetzt die Redezeit vom Kollegen Schmidt doch noch beansprucht haben. Ihre Nervosität zeigt sich auch daran, dass Sie hier aus Gesprächen im Vermittlungsausschuss berichten und sich dann auch noch das Recht nehmen, meine dort getätigten Aussagen zum Mittelstand völlig falsch zu interpretieren. Das nehme ich nicht einmal mehr übel, weil Sie davon relativ wenig verstehen. ({1}) Ich möchte nur auf einen Punkt intensiv eingehen, da mir lediglich noch 3 Minuten und 40 Sekunden Redezeit bleiben. Sie, Herr Finanzminister, sind ganz zum Schluss auf die Arbeitnehmer eingegangen. Ich habe Sie im Vermittlungsausschuss gebeten, meine Berechnungen zu widerlegen, dass nach Ihren Reformen, auch unter Zugrundelegung des nachgereichten Vorschlags mit 43 Prozent Spitzensteuersatz und einem leicht hinausgeschobenen Erreichen der oberen Proportionalzone, der Facharbeiter in Deutschland im Jahre 2005 prozentual mehr Steuern zahlt als im Jahre 2001, ({2}) dass der verheiratete Facharbeiter ohne mitverdienende Ehefrau im Jahre 2005 prozentual mehr Steuern zahlt als im Jahre 2001, ({3}) dass der verheiratete Facharbeiter mit der mitverdienenden Ehefrau im Jahre 2005 prozentual wesentlich mehr Steuern zahlt als im Jahre 2001. Meine Damen und Herren, daran wird die ganze Verlogenheit dieser Steuerreform deutlich, die den Menschen über einen langen Zeitraum von sieben Jahren eine Entlastung vorgaukelt, in Wahrheit aber am Sankt-Nimmerleins-Tag den Arbeitnehmern und den Unternehmern nur das zurückgibt, was der Staat heimlich über die kalte Progression einkassiert hat. Dies ist ein zutiefst unredliches Vorgehen; dazu passt, Herr Eichel, dass Sie immer von der größten Steuerreform sprechen, die es je gegeben habe. Ich darf daran erinnern, dass es in den 80er-Jahren unter Stoltenberg eine Steuerreform gab, die die Menschen um 50 Milliarden DM entlastet hat. Das geschah damals bei einem Bruttoinlandsprodukt von 1 800 Milliarden DM; Sie bezeichnen aber trotz eines Bruttoinlandsprodukts von 4 000 Milliarden DM und einer längeren Laufzeit als damals Ihre Reform mit einer Entlastung von 80 Milliarden DM als die größte Steuerentlastung aller Zeiten. ({4}) Es ist eigentlich eines Finanzministers unwürdig, wenn er durch das Nennen nur von absoluten Zahlen die volkswirtschaftlichen Zusammenhänge verzerrt. Das kann man im Kern so nicht machen. ({5}) Herr Eichel, ich will abschließend noch eines feststellen: Sie beklagen, dass sich durch das Scheitern der Verhandlungen im Vermittlungsausschuss jetzt eine wirkliche Reform um sechs, acht oder zehn Wochen verzögert. Herr Eichel, dieses Land hat wichtige Jahre verloren, ({6}) weil Sie 1997 als einer der Oberblockierer mit Lafontaine und dem jetzigen Bundeskanzler Schröder in der Ausübung der Verantwortung Ihres damaligen Amtes eine wirkliche Reform blockiert haben. ({7}) Wir wollen am Ende mit Ihnen gemeinsam zu einer Reform kommen, die wirklich, wie Friedrich Merz sagt, Arbeitnehmer, Unternehmer und Unternehmen entlastet, aber keine Reform, die einseitig Kapitalgesellschaften begünstigt, aber natürliche Personen zur Kasse bittet. Das werden Sie mit uns nicht machen können. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Ich rufe nun den Zusatzpunkt 4 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Gesetz zur Senkung der Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbesteuerung ({1}) - Drucksachen 14/2683, 14/3074, 14/3366, 14/3640, 14/3760 - Berichterstattung: Abgeordneter Joachim Poß Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Wird das Wort zur Erklärung er- wünscht? - Das ist ebenfalls nicht der Fall. Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsaus- schuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsord- nung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schrift- führerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung. - Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt ge- geben.1) 2) Ich möchte für das Protokoll noch bekannt geben, dass es gemäß § 31 der Geschäftsordnung eine Erklärung des Kollegen Jörg Tauss, SPD-Fraktion, zur Abstimmung über das Ergebnis des Vermittlungsausschusses gibt. Bevor wir die Beratungen fortsetzen, bitte ich diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die der anschließenden Debatte folgen wollen, ihre Plätze einzunehmen. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2}) - zu dem Antrag der Abgeordneten Stephan Hilsberg, Brigitte Wimmer ({3}), Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Matthias Berninger, Hans-Josef Fell, Kerstin Müller ({4}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für eine Modernisierung der Ausbildungsförderung für Studierende - zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Friedrich ({5}), Angelika Volquartz, Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Eckpunkte für eine BaföG-Reform - zu dem Antrag der Abgeordneten Maritta Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Dr. Ilja Seifert und der Fraktion der PDS Strukturelle Erneuerung der Ausbildungsförderung - zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Dreizehnter Bericht nach § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes zur Überprüfung der Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vomhundertsätze und Höchstbeträge nach § 21 Abs. 2 - Drucksachen 14/2905, 14/2031, 14/2789, 14/1927, 14/2811 Nr. 1, 14/3730 Berichterstattung: Abgeordnete Brigitte Wimmer ({6}) Matthias Berninger Maritta Böttcher Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Stephan Hilsberg von der SPD-Fraktion.

Stephan Hilsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundestag wird heute Eckpunkte zur BAföG-Reform verabschieden und es wird Sie nicht wundern, dass es die Eckpunkte der Koalition sind. ({0}) Ich darf das vorwegnehmen, auch wenn mir das natürlich Leid tut für die Opposition, Herr Kollege Friedrich: Das ist ein großer Erfolg für die Studierenden. Wir sind hier auf der politischen Ebene, und zwar nicht nur hinsichtlich des Umstandes, dass sich die Kollegen lieber miteinander unterhalten statt zuzuhören, und dies auch bei der Diskussion über wichtige Reformen. Leider gibt es bei uns einen Sprachgebrauch, der von den Betroffenen häufig nicht verstanden wird. BAföG, das ist das Bundesausbildungsförderungsgesetz. Es ist eines der wichtigsten Gesetze, das wir haben und das die Bundesrepublik in den vergangenen 30 Jahren ein ganzes Stück sozialer gemacht hat. Viele Absolventen, auch viele, die hier im Saale sitzen, viele unserer Kollegen verdanken es BAföG, dass sie haben studieren können, dass sie akademische Grade erwerben konnten. Ich denke, ich kann im Namen aller sagen: Die Gesellschaft verdankt BAföG ein Stück mehr Chancengleichheit. ({1}) Aber dieses Gesetz ist in die Jahre gekommen. Es ist sehr unverständlich geworden, es ist fürchterlich kompli- ziert, engherzig und deshalb alles in allem unzumutbar geworden. Aus diesem Grunde hat es in den letzten Jah- ren umfangreiche Bemühungen um eine vollständige Re- form des BAföG gegeben. Natürlich muss man eines bedenken: BAföG ist nicht der einzige Teil der Reform, die ansteht. Wir haben neben der BAföG-Reform auch noch eine umfangreiche Hoch- schulreform für dieses System an Haupt und Gliedern vorzunehmen. Dazu gehören die Dienstrechtsreform und die Hochschulstrukturreform. Dies alles ist dringend not- wendig, doch ohne BAföG-Reform kann die Hochschul- strukturreform nicht gelingen, weil es sonst auf unserem Weg in die Wissensgesellschaft leicht passieren könnte, Vizepräsidentin Petra Bläss 1) Seite 10800 2) Anlage 23 dass Kinder aus sozial schwachen Familien zurückgelassen würden. Und dann ist Chancengleichheit eben nicht gewährleistet. ({2}) Chancengleichheit ist ein abstraktes Wort, aber hier wird es mit Leben gefüllt. Ganz konkret: Was werden wir machen? Wir wollen, dass die Studenten mehr Geld im Portemonnaie haben. Wir werden die Eltern entlasten, indem das Kindergeld nicht mehr angerechnet wird und die Freibeträge erhöht werden. Wir werden BAföG-Empfängern erstmals die Möglichkeit geben, EU-weit im Ausland mit BAföG-Inlandssätzen studieren zu können. Wir werden durch diese Reform die letzten Reste an Ost-WestUngleichheit aufheben, sodass eine völlige Rechtsgleichheit zwischen Ost und West geschaffen wird. Das ist ein großer Fortschritt. Wir werden solche wichtigen Dinge wie die Anrechnung von Kindererziehungszeiten stärker und besser berücksichtigen, als das bisher der Fall war. Dies alles sind dringend notwendige, unverzichtbare Bestandteile der BAföG-Reform. ({3}) Nun hat es in den letzten Monaten, in denen wir das diskutiert haben, immer wieder kritische, skeptische Fragen von Seiten der Opposition gegeben. Die Opposition traute uns nicht zu, die dafür notwendigen Finanzmittel aufzubringen. Meine Damen und Herren, der Finanzplan liegt vor. Sie alle können in den Haushalt des Jahres 2001 hineinschauen. Die Diskussion ist entschieden. Die zusätzlichen Millionen - in diesem Falle sind es 425 Millionen DM, weil das nur ein Teilzeitraum und nicht das gesamte Jahr ist - sind bereitgestellt. Es ist „fresh money“, es ist frisches Geld, das zur mittelfristigen Finanzplanung hinzugekommen ist, ({4}) sodass wir im Jahr 2001 nicht nur über den uns zustehenden Anteil der Innovationsmilliarde verfügen können, sondern zusätzlich über den Anteil, der für das BAföG zur Verfügung gestellt wird. Wenn ich dann noch berücksichtige, dass der Darlehensanteil und der Anteil der Länder hinzukommen, werden wir es mit den 500 Millionen DM, die zusätzlich im Haushalt stehen, schaffen, insgesamt 1,3 Milliarden DM für die Studenten zu mobilisieren. Wenn das kein Erfolg ist, weiß ich nicht, was ein Erfolg ist. ({5}) Natürlich haben wir mehr gewollt. Das gebe ich ganz ehrlich zu. Wir haben einen Sockel gewollt. Der Sockel hat sich nicht realisieren lassen. Es ist eine Sache der Ehrlichkeit, das einzugestehen. Aber es ist verlogen, wenn F.D.P. und PDS heute immer noch so tun, als könnten sie den Sockel realisieren. Bei der F.D.P. wundert mich das besonders, weil der Vorschlag, den sie dazu unterbreitet hat, total unfinanzierbar ist. Wie sich eine Partei der Besserverdienenden das eigentlich leisten will, ist mir schleierhaft. Ich kann mir das nur so erklären, dass Sie an dieser Stelle ja nicht Ihr Geld ausgeben, sondern das Geld anderer.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Hilsberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Pieper?

Stephan Hilsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön, Frau Pieper.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege Hilsberg, nach diesen zahlreichen Unterstellungen, die natürlich alle nicht zutreffen, ({0}) möchte ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist - es müsste zu Ihren Pflichten als Abgeordneter gehören, dass Sie darüber Bescheid wissen -, dass die Darlehensrückflüsse aus dem BAföG-Bestand im Bundeshaushalt bis zu 6 Milliarden DM betragen und dass das ursprüngliche Gesetz vorgesehen hat, dass diese Darlehensrückflüsse in die neue Finanzierung des BAföG fließen, das heißt der Sockelbetrag des Ausbildungsgeldes allein aus den Darlehensrückflüssen voll finanzierbar wäre.

Stephan Hilsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Pieper, Sie machen hier wieder eine schöne Milchmädchenrechnung auf und wollen darüber offenbar vergessen machen, dass allein Ihr so genannter Reformvorschlag vermutlich zusätzliche Kosten von 4 bis 5 Milliarden DM zur Folge hätte. Das überstiege das, was an Mitteln vorhanden ist, bei weitem. Jetzt lassen Sie mich bitte fortfahren. Ich glaube, Sie haben noch Gelegenheit, darüber zu sprechen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Heißt das, dass Sie eine zweite Frage nicht zulassen, Kollege Hilsberg?

Stephan Hilsberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000904, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir wollen ja in der Sache weiterkommen und keine Scheindiskussionen führen. ({0}) Auch zur PDS muss man nicht viel sagen. Ihr Vorschlag ist ein typisches Beispiel dafür, dass ungleiche Verhältnisse gleich behandelt werden sollen. Nicht nur der Umstand, dass Sie 1,8 Millionen Studenten eine Summe von 1 200 DM monatlich zur Verfügung stellen wollen, zeigt, dass er überhaupt nicht finanzierbar ist, denn das würde in einen zweistelligen Milliardenbereich hineingehen. Zum anderen würden Sie damit die bestehenden sozialen Ungerechtigkeiten nicht beseitigen, sondern verfestigen. Denn diejenigen, die aus guten Familienverhältnissen kommen, nähmen das Geld dankbar entgegen, aber sie hätten es überhaupt nicht nötig. Das heißt, soziale Ungerechtigkeiten werden bei Ihrem Antrag nur perpetuiert. Darüber hinaus haben wir vor - das ist gemeinsam verabredet -, Bildungskredite einzurichten. Das ist ein innovativer Vorschlag, der sich an eine völlig neue Gruppe von Studenten richtet, die bisher kein BAföG erhalten haben, bei denen es aber ebenso vorkommen kann, dass sie in finanzielle Notlagen geraten. Deshalb kann ich mir, gerade bei Ihnen von der CDU/CSU, überhaupt nicht erklären, warum Sie diesen Vorschlag nicht unterstützen. ({1}) Vielleicht verstehen Sie das nicht; dann muss man es Ihnen noch einmal genau erklären. Aber ich habe einen anderen Verdacht. Mein Verdacht ist, dass Sie über Ihrem Bemühen, sozusagen in die linke Ecke vorzustoßen und so zu tun, als seien Sie sozial gerechter als wir, Ihre eigene Wählerklientel vergessen. Denn es ist doch völlig klar: Auch unter den Studenten, die zur Finanzierung ihres Studiums auf das Einkommen ihrer Eltern angewiesen sind, gibt es soziale und finanzielle Unterschiede. Die einen Eltern sind leicht in der Lage, ein Auslandsstudium zu finanzieren, die anderen nicht. Auch wenn finanzielle Notlagen entstehen, sind diese Studenten nicht BAföG-berechtigt. Aber sie brauchen eine finanzielle Hilfe, damit sie nicht arbeiten gehen müssen. Diesen Studenten wollen wir mit Bildungskrediten helfen. Dies ist die politische Stoßrichtung der Bildungskredite. Es ist sehr gut, dass es uns gelungen ist, sie zu verankern. ({2}) Ein weiterer Punkt unseres Antrags betrifft die Expertenkommission. Auch das ist ein Punkt, den die CDU/CSU nicht unterstützt. Ich wundere mich immer darüber. Sind Sie denn schon so weit jenseits, dass Sie nicht einmal mehr Diskussionen über die Veränderungen in unserer Gesellschaft führen wollen? ({3}) Das wundert mich wirklich sehr. Sie können gerne blockieren, aber Sie werden die Veränderungen nicht aufhalten. Wir werden uns um diese Veränderungen kümmern. ({4}) Es sind zum Teil ganz praktische Fragen, um die wir uns zu kümmern haben. Ich kann doch beispielsweise nicht ignorieren, wenn das Deutsche Studentenwerk feststellt, dass zwar immerhin 33 Prozent der Kinder aus bildungsfernen Schichten die Sekundarstufe II besuchen, aber viel zu wenige von diesen anschließend studieren. Ich kann doch nicht ignorieren, dass festgestellt wird, dass die eigentliche Selektion in der Schule vorgenommen wird, in der Weichenstellung zwischen Berufsausbildung und Abiturzweig. Wenn ich hier etwas ändern will, muss ich zusätzliche Förderinstrumente entwickeln. Das können einfache Dinge sein. Ich kann zum Beispiel Fahrt- und Verkehrskosten zusätzlich fördern und ich kann mit Bildungsgutscheinen arbeiten. Aber ich muss mich um diese Dinge kümmern. Denn wenn ich diese Gesellschaft sozial gerechter machen will, dann muss ich bereits in der Schule ansetzen. Mit welchen Instrumenten kann man das machen? Wir laden Sie ein, mit uns darüber zu reden. ({5}) Das sind alles keine trivialen Probleme. Wenn Sie diese Diskussion nicht unmittelbar im Herzstück der Politik verankern, dann ist sie für die Gesellschaft folgenlos. Welchen Sinn macht es, Kindergeld bis zum 27. Lebensjahr zu zahlen? Hat das etwas mit dem Ende des Studiums zu tun, mit dem Begriff des „lebenslangen Lernens“? Hat das etwas damit zu tun, dass die, die eine Berufsausbildung machen, davon überhaupt nichts haben? Und wie gehen wir auf die Situation ein, dass wir auf dem Weg in die Wissensgesellschaft zunehmend ganz andere Erwerbsbiografien haben werden: Abschnitte, in denen man sein Geld selber verdienen muss, und dann wieder Abschnitte, in denen man lernen muss? Die bestehenden sozialen Netze sichern diese Lernabschnitte nicht genügend ab. Wir brauchen im Hinblick auf die verschiedenen sozialen Systeme umfangreiche Harmonisierungsbemühungen. Wir kümmern uns darum. Wir haben uns dieses Problems angenommen und sind an dieser Stelle auf einem guten Weg. ({6}) Meine Damen und Herren, wir verabschieden uns in die Sommerpause ({7}) mit der Verabschiedung der Eckpunkte für eine solche Reform. Im Herbst dieses Jahres werden wir dann über einen Gesetzentwurf und über viele Einzelheiten diskutieren können. Aber die Weichen für mehr soziale Gerechtigkeit, für die Förderung von Studenten werden wir heute stellen und dafür danke ich Ihnen. ({8})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Gesetz zur Senkung der Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbesteuerung, dem Steuersenkungsgesetz, Drucksachen 14/2683, 14/3074, 14/3366, 14/3640 und 14/3760 bekannt: Abgegebene Stimmen 591. Mit Ja haben gestimmt 312 Kolleginnen und Kollegen, mit Nein haben gestimmt 279 Kolleginnen und Kollegen. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen: 591 ja: 312 nein: 279 Ja SPD Gerd Andres Ingrid Arndt-Brauer Rainer Arnold Hermann Bachmaier Ernst Bahr Doris Barnett Dr. Hans Peter Bartels Eckhardt Barthel ({0}) Klaus Barthel ({1}) Ingrid Becker-Inglau Wolfgang Behrendt Dr. Axel Berg Hans-Werner Bertl Petra Bierwirth Rudolf Bindig Lothar Binding ({2}) Kurt Bodewig Klaus Brandner Anni Brandt-Elsweier Willi Brase Dr. Eberhard Brecht Rainer Brinkmann ({3}) Bernhard Brinkmann ({4}) Hans-Günter Bruckmann Ursula Burchardt Dr. Michael Bürsch Hans Büttner ({5}) Marion Caspers-Merk Wolf-Michael Catenhusen Christel Deichmann Karl Diller Rudolf Dreßler Detlef Dzembritzki Dieter Dzewas Sebastian Edathy Ludwig Eich Marga Elser Peter Enders Gernot Erler Annette Faße Lothar Fischer ({6}) Iris Follak Norbert Formanski Rainer Fornahl Hans Forster Dagmar Freitag Lilo Friedrich ({7}) Anke Fuchs ({8}) Arne Fuhrmann Prof. Monika Ganseforth Konrad Gilges Iris Gleicke Günter Gloser Uwe Göllner Renate Gradistanac Günter Graf ({9}) Angelika Graf ({10}) Dieter Grasedieck Monika Griefahn Kerstin Griese Achim Großmann Karl Hermann Haack ({11}) Hans-Joachim Hacker Klaus Hagemann Manfred Hampel Christel Hanewinckel Alfred Hartenbach Anke Hartnagel Klaus Hasenfratz Nina Hauer Hubertus Heil Reinhold Hemker Rolf Hempelmann Dr. Barbara Hendricks Gustav Herzog Monika Heubaum Reinhold Hiller ({12}) Jelena Hoffmann ({13}) Walter Hoffmann ({14}) Iris Hoffmann ({15}) Ingrid Holzhüter Christel Humme Lothar Ibrügger Barbara Imhof Brunhilde Irber Gabriele Iwersen Renate Jäger Jann-Peter Janssen Ilse Janz Prof. Dr. Uwe Jens Volker Jung ({16}) Johannes Kahrs Ulrich Kasparick Sabine Kaspereit Susanne Kastner Klaus Kirschner Marianne Klappert Siegrun Klemmer Walter Kolbow Fritz Rudolf Körper Karin Kortmann Anette Kramme Nicolette Kressl Volker Kröning Angelika Krüger-Leißner Horst Kubatschka Ernst Küchler Helga Kühn-Mengel Ute Kumpf Konrad Kunick Dr. Uwe Küster Werner Labsch Brigitte Lange Christian Lange ({17}) Detlev von Larcher Waltraud Lehn Robert Leidinger Dr. Elke Leonhard Eckhart Lewering Götz-Peter Lohmann ({18}) Erika Lotz Dr. Christine Lucyga Dieter Maaß ({19}) Winfried Mante Tobias Marhold Lothar Mark Christoph Matschie Markus Meckel Ulrike Mehl Ulrike Merten Angelika Mertens Prof. Dr. Jürgen Meyer ({20}) Ursula Mogg Siegmar Mosdorf Michael Müller ({21}) Jutta Müller ({22}) Christian Müller ({23}) Franz Müntefering Andrea Nahles Gerhard Neumann ({24}) Dr. Edith Niehuis Dr. Rolf Niese Eckhard Ohl Leyla Onur Manfred Opel Holger Ortel Adolf Ostertag Kurt Palis Albrecht Papenroth Prof. Dr. Martin Pfaff Georg Pfannenstein Johannes Pflug Prof. Dr. Eckhart Pick Karin Rehbock-Zureich Dr. Carola Reimann Renate Rennebach Dr. Edelbert Richter Reinhold Robbe Gudrun Roos René Röspel Michael Roth ({25}) Birgit Roth ({26}) Gerhard Rübenkönig Marlene Rupprecht Thomas Sauer Dr. Hansjörg Schäfer Gudrun Schaich-Walch Rudolf Scharping Bernd Scheelen Dr. Hermann Scheer Siegfried Scheffler Horst Schild Dieter Schloten ({27}) Ulla Schmidt ({28}) Silvia Schmidt ({29}) Dagmar Schmidt ({30}) Wilhelm Schmidt ({31}) Heinz Schmitt ({32}) Carsten Schneider Dr. Emil Schnell Walter Schöler Olaf Scholz Karsten Schönfeld Fritz Schösser Ottmar Schreiner Gerhard Schröder Gisela Schröter Dr. Mathias Schubert Richard Schuhmann ({33}) Brigitte Schulte ({34}) ({35}) Volkmar Schultz ({36}) Ewald Schurer Dr. R. Werner Schuster Dietmar Schütz ({37}) Dr. Angelica Schwall-Düren Rolf Schwanitz Bodo Seidenthal Erika Simm Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Wieland Sorge Wolfgang Spanier Dr. Margrit Spielmann Jörg-Otto Spiller Dr. Ditmar Staffelt Ludwig Stiegler Rita Streb-Hesse Reinhold Strobl ({38}) Dr. Peter Struck Jörg Tauss Jella Teuchner Dr. Gerald Thalheim Franz Thönnes Uta Titze-Stecher Adelheid Tröscher Hans-Eberhard Urbaniak Rüdiger Veit Simone Violka Ute Vogt ({39}) Hans Georg Wagner Hedi Wegener Dr. Konstanze Wegner Wolfgang Weiermann Reinhard Weis ({40}) Matthias Weisheit Gunter Weißgerber Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker Vizepräsidentin Petra Bläss Jochen Welt Hildegard Wester Lydia Westrich Inge Wettig-Danielmeier Dr. Margrit Wetzel Dr. Norbert Wieczorek Helmut Wieczorek ({41}) Jürgen Wieczorek ({42}) Dieter Wiefelspütz Heino Wiese ({43}) Klaus Wiesehügel Brigitte Wimmer ({44}) Engelbert Wistuba Barbara Wittig Dr. Wolfgang Wodarg Hanna Wolf ({45}) Waltraud Wolff ({46}) Heidemarie Wright Dr. Christoph Zöpel Peter Zumkley BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gila Altmann ({47}) Marieluise Beck ({48}) Volker Beck ({49}) Angelika Beer Grietje Bettin Annelie Buntenbach Dr. Thea Dückert Dr. Uschi Eid Hans-Josef Fell Andrea Fischer ({50}) Katrin Dagmar Göring-Eckardt Antje Hermenau Ulrike Höfken Michaele Hustedt Monika Knoche Steffi Lemke Dr. Helmut Lippelt Oswald Metzger Kerstin Müller ({51}) Winfried Nachtwei Christa Nickels Cem Özdemir Simone Probst Christine Scheel Rezzo Schlauch Albert Schmidt ({52}) Werner Schulz ({53}) Christian Sterzing Jürgen Trittin Dr. Ludger Volmer Sylvia Voß Helmut Wilhelm ({54}) Margareta Wolf ({55}) Nein CDU/CSU Ulrich Adam Ilse Aigner Peter Altmaier Dietrich Austermann Norbert Barthle Dr. Wolf Bauer Günter Baumann Brigitte Baumeister Meinrad Belle Otto Bernhardt Dr. Joseph-Theodor Blank Renate Blank Dr. Heribert Blens Peter Bleser Friedrich Bohl Dr. Maria Böhmer Sylvia Bonitz Jochen Borchert Wolfgang Börnsen ({56}) Klaus Brähmig Dr. Ralf Brauksiepe Paul Breuer Georg Brunnhuber Klaus Bühler ({57}) Hartmut Büttner ({58}) Dankward Buwitt Cajus Caesar Manfred Carstens ({59}) Leo Dautzenberg Wolfgang Dehnel Hubert Deittert Renate Diemers Thomas Dörflinger Hansjürgen Doss Marie-Luise Dött Rainer Eppelmann Anke Eymer ({60}) Ilse Falk Dr. Hans Georg Faust Albrecht Feibel Ingrid Fischbach Dirk Fischer ({61}) ({62}) Erich G. Fritz Jochen-Konrad Fromme Hans-Joachim Fuchtel Dr. Jürgen Gehb Norbert Geis Dr. Heiner Geißler Georg Girisch Michael Glos Dr. Reinhard Göhner Dr. Wolfgang Götzer Kurt-Dieter Grill Hermann Gröhe Manfred Grund Horst Günther ({63}) Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein Gottfried Haschke ({64}) Klaus-Jürgen Hedrich Helmut Heiderich Ursula Heinen Manfred Heise Siegfried Helias Hans Jochen Henke Ernst Hinsken Peter Hintze Martin Hohmann Klaus Holetschek Josef Hollerith Siegfried Hornung Joachim Hörster Hubert Hüppe Susanne Jaffke Georg Janovsky Dr.-Ing. Rainer Jork Bartholomäus Kalb Steffen Kampeter Dr.-Ing. Dietmar Kansy Volker Kauder Eckart von Klaeden Ulrich Klinkert Manfred Kolbe Norbert Königshofen Eva-Maria Kors Thomas Kossendey Dr. Martina Krogmann Dr. Paul Krüger Dr. Hermann Kues Karl Lamers Dr. Karl A. Lamers ({65}) Dr. Norbert Lammert Helmut Lamp Dr. Paul Laufs Vera Lengsfeld Werner Lensing Peter Letzgus Ursula Lietz Walter Link ({66}) Eduard Lintner Dr. Klaus W. Lippold ({67}) Dr. Manfred Lischewski ({68}) Julius Louven Dr. Michael Luther Erich Maaß ({69}) Erwin Marschewski ({70}) Dr. Martin Mayer ({71}) Wolfgang Meckelburg Dr. Michael Meister Dr. Angela Merkel Hans Michelbach Meinolf Michels Dr. Gerd Müller Bernward Müller ({72}) Elmar Müller ({73}) Bernd Neumann ({74}) Claudia Nolte Günter Nooke Franz Obermeier Eduard Oswald Norbert Otto ({75}) Dr. Peter Paziorek Anton Pfeifer Dr. Friedbert Pflüger Beatrix Philipp Marlies Pretzlaff Dr. Bernd Protzner Thomas Rachel Dr. Peter Ramsauer Helmut Rauber Christa Reichard ({76}) Erika Reinhardt Hans-Peter Repnik Klaus Riegert Dr. Heinz Riesenhuber Hannelore Rönsch ({77}) Heinrich-Wilhelm Ronsöhr Dr. Klaus Rose Kurt J. Rossmanith Adolf Roth ({78}) Dr. Christian Ruck Volker Rühe Anita Schäfer Dr. Wolfgang Schäuble Hartmut Schauerte Heinz Schemken Karl-Heinz Scherhag Gerhard Scheu Norbert Schindler Bernd Schmidbauer Christian Schmidt ({79}) Dr.-Ing. Joachim Schmidt ({80}) Michael von Schmude Birgit Schnieber-Jastram Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Rupert Scholz Dr. Erika Schuchardt Wolfgang Schulhoff Dr. Christian Schwarz-Schilling Wilhelm-Josef Sebastian Horst Seehofer Rudolf Seiters Bernd Siebert Werner Siemann Margarete Späte Carl-Dieter Spranger Wolfgang Steiger Erika Steinbach Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten Vizepräsidentin Petra Bläss Andreas Storm Max Straubinger Thomas Strobl ({81}) Michael Stübgen Edeltraut Töpfer Gunnar Uldall Arnold Vaatz Peter Weiß ({82}) Gerald Weiß ({83}) Annette Widmann-Mauz Heinz Wiese ({84}) Hans-Otto Wilhelm ({85}) Klaus-Peter Willsch Bernd Wilz Matthias Wissmann Werner Wittlich Dagmar Wöhrl Aribert Wolf Elke Wülfing Peter Kurt Würzbach Wolfgang Zeitlmann Benno Zierer Wolfgang Zöller F.D.P. Ina Albowitz Hildebrecht Braun ({86}) Ernst Burgbacher Jörg van Essen Gisela Frick Paul K. Friedhoff Horst Friedrich ({87}) Rainer Funke Dr. Wolfgang Gerhardt Joachim Günther ({88}) Dr. Karlheinz Guttmacher Dr. Helmut Haussmann Ulrich Heinrich Walter Hirche Birgit Homburger Dr. Werner Hoyer Ulrich Irmer Dr. Klaus Kinkel Dr. Heinrich Leonhard Kolb Gudrun Kopp Jürgen Koppelin Ina Lenke Sabine LeutheusserSchnarrenberger Günther Friedrich Nolting Cornelia Pieper Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Gerhard Schüßler Marita Sehn Carl-Ludwig Thiele Dr. Dieter Thomae Jürgen Türk PDS Dr. Dietmar Bartsch Maritta Böttcher Eva-Maria Bulling-Schröter Heidemarie Ehlert Dr. Heinrich Fink Wolfgang Gehrcke Dr. Klaus Grehn Uwe Hiksch Ulla Jelpke Gerhard Jüttemann Rolf Kutzmutz Ursula Lötzer Dr. Christa Luft Heidemarie Lüth Angela Marquardt Kersten Naumann Rosel Neuhäuser Dr. Uwe-Jens Rössel Christina Schenk Dr. Ilja Seifert Vizepräsidentin Petra Bläss ({89}) Nächster Redner in der laufenden Debatte ist der Kollege Dr. Gerhard Friedrich, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Gerhard Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002657, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich dem Kollegen Hilsberg versichern, dass wir natürlich die Idee des Bildungskredits überprüfen werden. Allerdings können wir mit dieser Diskussion erst dann beginnen, wenn Sie ein Konzept vorlegen. ({0}) Bisher gibt es nur diesen Begriff. Soweit ich den Entwurf des Haushalts für das nächste Jahr gesehen habe, gibt es dafür kein Geld. Herr Hilsberg, Sie haben Recht, wenn Sie prognostizieren, dass die Koalition heute ein BAföG-Konzept beschließen wird. Es spricht für Sie, dass Sie zugeben - das haben Sie aber etwas verniedlicht -, dass Sie gleichzeitig ein Vorhaben, das man früher als „großes sozialdemokratisches Reformprojekt“ bezeichnet hat, beerdigen. Das Drei-Körbe-Modell, ein Begriff, den wirklich kaum jemand versteht, haben Sie vor und während des letzten Bundestagswahlkampfes kompromisslos vertreten. Dieses Modell wurde als zentrales Vorhaben in Ihrer Koalitionsvereinbarung angekündigt. Noch auf Ihrem Parteitag im Dezember letzten Jahres haben Sie dieses Konzept bekräftigt. Frau Kollegin Wimmer, die ich hier vor mir sitzen sehe, hat unsere Vorschläge anlässlich einer Diskussion am 2. Dezember 1999 sehr herablassend behandelt ({1}) und ziemlich großspurig angekündigt, dass man auf der Grundlage des so genannten Drei-Körbe-Modells für eine Trendwende hin zu mehr Gerechtigkeit sorgen werde. ({2}) Wenige Wochen später hat der Bundeskanzler dieses Konzept während einer Fraktionssitzung beerdigt bzw. Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU Abgeordnete Adler, Brigitte Bierling, Hans-Dirk Grießhaber, Rita SPD CDU/CSU BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Moosbauer, Christoph Raidel, Hans Dr. Süssmuth, Rita SPD CDU/CSU CDU/CSU Prof. Weisskirchen, Gert ({3}) Wimmer, Willy ({4}) Zapf, Uta SPD CDU/CSU SPD mit einem Veto gestoppt. Seine Begründung - das hat Kollege Berninger schon zum Ausdruck gebracht -, die Eltern hätten das dafür notwendige Geld bereits für die Finanzierung ihrer Häuschen fest eingeplant, war wirklich abenteuerlich. ({5}) In Wirklichkeit mussten auch Sie sich der Einsicht beugen, dass der in diesem Zusammenhang erforderliche Sockelbetrag nicht finanzierbar ist. Das wissen wir bereits seit Jahren. Bei einer Direktzahlung an die Studierenden gibt es erhebliche Konflikte mit dem Unterhaltsrecht und mit verfassungsrechtlich abgesicherten Grundsätzen des Steuerrechts. Diese Probleme lassen sich mit sehr viel Geld lösen, machen das Ganze aber nicht finanzierbar. 1998 hat der Bund für das BAföG insgesamt 1,5 Milliarden DM ausgegeben. Frau Bulmahn, unsere neue Bildungsministerin, hat 15 Monate gebraucht, um festzustellen, dass der Bund seine Ausgaben verdoppeln müsste, um allein allen erwachsenen Auszubildenden ein Bildungsgeld von 400 DM monatlich zu zahlen. Diese Zeit hat sie auch gebraucht, um festzustellen, dass kein sozialdemokratischer Finanzminister bereit ist, diese und zusätzliche Mittel für höhere Leistungen an Einkommensschwache, auf die es in diesem Zusammenhang ganz entscheidend ankommt, bereitzustellen. Hätte Frau Bulmahn die Stellungnahmen ihres Vorgängers Rüttgers intensiv gelesen, dann hätte sie schon bei Amtsantritt zu diesem Ergebnis kommen können. Herr Kollege Hilsberg, heute haben Sie die Koalition und deren weise Beschlüsse bejubelt. Mitte Januar dieses Jahres haben Sie schlicht und einfach von einem „Glaubwürdigkeitsverlust der SPD“ gesprochen. Bei den Grünen war sogar von einem „Bruch der Koalitionsvereinbarung“ die Rede. ({6}) Was ist denn wirklich passiert? Einige Tage später, wohl in der Nacht vom 19. auf den 20. Januar dieses Jahres, haben Sie unseren Vorschlag einer Reform innerhalb des Systems übernommen. Ich war wirklich fassungslos, als Sie in der Aktuellen Stunde vom 20. Januar 2000 schon wieder bereit waren, den Ruhm und die Weisheit der Koalition zu preisen. Ich will es klar sagen: Das Scheitern des Drei-KörbeModells ist für uns kein Anlass, Tränen zu vergießen. Angeblich sollte dadurch erreicht werden, erwachsene Studierende von ihren Eltern finanziell unabhängig zu machen. Tatsächlich ist dieses Ziel überhaupt nicht zu verwirklichen; dies gilt zumindest für die meisten Studenten. Auch die Empfänger von Bildungsgeld bleiben überwiegend auf ergänzende Unterhaltsleistungen der Eltern angewiesen. Ein Staat, der sparen muss, sollte das Geld auf diejenigen konzentrieren, die aufgrund der Einkommensverhältnisse wirklich staatliche Hilfe brauchen. ({7}) Wir haben immer vorhergesagt, dass jemand, der viel Geld für die Einrichtung eines Bildungsgeldes ausgibt, anschließend bei der Hilfe für die wirklich Einkommensschwachen sparen muss. Ein Beispiel dafür ist ein Vorschlag der F.D.P., Frau Kollegin Pieper. Sie bieten darin ein noch großzügigeres Bildungsgeld an - über die Finanzierung will ich hier gar nicht reden ({8}) und sehen für diejenigen, die es benötigen, noch einen Zuschuss von 350 DM vor. Wer noch mehr Geld braucht, bekommt dann ein Darlehen in Höhe von bis zu 750 DM monatlich. Übertragen wir das auf die heutige Situation, so wären diejenigen, die auf eine Vollförderung angewiesen sind, bei Abschluss ihrer Ausbildung an der Hochschule noch höher verschuldet, als sie es heute sind. Wenn wir gemeinsam beklagen, dass von 100 Kindern aus einkommensschwachen Familien nur 33 auf das Gymnasium gehen und davon im Schnitt lediglich acht ein Studium aufnehmen, ({9}) dann ist doch genau das Gegenteil notwendig, Frau Kollegin. Deshalb schlagen wir, unterstützt durch die Hochschulrektorenkonferenz, vor, die Darlehensbelastung zu begrenzen. Meine Damen und Herren, wenn Sie eines Tages unsere Zustimmung zu Ihrem BAföG-Konzept wollen - das ist ja erst dann endgültig zu beurteilen, wenn der Gesetzentwurf vorliegt -, dann müssen Sie bei dieser sozialen Komponente, die uns sehr wichtig ist, noch nachbessern. ({10}) Bei der letzten Debatte zu diesem Thema am 20. Januar musste ich feststellen, dass uns die in den letzten Jahren tatsächlich stark gesunkene Gefördertenquote vorgeworfen wird. ({11}) Es wurde gesagt, die alte Regierung hätte das BAföG ausgetrocknet. ({12}) Da Sie damit auch heute sicher wieder kommen, möchte ich auf Folgendes aufmerksam machen: Wir hatten es mit der schwierigen Situation zu tun, dass sich die Fachminister aus Bund und Ländern wegen ihrer unterschiedlichen Vorstellungen hinsichtlich des Wesens einer Strukturreform gegenseitig blockiert haben. Im Jahre 1997 haben die Finanzminister dreimal den einstimmigen Beschluss gefasst, dass eine BAföG-Reform kostenneutral durchgeführt werden müsse. Und im letzten Beschluss vom Dezember 1997 - ich habe die entsprechenden Unterlagen an meinem Platz - kommt klar zum Ausdruck, dass die Finanzminister - und zwar Dr. Gerhard Friedrich ({13}) einstimmig - alle vorgelegten Konzepte für eine BAföGReform ablehnen. ({14}) Für die wirklich bedauerliche Entwicklung, die wir niemals gerechtfertigt haben, sind also nicht nur wir verantwortlich, die wir die letzte Regierung getragen haben, sondern auch die sozialdemokratischen Finanzminister in den Ländern. Umso erstaunter sind wir, dass Sie jetzt aus den Fehlern der Vergangenheit das Recht ableiten, die Strukturreform oder, wie Frau Bulmahn neuerdings sagt - dieser Begriff ist eigentlich zutreffend -, die Totalsanierung der Ausbildungsförderung selbst zu verzögern. Nur zu Beginn Ihrer Regierungszeit haben Sie schnell gehandelt und, wie damals Herr Bundesminister Rüttgers kurz vor der Wahl, die Freibeträge und die Bedarfssätze erhöht. Aber wir stellen fest, dass Sie seit der Verabschiedung der 20. Novelle, genauer gesagt: seit dem Wechsel im Finanzministerium, eine Politik nach dem Motto „Sparen durch Verzögern“ betreiben. ({15}) - Sie lachen, Herr Kollege Hilsberg. Als Sie nach einer Nachtsitzung - das habe ich gelesen; Sie haben es der Presse mitgeteilt - Ihr Konzept vorgelegt haben, war die Finanzierung überhaupt noch nicht gesichert; es gab nur Eckpunkte. ({16}) Darüber haben Sie mit dem Finanzminister noch wochenlang gestritten. ({17}) Der Finanzminister wollte die Reform erst im Jahr 2002 in Kraft treten lassen. Jetzt haben Sie einen Kompromiss geschlossen und nennen ein neues Datum für das In-Kraft-Treten, nämlich den 1. April 2001. Damit setzen Sie sich in Widerspruch zu dem Bericht Ihrer Regierung über die Entwicklung des BAföG. In ihm steht, dass aus dem Anstieg der Lebenshaltungskosten eine Anhebung der Bedarfssätze und Freibeträge zum Herbst 2000 abgeleitet werden kann und dass die Entwicklung der Nettoeinkommen eine noch höhere Anpassung rechtfertigt.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Friedrich, ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.

Dr. Gerhard Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002657, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das heißt, Sie verschieben nicht nur die inzwischen von allen Ländern dringend angemahnte Totalsanierung des BAföG, sondern nehmen auch in Kauf, dass das Förderniveau vorübergehend erneut absinkt. Dafür werden allein Sie die Verantwortung übernehmen müssen. Vielen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Matthias Berninger.

Matthias Berninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002627, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor kurzem hat die OECD eine Studie mit dem Titel „Bildung auf einen Blick“ vorgestellt, in der die Industrieländer, die wohlhabenden Länder dieser Welt, und deren Bildungssysteme miteinander verglichen wurden. Auffällig ist, dass in Deutschland der Anteil eines Altersjahrgangs, der an eine Hochschule geht, erschreckend niedrig ist: niedriger als in den meisten anderen Ländern, niedriger als im Durchschnitt aller OECD-Länder. Hier ist von allen Seiten beklagt worden, dass in Deutschland der Geldbeutel darüber entscheidet, ob jemand an die Uni geht oder nicht. Eine Errungenschaft der Bildungsreform ist, dass der Anteil von Frauen bei den Studienanfängern knapp 50 Prozent beträgt, dass also Gleichberechtigung gegeben ist. ({0}) Im Hinblick auf die Einkommen der Eltern der Studierenden haben wir aber überhaupt noch nichts erreicht. Bei allem Streit über die BAföG-Reform sollte man sich dieses Ziel ganz oben auf die Fahnen schreiben. Hier muss sich in den nächsten Jahren etwas ändern. In Deutschland müssen mehr junge Menschen studieren. Die Begabungsreserven kann man vor allem dort wecken, wo die Leute nicht studieren, weil die Eltern die notwendigen Mittel nicht zur Verfügung stellen können, obwohl deren Kinder die Fähigkeiten zum Studieren hätten. Wenn wir über BAföG reden, sollten wir uns meiner Meinung nach zunächst einmal über diesen Punkt verständigen. ({1}) Ein zweiter wichtiger Punkt ist für mich die Diskussion über die BAföG-Reform. Ich hätte es für besser gehalten, wir hätten eine BAföG-Strukturreform gemacht, die das klare Signal an die Familien gesandt hätte, dass unabhängig von den Eltern Studierende gefördert werden können. Die elternunabhängige Studienfinanzierung ist aus meiner Sicht nach wie vor das bessere Modell im Vergleich zu der bisherigen, am Elterneinkommen orientierten Ausbildungsförderung. ({2}) - Da Sie von beiden Seiten klatschen, muss ich sagen, dass Sie von der PDS nur eine halbe elternunabhängige Förderung wollen. ({3}) Dr. Gerhard Friedrich ({4}) Das ist so, als wollte man über einen Bach springen, springt aber nur bis zur Mitte. Dass dies das Problem löst, bezweifle ich. Eine Ungerechtigkeit, die heute noch nicht thematisiert worden ist, besteht darin, dass wir zwei Formen der Förderung haben: Über das Steuerrecht fördern wir die wohlhabenden Familien. Wir geben sehr viel Geld dafür aus, dass sie entlastet werden, wenn ihre Kinder studieren. Über das BAföG fördern wir diejenigen Familien, die wenig Geld haben. Der Unterschied besteht darin, dass der Steuervorteil zu keinerlei Rückzahlungsverpflichtungen führt, was, wie wir wissen, zumindest für die Hälfte des BAföG gilt. Diese Ungerechtigkeit wird auch nach der Reform fortbestehen. Ich persönlich halte dies sozialpolitisch für nicht verantwortbar und familienpolitisch für falsch. ({5}) Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft werden wir nur dann einen kräftigen Schritt vorankommen, wenn wir die Familien komplett von der Verantwortung für ihre Kinder im Studium entlasten. Nun aber zur konkreten Reform: Herr Kollege Friedrich, wir haben es - natürlich im zähen Kampf mit dem Finanzminister - geschafft, 0,5 Milliarden DM zusätzlich im Haushalt zu mobilisieren. Das bedeutet, dass wir insgesamt weitere 1,3 Milliarden DM in das BAföG hineinstecken können. Die bedürftigen Familien in Deutschland können mit 1,3 Milliarden DM mehr für die Studierendenförderung rechnen. Klar war das ein harter Kampf mit Herrn Eichel; das ist überhaupt keine Frage. Im Kabinett ist es aber beschlossen worden. Die Ministerin hat sich an dieser Stelle durchgesetzt. ({6}) Ich möchte Ihnen einmal ein paar Zahlen vorlesen, die die Dimension deutlich machen. Die BAföG-Ausgaben sind im Jahr 1991 um 18 Millionen DM gesunken, im Jahr 1992 um 244 Millionen DM, im Jahr 1993 um 268 Millionen DM, im Jahr 1994 um 164 Millionen DM. 1995 hat der Bund 85 Millionen DM weniger für das BAföG ausgegeben, 1996 202 Millionen DM weniger und 1997 hat man sich darüber gefreut, dass es nur noch 41 Millionen DM weniger als im Vorjahr waren. Da hat man stolz davon gesprochen, dass die Talfahrt gestoppt ist. In Ihrer Verantwortungszeit - ich beziehe mich nur auf diese Phase - ist das Sozialleistungsgesetz BAföG zu einem absoluten Nichts verkommen und ausgeblutet worden. Das ist auch der Grund dafür, warum heute nur so wenige Kinder aus einkommensschwachen Familien - es sind übrigens viel weniger, als das früher der Fall war studieren. ({7}) Es ist natürlich überhaupt keine Frage: Auch die Länderfinanzminister haben sich die Hände gerieben. Ich halte es nicht für verantwortbar, dass sie dieses Geld eingespart haben. Es gibt aber einen Unterschied: Unsere Ministerin wird Ihnen einen Gesetzentwurf vorlegen, in dem 1,3 Milliarden DM mehr ausgegeben werden und nicht Hunderte von Millionen DM weniger. Das ist ein wichtiger Unterschied. ({8}) Die Koalitionsfraktionen haben in ihrem Antrag die Bundesregierung aufgefordert, zum 1. April nächsten Jahres die BAföG-Reform auf den Weg zu bringen. Der 1. April ist ein realistisches Datum. ({9}) Wir werden, wenn wir so viel Geld in das BAföG stecken, wie wir es heute vorhaben - es geht um 1,3 Milliarden DM -, an vielen Stellen innerhalb des Gesetzes überlegen müssen: Sind bestimmte Regelungen noch sinnvoll oder nicht, können wir das BAföG entbürokratisieren? Das bedarf eines geordneten Verfahrens. Dieses geordnete Verfahren heißt: Im Herbst beschließt das Kabinett, im Winter berät der Bundestag und im Frühjahr tritt die BAföG-Reform in Kraft. ({10}) Sie haben beispielsweise Forderungen gestellt, über die man gründlich nachdenken muss - das werden wir auch tun -, so etwa über die Forderung, die Darlehensschuld zu begrenzen, damit diejenigen, die am meisten bedürftig sind, am wenigsten durch die BAföG-Schulden belastet werden. Das ist ein interessanter Vorschlag, den auch die Ministerin angesprochen hat und von dem wir glauben, dass man ihn gründlich überprüfen und abwägen sollte, ob er sinnvoll ist. ({11}) Dafür brauchen wir aber die Zeit bis zum 1. April. Ich glaube, dass es in dieser Zeit gelingen wird, die BAföG-Regelungen zu sanieren. Dass wir sie total sanieren werden, bezweifle ich. Ich habe Ihnen auch erklärt, warum: Ich glaube, es wird in den nächsten Jahren struktureller Reformen innerhalb der Ausbildungsförderung bedürfen. Wir werden aber in diesem Gesetz so viele Dinge verändern, dass es am Ende nicht am BAföG liegen wird, wenn nur wenige Leute aus einkommensschwachen Familien studieren. ({12}) Natürlich haben auch die Schulen eine große Verantwortung, dafür zu sorgen, dass Leute auch dann eine Chance zum Abitur erhalten, wenn sie aus einer Familie stammen, die Sozialhilfe bezieht. Die Zahlen, die uns auf dem Tisch liegen, sind erschreckend. Das wissen wir alle und das macht uns alle besorgt. Ich möchte noch zwei Bemerkungen zu der Strukturreformdiskussion machen. Innerhalb der Rentenreform wird es jetzt eine Reform des Unterhaltsrechts geben. Das hat Arbeitsminister Riester angekündigt, und das ist vernünftig. Warum sollen diejenigen, die Kinder in die Welt gesetzt haben, dann, wenn sie im Alter von Armut betroffen sind, ihre Kinder belasten, während andere, die ohne Kinder durchs Leben gegangen sind, zum Sozialamt gehen können? Hier werden die Unterhaltsbeziehungen zwischen Erwachsenen gekappt. Wir sollten das zum Anlass nehmen, insgesamt darüber nachzudenken, ob die Unterhaltsbeziehungen zwischen Erwachsenen - zwischen erwachsenen Studierenden und ihren Eltern und zwischen Rentnerinnen und Rentnern und ihren Kindern - noch vernünftig geregelt sind. Dafür wollen wir eine Reformkommission zur Zukunft der Bildungsfinanzierung einsetzen. Wir wollen diese Reformkommission, weil wir sagen: Auf dem Weg zum lebenslangen Lernen ist eine zentrale Frage, wie man die Vorsorgeleistungen der Menschen für die Bildung steuerlich begünstigen kann. Wir wollen die Reformkommission, weil wir nicht selbstsicher sagen, diese BAföG-Reform wird der größte Erfolg in der Geschichte der Republik, sondern weil wir prüfen wollen, ob das Ziel erreicht wird oder ob weitere Maßnahmen nötig sind. Wir wollen die Reformkommission, weil die Strukturreformdiskussion über das BAföG gezeigt hat: Es gibt in Deutschland viele Menschen, viele Verbände und sehr viel Engagierte, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Diese Menschen wollen wir an einen Tisch holen, um mit ihnen über vernünftige Lösungen über den Tag hinaus zu diskutieren. Ich halte das für eine gute Sache. Am meisten freue ich mich, dass wir uns bereits auf einen Punkt geeinigt haben, der ein Stück weit Elternunabhängigkeit repräsentiert. Der Kollege Hilsberg hat ihn bereits angesprochen. Dadurch, dass wir den Studierenden die Möglichkeit geben, elternunabhängig Bildungskredite in Anspruch nehmen zu können, wollen wir einen unbürokratischen Weg gehen, der es den Studierenden erlaubt, nicht jobben zu müssen, sondern schneller das Examen zu machen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Berninger, auch Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Matthias Berninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002627, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Es darf nämlich nicht sein, dass Deutschland die jüngsten Rentner und die ältesten Studenten hat. Deshalb wollen wir ein Instrument schaffen, das das Studium beschleunigt. Mein Appell, insbesondere an die unionsgeführten Länder, lautet: Machen Sie dafür ebenfalls den Weg frei. Die Koalitionsfraktionen werden ihren Anteil dazu bei den Haushaltsberatungen abliefern. ({0}) - Das Konzept, Herr Kollege Rachel, legen wir Ihnen selbstverständlich gern vor. ({1}) - Alles zu seiner Zeit, im Herbst. Vielen Dank. ({2})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin ist die Kollegin Cornelia Pieper für die F.D.P.-Fraktion.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich sage noch einmal deutlich: Wir beraten heute nicht über eine Strukturreform der Bundesausbildungsförderung, sondern über Anträge der Regierungskoalition und der Union, die auf eine Erhöhung der Bedarfssätze und Freibeträge hinauslaufen, ({0}) sozusagen über eine zukünftige 21. Novelle. Insbesondere die Regierungskoalition verabschiedet sich damit von ihrem Vorhaben, eine echte Reform auf den Weg zu bringen. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ich möchte Sie, Frau Ministerin, daran erinnern, was Sie bei der Beratung des 20. Gesetzes zur Änderung der Bundesausbildungsförderung 1999 gesagt haben. Damals sagten Sie - ich zitiere mit Genehmigung der Präsidentin: Ich habe ... gesagt, dass wir zwar mit der vorliegenden BAföG-Novelle eine Trendwende hin zu mehr Chancengleichzeit und sozialer Gerechtigkeit einleiten, dass aber die Hauptaufgabe noch vor uns liegt, nämlich eine grundlegende Reform der Ausbildungsförderung. Wir werden hierzu bis Ende dieses Jahres ein entscheidungsreifes Konzept vorlegen. Wir bauen bei unseren Überlegungen auf den breiten Konsens auf, ausbildungsbezogene staatliche Leistungen wie Kindergeld und Freibeträge zu einer elternunabhängigen Förderung zusammenzufassen. Frau Ministerin, genau das, was Sie wollten, sieht unser Gesetzentwurf vor, den wir heute hier nicht mitberaten. Ich weiß das, aber ich wollte Sie einfach noch einmal an Ihre Vorhaben in der Regierungskoalition und auch an die Beschlüsse des SPD-Bundesparteitages erinnern. Die Wahrheit, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ist: Sie sind mit Ihren richtigen Vorstellungen für eine echte Strukturreform vom Bundeskanzler zurückgepfiffen worden. Es verlief nach dem bekannten Schema - wir wissen es alle, denn dies passiert öfter und auch vor den Augen der Öffentlichkeit -: große Versprechen im Wahlkampf, auch einmal in der Regierungserklärung und im Koalitionsvertrag. Dann erklärt der Kanzler der jungen Generation, als der er sich gerne sieht, die BAföG-Reform zur Chefsache und erledigt es auf seine Weise: Sie findet nicht statt. ({1}) Die richtige Idee einer elternunabhängigen Förderung für junge Erwachsene in der Ausbildung opfern Sie sozusagen einer unsachlichen und demagogischen Argumentation des Kanzlers selbst: Er könne auf die Wählerstimmen der Häuslebauer nicht verzichten, die das Kindergeld und das durch Ausbildungsfreibeträge gesparte Geld zur Abzahlung ihrer Schulden verwenden. Ich finde, dies ist eine Anmaßung gegenüber diesem Parlament, das die Steuerfreibeträge, die die Eltern junger Menschen bis zu deren 27. Lebensjahr geltend machen können, genehmigt hat, damit die Ausbildung finanziert und das Geld nicht artfremd verwendet wird. Ich glaube, dies ist eine demagogische und unsachliche Argumentationsführung, die wir in diesem Hohen Hause nicht dulden können. ({2}) Mit anderen Worten: Diese Regierung ist gewiss nicht der Anwalt der jungen Generation, ({3}) denn Sie haben Ihr Wort gegenüber den jungen Menschen gebrochen. Eines ist auch gewiss: Der Druck der Opposition, insbesondere auch durch unseren F.D.P.-Gesetzentwurf, hat Ihnen wenigstens geholfen, dem Finanzminister diese rund 500 Millionen DM aus dem Haushalt 2001 abzuringen. Ohne den Druck der Opposition hätten Sie das nicht geschafft. ({4}) Ich will Ihnen noch eines entgegenhalten: Die angebliche Nichtfinanzierbarkeit einer Strukturreform ist von Ihrem eigenen Hause, sprich: vom Ministerium, widerlegt worden. Ich habe ausrechnen lassen, welche Kosten mit unserem Gesetzentwurf zum Ausbildungsgeld verbunden sind. Dies wären Mehrkosten in Höhe von 3,5 bis 4 Milliarden DM. Ich habe schon aus der Expertenanhörung zitiert. Das Deutsche Studentenwerk hat in dieser Anhörung noch einmal daran erinnert, dass im Gesetz ursprünglich vorgesehen war, dass Rückflüsse, die schon jetzt von Studierenden, die fertig sind, kommen, zur Refinanzierung beitragen sollen. Diese verschwinden in Höhe von 6 Milliarden DM im Gesamthaushalt. Dies finden wir nicht richtig. Dies entspricht auch nicht dem ursprünglichen Anliegen des Gesetzentwurfes. ({5}) Sie von der Regierungskoalition wollen mit Ihrem Antrag, wie ich schon sagte, unter anderem entbürokratisieren - das kann ich eigentlich nur begrüßen -, die Bedarfssätze auf 1 100 DM anheben, die Freibeträge ohne Anrechnung des Kindergeldes erhöhen und die Unterschiede zwischen Ost und West abbauen, die sich auf Wohnkosten und Krankenversicherungszuschläge beziehen. Frau Ministerin, Letzteres haben wir Ihnen bereits vor einem Jahr empfohlen. Da argumentierten Sie übrigens noch, die Lebenshaltungskosten im Osten seien viel geringer und die Härtefallregelung im bisherigen Gesetz ausreichend. Ich freue mich, dass jetzt zumindest unsere damalige Argumentation gegriffen hat und Sie diesen Schritt der Angleichung bei der Gesetzesänderung tun wollen. Aber ich frage Sie auch: Wo bleibt eigentlich Ihr Gesetzentwurf? Wir beraten hier über einen Antrag, der nebulös im Raum steht. Ein Gesetzentwurf der Regierung liegt bis jetzt nicht vor. Sie wollen - so haben Sie uns im Ausschuss versprochen - bis Ende des Jahres eine Gesetzesnovelle vorlegen, die dann unserem Gesetzentwurf mit einer echten Strukturreform gegenüberstehen wird. Der eigentliche Skandal ist, dass Sie sich, ohne einen Gesetzentwurf vorgelegt zu haben, im Haushalt 2001 einen Blankoscheck von der Opposition ausstellen lassen wollen. Das geht nicht, meine Damen und Herren. Ich habe mich gefragt, warum Sie Ihren Gesetzentwurf, für den Sie auch schon, ich glaube, vor etwa einem halben Jahr auf einer Bundespressekonferenz geworben haben, hier heute nicht vorlegen. Als schlüssige Argumentation fiel mir dazu nur ein: Dann müssten Sie wahrscheinlich bereits ab diesem Herbstsemester höheres BAföG, höhere Bedarfssätze und Freibeträge finanzieren. Aber das wollen Sie nicht.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Pieper, ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Sie, die Koalition, vertrösten die Studenten. Sie versuchen mit einer Hinhaltetaktik, den Studierenden vorzugaukeln, dass Sie für die Auszubildenden etwas tun würden. Sie tun das Gegenteil: Sie wollen die Änderung des Gesetzes zum Wahlkampfschlager machen. Erst ab Sommersemester nächsten Jahres soll die BAföGNovelle rechtswirksam sein.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluss.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition: Wir halten diesen Opportunismus für nicht akzeptabel. Wir werden dafür sorgen und Sie auch davon überzeugen, dass wir eine echte Strukturreform der Bundesausbildungsförderung brauchen. Vielen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächste Rednerin ist für die PDS-Fraktion die Kollegin Maritta Böttcher.

Maritta Böttcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002631, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich frage: Wie lange, meine Damen und Herren von der Koalition, möchten Sie die Studentinnen und Studenten eigentlich noch an der Nase herumführen? Mit Ihrer Bildungs- und Hochschulpolitik machen Sie es der Opposition in diesem Haus wirklich leicht. Das entwaffnendste Argument gegen Ihre Versäumnisse ist immer noch Ihre eigene Koalitionsvereinbarung. Aus diesem Papier - man muss wohl leider sagen: zeitgeschichtlichen Dokument - hat Kollegin Pieper eben zitiert. Ich will dieses Zitat nicht wiederholen. Die entscheidende Absicht, nämlich die ausbildungsbezogenen staatlichen Leistungen zusammenzufassen und dieses Konzept Ende 1999 vorzulegen, ist eindeutig und klar, aber nicht erfüllt. ({0}) - Sie können mir gerne eine Frage stellen, Frau Wimmer. Als die Ministerin im Januar verkünden musste, dass sie sich aufgrund eines Machtworts des Bundeskanzlers auch von diesem Reformprojekt zu verabschieden hatte, war der Sturm der Entrüstung groß, nicht nur bei der PDS, die seit Jahren eine echte Strukturreform der Ausbildungsförderung fordert, sondern auch bei Ihren eigenen Jugend- und Studentenverbänden, beim Deutschen Studentenwerk und bei der Hochschulrektorenkonferenz. Völlig zu Recht mussten Sie sich den Vorwurf des Wahlbetrugs gefallen lassen, da die Studierenden mit dem Regierungswechsel 1998 die Hoffnung auf eine spürbare Verbesserung ihrer sozialen Lage verknüpft hatten. ({1}) Von Ihnen wurden sie bitter enttäuscht. Um die Wogen zu glätten, haben Sie im Januar buchstäblich über Nacht Eckpunkte für eine BAföG-Reform präsentiert, mit denen anstelle der versprochenen Strukturreform der Ausbildungsförderung die Leistungen des geltenden BAföG verbessert werden sollten. Ein halbes Jahr ist es jetzt her, dass Sie diese Eckpunkte vorgelegt haben; aber - ich wiederhole es - es liegt noch immer kein Gesetzentwurf der Bundesregierung vor. ({2}) - Genau. Als Termin für die Einbringung des Gesetzentwurfs in den Bundestag geben Sie mittlerweile November oder Dezember an. Damit verspielen Sie kostbare Zeit. Aber mit jedem einzelnen Semester, mit dem Sie die BAföGReform auf die lange Bank schieben, legen Sie Hunderttausenden Studentinnen und Studenten Knüppel in den Weg zu einem erfolgreichen Studienabschluss. ({3}) Fangen Sie endlich an, Politik zu machen, statt nur davon zu reden! 425 Millionen DM wollen Sie im Bundeshaushalt 2001 zusätzlich für die Ausbildungsförderung bereitstellen. Bei allem Respekt für diese zusätzlichen Leistungen: Selbst inklusive der Leistungen der Deutschen Ausgleichsbank erreichen die BAföG-Aufwendungen des Bundes nicht einmal das Niveau von 1994. 1994 war aber genau der Zeitpunkt, als das Deutsche Studentenwerk eine Krise des BAföG diagnostizierte und die Diskussion über eine Strukturreform anstieß. ({4}) Gleichzeitig sind die jährlichen Darlehensrückzahlungen ehemalig Studierender seit 1995 um über 300 Millionen DM gestiegen. Ich fordere Sie auf: Hören Sie auf, mit diesen enormen Summen Löcher im Bundeshaushalt zu stopfen und setzen Sie das Geld aus den Portemonnaies ehemaliger BAföG-Empfänger für eine zusätzliche Verbesserung der Ausbildungsförderung ein! ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Böttcher, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Berninger?

Maritta Böttcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002631, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Selbstverständlich.

Matthias Berninger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002627, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Kollegin, Sie haben eben gesagt, die Reform, die wir jetzt in Gang setzen wollen, würde das Niveau von 1994 nicht erreichen. 1994 wurden 3,1 Milliarden DM für das BAföG ausgegeben. Am Ende der Reform werden wir aller Wahrscheinlichkeit nach 3,4 Milliarden DM, vielleicht sogar 3,5 Milliarden DM für das BAföG mobilisieren. Vor dem Hintergrund frage ich Sie: Bleiben Sie bei Ihrer Aussage? Ist sie nicht falsch?

Maritta Böttcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002631, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich bleibe bei meiner Aussage, da ich andere Zahlen zur Grundlage habe. Ich gebe die Frage zurück: Wenn das so ist, warum machen Sie denn dann keine Strukturreform? ({0}) Insofern hält die PDS an ihrem Vorschlag einer strukturellen Erneuerung der Ausbildungsförderung fest und stellt ihre Alternative zur Regierungspolitik der leeren Versprechen heute zur Abstimmung. Das hat einen einfachen Grund: Wenn wir die bisherigen Leistungen des Familienlastenausgleichs bündeln, so wie es versprochen wurde, und direkt an die Studentinnen und Studenten auszahlen, können wir auf einen Schlag und mit nur geringen zusätzlichen Belastungen für die Haushalte des Bundes und der Länder das BAföG zumindest um 400 DM oder 500 DM - um diese Zahl will ich mich jetzt nicht streiten - pro Monat erhöhen, ohne dass es zurückzuzahlen wäre. Gleichzeitig machen wir Schluss mit der steuerlichen Privilegierung von besser verdienenden Eltern von Studenten. Die Studierenden würden ein gutes Stück unabhängiger von ihren Eltern und von übermäßiger Erwerbsarbeit. Wenn wir der Realisierung von Chancengerechtigkeit näher kommen wollen, müssen Sie unserem Antrag heute zustimmen. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort hat die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard Bulmahn.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung ist mit dem Versprechen angetreten, unser Land zu modernisieren. Dieses Versprechen halten wir. Die Erhöhung der Zukunftsinvestitionen in Bildung und Forschung, die wir im kommenden Jahr zum dritten Mal durchführen werden - wir haben sie 1999 und 2000 durchgeführt und auch 2001 wird sie 780 Millionen DM betragen -, ist die Grundlage für Lebenschancen von morgen, die Grundlage für Innovation, Wohlstand und Arbeitsplätze. ({0}) Wir setzen dabei auf ein hochwertiges Bildungssystem. Das können wir nicht alleine leisten, sondern nur gemeinsam mit den Ländern. Aber wir tun unseren Teil dafür. Wir setzen darauf, dass junge Menschen in Schulen, Hochschulen und Betrieben fundiert ausgebildet werden und dass eine exzellente Forschung durchgeführt wird. Wir setzen auf eine rasche und breite Verwendung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die BAföG-Reform ({1}) ist die wichtigste Voraussetzung dafür, dass alle jungen Menschen diese Bildungschancen unabhängig vom Geldbeutel auch tatsächlich nutzen können. ({2}) Ich muss mich jetzt sowohl an Sie, Frau Pieper, als auch an die PDS wenden. Sie verwechseln zwei Dinge. Sie verwechseln eine Veränderung und eine Umstellung der Familienförderung, die keinem Studierenden aus einer einkommensschwächeren Familie tatsächlich eine müde Mark mehr bringen würde, mit der BAföG-Reform. Deshalb sind es zwei getrennte Dinge, über die man redet. ({3}) Wir brauchen eine BAföG-Reform, wenn wir erreichen wollen, dass auch Jugendliche aus einkommensschwächeren Familien Bildungschancen nutzen können. Daran geht überhaupt kein Weg vorbei. Wir brauchen eine Totalsanierung des BAföG. ({4}) Das angestrebte Ziel können Sie durch eine Umstellung der Familienförderung nicht erreichen, sondern Sie müssen die BAföG-Reform durchführen, weil nur das zur Folge haben wird, dass gerade Studierende aus einkommensschwächeren Familien tatsächlich mehr Geld in die Hand bekommen. Das ist der wesentliche Unterschied, das kann man nicht gleichsetzen. Es geht um zwei völlig verschiedene Dinge, nämlich zum einen um die Veränderung des Unterhaltsanspruches und der Unterhaltsbeziehungen zwischen Eltern und Kindern und zum anderen um die Förderung von Studierenden aus einkommensschwächeren Familien. Die Veränderung der Unterhaltsbeziehungen zwischen Eltern und Kindern bringt den Studierenden aus einkommensschwächeren Familien nicht mehr Geld. Insofern hat Herr Friedrich Recht.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Pieper?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Ich will noch auf einen zweiten Punkt eingehen, vielleicht können wir die Frage dann im Zusammenhang klären, Frau Pieper. Die Totalsanierung des BAföG, so wie ich sie vorgeschlagen habe, ist notwendig. Mit der von uns vorgestellten Reform werden wir insgesamt mehr als 1 Milliarde DM zusätzlich für BAföG mobilisieren. Meine Vorredner haben darauf hingewiesen, wie das BAföG unter der Regierungskoalition von CDU/CSU und F.D.P. abgebaut und zurückgeschraubt worden ist. Deshalb finde ich es einfach nicht glaubwürdig, wenn man jetzt hier sagt: Es ist alles bei weitem nicht genug. - Sie haben 16 Jahre lang Zeit gehabt, um das BAföG zu modernisieren, und haben es nicht getan. ({0}) Lassen Sie mich ein Zweites sagen. Ich habe von Anfang an für diese Bundesregierung erklärt, dass die grundlegende BAföG-Reform im Jahre 2001 in Kraft treten soll. Deshalb ist schlichtweg falsch, wenn hier von Verzögerung geredet wird. Wir haben von Anfang an gesagt: Wir gehen in zwei Schritten vor: Wir machen erst eine BAföG-Novelle, mit der wir den Abbau des BAföG stoppen, und werden dann mit Beginn des Jahres 2002 die richtige Strukturreform - die ich Totalsanierung genannt habe - in Kraft treten lassen. Genauso gehen wir jetzt auch vor.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Pieper?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Ich habe vorhin gesagt, dass ich das in einem Komplex zusammen abhandeln will, weil ich anschließend auf die BAföG-Höhe eingehen möchte. Ein Blick zurück: Wir haben unter der Regierungsverantwortung der CDU/CSU- und F.D.P.-Koalition eine Halbierung der Zahl der BAföG-geförderten Studenten hinnehmen müssen. Das hatte zur Folge, dass immer mehr Studierende vor dem Problem standen: „Wie finanziere ich meinen Lebensunterhalt?“ und auf Jobsuche gehen mussten. Ihre Ausgestaltung des BAföGs hatte auch zur Folge, dass diejenigen BAföG-Empfänger, die auf die Höchstförderung angewiesen waren, am Ende des Studiums - nicht zuletzt vor dem Hintergrund unsicherer Berufsaussichten - vor dem höchsten Schuldenberg standen. All dies hatte letztlich zur Konsequenz, dass sich vor allen Dingen Jugendliche aus einkommensschwächeren Familien von einem Studium haben abschrecken lassen. Das Ergebnis führt uns der neueste OECD-Bericht, der die Situation bis zum Jahre 1998 beschreibt, deutlich vor Augen: Wir haben im internationalen Vergleich erheblich zu wenig Studierende. In anderen Ländern nehmen 40 Prozent eines Jahrgangs ein Studium auf, während es in Deutschland nur 28 Prozent sind. Das können wir uns in einem Land, das in hohem Maße auf das Know-how, auf das Können und das Wissen gerade der jungen Menschen angewiesen ist, überhaupt nicht leisten. ({0}) Ich sage ganz klar: Wir wollen es uns auch deshalb nicht leisten, weil es dem Grundsatz der Chancengleichheit widerspricht. Dieser Grundsatz ist für uns ein wichtiger Eckpfeiler der Politik. Die aktuelle Diskussion um die Green Card und um den Fachkräftemangel im informationstechnischen Bereich hat sehr deutlich gezeigt, wohin es führt, wenn Ausbildung und Qualifizierung jahrelang vernachlässigt werden. Deshalb sind wir so vorgegangen, wie ich es beschrieben habe: Wir haben zunächst das 20. BAföG-Änderungsgesetz initiiert, mit dem wir die Studierenden vor einer Bruchlandung bewahrt haben, und legen jetzt die Eckpunkte für die eigentliche Reform vor. Ich habe immer gesagt, wir werden sie im Frühherbst, am Ende der Sommerpause, in Form eines Referentenentwurfs vorlegen. Bei dieser Zeitplanung bleiben wir. Das heißt, wir können im parlamentarischen Beratungsverfahren auch so vorgehen - das ist unser Wille -, dass diese Reform zum 1. April des kommenden Jahres, also mit Beginn des Sommersemesters, in Kraft treten wird. Eine Reform kann nicht mitten im Semester in Kraft treten. Das wissen Sie genauso wie ich. Sie muss vielmehr mit Semesterbeginn in Kraft treten. Genau das werden wir vom 1. April des nächsten Jahres an tun. ({1}) Mit dieser Totalsanierung werden wir erreichen, dass wir wieder deutlich mehr Studierende fördern, als es in der Vergangenheit der Fall war. Bei der Berechnung des BAföG wird das Kindergeld künftig nicht mehr angerechnet. Davon profitieren zum Beispiel Eltern mit mittlerem Einkommen. ({2}) Die Freibeträge, die für die anrechenbaren Einkommen maßgeblich sind, werden deutlich angehoben. Das habe ich übrigens schon im Herbst letzten Jahres bei einer Veranstaltung des DSW gesagt. Das kann man alles im Protokoll nachlesen. Wir verbessern auch die Leistungen der Ausbildungsförderung. Wir erhöhen das BAföG auf den Höchstsatz von 1 100 DM. Zusammen mit dem Kindergeld stehen einem Studierenden dann 1 370 DM zur Verfügung. Das ist eine Summe, von der man leben kann. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir machen nicht nur das, sondern wir führen auch grundsätzliche Neuerungen ein. Wir reden nicht nur über Internationalisierung, sondern wir fördern sie auch. Wir setzen bei den Studierenden auf eine Ausbildung im Ausland. Während die Vorgängerregierung die BAföG-Empfänger, die im Ausland studieren wollten, mit der Nichtanrechnung der zusätzlichen Auslandssemester bestraft hat, werden wir die Ausbildung im Ausland fördern, und zwar ohne enge Grenzen und ohne Bestrafung. ({3}) Wir werden sie fördern, weil wir davon überzeugt sind, dass Auslandserfahrung notwendig ist, und weil wir wissen, dass Auslandserfahrung nicht ein Extraluxus für einige wenige, die es sich leisten können, ist, sondern für den akademischen Werdegang eine große Rolle spielt und von vielen Unternehmen inzwischen ein wichtiges Einstellungskriterium ist. Mit dieser Förderung, der parallelen Entwicklung internationaler Studiengänge, der Einführung der bekannten Bachelor- und Master-Abschlüsse sowie dem Ausbau von Austauschmaßnahmen treiben wir die Internationalisierung der Hochschulen voran. Mit der Reform des BAföG ermöglichen wir es den BAföG-Empfängern, diese Chancen zu nutzen, weil wir nicht wollen, dass BAföG-Empfänger Studierende zweiter Klasse sind. Wir wollen nicht, dass sie sich nur eine Schmalspurausbildung im Ausland leisten können. ({4}) Wir werden Gleichberechtigung und Gleichheit auch für Studierende, die BAföG erhalten, herstellen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Ministerin, entschuldigen Sie, dass ich Sie noch einmal unterbreche. Da die Kollegin Pieper ihre Frage aufrechterhält, möchte ich Sie fragen, ob Sie sie jetzt zulassen.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Das tue ich.

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Ministerin, Sie sprachen von der Ungleichbehandlung, die insbesondere durch das Ausbildungsgeld hergestellt werden würde. Das gelte insbesondere auch für die Personen, die aus einkommensschwachen Familien kommen. Würden Sie nicht der Argumentation Ihres Kollegen Herrn Berninger von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen folgen, der logisch aufBundesministerin Edelgard Bulmahn gezeigt hat, dass wir bei der derzeitigen BAföG-Regelung aufgrund der ständigen Erhöhung der Steuerfreibeträge durch dieses Gesetz eher eine Bevorteilung der Studenten haben, die aus besser verdienenden Familien kommen? Stimmen Sie mir zu, dass durch ein einheitliches Ausbildungsgeld für alle, aber auch durch Zuschüsse für eine begrenzte Schicht aus einkommensschwachen Familien eine sehr starke Differenzierung durch das von uns vorgeschlagene Drei-Körbe-Modell hergestellt wird und eine Ungleichbehandlung aufgehoben wird?

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Nein, Frau Pieper, ich kann Ihnen deshalb nicht zustimmen, weil Sie auch bei einer Änderung der Familienförderung für Studierende aus Familien mit einem geringen Einkommen eine zusätzliche Ausbildungsförderung brauchen. Das haben Sie in Ihrem Modell vorgesehen; das sehen Sie also selber. Sie brauchen grundsätzlich eine Totalsanierung der individuellen Ausbildungsförderung, wenn Sie erreichen wollen, dass Chancengleichheit nicht nur eine Phrase bleibt, sondern auch tatsächlich umgesetzt wird. Deshalb muss die Totalsanierung des BAföG stattfinden. Wenn man Chancengleichheit erreichen will, geht daran kein Weg vorbei. Mit einer Totalsanierung des BAföG werden wir dieses Ziel erreichen. Das können Sie allein durch eine Umstellung der Familienförderung nicht erreichen. Das zweite Problem, das Sie angesprochen haben, entsteht durch eine Senkung der Steuereingangssätze und eine Anhebung der Steuerfreibeträge. Es könnte die Situation entstehen, dass Studierende aus einkommensschwachen Familien nicht mehr BAföG-berechtigt wären, wenn wir die Einkommensfreigrenzen nicht anheben. Deshalb heben wir ja die Einkommensfreigrenzen an. Das ist notwendig, damit Studierende aus Familien, die zum Beispiel ein Nettoeinkommen von rund 4 000 DM haben, trotzdem BAföG-berechtigt sind. In unserem Vorschlag ist genau diese Anhebung der Einkommensfreigrenzen vorgesehen. Ich möchte noch einen dritten Punkt in diesem Zusammenhang ansprechen. Sie haben vorhin behauptet, Frau Pieper, dass Ihr Vorschlag durch die BAföG-Rückflüsse durchaus finanzierbar sei. Das ist falsch. Als Sie die Zahl 6 Milliarden DM genannt haben, haben Sie eines nicht gesagt: Die 6 Milliarden DM sind die Summe der BAföGRückflüsse aus allen Jahren. Das ist also kein Rückfluss pro Jahr. Auch ich muss das BAföG, das ich erhalten habe, zurückzahlen. Meine Rückzahlung und die Rückzahlungen aller anderen ehemaligen BAföG-Empfänger, die irgendwann einmal unterstützt worden sind, summieren sich zu insgesamt 6 Milliarden DM. Aber Ihr Vorschlag hätte alleine schon 3,7 Milliarden bis 4 Milliarden DM pro Jahr an Kosten zur Folge, die zusätzlich zu dem kommen, was wir jetzt vorgeschlagen haben. Deshalb ist Ihr Vorschlag beim besten Willen nicht finanzierbar. Wenn man 6 Milliarden DM über einen langen Zeitraum verteilen muss, dann kann man nach Adam Riese beim besten Willen nicht zusätzlich zu dem, was wir hier vorgelegt haben, noch 3,7 Milliarden bis 4 Milliarden DM pro Jahr aufbringen. Ich bitte Sie, endlich einmal ein wirklich solides Finanzkonzept vorzulegen. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Ministerin, die Kollegin Pieper möchte eine kurze Nachfrage stellen. Ich bitte Sie, kurz zu antworten. ({0})

Cornelia Pieper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003208, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Ministerin, stimmen Sie meiner Einschätzung zu, dass das Interesse an der Debatte über die Bundesausbildungsförderung in diesem Hohen Hause anscheinend nicht sehr hoch ist, insbesondere nicht bei der Regierungskoalition? Anders kann ich die Zwischenrufe nicht werten. ({0}) Würden Sie mir bitte die Anzahl der Anspruchsberechtigten nennen, die durch Ihre Novelle, die Sie im Winter vorlegen wollen, zusätzlich gefördert werden sollen? Sehen Sie insbesondere nach dem letzten Familienurteil von Karlsruhe die Chancengleichheit gefährdet, wenn nicht alle Auszubildenden in die Bundesausbildungsförderung einbezogen werden? ({1})

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Minister:in)

Politiker ID: 11000305

Liebe Kollegin, ich muss - erstens - feststellen, dass das Interesse der Koalition, sowohl bei der SPD als auch beim Bündnis 90/ Die Grünen, an dieser Reform sehr groß ist, wie ich sehe. Die Zahl der an dieser Debatte interessierten Abgeordneten Ihrer Fraktion kann man sogar an einer Hand abzählen. Es gibt offensichtlich einen deutlichen Unterschied zwischen dem Interesse Ihrer Fraktion sowie dem meiner Fraktion und der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Unser Interesse ist sehr groß. Ich werde - zweitens - die Novelle nicht im Winter vorlegen. Ich werde den Referentenentwurf vielmehr Ende dieses Sommers bzw. im Frühherbst vorlegen. Das habe ich vorhin klar gesagt; das habe ich immer gesagt. Nehmen Sie also bitte zur Kenntnis: Er wird Ende dieses Sommers bzw. im Frühherbst und nicht im Winter vorgelegt werden. Wenn die Novelle vorliegt, dann werden Sie auch Ihre übrigen Fragen, die Sie noch gestellt haben, beantwortet finden. ({0}) Ich möchte jetzt noch ganz kurz auf weitere Eckpunkte der Reform eingehen. Wir gestalten die Verlängerung der Förderungsdauer im Hinblick auf die Kindererziehungszeiten bedarfsgerechter. Das ist vor allen Dingen für weibliche Studierende mit Kind wichtig. Das ist natürlich auch für einige männliche Studierende wichtig, wenn sie Kinder erziehen. ({1}) Das ist wichtig, weil wir Studierende mit Kindern nicht benachteiligen wollen. Wir machen das BAföG einfacher und durchschaubarer. Das kostet leider sehr viel Arbeit; denn jeder, der schon einmal einen Blick in das Gesetz geworfen hat, wird festgestellt haben, dass es ein wahnsinnig kompliziertes, bürokratisches Gesetz geworden ist, das leider nicht innerhalb von zwei Wochen reformiert werden kann. Wenn wir das Ziel erreichen wollen, ein einfacheres, durchschaubareres und damit für diejenigen, für die dieses Gesetz gedacht ist, ein handhabbareres Gesetz zu machen, dann müssen wir auch eine Menge an Mühe und Arbeit aufwenden. Das ist notwendig. Ich möchte das Gesetz so verändern, dass in Zukunft jeder selber abschätzen kann, wie viel BAföG er erwarten kann, und jeder weiß, welchen Rechtsanspruch er hat. Damit soll Planungssicherheit und Überschaubarkeit hergestellt werden. Das ist ein wichtiges Ziel. Wir vereinfachen die selbst für Fachleute kaum noch verständlichen Ergänzungsregelungen. Die Regelung der Wohnzuschläge nach der Härtefallverordnung versteht kein Mensch mehr. Wir regeln das dort, wo es hingehört, nämlich im Gesetz. Außerdem planen wir - über die im Antrag der Koalitionsfraktionen enthaltenen Punkte hinaus - eine Obergrenze bei der Darlehensbelastung, Herr Friedrich. Ich habe im letzten Jahr schon einmal gesagt, dass ich das für notwendig halte. Ich bin sehr froh, dass Sie diese Auffassung teilen. Von daher hoffe ich, dass wir zu einem Konsens kommen können. Ich bin der Auffassung, dass bei denjenigen, die eine Höchstförderung erhalten, eine Obergrenze vorhanden sein muss; es haben zurzeit nämlich diejenigen, die aus den einkommensschwächsten Familien kommen, den höchsten Schuldenberg. Die jetzige Regelung ist eigentlich nicht gerecht und von der Sache her nicht richtig. ({2}) Wir stellen die Studierenden aus Ost und West bei der Ausbildungsförderung gleich. ({3}) Wir heben dazu alle noch bestehenden Unterschiede bei den Förderleistungen auf. Damit wird beim BAföG die soziale Einheit von Ost und West endlich Realität. ({4}) Wir machen noch ein Weiteres: Wir fördern über das BAföG mehr Interdisziplinarität; sie ist heute mehr denn je erforderlich. Master-Studiengänge, die auf den Bachelor-Abschlüssen aufbauen, müssen in Zukunft nicht mehr streng fachidentisch sein; nach Ihren Beschlüssen müssen sie das im Augenblick noch. Diese Studiengänge werden vielmehr dann gefördert, wenn sie für den späteren Beruf besonders geeignet sind. Über die Reform des BAföG hinaus arbeiten wir an der Einführung eines zeitlich befristeten Bildungskredits. Meine Vorredner haben darauf bereits hingewiesen. Wir denken dabei an ein Programm, das Studierenden Kredite zu günstigen Zinssätzen gewährt, unabhängig vom Förderanspruch durch das BAföG. Es ist also kein Ersatz für das BAföG, sondern ein zusätzliches Instrument, das keinen Rechtsanspruch beinhaltet. Wir wollen mit diesem Angebot Studierenden in besonderen Studiensituationen eine Möglichkeit zur Selbsthilfe geben. Es handelt sich um ein sinnvolles Ergänzungsprogramm, das notwendig ist und der Sache gerecht wird. Mit dem Etatentwurf für das Jahr 2001 haben wir unser Versprechen eingelöst, zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen. Diese Mittel werden nicht durch Abstriche bei anderen Bildungs- und Forschungsaufgaben aufgebracht. Das war nicht ganz einfach, aber es hat geklappt. Es macht deutlich, dass die gesamte Bundesregierung dahinter steht. Wie ich vorhin gesagt habe, werden wir gleich nach der Sommerpause den Gesetzentwurf für die BAföG-Reform vorlegen. Wenn das geschehen ist, können die parlamentarischen Beratungen noch in diesem Jahr beginnen, sodass die Studierenden bereits zu Beginn des Sommersemesters 2001 ({5}) von dieser Totalsanierung des BAföG profitieren werden. Ich bin sicher, Sie werden begreifen, dass diese Bundesregierung im Gegensatz zur Vorgängerregierung nicht nur redet, sondern den Studierenden eine kräftige Unterstützung tatsächlich zukommen lässt. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile, habe ich Ihnen eine erfreuliche Mitteilung zu machen. Wie Sie wissen, entscheiden nicht nur wir in diesem Parlament. Die FIFA hatte heute über den Ausrichtungsort der Fußballweltmeisterschaft im Jahr 2006 zu entscheiden. Es gab ein denkbar knappes Ergebnis: Mit einem Stimmenverhältnis von 12:11 wurde entschieden, die Weltmeisterschaft in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden zu lassen. ({0}) Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Angelika Volquartz von der Fraktion der CDU/CSU.

Angelika Volquartz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003251, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt gilt es eigentlich nur noch, die Weltmeisterschaft im BAföG zu gewinnen; dann ist der Sieg komplett. Nur, verehrte Kolleginnen und Kollegen auf der linken Seite des Hauses, da haben wir doch allmählich unsere Zweifel. Frau Ministerin, Sie haben eben gesagt: Wir machen eine einfache und durchschaubare BAföG-Reform. Dazu kann man eigentlich nur sagen: Einfach und durchschaubar ist Ihre Verzögerungstaktik seit Ihrer Regierungsübernahme gewesen. Ich erinnere an die leeren Wahlversprechen, die Sie immer wieder gegeben haben. ({0}) Wir sind uns einig, dass unsere Wissensgesellschaft weiterentwickelt werden muss und dass wir Politiker die Rahmendaten zu setzen bzw. zu verbessern haben. Wenn wir davon sprechen, dass wir sie weiterentwickeln wollen, dann müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass grundsätzliche Entscheidungen getroffen werden müssen. Sie haben heute die Green Card angesprochen. Dazu muss ich sehr deutlich sagen: In den Ländern, die bis 1998/99 mehrheitlich von der SPD regiert waren, hat es im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich der Schulen doch große Versäumnisse gegeben. ({1}) - Dazu gibt es ganz klare Daten. Frau Wimmer, Sie kommen nicht aus diesem Bereich. Sie kennen das nicht. Daran liegt es, dass Sie das nicht wissen. ({2}) Aus dem OECD-Bericht 2000 geht doch ganz deutlich hervor, dass lediglich 28 Prozent eines Jahrganges bei uns mit dem Studium beginnen und nur 16 Prozent eines Jahrganges abschließen. Das ist auch ein Problem der mangelnden Qualifikation an den Schulen, die gerade in SPD-regierten Ländern zutage tritt. ({3}) Dieser Entwicklung muss natürlich Einhalt geboten werden. Es muss eine Trendwende herbeigeführt werden. ({4}) Dazu gehört selbstverständlich auch die längst überfällige BAföG-Reform. Die Gefördertenquoten sind gesunken. Sie haben dabei aber einen wichtigen Punkt vergessen, Frau Bulmahn. Sie haben nämlich vergessen zu erwähnen, dass es 1990 eine Steuerreform gab, in deren Folge die Nettoeinkommen gestiegen sind. Auch dadurch hat sich eine Veränderung ergeben. Außerdem haben wir seit 1996 den Grundfreibetrag für Familien erhöht. Es muss einfach erwähnt werden, was wir alles für die jungen Menschen gemacht haben. ({5}) Ich sage es noch einmal deutlich - es nützt auch gar nichts, wenn Sie hier wieder versuchen, Ihre Verzögerungstaktik mit nicht überzeugenden Argumenten zu verschleiern -: Die Bundesregierung hat diese Reform immer wieder angekündigt. Doch eine Oppositionsfraktion, die CDU/CSU-Fraktion, war die treibende Kraft. Wir haben im Dezember letzten Jahres die Eckpunkte vorgelegt und nicht Sie. ({6}) Sie, Frau Ministerin, sind uns dann gefolgt. Rot-Grün hat die wesentlichen Eckpunkte übernommen. Die Kriterien, die Sie eben lobend erwähnt haben - stärkere Berücksichtigung von Kindererziehung während des Studiums, Erhöhung der Freibeträge usw. -, sind okay, damit bin ich einverstanden. Aber dabei handelt es sich doch um unsere Vorschläge. Es ist sehr schön, dass Sie diese übernommen haben. ({7}) Es ist deutlich zu sagen, dass Rot-Grün bei den Bildungskrediten, die Sie jetzt so hervorheben, über die Ziellinie herausgeschossen ist. Jedermann leuchtet doch ein, dass dies zusätzliche Prüfungen erfordert und mehr Zeitaufwand bedeutet. Warum findet darüber keine separate Diskussion statt? Herr Hilsberg hat vorhin gesagt, wir wollten die Reform torpedieren. Das ist völlig falsch, Herr Kollege Hilsberg. ({8}) Wir wollen eine separate Diskussion. Nehmen Sie das bitte ganz ruhig zur Kenntnis. Dies sollte doch bloß wieder ein Alibi für ein Spiel auf Zeit sein. Wenn die BAföG-Studienförderung nach Ihrem Willen auf Teufel komm raus ohne ein zeitliches Limit zukünftig verlängert werden soll, ({9}) dann kann ich dazu nur deutlich sagen, dass das der verkehrte Weg ist. Langzeitstudierenden wird damit nicht der Weg in eine gute Zukunft bereitet. Ausnahmen sollten gemacht werden - darin sind wir uns wieder einig -, beispielsweise sollte bei Alleinerziehenden mehr Rücksicht auf Studienverzögerungen genommen werden, aber diese Regelung darf nicht auf Bummelstudenten ausgeweitet werden. Allerdings passen Bummelstudenten ausgezeichnet zu Ihnen, weil Sie eine Bummelreform machen, die einfach nicht in Gang kommt. ({10}) Anstatt die Leistungsgewährung auf nicht akzeptable Bereiche auszudehnen, stehen wir für eine Ausdehnung der Leistungen in andere, sinnvollere Richtungen. Eine Zielgruppe für eine Leistungserweiterung sind die einkommensschwächeren Familien. Dazu hat mein Kollege Gerhard Friedrich schon einiges ausgeführt. Der von ihm angesprochene Punkt unseres Programms fördert die Akzeptanz der BAföG-Leistung und schafft ein Stück mehr soziale Gerechtigkeit, von der Sie immer reden, während wir entsprechend handeln. Sogar der DGB hat uns in dieser Frage im Rahmen der Anhörung Recht gegeben. Eine zweite Zielgruppe der Leistungserweiterung sind zügig bzw. überdurchschnittlich gut Studierende. Wir wollen verstärkt Anreize für Studenten geben, die überdurchschnittliche Abschlüsse erzielen. In diesem Punkt den Geförderten entgegenzukommen halten wir für den richtigeren Weg, weil wir damit in die Zukunft der Studenten investieren. Wer nun in Anbetracht der vorliegenden Papiere glaubt, der Boden für ein zügiges Gesetzgebungsverfahren sei bereitet und die Geförderten könnten eventuell noch in diesem Jahr mit einem Zuschlag rechnen, der irrt leider gewaltig. ({11}) Wir haben die entsprechenden Aussagen eben gehört. Allerdings gibt es eine Diskrepanz, Frau Bulmahn. Ihr Staatssekretär hat in der letzten Woche im Ausschuss gesagt, im November/Dezember gebe es einen Gesetzentwurf. Sie sprechen jetzt vom Spätsommer. ({12}) Hoffentlich haben wir im Spätsommer noch kein Glatteis. Dann würde die Gangart etwas härter. Wir müssten dann nämlich sagen, dass man der Bundesregierung einfach nicht mehr glauben kann. Immer wieder wird etwas versprochen und nicht gehalten. ({13}) Ich finde es in diesem Zusammenhang besonders amüsant, dass Sie am 4. Januar dieses Jahres einen BAföGBericht veröffentlichen, in dem Sie die Eckpunkte für eine Reform Ende 1999 ankündigen. ({14}) Aber am 4. Januar liegt noch nichts auf dem Tisch. Es gehört schon einiges dazu, zu glauben, dass das vielleicht niemandem auffällt. ({15}) Als durchsichtige Erklärung in all dieser Zeit wird die rechtliche und finanzielle Prüfung des Sockelmodells angeführt. Es ist schon mehrfach gesagt worden, aber man muss es noch einmal deutlich sagen: Mitte Januar - ich glaube, es ist der 14. Januar dieses Jahres gewesen - hat der Bundeskanzler Sie schlicht und ergreifend einen Kopf kürzer gemacht. Er hat nämlich gesagt: Schluss! Er hat in gewisser Weise gesagt, es müsse eine BAföG-Reform sein, wie sie die CDU/CSU vorschlägt. Da hat er Recht gehabt. Die Folge ist gewesen, dass Sie und auch Vertreter von Rot-Grün entsprechende Vorschläge für Eckpunkte einer BAföG-Reform auf den Tisch gelegt haben, nämlich Eckpunkte für eine Reform innerhalb des bestehenden Systems. Viel Zeit ist zum Nachteil der Studierenden verstrichen. Wenn in Sonntagsreden der Finanzminister, die Bildungsministerin und der Bundeskanzler immer wieder mehr Bildung einfordern, aber im grauen Alltag die falschen Prioritäten setzen, dann kann ich nur sagen: große Sprünge wie ein Känguru und nichts im Beutel. Man kann nicht mit dem Versprechen von Reformen und von einer Verdoppelung des Bildungshaushaltes auf Stimmenfang gehen und hinterher Peanuts als große Leistung proklamieren. Unterschätzen Sie nicht die Intelligenz der Studierenden! Wir fordern: keine weiteren Verzögerungen durch die Bundesregierung! Die Studierenden dürfen nicht weiter betrogen werden. Machen wir uns das Motto eines Plakates in einer Berliner Universität zu Eigen: „Wann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht hier? Wer, wenn nicht wir?“ Nach diesem Motto: Es muss noch in diesem Jahr geschehen. Herzlichen Dank. ({16})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- fehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Moder- nisierung der Ausbildungsförderung für Studierende, Drucksache 14/3730. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr.1 seiner Beschluss- empfehlung, den Antrag auf Drucksache 14/2905 anzu- nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussemp- fehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU-Fraktion und PDS-Fraktion bei Enthaltung der F.D.P.-Fraktion an- genommen. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Eckpunkte für eine BAföG-Re- form“, Drucksache 14/2031, abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltun- gen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU-Fraktion und PDS-Fraktion bei Ent- haltung der F.D.P.-Fraktion angenommen. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der PDS zur strukturellen Erneuerung der Ausbildungsförderung, Drucksache 14/2789, abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 4 seiner Beschluss- empfehlung, den 13. Bericht der Bundesregierung nach § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes auf Drucksache 14/1927 zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen- probe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b, 27 d bis 27 h sowie Zusatzpunkt 5 auf: 27. Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über die Tätigkeit der Wirtschaftsprüfer ({0}) - Drucksache 14/3649 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1}) Rechtsausschuss Finanzausschuss b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 22. März 2000 zur Änderung des Übereinkommens vom 9. Februar 1994 über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Straßen mit schweren Nutzfahrzeugen - Drucksache 14/3651 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- cherheit Haushaltsausschuss d) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes - Drucksache 14/3764 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({3}) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts- ordnung Rechtsausschuss e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rita Streb-Hesse, Dr. Margrit Wetzel, Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Albert Schmidt ({4}), Kerstin Müller ({5}), Rezzo Schlauch und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Regelung des Anwohnerparkens durch Städte und Gemeinden - Drucksache 14/1258 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Evelyn Kenzler, Ulla Jelpke, Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Änderung des Ausländergesetzes - Drucksache 14/668 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Hildebrecht Braun ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Keine ersatzlosen Schließungen von Auslandsvertretungen - Drucksache 14/1751 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({7}) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Mertens, Angelika Graf ({8}), Hans-Werner Bertl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig, Kerstin Müller ({9}), Albert Schmidt ({10}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bekämpfung der illegalen Kabotage und des Sozialdumpings im Transportgewerbe - Drucksache 14/3702 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({11}) Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 5 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren Beratung des Antrags der Abgeordneten Brunhilde Irber, Dr. Eberhard Brecht, Annette Faße, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Sylvia Voß, Matthias Berninger, Thea Dückert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der Abgeordneten Ernst Burgbacher, Hildebrecht Braun ({12}), Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. sowie der Abgeordneten Rosel Neuhäuser, Dr. Heinrich Fink, Rolf Kutzmutz, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS Sicherung der Volksfeste, des Markthandels und des Schaustellergewerbes - Drucksache 14/3786 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Tourismus ({13}) Finanzausschuss Vizepräsidentin Petra Bläss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/668 soll zusätzlich an den Innenausschuss überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 m sowie Zusatzpunkte 6 a bis 6 e. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Wir kommen zuerst zum Tagesordnungspunkt 28 a: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Schornsteinfegergesetzes und anderer schornsteinfegerrechtlicher Vorschriften - Drucksache 14/3333 ({14}) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Schornsteinfegergesetzes und anderer schornsteinfegerrechtlicher Vorschriften - Drucksache 14/3650 ({15}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({16}) - Drucksache 14/3753 Berichterstattung: Abgeordneter Karl-Heinz Scherhag Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 28 b: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes/EWG - Drucksache 14/3274 ({17}) Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({18}) - Drucksache 14/3788 Berichterstattung: Abgeordnete Sebastian Edathy Cem Özdemir Petra Pau Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 28 c: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung produkthaftungsrechtlicher Vorschriften - Drucksache 14/3371 ({19}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({20}) - Drucksache 14/3756 Berichterstattung: Abgeordnete Margot von Renesse Volker Beck ({21}) Rainer Funke Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/3756, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 d auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Vizepräsidentin Petra Bläss zur Änderung des Gerätesicherheitsgesetzes und des Chemikaliengesetzes - Drucksache 14/3491 ({22}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({23}) - Drucksache 14/3798 Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Heidi Knake-Werner Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Gegenstimmen der PDS angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 28 e: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 21. Mai 1999 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande über die gegenseitige Amtshilfe bei der Beitreibung von Steueransprüchen und der Bekanntgabe von Schriftstücken - Drucksache 14/3077 ({24}) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({25}) - Drucksache 14/3698 Berichterstattung: Abgeordnete Dieter Grasedieck Hansgeorg Hauser ({26}) Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/3698, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 28 f: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({27}) zu der Verordnung der Bundesregierung Verordnung über die Erzeugung von Strom aus Biomasse ({28}) - Drucksachen 14/3489, 14/3574 Nr. 2.1, 14/3801 Berichterstattung: Abgeordnete Monika Ganseforth Franz Obermeier Michaele Hustedt Birgit Homburger Eva-Maria Bulling-Schröter Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 14/3489 in der Ausschussfassung zuzustimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der F.D.P.Fraktion und der PDS-Fraktion angenommen. Ich verweise darauf, dass es eine schriftliche Erklärung der Kollegin Eva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion, zu ihrem Abstimmungsverhalten gibt. Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Tagesordnungspunkt 28 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29}) Sammelübersicht 175 zu Petitionen - Drucksache 14/3687 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 175 ist damit einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 28 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30}) Sammelübersicht 176 zu Petitionen - Drucksache 14/3688 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 176 ist ebenfalls einstimmig angenommen. Tagesordnungspunkt 28 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31}) Sammelübersicht 177 zu Petitionen - Drucksache 14/3689 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 177 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Tagesordnungspunkt 28 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32}) Sammelübersicht 178 zu Petitionen - Drucksache 14/3690 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 178 ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-, der F.D.P.- und der PDS-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 28 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33}) Sammelübersicht 179 zu Petitionen - Drucksache 14/3691 Vizepräsidentin Petra Bläss Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 179 ist gegen die Stimmen der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 28 l: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34}) Sammelübersicht 180 zu Petitionen - Drucksache 14/3692 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 180 ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der F.D.P.-Fraktion angenommen. Tagesordnungspunkt 28 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35}) Sammelübersicht 181 zu Petitionen - Drucksache 14/3693 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist Sammelübersicht 181 gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Ich rufe die Zusatzpunkte 6 a bis 6 e auf, weitere Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Ein bisschen Geduld brauchen Sie also noch. Zusatzpunkt 6 a: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36}) Sammelübersicht 182 zu Petitionen - Drucksache 14/3793 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 182 mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Zusatzpunkt 6 b: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37}) Sammelübersicht 183 zu Petitionen - Drucksache 14/3794 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 183 mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Zusatzpunkt 6 c: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38}) Sammelübersicht 184 zu Petitionen - Drucksache 14/3795 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 184 ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-, der F.D.P.- und der PDS-Fraktion angenommen. Zusatzpunkt 6 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39}) Sammelübersicht 185 zu Petitionen - Drucksache 14/3796 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 185 ist gegen die Stimmen der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion angenommen. Wir kommen zur letzten Abstimmung, und zwar zu Tagesordnungspunkt 6 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({40}) Sammelübersicht 186 zu Petitionen - Drucksache 14/3797 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 186 ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Ich bedanke mich ausdrücklich für die Disziplin bei allen Fraktionen bei diesem Abstimmungsmarathon. Ich rufe nun Zusatzpunkt 7 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU Absenkung der Beiträge für die Bezieher von Arbeitslosenhilfe und die Folgen für die gesetzlichen Krankenkassen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Fraktion der CDU/CSU hat der Herr Kollege Wolfgang Lohmann.

Wolfgang Lohmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001369, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In wenigen Tagen gehen wir in die Sommerpause. Man kann, wenn man daran denkt, dass sicherlich auch im Jahre 2002 die parlamentarischen Beratungen zu dieser Zeit enden werden, sagen: Wir befinden uns in der Mitte der Legislaturperiode. Wenn ich eine Überschrift für die vergangenen zwei Jahre, was die Gesundheitspolitik anbelangt, suchen würde, dann würde ich schreiben: Pleiten, Pech und Pannen, und zwar nicht nur handwerklich, wie es von Ihren eigenen Leuten, unter anderem von Herrn Dreßler, genannt worden ist, sondern vor allen Dingen auch inhaltlich. Ich erinnere an das Vorschaltgesetz bzw. an das Solidaritätsstärkungsgesetz, an die Gesundheitsreform 2000, an Änderungsanträge der Koalitionsfraktionen im Umfang von 345 Seiten und an fehlende Unterlagen bei der zweiten und dritten Lesung im Bundestag sowie im Bundesrat. - Das nur als Stichworte. Nun leben wir mit sektoralen Budgets, vor denen wir immer gewarnt haben. Die ersten, in einigen Bereichen sogar katastrophalen Folgen für die Versorgung werden sichtbar. Wir hatten gerade gestern eine öffentliche Anhörung zu der Frage der Honorierung der psychotherapeutischen Leistungen. Da ist schließlich jedem - wohl auch jedem in der Regierung - deutlich geworden, ({0}) Vizepräsidentin Petra Bläss wo wir gelandet sind und welche Bedingungen wir den Psychotherapeuten, die nach unserem gemeinsamen Willen in das bestehende System integriert wurden, bei der Verrichtung ihrer Arbeit zumuten. Inzwischen - ich habe mir sagen lassen: gerade gestern - hat der Petitionsausschuss mit den Stimmen der SPD die Forderung aufgestellt, hier etwas zu ändern. ({1}) Es ist also dringender Handlungsbedarf gegeben. Das alles ist nur die Spitze des Eisbergs. ({2}) Auch in manchen anderen Bereichen bestehen deutliche Defizite, wenn Sie an chronische Erkrankungen, beispielsweise an Diabeteskranke oder Krebskranke, denken. Zum Beispiel werden keine Blutzuckermesschips bzw. -streifen mehr zur Verfügung gestellt. Es gibt also inzwischen überall Defizite. Wenn wir schon bisher an Ihrer Gestaltungsfähigkeit, Frau Ministerin, Zweifel hatten, dann haben wir vor allem angesichts des Themas, um das es heute geht, noch mehr Zweifel an Ihrer Durchsetzungsfähigkeit beispielsweise im Kabinett. ({3}) Da versucht der Finanzminister, die Sanierung des Haushaltes unter anderem durch den Griff in die Kassen von Pflegeversicherung und Krankenversicherung voranzutreiben. ({4}) Bereits im vergangenen Jahr sind der Pflegeversicherung 400 Millionen DM entzogen worden. Auf zusätzlich 248 Millionen DM bemisst sich der Betrag, der aufgrund der Tatsache der niedrigeren Rentenanpassung, die sich nur nach der Inflationsrate richten wird, fehlen wird. Dadurch werden erhebliche Defizite entstehen, was offensichtlich von weiten Teilen der Koalition gewollt ist. Wenn nun gemäß dem, was uns inzwischen im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf zur Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften vorliegt, daran gedacht wird, Partner von versicherten Lesben und Schwulen, sofern sie eine solche Lebensgemeinschaft eingehen, in Zukunft beitragsfrei in die gesetzliche Krankenversicherung aufzunehmen, dann fragt man sich wirklich, ob - im bildlichen Sinne - die Rechte noch weiß, was die Linke eigentlich tut. Gleichzeitig stellt man sich in weiten Teilen - offensichtlich auch in der Regierung - die Frage - wir halten das allerdings für weit über das Ziel hinausgeschossen -, ob es sich die gesetzliche Krankenversicherung auf Dauer überhaupt noch leisten kann, Familienmitglieder, vor allen Dingen nicht berufstätige und nicht Kinder erziehende Frauen, kostenlos mit in die gesetzliche Krankenversicherung einzubeziehen. Gleichzeitig aber will man den Beschluss fassen, dass Lebensgemeinschaften, die jedenfalls nach unserer Auffassung - mit einer Ehe nicht vergleichbar sind, kostenlos miteinbezogen werden. Weitere Defizite in der gesetzlichen Krankenkasse sind also vorprogrammiert. Das Ganze summiert sich nach Berechnungen der gesetzlichen Krankenversicherung auf einen Betrag von mindestens 5,3 Milliarden DM. ({5}) Denn ich erinnere daran, dass die Reduzierung der Zuzahlung zu Arzneimitteln zu Ausfällen in Höhe von 1 Milliarde DM, die Aussetzung des Krankenhausnotopfers zu Ausfällen in Höhe von etwa 700 Millionen DM, die Ausweitung von Leistungen im Rahmen der beschlossenen Gesetze im Bereich der Soziotherapie zu Mehrausgaben in Höhe von 1 Milliarde DM und Ausnahmeregelungen im Bereich der Krankenhäuser zu Mehrausgaben in Höhe von etwa 2 Milliarden DM führen werden. Wenn das, was ich soeben im Hinblick auf die Kürzung der Renten festgestellt habe, hinzukommt, haben wir ein Defizit von 5,3 Milliarden DM. In einigen Berechnungen wird sogar von 7,5 Milliarden DM ausgegangen. Dass dies natürlich Beitragssatzerhöhungen geradezu provoziert bzw. erforderlich macht, dürfte keine Frage sein. Wir stellen auch die Frage, wie eine solche Tatsache in Zusammenhang mit den Versprechungen und Vorhaben steht, die Sie immer genannt haben: dass ganz oben auf der Agenda - das ist dringend notwendig - die Beitragssatzstabilität steht. ({6})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Lohmann, wir haben eine Aktuelle Stunde. Ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.

Wolfgang Lohmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001369, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ist meine Redezeit schon so schnell zu Ende? Es tut mir sehr Leid.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ja, das geht immer recht schnell.

Wolfgang Lohmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001369, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann komme ich jetzt ganz schnell zum Ende meiner Ausführungen: Ich appelliere in diesem Zusammenhang sowohl vor allen Dingen an Sie, Frau Schaich-Walch, an alle anderen in der SPD-Fraktion, aber auch an die grüne Fraktion. Denn wenn man Zitate von Ihnen, die Sie selbst in Veröffentlichungen etwa in der „Süddeutschen Zeitung“ vor wenigen Tagen gebracht haben, vorlesen würde das kann ich aber nicht mehr tun -, dann würde man feststellen, dass absolut klar ist, dass die Kassen, wenn Ihre Vorhaben umgesetzt werden, die Beiträge im kommenden Jahr erhöhen müssen. Herr Dreßler beispielsweise hält dies für unzumutbar. Sogar Herr Metzger warnt dringend vor einer solchen Lösung. Man kann doch nur sagen: Wenn Sie die weitere Abwärtsspirale wirklich aufhalten und eine weitere Verschlechterung der Versorgung vermeiden wollen, dann verhindern Sie im Herbst dieses Jahres bei der zweiten Wolfgang Lohmann ({0}) und dritten Lesung, dass eine solche Regelung eingeführt wird. Danke. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Kollegin Regina Schmidt-Zadel. ({0})

Regina Schmidt-Zadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union, ich spreche Sie heute einmal als diejenigen an, die diese Aktuelle Stunde beantragt haben. ({0}) Herr Lohmann, eines gleich vorweg: Wer 16 Jahre im Glashaus saß, der sollte eigentlich nicht mit Steinen werfen. ({1}) Aber Sie konnten sich offenbar wieder einmal nicht zurückhalten. Zu verlockend war es, die Regierungsvereinbarung - ich betone ausdrücklich: die Regierungsvereinbarung - zur Absenkung der GKV-Beträge für Arbeitslosenhilfebezieher als Stein am Wegesrand aufzunehmen und als Munition für Ihr politisches Tagesgeschäft nutzen. ({2}) Auch ich gebe unumwunden zu: ({3}) Die Belastungen der gesetzlichen Krankenkasse in Höhe von 1,2 Milliarden DM - sagen Sie nicht „Aha“; warten Sie ab - durch die Absenkung der Beiträge, die aus dem Etat des Bundesministers für Arbeit gezahlt wurden, sind auch für uns eine bittere Pille, die nicht leicht zu schlucken ist. ({4}) Dies sind unerfreuliche Momente für jeden Sozial- und Gesundheitspolitiker, in denen man mit sich ringen muss. ({5}) Aber während Ihrer Regierungszeit ist es Ihnen genauso gegangen. Dies habe ich vielfach in Gesprächen mit Ihnen gehört. Aber - jetzt werfe ich den Stein zurück - es ist letztlich das Ergebnis Ihrer 16 Jahre andauernden Politik des Schuldenanhäufens, ({6}) die die rot-grüne Bundesregierung zu Sparmaßnahmen zwingt, die wir alle gerne vermieden hätten. Es ist doch der gigantische Schuldenberg der Kohl-Regierung, der eine Haushaltssanierung, an der sich alle Ressorts beteiligen müssen, unausweichlich macht. Sie haben uns ungeordnete Staatsfinanzen und einen Schuldenberg hinterlassen, ({7}) der uns zwingt, jede vierte Mark - hören Sie gut zu - für Zins und Tilgung zu verwenden. Die Schulden hatten am Ende Ihrer Regierungszeit mit 1,5 Billionen DM den höchsten Stand in der Geschichte der Bundesrepublik. 80 Prozent davon sind während Ihrer Regierungsverantwortung verursacht worden. Ich betone noch einmal: Die Absenkung der Beiträge von Arbeitslosenhilfebeziehern zur GKV und zur Pflegeversicherung ist eine bittere Pille. Ich wäre froh, wenn wir sie nicht schlucken müssten. ({8}) Lassen Sie mich aber folgende Punkte anmerken - ich weise an dieser Stelle noch einmal darauf hin -: Hätten sich die Union bzw. die Mehrheit nicht der Reform verweigert und nicht wichtige Teile der Gesundheitsreform blockiert, wäre dieses Opfer sogar noch verkraftbar gewesen. Nicht die hier diskutierte Beitragsabsenkung, sondern Ihre Verweigerungshaltung bei wichtigen Fragen, zum Beispiel bei der Reform der Krankenhausfinanzierung, ist die wirkliche Belastung der GKV. ({9}) Ein Drittel der Kosten bei der gesetzlichen Krankenversicherung entfallen auf den stationären Bereich. Ihre Reformblockade kostet die Kassen jährlich Milliardensummen - ein Vielfaches mehr als die 1,2 Milliarden DM, über die wir heute diskutieren. Die Union hat während ihrer Regierungszeit noch weit größere Verschiebeaktionen veranstaltet. ({10}) Schlimmer noch: Herr Lohmann, es war doch geradezu das Markenzeichen Ihrer Politik, Kosten, die eigentlich die Allgemeinheit zu tragen hätte, auf die Beitragszahler der Sozialversicherungssysteme abzuwälzen. ({11}) Zu keiner Zeit war der Anteil der versicherungsfremden Leistungen in der Renten- und Krankenversicherung höher als zu Ihrer Regierungszeit. Wenn Sie und Herr Seehofer heute wegen der Absenkung der Beiträge von Arbeitslosenhilfebeziehern von Verschiebebahnhöfen sprechen, ({12}) Wolfgang Lohmann ({13}) dann verschweigen Sie, dass Seehofer selbst über Jahre der Bahnhofsvorsteher eines gigantischen Verschiebehauptbahnhofs war. ({14}) Die hier diskutierte Absenkung der Beiträge ist kein Selbstzweck. Sie dient auch nicht der Vorbereitung der Systemveränderung innerhalb der Sozialversicherungen, wie Sie es wollen und wie es bei Ihren Verschiebebahnhöfen war. Nein, die Absenkung dient zielgerichtet dem Schuldenabbau. Auch hier besteht ein Unterschied: Ihre Verschiebeaktionen haben die Schulden nicht verringert, sondern sogar noch wachsen lassen. Ihre Hinterlassenschaft macht uns das Leben jetzt schwer und wir haben mit ihr zu kämpfen. Danke schön. ({15})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Detlef Parr.

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn sich SPD-Kollegen auf vielen Veranstaltungen wie vor der sozialdemokratischen Seniorenarbeitsgemeinschaft „60 plus“ zu der Behauptung versteigen, ({0}) die Attraktivität unseres Gesundheitswesens werde sich bei gleich bleibenden Beiträgen weiter verbessern, und zur gleichen Zeit die Bundesgesundheitsministerin sich dem Diktat des Finanzministers unterwirft und mal eben 1,2 Milliarden DM aus den Taschen der Krankenversicherten ihrem Kabinettskollegen zuschiebt, dann beweist das, dass sich Ihre Gesundheitspolitik mehr und mehr auf bewusste Irreführung gründet. ({1}) Das ist besonders schlimm, wenn dies gegenüber gutgläubigen älteren Menschen erfolgt; das ist einfach nicht in Ordnung. Nach der Pflegeversicherung im letzten Jahr ist jetzt also die Krankenversicherung mit 1,2 Milliarden DM jährlich betroffen. Wohlgemerkt, es geht nicht um die Reduzierung von Steuerzuschüssen, sondern um einen dreisten Griff in die Tasche der Versicherten und der Arbeitgeber. Ist das Beitragssatzstabilität, meine Damen und Herren? Dieses Ziel gehört bereits seit längerem offensichtlich in die Welt Ihrer Träume. Zu der Zeit, als die Ministerin sich mit diesem üblen Schachzug einverstanden erklärte, demonstrierte in Berlin das Bündnis „Gesundheit 2000“ gegen die Folgen grün-roter Gesundheitspolitik - ein Bündnis, das die Gesundheitsberufe in Deutschland repräsentiert: 4,2 Millionen direkt und indirekt Beschäftigte, 38 Organisationen. Sie alle werden durch die Federstrichaktion der Ministerin weiteren zusätzlichen Belastungen ausgesetzt. Sie, Frau Ministerin, haben sie zum wiederholten Mal schmählich im Stich gelassen. ({2}) Krankenschwestern, Arzthelferinnen, Ärzte, Apotheker, Patientinnen und Patienten, alle sind sich einig: Wegen der willkürlichen Ausgabenbegrenzung, die Sie gerade weiter verschärfen wollen, müssen medizinische Leistungen wie Krankengymnastik und Sprachheiltherapien eingeschränkt werden, können Krankenhäuser Operationen nicht im erforderlichen Maße durchführen Wartelisten drohen nicht nur, sondern werden zukünftig zum Alltag gehören -, werden Medikamente nicht mehr wie gewohnt verschrieben und die Patienten auf billigere Arzneimittel verwiesen und fehlt die Zeit für ausreichende Zuwendung in der Krankenpflege, um nur einige Folgen Ihrer verfehlten Gesundheitspolitik zu beschreiben. Das belastet gerade diejenigen, von denen SPD und Grüne behaupten, sie lägen ihnen besonders am Herzen: die chronisch Kranken. Gerade hier - Frau SchmidtZadel, da sind wir uns völlig einig -, bei den Volkskrankheiten Diabetes, Rheuma, Asthma sowie bei Krebserkrankungen, zeichnet sich ein zusätzlicher Versorgungsbedarf ab. Besondere Versorgungsdefizite in der Arzneimitteltherapie bestehen bei Langzeiterkrankungen wie MS, Hepatitis B und C sowie bei Aids. Sie interessieren sich offensichtlich nicht für die Krankheitsbilder in unserer Gesellschaft. Hauptsache, der Plan und die Ideologie stimmen. ({3}) Statt auf das alles zu reagieren, sorgen Sie dafür, dass jetzt noch weniger Geld in den Kassen ist. Durch Ihre Politik zwingen Sie die Ärzte zum Verschreiben billigster Generika, also zur Umstellung ihrer Patienten auf andere als ihre gewohnten Präparate. Sie greifen rücksichtslos in das Vertrauensverhältnis von Arzt und Patient ein. ({4}) Sie sprechen gleichzeitig, Frau Schmidt-Zadel, von ethischen Verpflichtungen, die unsere Heilberufler selbst bei bestem Willen nicht mehr erfüllen können, wenn Sie so weitermachen wie bisher. ({5}) Sie sollten uns nicht wieder mit Ihrer gebetsmühlenartigen Wiederholung angeblicher Wirtschaftlichkeitsreserven kommen. Selbst wenn es sie gibt - Sie haben sie noch nicht nachgewiesen; die 20 Milliarden DM stehen im Raum, ohne dass Sie je spezifiziert hätten, woher Sie sie holen wollen -, ({6}) dann müssen sie erst realisiert werden, bevor man sie abschöpfen kann. ({7}) Das haben mittlerweile sogar die gesetzlichen Krankenkassen begriffen und deshalb gegen Ihren dreisten Milliardenzugriff heftig protestiert und Beitragssteigerungen angekündigt. Behaupten Sie bitte auch nicht, dass das alles mit Ihrem Globalbudget viel besser zu bewältigen sei. Wir wissen, dass Sie nicht einmal den Mut hatten, im ursprünglichen Entwurf zur GKV-Gesundheitsreform auf sektorale Budgets zu verzichten. Es war nicht der böse Bundesrat, der sie hat fortbestehen lassen, das sind ganz allein Sie gewesen. Auch hier wird ein neuer Weg beschritten. Sie gefährden mit Ihrer Politik entweder die medizinische Versorgung oder Sie sorgen über steigende Beitragssätze für eine Gefährdung des Wirtschaftsstandorts Deutschland. ({8}) Der scheint Ihnen ohnehin nicht sonderlich am Herzen zu liegen, wie ein anderes Beispiel, die 10. AMG-Novelle, deutlich macht. Wir beschließen eine solche Novelle, die die Zulassung und Nachzulassung von Arzneimitteln beschleunigen soll, und gleichzeitig versäumen Sie es, die organisatorischen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass das, was wir als Gesetzgeber wollen, auch umgesetzt wird. Gestern ist im Gesundheitsausschuss deutlich geworden, dass die personelle Situation beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte katastrophal ist. Durch den Umzug von Berlin nach Bonn verlieren Sie wichtige leitende Mitarbeiter in einer zurzeit noch nicht abzuschätzenden Zahl - so kann man das in einer Vorlage der Staatssekretärin nachlesen - und sind nicht in der Lage, sie adäquat zu ersetzen. Firmen - das ist die Folge -, die wollen, dass ein Arzneimittel zugelassen wird, wird angeraten, das bei einem europäischen Nachbarn zu tun. Sie lassen diese Firmen ohne Rücksicht auf Arbeitsplätze und den Forschungsstandort Deutschland im Stich. Für die fatalen Folgen Ihrer staatlichen Zuteilungspolitik gibt es ein weiteres Beispiel: die Lage der Psychotherapeuten in Deutschland. Herr Lohmann hat darauf hingewiesen. Die Anhörung hat bewiesen, dass das nach planwirtschaftlichen Gesichtspunkten bereitgestellte Geld vorne und hinten nicht ausreicht, um den Psychotherapeuten eine angemessene Bezahlung ihrer Leistungen zu garantieren. Sehenden Auges entlassen Sie viele Praxen, besonders in den neuen Bundesländern - das hat Professor Azzola sehr nachdrücklich mitgeteilt -, in den Ruin. Es ist endlich an der Zeit, damit aufzuhören, den Menschen vorzugaukeln, alle medizinischen Leistungen seien mit den zur Verfügung stehenden Finanzen ohne Einschränkung zu bezahlen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Parr, Sie haben das Stichwort „aufhören“ schon genannt. Ich muss Sie an die Redezeit in der Aktuellen Stunde erinnern.

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Es ist mein letzter Satz, Frau Präsidentin. ({0}) Wir sollten endlich die demographische Entwicklung mit der gewaltig wachsenden Zahl älterer Menschen ernst nehmen und ehrlich sagen, dass der immense medizinische Fortschritt nicht zum Nulltarif zu haben ist. Korrigieren Sie Ihre Entscheidung, lassen Sie die 1,2 Milliarden DM im System! Sie werden dringend gebraucht. ({1})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Bevor ich der Kollegin Katrin Göring-Eckardt das Wort erteile, bitte ich um Aufmerksamkeit für eine Erklärung zur Geschäftsordnung vonseiten der PDS-Fraktion. Sie wissen, wir haben einen Abstimmungsmarathon hinter uns. Dabei ist etwas schief gegangen. Bitte, Frau Kollegin Böttcher.

Maritta Böttcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002631, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich bitte das Hohe Haus zur Kenntnis zu nehmen, dass wir beim Abstimmungsverhalten zu Tagesordnungspunkt 8 etwas klarstellen müssen. Es wurde über die Beschlussempfehlung des Ausschusses abgestimmt. Da wir den Antrag der CDU/CSU ablehnen, stimmen wir natürlich Nr. 2 der Ausschussempfehlung zu. Da wir selbstverständlich dem PDS-Antrag zustimmen, lehnen wir Nr. 3 der Beschlussempfehlung des Ausschusses ab. Ich bedanke mich.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Damit ist diese Erklärung vonseiten der PDS-Fraktion im Protokoll. Ich erteile als nächster Rednerin in der Aktuellen Stunde der Kollegin Katrin Göring-Eckardt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man hat inzwischen das Gefühl, es fällt Ihnen nichts anderes mehr ein, als darüber zu spekulieren, was demnächst kommen könnte. Ich finde, Sie sollten versuchen, sich an den Tatsachen zu orientieren. ({0}) Mich wundert, dass Sie sich bemühen, sich als Retter der Beitragssätze darzustellen. Schließlich war und ist Ihre Politik eine andere: Während Ihrer Regierungszeit haben Sie dafür gesorgt, dass die Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der Rentenversicherung gestiegen sind. ({1}) Sie haben ebenso die steuerliche Belastung hochschnellen lassen; davon ist heute schon geredet worden. Die Ursache lag vor allen Dingen darin, dass Sie strukturelle und mutige Reformen weder in dem einen noch in dem anderen Sicherungssystem angehen wollten. Das war auch schon vor der deutschen Einheit so, die Sie sicher wieder als Begründung heranziehen wollen. ({2}) Ich will nur ein paar Beispiele nennen: Während der Zeit Ihrer Regierung ist der Beitragssatz für die gesetzliche Krankenversicherung in den Jahren 1995 bis 1998 trotz erhöhter Zuzahlungen um durchschnittlich 0,3 Beitragspunkte gestiegen. ({3}) In dem gleichen Zeitraum sind die Beiträge zur Rentenversicherung um 1,7 Prozentpunkte gestiegen. Rechnet man die Einführung der Pflegeversicherung mit 1 Prozent hinzu, ergibt sich für die Jahre 1995 und 1996 eine Steigerung der Sozialabgaben um insgesamt 3 Prozent. Noch deutlicher wird es, wenn man sich das Ansteigen der Sozialabgaben über einen längeren Zeitraum hinweg anschaut. Für die Zeit von 1985 bis 1998 - das war auch noch vor der deutschen Einheit ergibt sich eine Steigerung um fast 17 Prozent. Das ist Ihre Politik gewesen. ({4}) Wir haben seit dem Regierungsantritt bereits eine Stabilisierung bzw. Senkung der Beiträge erreicht. So ist beispielsweise der Beitrag zur Rentenversicherung von 20,3 Prozent um 1 Prozent auf 19,3 Prozent gesunken. ({5}) Nach der Blümschen Rentenreform lägen wir jetzt übrigens bei 21 Prozent. Seit 1998 ist die Belastung durch die Sozialabgaben rückläufig und liegt bei 41,1 Prozent. Um eines klarzustellen: Auch wir wollen keine Sanierung des Haushaltes auf Kosten der Krankenkassen. ({6}) Die Bundesministerin Andrea Fischer hat mit Walter Riester, dem Arbeitsminister, einen annehmbaren Kompromiss ausgehandelt. Der ist ihr sicherlich nicht leicht gefallen. ({7}) Aber Politik zu machen heißt natürlich auch, Kompromisse zu schließen. Ich will Ihnen auch erklären, warum ich finde, dass es sich um einen annehmbaren Kompromiss handelt. Die Belastungen für die Krankenversicherungen in Höhe von 1,2 Milliarden DM stellen gegenüber den 2,4 Milliarden DM, die ursprünglich zur Debatte standen, eine, wie ich finde, tragfähige Lösung dar. ({8}) Wir sind der Überzeugung, dass die Mindereinnahmen in der Krankenkasse ohne Beitragssatzanhebungen zu verkraften sind, und zwar aus folgendem Grund: Ohne zu optimistisch sein zu wollen, ({9}) können wir mit erhöhten Einnahmen rechnen. Diese erhöhten Einnahmen haben übrigens mit unserer Politik zu tun und fallen nicht vom Himmel. Sie stammen zum einen aus der Regelung für die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse - ich weiß, dass Ihnen auch das nicht gefällt, ({10}) nichtsdestotrotz führt dies zu Mehreinnahmen der Krankenkassen - und beruhen zum anderen auf dem Rückgang der Arbeitslosenzahlen, der nach vorsichtigen Schätzungen der Bundesanstalt für Arbeit - nicht etwa dieser Regierung - bei rund 200 000 liegt. Bei der zu erwartenden anhaltenden positiven Konjunktur wird dieser noch höher sein. Für das Jahr 2001 wird ein Rückgang der Arbeitslosenzahlen um 300 000 geschätzt. Dies bedeutet eine klare Entlastung der Krankenversicherungen. ({11}) Und schließlich: Die Lohnabschlüsse der vergangenen Monate bedeuten ebenfalls eine positive Entwicklung für die Einnahmen der GKV. Um 2 Prozent höhere Lohnabschlüsse bedeuten für die gesetzliche Krankenversicherung allein eine Differenz von 4,8 Milliarden DM. Wenn Sie dies den 1,2 Milliarden DM, die wir in dem Kompromiss ausgehandelt haben, gegenüberstellen, kann mit Recht von Verhältnismäßigkeit gesprochen werden. ({12}) Kompromisse zu machen, ist nie angenehm; für keinen der Beteiligten. Sie aber sollten sachlich bleiben und die Menschen nicht unnötig verunsichern. Dies ist nicht nur unpolitisch, sondern unverantwortlich. Dafür sollten Sie sich zu schade sein, wenn es um solche Größenordnungen wie die geht, von denen wir hier reden. Vielen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Ruth Fuchs von der PDS-Fraktion das Wort.

Dr. Ruth Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000615, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kollegin Katrin Göring-Eckardt, den Versicherten ist es egal, ob der Frau Gesundheitsministerin der Kompromiss schwer oder leicht gefallen ist. Es bleibt dabei, dass die Regierung mit der Kürzung der Krankenkassenbeiträge bei der Arbeitslosenhilfe einen folgenschweren Fehler begangen hat, ob sie das nun wahrhaben will oder nicht. ({0}) - Warten Sie nur ab, Sie kriegen auch noch Ihr Fett weg. ({1}) Ob Sie es glauben oder nicht, aber Sie haben einen neuen Verschiebebahnhof zugunsten des Bundeshaushaltes und zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung geschaffen. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Die für das Gesundheitswesen zur Verfügung stehenden Mittel haben Sie damit deutlich verringert. Dies ist unverständlich, denn inzwischen ist eigentlich zur Genüge bekannt, dass die Krankenkassen nicht nur ein Ausgabenproblem, sondern vor allen Dingen ein systematisches Einnahmeproblem haben. Dazu sage ich Ihnen: Dieses Einnahmeproblem wird sich in der nächsten Zeit weiter verschärfen. ({2}) Wir haben schon damals bei der Diskussion der Gesundheitsreform 2000 gesagt, dass es ein Kardinalfehler war, die Grundsituation tendenziell zurückbleibender Beitragseinnahmen zu negieren und der gesundheitlichen Versorgung eine Politik der knappen Finanzen zu verordnen. Dies war aus unserer Sicht ein Fehler. ({3}) Die Folgen sind schwerwiegend. Überall im Gesundheitswesen wachsen Spannungen und daraus resultierende Probleme. Die Bundesregierung muss von allen guten Geistern verlassen sein, wenn sie in einer solchen Situation die gesetzliche Krankenversicherung als Steinbruch betrachtet, aus dem man nach Belieben Haushaltslöcher stopfen kann. In einer Situation, in der jede Beitragsmark willkommen sein muss - aus meiner Sicht notwendig -, zwingen Arbeits- und Finanzminister die Gesundheitsministerin zu einem ihr nicht leicht gefallenen Kompromiss, dessen politische Auswirkungen im Gesundheitswesen als verheerend bezeichnet werden müssen. Diese Entscheidung ist in hohem Grade verantwortungslos, weil - schon heute absehbar - auf die gesetzliche Krankenversicherung weitere finanzielle Belastungen zukommen. So wird auch die Rentenreform mit ihren geplanten Kürzungen der Altersbezüge zu Mindereinnahmen in Milliardenhöhe führen. Weitere Defizite ergeben sich auch aus der zu erwartenden Steuerfreiheit für die Beiträge zur privaten Altersvorsorge sowie aus dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Krankengeld. Besonders ungünstig werden die Auswirkungen für die Kassen in den neuen Bundesländern sein. Aufgrund der höheren Arbeitslosigkeit sinken die Einnahmen dort noch stärker und erneut werden die AOKen am härtesten betroffen sein. Im Übrigen macht die vorgenommene Streichung von Kasseneinnahmen das Kabinett Schröder als Ganzes, aber auch die Gesundheitsministerin persönlich unglaubwürdig. Ich will Ihnen auch sagen, warum ich das behaupte. Bei der Vorgängerregierung haben die damaligen Oppositionsparteien SPD und Grüne die Sanierung des Bundeshaushaltes auf Kosten der Beitragszahler immer scharf verurteilt. Schließlich haben auch CDU/CSU und F.D.P. das ist das, worauf ich Sie hinweisen wollte - viele Jahre friedlich mit riesigen Verschiebebahnhöfen zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung koexistiert. Auch daran sollte und muss heute erinnert werden. Wissen Sie, liebe Kollegin Regina Schmidt-Zadel, etwas wird nicht besser oder richtiger, nur weil zwei das Gleiche tun. ({4}) Nicht nur, dass Sie als Regierungsparteien jetzt zu den gleichen Methoden greifen wie Ihre Vorgängerregierung, ist aus meiner Sicht schlimm. Hinzu kommt noch: Die Sparpolitik im Gesundheitswesen haben Sie immer wieder mit dem Gebot der Beitragssatzstabilität begründet. Jetzt aber kürzt die rot-grüne Regierung willkürlich die Einnahmen der GKV und provoziert damit selbst nachfolgende Beitragserhöhungen. Vor einigen Wochen waren es nur unausgegorene und widersprüchliche Äußerungen der Gesundheitsministerin, die dem Verdacht von Konzeptionslosigkeit Nahrung gaben. Heute offenbart die Regierung im praktischen Handeln, dass sie in der Gesundheitspolitik zurzeit entgegen ihren Behauptungen nicht über einen klaren Kurs verfügt. Das könnte sich bald rächen; denn dieses Politikfeld - noch immer voller ungelöster und hochbrisanter Probleme - wird weiter in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen rücken. Spätestens dann wird viel davon abhängen, ob eine sozialdemokratisch geführte Regierung weiß, was sie will. Vor allem muss erwartet werden, dass sie einem zunehmenden Druck in Richtung ökonomischer Konkurrenz, Kern- und Wahlleistungen und damit einhergehender Privatisierung der gesundheitlichen Versorgung nicht nachgibt. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Parlamentarische Staatssekretärin Ulrike Mascher das Wort.

Ulrike Mascher (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001432

Sehr verehrte Kollegen und Kolleginnen! Die Kollegen von der Opposition haben sich heute offenbar ihr oppositionelles Pflichtprogramm vor dem Sommerurlaub vorgenommen ({0}) und versuchen in Kurzform, die verbalen Schlachten der letzten Monate noch einmal zu schlagen und auch noch eine kleine Schreckensmeldung abzusetzen. ({1}) Seit einigen Wochen taucht auch in der Presse immer wieder das Schreckgespenst einer Beitragserhöhung in der Krankenversicherung auf. Es gibt sich selbst erfüllende Prophezeiungen. Man muss nur lange genug davon reden; dann schafft man das schon. Mit der Drohung einer Beitragserhöhung haben die Krankenversicherungsträger versucht, auf die Entscheidung der Bundesregierung Einfluss zu nehmen. Jetzt, nachdem die Bundesregierung entschieden hat, soll Stimmung für die Rücknahme der Entscheidung erzeugt werden. ({2}) Wenn man es nüchtern betrachtet, stellt man fest: Hintergrund der aktuellen Debatte ist, dass im Haushaltssanierungsgesetz 1999 die Bemessungsgrundlage für die Beiträge zur Renten- und zur Pflegeversicherung der Arbeitslosenhilfebezieher auf den Zahlbetrag der Arbeitslosenhilfe abgesenkt wurde. Die Krankenversicherungsbeiträge blieben 1999 ausgenommen. - Dieser Schritt hatte damit zu tun, dass man damals mitten in der Erarbeitung der Gesundheitsreform 2000 steckte. ({3}) - Das finde ich auch korrekt. Wenn man ein so großes Reformvorhaben vor sich hat, darf man es nicht auch noch mit anderen Dingen belasten. ({4}) Für die Beratungen zum Haushalt 2001 und zum Finanzplan bis 2004 ergibt sich nun aufgrund des Zukunftsprogramms folgende Ausgangslage: Es muss ein Konsolidierungsbeitrag von jährlich 2,4 Milliarden DM erbracht werden. Selbst bei noch so sparsamer Haushalts- und Wirtschaftsführung ist ein solcher Betrag nicht zu erwirtschaften. Wir haben uns deswegen dafür entschieden, dass die Krankenkassen - jedenfalls für diese Legislaturperiode -, genauso wie die Rentenversicherung und die Pflegeversicherung, hier ihren Beitrag leisten: Absenkung der Bemessungsgrundlage für die Krankenversicherungsbeiträge der Arbeitslosenhilfeempfänger auf die Höhe der realen Zahlbeträge. ({5}) - Doch, genau darum geht es, Herr Lohmann. Nur darum geht es. ({6}) Versuchen Sie jetzt nicht, da einen Popanz aufzubauen! ({7}) Ich halte das für eine verantwortbare Entscheidung. Wir haben für die Krankenkassen durch die Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, das heißt durch das 630-Mark-Gesetz, zusätzliche Einnahmen erschlossen. ({8}) - Nein! Den Krankenkassen sind im letzten Jahr 1,6 Milliarden DM zugeflossen, obwohl das Gesetz erst im Frühjahr in Kraft getreten ist. Hochgerechnet auf das Jahr 2000 ergeben sich einschließlich der geringfügig Nebenbeschäftigten Mehreinnahmen von rund 3 Milliarden DM. Ich will jetzt gar nicht die Aussage des Vorsitzenden des Bundesverbandes der Ortskrankenkassen bemühen, der ja wiederholt hat, was Ihr ehemaliger Gesundheitsminister Seehofer immer wieder beschworen hat: die berühmten 25 Milliarden DM Wirtschaftlichkeitsreserven. ({9}) Die Mehreinnahmen in der Krankenversicherung rechtfertigen das, was jetzt in einem Kompromiss - ich sage als Vertreterin des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung: dank der Hartnäckigkeit der Kollegin Fischer ({10}) erreicht worden ist, wonach das Volumen der Krankenversicherungsbeiträge aus Arbeitslosenhilfe nicht um 2,4 Milliarden DM, sondern um 1,4 Milliarden DM abgesenkt wird. Deshalb wurde beschlossen, die Bemessungsgrundlage für die Krankenversicherungsbeiträge der Arbeitslosenhilfebezieher nicht auf den Zahlbetrag, sondern auf einen in der Mitte zwischen dem Zahlbetrag und der jetzigen Bemessungsgrundlage liegenden Betrag abzusenken. Wir werden Ihnen zum Ende der Sommerpause den entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen. Wir werden Ihnen den Einzelplan des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vorlegen. Dann haben Sie noch einmal Gelegenheit, diese Sache im Gesamtzusammenhang der Haushaltsentwicklung und der Entwicklung der Einnahmen in der GKV zu diskutieren. ({11}) Ich glaube, dann kann man sagen: Das ist eine Entscheidung mit Augenmaß. Es macht uns doch allen keinen Spaß, diese Haushaltssanierung zu betreiben. Wenn Sie hier so schreien, kann ich nur sagen: Wer hat denn das Ganze verursacht? Wir haben doch von Ihnen einen finanziellen Scherbenhaufen geerbt, ({12}) den wir jetzt in mühsamer Kleinarbeit aufarbeiten müssen. Wir müssen jetzt versuchen, die Sache wieder in Ordnung zu bringen. Wenn wir in Zukunft die Entwicklung erfolgreich gestalten wollen, dann muss man hier mit Augenmaß vorgehen. Ich möchte Sie bitten, sich an den konkreten Zahlen zu orientieren, anstatt zu versuchen, vor der Sommerpause im Plenarsaal irgendwelche Schreckgespenster zu beschwören. Im Interesse der Betroffenen ist das, glaube ich, keine gute Politik, die Sie hier machen. Danke. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat Kollege Ulf Fink, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Unterschied zu dem, was Frau Schmidt-Zadel und die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Mascher vorgetragen haben, gibt es keine, aber auch überhaupt keine einzige überzeugende konjunktur-, wirtschafts- oder finanzpolitische Begründung für diesen Griff in die Kassen der Krankenkassen. ({0}) Die Wahrheit ist: In dem Maße, wie der eichelsche Etat entlastet werden soll, werden die Kassen der Krankenkassen, der Pflegeversicherung und der Rentenversicherung belastet. Per saldo haben Sie wirtschaftspolitisch überhaupt nichts gewonnen. Das Staatsdefizit insgesamt verändert sich überhaupt nicht. Es ändert sich nur eines: Statt dass die Defizite bei Herrn Eichel auftauchen, tauchen sie nun bei Krankenkassen, Pflegeversicherung und Rentenversicherung auf. Das ist ein unzulässiger Eingriff in die Autonomie dieser Versicherungseinrichtungen. ({1}) Frau Göring-Eckardt versucht, von ihren fehlenden Taten dadurch abzulenken, dass sie darauf hinweist, was früher falsch gelaufen ist. Ich will Ihnen einmal ein Zitat vorlesen und Sie können nachher raten, wer es gesagt hat: Trotz des fortschreitenden Alters der Menschen, trotz medizinischen Fortschritts haben wir es geschafft, die Qualität unseres Gesundheitswesens zu erhalten und die Beitragssituation im Rahmen des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts zu halten. Das ist eine tolle Leistung. Darauf hinzuweisen wäre auch politisch lobenswert. Nun raten Sie einmal, wer das gesagt hat: Rudolf Dreßler im Interview mit dem „Gesundheitspolitischen Informationsdienst“ am 27. Juni. Für den Löwenanteil dieser 20 Jahre haben Union und F.D.P. die Regierungsverantwortung getragen. Vielleicht sollten Sie das einfach einmal zur Kenntnis nehmen. ({2}) Das eigentlich Entscheidende ist doch: Wir haben Untersuchungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung vorliegen, wonach die Beitragssätze zur gesetzlichen Krankenversicherung - wenn nichts geschieht - bis zum Jahre 2040 von jetzt 13,5 Prozent auf 24 Prozent steigen werden. Es gibt verschiedene Schätzungen, aber alle Schätzungen gehen davon aus, dass der medizinische Fortschritt und die älter werdende Gesellschaft solche gewaltigen zusätzlichen Kosten verursachen, dass die Beitragseinnahmen damit nicht Schritt halten werden können. Anstatt sich in einer solchen Situation um dieses Thema intensiv zu kümmern, entziehen Sie der gesetzlichen Krankenversicherung sogar noch Beitragseinnahmen, die ihnen zustehen. Dies ist sozialpolitisch und gesundheitspolitisch ein absolutes Kuddelmuddel, dem keinerlei Prinzip zugrunde liegt. Das lässt sich auch an Folgendem deutlich machen: Sie beschließen im Jahre 1999 - das ist jetzt, im Jahre 2000, geltendes Gesetz -, dass für die Empfänger von Arbeitslosenhilfe Beiträge an die Renten- und Pflegeversicherung auf der Grundlage des tatsächlichen Zahlbetrages und nicht, wie es bisher immer der Fall war und notwendig ist, auf der Grundlage von 80 Prozent des früheren Bruttoentgeltes abgeführt werden. Bei der Krankenversicherung hingegen werden im Jahre 2000 Beiträge nach Maßgabe von 80 Prozent des früheren Bruttoentgeltes entrichtet. Nun könnte man darüber diskutieren, ob besser auf den tatsächlichen Zahlbetrag oder auf 80 Prozent des früheren Bruttoentgeltes abgestellt werden sollte. Für das Jahr 2001 beabsichtigen Sie nun aber, bei der Renten- und Pflegeversicherung Beiträge auf der Grundlage des tatsächlichen Zahlbetrages abzuführen. Nun könnte man daran denken, dass Sie das auch bei der Krankenversicherung wollen. Aber das ist nicht der Fall. Bei der Krankenversicherung wollen Sie, dass das irgendwo zwischen dem tatsächlichen Zahlbetrag und 80 Prozent des früheren Bruttoentgeltes liegt. Diese Politik verstehe, wer will. Wir haben doch alle Hände voll zu tun, den Menschen sinnvoll zu erläutern, dass Sozial- und Gesundheitspolitik gewissen Prinzipien folgt, denen eine einheitliche Logik zugrunde liegt. Sie aber entziehen dem System jegliche Glaubwürdigkeit und erzeugen damit eine neue Altersarmut - insbesondere in Ostdeutschland -, obwohl Sie vorgeben, ebendiese bekämpfen zu wollen. ({3}) Gleiches gilt für die Altersverwirrten: Wir wollten etwas im Rahmen der Pflegeversicherung tun und brauchen dafür Geld. Was aber tun Sie? Sie entziehen der Pflegeversicherung 400 bis 500 Millionen DM an Einnahmen. Bei der Krankenversicherung müssen wir dafür sorgen, dass die Budgetierung endlich zugunsten einer am medizinischen Bedarf ausgerichteten Versorgung geändert wird. Was tun Sie? Sie entziehen der Krankenversicherung 1,2 Milliarden DM an Beiträgen. Nein, meine Damen und Herren, das ist eine falsche Politik. ({4})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Andrea Fischer.

Andrea Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11002652

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich unternehme einen Versuch, das Ritual, uns gegenseitig die Schuld zuzusprechen, zu durchbrechen, indem ich sage: Es ist meine Verantwortung, dass dieser Beschluss im Kabinett gefasst wurde. Dabei ist in der Tat unerheblich, ob es mir dabei gut ging. Das ging auf meine Kappe und dazu bekenne ich mich. Sie aber können nicht dieser harten, schwierigen und auch schmerzhaften Operation ausweichen, den Bundeshaushalt in eine Lage zu bringen, in der wir nicht immer mehr Schulden anhäufen, sondern ihn entschulden. ({0}) Diese Aufgabe stellt sich uns aufgrund der Entwicklung in den letzten Jahren in aller Schärfe und dafür tragen Sie die Verantwortung. Wir müssen auch darüber reden - ich komme später darauf zurück -, wie das mit der Verantwortung für die Gestaltung des Gesundheitswesens ist. Natürlich lassen sich Aktuelle Stunden wie diese leicht beantragen. In diesem Fall empfand ich es geradezu als Pflicht der Opposition, diesen Stein, von dem Sie sprachen, aufzuheben angesichts der Tatsache, dass Sie wussten, dass es darum ein großes Ringen innerhalb der Bundesregierung gab. Sie hätten wirklich versagt, wenn Sie das nicht gemacht hätten. Das ändert aber nichts daran, dass dies leicht ist, gleichzeitig Ihnen das Schwere unmöglich ist, nämlich sich zu entscheiden, was Sie wollen: Das erleben wir jeden Tag in der Rentenpolitik, das erleben wir jeden Tag in der Steuerpolitik und ich meine, das gilt auch für die Gesundheitspolitik. ({1}) Jetzt noch einmal zu dem zweifelsohne starken Wort, ich hätte mich dem Diktat des Finanzministers gebeugt und meinem Kollegen mal so eben Geld rübergeschoben: Mit Verlaub, wir reden hier vom Bundeshaushalt. Wir reden nicht davon, dass irgendwelche Deals zwischen Ministern gemacht werden, sondern von dem Bestreben, im Bundeshaushalt die ständige Verschuldung einzudämmen, und davon, dass es großer Anstrengungen bedarf, das zu ändern. ({2}) Ich will darauf hinweisen: Die Beitragszahler, zu deren Fürsprecher Sie sich jetzt machen, sind in aller Regel auch Steuerzahler. Denen ist es nicht gleichgültig, ob die Verschuldung des Bundeshaushaltes immer weiter zunimmt und ob wir in der Lage sind, die Steuerbelastung zu senken. Sie wollen ja noch viel mehr herausholen - wie wollen Sie das eigentlich finanzieren? Ich bin deshalb dafür, dass wir alle Verantwortung übernehmen. Ich bekenne mich zu dem, was wir beschlossen haben. Ich will noch einmal deutlich sagen - darauf haben aber schon etliche Kollegen und Kolleginnen hingewiesen -: Sie können nicht behaupten, Sie seien in diesem Bereich überhaupt nicht tätig gewesen. Die Absenkung von 100 Prozent auf 80 Prozent, die der Kollege Fink so vehement verteidigt hat, ist systematisch ebenfalls nicht zu begründen, sondern war auch eine politisch gegriffene Zahl. ({3}) Außerdem muss man berücksichtigen: In den letzten anderthalb, zwei Jahren gab es immerhin keine Beitragssatzerhöhungen, was man von den davor liegenden Jahren nicht sagen kann. Davor nämlich sind die Beiträge gestiegen, obwohl auch die Zuzahlungen ständig gestiegen sind. Dies noch einmal zu der Frage, wer wofür steht. ({4}) Herr Lohmann, das Argument, das sei unsere unerschöpfliche Geldbörse, stimmt nicht. Fakt ist, dass sich die Einnahmen durch die Neuregelung bei den 630-DMJobs positiver entwickelt haben, als wir es in unseren pessimistischen Schätzungen angenommen haben. ({5}) Wir können immerhin sagen, das wir zum ersten Mal seit sechs Jahren im ersten Quartal des Jahres einen Anstieg der beitragspflichtigen Einnahmen verzeichnen, der über 2 Prozent liegt. Das ist sehr ungewöhnlich. Das bedeutet, dass die Einnahmeentwicklung an anderer Stelle wesentlich positiver verläuft, als wir das erwarten konnten. Jeder Prozentpunkt Zuwachs bei den beitragspflichtigen Einnahmen für die Krankenversicherung bedeutet Mehreinnahmen für die gesetzliche Krankenversicherung in einer Größenordnung von 2,4 Milliarden DM. ({6}) Deshalb stellen wir hier keine Milchmädchenrechnung auf. Wir können sehr wohl belegen, dass das zu verkraften ist. Wir haben außerdem - das will ich noch einmal ganz deutlich sagen - im Kabinett die Vereinbarung getroffen, dass wir bis zum Ende der Legislaturperiode an dieser Stelle keine weiteren Veränderungen vornehmen. Noch ein Wort zu der Milchmädchenrechnung unserer Kritiker. Wenn uns vorgehalten wird, wir würden die gesetzliche Krankenversicherung um Einnahmen aus dem Krankenhausnotopfer bringen, so muss ich erwidern: Meine Damen und Herren, es war Ihr Gesetz, was dieses Krankenhausnotopfer auf drei Jahre begrenzt hat. Selbst wenn wir es nicht geändert hätten - es wäre im letzten Jahr ausgelaufen -, gäbe es diesen Topf in diesem Jahr nicht mehr. Zudem haben Sie durch das Krankenhausnotopfer nur die Hälfte von dem erzielt, was Sie gewollt haben. Sie erinnern sich sicherlich noch an den Konflikt, den es hier gab. Was die Soziotherapie angeht, so rechnen Sie mit völlig überhöhten Zahlen, die überhaupt nichts mit dem zu tun haben, was dort beschlossen worden ist. Ich muss angesichts der ganzen Diskussion über das Gesetz zur Gleichstellung homosexueller Lebensgemeinschaft, mit Verlaub, klarstellen, dass dieses Gesetz noch nicht beschlossen ist. Zudem wird es nur wenige homosexuelle Paare geben, die überhaupt Leistungen dieses Gesetzes in Anspruch nehmen werden - und die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei denen um so genannte Hausfrauenehen handelt, ist relativ gering. Wenn Sie also behaupten, dieses Gesetz würde für Milliardenbelastungen sorgen, dann muss ich feststellen, dass dies nur ganz wenig mit der gesellschaftlichen Realität zu tun hat. ({7}) Im Zusammenhang mit der Rentenreform will ich deutlich darauf hinweisen: Mit den Zahlen, die dort zum Teil herumschwirren, geht man von einem Status quo ante aus, der schon jahrelang obsolet ist. Man kann natürlich immer von früher prognostizierten Rentenentwicklungen ausgehen. Es ist selbstverständlich klar, dass die Rentenreform, die wir beschlossen haben, auch Auswirkungen auf die Einnahmeseite der gesetzlichen Krankenversicherung haben wird. Das ist richtig. Aber das liegt in der Logik unserer Sozialversicherungssysteme. Sie weisen schließlich auch immer dann Einnahmeschwankungen auf, wenn die Löhne steigen oder sinken. Mit Verlaub, der Hinweis, dass sich die Rentenreform auch auf die gesetzliche Krankenversicherung auswirkt, kann kein Argument gegen eine dringend notwendige Reform sein. ({8}) Jetzt zu der Frage der Verantwortung. Ja, Herr Fink, Sie haben Recht: Die Frage des demographischen Wandels gehört auf die Agenda. Aber es stimmt nicht, dass der demographische Wandel ein Beleg dafür ist, dass wir mit dem heute vorhandenen Geld unter keinen Umständen auskommen können; denn die Prognosen, die Sie erwähnt haben, erfüllen sich erst in 20 oder 30 Jahren. ({9}) Auch Sie wissen, dass die Prognosen - je nach Studie eine große Bandbreite aufweisen. Das lohnt sich zu diskutieren. Zu dieser Diskussion bin ich auch bereit. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir noch schwierige Entscheidungen vor uns haben, die sowohl die Einnahmen- als auch die Ausgabenseite betreffen werden. Nur, wenn Sie sagen: „Ihr mit Eurer Budgetierung seid doch Schurken, dadurch wird alles so schwierig!“, dann müssen Sie auch hinzufügen, dass nach Ihrem Alternativvorschlag die Versicherten wieder sehr viel mehr zahlen müssen oder dass sie bestimmte Leistungen nicht mehr in Anspruch nehmen können. Sie verfügen doch über einschlägige Erfahrungen, was die Versicherten von einem solchen Vorschlag halten. ({10}) Die Debatte darüber haben Sie 1997/98 schon einmal geführt, wenn ich mich richtig erinnere. Es ist klar, wenn man in der Opposition ist, kann man solche Forderungen aufstellen und niemand regt sich auf, weil niemand die Folgen Ihrer Vorschläge zu spüren bekommt. Trotzdem müssen Sie zugeben, dass Sie an diesem Punkt auch noch am Anfang der Lösung des Problems stehen; denn die Wahlleistungsdebatte wird auch bei der Opposition und insbesondere bei der CDU/CSU - wenn ich das richtig verfolgt habe - außerordentlich kontrovers geführt. Voller Neid erkenne ich also an, dass Sie sich in der Opposition andere Vorschläge leisten können als wir uns in der Regierung. ({11}) - Aber Sie können zeigen, dass auch Sie Ihren Teil der Verantwortung übernehmen wollen, wenn Sie einen Teil unserer Verantwortung mittragen. Alle bislang von uns geplanten Maßnahmen, zum Beispiel Steuerung der Ausgaben, Qualitätssicherung und Herstellung von Datentransparenz, um bessere Kenntnisse über das, was tatsächlich geschieht, zu erlangen, bieten Ihnen vielfältige Möglichkeiten, zu zeigen, wie ernst es Ihnen damit ist, die Leistungen im Gesundheitswesen angemessen zu steuern und einen Beitrag für die Zukunft zu leisten. ({12})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Rainer Eppelmann von der CDU/CSU-Fraktion.

Rainer Eppelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000483, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich rede hier nicht als gesundheitspolitischer Fachmann - der bin ich auch nicht -, ({0}) sondern als betroffener Sozialpolitiker. Ich möchte meinen Ausführungen voranstellen: Ich erhebe nicht den Anspruch, dass wir immer dann, wenn wir regiert haben das wird auch in der Zukunft so sein -, alles richtig gemacht haben. Aber selbst wenn man dies zugibt, muss man heftige Kritik üben können, wenn man den Eindruck hat, dass andere etwas falsch machen. ({1}) Ungerechtigkeit und Kurzsichtigkeit werden nicht deswegen weniger, weil sie wiederholt werden. Während bis 1999 die Beiträge der Arbeitslosenhilfebezieher zur Renten-, Pflege- und Krankenversicherung auf der Basis von 80 Prozent des bisherigen Bruttoverdienstes erhoben wurden, gilt dies zurzeit nur noch für Beiträge zur Krankenversicherung. An dieser Stelle soll nun offensichtlich nachgearbeitet werden. Noch einmal: Das wird nicht allein deswegen besser, weil es schon einmal gemacht worden ist. Dieser Weg war falsch und bleibt falsch. Für die Rentenansprüche bedeutet dieser Weg erhebliche Kürzungen. Er führt gerade in den neuen Ländern bei geringerer betrieblicher und privater Altersvorsorge und bei einer höheren Arbeitslosigkeit, auch bei einer höheren Dauerarbeitslosigkeit, zu einer erheblich steigenden Altersarmut. Beitragszahler rutschen unter das Sozialhilfeniveau ab. Bei den jetzt erneut gewählten willkürlichen Verschiebebahnhöfen spürt der Arbeitslosenhilfeempfänger selbst keine Entlastung; die Beitrags- und Steuerzahler aber müssen mehr schultern. Ich bin als Mitglied der AOK in Brandenburg voll großer Sorge. Durch die Solidarität der Kassen im Risikostrukturausgleich und durch verbesserte Effektivität hat die Brandenburger AOK endlich wieder einmal schwarze Zahlen geschrieben, allerdings nur ganze 4,6 Millionen DM. Wenn Sie jetzt Ihren unheilvollen Weg der willkürlichen Absenkung fortsetzen, dann würde dadurch allein bei der AOK in Brandenburg ein neues Minus von 34 Millionen DM entstehen. Ich frage mich als bei der AOK Versicherter ängstlich: Wie lange bleibt die AOK in Brandenburg und in den neuen Ländern überhaupt noch leistungsfähig, wenn die Zahl der Arbeitnehmer und damit die der Beitragszahler zurückgeht? Wie kann die AOK in Brandenburg, wie können die AOKen in den neuen Ländern ihren Haushalt wenigstens wieder ausgleichen? Durch eine Erhöhung der schon jetzt vergleichsweise hohen Beiträge? Durch was denn sonst! Das ist kein guter Weg; das ist und bleibt ein schlechter Weg. Danke schön. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Eike Hovermann von der SPD-Fraktion das Wort.

Eike Hovermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002684, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herrn Lohmann ging es um Pleiten, Pech und Pannen. Zwar waren wir von Rot-Grün gemeint; aber hinter diesen Begriffen verbarg sich die Diskussion über die Finanzen im Gesundheitswesen. Der Vorwurf lautet, die Gesundheit blute aus, man nehme Belastungen einfach hin und der Weg zur Zweiklassenmedizin werde geebnet. Ich kann dazu nur sagen: Alle Haushalte, bis auf den von Bildung und Forschung, haben Einschnitte hinnehmen müssen, so auch der für Gesundheit. Die entscheidende Frage ist: Waren die Einschnitte bei der Gesundheit so gravierend? Hätte es nicht schon in der Vergangenheit Möglichkeiten gegeben, innerhalb des Gesundheitssystems wirtschaftlich und finanziell etwas zu machen? Ich will nicht nach hinten schauen; diese Rituale liegen mir nicht so sehr. ({0}) Ich will nur daran erinnern, dass im Zuge der Auseinandersetzung über den vorgelegten Entwurf zu einer Reform des Gesundheitsstrukturgesetzes zum Beispiel die Datensammlung bzw. die Datenzusammenführung verhindert - das Wort „blockiert“ darf ich nicht nehmen worden ist. Nach Meinung aller Experten ist dies das einzige sinnvolle Instrument zur Steuerung und zur Kontrolle des Gesundheitswesens und seiner Ausgaben. Alle Fachleute waren und sind sich darin einig, dass dieses Instrument kommen muss, weil nur auf diesem Weg Milliarden DM an Ausgaben zum Beispiel bei den Arzneimitteln eingespart werden könnten: durch Vermeidung zu häufiger Verschreibungen, durch Vermeidung der Herstellung zu teurer und falscher Arzneien, durch Vermeidung von unnötigen Doppeluntersuchungen, durch die Kontrolle der Verweildauer im Krankenhaus - ich erinnere an die Praxis unnötiger Einweisungen am Mittwoch und am Samstag; Sie kennen das - , durch „Doktorhopping“ und durch vieles anderes mehr. Es gibt im Gesundheitswesen riesige Einsparpotenziale. Die Frage ist, ob der Finanzminister hier nicht auf die Idee gekommen ist, die einsparbaren Dinge im Gesundheitswesen mit den Belastungen, die er dem Gesundheitssystem zugemutet hat, aufzurechnen. Es gilt festzuhalten, was Frau Schmidt-Zadel gesagt hat: Es war eine bittere Pille. Ich sage lieber: Es ist eine Kröte, an der wir sehr schwer zu schlucken haben. ({1}) Ich erinnere auch daran, dass an sich der doppelte Betrag an Kürzungen, nämlich 2,4 Milliarden DM, auf dem Gesundheitsbereich hätte lasten müssen. Aber die Gesundheitsministerin hat diesen Betrag erfolgreich auf 1,2 Milliarden DM reduziert. ({2}) - Herr Lohmann, wir sind erst am Anfang des Weges. Wir sind uns völlig klar darüber, dass wir spätestens nach der Sommerpause in Gesprächen mit der Bundesregierung weitere Entlastungen für die GKV erreichen wollen und auch müssen. Wir alle wissen, in vielen Bereichen des Gesundheitswesens gäbe es genug Möglichkeiten, die 1,2 Milliarden DM sinnvoll einzusetzen. Wir fordern Sie allerdings auf, mit uns in einen Dialog einzutreten und nach weiteren Wegen im Gesundheitssystem zu suchen. Ich denke, Herr Dr. Parr, etwa an die Vernetzung von Praxen und die integrierte Versorgung gemäß § 140 SGB V. Dadurch können 20 bis 30 Prozent der Gelder eingespart werden, die jetzt noch im Gesundheitssystem im Grunde für ineffektive Dinge ausgegeben werden. Ich würde Sie, Herr Parr, ausdrücklich bitten, nicht von billigen Generika zu sprechen, weil dadurch der Eindruck erweckt wird, dies seien sozusagen Tabletten von minderer Bedeutung und schlechterer Qualität. Sie wissen genau, dass die Generika, die sich auf dem Markt befinden und verantwortungsbewusst verschrieben werden, die gleichen Wirkstoffe haben und gleiche Wirkungen erzielen. Vermeiden Sie bitte, wenn Sie von billigen Generika sprechen, den Touch, diese seien zweite Wahl, die wollen wir nicht. Sie wissen genauso gut wie ich, dass es vielfältige Arzneimittel gegen hohen Blutdruck gibt, die alle die gleichen Wirkstoffe beinhalten und alle die gleichen Auswirkungen haben, deren Preise aber zwischen 8 und 40 DM liegen. Seltsamerweise werden in 70 Prozent der Fälle die teureren Mittel verschrieben. Das ist nicht nötig. Um das zu verhindern, brauchen wir die Datenzusammenführung. ({3}) Ich denke, man kann an sinnvollen Strukturreformen mitarbeiten. Sicherlich war auch die Positivliste ein Mittel - das wurde von Ihnen bestritten -, langfristig Kosten im Gesundheitssystem einzusparen. ({4}) Die Schweiz, die über ein ausgezeichnetes Gesundheitssystem verfügt, praktiziert dieses so und niemand beschwert sich. Wir wissen natürlich, welch mächtige Lobby dahinter steht: Diese möchte das nicht und auch nicht, dass das Prinzip des Reimports eingeführt wird oder etwa die Möglichkeit der Aut-idem-Verschreibung durch den Apotheker, Herr Zöller. ({5}) - Dann müssen wir aber auch zusammenfinden und zusehen, dass Sie unser Gesundheitsstrukturgesetz in all seinen Implikationen mittragen, Herr Lohmann. ({6}) Auf diesem Wege haben wir ja auch die von Ihnen eingeführten starren Fristen im Reha-System verändert - ein völlig falscher Ansatz. Insbesondere die bayrischen Kurorte, Herr Zöller, hätten dadurch beinahe ihren Niedergang erlebt. Sie wissen, dass Ihr ehemaliger Parteifreund, Herr Gnan, zu uns gekommen ist und gesagt hat: Helfen Sie uns, in Bayern geht die Sonne unter! ({7}) Inzwischen zeigt sich, wie Herr Professor Steinbach sagt, ein Silberstreif am Horizont. Den werden wir mithilfe all der von uns geplanten Schritte vergrößern. Ich erinnere auch an die Vereinbarung über den Katalog von Operationen, die ambulant durchgeführt werden können. Ich will Ihnen das einmal vorlesen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Nein, Herr Kollege, bitte nicht mehr vorlesen.

Eike Hovermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002684, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich schließe damit auch ab.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Sie haben Ihre Redezeit bereits reichlich überschritten.

Eike Hovermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002684, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrter Herr Präsident, das habe ich jetzt erst erfahren. Darf ich den Satz noch zu Ende bringen?

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte sehr, gerne.

Eike Hovermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002684, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, ein letzter Satz mit ein paar Zahlen. ({0}) - Das muss an Ihnen liegen. In den USA werden 65 Prozent aller Leistenbrüche ambulant behandelt, bei uns nur 4 Prozent. Es wäre gar kein Problem, dass auch wir diese Zahlen erreichen. Wir haben immer darauf hingewiesen, dass das gesamte Gesundheitsstrukturgesetz auf solche Dinge ausgerichtet worden ist. Wir wollen da weitermachen und den Silberstreif am Horizont vergrößern. Wir bitten Sie, nicht durch unqualifizierte Bemerkungen über billige Generika den Eindruck zu erwecken, als ob wir uns auf dem Weg zur Zweiklassenmedizin befänden. ({1}) Herr Präsident, ich danke. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Sabine BergmannPohl von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Sabine Bergmann-Pohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000155, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Fischer, nachdem ich Ihre Rede gehört habe, ist mir jetzt wirklich nicht mehr klar, ob Ihnen überhaupt bewusst ist, welche Folgen Ihre Gesundheitspolitik hat. ({0}) Sie bringen durch Ihre Gesundheitspolitik und den Griff in die Kassen der gesetzlichen Krankenversicherungen, die Sie um 1,2 Milliarden DM erleichtern, diese in eine nicht mehr zu korrigierende Schieflage. Das hat übrigens auch Frau Schaich-Walch bestätigt. Sie hat nämlich am 21. Juni 2000 gesagt: Sollte Riester Erfolg haben, dann „ist absolut klar, dass die Kassen im kommenden Jahr die Beiträge erhöhen“. Das heißt: Sie sind sich offensichtlich gar nicht darüber im Klaren, weil Sie selbst den Grundsatz der Beitragssatzstabilität infrage stellen. ({1}) Hinzu kommt, dass Sie mithilfe des Vorschaltgesetzes Wahlkampfgeschenke gemacht haben. Sie sprechen zum Beispiel auch das Krankenhausnotopfer an. Ich finde Ihr Vorgehen unglaublich, weil Sie wissen, dass sich die Länder gewehrt haben, die Kosten für die Instandhaltung der Krankenhäuser zu bezahlen. ({2}) Weil zum Beispiel OP-Säle nicht mehr funktionieren, haben wir das Krankenhausnotopfer eingeführt. Sie werfen uns aber vor, unsozial gehandelt zu haben. Sie wissen ganz genau, Frau Fischer, dass wir damals in der Klemme waren. Hinzu kommt auch, dass Sie die Krankenkassen durch Ihre Gesundheitsreform mit 2 Milliarden DM und durch Beitragsausfälle aufgrund der Kürzung bei den Renten zusätzlich belastet haben: mit 600 Millionen DM in diesem Jahr und 1,4 Milliarden DM im nächsten Jahr. Das heißt also: 5,8 bis 6,6 Milliarden DM werden der Krankenversicherung fehlen. Ich möchte von Ihnen schon wissen, wie Sie das ausgleichen wollen. Wenn Sie mir mit dem Märchen von der positiven Wirkung der Einbeziehung der geringfügigen Arbeitsverhältnisse kommen, dann muss ich Ihnen sagen: Erstens nimmt die Zahl dieser Arbeitsverhältnisse ab. Zweitens betragen die Beiträge aufgrund dieser Arbeitsverhältnisse jährlich nur 2 Milliarden DM. Drittens können Sie jede Mark nur einmal ausgeben. ({3}) Sie haben uns also noch nicht gesagt, wie Sie die Ausfälle ausgleichen wollen. Wir merken ja jetzt schon, dass diese Gesundheitspolitik zu einem Qualitätsabbau geführt hat. Sie selbst haben am 17. September des vorigen Jahres im Bundestag gesagt: ... wenn wir die Ausgaben in den nächsten Jahren entsprechend den Löhnen steigern, kann es nicht sein, dass wir damit in eine Zwei Klassen Medizin, in eine Barfuß-Medizin oder was auch immer zurückfallen. Das ist einfach völlig unrealistisch. Das ist etwas, was Panik verursachen soll, aber mit der Realität nichts zu tun hat. ({4}) Was aber ist passiert? Herr Kirschner, schauen Sie sich einmal an, was der VFA und die Gmünder Ersatzkasse gesagt haben, die unsere Politik nicht gerade gutheißen. Diese haben nämlich festgestellt, dass 2,5 Millionen Asthmatiker nicht mehr ausreichend medikamentös behandelt werden. 88 Prozent der Alzheimererkrankten und 75 Prozent der Personen mit chronischer Herzinsuffizienz erhalten keine nach wissenschaftlichem Stand erforderliche Therapie. 65 Prozent der Menschen mit Depressionen sind unterversorgt. Jeder Vierte in Deutschland ist inzwischen medizinisch unterversorgt. ({5}) An dieser Tatsache kommen Sie nicht vorbei. ({6}) Gestern haben Sie in unserer Anhörung gehört, dass ein Psychotherapeut in Mecklenburg-Vorpommern - man höre und staune - 14,8 Pfennige für eine Behandlungsstunde bekommt. ({7}) Frau Fischer, ich weiß also gar nicht, wie Sie dieses Gesundheitswesen mit Ihrer Politik retten wollen. Wenn Sie von Qualitätssicherungsmaßnahmen sprechen, dann merkt man, dass Sie offensichtlich nicht so tief in der Materie stecken; denn Qualitätssicherungsmaßnahmen sparen kein Geld, sondern sie kosten Geld. ({8}) - Herr Kirschner, wenn Sie uns vorwerfen, dass in einem langen Zeitraum Beiträge geringfügig angehoben worden sind, dann muss ich sagen: Das geschah aufgrund des medizinischen Fortschritts. Überlegen Sie doch einmal, was heute alles möglich ist! Von Lebertransplantationen sowie von Herz-Lungen-Transplantationen haben wir noch vor zehn Jahren nicht zu träumen gewagt. Aber sie kosten Geld und müssen bezahlt werden. Sie liegen mit Ihrer Gesundheitspolitik schon sehr daneben. Sie werden dafür auch die Quittung erhalten; denn durch Ihre Politik haben wir bereits heute eine Zwei Klassen Medizin in Deutschland. ({9}) Frau Fischer, wenn Sie weitere Haushaltslöcher mit Krankenversicherungsbeiträgen stopfen wollen, dann muss ich Ihnen empfehlen, dieses Geld lieber mit Ihren Zirkusauftritten hereinzuholen ({10}) als mit einem Griff in die Kasse der Krankenkassen. Vielen Dank. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Kollege Horst Schmidbauer von der SPDFraktion:

Horst Schmidbauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001996, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich denke, das war eigentlich eine gute Chance, mehr Argumente in der Sache auszutauschen. Aber leider ist - außer vom Kollegen Eppelmann - davon sehr wenig Gebrauch gemacht worden. Gerade Sie, Frau Kollegin Bergmann-Pohl, haben hier mit einer Argumentation aufgewartet, die nicht neu ist; denn dass die chronisch Kranken in diesem Land unterversorgt sind, haben die Menschen schon vor zehn Jahren gewusst. ({0}) Es hat sich auch in den letzten Jahren nichts getan. In der ganzen Gesundheitsdebatte haben Sie in hohem Maße gepennt. Wir haben mit der Reform 2000 die so genannten kommunizierenden Röhren geschaffen. Wir werden das Geld aus der Überversorgung, das Geld aus der Fehlversorgung nehmen - es also nicht aus dem System herausnehmen, sondern es nutzen -, um die Unterversorgung gerade der chronisch Kranken zu überwinden. In dieser Richtung werden wir agieren. ({1}) Ich glaube, wir müssen als Sozialdemokraten deutlich machen, dass die Frage, die jetzt der Regierung zur Entscheidung vorliegt, in der Koalition noch nicht entschieden ist und dass wir uns natürlich bemühen werden und dafür arbeiten wollen, überzeugen wollen, dass dieser Kelch an der solidarischen Krankenversicherung vorbeigeht. Wenn Sie uns dabei helfen, Kollege Thomae, habe ich natürlich nichts dagegen. Das Ziel der Haushaltskonsolidierung tragen wir uneingeschränkt mit; denn das ist ja nachhaltig begründet worden. Aber damit die Sanierung nicht zulasten der Solidargemeinschaft der Versicherten geht, brauchen wir Alternativen. Wir wären froh gewesen, wenn heute im Rahmen der Aussprache Alternativen benannt worden wären, wie wir einen anderen und besseren Weg finden können. Es steht außer Zweifel, dass der Erfolg der Bundesregierung am Arbeitsmarkt zu Mehreinnahmen führen wird. Ob allerdings die Mehreinnahmen die Einsparungen in der Größenordnung von 1,2 Milliarden DM ausgleichen werden, ist eine andere Frage. Unsere Befürchtung ist eher folgende: Wir glauben, dass die Opposition dies als Vorwand benutzt, um Druck auf die Patientinnen und Patienten auszuüben. ({2}) Das ist das, was uns in dieser Frage am meisten schreckt. Deshalb will ich auch gar nicht leugnen, dass wir in der Frage der Sanierung der Staatsfinanzen vorankommen müssen. Allerdings: Wenn heute von der Union oder auch von der F.D.P. wegen dieser geplanten Umleitungsaktion gleich von einem „Verschiebebahnhof“ geredet wird, sollten Sie sich lieber erinnern, welche geradezu gigantischen Baumaßnahmen von Verschiebebahnhöfen unter der Regierung Kohl/Waigel/Seehofer/Blüm stattgefunden haben. ({3}) Sie haben in immer kürzeren Abständen ständig Mittel hin und her geschoben mit dem Ergebnis, dass der Zug unseres Sozialstaates überhaupt nicht mehr vorankam, dass der Zug unseres Sozialstaates letztlich im Sumpf der Staatsverschuldung stecken geblieben ist. Im Gegensatz zu den Chefrangierern der alten Regierung werden wir in der SPD-Fraktion nach Alternativen trachten, damit das Vertrauen in das Gesundheitssystem nicht untergraben wird. Die letzte Glanzleistung Ihrer Chefrangierer war, den Krankenversicherungen 5 Milliarden DM aus den Taschen zu ziehen. Durch die Absenkung der Bemessungsgrundlage der Beiträge für die Arbeitslosen haben Sie die Krankenkassen um 5 Milliarden DM erleichtert. Ihr grandioses seinerzeitiges Ergebnis: Beitragserhöhung statt Beitragsstabilität. Ich denke, so pharisäerhaft, wie Sie tun, darf nur tun, wer sich auf die strenge Einhaltung von Regeln und Gesetzen berufen kann. ({4}) Darauf berufen darf sich nur der, der selbst noch im Stande der Unschuld ist. Aber unschuldig am Zustand der Krankenversicherung, der Rentenversicherung, der Pflegeversicherung, der Arbeitslosenversicherung sind Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, ganz gewiss nicht - im Gegenteil! ({5}) Es ist allzu billig, sich über jemanden zu mokieren, der Schwierigkeiten beim Aufräumen hat und Probleme anpacken muss. Sie dürfen nicht vergessen, dass es sich um das Aufräumen Ihrer Hinterlassenschaften handelt. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner in der Aktuellen Stunde hat der Kollege Matthäus Strebl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Matthäus Strebl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002940, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jederzeit wollte sich der Bundeskanzler am Abbau der Arbeitslosigkeit messen lassen. Heute diskutieren wir darüber, wie Rot-Grün die Arbeitslosen bekämpft, ({0}) wie Sie mit kurzatmigen Aktionen die Belastbarkeit der sozialen Sicherungssysteme testen. Bei der Rente diskutieren wir zwischenzeitlich über das Riester-Modell Nr. 68. Bei der Pflegeversicherung zerstören Sie systematisch die Finanzierungsgrundlage. Ähnlich ist es bei der gesetzlichen Krankenversicherung. Sie setzen Rotstift gegen schwarze Zahlen. ({1}) Die Sozialkassen, Kollege Schmidbauer, dienen Ihnen nur noch als Verschiebebahnhof für Ihre hektische Haushaltspolitik. Was Sie damit zerstören, ist enorm: die Vertrauensgrundlage für den Generationenvertrag und das Vertrauenskapital der Sozialversicherung. Ihre Sozialpolitik gleicht einem Rummelplatz: Sie verkünden laut schreiend die neuesten Angebote, als Lose nur Nieten, und selbst bei den Gewinnen ist bereits der Lack ab. So funktioniert Schröders Rummelplatzpolitik. Wen wundert es, dass die Menschen trotz weltweit guter Konjunkturdaten und demographischer Entspannung auf dem Arbeitsmarkt dieser Bundesregierung nichts mehr glauben? Noch im November 1998 kündigte im „Kölner Express“ der zwischenzeitlich privatisierte Schröder-Kompagnon, der damalige Bundesfinanzminister Lafontaine, der Fahnenflucht begangen hat, an, dass die Zahl der Arbeitslosen um 1 Million sinken werde. Wir von den Unionsparteien werden Sie daran messen. Heute diskutieren wir darüber, dass die Beiträge der Arbeitslosenhilfeempfänger zur gesetzlichen Krankenkasse sinken sollen. Die Situation der Langzeitarbeitslosen hat sich nämlich weiter verschärft. Diese Kehrtwenden, die Sie in der Arbeitsmarktpolitik, bei der Pflege, in der Gesundheitspolitik und in der Rentenpolitik vorführen, zeigen Ihre Ratlosigkeit. ({2}) Mein Vorwurf ist: Sie haben sich mit falschen Versprechungen an die Macht gemogelt, im Wahlkampf die Union diffamiert ({3}) und müssen heute damit klarkommen, dass die Wirklichkeit anders aussieht als die bunt bemalten Papiere aus der SPD-Zentrale. ({4}) Was die Schröder-Regierung am meisten zu fürchten hat, ist das Langzeitgedächtnis der Menschen, die Sie im Wahlkampf mit falschen Versprechungen geleimt haben. Sie lösen keine Probleme, Sie sind das Problem. ({5}) Allein die Abkehr von der nettolohnbezogenen Rente verursacht bei den Krankenkassen in diesem und im nächsten Jahr 2 Milliarden DM Mindereinnahmen. Und es geht noch weiter: Durch die Kürzung der Beiträge von Arbeitslosenhilfeempfängern zur Rentenversicherung schafft diese Regierung neue Altersarmut, die sie dann mit einer Art Grundrente wieder bekämpfen will. Und durch die Kürzung der Beiträge von Arbeitslosenhilfeempfängern zur sozialen Pflegeversicherung wurden dieser die Mittel genommen, die sie braucht, um den altersverwirrten Menschen, den Demenzkranken zum Beispiel, zu helfen. Nun wollen Sie die Beiträge der Arbeitslosenhilfeempfänger zur gesetzlichen Krankenversicherung kürzen. Das Ergebnis wird sein: jährlich 1,2 bis 1,5 Milliarden DM Mindereinnahmen. Durch diese Mindereinnahmen sind die Arbeitsplätze von sehr vielen Krankenpflegerinnen und Krankenpflegern gefährdet. Dies steigert den enormen Druck, dem die Beschäftigten im Gesundheitswesen ausgesetzt sind, nochmals. Wir, die CDU/CSU, sind zu einem fairen Umbau der sozialen Sicherungssysteme bereit. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren von Rot-Grün, dazu müssen Sie hier erst die Nebelkerzen verschwinden lassen. Es müssen wieder Klarheit und Wahrheit in die gesamte Sozialpolitik einkehren. Statt die Arbeitslosen zu melken, wären eine durchgreifende Steuerreform, eine verlässliche Rentenreform und ein wahres Bündnis für Arbeit, das diesen Namen auch verdient, notwendig. ({6}) Im letzten Jahr der unionsgeführten Bundesregierung wurde die Zahl der Arbeitslosen um 400 000 reduziert. Das entlastet die Sozialversicherung und stabilisiert ihre Finanzgrundlage. Seit 1999 bleibt der Abbau der Arbeitslosigkeit unter der Entlastung des Arbeitsmarktes durch die geburtenschwachen Jahrgänge. Eine „neue Mitte“ wollten Sie, die neue Bundesregierung, ansprechen. Eine neue Ehrlichkeit wäre hilfreicher, um den notwendigen Konsens beim Umbau der Sozialsysteme und die dafür notwendige Akzeptanz in der Bevölkerung zu schaffen. Mit einer Kürzungsorgie gegen die Arbeitslosen zeigt diese Bundesregierung ihre Hilflosigkeit in der sozialen Frage. Zum Schluss möchte ich Ihnen eines sagen: Es wird Zeit, dass der DGB mit 8 Millionen DM auch eine Kampagne für eine andere, eine ehrliche Sozialpolitik startet. ({7}) Die Union wird aufmerksam beobachten, ob hier die Genossensolidarität wichtiger ist als der Einsatz für soziale Gerechtigkeit. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90 /DIE GRÜNEN Stärkung des sozialen Zusammenhalts der Gesellschaft durch Weiterentwicklung des Sozialstaats und mehr Gerechtigkeit - Drucksache 14/3787 Matthäus Strebl Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Rudolf Dreßler von der SPD-Fraktion das Wort.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Sozialpolitik war ein Schwerpunkt des SPD-Wahlprogramms im Jahre 1998. ({0}) Alle Wahlanalysen berichten, dass wir gewählt wurden, weil große Teile der Bevölkerung ein Gerechtigkeitsdefizit empfunden haben. Man erwartet von der Sozialdemokratie, dass sie dieses Gerechtigkeitsdefizit abstellt. Sozialpolitik wurde zu einem Schwerpunkt des Arbeitsprogramms der Koalitionsfraktionen, von Bündnis 90/ Die Grünen und SPD. Wir haben in den ersten Monaten dieser Legislaturperiode viel auf den Weg gebracht. Manche sagen: zu viel. Die wichtigsten Maßnahmen sind im Einzelnen im vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen aufgelistet. Auch für die zweite Hälfte der Legislaturperiode setzen die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen wichtige sozialpolitische Reformvorhaben auf die Tagesordnung. Besondere Bedeutung kommen der Rentenreform, der Reform der Betriebsverfassung und der Arbeitsförderung zu. Das alles wird zu gegebener Zeit in diesem Hause erörtert. Stattdessen möchte ich mir in meiner letzten Rede im Deutschen Bundestag ein paar offene Anmerkungen zu den zukünftigen sozialpolitischen Aufgaben und Herausforderungen erlauben. Vielleicht akzeptieren einige sogar den Begriff „grundsätzlich“. Dazu gehören auch einige Gedanken zu unserem Streit und unseren Übereinstimmungen in der Sozialpolitik der vergangenen Jahre. ({1}) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein sozialer und demokratischer Bundesstaat. Demokratie ist nicht denkbar ohne das Adjektiv „sozial“. ({2}) „Sozial“ heißt übersetzt „gesellschaftlich“. Es meint nicht „karitativ“, so wichtig dies auch sein mag. ({3}) Das Soziale in unserer Gesellschaft zielt nicht auf bloße Existenzsicherung ab, wie es der Fürsorgestaat tut. Sozialpolitik in einer Demokratie muss vielmehr zuallererst das Ziel verfolgen, den Menschen die gleichen Chancen auf Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen Leben zu eröffnen. ({4}) Auch wenn wir dies nicht vollständig erreichen werden: Wir waren in den letzten 50 Jahren in der Bundesrepublik auf diesem Weg erfolgreich. Das erreichte Maß an Chancengleichheit ist das Fundament für den inneren Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Ich warne nachhaltig, es aufs Spiel zu setzen. ({5}) Wenn ich mir die Diskussionen der letzten Jahre vergegenwärtige, habe ich Zweifel, ob diese enorme Bedeutung unseres Sozialstaatspostulats für die beschriebene Gesellschaftspolitik allen politisch Handelnden noch gegenwärtig ist. ({6}) Die gesellschaftspolitischen Wirkungen unserer sozialstaatlichen Verfassung werden immer weniger gewürdigt, die Vorteile, die auch die Wirtschaft daraus zieht, im Übrigen auch nicht. Hingegen werden soziale Institutionen als Hemmschuh für die wirtschaftliche Entwicklung identifiziert, die es zu deregulieren gelte. Der Neoliberalismus meldet sich mit der lauten Forderung, der Staat müsse sich zurückziehen und die Entwicklung dem freien Spiel der Kräfte des Marktes überlassen. Dies, so die Behauptung, führe zu einem größeren Maß an Wohlstand und Wohlfahrt. Es wird unterstellt, die Menschen könnten in viel größerem Umfang für sich selber sorgen und der Sozialstaat könne sich folglich „auf die wirklich Bedürftigen“ konzentrieren. Anders ausgedrückt: Jeder sei künftig wieder seines eigenen Glückes Schmied. Die zunehmende Individualisierung der Menschen wird in Gegensatz gebracht zu unseren bewährten solidarischen und sozialen Sicherungssystemen. Mit Verlaub, meine Damen und Herren: Da wird doch allerhand durcheinander geworfen. Aber auf jeden Fall reklamieren diese Auffassungen das Etikett „modern“. Wer dagegen an den bewährten Zielen und Grundprinzipien unseres Sozialstaates festhalten will, bekommt das Prädikat „Traditionalist“ - und das ist negativ gemeint. Diese oberflächliche Art der Diskussion macht mich besorgt. Manches allerdings amüsiert mich auch. Bemerkenswert finde ich vor allem, dass sich die Protagonisten solcher politischen Haltungen offenbar nicht bewusst sind, dass sie selbst in einer jahrhundertealten Tradition stehen. ({7}) Ich möchte das hier nicht in epischer Breite ausführen, aber von Traditionen verstehe ich etwas. Das werden nicht einmal meine ärgsten Gegner bestreiten. ({8}) Das Denkmuster, nach dem eine höhere Macht schon alles richtet, wenn sich der Staat nur heraushält, hat eine jahrhundertelange Tradition. Es findet sich schon bei Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms Thomas von Aquin. Die höhere Macht war bei ihm der liebe Gott. Das Zeitalter, das durch diesen Grundgedanken geprägt war, nannte man übrigens Mittelalter. ({9}) Ich bekenne: Auch ich bin Traditionalist. ({10}) Aber ich bin mir der Tradition, auf die ich mich beziehe, bewusst. Sie ist jedenfalls insofern moderner, als sie etwas jüngeren Datums ist. Dem Mittelalter folgte nämlich das Zeitalter der Aufklärung. ({11}) Im Zeitalter der Aufklärung wurde der Staat in die Pflicht genommen und ihm eine aktive Rolle gegeben. Die Aufklärer meinten nämlich, dass nichts allein von sich aus zu einem harmonischen Ganzen gefügt werden könne, wenn nicht Menschen durch aktives Eingreifen etwas nachhelfen. Auch die großen Werte der Aufklärung - Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit - sind für mich hochaktuell. ({12}) Diese Werte taugen immer noch als Orientierungsmaßstab für Politik, insbesondere für Sozialpolitik. ({13}) Dies gilt gerade dann, wenn wir Brüderlichkeit durch Solidarität ersetzt haben. Es ist mir ein Anliegen, darauf aufmerksam zu machen, dass sich abzeichnende neue Grundlinien der Gesellschaftspolitik in unserem Lande, denen einige die Überschrift „Modernisierung“ zuerkannt haben, einen Generationenkonflikt heraufbeschwören können. So wie Jung und Alt schon heute miteinander umgehen, ist eine solche Gefahr nicht von der Hand zu weisen. ({14}) Was ich meine, möchte ich anhand eines durchaus humorvollen Histörchens deutlich machen, das ich vor einigen Tagen gehört habe und das alle Mithörer unheimlich cool - so heißt das ja auf Neudeutsch - fanden: ({15}) Da sitzt auf der Düsseldorfer Königsallee ein älterer Herr in seinem Mercedes und wartet geduldig darauf, dass vor ihm ein Parkplatz frei wird. Just in dem Moment, als der Parkplatz endlich geräumt ist und er einparken will, nähert sich ein junger Mann in seinem schnittigen Sportcoupé und schnappt ihm den Parkplatz ratzfatz vor der Nase weg. Dieser garniert sein Tun auch noch mit der schnodderigen Bemerkung: „Tja, Opa, so löst man ein Problem, wenn man jung und dynamisch ist“. Der so apostrophierte Opa bleibt ganz ruhig, legt den ersten Gang ein, gibt Vollgas und faltet den schnittigen Sportflitzer zusammen wie einen Schuhkarton. ({16}) Danach steigt er aus, überreicht dem völlig verdutzten jungen Mann, jetzt Besitzer eines Schrotthaufens, seine Visitenkarte mit folgender Bemerkung: „Und so, junger Freund, löst man ein Problem, wenn man alt und reich ist“. ({17}) Irgendwie ist das ja lustig. Aber irgendwie bleibt einem auch das Lachen im Halse stecken; denn dieses Histörchen offenbart bei beiden Beteiligten Verhaltensweisen, die frei von jeder Rücksichtnahme auf den anderen sind. ({18}) Aggressivität auf die jeweils andere Generation ist hier das hervorstechende Merkmal. Den beiden fehlt es an Solidarität füreinander. An deren Stelle tritt die Ellbogenmentalität. Soll das etwa das prägende Element für das zukünftige gesellschaftspolitische Zusammenleben sein? In der Diskussion über unsere gemeinsame Zukunft höre ich immer, Solidarität sei zwar unzeitgemäß, müsse aber nunmehr neu bestimmt werden. Das war es dann aber auch; denn das Wie, Was und Warum einer Neubestimmung bleiben im Nebel. Ich frage: Muss Solidarität wirklich neu bestimmt werden oder ist Solidarität nicht das Urelement jeder menschlichen Gesellschaft, wenn sie denn ein humanes Antlitz trägt? ({19}) Ich habe eher den Eindruck, dass wir in einer Zeit leben, in der Solidarität einseitig als etwas verstanden wird, was man im Fall der Fälle erhalten möchte, in der aber immer weniger bereit sind, Solidarität selbst zu leisten. Solidarität nur als Empfangsberechtigung, nicht aber als Leistungsverpflichtung - soll das eigentlich modern sein? Bei einem solchen Verständnis von Solidarität wäre es doch eigentlich politische Aufgabe, sie wieder in ihren alten Stand zu setzen, sie als Geben und Nehmen zu definieren. ({20}) Ich bin doch hoffentlich nicht der Einzige, der die ebenso rechten wie billigen Sprüche von „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!“ für eine ziemliche Unverfrorenheit hält. „Jeder ist seines Glückes Schmied“ predigen in der Regel auch nur diejenigen, bei denen der Schmied schon mindestens einmal war. ({21}) Sie predigen es vorzugsweise jenen, die nie auch nur den Hauch einer Chance haben, dass ebenjener Schmied vorbeikommen wird. Soll das die neu bestimmte Solidarität sein? Was heißt es denn, wenn es heute in der jungen Generation eine Neigung gibt, mit Blick auf die Altersversorgung und ihre Probleme den Alten vorzuwerfen, durch die Erfüllung ihrer Ansprüche würden sie den Jungen einen guten Teil ihrer Zukunft wegnehmen? Stimmt das denn oder ist es nicht vielmehr so, dass die Startposition materiell wie ausbildungsmäßig für keine Generation in der Geschichte je so günstig wie die der heutigen Jugend trotz erheblicher Probleme auf dem Arbeitsmarkt - gewesen ist? ({22}) Ist es denn nicht auch so, dass diese Startposition der Jungen Ergebnis der ebenso zielstrebigen wie zähen Aufbauarbeit der vorangegangenen Generationen gewesen ist? Von wegen, die Alten fressen uns die Zukunft vom Kopf! Die Wahrheit ist, die Alten haben durch ihre Arbeit den Jungen erst Zukunft gegeben. ({23}) Noch eines scheint vergessen worden zu sein: Es gibt keine Gesellschaft, die nur aus Gewinnern besteht. In jeder Gesellschaft, und sei sie noch so vollendet, gibt es immer auch Verlierer und Schwächere. Das mag man bedauern, aber es ist so. Ich werde mich deshalb auch nicht darin beirren lassen, dass sich die Qualität einer Gesellschaft an ihrer Fähigkeit bemisst, diesen Schwächeren gerecht zu werden ({24}) und ihnen deutlich zu machen, dass auch sie dazu gehören und ihren gleichberechtigten Platz haben. Das ist das Kernelement der Freiheit und ein wesentliches Element republikanischer Gesinnung. ({25}) Es geht um Freiheit für alle und nicht nur für die, die sie sich ohnehin aus eigener Kraft besorgen können. Denjenigen, die sich mit dem oberflächlichen Prädikat der Modernisierung schmücken, entgegne ich Folgendes: Die Ausübung individueller Freiheit braucht soziale Voraussetzungen und eine ihrer wichtigsten ist die Solidarität. Wir brauchen deshalb keine Neubestimmung von Solidarität, sondern wir brauchen endlich wieder republikanische Gesinnung, meine Damen und Herren. ({26}) Zum Wert der Freiheit: Jeder Mensch soll eine Chance erhalten, ein selbst bestimmtes Leben zu führen und seine Fähigkeiten, Begabungen und Ambitionen voll zu entfalten. Ist das ein unmodernes Ziel? Ist das Sozialromantik? Fragen Sie die Menschen in unserem Land. Vielleicht werden einige einwenden, dass dieses Ziel wohl nie ganz zu erreichen ist. Aber die meisten werden zustimmen, dass sie es anstreben; denn Freiheit heißt auch Individualität. Die Voraussetzungen sind heute günstiger als je zuvor. Bildung und neue Kommunikationsmedien eröffnen vielen Menschen ganz neue Optionen. Sie sind nicht mehr an das Milieu gebunden, in das sie hineingeboren wurden. Sie haben ganz andere Freiheitsgrade in ihrer Lebensplanung und der Wahl ihres Lebensstils. Die Globalisierung, nicht nur als internationale Verflechtung der Wirtschaft, sondern als Zusammenwachsen verschiedenster Kulturen und Gesellschaften der Welt verstanden, verstärkt diese Entwicklung. Damit sind wir beim Wert der Gleichheit. Gleichheit bedeutet nicht Gleichmacherei. Das wäre ganz falsch. Die Menschen sind verschieden, sie haben verschiedene Voraussetzungen und unterschiedliche Bedürfnisse. Ungleiches gleich zu behandeln ist ungerecht. Das ist schon mehrfach versucht worden und gründlich schief gegangen, wie wir aus der Geschichte wissen. ({27}) Gleichheit bedeutet gleiche Chancen auf Persönlichkeitsentwicklung und eine würdevolle Lebensführung, gleiche Chancen auf Teilhabe. Gleichheit bedeutet Gleichberechtigung trotz Verschiedenheit. Das führt zur Brüderlichkeit, heute nennen wir das Solidarität. Ich will es so formulieren: Wir sind aufeinander angewiesen. Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung, Selbstentfaltung und Individualität kann nicht heißen: Ich für meine Interessen zur Not gegen den Rest der Welt. Das würde allenfalls bei ganz wenigen funktionieren. Freiheit und Individualität stehen nicht im Gegensatz zu Kollektivität oder, besser ausgedrückt, Gesellschaftlichkeit. Im Gegenteil: Die meisten Menschen können sich Individualität, also Freiheit, nur auf der Basis einer solidarischen Absicherung leisten. ({28}) Der gut verdienende Internetdesigner oder Medienmensch konnte dies deshalb werden, weil die Gesellschaft seine Schul- und seine Hochschulausbildung bezahlt hat. Das ist vermutlich vielen, die mit diesen Sicherheiten ganz selbstverständlich groß geworden sind, gar nicht bewusst. Deshalb müssen wir darüber sprechen. Freiheit im Sinne von Individualität ist für die meisten Menschen auch in unserer Gesellschaft nur auf der Basis gemeinsamer sozialer Absicherung möglich. Deshalb ist unser Sozialstaat keine Last. Der Sozialstaat ist eine Errungenschaft im Interesse der Emanzipation des einzelnen Menschen. ({29}) Unser Modell der gemeinsamen Absicherung von Chancengleichheit nenne ich genial. Wenn wir es nicht schon hätten, müssten wir es erfinden. Wir werden zu Recht weltweit darum beneidet. Das System ist deshalb so genial, weil es die Gesellschaft nicht in diejenigen spaltet, die für sich allein Vorsorge tragen, und diejenigen, die auf Unterstützung angewiesen sind. Nein, keiner muss in diesem System Danke sagen. Keiner muss das Gefühl haben, nur für den anderen zu bezahlen. Jeder trägt im Rahmen seiner Möglichkeiten Verantwortung auch für die anderen und erwirbt dadurch das Recht, von diesen im Bedarfsfall unterstützt zu werden. ({30}) Ich frage: Warum stellen wir dies nicht in der öffentlichen Auseinandersetzung als ein hohes Gut heraus, das uns viel wert ist und auf das wir stolz sein können? Stattdessen schwingt in den Forderungen nach mehr Eigenvorsorge und mehr Eigenverantwortung der Vorwurf mit, die Menschen würden sich bisher zu sehr auf den Staat verlassen. Ich frage: Wo bitte schön fängt die Eigenverantwortung denn an, jenseits von 2 000 DM monatlich? Ungefähr so viel zahlt nämlich ein Facharbeiter mit einem Bruttoeinkommen in Höhe von 5 000 DM in die Sozialversicherung ein - von seinen Steuern, mit denen schließlich Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, kulturelle und Jugendeinrichtungen sowie unsere innere und äußere Sicherheit finanziert werden, ganz zu schweigen. Die Bürger betreiben Eigenvorsorge. Mehr noch: Sie übernehmen nicht nur Eigenverantwortung, sondern auch solche für die Gemeinschaft. Ich erinnere daran, dass die westdeutschen Arbeitnehmer seit zehn Jahren Hunderte von Milliarden DM aufgebracht haben, um die soziale Absicherung der deutschen Einheit zu finanzieren. Das haben sie zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt. Die Welt staunt heute noch darüber. Das ist eine Riesenleistung und eine großartige verantwortungsbewusste Haltung der Menschen in unserem Land der Gemeinschaft gegenüber. Diese Tradition müssen wir hegen und pflegen, wir dürfen sie nicht herunterreden. ({31}) Ich fasse es in die These: Nicht Globalisierung statt Tradition, sondern Globalisierung der Tradition, der Tradition der Aufklärung. Ich werde demnächst aus dem Deutschen Bundestag ausscheiden und eine neue Aufgabe übernehmen. Dass dies einige mit Erleichterung zur Kenntnis nehmen, macht mich ein bisschen stolz. ({32}) Vor zweieinhalb Jahren musste ich mein Leben neu sortieren. Das einschneidende Ereignis eines Verkehrsunfalls zwang mich täglich in eine Auseinandersetzung mit fast allen Sekundärtugenden. Ich habe diese Auseinandersetzung angenommen und, so glaube ich, einigermaßen gemeistert. ({33}) Ich will heute daran erinnern, um mich bei jenen Kolleginnen und Kollegen - parteiübergreifend - zu bedanken, die mir auf unterschiedlichste Weise dabei geholfen haben. Gestatten Sie mir, dass ich stellvertretend drei Namen nenne: Norbert Blüm, Wolfgang Schäuble und Rudolf Scharping. Man kann in vielen Details unterschiedlicher Meinung sein und streiten. Große sozialpolitische Reformen sollten im Interesse der Menschen und im Interesse des Zusammenhalts der Gesellschaft parteiübergreifend vorgenommen werden. Darum sollten wir uns immer wieder neu bemühen. Der Opposition kommt in diesem Zusammenhang immer die größere Verantwortung zu, weil sie nicht handeln muss; eine Regierung muss, die Opposition kann. Ich möchte auf fünf große sozialpolitische Reformvorhaben verweisen, die wir parteiübergreifend erarbeitet haben, Reformen, bei denen wir in der Opposition Verantwortung übernommen haben: die Rentenreform 1989, das Renten-Überleitungsgesetz, das Gesundheitsstrukturgesetz von 1992, die Pflegeversicherung und den sozialpolitischen Teil des Einigungsvertrages. Wir haben über die Details hart gestritten und wir haben gerungen. Wir wussten uns aber in den grundsätzlichen Zielen einig. Ich habe denjenigen, die neben mir daran beteiligt waren, für ihre Zusammenarbeit, für ihre Fairness und für den wechselseitigen Respekt, der unsere Arbeit begleitet hat, zu danken. Stellvertretend für viele andere möchte ich diesen Dank insbesondere an die Kollegen Norbert Blüm -, noch einmal Horst Seehofer, Julius Cronenberg und Dieter Thomae richten. Vielleicht trifft auf uns alle ein bisschen der Satz zu, den Willy Brandt an das Ende seiner Zeit gesetzt hat: „Man hat sich bemüht.“ ({34})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich denke, ich spreche in Ihrer aller Namen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich dem Kollegen Dreßler den sehr herzlichen Dank des ganzen Hauses ausspreche. Herr Kollege Dreßler, Sie waren seit Ihrem Amtsantritt im Deutschen Bundestag im Jahre 1980 einer der herausragenden Sozialpolitiker dieses Hauses. Sie haben sich um die Sozialpolitik in Deutschland verdient gemacht. Ich wünsche Ihnen im Namen aller Kolleginnen und Kollegen auch für Ihre zukünftigen wichtigen Aufgaben viel Erfolg, insbesondere für die wichtige und schwierige Aufgabe des deutschen Botschafters in Israel. ({0}) Der nächste Redner ist der Kollege Josef Laumann von der CDU/CSU-Fraktion.

Karl Josef Laumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001294, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Dreßler, zunächst einmal möchte ich Ihnen auch im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Respekt und Anerkennung für Ihre Tätigkeit über sechs Wahlperioden hier im Deutschen Bundestag aussprechen. Sie sind in dieser Zeit ohne Frage einer der bedeutendsten Sozialpolitiker dieses Hauses gewesen. Niemand, auch wir als Ihre politischen Gegner nicht, auch die Jüngeren im Parlament nicht, kann Ihnen Ihre Riesensachkenntnisse streitig machen. Man hatte immer den Eindruck das spürte man -, dass Sie Ihre Arbeit daran orientierten, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Menschen in diesem Land, die der Solidarität bedürfen, am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Ich finde, wir Jüngeren, die die Sozialpolitik in den nächsten Jahren hier im Parlament tragen und weiterentwickeln müssen - Sozialpolitik ist nie statisch, etwas, was so bleiben kann, wie es ist, sondern sie muss gesellschaftlichen Veränderungen angepasst werden, über Generationen und Fraktionen im Deutschen Bundestag hinweg -, sollten nicht jedem Modetrend erliegen. ({0}) Die Sozialversicherung zur Absicherung bei Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit ist nichts Altmodisches und muss auch von uns Jüngeren verteidigt werden. ({1}) Ich bin sicher, dass der Begriff Sozialversicherung, wenn der DAX irgendwann einmal etwas fällt und viele Leute merken, dass die Buchwerte sich nicht wie gewünscht realisieren, nicht mehr in allen Ohren so altmodisch klingt, wie das heute bei dem einen oder anderen vielleicht der Fall ist. Aber, Herr Dreßler, es wäre heute von mir als Vertreter der Union eine unehrliche Rede, wenn ich nicht auch folgenden Punkt ansprechen würde: Sie als Sozialexperte haben den Wahlkampf Ihrer Partei für die letzte Bundestagswahl wesentlich mit vorbereitet. Das war Ihr gutes Recht. Es ist das Recht der Opposition, sich für ihren Wahlkampf ein bestimmtes politisches Feld auszusuchen. Sie haben damals an der Rentenreform, die wir als CDU/CSU und F.D.P. am Ende unserer Wahlperiode gemeinsam zu verantworten hatten, vor allen Dingen den demographischen Faktor kritisiert und von einer Verwüstung der Rentenversicherung gesprochen. Sie haben an die Wand gemalt, dass unsere Politik zu Altersarmut führen würde. Ich finde, nicht Sie, aber manch einer in Ihrer Fraktion muss sich doch fragen, ob die Politik, die heute von der SPD in Deutschland mit vertreten wird, noch mit dem in Einklang steht, was im letzten Wahlkampf versprochen worden ist. ({2}) Ich stelle mir in diesen Tagen oft vor, wie wohl Herr Dreßler von diesem Pult aus, aber auch auf vielen Pressekonferenzen und auf vielen anderen Veranstaltungen darauf reagiert hätte, wenn Sozialminister Norbert Blüm ein Papier aus seinem Hause in Umlauf gebracht hätte, nach dem wir in der gesetzlichen Rentenversicherung irgendwann bei einem Rentenniveau von 64 Prozent landen würden. Wir müssen uns in unserer Gesellschaft bemühen - da muss Politik mit gutem Beispiel vorangehen -, die Frage der Generationengerechtigkeit im Kopf zu behalten. Ich persönlich empfinde es genauso, wie Sie es gesagt haben. Ich bin fest davon überzeugt, dass die ganz jungen Leute, auch die Generation meiner Kinder, heute in Deutschland Rahmenbedingungen vorfinden werden, von denen Ihre, aber auch meine Generation noch geträumt hat: in einem Europa zu leben, in dem es die reale Sorge vor Krieg nicht mehr gibt. In den 60er- und 70er-Jahren, auch noch bis in die 80erJahre hinein, hatten wir eine andere Situation. Ich kann mich noch daran erinnern, wie wir das Ganze Mitte der 70er-Jahre, als ich Soldat war, gesehen haben. Wir haben heute ein breit gefächertes Bildungssystem für alle Generationen, eine Teilhabe an der Bildung ist für alle möglich. Dennoch müssen wir gerade in der Sozialpolitik daran denken, dass auch diejenigen, die trotzdem nicht mithalten können, eine Chance haben, am Arbeitsmarkt und am gesellschaftlichen Leben insgesamt teilzunehmen. ({3}) Sozialpolitik der Zukunft - das soll mein letzter Gedanke sein - darf sich nicht darauf beschränken, sich um die Armen und Entrechteten zu kümmern, der Samariter zu sein. Wir müssen vielmehr für den normalsituierten Bürger die gemeinschaftliche Absicherung bei Krankheit und Alter in Pflicht- und Kollektivsystemen behalten; denn sie schützen vor Altersarmut und gewährleisten jedem die notwendige medizinische Versorgung. ({4}) Gesetzliche Krankenkassen sind nichts Altmodisches. Wir brauchen sie, damit auch Menschen, die zum Beispiel von Geburt an Handicaps haben, zu bezahlbaren Beiträgen versichert sind. Sehr geehrter Herr Dreßler, seien Sie sicher, dass es auch in der jüngeren Generation der Abgeordneten des Deutschen Bundestages viele Menschen geben wird, die aus diesem Geist heraus Sozialpolitik weiterentwickeln werden. Sie werden das auch in Ihrer neuen Funktion beobachten können. Ich gehe davon aus, dass für Sie und Ihre Familie in diesem Neuanfang, den Sie mit knapp 60 Jahren nach sechs Wahlperioden im Deutschen Bundestag noch einmal machen dürfen, ein großer Reiz liegt, und wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie in dieser Aufgabe für die Zeit, in der Sie noch etwas gestalten möchten, eine schöne innere Befriedigung finden. Die besten Wünsche der CDU/CSU werden Sie nach Israel begleiten. Schönen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Thea Dückert vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Lieber Kollege Dreßler! Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute zwei wichtige Punkte, die zusammengehören. Wir haben einen wichtigen Anlass, der zu dieser Debatte geführt hat: Der Kollege Dreßler wird nun nach Israel gehen. Ganz eng damit verwoben - deswegen können wir diese Debatte führen - ist eine inhaltliche Themenstellung, nämlich die Frage: Wohin geht unsere Politik der Weiterentwicklung und der Erneuerung des Sozialstaates? Wo ist unser Ziel? Wo ist diese Perspektive? Herr Dreßler, Sie haben eben in bewährter Art und Weise viele Punkte in die Debatte eingebracht. Wir haben nach 19 Monaten gemeinsamer Regierung eine stolze Bilanz vorzuweisen, doch geht es insbesondere um die angesprochene Perspektive. Ich bin - ich habe es gestern schon gesagt - nicht länger Abgeordnete, als diese Regierung im Amt ist. Auf diese Art und Weise bin ich nicht in den Genuss der kontroversen und lebendigen Debatten der letzten Jahre um die Sozialpolitik gekommen und konnte so den häufigen Schlagabtausch nicht verfolgen. Ich habe aber das, was nach außen gedrungen ist, aus einer Außenperspektive sehr deutlich wahrnehmen können. Dabei hat sich bei mir ein Bild festgesetzt, das sich auch anderen Menschen vermittelt hat, nämlich dass jemand um die Sozialpolitik ringt, der sie nicht einfach als Blinddarm, sondern als Herz des Sozialstaats begreift. ({0}) Mit dieser Form, engagiert Sozialpolitik zu betreiben, wird eine sehr wichtige gesellschaftliche Funktion gerade in der heutigen Zeit, in der wir uns den neuen Herausforderungen der Zukunft stellen müssen, erfüllt. Die Zukunft wird Probleme aufwerfen, die in ihrer Komplexität und Vielseitigkeit von unserem heutigen Sozialsystem häufig gar nicht verarbeitet werden können. In einer solchen Situation der Veränderung, Weiterentwicklung und Erneuerung haben Sie gewissermaßen einen sozialen Kompass dargestellt, der ein Stück Sicherheit in die Debatte bringt und den Raum für eine Debatte um Zukunftsfragen öffnet. Ich weiß, Sie hören nicht gerne den Begriff der Modernisierung, aber wir diskutieren natürlich auch unter dieser Begrifflichkeit und meinen das nicht so oberflächlich, wie Sie das zu Recht in Ihrem Beitrag kritisiert haben. Sie nehmen, Herr Dreßler, eine Rolle an, in der man den Traditionalisten als wohlverstandene und positive Ausprägung begreifen kann. Sie haben gesagt und vorhin noch einmal ausgeführt, dass sich die Qualität einer Gesellschaft an der Fähigkeit, den Schwachen gerecht zu werden und ihnen deutlich zu machen, dass sie dazugehören, bemesse. Ich denke, dieser wichtige und zentrale Satz für die Sozialpolitik ist für uns eine Aufforderung zu einer Politik der Integration, einer Politik gegen Ausgrenzung und auch einer Politik der Antidiskriminierung. Ich glaube, dass wir in den letzten 19 Monaten angefangen haben, mit sehr viel Aufmerksamkeit und Kraft zu versuchen, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Es ist nicht einfach nur eine sozialpolitische Aufforderung im engeren Sinne, es ist vielmehr eine kulturelle Aufforderung an uns alle, eine Integration der ausländischen Mitbürger - das gehört zur Sozialpolitik - oder eine Politik zu betreiben, die den Menschen, die in ihre Heimatländer nicht zurück können, den Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht. Integration ist ein sehr wichtiges Zentrum unserer Politik, das wir sehr ernst genommen haben. Dies betrifft auch die Arbeitsmarktpolitik, in der es heute immer mehr darum geht, diejenigen, die trotz einer positiven wirtschaftlichen und konjunkturellen Entwicklung außen vor stehen, in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Das ist ein wichtiger Punkt und ein Zentrum der Arbeitsmarktpolitik dieser Regierung sowie des Bündnisses für Arbeit. Herr Dreßler, Sie brechen die Lanze für diese Politik der Integration. Ich denke, dass insbesondere die Armut das haben Sie immer wieder thematisiert - ein sehr zentraler Punkt der Ausgrenzung in unserer heutigen Konsumgesellschaft ist. Wir wissen auch, dass insbesondere das Leben mit Kindern heute ein besonderes Armutsrisiko darstellt. In der Koalition haben wir uns diesen Bereich in einer sehr umfassenden Art und Weise zu Herzen genommen, weil wir von der alten Bundesregierung etwas vorgefunden haben, was sehr schnell wieder zu korrigieren war. An dieser Stelle will ich nicht alle Punkte inhaltlich aufführen, die dazu geführt haben, dass das Leben mit Kindern heute schon etwas einfacher geworden ist. Nach 19 Monaten ist aber noch viel zu tun. Die Politik der vergangenen Monate ist eine Antwort auf das, was Sie fordern. Das haben Sie wieder ausgeführt, als Sie von den drei großen G - Gleichheit, Gerechtigkeit und Glaubwürdigkeit - gesprochen haben. Sie sprachen davon, dass es um Chancengleichheit geht. In unserer Gesellschaft können wir die Politik der Chancengleichheit nirgends besser ansetzen als bei den Kindern, gerade bei Kindern, die in einkommensschwachen Familienverhältnissen leben. Sie haben von den drei großen G als Aufforderung, Politik zu machen, gesprochen. Sie haben in der Verbindung dazu gesagt, dass jeder großen Reform zunächst einmal die Anerkennung und die Aussprache der Wahrheit und der Realität vorausgehen. Dies mit der Anforderung an Gleichheit, Gerechtigkeit und Glaubwürdigkeit verbunden ist etwas, was den großen sozialpolitischen Reformen, denen wir gegenüberstehen, zum jetzigen Zeitpunkt zugrunde gelegt worden ist. Das gilt für die Gesundheitsreform, und das gilt auch für die Rentenreform. Dies ist sehr schwierig - ich komme noch einmal auf diesen Punkt zu sprechen -, weil ich an einer Stelle eine Differenz zu dem sehe, was Sie vorgetragen haben. Ich denke, dass man Gleichheit, Gerechtigkeit und Glaubwürdigkeit nicht abschließend definieren kann. Gerechtigkeit ist ein Begriff ist, der sich in dieser Gesellschaft entwickelt, sodass es neue Facetten und Schwerpunkte gibt. Die Frage der Generationengerechtigkeit ist für uns ein ganz zentraler Punkt. Wenn wir heute über die Rentenreform diskutieren, dann ist die neue Sensibilität in unserer Gesellschaft, zum Beispiel über etwas Zentrales oder Profanes, wie die Beitragssätze zu reden, damit verbunden, dass wir eine vernünftige Sozialpolitik nur betreiben können, wenn die Politik nicht auf Kosten der jungen Generation geht. Das versuchen wir in unserem Konzept der Rentenreform zusammenzubringen. Deswegen reden wir über die Notwendigkeit einer Beitragsstabilisierung und über die Notwendigkeit, dass die ältere Generation dazu einen Beitrag leisten muss. Wir führen diese Diskussion nicht, weil wir meinen, man müsse den alten Menschen in die Tasche greifen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, darf ich Sie an die Zeit erinnern?

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme gleich zum Schluss. An dieser Stelle geht es vielmehr darum, dass sich diese Gesellschaft so verändert, dass zum Beispiel Generationengerechtigkeit einen anderen Schwerpunkt bekommt. Deswegen glaube ich, dass wir bei der Rentenreform, selbst wenn Sie in vielen Punkten Kritik anmelden, dieser Überschrift folgen. Meine Damen und Herren, eigentlich wollte ich noch etwas zur Gesundheitsreform sagen. Das tue ich jetzt nicht. Alle wissen, dass meine Meinung mit der des Kollegen Dreßler weitgehend übereinstimmt. Auch in diesem Prozess ging es immer um das Ringen von Lösungen. Das ist ganz klar.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Kollegin, bitte.

Dr. Thea Dückert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003071, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum Schluss. Herr Kollege Dreßler, Sie gehen nach Israel. Das ist ein Neubeginn. Meine Worte, die ich Ihnen mit auf den Weg geben kann, sind vielleicht nicht so schön wie von Hermann Hesse, der gesagt hat: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“ Ich hoffe das sehr für Sie. Ich nenne noch ein Zitat von Mao Zedong, den Sie vielleicht auch mögen: „Die Zukunft ist licht.“ Das wünsche ich Ihnen auch für Israel. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der heutigen Debatte verlässt ein wirklich politisches Schwergewicht die Bonner bzw. die Berliner Bühne. Auf der Bonner Bühne hat er länger als auf der Berliner Bühne agiert. Aber immer hat er agiert und war nicht zu überhören. ({0}) Ich glaube - das stellt die F.D.P. als kleinere Oppositionsfraktion sowieso fest; aber auch die CDU/CSU tut es -, dass es einer ungeheuren Anstrengung bedarf, aus der Opposition heraus sozialpolitische Entwicklungen bzw. politische Entscheidungen überhaupt mitzugestalten. Aber auch dies haben Sie, Herr Kollege Dreßler, geschafft, als Sie nach dem Regierungswechsel 1982 für viele Jahre in die Opposition gezwungen wurden. ({1}) Ich möchte an drei Dinge erinnern: Erstens. Die F.D.P. hat den Konsens über die Rentenreform 1989 aus großer Überzeugung mitgetragen. Zweitens. Schmerzliche Erinnerungen hat die F.D.P. dagegen an die Verhandlungen über das Gesundheitsstrukturgesetz, die 1992 in Lahnstein stattfanden, als die Übereinstimmung zwischen dem Arbeits- und Gesundheitsminister Blüm und dem oppositionellen Sozialpolitiker Rudolf Dreßler wesentlich größer war als die mit der F.D.P. ({2}) - Okay, in Lahnstein hat schon Seehofer verhandelt, aber es war Dreßler. ({3}) Bei uns ruft die Erinnerung an Lahnstein keine ungeteilte Freude hervor. Drittens. Etwas Ähnliches hat sich dann bei den Verhandlungen über die Pflegeversicherung 1999 abgespielt. Man fragt sich natürlich, worauf das beruht. Ich möchte einen Punkt unterstreichen - das haben Sie, Herr Dreßler, auch an der Reaktion der Opposition auf das, was Sie gerade vorgetragen haben, gemerkt -: Wir unterscheiden uns nicht durch die Ziele, die wir in der Sozialpolitik verfolgen. Auf Art. 20 des Grundgesetzes, den sozialen, demokratischen Rechtsstaat, sind wir alle verpflichtet. Ihm fühlen wir uns alle auch verpflichtet. Im Wesentlichen diskutieren wir über Instrumente. Ich denke, Sie nehmen mir ab, dass sich die Abgeordneten meiner Fraktion häufig durch Ihre polemischen Feststellungen verletzt fühlten, die Sie zweifellos mit großer rhetorischer Brillanz und Schärfe vorgetragen haben; denn wir haben natürlich die beachtliche Resonanz, die Sie damit erzielt haben, bemerkt. Bei mir persönlich hat das eine oder andere durchaus auch Aggressionen ausgelöst. So bin ich eben. ({4}) Die leichte Frustration, die Ihnen in den letzten Jahren anzumerken war, ist, glaube ich, durchaus verständlich. Wir alle haben bemerkt, dass sich in der SPD eine Auseinandersetzung darüber vollzieht, wie die Sozialpolitik für die Informationsgesellschaft aussehen soll. Diese Auseinandersetzung hat zu Beginn dieser Legislaturperiode dazu geführt, dass die Reformen der alten Regierung zurückgenommen wurden. Aber im Rahmen der Rentenreform tauchen die Reformen der alten Regierung in etwas veränderter Form wieder auf, wie die Einführung der Sozialversicherungspflicht bei den 630-Mark-Jobs und die Regelung zur Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit belegen. Eine Sozialpolitik für die Informationsgesellschaft hätte in beiden Fällen die Pflicht zur Versicherung wesentlich adäquater anerkennen können. Sie haben auf den Grundsatz „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ hingewiesen. Ich bin fest überzeugt, dass keine Partei, die ihr Überleben in unserer Gesellschaft dauerhaft sichern möchte, an diesem Dreiklang vorbeikommt. Die Prioritäten werden unterschiedlich gesetzt. Bei den Freien Demokraten ist es die Freiheit, die ganz eindeutig die größere Betonung hat. Am Ruf der Französischen Revolution, dem Anfangspunkt bürgerlicher Freiheit, kann keiner vorbei. Es kann aber auch niemand daran vorbei, dass sich gerade in der jungen Generation die Begriffe Solidarität und Gerechtigkeit in einem Bedeutungswandel befinden. Globalisierung bedingt verschärften Wettbewerb, aber auch ein erhöhtes Maß an Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Mobilität. Das bedeutet: Der Sozialstaat muss und kann anders gestaltet werden. Steigende Lebenserwartung und medizinischer Fortschritt sind in einer Gesellschaft, in der sich die Arbeit verändert und anders gestaltet ist, als es noch vor 10 oder 20 Jahren der Fall gewesen ist, nicht mehr zu finanzieren. Deswegen geht es nicht darum, Umlage gegen Privatvorsorge oder Kapitaldeckung auszuspielen; ({5}) vielmehr geht es darum, das Beste aus beiden Ansätzen zu nehmen und Solidarität und Umlage mit den Chancen der Nutzung des Kapitalmarktes zu verbinden. ({6}) Auch das bedeutet nicht, dass staatliche Hilfe entfällt, wenn sich der Staat zurückzieht. Es bedeutet nur, dem Einzelnen mehr Entscheidungsspielraum zu überlassen, wie er selbst staatliche Hilfe einsetzt. Herr Dreßler, ich bedanke mich bei Ihnen im Namen der F.D.P. für die - in den meisten Fällen - konstruktive Auseinandersetzung. Sie waren kein leichter Gegner. Sie sind immer geachtet gewesen. Ich habe mit Ihnen nur vier Jahre, von 1983 bis 1987, im Ausschuss für Arbeit- und Sozialordnung verbracht. Immerhin waren wir nachts um drei Uhr für eine Ausschusssitzung auf den Beinen, als es unter der Leitung von Eugen Glombig - damals waren noch andere dabei - um die Auszubildenden im Bäckerhandwerk ging. Wir haben uns da nichts erspart. Ich wünsche Ihnen im Namen der F.D.P. Glück und Erfolg, Zufriedenheit und persönliches Wohlergehen in Ihrer neuen Aufgabe. Ich danke Ihnen. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Heidi Knake-Werner von der PDS-Fraktion das Wort.

Dr. Heidi Knake-Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002700, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege Dreßler, heute ist nicht ein Antrag wichtig, sondern Rudolf Dreßler ist wichtig. Ich darf sagen: Rudolf Dreßler zuzuhören hat sich für mich heute wieder einmal gelohnt. Dafür ein ganz herzliches Dankeschön! ({0}) Ich muss leider auch sagen: Der Antrag, den Sie heute eingebracht haben, hat sich nicht gelohnt. Sie hätten sich ihn ersparen sollen. Ich finde, er wird auch dem Kollegen Dreßler in keiner Weise gerecht. ({1}) Wenn Sie diesen Antrag neben die Rede von Herrn Dreßler legen, dann werden Sie unschwer feststellen, was ich damit meine. ({2}) Insofern zitiere ich gerne aus einer jüngst veröffentlichten Rede von Rudolf Dreßler. Er sagte: Der Hang zur Oberflächlichkeit in unserer Gesellschaft ist zu einer grassierenden Seuche geworden. Das gilt leider auch für diesen Antrag. ({3}) Trotzdem will ich dazu kurz etwas sagen. Wenn ich mir Ihre zwölf Spielstriche umfassende Bilanz der 19 Monate Sozial- und Arbeitmarktpolitik anschaue, dann muss ich Ihnen einfach sagen: Mit einer Bilanz kann man zwar sehr viel zum Ausdruck bringen, aber man kann natürlich auch sehr viel verschweigen. Letzteres tun Sie vorrangig. So vorzugehen ist eben nicht glaubwürdig. Auf Ihrer Aktivseite schwelgen Sie, wie ich finde, in Überbewertung Ihrer Leistungen und auf der Passivseite steht nichts anderes als ein trotziges „Weiter so“. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich ignoriere den sozialpolitischen Elan in Ihrer Anfangszeit keineswegs; aber ich registriere natürlich auch, die Brüche in Ihrer Politik und Ihren Versprechungen seit dem Abgang von Lafontaine. Sie müssen sich heute einfach fragen lassen: Haben Sie dieser Bundesregierung wirklich nichts anderes zu sagen, als sie aufzufordern, den eingeschlagenen Weg nach dem Motto weiterzugehen: „Augen zu und durch“? Das finde ich auch angesichts der heutigen Rede von Rudolf Dreßler äußerst mager. ({4}) - Das hat nicht Dreßler gesagt - auf ihn komme ich noch zu sprechen -, sondern ich beziehe mich jetzt auf den Antrag. - Er hat Ihnen einiges ins Stammbuch geschrieben, was Sie ernst nehmen sollten und in Ihre Politik aufnehmen müssten. Dieser Antrag ist auch im Vergleich zu dem Titel, den Sie dafür gewählt haben und gemäß dem es um Weiterführung des Sozialstaates und um mehr Gerechtigkeit gehen soll, äußerst mager. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, glauben Sie wirklich, dass das riestersche Rentenkonzept zur Weiterentwicklung des Sozialstaates und zu mehr sozialer Gerechtigkeit führt? ({5}) Ich glaube das nicht. Das Gegenteil ist der Fall. ({6}) Ihr Konzept richtet sich gegen die Interessen von Millionen Menschen, die auf eine ausreichende soziale Alterssicherung angewiesen sind. Es richtet sich auch gegen die junge Generation, die über die Maßen belastet wird. Ich will hier noch einmal Dreßler zitieren: Ob diese Entwicklung noch mit den Grundsätzen einer solidarischen Gesellschaftspolitik in Einklang zu bringen ist, das muss jeder für sich entscheiden. Er hat sich entschieden, und zwar, wie ich finde, richtig. ({7}) Rudolf Dreßler gehört zweifellos zu den Politikern in der SPD, die das soziale Profil dieser Partei über Jahre geprägt haben. Er hat Werte wie soziale Gerechtigkeit gegen den Kurs der Modernisierer in den eigenen Reihen energisch verteidigt. Er musste wie viele andere auch die Erfahrung machen, dass die Beulen, die man sich im politischen Leben einhandelt, nicht immer vom politischen Gegner kommen, manchmal sogar seltener von ihm. Spätestens seit dem Schröder-Blair-Papier hat sich Dreßler als Traditionalist, als Betonkopf, als Sozialromantiker verunglimpfen lassen müssen. Ich finde, er hat diesen Angriff gut pariert. Heute hat er dafür wieder ein gutes Beispiel abgelegt. In seiner bereits zitierten Rede sagte Dreßler allen Schröders und Clements zum Trotz: ... wer mehr Gerechtigkeit durchsetzen will, der schafft dies nicht durch Anpassung an die Realitäten… Nein, der schafft dies nur durch seine Entschlossenheit, Realitäten zu verändern! ({8}) Das ist Dreßlers Credo. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, er wird Ihnen fehlen und er wird auch uns fehlen. ({9}) Wenn Rudolf Dreßler heute geht, geht in der Tat ein Stück sozialdemokratisches Urgestein. Sie haben es selber gesagt: Manche werden erleichtert sein. Sie sind ein wenig stolz darauf. Ich gönne ihnen zwar diese Genugtuung, aber ich finde es schade. Manch kämpferische Rede, manch intellektueller Höhenflug, manch polemische Polterei werden wir künftig vermissen. Ich wünsche Ihnen auch im Namen der gesamten PDS-Fraktion alles Gute für Ihre neue Aufgabe als Diplomat - den kann ich mir allerdings noch nicht so ganz vorstellen. ({10})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Johannes Singhammer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Johannes Singhammer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002800, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ihnen, Herr Kollege Rudolf Dreßler, gelten mein Respekt und meine Achtung für Ihre politische Lebensleistung hier im Hohen Hause. Wir haben uns gerne mit Ihnen gemessen, sei es mit dem leichten Florett oder mit dem schweren Säbel. ({0}) Wir wünschen Ihnen persönlich als Diplomat in Israel bei der Vertretung unseres Landes Glück, Erfolg und auch Befriedigung. Herr Kollege Dreßler, Sie haben die Gelegenheit genutzt, wie es einem so erfahrenen Politiker wie Ihnen zukommt, mit Ihrer Rede ein politisches Vermächtnis, das einige Grundsätze enthält, zu hinterlassen. Gestatten Sie mir deshalb, darauf kurz einzugehen. Für uns steht im Mittelpunkt einer zukunftsgewandten Sozialpolitik die Überzeugung, dass der Mensch Maß und Mitte der Politik bleiben muss, dass Freiheit und Gerechtigkeit zusammengehören und dass die Würde des Menschen - wie es unser Grundgesetz formuliert - unantastbar ist. Wir gehen von einem christlichen Menschenbild aus. Wir nehmen deshalb den Menschen so an, wie er ist. Wir wollen ihn nicht ändern und nicht neu erschaffen. Wir nehmen ihn mit seinen Stärken und Schwächen an. ({1}) An diesem Grundsatz richten wir unsere politischen Forderungen aus. Deshalb sind wir der Meinung, dass Gerechtigkeit, zumal soziale Gerechtigkeit, nicht mit Gleichheit verwechselt werden darf. Wir treten dafür ein, jeden zu befähigen, seine Leistung zu erbringen und zu steigern. Wir treten auch dafür ein, dass sich jeder mit seiner ganzen Persönlichkeit einbringen kann. ({2}) Wir wollen eine menschliche Gesellschaft, die den Schwachen hilft. Wer Freiheit schafft, muss denjenigen schützen und demjenigen helfen, der diese Freiheit nicht in allen Bereichen so nutzen kann wie vielleicht die überwiegende Zahl der Menschen. Darunter fallen ganz konkret in den nächsten Jahren bei uns in Deutschland zuallererst Familien, denen diese Teilhabe nicht in angemessener Weise möglich ist. Darunter fallen auch Menschen mit einem Handicap, die deshalb auch in Zukunft unsere besondere Hilfe benötigen. Wir gehen von einem Grundsatz aus, der lautet, dass eine nachhaltige Sozialpolitik Leistungsanreize geben muss. Leistung soll belohnt werden. Wir brauchen die Starken und ihre Leistung, damit wir auch denen, die schwächer sind, helfen können. Rudolf Dreßler geht, sein Antrag bleibt. Deshalb will ich auch auf diesen Antrag ganz kurz eingehen. Da hier eine Bilanz des großen Erfolges gezogen wird, wird es Sie nicht wundern, dass wir, was die ersten 19 Monate dieser rot-grünen Regierung betrifft, die Entwicklung nicht ganz so euphorisch sehen. Ich will nicht alle Einzelheiten aufzählen. Ich will aber zum Beispiel in diesem Zusammenhang das Gesetz zur Vermeidung von Scheinselbstständigkeit nennen, das Sie schon nach einem halben Jahr korrigiert haben. Dazu zählt auch die schwierige Geburt des Gesetzes hinsichtlich der 630-DM-Jobs. Seine Auswirkungen auf das Ehrenamt beschäftigen uns ja gerade. Ich möchte noch auf einen zentralen Punkt eingehen, der uns in der nächsten Zeit sehr intensiv beschäftigen wird. Das ist die Frage der Sicherheit der Renten. Wir haben mittlerweile den vierten Entwurf des Bundesarbeitsministers vorliegen. Schon das Herausgreifen von zwei Punkten zeigt, so meine ich, dass das vorliegende Konzept erhebliche Probleme in sich birgt. Erster Punkt. Bei einer korrekten Berechnung und einem entsprechenden Vergleich der Auswirkungen des Rentengesetzes der früheren Regierung mit den Auswirkungen aufgrund des neuen Entwurfs muss man feststellen, dass nicht, wie von Ihnen angegeben, ein Rentenniveau von 65 Prozent erreicht wird - dieses Niveau wäre durch unser Gesetz erreicht worden; Sie haben es aber heftig bekämpft und uns dafür im zurückliegenden Wahlkampf getadelt -, sondern nur ein Niveau von 61 Prozent. Ein zweiter wichtiger Punkt. Dieses Konzept birgt die Problematik in sich, dass derjenige besser weg kommt, der früher in Rente geht, und dass derjenige, der länger einzahlt und seine Beiträge leistet, dementsprechend benachteiligt wird. Damit würde bei einer Berücksichtigung dieses Konzepts der Anreiz, sich früher aus dem Arbeitsleben zu entfernen, nicht geringer, sondern er würde wachsen. Das wiederum würde auf die jüngere Generation erhebliche Auswirkungen haben. Wir brauchen die jüngere Generation. Wir müssen ihr glaubhaft machen, dass das ein gerechtes System ist, bei dem die Jüngeren nicht zu kurz kommen, sondern bei dem sie, wenn sie lange eingezahlt haben, letztendlich das, was sie eingezahlt haben, auch wieder zurückerhalten. In diesem Zusammenhang Folgendes: Wenn wir bei den Zukunftslinien einer Politik sind, die den Erfordernissen von Nachhaltigkeit und wirklicher Zukunftssicherheit genügt, müssen wir natürlich auch auf die demographische Entwicklung eingehen. Ich denke, dass in den kommenden Jahren von allen Entwicklungen die demographische Entwicklung die größten Auswirkungen auf die Sozialsysteme haben wird. Im Zusammenhang mit der Rente diskutieren wir sie intensiv. Bei der Gesundheitsreform wird es ähnlich sein. Bei anderen Sozialversicherungssystemen, beispielsweise bei der Pflegeversicherung, spüren wir auch jetzt schon ihre Folgen. Die demographische Entwicklung ist die größte Herausforderung für Deutschland in den nächsten 30, 40 Jahren - nebenbei bemerkt auch für die Innovationsfähigkeit, die unser Land braucht, wobei wir darauf angewiesen sind, dass auch Jüngere nachwachsen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir verabschieden heute Rudolf Dreßler. Wir wünschen Ihnen, Herr Kollege Dreßler, im diplomatischen Dienst in Israel und auf Ihrem weiteren Lebensweg alles Gute. Sie haben nun auch die Möglichkeit, Ihre Erfahrungen in anderer Weise einzubringen. Sie haben in diesem Hohen Hause tiefe Spuren hinterlassen. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Diesen vielen herzlichen Grüßen und Wünschen möchte auch ich persönlich mich anschließen. Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Stärkung des sozialen Zusammenhalts der Gesellschaft durch Weiterentwicklung des Sozialstaats und mehr Gerechtigkeit“ auf Drucksache 14/3787. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU Wissenschafts- und Hochschulzusammenarbeit mit den Entwicklungs- und Transformationsländern stärken - Drucksache 14/3376 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0}) Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Klaus-Jürgen Hedrich.

Klaus Jürgen Hedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000840, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Rudolf Dreßler hat vorhin in einer durchaus beeindruckenden Rede auf das Element der Solidarität in einer Gesellschaft hingewiesen. Aber eine Gesellschaft ist nur so solidarisch, wie sie sich auch gegenüber anderen Gesellschaften, Nationen und Völkern verhält. Deshalb ist es, glaube ich, in einer enger werdenden globalen Struktur von ganz entscheidender Bedeutung, dass man sich nicht nur darüber Rechenschaft ablegt - so wichtig das ist -, wie es im eigenen Lande aussieht, sondern auch darüber, wie es in anderen Ländern aussieht, und insbesondere darüber, wie die Beziehungen zwischen Völkern gestaltet sind. Vor diesem Hintergrund kommt der Frage der Zusammenarbeit im Bereich von Wissenschaft und Hochschulen gerade mit Entwicklungsländern, Transformationsländern und Schwellenländern eine zunehmende Bedeutung zu. Es ist nicht nur von entscheidender Bedeutung, dass wir dazu beitragen, dass in diesen Ländern die entsprechenden Fachkräfte ausgebildet werden, sondern es ist in gleicher Weise entscheidend, wie wir das Verhältnis zu diesen Ländern sehen. Deshalb möchte ich, auch vor dem Hintergrund der Diskussionen der letzten Wochen und Monate, für unsere Fraktion noch einmal sehr deutlich machen: Deutschland hat ein Interesse daran, dass die Besten der Welt in unser Land kommen, um hier zu arbeiten und zu studieren. ({0}) Dies muss auch in unserem eigenen Interesse liegen. Leider verletzt die Bundesregierung, die diesem Grundsatz, den ich gerade genannt habe, manchmal zustimmt, diesen in ihrer aktuellen Politik. Sie können das an vielen Punkten erkennen. Beispielsweise werden die Fördermittel für den Wissenschaftsaustausch zurückgefahren. In der letzten Zeit ist viel darüber gesprochen worden, wie wir junge Wissenschaftler zum Beispiel aus Indien nach Deutschland holen können, Stichwort: Green Card. Zum gleichen Zeitpunkt reduziert aber die Bundesregierung die Zusammenarbeit mit Indien im ingenieurwissenschaftlichen Bereich, also ausgerechnet in dem Bereich, in dem man den Mangel an Fachkräften in Deutschland beklagt und in dem man immer ausgerechnet nach Indien schielt - was mich ein bisschen wundert, aber das hat sich so eingebürgert. Diese Reduzierung ist schon ein bisschen grotesk. ({1}) Gegenwärtig haben wir die Situation, dass lediglich etwa 100 Inder pro Semester ihr Studium in Deutschland aufnehmen und nur 700 indische Studenten und Wissenschaftler insgesamt in Deutschland ihre Ausbildung genießen, während die Besten dieser Welt in Scharen in die Vereinigten Staaten strömen. Zurzeit sind es mehr als 39 000 Bürger allein aus Indien, die in den Vereinigten Staaten ihre wissenschaftliche Ausbildung durchlaufen, also ein Vielfaches der Zahl derer, die sich in Deutschland aufhalten. Wir sind in unserer Wissenschaftspolitik ein bisschen provinziell. Vorhin wurde ausgeführt, wie viele Chancen die jüngere Generation hat; das ist wahr. Aber wir haben der eigenen Generation viele Chancen verbaut, indem wir gerade in der Bildungspolitik dem Prinzip der Gleichmacherei, das Herr Dreßler vorhin als falsch dargestellt hat, das Wort geredet haben. Dadurch ist die deutsche Bildungslandschaft in vielen Bereichen nicht mehr so attraktiv wie es die Bildungslandschaften unserer Nachbarn sind: der Holländer, der Engländer, der Franzosen, von den Amerikanern ganz zu schweigen. ({2}) Wir müssen ein Interesse daran haben, unsere Universitäten auf dem höchsten Stand zu halten. Aber wenn wir von Kooperation sprechen, möchte ich auch darauf verweisen: Wir sollten nicht immer nur auf die akademische Jugend und die akademische Landschaft schauen, sondern wir sollten auch an die hoch qualifizierten Facharbeiter denken. Hier geht die Bundesregierung einen merkwürdigen Weg - gerade das BMZ, Frau Staatssekretärin, was mir überhaupt nicht einleuchtet -, indem sie in zunehmendem Maße die Ausbildung von Bürgern aus Entwicklungsländern in die Entwicklungsländer selbst verlagert, statt diesen Menschen die Chance zu geben, nach Deutschland zu kommen und deutsche Kultur und deutsche Sprache kennen zu lernen. Vielleicht reden Sie einmal mit Ihrem zuständigen Referatsleiter ein ernstes Wort, damit er diesem Unsinn endlich ein Ende bereitet. Das können Sie von der Leitungsebene her entscheiden. Sie drücken sich hier um Ihre Verantwortung, und das vor dem Hintergrund, dass gerade auf diesem Gebiet viel stärker als übrigens in unseren Nachbarländern für Deutschland eine große Chance besteht, weil die deutsche Wirtschaft bereit ist, an der Ausbildung von jungen Menschen aus den Entwicklungsländern mitzuwirken. Diese Chancen sollten wir nutzen und nicht verbauen. Noch ein letztes Wort zur Hochschulkooperation. Wir sollten diese Hochschulkooperation in einem ganz besonderen Maße mit den so genannten Schwellenländern betreiben, mit Ländern wie zum Beispiel Brasilien, Indonesien, Indien und Südafrika. Dies sind Länder, die für uns zum einen aus entwicklungspolitischer Sicht und zum anderen - dies ist an dieser Stelle hinzuzufügen - natürlich auch als Handelspartner interessant sind. Je stärker der Bildungs- und Entwicklungsstand eines Landes vorangeschritten ist, desto interessanter ist dieses Land für uns als Wirtschaftspartner. Es muss in unserem Interesse liegen, dass junge Menschen die Chance haben, nach Deutschland zu kommen. Ich plädiere aber mit großem Nachdruck dafür, dass wir dies nicht als Einbahnstraße betrachten, sondern dass wir in zunehmendem Maße deutsche Studenten, deutsche Wissenschaftler und deutsche Fachkräfte ermutigen, im Ausland zu studieren. Dabei sollten sie nicht nur in die USA gehen - auch das ist wichtig -, sondern auch bereit sein, in Entwicklungsländern zu studieren und diese kennen zu lernen. Denn es gibt auch in den Entwicklungsländern, zum Beispiel in Brasilien, in Chile, in Argentinien, in Mexiko, aber auch in Indien, hervorragende wissenschaftliche Institute. ({3}) Um also zu einem stärkeren kulturellen Austausch zwischen den Völkern beizutragen, sollten wir unsere Landsleute ermutigen, ins Ausland zu gehen. Ich halte es für selbstverständlich, dass wir dieses Element stärken. Wenn wir den Gedanken des immer stärkeren Zusammenwachsens der Welt ernst meinen, dann muss es dazu kommen, dass sich Menschen aus unterschiedlichen Ländern in einem stärkeren Maße begegnen. Dazu gehört, dass man mobil ist und ins Ausland geht. ({4}) In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die Zahl der ausländischen Studenten in Deutschland stagniert. Das kann uns nicht beruhigen. Es gibt zwei, drei Ausnahmen. Dazu gehört zum Beispiel Korea. Ansonsten stagnieren die Zahlen bzw. gehen sie zurück. Das liegt nicht allein, wie häufig gesagt wird, an der Sprachbarriere. Wenn heute mehr Indonesier in Japan studieren als in Deutschland und Sprachwissenschaftler einem sagen, der Sprung von Bahasa Indonesia ins Japanische sei viel schwieriger als von der indonesischen in jede indoeuropäische Sprache, dann macht dies deutlich: Die Sprachbarriere allein kann kein Grund dafür sein. Deshalb muss der Standort Deutschland attraktiver werden. Wir müssen die Bundesregierung und die Bundesländer ermutigen, entsprechende Angebote zu machen. Es ist richtig, nüchtern festzustellen, dass leider die Zeit vorbei ist, in der Deutsch die Wissenschaftssprache war. Das ist heute Englisch. Wenn wir es an deutschen Universitäten als selbstverständlich betrachten, dass Wissenschaftler aus dem Ausland ihre Examens- bzw. Doktorarbeit in englischer Sprache abliefern können, dann sollte es auch selbstverständlich sein, dass wir in zunehmendem Maße Studiengänge anbieten, die in englischer Sprache durchgeführt werden. ({5}) Ich plädiere übrigens nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Notwendigkeit, die Prozesse in den Transformationsländern zu beschleunigen, dafür, dass wir uns auch überlegen, ob wir nicht an der einen oder anderen deutschen Universität, vor allem an einer Universität in den neuen Bundesländern, entsprechende Angebote in russischer Sprache machen. Wir sollten also unsere Möglichkeiten flexibler gestalten. Deutschland als Wissenschaftsnation hat heute nach wie vor viel zu bieten. Aber wir dürfen uns nicht ausruhen. Andere Länder haben aufgeholt und die Entwicklungsländer nehmen an diesem Prozess in einem zunehmenden Maße teil. Es gilt diese Chancen zu nutzen. Herzlichen Dank. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Frank Hempel.

Frank Hempel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003145, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Insbesondere lieber Kollege Hedrich, wenn dieser Antrag im September 1998 vorgelegt worden wäre, dann hätten Sie eigentlich die gleiche Rede halten können. ({0}) Denn Sie beschreiben in der Analyse des Antrags weitestgehend eine Entwicklung, die in der Zeit stattgefunden hat, als es einen Bundeskanzler Kohl und als es in den letzten Jahren Ihrer Regierung einen Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit namens Spranger gab. Eine Antwort auf die im Herbst 1998 vorgefundene Situation sind die Schwerpunktsetzungen der Bundesregierung auch im Blick auf die Wissenschafts- und Hochschulzusammenarbeit - im Übrigen nicht nur mit den Entwicklungs- und Transformationsländern. Wie in den letzten Monaten schon so oft machen es sich die Sprecher, insbesondere die der größeren Oppositionsfraktion, sehr einfach. „Haushaltskürzungen rückgängig machen“ ist mittlerweile eine stehende Floskel geworden. Nur, angesichts des finanziellen Scherbenhaufens, den uns die frühere Regierung hinterlassen hat, werden und können wir dies nicht machen. Trotzdem verweise ich darauf, dass die Mittel für die Wissenschaftskooperation im Rahmen der Aus- und Fortbildung von Angehörigen der Entwicklungsländer, wie der entsprechende Haushaltstitel heißt, seit Regierungsübernahme ja prozentual gestiegen sind und auch weiter steigen werden, wie Sie dem entsprechenden Haushaltstitel des Haushaltes entnehmen können. Dies entspricht im Übrigen Überlegungen, die Fachleute bereits in der letzten Legislaturperiode, zum Beispiel auf einem Symposium der Alexander-von-Humboldt-Stiftung, vorgeschlagen haben. Sie wissen, dass dies schon damals zum Beispiel der Deutsche Akademische Austauschdienst, der DAAD, die Alexander-von-Humboldt-Stiftung und die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die DFG, sehr erfolgreich abwickelten. Es wird allerdings darauf ankommen, das Gesamtkonzept und damit die Bedingungen auch für den Wissenschafts- und Hochschulbereich vor dem Hintergrund einer Neuorientierung der Politik in der Entwicklungszusammenarbeit zu verbessern, zum Beispiel dadurch, dass der noch von der alten Regierung eingesetzte Bundesbeauftragte für das Hochschulmarketing Ende des Jahres 1999, also schon ein Jahr nach Bildung der neuen Bundesregierung, ein Memorandum unter Einbeziehung der Länder vorgelegt hat, die ja in vielfältiger Hinsicht Verantwortung für den Hochschulbereich tragen. Die im Memorandum genannten Maßnahmen werden von uns umgesetzt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei verschiedenen Delegationsreisen, insbesondere in afrikanische Entwicklungsländer, habe ich gemerkt, dass die Gesamtsituation in Deutschland, die nach wie vor von Ressentiments gegenüber Menschen anderer Länder und anderer Hautfarbe, insbesondere aus Entwicklungsländern, geprägt ist, Studierende aus dem Bereich der akademischen Eliten davon abhält, in Deutschland zu studieren. Dies muss man zur Kenntnis nehmen. Diese Ressentiments dürfen nicht geschürt werden, wie es von bestimmten politischen Kräften in diesem Land getan wurde. Ich komme aus einem Bundesland, in dem ich gespürt habe, wie dies auf fruchtbaren Boden fallen kann. Hier ist, meine ich, Vertrauensarbeit zu leisten, die dann geschieht, wenn in den Projektzusammenhängen, zum Beispiel im Bildungsbereich, ein konstruktivkritischer Dialog geführt wird, der auch auf die Studienbedingungen in Deutschland eingeht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland muss mit offenen Angeboten an die Partner in den Entwicklungs- und Transformationsländern herantreten. Herr Hedrich, die Angebote an unseren Hochschulen, Fachhochschulen und Universitäten sind gar nicht so schlecht wie in Ihrem Antrag angedeutet ist. Die Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion tun gut daran, den Hochschulstandort Deutschland nicht schlechter zu reden als er ist. ({1}) Gewiss gab es in der Vergangenheit massive Versäumnisse, aufgrund derer unsere Regierung und insbesondere die Ministerin für Bildung und Forschung aktiv geworden sind. Die Umstrukturierung hat unter der neuen Bundesregierung schon begonnen. Diese Neuorientierung der Hochschulen, Fachhochschulen und Universitäten im Blick auf mehr internationale Attraktivität und Übereinstimmung bei Ausbildungsgängen und Abschlüssen ist von der neuen Bundesregierung in Gesprächen mit den Bundesländern immer wieder Gegenstand der Diskussion gewesen. Hier gibt es auch erste Erfolge: So bieten einige Universitäten oder Fachhochschulen, zum Beispiel die Fachhochschule Neubrandenburg in Mecklenburg-Vorpommern, wo ich herkomme, einen Bachelor- und Masterstudiengang an. Die Mitarbeit beim Aufbau neuer wirtschaftlicher, rechtlicher und administrativer Strukturen in den Ländern Mittel- und Osteuropas ist ebenfalls in vollem Gange. Das Gleiche gilt für die bereits genannten Fachorganisationen der Entwicklungszusammenarbeit, die sich in diesen Ländern wie bereits in der Vergangenheit in den Entwicklungsländern engagieren. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie sollten im Übrigen zur Kenntnis nehmen, dass die deutschen Hochschulabschlüsse international anerkannt sind und dass bei allen bilateralen Verhandlungen und multilateralen Konsultationen deutlich gemacht wird, dass es in Deutschland qualifizierte Hochschulausbildung verbunden mit entsprechender Begleitung und Integrationsprogrammen gibt. Mit der Novellierung des Hochschulrahmengesetzes sind die Voraussetzungen dafür geschaffen worden, dass sich die Hochschulen in Richtung Internationalisierung verändern können. Auch die angebotenen Aufbaustudiengänge mit entwicklungsbezogener Schwerpunktsetzung werden bereits gut angenommen. Hier empfehle ich, auch in die Haushalte des Auswärtigen Amtes und des Bundesministeriums für Forschung zu schauen, aus denen deutlich wird, dass in erheblichem Umfange Programme in englischer Sprache durchgeführt werden. Bei einem Aufenthalt im südlichen Afrika habe ich selbst erfahren, dass in Deutschland ausgebildete Studenten noch gut von der Nachkontaktbetreuung zum Beispiel der Carl-Duisberg-Gesellschaft sprechen. Nicht vergessen sollten wir in diesem Zusammenhang die zahlreichen in der ehemaligen DDR ausgebildeten Facharbeiter und Akademiker, die - das habe ich in Mosambik selbst erlebt - ein großes Interesse daran haben, mit uns in Kontakt zu bleiben. ({2}) Ich verweise etwa auf die Windhuker Erklärung, die vor dem Hintergrund der Auswertung von Erfahrungen von in Deutschland ausgebildeten Fachkräften aus Angola, Namibia, Simbabwe usw. entstanden ist. Hier wird deutlich, dass die Bundesregierung bzw. die von ihr unterstützten Organisationen - ich nenne hier als Beispiel die Arbeitsgruppe Entwicklung und Fachkräfte im Bereich der Migration und der Entwicklungszusammenarbeit, AGEF, in Berlin - bereits heute die partnerschaftliche Nachkontaktbetreuung und die Anwendung des an Fach- und Hochschulen Gelernten fördern. Die bedeutendste Sprache in internationalen Zusammenhängen ist - nicht erst seit dem Jahr 2000 - die englische Sprache. Von daher gesehen ist das Angebot für junge Menschen aus Entwicklungsländern, möglichst schon im Heimatland Deutsch zu lernen, die eine Seite. In diesem Zusammenhang - das erkenne ich natürlich an spielen die Goethe-Institute schon eine entscheidende Rolle. Ich bin aber der Meinung, dass der Ausbau der Studiengänge in englischer Sprache genauso wichtig ist. Hier verweise ich darauf, dass gerade die neue Bundesregierung im Sinne einer verstärkten Internationalisierung der Angebote an Hochschulen initiativ geworden ist. Wir sollten allerdings auch nicht so tun, als würden in der Sekundarausbildung und auch in der Hochschulausbildung in Entwicklungs- und Transformationsländern nicht bereits deutsches Know-how und deutsche Fachkräfte eingesetzt. Diese Fachkräfte leisten, wie wir wissen, eine nicht unerhebliche Werbung für den Ausbildungs- und Hochschulstandort Deutschland. Das wissen Sie auch, Herr Kollege Hedrich. ({3}) Ich habe gerade auch in Gesprächen anlässlich von Delegationsreisen festgestellt, dass der Bereich von Public Private Partnership gewachsen ist. Gerade im Bereich der Hochschulen sind die deutschen Fachorganisationen vom DAAD bis zur GTZ, der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, an der Koordination beteiligt. Ein Blick in die Kursangebote für Aufbaustudiengänge mit entwicklungsländerbezogener Problematik zeigt, dass an den deutschen Universitäten die Herausforderung der Globalisierung ernst genommen wird. ({4}) Ich wundere mich schon ein wenig, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, dass Sie nun plötzlich aus Ihren Reihen nach der „Kinder-statt-Inder“-Kampagne die Reform des Ausländerrechts als Vehikel zur Verbesserung der von Ihnen in diesem Antrag angesprochenen Situation bemängeln. Hier stelle ich fest, dass gerade die Bundesregierung - insbesondere der Bundeskanzler - die Anregungen der Wirtschaft für diesen Bereich schon längst aufgegriffen hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen Sie sich einmal die Zahlen der vom BMZ geförderten Stipendiaten an. ({5}) - Doch. - Dann werden Sie nämlich feststellen, dass sie im Vergleich zum Ende Ihrer Regierungszeit erheblich gestiegen sind. ({6}) Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, werden in diesem Jahr weit über 3 000 Stipendiaten gefördert, während es noch 1997 nur knapp über 2 000 waren. ({7}) Ich gehe davon aus, dass im Zuge des Gesamtkonzeptes der Politik der Entwicklungszusammenarbeit der Koalitionsregierung diese und die anderen von mir angesprochenen Tendenzen auch künftig verstärkt werden. Ich bedanke mich. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ulrike Flach.

Ulrike Flach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003119, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts wird die Zusammenarbeit im Bereich der Wissenschaft und Hochschulen immer wichtiger. Ich bin sehr froh, dass wir uns hier parteiübergreifend einig sind. Ich wäre noch froher, wenn auch ein Vertreter des entsprechenden Ministeriums anwesend wäre. ({0}) Ich freue mich, dass Sie, Frau Eid, anwesend sind, aber dem Bildungsministerium hätte es sicherlich auch gut angestanden, wenn es hier heute Abend anwesend gewesen wäre. ({1}) Die F.D.P.-Fraktion hat schon vor einiger Zeit einen Antrag zur Verbesserung der Attraktivität des Hochschulstandorts Deutschland eingebracht. In dem Antrag der Union finden sich viele Gemeinsamkeiten. Wir begrüßen das. In Deutschland zeigt sich ein dramatischer Mangel an Naturwissenschaftlern und Ingenieuren. Hier könnte sich praktische Wissenschaftskooperation zeigen. Gingen früher überwiegend deutsche Fachkräfte in Entwicklungsländer - meine beiden Vorredner haben es schon angeführt -, so sind wir heute umgekehrt auf IT-Spezialisten aus aller Welt angewiesen. Auch hier hätte ich gern das Bildungsministerium gefragt: Ist es Ihnen eigentlich selbst nicht schon peinlich, wenn Sie im Ausland mit Wissenschaftlern sprechen und die überbürokratischen kleinkarierten Hürden für die Erteilung von Green Cards erklären müssen, die Ihnen Herr Riester ins Gepäck gelegt hat? ({2}) Ich kann mir natürlich einen kleinen Seitenhieb auf die Antragsteller nicht verkneifen. Ich lese bei Ihnen den sehr guten Satz, dass das deutsche Ausländerrecht es ausländischen Studierenden unnötig erschwert, an ein abgeschlossenes Studium eine zeitlich limitierte, berufliche Tätigkeit ... anzuhängen. ({3}) Wir stimmen dem natürlich zu, ich als Nordrhein-Westfälin eh. Ist das aber wirklich die Union, die ich in den letzten Monaten erlebt habe, als Ihre unselige Kampagne ({4}) „Kinder statt Inder“ über unsere Lande zog? ({5}) Ich freue mich über diesen Sinneswandel und hoffe, dass er die nächsten beiden Wahlkämpfe übersteht. Meine Damen und Herren, internationale Hochschulzusammenarbeit setzt auch die Vergleichbarkeit der Systeme und Abschlüsse voraus. Wir begrüßen die inzwischen fast 400 neuen Bachelor- und Masterstudiengänge in Deutschland. Es muss aber auch klar sein, dass die Wertigkeit eines deutschen Bachelor im Vergleich mit US- oder englischen Abschlüssen nach wie vor offensichtlich zu wünschen übrig lässt. Es gibt noch Nachholbedarf. In den Entwicklungsländern gibt es eine steigende Nachfrage nach Bildung im Ausland. Aber da haben immer wieder die anderen die Nase vorn. Herr Hedrich, Sie haben es gerade schon erwähnt. Mit circa 100 000 ausländischen Studierenden liegen wir deutlich hinter den Briten und Amerikanern. Wir, die F.D.P., setzten uns deshalb für mehr internationale Studiengänge an deutschen Hochschulen, für mehr englisch- und französischsprachige Kurse - mit den russischen laufen Sie bei uns offene Türen ein - und natürlich für eine bessere Beratung ausländischer Studierender ein. lch begrüße in diesem Zusammenhang die neue Initiative der Max-Planck-Gesellschaft, die mit 9 bereits gegründeten und 30 geplanten Research Schools ein innovatives Projekt für Promotionsstudiengänge, bei denen es auch um mehr Kooperation mit ausländischen Unis und Instituten geht, umsetzt. Das sind sinnvolle Projekte, auch für die so genannte Dritte Welt. Wir müssen gerade in den Entwicklungsländern für das deutsche Bildungssystem werben. Hier möchte ich betonen, Frau Eid: Die Schrumpfpolitik der rot-grünen Regierung bei den Goethe-Instituten schadet diesem Ziel sicherlich massiv. ({6}) Ich kann bei Ihnen kein Auslandsmarketing für die deutsche Hochschullandschaft erkennen, wie es die anderen betreiben. Ich kann auch kein zwischen Bund und Ländern abgestimmtes Konzept zur Erhöhung der Stipendienfonds für Postgraduierte aus Entwicklungsländern erkennen. Die virtuelle Universität, die gerade in diesem Zusammenhang von nicht unerheblicher Bedeutung wäre, gibt es im Augenblick nur auf dem Papier. Vor wenigen Tagen haben wir über die nachhaltige Entwicklung gesprochen. Dort wie hier zeigt sich, dass wir es mit einer Querschnittsaufgabe der Ressorts zu tun haben. Bildungs- und Forschungspolitik im In- und Ausland, auswärtige Kulturpolitik, Entwicklungszusammenarbeit und Wirtschaftspolitik müssen zusammenwirken. Der CDU/CSU-Antrag enthält viele sinnvolle Anregungen. Wenn die Regierung diese gemeinsam mit unseren Vorschlägen zur Attraktivitätssteigerung umsetzen würde, kämen wir ein Stück weiter, hier vor Ort und bei einer Partnerschaft zwischen Hochschulen und Instituten in Deutschland und in den Entwicklungsländern. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Frau Staatssekretärin Uschi Eid.

Ursula Eid-Simon (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000454

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich begrüße es ausdrücklich, dass wir uns heute mit dem wichtigen Thema der Wissenschaftsund Hochschulkooperation mit unseren Partnerländern im Süden und im Osten befassen. Internationale Zusammenarbeit gerade auch im Wissenschafts- und Hochschulbereich ist eine Selbstverständlichkeit, wenn wir gemeinsam und im Sinne einer wirklichen Partnerschaft nach Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit suchen wollen. Die Zusammenarbeit hat vielfältige und lang wirkende positive Effekte und ist zum Nutzen aller Beteiligten. Wissenschafts- und Hochschulkooperation entspricht dem Gebot unserer Zeit. Dazu brauchten wir nicht durch einen CDU/CSU-Antrag aufgefordert zu werden. ({0}) Hierzu trägt auch die Entwicklungspolitik der Bundesregierung in erheblichem Umfang bei. Im Rahmen der notwendigen Haushaltskonsolidierung, zu der natürlich auch der Entwicklungsetat beitragen musste, ist es uns sogar gelungen, den Bereich der Wissenschaftskooperation noch aufzuwerten, auch wenn Sie von der CDU/CSU hier die ganze Zeit das Gegenteil behaupten. Einen Titel - vielleicht hören Sie gut zu, Herr Hedrich haben Sie bei Ihren Ausführungen außen vor gelassen: Aus dem Titel „Aus- und Fortbildung für Angehörige aus Entwicklungsländern“ wurden 1999 für die Wissenschaftskooperation 26 Prozent der Mittel verwandt. In diesem Jahr sind es 27,3 Prozent und für 2001 haben wir einen Anteil von 30 Prozent vorgesehen. Diese Zahlen widerlegen Ihre Behauptungen, die Sie zu Beginn der Debatte aufgestellt haben. ({1}) Diese Mittel sind im Antrag der CDU/CSU überhaupt nicht berücksichtigt. Selbiger bezieht sich lediglich auf auslaufende Programme im Bereich der Finanziellen Zusammenarbeit und Technischen Zusammenarbeit im engeren Sinne und übersieht, dass wir Programme der Wissenschaftskooperation bereits seit mehreren Jahren im Rahmen der Technischen Zusammenarbeit im weiteren Sinne finanzieren. Erlauben Sie mir daher, das verzerrte Bild, das die CDU/CSU versucht zu zeichnen, etwas zurechtzurücken: Wir fördern im Rahmen unserer Entwicklungszusammenarbeit derzeit insgesamt 12 verschiedene Programme der Wissenschafts- und Hochschulkooperation. Dabei arbeiten wir in den meisten Fällen mit dem Deutschen Akademischen Austauschdienst zusammen. 1999 erhielten über 1 000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von uns finanzierte Stipendien, um sich in ihren Ländern selber weiterbilden zu können, davon allein über 700 in Afrika. Mit diesen Programmen unterstützen wir den Aufbau nationalen Expertentums. Hierfür haben wir 1999 10,8 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Wir werden das Mittelvolumen in den nächsten Jahren ungefähr beibehalten. Wir fördern 33 Aufbaustudiengänge mit entwicklungsbezogener Thematik, die aktuell 740 Teilnehmern aus unseren Partnerländern eine praxisorientierte Weiterqualifikation mit international anerkannten Abschlüssen bieten. 1999 haben wir hierfür 14,3 Millionen DM zur Verfügung gestellt. In den kommenden Jahren werden wir diese Kurspalette jeweils um zwei Programme erweitern. Ebenfalls mit unserer Unterstützung wurden mittlerweile 98 Hochschulpartnerschaften zwischen deutschen Universitäten und wissenschaftlichen Einrichtungen in Entwicklungsländern aufgebaut. Wir fördern die Vermittlung deutscher Wissenschaftler ins Ausland. Dieses Jahr zum Beispiel werden allein 40 Dozenten nach Brasilien und Chile entsandt. Wir fördern auch Stipendien für Nachwuchswissenschaftler aus fortgeschrittenen Partnerländern, damit sie sich hier in Deutschland weiter qualifizieren. So wird ein Programm mit Thailand, den Philippinen und Vietnam von neun Promotionsstipendien im Jahre 1998 auf 32 Neustipendien im Jahre 2001 erweitert. Wir tragen auch den wachsenden Möglichkeiten aufgrund der neuen Kommunikationstechnologien Rechnung. So hat der DAAD im letzten Jahr mit unserer Unterstützung mit dem Aufbau von Datenbanken und internationalen Netzwerken begonnen, die es ehemaligen Stipendiaten ermöglichen, sich auch nach der Rückkehr in ihre Heimatländer weiterzubilden und aktuelle Forschungsergebnisse weltweit auszutauschen. Hierzu gehört zum Beispiel auch das Projekt „Alumni.med.Live“ eines Hochschulkonsortiums unter der Federführung der Universität Heidelberg - eine multimediale Medizinwissensbank, die über das Internet zugänglich ist und der virtuellen Weiterbildung in aller Welt dient. Es ist noch keine virtuelle Universität, aber immerhin eine virtuelle medizinische Fakultät. ({2}) Darüber hinaus haben wir die Zusammenarbeit mit der deutschen Wirtschaft intensiviert, die in wachsendem Maße ebenfalls Vorhaben der Wissenschaftskooperation finanziert. Hierzu gehören unter anderem zwölf Stiftungslehrstühle am Chinesisch-Deutschen Hochschulkolleg an der Tongji Universität in Schanghai, 16 Stipendien für ein Postgraduiertenprogramm in Zusammenarbeit mit ausgewählten asiatischen Universitäten in den Bereichen Elektroingenieurwesen, Informations- und Kommunikationstechnologie, das von der Asean Brown Boveri AG, Mannheim, finanziert wird, und eine Kooperation der Siemens AG mit dem DAAD im Rahmen eines auf Asien ausgerichteten Stipendienprogramms in der finanziellen Größe von circa 4 Millionen DM, wovon Siemens fast zwei Drittel finanziert. Dies ist nur eine kleine Auswahl derzeit laufender Aktivitäten. Wir haben dem Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung vor wenigen Wochen einen umfangreichen Informationsvermerk zu diesem Thema zur Verfügung gestellt, der die Zustimmung aller Fraktionen fand, auch die der CDU/CSU und der F.D.P. Lassen Sie mich daher zum Schluss noch einmal betonen: Die Wissenschafts- und Hochschulkooperation war und ist eine wichtige Aufgabe der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Dies wird auch in Zukunft so bleiben. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Carsten Hübner.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vieles im Antrag von CDU/CSU ist auch aus unserer Sicht durchaus in Ordnung. Die Forderungen sind richtig. Vieles ist allerdings nicht neu. Wir haben gehört: Einiges ist umgesetzt. Die sehr positive Betrachtung der Haushaltsentwicklung teilen wir natürlich nicht. Ich denke, es ist ganz wichtig, darauf hinzuweisen, welch entscheidendes Kriterium die Förderung von Hochschulzusammenarbeit und Wissenschaftszusammenarbeit auch für die Entwicklungspolitik ist und dass in diesem Bereich gar nicht genug Mittel eingesetzt werden können. Was uns am Antrag von CDU/CSU stört, ist der Tenor: dass Wissenschafts- und Hochschulzusammenarbeit vornehmlich aus dem Blickwinkel einer Wirtschafts- und Standortpolitik betrachtet wird. Ich denke, das ist gerade angesichts der Kooperation mit Entwicklungsländern nicht die richtige Sichtweise. Wir denken, der vielleicht schon etwas verstaubte, aber noch immer sehr aktuelle humboldtsche Bildungsbegriff ist gerade im Kontext einer zu schaffenden Infrastrukturentwicklung und einer zu schaffenden gesellschaftlichen Weiterentwicklung in diesen Ländern sehr viel angebrachter als die Formulierung von Interessen, denen wir in diesen Ländern zukünftig möglichst noch verstärkt nachgehen wollen. ({0}) Ich werde mich deswegen auf drei Anmerkungen beschränken. Die erste Anmerkung zu dem vorliegenden Antrag und zur bisherigen Politik bezieht sich auf die Frage: Wer kommt eigentlich de facto in den Genuss unserer bisherigen Stipendien- und Förderprogramme? Ich denke, wir sollten sehr viel stärker darauf achten, dass die Entwicklungsländer, die sich Bildungspolitik gegenwärtig nicht leisten können, in diese Maßnahmen einbezogen werden, ({1}) dass Stipendienprogramme zunehmend auf genau diese Klientel zugeschnitten werden. Wir haben in diesen Ländern bereits Bildungseliten, die gleichzeitig gesellschaftliche Eliten sind. Die bedürfen dieser Förderung in vielen Fällen nicht. Denjenigen, die gewisse Möglichkeiten nicht haben, bleibt die Förderung trotz dieser Programme auch weiter oft vorenthalten. Da sollten wir soziale Indikatoren sehr viel stärker berücksichtigen. Das Zweite ist: Wir müssen sehr viel stärker darauf achten, dass Frauen in den Genuss dieser Programme kommen. Frauen sind - das wissen alle, die in der Entwicklungspolitik tätig sind - in vielen Fällen der Motor gesellschaftlicher Prozesse, gerade in den Entwicklungsländern. Ihnen müssen unter den ganz besonderen und sehr schwierigen Bedingungen zusätzliche Angebote eröffnet werden. Eine Schwerpunktverlagerung in diesem Bereich ist unbedingt notwendig, um die derzeit bestehenden Defizite auszugleichen. ({2}) Und dann gilt - das ist vorhin vom Kollegen Hedrich angesprochen worden -: Mut zu Neuem und natürlich auch Mut zur Expansion in Bereichen, die sinnvoll erscheinen. Ich fände es sinnvoll, wenn wir in der Bundesrepublik Deutschland sehr viel stärker Studiengänge nicht nur Aufbaustudiengänge - zum Beispiel in russischer Sprache, in Englisch oder Französisch anbieten würden, die sich ganz speziell mit Fragen befassen, die für Studierende aus Entwicklungsländern und auch aus den Schwellenländern von Interesse sind. Studiengänge, die sich mit Infrastrukturentwicklung, mit Dezentralisierung, mit Demokratisierung, mit einer nachhaltigen ökonomischen und ökologischen Entwicklung unter den Bedingungen auseinander setzen, die in den Entwicklungsländern vorherrschen und die nicht nur das reproduzieren, was im Moment in den entwickelten Ländern als Entwicklungsmodell hochgehalten wird. Diese Spezifizierung im Hinblick auf die besonderen Bedingungen fände ich wichtig. Hier, denke ich, könnten wir noch sehr viel tun. Zum Schluss will ich nur sagen: Ich möchte die Teile im CDU/CSU-Antrag unterstützen, die auf eine Art Nachbetreuung verweisen. Ich war vor kurzem in Laos. Dort haben wir mit dem Botschafter gesprochen. Er müht sich sehr, diejenigen Studierenden, die Deutsch können, an einen Tisch zu bekommen, in einem Gremium zu organisieren. Das sind in Laos immerhin 3 000 Menschen. Laos ist ein kleines Land. Diese Leute bieten sowohl für ökonomische Kooperation als auch für Entwicklungskooperation sowie für den allgemeinen gesellschaftlichen und kulturellen Dialog ein großes Potenzial. Diese Gruppen von Studierenden, von Akademikern und auch von Führungseliten sind im Moment noch nicht greifbar. Es bedarf vielfach eines großen Engagements, um ihnen in diesen Ländern Foren zu bieten, sodass wir direkt an ihren Erfahrungen und ihr Wissen anknüpfen können. In diesem Sinne hoffe ich, dass wir im Ausschuss zu einer lebhaften Diskussion kommen werden. Danke schön. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3376 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorschlagen. Sind Sie einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Berufe in der Altenpflege ({0}) - Drucksache 14/1578 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({2}) - Drucksache 14/3736 Berichterstattung: Abgeordnete Christa Lörcher Maria Eichhorn Monika Balt Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist auch hier für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Widerspruch gibt es nicht. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Frau Ministerin Dr. Christine Bergmann.

Christine Bergmann (Minister:in)

Politiker ID: 11005290

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit Mitte der 80er-Jahre, also seit ungefähr 15 Jahren, hat es immer wieder Versuche gegeben, eine bundeseinheitliche Regelung für einen anerkannten Fachberuf Altenpflege zu schaffen. Für dieses bedeutsame Vorhaben, das wir dringend brauchen, um Verbesserung in der Pflege alter Menschen zu erreichen, war erst ein Regierungswechsel nötig. ({0}) Jetzt liegt unser Regierungsentwurf auf dem Tisch. Ich bin froh darüber. Nun müssen wir sagen, worum es geht. ({1}) - Es ist so, Sie haben das Vorhaben nicht zuwege gebracht. Worum geht es also in diesem Gesetz? - Es geht darum, die Qualität der Pflege alter Menschen auf die Dauer zu sichern. Das ist unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker. Ich bin der Meinung, das sollte uns auch über die Fraktionsgrenzen hinweg einen. Zu dieser Qualitätssicherung gehört unzweifelhaft die Ausbildung der Altenpflegerinnen und Altenpfleger. Sie kennen den Sachverhalt. Wir haben heute in 16 Bundesländern 17 verschiedene Ausbildungen. Ziele, Inhalte, Dauer und Strukturen sind unterschiedlich. Dabei darf es nicht länger bleiben. Neuregelungen zur Qualitätsverbesserung in Bundesgesetzen wie im Heimgesetz, im SGB XI, im SGB V, die Sie von der Opposition zu Recht fordern, gehen ins Leere, wenn das Pflegepersonal nicht so ausgebildet ist, dass entsprechende Standards in der Pflegepraxis dann auch umgesetzt werden können. ({2}) Ich denke, es bezweifelt eigentlich niemand mehr, dass von den Fachkräften in der Altenpflege sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich hohe Professionalität und besondere Qualifikation gefordert werden. Den Anspruch an die Altenpflege kann man deutlich machen, wenn man einmal darauf hinweist, dass das Durchschnittsalter bei den Menschen, die in ein Heim aufgenommen werden, bei über 80 Jahren liegt und dass 50 Prozent der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner unter Demenz leiden, also verwirrt sind. Das heißt: hier muss unwahrscheinlich viel in der Pflege geleistet werden. Wir wissen, dass die Bundesländer mit ihren Ausbildungsgesetzen in der Vergangenheit wichtige Grundlagen für die Qualifizierung der Altenpflegekräfte geschaffen haben. Sie haben dafür Sorge getragen, dass sich der Altenpflegeberuf etabliert hat. Es ist nun aber endlich an der Zeit, dass wir die Altenpflege als Berufsfeld mit Zukunft adäquat weiterentwickeln. Dazu gehört, dass wir die Altenpflegeausbildung aus dem Dickicht der unterschiedlichen Länderregelungen herausholen. ({3}) Ich will nun ein paar Argumente dafür aufführen, warum wir dieses bundeseinheitliche Altenpflegegesetz so dringend brauchen: Wir brauchen es, damit Altenpflegerinnen und Altenpfleger bundesweit einheitlich ausgebildet werden und überall in Deutschland die gleichen Mindestqualifikationen erfüllen. Wir brauchen es, damit die Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden, dass der Beruf ein eigenes Profil erhält und die Gleichwertigkeit mit dem Beruf der Krankenschwester und des Krankenpflegers erreicht wird. Wir brauchen die bundeseinheitlichen Vorschriften, damit die Altenpflege in allen Bundesländern ein Ausbildungsberuf wird, der nicht nur für Umschülerinnen und Umschüler, sondern auch für Erstauszubildende attraktiv wird. Wir benötigen dieses Gesetz auch, damit dieser nach wie vor typische Frauenberuf keine strukturellen Benachteiligungen gegenüber anderen Berufen erfährt, wie es im Moment in einigen Ländern schlichtweg der Fall ist, wenn man daran denkt, dass zum Beispiel nicht überall eine Ausbildungsvergütung gezahlt wird. Durch das Altenpflegegesetz mit seinen bundeseinheitlichen Ausbildungs- und Berufszulassungsvorschriften erfährt der Beruf endlich die ihm gebührende gesellschaftliche Anerkennung. Darüber kann man nicht nur reden, dafür muss man auch etwas tun. ({4}) Die Koalitionsfraktionen haben im Gesetzgebungsverfahren nach den Anhörungen Änderungen vorgenommen, die meine volle Unterstützung finden. Ich will aus Zeitgründen nur auf drei Punkte eingehen: Zum einen geht es um die Frage der Umschulung. Sie wissen, dass es eine Sonderregelung gibt, die Ende des Jahres 2001 ausläuft. Die Anhörung und viele Gespräche haben ergeben, dass wir die Umschulungsregelung nicht in diesem Verfahren schaffen können, sondern dass wir uns gesondert davon mit den Vertretern der zuständigen Ressorts und den Vertretern der Länder zusammensetzen müssen, um eine einvernehmliche Regelung zu finden, die nicht nur den Altenpflegeberuf betrifft, sondern generell die Heilberufe und die sozialpflegerischen Berufe. Damit können zunächst bis zum 31. Dezember 2001 begonnene Umschulungen wie bisher dreijährig durchgeführt und entsprechend gefördert werden. Wichtig war auch, dass wir die Strukturen zur Finanzierung der Ausbildungsvergütung präzisiert haben. Ich denke, dass wir dafür ein solides Fundament geschaffen haben. Die Ermächtigungsnorm zur Einführung eines Umlageverfahrens wurde nochmals konkretisiert, damit hier Rechtssicherheit herrscht. Nicht zuletzt begrüße ich die Einführung von Experimentierklauseln zur Erprobung integrierter Ausbildungsmodelle. Das weist auf unser eigentliches Ziel. ({5}) Wir haben damit die Weichen für die Weiterentwicklung der Pflegeberufe im Hinblick auf ein langfristiges Ergebnis gestellt. Bis zur letzten Woche hatte ich wenig Zweifel daran, dass dieses Gesetz eine breite Zustimmung finden würde. Ich hatte erwartet, dass Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, zu Ihren politischen Zielen und Versprechen der vergangenen Legislaturperioden stehen werden. Ich kann den von Ihnen vollzogenen Sinneswandel nicht ganz verstehen. Sie werden auch Mühe haben, das zu erklären. ({6}) Ich muss Sie fragen, wo Ihre Glaubwürdigkeit in dieser Sache bleibt. Wir haben eine von Bayern angeführte Debatte, ob der Bund für dieses Gesetz die notwendige Gesetzgebungskompetenz habe. Sie wissen, dass wir Rechtsgutachten auf dem Tisch haben, die diese Frage bejahen. Sie müssen sich daran erinnern, dass eine von Ihnen gestellte Regierung vor zwei Legislaturperioden in dem gleichen Fall die Bundeskompetenz bejaht hat und dass auch die Mehrheit der Länder in den letzten Legislaturperioden dieses niemals in Zweifel gezogen hat. Ihre Haltung ist daher nicht sehr überzeugend. Wenn ich mir überlege, was von Ihnen an inhaltlichen Einwänden zu diesem Gesetz - teilweise in letzter Sekunde - vorgebracht wurde, muss ich Ihnen vorhalten: Sie haben nicht einen einzigen Änderungsantrag zu diesem Gesetz gestellt. Wenn Sie bestimmte Punkte anders sehen und daher Verbesserungen gewünscht hätten, hätten wir gerne darüber reden können. ({7}) - Das fällt Ihnen sehr spät ein. Das ist alles nicht sehr überzeugend. Ich denke, Sie müssen den Pflegebedürftigen erklären, warum Sie diesem Gesetz nicht zustimmen. Ich bin davon überzeugt, dass durch die Änderungen, die im Wesentlichen auch den Vorschlägen des Bundesrates und den Forderungen der Fachverbände entsprechen, eine sehr gute Grundlage für die bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung geschaffen wird. Deshalb möchte ich mich für die gute Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen bedanken. Wir haben etwas auf den Weg gebracht, worauf viele in diesem Land warten. In diesen Dank möchte ich auch die Vertreterinnen und Vertreter der Fachverbände und Interessenvertretungen einschließen, die nicht müde geworden sind, die Bundeseinheitlichkeit der Altenpflege einzufordern. Es war eine lange Strecke, die wir zurücklegen mussten, bis wir dieses Gesetz auf den Tisch legen konnten. Wir sind es diesem Berufsstand, der über lange Jahre hingehalten wurde, und natürlich auch den Pflegebedürftigen, die Anspruch auf eine qualifizierte Pflege haben, schuldig, dass dieses Gesetz endlich verabschiedet wird. Deshalb erwarte ich nicht nur hier, sondern auch im Bundesrat eine Zustimmung, dass dieses Vorhaben, das lange überfällig ist, nicht weiter blockiert wird. Danke. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Maria Eichhorn.

Maria Eichhorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000449, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn heute Menschen in ein Altenheim eintreten, sind sie im Durchschnitt 86 Jahre alt. Zwischen 50 und 60 Prozent der in den Heimen betreuten alten Menschen sind dement. Diese Menschen bedürfen einer besonderen Betreuung. Die Anforderungen an die Altenpflege werden deswegen immer höher. Aufgabe der Altenpflegerinnen und Altenpfleger ist es, älteren Menschen zu helfen, die körperliche, geistige und seelische Gesundheit zu fördern und ihre Selbstständigkeit zu unterstützen und zu erhalten. Ihre Arbeit dient dazu, alten Menschen einen würdigen Lebensabend und einen würdevollen Tod zu ermöglichen, eine schöne, aber auch höchst anspruchsvolle Aufgabe für Altenpflegerinnen und Altenpfleger. Die Bundesregierung hat bei der Vorlage des Regierungsentwurfes zur Altenpflege erklärt, dass sie mit einer bundeseinheitlichen Neuregelung der Altenpflegeausbildung den Beruf aufwerten möchte. Frau Ministerin, eine bundeseinheitliche Regelung als solche bringt keine Qualitätsverbesserung. Es kommt auf den Inhalt an. ({0}) Unser Ziel ist eine bessere Altenpflegeausbildung. Das ist aber bei dem Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, nicht der Fall. Das hat die Anhörung im Dezember bestätigt. ({1}) Sie hat deutlich gemacht, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung völlig ungeeignet ist. Wir hätten ein völlig neues Gesetz vorlegen müssen. Mit Änderungsanträgen hätte man überhaupt nichts bewirken können. Trotz einer Vielzahl von Änderungen, die Sie aufgrund des niederschmetternden Urteils der Sachverständigen beider Beratungen im Ausschuss vorgelegt haben, sieht der Arbeitskreis Ausbildungsstätten für Altenpflege - ich zitiere -: „den Gesetzentwurf in seiner Zielsetzung als gescheitert an“. Denn der Gesetzentwurf regelt den Beruf weit unterhalb der in Ländern erreichten Standards der Altenpflegeausbildung. ({2}) Die Änderung des Krankenpflegegesetzes im Altenpflegegesetz lässt die Vermutung aufkommen, den Beruf nicht qualitativ voranzubringen, sondern mittelfristig abzuschaffen. Ich unterstelle Ihnen zwar nicht, dass Sie das tatsächlich wollen, aber es kann die Folge dieser Änderung sein. Darauf weisen Fachleute hin. Die Zugangsvoraussetzungen zur Altenpflege sollen gleich oder ähnlich ausgestaltet werden wie die Zugangsvoraussetzungen zur Krankenpflegeausbildung. Damit wird die Altenpflege im Konkurrenzkampf gegenüber der Krankenpflege nur zweiter Sieger sein, das heißt, dass nicht mehr Schüler zu erwarten sind. Das Gegenteil aber wäre notwendig, da bereits heute Fachkräfte knapp sind. Statt ein höheres Qualifikationsniveau zu erreichen, wird die theoretische Ausbildung erheblich gekürzt. Das Berufsbild wird auf die somatische Pflege verengt. Der Schwerpunkt wird hin zur geriatrischen Krankenpflege verlagert. Dies entspricht keinesfalls den fachlichen Erfordernissen. Der Altenpflegeberuf, der als einziger speziell auf die Lebenslagen und Krisen im Alter zugeschnitten ist, wird zugunsten einer medizinisch-pflegerischen Orientierung aufgegeben, für die es aber bereits den Krankenpflegeberuf gibt. Aufgrund der Kritik der Länder und der Sachverständigen haben Sie § 26 des Altenpflegegesetzes, der die Umschulung betrifft, herausgenommen. Die Herausnahme dieses Paragraphen garantiert jedoch nur für wenige Monate dreijährige Ausbildungszeiten; denn bereits kurze Zeit nach dem geplanten In-Kraft-Treten des Gesetzes wird die Regelung, dass Umschulungen auch drei Jahre gefördert werden können, auslaufen. Über eine Nachfolgeregelung - das haben Sie gerade selber zugegeben - muss noch gesondert verhandelt werden. Die Fachschulen für Altenpflege haben sich bewährt. Das Gesetz, das Sie heute beschließen wollen, wird schulrechtliche Strukturen zerstören; denn die Regelschule, die das Gesetz jetzt vorsieht, ist eine Schule der besonderen Art. Es ist zu befürchten, dass zahlreiche Träger ihre Schulen aufgeben, wenn sie diese in Berufsfachschulen umwandeln müssen. Das lässt sich nicht nur mit der geringeren Zahl an Lehrkräften und dem geringeren Betriebszuschuss begründen, sondern auch mit der fehlenden Anbindung an Einrichtungen, in denen die praktische Ausbildung durchgeführt werden kann und die bereit sind, eine Ausbildungsvergütung zu zahlen oder zu refinanzieren. Die Ansiedlung der Ausbildung an Fachschulen ermöglicht zurzeit den direkten Zugang zur Fachhochschule. Diese Durchlässigkeit wird zerstört. Der Beruf in der Altenpflege mündet damit in der Sackgasse. Ich frage: Wollen Sie das wirklich? Laut Gesetzentwurf soll die praktische Ausbildung überwiegend in den Einrichtungen erfolgen und der Umfang der theoretischen und praktischen Ausbildung in der Schule soll geringer werden. Begründung ist die Ausbildungsvergütung. Frau Ministerin, in der Praxis gibt es derzeit nicht genügend Ressourcen, um diesen Verlust an Ausbildungsqualität ausgleichen zu können; denn es fehlen in der Regel die qualifizierten Ausbilder. Notwendige Schlüsselqualifikationen können angesichts dieser Struktur der Ausbildung nicht mehr vermittelt werden. Aber Teamfähigkeit, Koordinierung von Leistungen, Beratung von Angehörigen und der Umgang mit Menschen gerade in der ambulanten Pflege sind grundlegende Anforderungen einer modernen Altenpflege. ({3}) Die Ausbildung ist als berufliche Erstausbildung konzipiert. Damit liegt das Eintrittsalter bei 16 oder 17 Jahren. Dies ist angesichts der bei der Betreuung alter Menschen zwangsläufig auftretenden physischen und psychischen Belastungen höchst problematisch. Sterbebegleitung und die zunehmende Zahl an Demenzkranken stellen höchste Anforderungen. Während in der Krankenpflege mit einer Gesundung der Patienten zu rechnen ist, müssen in der Altenpflege die Menschen regelmäßig bis zu ihrem Tode begleitet werden. Die Erfahrung zeigt, dass junge Berufsanfänger wesentlich kürzer im Beruf bleiben als solche, die erst später einsteigen. Wenn man das weiß, dann müsste man eigentlich alles dafür tun, um Berufsrückkehrerinnen, die nach einer Familienpause wieder einsteigen wollen, für die Altenpflegeausbildung zu gewinnen. ({4}) Es ist jedoch fraglich, ob eine dreijährige berufliche Ausbildung für solche Frauen noch attraktiv ist. Weiterhin ungeklärt ist die Frage der Finanzierung. Die von den Ländern und Sachverständigen vorgetragenen rechtlichen Einwände gegen eine Umlagefinanzierung haben sich bestätigt. Im Gegensatz zu Ihnen, Frau Ministerin, sehe ich keine solide Finanzierung; denn die jetzt generell vorgesehene Finanzierung durch die Träger wird zu einer drastischen Reduzierung der Zahl an Ausbildungsplätzen führen. Ein dramatischer Fachkräftemangel wird die Folge sein; denn in den Ländern, in denen bereits jetzt die Träger die Ausbildungsvergütung finanzieren müssen, stehen zwischenzeitlich - das wissen Sie genauso gut wie ich - weniger als die Hälfte der zuvor vorhandenen Zahl an Ausbildungsplätzen zur Verfügung. Die mögliche Berücksichtigung der Kosten in den Pflegesätzen konnte dies nicht verhindern. Da eine Umlagefinanzierung mit erheblichen rechtlichen Hürden versehen ist, wird sie, wenn sie als Notlösung erforderlich ist, nicht schnell genug greifen können. Es besteht die große Gefahr, dass bewährte Ausbildungsstätten schließen müssen. Die qualitativ gute Entwicklung in der Altenpflegeausbildung in den letzten Jahren würde damit wieder zunichte gemacht. In Ihrem Papier, das Sie im Ausschuss zur verfassungsrechtlichen Prüfung des Umlageverfahrens vorgelegt haben, versuchen Sie, die grundsätzlichen rechtlichen Einwendungen zu zerstreuen. Dagegen hält zum Beispiel das Land Baden-Württemberg an seiner Auffassung fest, dass die verfassungsrechtlichen Bedenken durch das Bundesverfassungsgericht zunächst zu klären sind. Was die oft zitierte Gesetzgebungskompetenz betrifft, sind die von Bayern geäußerten Bedenken nicht ausgeräumt. Der Stellungnahme der Bundesregierung zur Gesetzgebungskompetenz des Bundes für ein Altenpflegegesetz hat die zuständige bayerische Staatsministerin für Unterricht und Kultus, Frau Hohlmeier, in einer Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages letzte Woche widersprochen. Sie hat darauf hingewiesen, dass es neben Gutachtern, die dem Bund eine umfassende Normsetzungskompetenz zugestehen, auch eine Vielzahl von Professoren gibt, die zur gegenteiligen Auffassung gelangen. ({5}) Die Bundesregierung sieht als wesentliche Gründe für eine bundeseinheitliche Altenpflege ein bundeseinheitliches Qualifikationsniveau und bundesweit vergleichbare Fachkenntnisse der Altenpflegerinnen und Altenpfleger an. Die propagierte Vereinheitlichung findet jedoch nach dem Urteil der Fachleute nicht statt; denn auch in Zukunft soll jedes Land auf der Basis abgesenkter Minimalstandards seine Form wählen können. Fazit, meine Damen und Herren, Frau Ministerin: Der Gesetzentwurf entspricht trotz Nachbesserungen nicht dem Qualitätsstandard, den der Bildungsstandort Deutschland erfordert. Statt die Qualität der Ausbildung zu verbessern, wird sie durch dieses Gesetz verschlechtert. Das ist ein historischer Rückschritt. Das können wir und wollen wir nicht mittragen. Wir werden diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. ({6})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk.

Irmingard Schewe-Gerigk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002774, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Eichhorn, Ihre Rede hat mich ziemlich überrascht. Wir wollen heute das beschließen, was Sie seit 10 Jahren durchzusetzen versucht haben und was die Grundlage der Bundesratsinitiative ist. Ich kann Ihr Verhalten eigentlich nur so werten, dass Sie ärgerlich darüber sind, dass wir das umsetzen, was Sie in 10 Jahren nicht geschafft haben. ({0}) Mit dem Gesetzentwurf zur bundeseinheitlichen Altenpflegeausbildung beschließen wir das Ende einer vermeintlich unendlichen Geschichte; denn drei Ministerinnen - die Kolleginnen Lehr, Rönsch und Nolte - haben in über zehn Jahren den Versuch unternommen, 17 unterschiedliche Länderregelungen zu einer bundeseinheitlichen Ausbildung zu vereinheitlichen - leider ohne Erfolg. Es bedurfte einer rot-grünen Bundesregierung, dass dieser Durchbruch jetzt endlich gelingen konnte. ({1}) Künftig werden alle Altenpflegeschülerinnen - ich benutze bewusst die weibliche Form, weil zu 90 Prozent Frauen betroffen sind - eine Ausbildungsvergütung erhalten. Das war bisher nicht der Fall. Keine wird mehr Schulgeld zahlen müssen und der Abschluss befähigt zur gleichwertigen Tätigkeit in allen Bundesländern - auch das war bisher nicht möglich - und innerhalb der Europäischen Union. Die Qualität der Ausbildung erfährt in vielen Bundesländern eine Aufwertung. Sie wissen ganz genau, dass die Ausbildung in einigen Ländern sehr viel schlechter ist als jetzt geregelt. Wir haben sie angepasst. Damit schaffen wir mit diesem Gesetz einen attraktiven und qualifizierten Beruf und den Erfordernissen der Auszubildenden wird Rechung getragen. Es ist ein Beruf, der künftig von noch mehr jungen Menschen nachgefragt wird und der einen wissenschaftlichen Überbau in den Pflegewissenschaften hat. Wir sorgen endlich dafür, dass dem hartnäckig behaupteten Vorurteil „Pflegen kann jeder“, das ja der ehemalige Sozialminister Blüm prägte, ein Ende bereitet wird. Und: Wir schaffen einen Beruf, der den geänderten Anforderungen der Pflegebedürftigen Rechnung trägt. Es wurde hier schon gesagt: Früher waren die Menschen Ende 60, wenn sie in ein Heim gingen, heute liegt das durchschnittliche Alter bei der Aufnahme in ein Heim bei 86 Jahren. Es ist unser Ziel, dass alte Menschen so lange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung bleiben. Das bedeutet aber für das Pflegepersonal eine ungeheure Herausforderung. In diesem Alter treten in den meisten Fällen eine Reihe von Krankheiten und, damit verbunden, ein höherer Pflegebedarf auf. Die Fachleute sprechen von Multimorbidität. Auch diesem Umstand wird in der neuen Ausbildung Rechnung getragen: Geriatrische Rehabilitationskonzepte, Gesundheitsvorsorge, Begleitung von Sterbenden sind nur einige Stichworte. Für uns heißt ganzheitliche Altenpflege auch, die alten Menschen in ihren persönlichen und sozialen Angelegenheiten zu betreuen und ihnen Hilfe zur Erhaltung der eigenständigen Lebensführung zukommen zu lassen. Es handelt sich also um einen anspruchsvollen Beruf. Dass die Qualität der Schulen und des Lehrpersonals noch nicht auf einem einheitlich hohen Niveau ist, ist der Abstimmung mit den Bundesländern geschuldet. Hier sind mittelfristig Verbesserungen notwendig. Darin stimme ich dem Kollegen Haupt ausdrücklich zu. Aber 16 Länder davon zu überzeugen, auf ihre eigenen Gesetze zu verzichten, kommt schon einem Kunststück gleich. Es ist gut, dass das nun endlich gelungen ist. Uns Bündnisgrüne freut besonders, dass mit dem neuen Gesetzentwurf ein Vorschlag von uns aufgenommen wurde, durch den der Einstieg in eine integrierte Pflegeausbildung ermöglicht wird, denn in der Alten-, Kranken- und Kinderkrankenpflege gibt es zahlreiche inhaltliche Überschneidungen. Modellversuche zeigen: Das ist das Modell der Zukunft. Ich würde mir wünschen, dass möglichst bald von einem Bundesland von der Experimentierklausel Gebrauch gemacht wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, durch die Änderungsanträge der Koalitionsfraktionen haben wir insbesondere den Anregungen des Bundesrates, aber auch der Sachverständigenanhörung Rechnung getragen. Ein wichtiger Punkt dabei war die Kritik an der verkürzten Ausbildung der Umschülerinnen; diese stellen bisher immerhin zwei Drittel. Dieses wurde nun aus dem Gesetz herausgenommen. Lassen Sie uns nun gemeinsam die Zeit bis Ende 2001 - denn es läuft zum 1. Januar 2002 aus - für Verhandlungen zwischen Bund und Ländern nutzen, um eine dreijährige Umschulungszeit für alle Gesundheitsfachberufe zu erreichen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, ich würde mir wünschen, Sie würden diesem Gesetzentwurf zustimmen. Er entspricht genau dem, was Sie zehn Jahre lang forderten. Er wird doch nicht einfach dadurch schlechter, dass Sie nun in der Opposition sind. ({2}) Es handelt sich hier nämlich um ein echtes Generationenprojekt: qualifizierte Ausbildung für junge Menschen, qualifizierte Pflege für alte Menschen. Dem sollten Sie sich nicht verweigern. Vielen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Klaus Haupt.

Klaus Haupt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen! Um ein Gesetz zur Regelung derAltenpflege wurde lange gerungen. Wir Liberalen begrüßen, dass diese fast unendliche Geschichte nun endlich zu einem Abschluss kommt. ({0}) Der wachsende Bedarf an qualifizierter Altenpflege, auf die immer mehr ältere Bürgerinnen und Bürger angewiesen sind, erfordert einen gewissen einheitlichen Ausbildungsstandard der Pfleger. Für die jungen Menschen wird zugleich die Attraktivität dieses wichtigen Berufszweiges erhöht. Beide Seiten haben ein Anrecht auf Schutz der Berufsbezeichnung, bundeseinheitliche Ausbildungsstandards, bundeseinheitliche Zugangsvoraussetzungen sowie eine Regelung der Ausbildungsvergütungen. Wir begrüßen, dass die Regelausbildungsdauer grundsätzlich drei Jahre betragen soll, dass die Umschüler aus dem Kreis der Verkürzungsberechtigten ausgeschlossen sind und Verkürzungsmöglichkeiten nunmehr nur noch restriktiv, bei wirklichen Berufserfahrungen im Bereich der Pflege, vorgesehen sind. Es darf weder unter arbeitsmarkt- noch unter finanzpolitischen Gesichtspunkten eine Verkürzung der Ausbildung geben. ({1}) Ein inflationärer Gebrauch von Verkürzung beeinträchtigt die Qualität der Ausbildung, auf die wir im Interesse der Pflegebedürftigen nicht verzichten wollen. Es ist gut, dass die Pflegeschulen die Gesamtverantwortung für die Altenpflegeausbildung zugewiesen bekommen. Die Aufgabenteilung zwischen Schule und Praxis ist jetzt klarer. Unter dem Aspekt der Qualität - Frau Schewe-Gerigk verwies schon darauf - bedauern wir aber, dass die Anforderungen an Lehrpersonal und Schule nicht konkreter festgeschrieben werden. Diese sind im Gesetzentwurf zu ungenau gehalten. Hier wird das Gesetz seinem eigenen Anspruch nicht ganz gerecht. Neben der Ausübung eines sozialpflegerischen Berufs wäre aus liberaler Sicht ein pädagogischer Fachhochschul- oder Hochschulabschluss eine wünschenswerte Voraussetzung für Leiter und Dozenten in der Altenpflegeausbildung. ({2}) Dies würde den sonst geltenden Regeln in unserer Bildungslandschaft besser entsprechen. Die jetzt vorgesehene Finanzierung der Ausbildung und damit auch die Art der Ausbildungsvergütung ist einfacher gelöst als durch das zunächst vorgesehene Umlageverfahren. Ziel muss es trotzdem sein, die Finanzierung möglichst einfach und ohne besonderen Verwaltungsaufwand zu regeln. Sicherlich lässt der Gesetzentwurf Wünsche offen. Doch ist der Gesetzentwurf ein wichtiger Schritt zu einheitlichen Ausbildungsstandards. Deshalb unterstützen wir Liberalen auch die Absicht, eine integrierte Ausbildung für Kranken- und Altenpflege anzustreben und modellhaft eine gemeinsame Ausbildung zu erproben. Die nun vorgesehene Öffnungsklausel, so scheint es, ist ein viel versprechendes Instrument, gemeinsame Ausbildungsstrukturen zu erproben. Das Altenpflegegesetz kann so eine wichtige Vorstufe für eine einheitliche Pflegeausbildung sein. Längerfristig wäre es nützlich, zunächst die Pflegeberufe in einem einheitlichen Ausbildungsberuf zusammenzuführen, die Schlüsselqualifikationen zu vermitteln und zu gewährleisten, dass die im dualen Bildungssystem heute üblichen Qualitäten erreicht werden. Die F.D.P. hofft, dass mit der Verabschiedung des Altenpflegegesetzes die Diskussion nicht beendet ist, sondern über eine weitere Verbesserung in der Pflegeausbildung nachgedacht wird. Dies ist sowohl im Interesse der älteren als auch der jüngeren Generation. Ich wiederhole mich: Packen wir es an! ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Monika Balt.

Monika Balt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003030, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor ungefähr zwei Stunden hörten wir in der letzten Rede unseres Kollegen Dreßler das wie er es selber bezeichnet hat - „Histörchen“ von dem jungen Dynamischen und von dem alten Reichen - ein wohl mehr als ernster Hintergrund. Letztlich hat es auch einen Bezug zum vorliegenden Entwurf des Altenpflegegesetzes, der nach über zehnjähriger Diskussion nunmehr auf dem Tisch liegt. Diesem Gesetzentwurf kann meine Fraktion in dieser Form nicht zustimmen. Wir werden uns deshalb enthalten. Im federführenden Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sprach man von einer historischen Stunde. Für wen eigentlich? Zwar sind im Gesetzentwurf eine Reihe von Forderungen enthalten, die auch die PDS in ihrem Antrag 1996 erhoben hatte. Zum Beispiel wird mit diesem Gesetz der Abbau der Niveauunterschiede zwischen den Ländern und zwischen den Altenpflegeeinrichtungen angestrebt. Eine einheitliche Ausbildungsdauer von drei Jahren soll erreicht werden. Das alles finden wir gut. Doch mit dieser Bundeseinheitlichkeit wird der gegenwärtige Zustand, nämlich 17 unterschiedliche Regelungen in 16 Bundesländern, auf ein neues Niveau gehoben, aber nicht beendet. Jetzt zu den Problemen. Für mich ist ausschlaggebend und wichtig, aus welchem Blickwinkel man das Problem der Altenpflegeausbildung betrachtet. Ich meine, da kann es nur einen geben: den der pflegebedürftigen älteren Menschen. ({0}) Wir sagen, dass die Altenpflege gewährleisten muss, dass Ältere nicht nur gepflegt, sondern fachlich qualifiziert begleitet und betreut werden. ({1}) Sie dagegen, meine Damen und Herren von der rot-grünen Regierung, stellen bei den Ausbildungszielen die medizinische Pflege und Behandlung an die erste Stelle, Rehabilitation an die dritte und Hilfe zur Erhaltung und Aktivierung der eigenständigen Lebensführung an die siebente Stelle. Damit wird Altenpflege zu einem „Heilhilfsberuf“ degradiert. Mir ist natürlich vollkommen klar, warum der Gesetzgeber das macht: Es bestünde sonst keine Bundeskompetenz. Wer sich aber für eine Pflege „Still, sauber, satt“ entscheidet und Schritte in diese Richtung tut, dem reicht natürlich auch ein Mindestmaß an Ausbildung. Kosten werden minimiert. Es sind wieder nur Frauenberufe. Durch das Gesetz wird in der Folge ein Rückgang des qualitativ-fachlichen Niveaus der Ausbildung herbeigeführt. Dazu ein Beispiel: Die Ausbildung im Freistaat Thüringen umfasst gegenwärtig 2 580 Theoriestunden. Nach In-Kraft-Treten des Gesetzes werden es nur noch 1 830 Theoriestunden sein können. Das ist ein Minus von 30 Prozent. Dieses Raster wird in allen Bundesländern zur Regel werden. Die Abstriche werden zwingend in der psychosozialen, rechtlichen und hilfeplanungsspezifischen Kompetenz erfolgen. Dieses Manko wird auch nicht durch die stärkere Betonung der praktischen Ausbildung ausgeglichen. ({2}) Das Berufsbild wird auf somatische Pflege verengt und es erfolgt eine Schwerpunktverlagerung auf geriatrische Krankenpflege. Der ältere Mensch hat aber nicht nur Anspruch auf Pflege - so er dieser bedarf -, sondern er hat auch Anspruch auf Betreuung einschließlich sozialer Betreuung. Somit kann es nicht nur um Krankenpflege gehen. Den Weg, den das Gesetz zur Ausbildungsfinanzierung vorsieht, sehen wir als außerordentlich problematisch an. Zudem ist die Finanzierung durch das Umlageverfahren verfassungsrechtlich sehr umstritten. Daher geht der Gesetzgeber nun den Weg, die Träger aufzufordern, sich freiwillig zur Finanzierung zu verpflichten.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Zeit.

Monika Balt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003030, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Erfahrungen in den Ländern zeigen, dass dadurch nur noch ein Drittel der Träger weiterhin Ausbildungsplätze sicherstellen wird. Darüber hinaus ist zu befürchten, dass kleinere Trägerkapazitäten untergehen, da das ursprünglich angestrebte Umlageverfahren, das einen Ausgleich für alle Altenpflegeeinrichtungen regelt, unabhängig davon, ob dort Ausbildung stattfindet oder nicht, verfassungsrechtlich kaum realisierbar sein wird.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, Sie können nicht einfach weiterreden. Das geht nicht.

Monika Balt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003030, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich komme zu meinem letzten Satz. Man darf dabei nicht vergessen: In Altenpflegeheimen lebt nur rund ein Drittel unserer älteren pflegebedürftigen Mitbürgerinnen und Mitbürger.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Würden Sie jetzt bitte aufhören! Ich habe es schon zweimal gesagt. Es geht nicht, dass Sie einfach so durchreden. ({0})

Monika Balt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003030, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Deshalb brauchen wir ein Gesetz, das diesen Forderungen Rechnung trägt. Vielen Dank. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christa Lörcher.

Christa Lörcher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001363, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Frau Eichhorn, ich glaube, Sie haben den falschen Gesetzentwurf gehabt. Wahrscheinlich ist Ihnen auch entgangen, dass sehr viele Vorschläge des Bundesrates in unseren Änderungsantrag aufgenommen und im Ausschuss auch durchgesetzt wurden. Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat in der letzten Woche mit deutlicher Mehrheit beschlossen, dass ab 2001 die Altenpflegeausbildung in unserem Land bundeseinheitlich und mit gemeinsamen Qualitätsstandards durchgeführt werden soll. Die mitberatenden Ausschüsse haben sich ebenfalls mehrheitlich für diesen Gesetzentwurf mit den vorliegenden Änderungsanträgen ausgesprochen. Herzlichen Dank dafür. Am Tag der Ausschussberatungen stand in der „Berliner Morgenpost“ ein Bericht mit der Überschrift „Maschinen - Diener an Bett und Arbeitsplatz, Roboter für Pflegebedürftige und Körperbehinderte“. Zitat: „Und wann kommt die elektronische Krankenschwester?“ Auf der Messe „Altenpflege 2000“ wurde sie vorgestellt; für Koma-Patienten entwickelt, wird sie jetzt auch Pflegeheimen angeboten: „Eine Waschanlage für bettlägerige Patienten - zeitsparend, porentief rein und absolut hygienisch, garantiert ohne menschliche Zuwendung.“ Wollen wir das? Ich bin sicher: Wer Pflegetätigkeit kennt und verantwortlich ausübt oder Verantwortung dafür trägt, will das nicht. Hilfsmittel, auch technische Hilfen wie zum Beispiel ein Lifter, sind sinnvoll und wichtig, weil sie die oft schwere Arbeit erleichtern. Aber sie können nie eine qualifizierte ganzheitliche Pflege ersetzen, in der Körper, Geist und Psyche einbezogen werden. ({0}) Waschen ist mehr als Körperreinigung; es ist auch Kommunikation, Beobachtung von körperlichen und geistigen Fähigkeiten, Mobilisation, Berührung. Längst ist bekannt, dass Koma-Patienten - wie wir alle - Worte, Berührung und Zuwendung brauchen. Der Gesetzentwurf zur Altenpflegeausbildung mit unseren Änderungsvorschlägen soll das Berufsbild Altenpflege verbessern, aufwerten und attraktiver machen: durch fundierte Ausbildungsziele, eine Kombination von Theorie und Praxis, qualifizierte Praxisbegleitung und die Gesamtverantwortung der Altenpflegeschule, durch eine dreijährige Ausbildungszeit und das Recht auf eine angemessene Ausbildungsvergütung. Qualität in der Pflege kann und soll damit verbessert und gesichert werden. Eine steigende Lebenserwartung gibt uns mehr Jahre. Dass Menschen diese Jahre in Würde verbringen können, auch bei Pflegebedürftigkeit, ist unser Anliegen. Mehr Lebensjahre heißt auch ein höheres Risiko bezüglich Krankheiten im Alter: Störungen bei Herz und Kreislauf, Bewegungseinschränkungen, psychische Krankheiten wie Depressionen, mehr Demenzerkrankungen. Es heißt mehr Pflegebedürftigkeit zu Hause, wobei die Pflege oft von Angehörigen und von professionellen Kräften gemeinsam geleistet wird. Es bedeutet auch ein höheres Alter beim Eintritt in stationäre Einrichtungen, wobei der Bedarf an Grund- und Behandlungspflege, aber auch an Aktivierung und Rehabilitation entsprechend steigt. Ich wundere mich, dass trotz Kenntnis dieses Sachverhaltes in allen Bereichen der Pflege von manchen noch immer die Bundeskompetenz für die Regelung der Berufe in der Altenpflege infrage gestellt wird. ({1}) Medizinisch-pflegerische Kenntnisse sind die Grundlage für eine qualifizierte Arbeit. Ich will dafür zwei Beispiele nennen. Bei der zunehmenden Zahl von Diabeteskranken in unserer Gesellschaft, derzeit rund 5 Millionen Menschen und der größte Teil von ihnen mit Altersdiabetes, ist es unbedingt nötig, dass eine Fachkraft in der Pflege zu jedem Zeitpunkt genau beobachtet und feststellen kann, wenn es jemandem schlecht geht: Liegt ein zu niedriger oder ein zu hoher Blutzuckerwert vor? Was ist sofort zu tun? Was muss und darf ich machen? Was kann und darf nur der Arzt tun? Auch die Zahl der Parkinsonkranken bei uns ist hoch rund 200 000 Menschen leiden an Parkinson. Viele wohnen zu Hause, werden vom Partner oder von der Partnerin versorgt; manche treffen sich in Selbsthilfegruppen und erhalten dort Unterstützung. Aber auch professionelle Hilfe ist nötig. Gerade bei Parkinson ist bekannt, dass Rehabilitationsmaßnahmen wie Bewegungsübungen und Sprachtraining viel an Lebensqualität erhalten oder eine Verschlechterung verzögern können. Fundierte Kenntnisse und Fähigkeiten in der Pflege, aber auch in den Bereichen Aktivieren und Rehabilitation, sind bei der Pflegeausbildung und Berufstätigkeit nötig. Es ist gut, dass stationäre und ambulante Pflegeeinrichtungen als Praxislernorte verbindlich festgelegt sind. Zusätzlich ist sinnvoll, dass bei der praktischen Ausbildung - eine Kannbestimmung im Gesetzentwurf - auch ein Praktikum in einer psychiatrischen Einrichtung, zum Beispiel in der Gerontopsychiatrie oder in einer Rehabilitationseinrichtung, etwa einer geriatrischen Rehaklinik, möglich ist. Besonders positiv - das möchte ich zum Schluss vermerken - ist, dass Modellversuche hinsichtlich einer integrierten Pflegeausbildung mit diesem Gesetzentwurf ermöglicht werden. Ich hoffe und wünsche uns, dass wir die Pflegeberufe in Übereinstimmung mit den europäischen Richtlinien auf der heute zu beschließenden gemeinsamen Grundlage einer dreijährigen qualifizierten Altenpflegeausbildung in den kommenden Jahren gemeinsam weiterentwickeln im Interesse derjenigen Menschen, die Hilfe und Betreuung brauchen, und derjenigen, die diese wichtige und anspruchsvolle Arbeit leisten. Herzlichen Dank. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Altenpflegegesetzes. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der F.D.P. gegen die Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der PDS angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit auch in dritter Lesung mit dem soeben festgestellten Stimmenergebnis angenommen worden. ({0}) Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung des Antrags der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. Diskriminierung von Frauen bei den Olympischen Spielen - Drucksache 14/3769 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann verfahren wir auch so. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die Abgeordnete Angelika Graf.

Angelika Graf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002662, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Junge und erfolgreiche Sportlerinnen und Sportler sind für Kinder und Jugendliche wichtige Identifikationsfiguren. Die Schwimmerin Franziska von Almsick zum Beispiel hat in den letzten Jahren insbesondere für Mädchen den Schwimmsport sehr interessant gemacht. Das hat die steigende Zahl von Anmeldungen in Schwimmvereinen ganz deutlich gezeigt. Die Ausübung von Sport, die dadurch angeregt wird, vermittelt jungen Menschen nicht nur soziale Kompetenzen. Durch den Sport lernen sie im Allgemeinen auch, mit ihrem eigenen Körper umzugehen und auf ihn zu achten. Sport ist also Gesundheitsvorsorge im besten Sinne. Der Sport gibt den Menschen die Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen, die eigenen Grenzen auszuloten und Selbstbewusstsein im wahrsten Sinne des Wortes aufzubauen. Dies alles sind insbesondere für junge Frauen in der ganzen Welt wichtige Dinge. Eine besondere Rolle im Ablauf der sportlichen Ereignisse über die Jahre hinweg spielen die Olympischen Spiele. Sie haben sich im Laufe der Jahre durchaus verwandelt. Im Jahre 1896 haben sich in Athen 295 Männer sportlich gemessen haben. Im Jahre 1900 waren in Paris schon 11 Frauen am Start. In den letzten Jahrzehnten haben immer mehr Frauen aus allen Erdteilen und jeder Hautfarbe an den Olympischen Spielen teilgenommen. Begonnen hat das Ganze allerdings mit Stamathia Roviti, die 1896 durch ihre inoffizielle Teilnahme am Marathonlauf ihren Protest gegen die Frauendiskriminierung deutlich gemacht hat. Es waren recht starke Frauen, die da um Medaillen und nicht nur um diese - kämpften. Die etwas Älteren von Ihnen können sich sicher noch an die vor kurzem verstorbene dunkelhäutige Sprinterin Florence Griffith-Joyner erinnern. Das war die mit den langen Fingernägeln. ({0}) - Ja genau, die mit den schönen bunten. - Sie hat Goldmedaillen über 100 Meter und über 200 Meter gewonnen. Sie war nicht nur für den Frauensport ganz allgemein, sondern insbesondere auch für farbige Frauen eine Identifikationsfigur. Trotz dieser Fortschritte gibt es noch immer eine Reihe von Ländern, die reine Männerdelegationen zu den Olympischen Spielen schicken. Die Entwicklung ist zwar rückläufig. Aber es erschreckt schon, dass 1992 nach Barcelona immer noch 34 Länder ohne weibliche Teilnehmer angereist sind. Auch in Atlanta gab es 1996 noch 29 Delegationen, die ohne Frauen angetreten sind. Das waren damals unter anderem Länder wie Afghanistan, Bolivien, Brunei, Bahrain, Dschibuti, Haiti, Irak, Kuwait und Saudi-Arabien. Diese Liste muss nicht zu Ende geführt werden. Es ist sehr beeindruckend, welche Länder in diesem Zusammenhang zu nennen sind: unter anderem viele afrikanische und arabische Länder. Dort wurden und werden - das ist ganz offensichtlich Frauen aktiv oder passiv diskriminiert und an der Ausübung des Sportes gehindert. Ob das nun dadurch passiert, dass Bekleidungsvorschriften, zum Beispiel der Tschador im Iran oder die Burka in Afghanistan, oder andere angeblich theologisch oder kulturell bedingte Zwänge die Frauen an der Ausübung des Sportes hindern, ob den Frauen die Ausübung des Sportes vollständig verboten wird oder man ihnen andere Rechte vorenthält, was sie daran hindert, oder ob es schlicht und einfach die Gedankenlosigkeit und das Machoverhalten von Männern sind, die den Frauen diese Betätigung bzw. Erfolge auf diesem Gebiet nicht gönnen wollen, das spielt meiner Ansicht nach bei der Beurteilung des Ganzen keine Rolle. Fest steht: Es widerspricht deutlich der olympischen Charta und dem olympischen Gedanken. In der Olympischen Charta steht geschrieben: Alle Formen der Diskriminierung mit Bezug auf ein Land oder eine Person, sei es aus Gründen von Rasse, Religion, Politik, Geschlecht und sonstigen Motiven sind mit der olympischen Bewegung unvereinbar. ({1}) Schauen wir nach Sydney: Obwohl die Ergebnisse der Qualifizierung aus den einzelnen Ländern noch nicht vorliegen und infolgedessen auch noch keine Aussagen über die Zusammensetzung der Delegationen gemacht werden können, appellieren wir mit dem vorliegenden fraktionsübergreifenden Antrag - dies ist auch ein deutlicher Fortschritt gegenüber früher -, ({2}) den wir heute noch rechtzeitig vor dem Beginn der Spiele im September dieses Jahres verabschieden, an das Nationale Olympische Komitee, beim IOC die Einhaltung der Charta einzufordern und harte Sanktionen - ich meine, sie müssen bis zum Ausschluss von den Spielen gehen - gegen Länder zu beschließen, die sich daran nicht halten. ({3}) Ausreden jedenfalls kann es nicht mehr geben. Für die Kleinststaaten wurden die Leistungsvorgaben bei den Qualifikationen abgeschafft, sodass nun auf jeden Fall Frauen aus diesen Ländern teilnehmen können. Die Trainingsbedingungen für viele Sportlerinnen haben sich durch das Engagement, zum Beispiel unseres eigenen NOK, deutlich verbessert. Irakerinnen und Palästinenserinnen zum Beispiel können zurzeit in Deutschland mit deutscher Unterstützung trainieren. Das ist ein Vorteil gegenüber den schwierigen Trainingsbedingungen im eigenen Land. Ich meine, dass dies etwas ist, was weiterverfolgt werden muss und wofür man dem Nationalen Olympischen Komitee - im Sinne der internationalen Frauenbewegung und des internationalen Frauensportes danken muss. Ich meine, wir sollten unseren Dank durch die Zustimmung zu diesem Antrag manifestieren. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Monika Brudlewsky.

Monika Brudlewsky (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000275, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Leider haben wir gerade ein deutsches sportliches Debakel hinter uns. Aber bei den Olympischen Spielen in Australien hoffen wir auf bessere Ergebnisse für Deutschland. Bei diesem Fest der Nationen werden sich Sportler aus aller Welt im sportlichen Wettkampf miteinander messen und Millionen Menschen werden über die Medien mit Spannung live dabei sein. Obwohl sicher ein großes Fest der Begegnung daraus wird, müssen wir auch dieses Mal wieder befürchten, dass weibliche Sportler aus einer Reihe von teilnehmenden Staaten aufgrund angeblich religiöser Vorbehalte, gepaart mit männlichem Chauvinismus, außen vor bleiben müssen, nur weil sie Frauen sind oder weil diese Staaten keine Sport treibenden Frauen dulden. ({0}) Dies ist ein klarer Verstoß gegen die olympische Charta. Wir wollen und müssen den Frauen dieser Länder zu verstehen geben: Dies muss und wird sich ändern. ({1}) Die olympische Charta verbietet, wie Frau Graf schon zitiert hat, jede Form von Diskriminierung. Dazu gehört auch die Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts. Menschenrechte sind auch Frauenrechte. Angelika Graf ({2}) Menschrechtsverletzungen einiger Länder gegenüber ihren Frauen gehören daher an den Pranger gestellt. Diesen Ländern und ihren Regierungen muss vor der Weltöffentlichkeit klargemacht werden, dass es so nicht weitergehen kann. Meine Kollegin Bärbel Sothmann hat vor vier Jahren in einer Debatte zum gleichen Thema den Satz geprägt: Diese Frauenapartheid ist nicht weniger menschenrechtsverletzend als die Rassenapartheid in Südafrika. Schließlich bringen diese Länder damit die Miss- und Verachtung der Hälfte ihrer Bevölkerung zum Ausdruck. Um noch einmal zum Fußball zu kommen: Diese Länder verdienen die rote Karte der Weltgemeinschaft. Sie halten anscheinend Frauen für nicht würdig oder nicht fähig, ihre Länder im sportlichen Wettstreit zu vertreten, obwohl es doch für jeden Sportler eine Ehre ist, für die Olympischen Spiele nominiert zu werden und sich mit den weltbesten Sportlern messen zu können. Sport ist aber auch eine Frage von Persönlichkeit, Selbstdisziplin, Ausdauer und persönlichem Engagement, was Vorbildcharakter vor allem für junge Menschen hat. Gerade in Ländern der Dritten Welt haben die Sportler oft Kultstatus und werden wie Popstars verehrt; ich denke nur an die hervorragenden afrikanischen Läuferinnen und Läufer. Manche Regierungen sehen hierin Gefahren. Statt selbstbewusste und erfolgreiche Frauen wollen sie lieber Frauen als eine dumm gehaltene schwarz umhüllte Masse, die ohne männliche Begleitung noch nicht einmal alleine vor die Tür gehen dürfen, wenn ich zum Beispiel an das Taliban-Regime in Afghanistan denke. Frauen mit Gesicht, mit Persönlichkeit, mit Durchsetzungsvermögen könnten in diesen Ländern Begehrlichkeiten nach mehr Rechten und Freiheiten einfordern und als Vorbild für andere gelten. Dies passt natürlich nicht in die Ideologie solcher Regime. Auch wenn sich die Zahl der Länder, die ausschließlich mit Männern zu den Olympischen Spielen anreisten, von 35 Länder 1992 in Barcelona auf 29 Länder 1996 in Atlanta verringert hatte, so sind dies immer noch zu viele. Wie viele werden es wohl in diesem Jahr sein? Wir sind gespannt. Es sei zugestanden, dass aufgrund der geringen Bevölkerungszahlen und auch des unterschiedlichen sportlichen Interesses sich die olympischen Mannschaften mancher Länder nur auf ganz bestimmte Sportarten konzentrieren oder Frauen sich nicht qualifizieren konnten. ({3}) So ist es aber immer noch eine andere Frage, ob ich es sportbegeisterten jungen Mädchen und Frauen, die es auch in diesen Ländern gibt, generell verbiete, Sport zu treiben, was ein ureigenes menschliches Bedürfnis ist, oder ob ich ihnen zumindest die grundsätzliche Möglichkeit einräume, sich in ihren Sportarten und entsprechend ihren sportlichen Neigungen für ein solches Weltereignis zu qualifizieren. Dies setzt aber voraus, dass diese Staaten den Frauen Trainingsmöglichkeiten zur Verfügung stellen, wie sie auch den Männern zustehen. Auch dürfen vermeintlich religiöse Kleiderordnungen nicht einem sportlichen Training entgegenstehen, wenn die Frauen von sich aus dieses Recht wahrnehmen wollen. Grundsätzlich hat dieses Problem nichts mit Religion zu tun. Schließlich gibt es auch eine Reihe islamischer Staaten, die ihre hervorragenden Sportlerinnen nach Australien schicken werden; dies betone ich ausdrücklich. Sie werden im Koran eine Reihe von Frauen finden, beispielsweise die Tochter des Propheten Mohammed, die man nach heutiger Sichtweise durchaus als emanzipierte Frauen bezeichnen würde. 100 Jahre nach der Teilnahme der ersten Frauen an Olympischen Spielen der Neuzeit sollte die Emanzipation so weit fortgeschritten sein, dass mit Beginn des 21. Jahrhunderts diese Diskriminierung überwunden ist. Daran müssen wir mitwirken. Ein Einwurf sei mir als ehemalige DDR-Bürgerin im Zusammenhang mit Diskriminierung von Frauen im Sport und vor dem Hintergrund der gerade laufenden Prozesse gegen Trainer und Funktionäre der ehemaligen DDR in Bezug gerade auf das Doping von jungen Menschen erlaubt. Die DDR, die Sowjetunion und die meisten sozialistischen Staaten sahen in der Olympiade auch ein wichtiges ideologisches Propagandamittel, um die Überlegenheit des Sozialismus durch ihre Sportlerinnen und Sportler zu demonstrieren. Das Doping unserer DDRFrauen gehörte da leider zur Tagesordnung, um zu zeigen, wozu der Sozialismus gerade auch hinsichtlich der sportlich emanzipatorischen Förderung von Frauen fähig ist. Auch hier wurden Frauen benutzt und aufgrund der unverantwortlichen Betreuung durch Funktionäre zu hormonell behandelten Wettkampfmaschinen herangezogen, ohne dass Rücksicht auf gesundheitliche Folgen genommen worden wäre. Ich habe selber solche Mädchen kennen gelernt, die später unter der Dopingbehandlung gesundheitlich schwer litten, zumal man ihnen diese Mittel meist ohne Information über die Folgen verabreichte. Auch wurden sie später oft allein gelassen, wenn sie nicht als Kader verwendet werden konnten, und hatten so große Probleme mit dem Abtrainieren. Diese Praxis war genauso menschenverachtend wie der völlige Ausschluss von Sportlerinnen. Auch das will natürlich keiner. Diese Praxis findet heute zum Glück auch die juristische Würdigung durch ordentliche Gerichte. Uns geht es in diesem Zusammenhang um die grundsätzliche Achtung der Würde der Frau und die Ermöglichung der Wahrnehmung ihrer Rechte und Chancen und nicht um ihre Instrumentalisierung für Ideologien und Religionen. Ich danke Ihnen. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Als einzigem männlichen Redner in dieser Debatte erteile ich jetzt dem Abgeordneten Winfried Hermann das Wort.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hoffe, man muss sich in diesem Haus nicht dafür entschuldigen, dass man als Mann zur Diskriminierung von Frauen spricht. Ich glaube nämlich, dass es eine moderne Auffassung ist, dass sich auch die Männer um die Beseitigung von Diskriminierungen kümmern. ({0}) Ich möchte meine Rede gern mit einem kleinen historischen Exkurs beginnen; denn man kann die Diskriminierung nicht verstehen, ohne die Geschichte der Olympischen Spiele ein wenig zu kennen. Man könnte vielleicht zugespitzt sagen: Die Geschichte der Olympischen Spiele war schon immer auch eine Geschichte von Diskriminierung. In Griechenland waren die Olympischen Spiele sicherlich etwas anders als in der modernen Welt, aber einige Parallelen sind erkennbar. In Griechenland waren nur Männer als Athleten zugelassen; Frauen waren nur als Zuschauerinnen zugelassen, wenn sie jung und unverheiratet waren. Die Kampfrichter waren Männer; lediglich eine Priesterin, die alle vier Jahre gewählt wurde, hatte gewissermaßen die Oberaufsicht. Das war eine merkwürdige Konzeption, dennoch war es eigentlich eine Männerveranstaltung. Die modernen Olympischen Spiele von Pierre de Coubertin haben im Grunde genommen diese Tradition aufgenommen - Sie schmunzeln schon -: Es war wiederum eine Männerveranstaltung. 1896 waren keine Frauen dabei, 1900 waren nur wenige Frauen vertreten. Sie waren eher geduldet als erwünscht. Erst 1928 hat man sich durchringen können, Frauen offiziell zu akzeptieren. Dann hat eine neue Form von Diskriminierung, diesmal im positiven Sinne, begonnen: Man hat zwischen gemischten und reinen Frauenwettbewerben unterschieden. Ich glaube, man muss anerkennen, dass im Sport mehr als anderswo sichtbar wird, dass Mann und Frau zwar im Prinzip gleich sind, aber in mancher Hinsicht eben doch nicht. Deswegen macht es auch Sinn, dass Männer und Frauen in unterschiedlichen Wettbewerben antreten. Frauen dürfen aber nicht per se vom Sport und von Olympischen Spielen fern gehalten werden. Die Geschichte der folgenden Jahre und Jahrzehnte war eine Geschichte des Kampfes der Frauen für die Beteiligung an den Spielen. Sie haben es gerade aufgelistet, wie Spiel um Spiel immer mehr Frauen hinzugekommen sind. Aber auch heute können wir immer noch feststellen, dass eine Beteiligung in vielen Ländern nicht gelungen ist. Zum Teil gibt es völlig geschlechtsspezifische Mannschaften. Ich warne aber davor, das als Phänomen des Islams zu geißeln - Sie haben das hier nicht getan, aber man liest es bisweilen in der Sportpresse, nach dem Motto, die harten Islamstaaten lassen die Frauen nicht zu den Olympischen Spielen -, denn es sind weit mehr als nur die islamischen Staaten. Es gibt auch anderswo Diskriminierungen. Oft ist es nicht eine verfassungsmäßige Diskriminierung, sondern eine kulturelle, und das ist vermutlich auch das eigentliche und größere Problem. Das gilt übrigens auch für die anderen Bereiche, nicht nur für die Mannschaften. Schauen Sie sich einmal die Nationalen Olympischen Komitees oder das IOC an. Das sind reine Männerklubs, Altherrenklubs, in denen Frauen lange Zeit überhaupt nicht vorgekommen sind. ({1}) Mühsam macht das IOC jetzt eine Kampagne, um mehr Frauen für den Bereich der Organisation und des Managements zu gewinnen. Dort finden sich erst 10 Prozent bis 20 Prozent Frauen. Das ist angesichts der Tatsache, dass wir im 21. Jahrhundert leben, beschämend. Hier gibt es noch viel Nachholbedarf, übrigens auch in Deutschland. Wir haben, glaube ich, keinen Grund, allzu hochnäsig zu sein und auf andere Staaten zu zeigen, nur weil sie keine Frauen in ihren Olympiateams haben. Bei uns haben wir bei Funktionären reine Männermannschaften. Auch das ist unerträglich. Ich glaube, dass die Staaten, in denen Frauen verfassungsmäßig explizit vom Sport ausgeschlossen werden, hart sanktioniert werden müssen, und zwar bis hin zum letzten Mittel, dem Ausschluss von Olympischen Spielen. Ich möchte allerdings nicht einer pauschalen harten Ausgrenzung das Wort reden. ({2}) Ich glaube, das wäre nicht klug. Zur Geschichte der Olympischen Spiele gehörten auch immer politisch begründete Boykotts. So hat man etwa bei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau durch den Boykott der westlichen Staaten versucht, den Krieg der Sowjetunion in Afghanistan zu verhindern, was nicht gelungen ist und eher zum Schaden der Olympischen Spiele war. Auch das Vorgehen 1984 in Los Angeles - der Revancheboykott der kommunistischen Staaten - war nicht sinnvoll. Auf der anderen Seite steht der sehr erfolgreiche Ausschluss der Südafrikanischen Republik über viele Jahre hinweg, weil sie Apartheidrepublik war. Dort hat es auch etwas geholfen. Also kann so etwas im Einzelfall sehr wohl politisch wirken. Deswegen muss man sich das Verhängen von Sanktionen genau überlegen. Im Großen und Ganzen wird es wahrscheinlich darauf ankommen, Staaten, die diskriminierende Kulturen haben, trotzdem an Olympischen Spielen teilnehmen zu lassen, ihnen aber deutlich zu signalisieren, dass man Frauendiskriminierung nicht akzeptieren kann. Ich glaube, dass Beteiligung statt Ausgrenzung eher zu einer Modernisierung dieser Staaten und Kulturen führt und dies am ehesten der Politik der Nichtdiskriminierung förderlich ist. In diesem Sinne glaube ich, dass wir noch viele Jahre des Streitens für Olympische Spiele ohne Diskriminierung vor uns haben. Vielen Dank. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag, der uns heute beschäftigt, ist nach noch streitiger Behandlung vor vier Jahren, nämlich 1996 zu den Olympischen Spielen in Atlanta, jetzt ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen. 1996 gab es getrennte Anträge - nach dem alten Muster: Regierungskoalition auf der einen Seite, Oppositionsfraktionen auf der anderen Seite. Inhaltlich haben sie sich mehr kosmetisch denn in der Sache unterschieden. Heute sind wir jedenfalls in diesem Punkt etwas weiter. Gerade die jetzigen Oppositionsfraktionen zeigen, dass es ihnen hier um ein vernünftiges Befassen mit dem Thema geht. Dies ist also schon einmal ein wirklicher Fortschritt. ({0}) In meinen Augen ist es selbstverständlich - dies haben auch alle hier gesagt -, die Diskriminierung von Frauen bei Olympischen Spielen, wie aber natürlich auch in allen anderen Bereichen, und hier besonders das Fernhalten von Frauen vom sportlichen Wettbewerb anzuprangern. Schlimm ist, dass es dies nach wie vor gibt. Wir haben heute schon einige Bemerkungen zur Entwicklung und zur Geschichte hören können. Bewirkt der Antrag denn irgendetwas? Bewirkt er etwas beim Internationalen Olympischen Komitee, einem Gremium mit 113 Mitgliedern und noch nicht einmal zehn Frauen? Hieran habe ich erhebliche Zweifel. Ich habe heute in Vorbereitung auf diese Debatte versucht, mit IOC-Vertretern zu sprechen. Soweit sie zu erreichen waren, waren sie auf dieses Thema überhaupt nicht anzusprechen. Ich denke, so wird es auch weitergehen. Selbstverständlich ist das IOC nach seinem Statut verpflichtet, zu versuchen - und entscheidend darauf hinzuwirken -, jegliche Diskriminierung, aus welchen Gründen auch immer, zu beseitigen. Dies ist nun einmal das wichtigste Grundprinzip der Charta des Internationalen Olympischen Komitees. Nur dann kann gemäß dem Hauptgrund für die olympische Bewegung ein Beitrag zu einer friedlicheren und besseren Welt geleistet werden, wie es in diesen schönen hehren Worten in der Charta des IOC geschrieben steht. Für den Deutschen Bundestag ist es ein Leichtes, diesen Antrag zu beschließen. Er kostet uns nichts - er kostet kein Geld, er kostet keinen Aufwand - als die Auseinandersetzung und die Debatte heute. Aber was kann er tatsächlich bewirken? In meinen Augen kann er dann etwas bewirken, wenn wir deutlich machen, dass die Ursachen der Diskriminierung von Frauen in vielen Staaten in religiösen und kulturellen Bereichen liegen, dort lange Wurzeln und Traditionen haben, und dass ohne Kenntnis und Analyse dieser gesellschaftspolitischen Hintergründe vor allem in den Staaten, in denen Frauen überhaupt keine Möglichkeit haben, im alltäglichen Bereich Sport auszuüben, keine wirksamen Maßnahmen ergriffen werden können. Auf diese Hintergründe müssen wir eingehen. Man muss versuchen, dies zum Gegenstand von Politik zu machen. ({1}) Ich bin der Auffassung, dass dieser Antrag, der heute beschlossen werden soll, auch ein Auftrag an die Bundesregierung ist, sich die große Mehrheitsmeinung hier im Plenum, im Bundestag zu Eigen zu machen. Sie sollte dies gerade in der Außenpolitik, in den kritischen Dialogen mit den Ländern, in denen Menschenrechte verletzt werden, zum Thema machen. Es ist bereits zu Recht gesagt worden: Frauen überhaupt nicht die Möglichkeit zu sportlicher Betätigung zu geben ist eine Verletzung ihrer Rechte und eine Verletzung von Menschenrechten. Deshalb, denke ich, sollten wir hier heute Einvernehmen darüber erzielen, dass es zum einen eine Verpflichtung des Bundestages ist, dieses Problem in Debatten deutlich zu machen, und dass es zum anderen immer auch Gegenstand der Dialoge der Bundesregierung mit diesen Ländern sein muss und offen und ehrlich eingefordert werden muss. Es gibt schon nächste Woche bei dem Besuch des iranischen Präsidenten in Deutschland Gelegenheit, das mit Nachdruck zu tun. Vielen Dank. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Bläss.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Stoßrichtung des interfraktionellen Antrags ist richtig und auch notwendig. Die Kollegin Graf hat bereits aus der olympischen Charta zitiert und betont, dass Diskriminierung aufgrund des Geschlechts mit der olympischen Bewegung unvereinbar ist. Dennoch werden Frauen auch bei Olympischen Spielen systematisch diskriminiert. Wir haben in der Debatte bereits einige Beispiele dafür gehört. Ich war, ehrlich gesagt, ziemlich überrascht, zu lesen, dass bei den Olympischen Spielen 1996 immerhin noch 35 Länder ausschließlich Männer in ihre Mannschaften nominiert hatten. Es ist bekannt, dass Frauen gerade in diesen Ländern - die Kollegin Graf hat bereits einige Staaten aufgezählt; deshalb kann ich mir das an dieser Stelle sparen - grundlegende Menschenrechte nach wie vor verweigert werden. Diese Woche ging durch die Presse, dass Frauen in Kuwait nicht wählen dürfen. Erst recht haben sie nicht die Chance, im Sport zu gleichen Rechten wie die Männer zu kommen. Dennoch greift es zu kurz, dieses Problem allein mit kultureller Tradition abzutun. Hier werden Frauenrechte unterdrückt. Die kürzlich stattgefundene UN-Sondergeneralversammlung Peking plus Fünf in New York hat noch einmal bekräftigt, was bereits im Rahmen der UNWeltkonferenz des Jahres 1995 festgeschrieben wurde: Frauenrechte sind Menschenrechte und unteilbar, ({0}) das heißt, auch nicht mit der Berufung auf kulturelle Traditionen zu relativieren und einzuschränken. Südafrika durfte von 1964 bis 1988 nicht an den Olympischen Spielen teilnehmen mit der Begründung, das Apartheidsystem widerspreche der olympischen Idee und ihrer Charta. Bei den genannten Staaten haben wir es mit Geschlechterapartheid zu tun, was der olympischen Charta genauso widerspricht. Wo bleiben die Konsequenzen des Internationalen Olympischen Komitees? Der vorliegende Antrag ist hier meines Erachtens sehr allgemein geblieben. Die notwendige Forderung, die entsprechenden Länder von der Teilnahme an den Olympischen Spielen auszuschließen, fehlt. ({1}) Der Kollege Hermann hat bereits darauf verwiesen: Die Diskriminierung von Frauen ist schon in der Struktur des IOC angelegt; denn das Exekutivkomitee des IOC besteht ausschließlich aus Männern. Schon das allein ist ein Skandal und muss geändert werden. ({2}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den Olympischen Spielen geht es nicht nur um sportliche Ehre, sondern bekanntlich auch um viel Geld. Wir sollten auch an die millionenschweren Sponsorinnen und Sponsoren appellieren, ihren Einfluss geltend zu machen und zu verlangen, dass Geschlechterapartheid bekämpft wird. Lassen Sie mich abschließend noch eine kurze Bemerkung machen, die ich mir gern erspart hätte: Einmal mehr stellt sich das Parlament bei einem wichtigen interfraktionellen Anliegen ein Armutszeugnis aus. Es ist traurig, dass bei einem solchen Thema, bei dem es offensichtlich im Hause Konsens gibt, politische Ausgrenzungsbeschlüsse wieder über das gemeinsame Sachinteresse - ich sage das jetzt bewusst in sportlichem Jargon - gesiegt haben. Ich hoffe, dass das jetzt zum letzten Mal der Fall war. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Lehder.

Christine Lehder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003169, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Diskriminierung von Frauen im Sport ist vielseitig. Von meinen Vorrednerinnen und meinem Vorredner wurden schon einige Facetten aufgegriffen. Ich möchte einen bereits angeführten Punkt beleuchten, nämlich die Diskriminierung von Frauen bei der Besetzung von Entscheidungspositionen in internationalen und nationalen Sportorganisationen. ({0}) Fangen wir jedoch mit etwas Erfreulichem an. Wie wir alle wissen, ist das Vereinsleben generell männlich dominiert, was natürlich auf eine bestimmte Rollenverteilung in vergangener Zeit zurückzuführen ist. Diese ehemals klassische Rollenverteilung bricht Gott sei Dank immer weiter auf und schreitet unaufhaltsam in Richtung Gleichberechtigung voran. Auch vor den Sportvereinen macht diese Entwicklung nicht Halt. So ist die Zahl der Mitgliedschaften von Frauen in den Sportvereinen stetig gestiegen und liegt im Moment bei 38,6 Prozent. Aber leider können wir uns nicht allzu sehr darüber freuen. Es ist nämlich festzustellen, dass Frauen gemessen an dieser Entwicklung in den Führungsgremien der Sportorganisationen noch immer unterrepräsentiert sind. So beträgt beispielsweise der Anteil der Frauen in den Präsidien der Landessportverbände lediglich 17 Prozent. Als ostdeutsche Abgeordnete bin ich dabei stolz darauf, dass gerade in den neuen Bundesländern ein ständiger Anstieg zu verzeichnen ist. ({1}) Fakt ist aber, dass dieser Anteil bei weitem noch nicht die Zahl der weiblichen Mitglieder widerspiegelt. Hier besteht also dringend Handlungsbedarf. Es kann nicht sein, dass Frauen, die in gleichem Maße leistungsfähig und qualifiziert sind wie Männer, immer noch bei der Vergabe von Führungspositionen benachteiligt werden bzw. sich selbst benachteiligen, indem sie manchmal zu zurückhaltend auf sich bietende Gelegenheiten reagieren. Ziel muss es sein, eine wirkliche Gleichstellung von Männern und Frauen zu erreichen; „gender mainstreaming“ scheint für mich hierbei der richtige Ansatz zu sein. Dieses Leitprinzip der Bundesregierung sieht vor, bei allen Planungen, Gesetzesvorhaben und Programmen die Gleichbehandlung von Männern und Frauen zu berücksichtigen. Dies ist meiner Ansicht nach auf andere Felder und Bereiche beliebig übertragbar und könnte dementsprechend auch Bestandteil des Handlungsmus-ters von Sportorganisationen werden. Ich denke, dass über diesen Weg mehr Akzeptanz erreicht werden kann - übrigens auch bei Männern - als mit einer isolierten Betrachtung der frauenspezifischen Belange. Das Präsidium des NOK für Deutschland hat im Februar 2000 beschlossen, bis zum Ende des Jahres einen konkreten Aktionsplan zur Förderung von Frauen zu erarbeiten, in dem „gender mainstreaming“ ein große Rolle spielt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu Beginn dieses Jahrtausends sind sehr viel mehr Frauen in den Präsidien der Spitzenverbände und Landessportbünde vertreten als noch vor zehn Jahren. Doch im Vergleich zur Politik ist die Teilhabe von Frauen an der Verantwortung im Sport in Deutschland noch erheblich im Rückstand. Es liegt nicht nur im Interesse der Frauen, dieses Defizit aufzuholen und sich ausreichende Mitwirkungsmöglichkeiten im Sport zu eröffnen. Es sollte auch an die demokratische Legitimation der Vereine und Verbände gedacht werden, die in der Zukunft auch an der Frage der Teilhabe von Frauen gemessen werden. ({2}) Der DSB ist mit einer Satzungsänderung auf dem richtigen Weg. Hierin wird festgeschrieben, dass der Anteil von Frauen in den Bundesausschüssen entsprechend ihren Mitgliederzahlen ausgerichtet werden soll und dass Frauen mindestens eine Funktion als Präsidentin bzw. Vizepräsidentin ausüben sollen. Auch das IOC kann die Augen vor diesen Entwicklungen nicht verschließen. In seiner Resolution der 2. IOCWeltkonferenz zum Thema „Frauen und Sport“ steht geschrieben - es wurde hier ja auch schon mehrfach erwähnt -: Die Konferenz erinnert daran, dass das Ziel der Olympischen Bewegung der Aufbau einer friedvollen und besseren Welt durch den Sport und das olympische Ideal ohne Diskriminierung irgendwelcher Art ist. Durch einige Punkte des Forderungskataloges wird aber dennoch deutlich, wie groß die Diskriminierung in den eigenen Reihen ist. So fordert das IOC, bis zum Ende des Jahres 2000 - es wurde schon von Herrn Hermann und von Frau Leutheusser-Schnarrenberger erwähnt - eine 10-prozentige Mindestvertretung von Frauen in Entscheidungspositionen zu erreichen, was schon 1996 vom IOC beschlossen wurde und leider immer noch nicht vollständig umgesetzt ist. Ein weiterer Punkt ist die Forderung nach einer Mindestvertretung von wenigstens einer Repräsentantin in nationalen Delegationen bei den internationalen und regionalen Versammlungen. Dieser Stand ist bei der Besetzung ebenfalls noch nicht erreicht. Das empfinde ich als sehr bedenklich. Ich kann nur immer wieder daran erinnern, dass wir uns im Jahre 2000 befinden und nicht im 18. Jahrhundert. Liebe Kolleginnen und Kollegen, für mich ist es unvorstellbar, dass es keine ausreichende Beteiligung von Frauen in den einzelnen Gremien gibt. Ich denke da an die vielen weiblichen Spitzensportlerinnen, die uns überall auf der Welt bei den Wettkämpfen vertreten, wie zum Beispiel Gunda Niemann-Stirnemann im Eisschnelllauf, Birgit Fischer im Kanusport oder Steffi Graf im Tennis, um nur einige unter den vielen zu nennen. Hier muss endlich etwas passieren. Die Sportorganisationen auf den unterschiedlichen Ebenen stellen sich durch diese Diskriminierung auf lange Sicht ein Armutszeugnis aus. Jetzt ist Handeln angesagt! Vielen Dank. ({3})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Irmgard Karwatzki für die CDU/CSU-Fraktion.

Irmgard Karwatzki (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001068, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich nehme mit einem lachenden und einem weinenden Auge zur Kenntnis, dass von dem für den Sport zuständigen Ministerium kein Vertreter auf der Regierungsbank sitzt. ({0}) Ich will hier nur anmerken: Würden wir hier heute schon über die Fußballweltmeisterschaft 2006 reden, säße nicht nur der Minister auf der Regierungsbank. Ich will nicht bezweifeln, dass der Minister noch in Zürich ist und erwarte auch gar nicht, dass er hier sitzt. Ich halte es aber für eine Missachtung des Parlaments, dass sein Haus überhaupt nicht vertreten ist. ({1}) - Lieber Herr Kollege Schmidt, ich sage das noch sehr freundlich. Ich weiß noch aus meiner Zeit als Parlamentarische Staatssekretärin, dass in vergleichbaren Fällen Kollegen aus Ihrer Fraktion gefordert haben, man müsse von 9 Uhr morgens bis 1 Uhr nachts auf der Regierungsbank sitzen. Insofern bitte ich, weiterzugeben, dass es so nicht geht. ({2}) - Ich bedanke mich sehr dafür, aber wir wollen hoffen, dass sich das in Zukunft ändert. Die Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger hat eben bereits gesagt, sie finde es begrüßenswert, dass wir uns darauf verständigt hätten, einen gemeinsamen Antrag eingebracht zu haben. Ich bin in Kollegenkreisen gefragt worden, ob es nichts Wichtigeres gebe, als sich für die Belange von Frauen im internationalen Sport zu engagieren. ({3}) - Ich glaube, es waren auch einige von Ihnen dabei. Zugegeben: Es gibt Ärgerlicheres auf der Welt. Doch wenn sich die Vorkämpferinnen der Frauenrechte in früheren Jahren oder die Lobbyisten in anderen Bereichen davon gibt es ja sehr viele - das auch jedes Mal gefragt hätten, wären viele Fortschritte für die Menschen nicht erreicht worden. Deshalb halte ich die erneuten Appelle an die Entscheidungsträger beim Internationalen Olympischen Komitee, die olympische Charta einzuhalten, nach wie vor für wichtig. Es lohnt, sich dafür einzusetzen. ({4}) Ich will nicht so viel von dem zitieren, was meine Vorrednerinnen und Vorredner aus allen Parteien hinsichtlich der Wichtigkeit des olympischen Geistes, der Freundschaft, der Solidarität und des Fairplay gesagt haben. Es ist alles gesagt worden und man braucht es nicht zu wiederholen. Ich möchte nur noch eines herausstellen: Wir müssen weiter daran arbeiten, dass sich die Sichtweise der Männer ändert. Eben hat jemand gesagt, sowohl das Internationale Olympische Komitee als auch die Nationalen Olympischen Komitees würden mehrheitlich von Männern beherrscht. Dennoch glaube ich, dass in der Zwischenzeit eine Sensibilisierung dahingehend eingetreten ist, dass es ohne Frauen auch im Sport und in den Führungsgremien des Spitzensports nicht geht. Insofern wurde in dieser Richtung eine Öffnung für viele Sportarten erreicht. Ich glaube dennoch, dass wir damit nicht zufrieden sein können. Die wenigen Frauen, die in diesen Gremien heute Verantwortung tragen - das ist ähnlich wie hier im Parlament -, sind aufgefordert, für die Frauen möglichst das zu erreichen, was aus der Sicht von Frauen im Sport stärker zum Tragen kommen sollte. Die Frauen, die Verantwortung tragen, müssen sich an der Lösung der Probleme im Hochleistungssport beteiligen. Die Frauen müssen sich in diesen Gremien auch stärker mit dem Kampf gegen das Doping beschäftigen. Es ist weiter wichtig, sich mit den ständig steigenden Leistungsstandards kritisch auseinander zu setzen. Abschließend: Es ist eigentlich ein Skandal, dass wir uns zu Beginn des dritten Jahrtausends mit der Frage der Diskriminierung von Frauen im Sport beschäftigen müssen. Herzlichen Dank. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. zur Diskriminierung von Frauen bei den Olympischen Spielen in Sydney 2000, Drucksache 14/3769. Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Damit ist der Antrag mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 sowie die Zusatzpunkte 8 bis 11 auf: 13. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. R. Werner Schuster, Joachim Tappe, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller ({0}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Afrikas Entwicklung unterstützen - Drucksache 14/3701 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({1}) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Tappe, Dr. R. Werner Schuster, Wilhelm Schmidt ({2}), Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller ({3}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Friedensbemühungen am Horn von Afrika verstärken - Drucksache 14/3767 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. R. Werner Schuster, Joachim Tappe, Brigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller ({4}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Demokratische und friedliche Kräfte im Sudan unterstützen - Drucksache 14/3768 ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim Tappe, Dr. R. Werner Schuster, Wilhelm Schmidt ({5}), Dr. Peter Struck und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack, Kerstin Müller ({6}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Konflikt in der Region der Großen Seen eingedämmt - nicht gelöst - Drucksache 14/3791 ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten Hübner, Fred Gebhardt, Heidi Lippmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Abschiebestopp für Flüchtlinge aus Äthiopien und Eritrea - Drucksache 14/3547 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({7}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Joachim Tappe von der SPD-Fraktion.

Joachim Tappe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002299, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Obwohl ich weiß, dass das Auswärtige Amt konzeptionell an einer neuen Afrikapolitik arbeitet, möchte ich unsere afrikapolitische Debatte am heutigen Tage mit einer kritischen These einleiten, die meines Erachtens den derzeitigen Zustand treffend beschreibt: Die deutsche Afrikapolitik agiert seit vielen Jahren sowohl unterhalb ihrer Möglichkeiten als auch - das halte ich für sehr viel gravierender - unterhalb der objektiven Notwendigkeit. Stattdessen befindet sie sich durchaus im Einklang mit der öffentlichen Meinung, die angesichts der zahlreichen Krisen und Konflikte in Afrika die Frage stellt, weshalb wir uns - auch mit Blick auf die Probleme im eigenen Land oder angesichts der europäischen Herausforderungen - überhaupt noch um Afrika kümmern. Selbst in diesem Hause hat es erheblichen Rechtfertigungsdruck für die heutige Debatte gegeben. ({0}) Realität ist, dass nach dem Wegfall des Ost-West-Konfliktes Afrika politisch marginalisiert worden ist und tatsächlich zum vergessenen Kontinent mutiert, der lediglich dann Aufmerksamkeit erzielt, wenn wieder einmal Bilder von hungernden oder sterbenden Kindern als Ausdruck einer humanitären Katastrophe an unser Mitleid appellieren. Dass die afrikanischen Länder in der deutschen Außenpolitik - noch, wie ich hoffe - eine niedrige Priorität genießen, halte ich für einen schweren Fehler. Deshalb begrüße ich es sehr, dass es in der Bundesregierung ernsthafte Überlegungen gibt, unsere Afrikapolitik neu zu justieren. ({1}) Der Deutsche Bundestag will sich mit der heutigen Debatte konstruktiv in diese Diskussion einbringen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Afrikapolitik ist auch Interessenpolitik. Ich will von den vielfältigen deutschen Interessen gegenüber Afrika zwei exemplarisch benennen, die in der öffentlichen Diskussion meines Erachtens nicht die notwendige Aufmerksamkeit finden: erstens unser existenzielles Interesse an einer stabilen und friedlichen Weltordnung, die ohne Afrika mit seinen bald 1 Milliarde Menschen nicht möglich ist. Das bedeutet: Die Länder Subsahara-Afrikas dürfen nicht dem Staatsverfall, dem Chaos und auch nicht kriminellen und korrupten Despoten ausgeliefert werden, auch wegen der Gefahren des Übergreifens solcher Beispiele, wie wir sie leider zuhauf aus Afrika kennen, auf andere Weltregionen. Das Auseinanderklaffen der Nord-Süd-Wohlstandsschere verstärkt zusätzlich die weltweite politische Instabilität, deren sichtbare Zeichen der internationale Terrorismus mit all seinen innenpolitischen Implikationen und natürlich auch der religiöse Fundamentalismus sind. Ich verweise hierbei auch auf den sich verstärkenden Migrationsdruck, gerade aus Afrika. Zweitens. Ein weiteres, überragendes Interesse deutscher Politik an Afrika liegt im Erhalt dieses riesigen Ökosystems für den globalen Lebensraum Erde. Dabei müssen wir uns klarmachen, dass Afrika Opfer und weniger Verursacher der kontinentalen Umweltzerstörung ist. ({2}) Desertifikation, Bodendegradation und hohe Wasserknappheit, verstärkt durch ein hohes Bevölkerungswachstum, und die damit verbundene Erschöpfung und Zerstörung ökologischer Ressourcen sind in jüngster Vergangenheit bereits Ursache für heftige und blutige Konflikte gewesen. Wenn wir nicht helfen, diese Probleme wirksam zu lösen, dann werden unsere Kinder und Enkel die Konsequenzen und Auswirkungen teuer bezahlen müssen. Zur Wahrung dieser zentralen Interessen scheint mir eine stärkere Gewichtung deutscher Afrikapolitik notwendig zu sein. ({3}) Jeder von uns weiß, dass die Architektur der Weltfinanzen, die hohe Verschuldung, das Abgekoppeltsein von den Globalisierungsprozessen und die Terms of Trade neben den hausgemachten Ursachen die größten Entwicklungshemmnisse für die Afrikaner darstellen. Nun weiß auch ich, dass im bilateralen Kontext vieles unzulänglich und unzureichend bleiben wird. Deshalb sollten die Vertreter der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik im Rahmen der GASP stärker auf eine Europäisierung der Afrikapolitik drängen, selbst dann, wenn wir mit französischen, britischen oder auch mit amerikanischen Interessen in Konflikt geraten sollten. ({4}) Erste Schritte hin zu einer europäischen Koordinierung ist die Bundesregierung - dankenswerterweise - bereits gegangen. Meine persönliche Afrikaerfahrung lehrt mich, dass trotz umfangreicher Hilfen, die seit mehr als 30 Jahren geleistet werden, der Armutsgraben noch tiefer geworden ist, auch deshalb, weil nicht immer die richtigen Prioritäten gesetzt worden sind, ({5}) zu vieles unkoordiniert und in Konkurrenz zueinander geschieht, worunter die Effizienz gelitten hat. Eine Entmythologisierung der weltweiten Entwicklungszusammenarbeit scheint mir deshalb unausweichlich zu sein. ({6}) Dieser Effizienzdebatte müssen wir uns zwar stellen. Aber diese Diskussion - das fordere ich bewusst als Außenpolitiker - darf nicht nur unter entwicklungspolitischen Gesichtspunkten geführt werden. Wir müssen Afrika endlich auch als außenpolitischen Faktor wahrnehmen. ({7}) Dazu gehört auch - das sage ich durchaus kritisch auch in Richtung Bundesregierung - das Überdenken der Botschaftsschließungen und der unzureichenden Möglichkeiten deutscher Kulturpolitik in Afrika. ({8}) In unserem Engagement für Afrika sollten wir uns trotz aller Rückschläge, die es in verstärktem Maße in den letzten Jahren gegeben hat und die es leider auch in Zukunft geben wird, nicht entmutigen lassen. Die Wunden Afrikas, so sagte mir jüngst ein afrikanischer Freund, sind unsere Politiker, die ihre eigenen Interessen vor das Wohlergehen der Menschen stellen. Wir haben - daran sollten wir uns durchaus erinnern - in der Vergangenheit oft genug auf das falsche Pferd gesetzt. Jedem Abgeordneten in diesem Hause fallen in diesem Zusammenhang sicherlich entsprechende Namen ein. Trotz aller Probleme, die Afrika hat, wage ich eine weitere These: Afrika ist der Kontinent der Zukunft. ({9}) Es wird zwar noch drei oder vier Generationen dauern. Aber den Afrikanern wird der Übergang von dem riesigen Spagat, den sie heute noch machen müssen, nämlich mit einem Bein in der Eisenzeit und mit dem anderen in der Moderne zu stehen, zum aufrechten Gang gelingen. Ich gründe meine These auf Beobachtungen, die ich in den letzten zwei, drei Jahren bei meinen zahlreichen Besuchen in Afrika verstärkt machen konnte. Ich will einige signifikante Beobachtungen nennen. Erstens. Zunehmend mehr Afrikaner begreifen den Unterschied zwischen Befreiung und Freiheit. Zweitens. Die jungen afrikanischen Eliten in Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur, die nicht durch den Unabhängigkeitskampf geprägt sind, erkennen zunehmend, dass die Legitimation von Macht, die sich in den absolutistischen Attitüden der ehemaligen Guerillakämpfer pervertiert, nicht ausreicht, ein Land zu regieren. ({10}) Drittens. Der historisch zu nennende Wandel in Südafrika, die Beendigung des 20 Jahre währenden grausamen Bürgerkriegs in Mosambik, die Rückkehr Nigerias in die demokratische Staatengemeinschaft, die jüngsten Wahlen in Simbabwe, der friedliche Machtwechsel im Senegal, die in vielen afrikanischen Ländern spürbare Verbesserung der Menschenrechtssituation, die Fortschritte, die sich in der Presse- und Medienlandschaft zeigen, die Pluralisierung politischer Systeme mit einer Stärkung parlamentarischer Rechte, die in vielen Ländern angestrebte Dezentralisierung mit dem Ziel einer größeren Teilhabe der Menschen an politischen Entscheidungen - alles das sind ermutigende Entwicklungen, zu denen auch deutsche Afrikapolitik in der Vergangenheit maßgeblich beigetragen hat. Viertens. Viele politisch verantwortliche Afrikaner haben in der Zwischenzeit erkannt, dass sie in den letzten 40 Jahren ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. ({11}) Bei meinem letzten Besuch in Tansania hat uns der tansanische Staatspräsident zum Schluss gesagt: Wir haben 40 Jahre lang auf die Geberländer geschaut und gefragt: Was könnt ihr für uns tun? Dabei haben wir die Frage verdrängt: Was müssen wir eigentlich selbst für uns tun? Ich finde, das gibt Hoffnung. ({12}) Seien wir uns darüber im Klaren: Wirksame und auf Akzeptanz ausgerichtete Afrikapolitik beginnt bei uns zu Hause und sie nötigt uns darüber hinaus, in größeren zeitlichen Dimensionen zu denken. Politik für Afrika erfordert deshalb von uns vor allem Geduld und bis zu einem gewissen Grade auch Nachsicht; denn wie unsere eigene Demokratiegeschichte zeigt: Der Weg zu politischer Stabilität ist ein langer und schwieriger Prozess, der bekanntlich auch bei uns nicht frei von Konflikten und Katastrophen war. Auch deshalb sollten wir uns vor Arroganz und besserwisserischer Überheblichkeit gegenüber unseren afrikanischen Partnern hüten und im Rahmen der in Sonntagsreden oft beschworenen weltweiten kulturellen Vielfalt akzeptieren, dass die afrikanische Geschichte lange vor der Kolonisierung mit der Herausbildung eigener Werte, eigener Kulturen und eigener Traditionen begonnen hat. ({13}) Diese ernst zu nehmen erfordert auch, unsere staatsfixierten Entwicklungshilfekriterien kritisch zu hinterfragen ({14}) und beispielsweise darüber nachzudenken, ob die ritualisierte demokratische Debatte nach westlichen Mustern das afrikanische, konsensorientierte Palaver, gegründet auf Alter und Weisheit, in allen Fällen ersetzen kann oder gar muss und ob Formen traditioneller Rechtsfindung der afrikanischen Identität und der Realität nicht besser entsprechen und dennoch rechtsstaatlichen Prinzipien genügen. Das heißt für mich: Wir müssen den Afrikanern Zeit und Gelegenheit lassen, eigene Formen ihres gesellschaftlich organisierten Zusammenlebens zu entwickeln und diese müssen wir dann auch akzeptieren. Eine fortschreitende Entafrikanisierung und eine kulturelle Entwurzelung der Afrikaner scheint mir der falsche Weg zu sein, partnerschaftlichen Umgang, der nötig ist, um den Afrikanern ihre Menschenwürde zurückzugeben, in gleicher Augenhöhe zu pflegen. Die Koalitionsfraktionen legen deshalb vier Anträge vor: einen mit dem Titel „Afrikas Entwicklung unterstützen“, der die grundsätzliche Dimension deutscher Afrikapolitik thematisiert. Weil Afrika kein homogener Kontinent ist, sondern - im Gegenteil - eine Region mit höchster Diversität, flankieren wir diesen Antrag aktuell mit regional- und problemorientierten Handlungsoptionen: erstens zur Unterstützung eines möglichen Friedensprozesses im Sudan, zweitens zur aktuellen Entwicklung am Horn von Afrika und drittens zur friedlichen Entwicklung in Zentralafrika, in der Schlüsselregion der Großen Seen. Das Bedürfnis nach hoher Aktualität hat leider dazu geführt, dass diese Anträge erst sehr spät vorgelegt worden sind. Ich bitte um Entschuldigung, aber auch um Verständnis dafür. Mein letzter Satz, Frau Präsidentin.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das muss auch wirklich der letzte sein.

Joachim Tappe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002299, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Alle Anträge verfolgen das Ziel, die Bundesregierung aufzufordern und zu ermutiJoachim Tappe gen, im aufgeklärten deutschen Eigeninteresse noch mehr für Afrika zu tun und damit auch einen wichtigen Beitrag zur Krisenprävention zu leisten. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner für die Fraktion der CDU/CSU ist der Kollege Rudolf Kraus.

Rudolf Kraus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001202, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die letzte Afrikadebatte liegt erst kurze Zeit zurück: Sie fand am 18. Februar dieses Jahres statt. Damals ging es um den Antrag der CDU/CSU-Fraktion mit der Überschrift „Afrika darf nicht zu einem vergessenen Kontinent werden“. Dieser Antrag hat als Positives im Wesentlichen nur eines bewirkt, nämlich dass wir heute wieder über Afrika diskutieren, weil auch die Koalitionsfraktionen entsprechende Anträge eingereicht haben. Im Übrigen ist seitdem leider nur ganz wenig bis nichts passiert. Ich entnahm der Rede meines Kollegen von der SPD, dass offensichtlich auch viele Kollegen der Koalitionsfraktionen die Situation ähnlich beurteilen. Einen Teil der Rede, die ich damals gehalten habe, könnte ich praktisch heute wieder vorlesen. Die Bundesregierung hat keine Initiativen ergriffen, die erkennen lassen, dass sie wirklich bereit wäre, sich etwas einfallen zu lassen, was zur Verbesserung der Situation in Afrika beitragen kann. ({0}) - Herr Dr. Schuster, ich bin ganz sicher, dass gleich noch aufgezählt wird, was alles an Positivem geleistet wurde; ich bin darauf gespannt und werde genau zuhören. Ich habe am 18. Februar 2000 gesagt, dass es in Afrika eine ganze Menge von Anzeichen für eine bessere Entwicklung gibt. Ich habe festgestellt, dass nach zwei Jahrzehnten der Stagnation und des Niedergangs das Wirtschaftswachstum in Afrika in der zweiten Hälfte der 90erJahre erstmals wieder etwas stärker als seine Bevölkerung gewachsen ist. Ich habe vorgetragen, dass sich die zunehmende Reformorientierung in Afrika offenbar auf einen wachsenden Bewusstseinswandel der politisch Verantwortlichen gründet und sich mehr und mehr afrikanische Regierungen und Entscheidungsträger zu ihrer Eigenverantwortung für die Entwicklung bekennen. Diese positive Entwicklung stockt allerdings derzeit. Seit langem gibt es ja die kriegerischen Auseinandersetzungen im Sudan, in Somalia, in Sierra Leone, in Liberia und in der Demokratischen Republik Kongo. Dabei habe ich noch nicht die Länder aufgeführt, in denen der Frieden noch immer sehr trügerisch wirkt. Dabei habe ich in erster Linie die Region der Großen Seen im Auge. Ganz sicher sind nun zwei Gebiete hinzugekommen, in denen die kriegerischen Auseinandersetzungen eine ganz andere Qualität erhalten haben. Ich meine Eritrea und Äthiopien sowie Simbabwe. Dabei hatten gerade in Simbabwe gute Voraussetzungen für eine weitere demokratische und wirtschaftliche Entwicklung vorgelegen. Es gab eine ausgedehnte Zivilgesellschaft und es gab einen relativ breiten Mittelstand. Präsident Mugabe legte nunmehr fest, dass mehr als 600 weißen Farmern gehörende Farmen ohne Entschädigung verstaatlicht werden können, nachdem er vorher zu Landbesetzungen angestiftet hatte. Dennoch bleibe ich dabei, dass die Entwicklung der Zivilgesellschaft in den Ländern Afrikas eine ganz entscheidende Voraussetzung sowohl für eine Hinwendung zu demokratischen Verhältnissen als auch für eine Besserung der wirtschaftlichen Situation ist. Doch gerade der Zivilgesellschaft Afrikas droht derzeit ein weiteres Risiko - besser gesagt: die Katastrophe ist bereits eingetreten - von einem kaum kalkulierbaren Ausmaße. Ich denke an die Krankheit Aids. Nach zwischenzeitlich vorliegenden Informationen wird es immer deutlicher, welche schreckliche Bedeutung Aids schon für die gegenwärtige Situation und vor allem für die zukünftige Entwicklung Afrikas hat. Kein Staat und kein Kontinent auf der Welt sind so stark von der Ausbreitung dieser Immunkrankheit betroffen wie Afrika. Schätzungsweise 14 Millionen Menschen sind daran bereits gestorben. 22 Millionen Menschen sind infiziert. Man sagt, dass fünf von sechs Erkrankten auf der ganzen Welt in Afrika leben. Angesichts der Tatsache, dass dort täglich 5 500 Menschen an Aids sterben und sich 11 000 Menschen neu infizieren kann man erkennen, welche Katastrophe eingetreten ist. Viele Forscher fürchten, dass sich diese Zahlen in den nächsten Jahren verdoppeln werden. Bereits heute hat Aids in den Ländern des südlichen Afrikas zu einer Senkung der Lebenserwartung um zehn Jahre geführt. Es muss befürchtet werden, dass im nächsten Jahrzehnt die Lebenserwartung um weitere zehn Jahre zurückgeht. Aids wird deshalb viele Staaten Afrikas südlich der Sahara in ihrer Entwicklung um Jahrzehnte zurückwerfen. Die mittlerweile rund 10 Millionen Aidswaisen stellen Afrikas bislang größte soziale Katastrophe dar. Sie bedürfen dringend unserer Hilfe, da immer mehr von ihnen von Vernachlässigung und Ausbeutung bedroht sind, sich oft als Straßenkinder durchschlagen müssen und keine funktionierende soziale Umgebung mehr vorfinden. ({1}) Die Ausbreitung von Aids in Afrika hat Auswirkungen auf ganze Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens. Das Ausmaß ist von der Größenordnung her ganz sicher vergleichbar mit den Entwicklungen im mittelalterlichen Europa, als die Pestepidemien auftraten. Vielleicht dauert es etwas länger als früher, bis die Menschen in großer Zahl hinweggerafft werden. Aber letztendlich besteht der Unterschied nur darin, dass Aids gerade die arbeitsfähigen und aktiven Jahrgänge betrifft, was das Elend natürlich gewaltig vergrößert. Anhand eines prozentualen Vergleichs kann man feststellen, dass in manchen Ländern des südlichen Afrikas in den nächsten Jahren mehr Menschen ihr Leben verlieren, als es durch die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges in Europa der Fall war. Es handelt sich also um eine Katastrophe gigantischen Ausmaßes. Die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen sind in einem erschreckendem Ausmaße davon betroffen. Es drohen Verelendung, Verrohung und politische Lethargie. Es gibt keine Möglichkeit mehr, die demokratische Entwicklung voranzutreiben. Vom Sterben in Würde kann natürlich überhaupt keine Rede sein. Man muss sich vorstellen, dass in vielen Fällen die Menschen miserabel gepflegt werden und dass die medizinische Versorgung keinesfalls auch nur annähernd ausreichend ist. Das ist erklärbar angesichts der Tatsache, dass die medizinische Versorgung mit Medikamenten für einen Tag oft mehr kostet, als manche in Monaten verdienen. Ich glaube, dass gerade ein Industrieland wie die Bundesrepublik Deutschland, aber auch ganz Europa gefordert ist, diesem himmelschreienden Elend wenigstens dadurch zu begegnen, dass man versucht, Medikamente zu bezahlbaren Preisen bereitzustellen. ({2}) Es müssen furchtbare körperliche, aber auch seelische Qualen sein, die die Menschen erleiden müssen, wenn sie erkennen, dass sie nicht gut versorgt werden, und wenn sie insbesondere mit ansehen müssen, wie ihre Hinterbliebenen ins Elend gestürzt werden. Aids stellt sich zunehmend als eine Herausforderung für die deutsche Entwicklungspolitik dar. Es entwickelt sich in immer größerem Maße zu einem destabilisierenden Faktor in Afrika. Ich möchte an dieser Stelle noch darauf aufmerksam machen, dass das BMZ die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika in diesem Jahr insgesamt um circa 20 Prozent gekürzt und damit auf den niedrigsten Stand seit 1972 heruntergefahren hat. ({3}) - Herr Kollege Hornhues, ich werde es speziell für Sie noch einmal ganz deutlich sagen: Die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika sind in diesem Jahr um insgesamt 20 Prozent gekürzt worden und haben damit den niedrigsten Stand seit 1972 erreicht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte zum Schluss meiner kurzen Rede noch ganz kurz auf den Antrag der Fraktionen der SPD und der Bündnisgrünen „Afrikas Entwicklung unterstützen“ eingehen. Der Antrag enthält aus unserer Sicht relativ wenig Neues. Er enthält nach meiner Auffassung viele Allgemeinplätze und gibt der Regierung im Gegensatz zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU keinerlei wirklich konkrete Hinweise, was in Afrika schnell besser gemacht werden kann und sollte. Das ist allerdings nicht so schlimm, weil die Regierung, wenn sie denn will, sich an den Antrag der Fraktion der CDU/CSU halten und die in ihm gegebenen konkreten Anleitungen übernehmen kann. Wegen der kurzfristigen Vorlage der Anträge der Fraktionen der SPD und der Bündnisgrünen „Demokratische und friedliche Kräfte im Sudan unterstützen“ usw. bestand für uns nicht die Möglichkeit, diese Anträge wirklich einer inhaltlichen Prüfung zu unterziehen. Dennoch soll bereits heute über diese Anträge abgestimmt werden. Wir denken, dass das gegenüber der Opposition nicht ganz richtig ist. Es ist ein Zeichen mangelnden Respekts gegenüber der Opposition, derartige Dinge so kurzfristig vorzulegen. Weil aber in diesen Anträgen sicherlich auch gute Gedanken enthalten sind, werden wir zwar nicht zustimmen, uns aber der Stimme enthalten. Ich bedanke mich. ({4})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die Bundesregierung spricht jetzt der Bundesminister des Auswärtigen, Joseph Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „The Economist“, eine Wirtschaftszeitung aus Großbritannien, hat am 13. Mai getitelt: „Hopeless Africa“, hoffnungsloses Afrika. Ich teile diese Meinung überhaupt nicht. Die Europäische Union hat auch klar gemacht, dass wir uns eine solche resignative Position, ob wir es wollen oder nicht, als Europäer, als Bewohner des Nachbarkontinents nicht erlauben können. Deshalb war der erstmals durchgeführte Gipfel zwischen der Organisation Afrikanischer Staaten und der Europäischen Union in Kairo ein so überaus wichtiges Signal. ({0}) All denjenigen - lassen Sie mich das gleich hinzufügen, Herr Tappe -, die eine verstärkte Europäisierung unserer Afrikapolitik fordern, sage ich: In der Tat hat sich die Bundesregierung auf diesem Gipfel dafür eingesetzt und sie hat gegen historisch gewachsene nationale Eigenheiten, um es ganz diplomatisch zu formulieren, auch durchgesetzt, dass wir auf dem eingeschlagenen Weg des engen Kontaktes, der partnerschaftlichen Zusammenarbeit „auf gleicher Augenhöhe“ zwischen den beiden Nachbarkontinenten weitergehen und insofern auch eine Verstetigung der Zusammenarbeit auf dieser Ebene erreichen. Gestatten Sie mir, verehrter Herr Vorredner von der Opposition, folgenden Hinweis: Ich glaube, diese Diskussion bringt innenpolitisch nichts, afrikapolitisch aber schon gar nichts. Denn wenn Ihre Position richtig wäre, würde dies bedeuten, dass die Bundesregierung eine blühende Afrikapolitik vorgefunden und diese in eineinhalb Jahren zerschlagen hätte. ({1}) Ihre Analyse der Aids-Problematik erkenne ich als richtig an. Ein Blick auf die erste Seite der heutigen Ausgabe der „Herald Tribune“ macht klar, um was für ein wirklich dramatisches Problem es sich dabei handelt. Ich könnte es mir ganz einfach machen, würde mich dann allerdings auf dasselbe unfruchtbare Niveau der innenpolitischen Auseinandersetzung begeben, wenn ich fragen würde: Was haben Sie denn in den 16 Jahren Ihrer RegieRudolf Kraus rungsarbeit gemacht? Dieses Problem hat sich ja nun wirklich nicht über Nacht aufgebaut, sondern über Jahre, um nicht zu sagen: weit über ein Jahrzehnt. Insofern rate ich dringend dazu: Lassen Sie uns diese Form der Debatte beenden, weil die Afrikapolitik, die Gott sei Dank auch in der Vergangenheit durchaus breiter fundiert war, sonst Schaden nehmen würde. Wir würden damit einer billigen innenpolitischen Münze den Vorrang vor einer unter schwierigen Bedingungen erreichten gemeinsamen afrikapolitischen Initiative in diesem Haus einräumen. ({2}) Reden wir doch nicht drum herum: Wir sind uns einig, dass für die Afrikapolitik mehr getan werden müsste. Die Verteidigungspolitiker sitzen zusammen und meinen, es müsste mehr für die Verteidigungspolitik getan werden. So sitzen alle Fachpolitiker zusammen und denken in erster Linie an ihr Ressort. ({3}) - Ich sage ja auch gar nicht, dass alles eine Frage des Geldes ist. Aber ich wende mich hier gerade an den Oppositionsredner und gerade im Zusammenhang mit dem, was er gefordert hat, ist vieles eine Frage des Geldes, vor allen Dingen wenn er der Bundesregierung vorwirft, ({4}) dass beim Entwicklungshaushalt Kürzungen in Höhe von 20 Prozent vorgenommen worden seien. Da kann ich Ihnen nur sagen: Sie haben uns einen Haushalt hinterlassen - ({5}) - Nein, das müssen Sie sich anhören. ({6}) Denn wenn Sie meinen, dass es mir Spaß machen würde, Botschaften und Generalkonsulate zu schließen, oder wenn Sie meinen, dass es der Kollegin Wieczorek-Zeul Spaß machen würde, Entwicklungshilfemittel zurückzufahren, statt sie zu erhöhen, und ich würde sie dabei gerne unterstützen, dann täuschen Sie sich! Ich sage Ihnen: Wir müssen hier eine Sanierungsphase durchlaufen. Das werden wir auch tun und dann werden gerade in diesem Bereich wieder Aufwüchse zu verzeichnen sein. Der Zwischenruf „Nicht alles ist eine Frage des Geldes“ ist richtig. Dennoch dürfen wir das Geld nicht vergessen; sonst bleiben wir bei schönen Worten und dabei wollen wir es nicht belassen. Ansonsten stimme ich Ihnen darin völlig zu. Der gegenwärtige Blick auf Afrika - die Vorredner haben es schon dargestellt - zeigt viel Schatten, aber auch viel Licht. Wenn man realistisch auf Afrika blickt, kann man meines Erachtens durchaus eine optimistische Position einnehmen. Vor allen Dingen sollten wir keine paternalistische Position einnehmen, schon gar nicht als Europäer. ({7}) Ich will die Geschichte unserer Kontinente nicht vergleichen. Missverstehen Sie mich nicht; ich behaupte nicht, dass sich Afrika auf dem Stand befindet, auf dem sich Europa im Jahre 1945 befunden hat. Aber der Blick etwa auf den europäischen Kontinent im Jahre 1932 zeigte einen Kontinent, der erneut der Selbstzerstörung entgegentrieb. Die Behauptung einer britischen Zeitung ich glaube, es war die „Times“ -, der Konflikt im Kongo sei der Erste Weltkrieg Afrikas, ist sicher eine Überspitzung. Und doch hat sie auch etwas Wahres. Wenn ich heute auf den Balkan schaue, erkenne ich viele Elemente des Konflikts, den man, mit denselben verderblichen, fatalen Konsequenzen, an vielen Orten in Afrika findet. Für Paternalismus, für Überlegenheitsgefühle, für eine hochnäsige europäische Haltung gibt es auch und gerade angesichts der kolonialen Vergangenheit überhaupt keine Veranlassung. ({8}) Deswegen denke ich, ist es das Wichtigste, dass wir unseren Beitrag zu einer neuen Partnerschaft leisten. Neue Partnerschaft setzt aber voraus, dass man von Gleich zu Gleich und nicht paternalistisch verkehrt. Sie setzt voraus, dass man bereit ist, bei einer humanitären Katastrophe, bei einer Naturkatastrophe großzügig zu helfen. Wir haben dies in Mosambik gezeigt. In Mosambik haben wir im Zusammenhang mit dem dortigen Aufbau der Krisenbewältigungskapazitäten der Europäischen Union, der jetzt gemeinsam mit den Skandinaviern vorgenommen wird, insistiert - mittlerweile haben wir es durchgesetzt -, gleichzeitig zivile Krisenbewältigungskapazitäten aufzubauen. Dies hat sich als überaus wichtig erwiesen. Wenn es so ist, dass wir in Zukunft verstärkt mit globalen Katastrophen zu tun haben werden, bei denen sehr schnell, faktisch aus dem Stand heraus, Hilfe über 10 000 und mehr Kilometer geleistet werden muss, weil die Möglichkeiten dort regional nicht gegeben sind, dann müssen wir dafür die entsprechenden Hilfsmittel bereithalten. Das ist eine Konsequenz aus der Erfahrung der Flutkatastrophe in Mosambik. Besonders tragisch ist, dass es ein Land nach einem jahrelangen blutigen, furchtbaren Bürgerkrieg getroffen hat, das sich auf den Weg einer hoffnungsvollen Entwicklung gemacht hat und in dem nun die Anstrengungen, die Mühsal, die harte Arbeit der Menschen von Jahren von einem Sturm zunichte gemacht worden sind. Deswegen sehen wir uns in der Pflicht, Mosambik hier nicht allein zu lassen. ({9}) Gestatten Sie mir, an diesem Punkt auf die Frage zu kommen: Was habt ihr gemacht? Die Kölner Entschuldungsinitiative, die die Bundesregierung, namentlich Bundeskanzler Schröder, als zentralen Punkt unserer G7-/G8-Präsidentschaft durchgesetzt hat, hat vor allen Dingen die Ärmsten der Armen, überwiegend die afrikanischen Länder, entlastet. ({10}) - Das ist nicht richtig. ({11}) - Da können Sie gerne sagen: Schauen wir einmal. Diese Initiative hätte ich mir schon viel früher von Ihnen gewünscht. ({12}) Ein weiterer für mich in diesem Zusammenhang sehr wichtiger Punkt ist, dass wir Acht geben müssen, dass mit Afrika nicht ein ganzer Kontinent von der Entwicklung der Weltwirtschaft abgekoppelt wird. Hier im Rahmen des Lomé-Abkommens einen neuen Akzent zu setzen war, glaube ich, sehr wichtig. Im Zusammenhang mit der Informationsgesellschaft auch über die Frage des Analphabetismus zu diskutieren, darauf Acht zu geben, dass der Graben zwischen der Weltwirtschaft und einem ganzen Kontinent nicht tiefer, sondern zugeschüttet wird, wird eine der Hauptaufgaben der zukünftigen Afrikapolitik sein. ({13}) Gleichzeitig wird es darauf ankommen, klarzumachen, dass partnerschaftliche Zusammenarbeit auch bedeutet, an die Eigenverantwortung der Afrikaner und vor allen Dingen der afrikanischen Eliten zu appellieren. Eine gute Regierung, Demokratie, Transparenz und die Bekämpfung von Korruption, all dies sind keine spezifischen Herausforderungen nur für die Regierungen in Afrika. Das gilt für Asien, für Amerika und für Europa ganz genauso. Die Herrschaft des Rechts ist die Voraussetzung einer rechtsstaatlichen, demokratischen Entwicklung. ({14}) Diese Herrschaft des Rechts hat nichts mit Kulturimperialismus oder mit dem Aufdrücken von fremden Werten zu tun. Ich behaupte vielmehr: Die Herrschaft des Rechts ist kompatibel mit jeder menschlichen Kultur auf unserem Globus. Insofern kommt es ganz entscheidend darauf an, dass einige Grundprinzipien, denen wir uns alle verpflichtet haben, indem wir die entsprechenden Konventionen der Vereinten Nationen unterzeichnet haben, tatsächlich durchgesetzt werden. Denn anderenfalls - das müssen wir immer wieder feststellen - setzt die Abwärtsspirale von Korruption, politischer Unterdrückung und Unterentwicklung erneut ein. Hier gibt es durchaus beeindruckende positive Entwicklungen. Mosambik habe ich genannt; Botswana und andere Länder könnte ich hier zusätzlich anführen. Gleichzeitig füge ich aber hinzu, dass ich die Entwicklung im südlichen Afrika mit großer Sorge betrachte. Ich spreche hier nicht von dem tragischen 30-jährigen Krieg zum Beispiel in Angola. Dies ist eine furchtbare Tragödie. Ich spreche hier nicht von der Tragödie am Horn von Afrika. Ich spreche hier nicht von der verantwortungslosen Absurdität des Krieges zwischen Eritrea und Äthiopien. Ich spreche auch nicht von dem 30-jährigen Bürgerkrieg im Sudan oder von der furchtbaren Barbarei in Westafrika. Das alles sind Katastrophen, denen wir uns zuwenden müssen und angesichts derer es im Rahmen der Mittel, die wir haben, unserer Solidarität bedarf. Ich spreche hier vor allen Dingen von Simbabwe und der Entwicklung im südlichen Afrika. Denn ich glaube, unsere Afrikapolitik darf keine kontinentale sein. Vielmehr brauchen wir einen Ansatz im Hinblick auf eine regionale Stabilisierung. Das ist für mich der entscheidende Punkt. ({15}) Deswegen kommt Ländern wie Südafrika und Nigeria eine überragende Bedeutung zu. Selbst unter den Bedingungen der Militärdiktatur, die hier im Hause zu Recht scharf kritisiert und bekämpft wurde, war Nigeria für Westafrika ein entscheidender Stabilitätsanker. Dies dürfen wir nie vergessen. Vor dem Hintergrund einer regionalen Stabilisierung macht mir die Entwicklung im südlichen Afrika in der Tat sehr große Sorgen. Warum? Weil in der Frage der Landverteilung en masse Sprengstoff verborgen liegt. In Simbabwe, in einem Land, das zu den potenziell reichsten Ländern gehört und eigentlich ein Stabilitätsanker sein müsste, wird zum Zweck des Machterhalts und zulasten der dortigen Demokratie mit der offenen Fackel im Sprengstoffschuppen hantiert. Das kann Auswirkungen auf das gesamte südliche Afrika, auf Südafrika und Namibia, haben. Wir müssen ein überragendes Interesse daran haben, dass Südafrika jenen vom Vorredner zu Recht als großartig bezeichneten demokratischen Weg hin zu Versöhnung, Aussöhnung und Entwicklung - auch unter schwierigen Bedingungen - weiter erfolgreich geht. Wir haben ebenso ein Interesse an einer Entwicklung in Namibia, die nicht rückwärts läuft. Das hängt allerdings davon ab, ob die Frage der Landverteilung friedlich gelöst wird oder ob sie gegen die Demokratisierung und zum Zwecke des Machterhalts instrumentalisiert wird. Insofern kommt dieser Frage aus unserer Sicht eine überragende Bedeutung zu. Die Demokratisierung und die Herrschaft des Rechts, die Stärkung regionaler Stabilisierungsbemühungen regionaler Organisationen, aber natürlich auch die Stärkung der Eigenkräfte, auch der ökonomischen Eigenkräfte, sind also die Elemente einer neuen Afrikapolitik. Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Punkt aufnehmen, den der verehrte Vorredner der Opposition angesprochen hat: Ich freue mich, dass Sie das Thema Aids so stark in den Mittelpunkt gerückt haben. Sie haben in der Tat Recht - der Bundesverteidigungsminister, die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und ich haben das auf unseren Reisen nach Afrika mitbekommen -: Die Gefahr, die von AIDS ausgeht, die Zerstörung der Kultur, der Sozialstruktur in ihrem innersten Kern, nämlich der Familie, ist auch eine politische Gefahr, die Gefahr der sozialen Destabilisierung. Diesem Problem müssen wir uns dringend zuwenden. Das ist eine Aufgabe, die Deutschland nicht alleine lösen kann. Hier ist in der Tat die Europäische Union gefragt, hier liegt ein weiterer Europäisierungsansatz in der Afrikapolitik. Das ist für mich ein ganz entscheidender Punkt. Trotz aller Unterschiede, die es zwischen Regierung und Opposition wohl geben muss, stelle ich aber ein hohes Maß an Übereinstimmung fest. Entlang der Grundsätze, die ich Ihnen hier dargestellt habe, werden wir, die Bundesregierung, die neue Afrikapolitik der regionalen Stabilisierung entwickeln. Wir werden versuchen, sie mit den vorhandenen Mitteln umzusetzen, eng eingebunden in eine neue Afrikapolitik der Europäischen Union. Ich bedanke mich. ({16})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Joachim Günther.

Joachim Günther (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000750, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der afrikanische Kontinent stellt für die Außen- und Entwicklungspolitik eine besondere Herausforderung dar. Dort leben über 800 Millionen Menschen, etwa 580 Millionen südlich der Sahara. Beinahe 200 Millionen Afrikaner sind chronisch unterernährt. 23 Millionen Kinder leiden an Mangelernährung. 6 Millionen Menschen in Afrika sind Flüchtlinge. Trotz dieser im Vergleich zu anderen Regionen der Welt schlimmen Gesamtbilanz wäre es falsch, von einem allgemeinen Afropessimismus zu sprechen. Vielmehr muss die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Afrika differenziert beurteilt werden. Eine Reihe afrikanischer Staaten hat, vor allem bei der Demokratisierung, eine beachtliche Entwicklung erzielen können. In 20 afrikanischen Staaten liegt das reale Wachstum inzwischen bei 4 bis 6 Prozent. Die Lebenserwartung der Menschen in Afrika ist seit 1960 um 25 Prozent gestiegen; die Gefahren der Gegenwart wurden vorhin bereits aufgeführt. Der Zugang zur schulischen Ausbildung vor allem für Mädchen wurde verbessert. Diese Entwicklung zeigt, dass sich Anstrengungen zur Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Marktwirtschaft tatsächlich lohnen. Diese Erfahrung zeigt aber auch, dass in Afrika die Regierungen und Eliten der Länder die Hauptverantwortung für die Entwicklung ihrer Länder tragen. Dort, wo sie sich ernsthaft um politische, rechtsstaatliche und wirtschaftliche Reformen bemühen, ist unsere volle Unterstützung zugesagt. Aber dort, wo Regime vorsätzlich vom Grundsatz der guten Regierungsführung abweichen, wo sie wichtige Ressourcen verschwenden und wo die Korruption ständig zunimmt, müssen wir - vielleicht deutlicher als in der Vergangenheit - Konsequenzen ziehen. ({0}) Jede noch so gute Entwicklungszusammenarbeit kann zur wirtschaftlichen Entwicklung nur einen begrenzten Beitrag leisten. Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, die Armut in Afrika allein durch Finanztransfers oder groß angelegte Entschuldungsaktionen bewältigen zu können. Die Regierungen in Afrika müssen ihre Märkte vom staatlichen Dirigismus befreien, Landreformen zulassen und für klare Eigentumsverhältnisse sorgen. Wenn es nicht gelingt, eine solche Entwicklungsstrategie für die ländlichen Räume zu schaffen, wird der Drang zur Bildung von nicht mehr lenkbarer Verstädterung in diesen Bereichen noch viel größer. Dreh- und Angelpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung ist aus unserer Sicht ein verstärkter Einsatz marktwirtschaftlicher Instrumente. Dazu gehört in erster Linie die Förderung und Entwicklung des Finanzsektors. Wesentliche Elemente sind unter anderem der Zugang zu Kleinkrediten, der Aufbau von Dorfbanksystemen, die Ausbildung von Bankfachleuten, eine stabile Geldpolitik der Entwicklungsländer und Rechtssicherheit im Finanzwesen. Ebenso wichtig ist die Unterstützung beim Aufbau eines effizienten Dienstleistungssektors sowie im Verkehrs- und Kommunikationsbereich. Ganz entscheidend für die Entwicklungschancen unserer Partnerländer ist darüber hinaus ihre volle Teilnahme am freien Welthandel. Handel ist besser als Hilfe. Die Beispiele vieler erfolgreicher Schwellenländer belegen, dass es nur dort, wo eine konsequente Deregulierung stattfindet, zur nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung kommt. Dies bedeutet aus unserer Sicht selbstverständlich auch, dass unsere eigene Handelspolitik auf den Prüfstand gehört: der Abbau von Handelshemmnissen vor allem im Agrar- und Textilbereich sowie die Beendigung marktverzerrender Subventionspolitik, um nur wenige Punkte anzusprechen. Vor diesem Hintergrund ist es besonders bedauerlich, dass im Rahmen der Haushaltskürzungen nicht nur Afrika betroffen ist, sondern auch die freiwilligen Beiträge für internationale Organisationen heruntergefahren werden mussten. Wie steht es so schön in dem Antrag, den wir gerade beraten? Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, insbesondere die Intensivierung und Ausweitung des politischen Dialogs als Instrument zu etablieren. Das ist richtig; das unterstützen wir. Aber wie sieht die Realität aus, Herr Außenminister? Massive Schließungen von Botschaften in Afrika in einer Zeit, in der dieser leidgeprüfte Kontinent verzweifelt nach Auswegen aus seiner Misere sucht und auf Partnerschaften, wie Sie es vorhin betont haben, besonders angewiesen ist. Bei allem Verständnis für die Haushaltszwänge hätte man sich kreativere Lösungen als eine ersatzlose Schließung von Botschaften vorstellen können. ({1}) Für die betroffenen Länder ist der Abzug des deutschen Botschafters und seines Personals ein verheerender Rückschlag in ihren Reform- und Entwicklungsbemühungen. Wie soll man es zum Beispiel der Regierung des Tschad vermitteln, dessen Bevölkerung von Hungersnöten bedroht ist, dass das reiche Deutschland kein Geld mehr für den Unterhalt einer kleinen Botschaft hat? Aus der Sicht dieser Länder bedeutet der Abzug praktisch den Abbruch der Beziehungen. Der hierdurch entstandene Schaden, Herr Außenminister, kann auch durch noch so viele Reisen von Ihnen nach Afrika nicht ausgeglichen werden. ({2}) Nach der Afrikakonferenz, nach Ihrer Afrikareise und auch nach Ihrer heutigen Rede, Herr Außenminister, habe ich immer noch keine konzeptionellen Grundlinien einer Afrikapolitik feststellen können. Welche Vorstellungen hat die Bundesregierung für die Beilegung der Konflikte im Kongo und um die Großen Seen in Zentralafrika? Welche Vorstellungen hat die Bundesregierung für einen Friedensprozess im Sudan? ({3}) Wir brauchen noch viele Antworten auf diesem Gebiet. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, große Teile dieses Antrags können von uns mitgetragen werden. Einzelne Punkte, zum Beispiel eine neue Entschuldungsinitiative - die erste ist noch nicht einmal voll abgeschlossen - bedürfen weiterer Diskussionen. Aber eines müsste die Koalition doch heute machen - auch Herr Tappe hat darauf hingewiesen -: Sie müsste zu einem Sturm auf das Außenministerium ansetzen, damit ein großer Teil der deutschen Botschaften in Afrika als ein Eckpfeiler unserer Politik erhalten bleibt. ({4}) Aus diesem Grund, meine Damen und Herren, werden wir uns der Stimme enthalten. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die PDS-Fraktion spricht jetzt der Kollege Carsten Hübner.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorweg eine kurze Bemerkung, weil Afrika wieder einmal gegenüber einem Land des reichen Nordens den Kürzeren gezogen hat: Die Fußballweltmeisterschaft wird in Deutschland und nicht in Südafrika stattfinden. So sehr das hier viele begrüßen mögen, fände ich es doch ganz gut, wenn der Vorschlag unseres Fraktionsvorsitzenden aufgegriffen würde und im Gegenzug ein Maßnahmenpaket geschnürt würde, um der Basissportentwicklung in Afrika von deutscher Seite etwas mehr Gewicht zu verleihen, als es bisher der Fall ist. Das wäre zumindest im Ansatz ein Ausgleich. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mit einer ganz kritischen Bemerkung beginnen; denn ich befürchte, dass wir mit der Afrikadebatte, wie wir sie heute führen, nachdem sie relativ kurzfristig angesetzt worden ist, weder dem Thema noch den Fachpolitikern einen wirklichen Gefallen tun und auch wenig zur Lösung der Probleme beitragen können. Ich möchte dies im Namen einer kleinen Oppositionspartei ganz kurz erläutern: Drei Anträge, und zwar die Anträge „Friedensbemühungen am Horn von Afrika verstärken“ - er umfasst fünf Seiten -, „Demokratische und friedliche Kräfte im Sudan unterstützen“ - er umfasst acht Seiten - und „Konflikt in der Region der Großen Seen eingedämmt - nicht gelöst“ - er umfasst sieben Seiten -, sind am gestrigen Tag eingereicht worden. Das ist aus meiner Sicht ein unhaltbarer Zustand; denn das offenbart, dass eine wirkliche parlamentarische Beratung und eine entsprechende Vorbereitung offenbar nicht im Sinne der Antragsteller oder der zuständigen parlamentarischen Geschäftsführer lag. Hinzu kommt, dass über all diese Anträge heute abgestimmt wird. Das heißt, eine Beratung in den Ausschüssen ist ebenfalls nicht möglich. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass die Anträge, die zum Teil von strategischer Bedeutung sind und in denen wirklich gut aufgezeigt wird, wo die Probleme liegen, heute zur Abstimmung stehen, während der Antrag, in dem der sofortige Handlungsbedarf angesprochen wird, nämlich der Antrag „Abschiebestopp für Flüchtlinge aus Äthiopien und Eritrea“, zur Beratung an die Ausschüsse überwiesen werden soll, was heißt, dass er frühestens Ende September aufgerufen wird. Ich sage Ihnen: Das ist eine unhaltbare Praxis. Deswegen ziehen wir unseren Antrag heute zurück. Das machen wir nicht mit. ({1}) Meine Damen und Herren, viele Absichtserklärungen des Antrags „Afrikas Entwicklung unterstützen“ teile ich, denn es sind gute Ansätze, über die wir diskutieren können und möchten. Leider sind nur wenige konkrete Maßnahmen und keine zeitlich fixierten Maßnahmen enthalten. Das bedauern wir sehr. Die besondere deutsche Rolle, der besondere EU-Prozess und die Rolle Deutschlands darin werden nicht entsprechend untermauert und das konzeptionell Neue tritt nicht wirklich in den Vordergrund. Auch ich möchte noch einmal deutlich machen, wie sich die Situation derzeit in Afrika gestaltet. Einige Daten wurden schon genannt. Ich möchte noch einige hinzufügen. Die Verschuldung der afrikanischen Staaten ist von 250 Milliarden US-Dollar in den 80er-Jahren auf inzwischen 360 Milliarden US-Dollar gestiegen. Ich finde es richtig, dass wir die Entschuldungsinitiative, so wie sie bisher in Fahrt gekommen ist, nur als einen ersten Teilerfolg begreifen; denn die Summe der Entschuldung - und diese bezieht sich nicht nur auf Afrika - beläuft sich noch nicht einmal auf 110 Milliarden US-Dollar, auf den Betrag, um den der Schuldenstand Afrikas gestiegen ist. Die Direktinvestitionen sind in den letzten Jahren - Sie haben darauf hingewiesen, dass Handel manchmal sinnJoachim Günther ({2}) voller ist als Helfen, das mag auch sein - auf weniger als 1 Prozent weltweit gesunken. Afrika hat nur einen 1,5-prozentigen Anteil am Welthandel. Das sind doch Indizes, die deutlich machen, wie dramatisch die Situation ist. Es gibt Millionen von Flüchtlingen. Das sind Binnenflüchtlinge, Flüchtlinge vor wirtschaftlicher Not, vor Elend, Hunger und Katastrophen, aber natürlich auch vor kriegerischen Auseinandersetzungen. 19 von 48 afrikanischen Staaten sind direkt in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt. Meine Damen und Herren, vor dem Hintergrund dieser Zahlen möchte ich nur ganz kurz deutlich machen, welche Fragestellungen mir in diesem Antrag nicht genügend gewürdigt werden. Nicht hervorgehoben ist zum Beispiel die Forderung des NGO-Netzwerkes Jubilee 2000 South, also des Südablegers der Erlass-Jahr-Kampagne, nach einem vollständigen und sofortigen Schuldenerlass und nach Maßnahmen, die die Schuldenlast wirklich reduzieren. Es darf keinen langen Prozess geben. Im Rahmen der Schuldeninitiative hat man sich, wenn ich richtig informiert bin, bisher zunächst auf Uganda konzentriert. ({3}) - Gut. Mosambik ist im Zusammenhang mit der Flutkatastrophe in ein Sofortprogramm aufgenommen worden. Dort ist es aber nicht über die Initiative so schnell zu einer Entschuldung gekommen. Es gibt keine besondere Förderung und Protektion der kleinen und mittleren Unternehmen, stattdessen setzten wir weiter auf die Marktöffnung. Ich erinnere nur an das neu ausgehandelte Lomé-Abkommen, das schrittweise Deregulierungen vorsieht und in dem die WTO weiterhin den Bezugspunkt unserer Zusammenarbeit darstellt. ({4}) Es gibt auch keine konkreten Maßnahmen in diesem Antrag, durch die die Süd-Süd-Zusammenarbeit verstärkt unterstützt werden soll. Es geht jetzt darum, das nicht immer nur zu proklamieren, sondern mit ganz konkreten Maßnahmen zu untermauern. Auch auf eine ganz konkrete und strikte Initiative im Bereich des Waffenhandelsverbots, zumal für Kleinwaffen, die in den Konflikten im Wesentlichen zum Tragen kommen, ist in dem Antrag nicht deutlich genug Bezug genommen worden.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Hübner, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Carsten Hübner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003154, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ein letztes Wort: Zu Aids ist viel gesagt worden. Ich sage Ihnen, welches das Problem von Aids ist: Das Problem ist nicht allein, dass es eine Krankheit ist. Vielmehr ist es auch zu einem soziokulturellen Problem für Afrika geworden. Darauf hat der Außenminister hingewiesen. Aidsbekämpfung ist teuer. Wenn wir dieses Geld nicht von hier aus einsetzen, wenn wir unsere Unternehmen, die hiergegen wirksame Präparate entwickelt haben, nicht dazu bringen, sie zu günstigeren Preisen zur Verfügung zu stellen, werden wir in Afrika eine Katastrophe nicht absehbaren Ausmaßes erleben. Danke. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie WieczorekZeul.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich teile die Auffassung der Kolleginnen und Kollegen, die gesagt haben, dass Afrika trotz aller großen Probleme, die sich für diesen Kontinent stellen, im 21. Jahrhundert Riesenchancen hat. Dies ist nicht nur meine persönliche Überzeugung, sondern auch die Weltbank hat dies in ihrer jüngsten Studie ausdrücklich noch einmal belegt. Sie hat aber deutlich gemacht, dass auch in Afrika selbst Veränderungen notwendig sind. Diese betreffen Investitionen zugunsten der Menschen, der Bildung und der Gesundheit. Die Wirtschaftsstrukturen müssen im Rahmen der Möglichkeiten verändert und entsprechende Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Veränderungen sind auch im Bereich der verantwortlichen Regierungsführung und Krisenlösung notwendig. Natürlich müssen auch die internationale Gemeinschaft sowie die einzelnen Geberländer ihrer Verantwortung gegenüber diesen Ländern und dem Kontinent gerecht werden. Heute ist nicht der Tag, dies im Einzelnen darzustellen. Dies haben wir schon gemacht. Aber ich sage noch einmal zur Erinnerung: Erstens. Im Rahmen des Lomé-Abkommens, welches die Voraussetzungen dafür schafft, dass diese Länder unter veränderten Wirtschaftsstrukturen im Rahmen ihrer Möglichkeiten vom internationalen Wettbewerb profitieren können, hat es gerade jetzt eine Zusage über 13,8 Milliarden Euro gegeben. Deutschland ist zu 23 Prozent daran beteiligt. Zweitens. Die Entschuldungsinitiative wird vor allen Dingen für die afrikanischen Länder 50 Milliarden DM der größte Teil der Länder, die davon profitieren, liegt in Afrika - bringen. Drittens. 42 Prozent der Mittel unserer gesamten bilateralen Entwicklungszusammenarbeit fließen in den Bereich des afrikanischen Kontinents. Dies sage ich, damit diejenigen, die hier anderes behauptet haben, das richtig stellen können. ({0}) Ich möchte heute Abend drei Punkte ansprechen, bei denen wir konkret handeln können. Es kommt darauf an, dass wir nicht nur reden, sondern auch handeln. Ich möchte sagen, was ich für besonders wichtig halte. Dies mache ich deshalb, weil afrikanische Regierungen dies uns gegenüber ansprechen: Erstens. Die Erhöhung der Rohölpreise bedeutet eine dramatische Verschlechterung der Terms of Trade für die afrikanischen Länder und besonders für diejenigen afrikanischen Länder, die kein Erdöl produzieren, sondern es importieren. Die Preissteigerungen der OPEC - das wissen Sie alle - haben schon bei unseren Autofahrern Unmut verursacht. Aber in Afrika bedeutet das, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass aufgrund der vorhandenen Struktur ganze Wirtschaften zerrüttet werden. Angesichts dessen ist das, was wir hier in Deutschland diskutiert haben, wirklich nur ein kleiner Ansatz. Sie müssen sich vorstellen, dass dies Länder sind, die erstens durch die Rohölpreissteigerungen stärker betroffen sind und die dies zweitens nicht durch Erlöse aus ihren eigenen Rohstoffen ausgleichen können, sodass sich die Terms of Trade dramatisch zu ihren Lasten verschlechtern. Afrikanische Länder sind im Übrigen weit mehr von der Erhöhung als andere Regionen betroffen, denn die Preissteigerungen fallen dort aufgrund der geringeren Einkommen sehr viel stärker ins Gewicht. Außerdem sind Preisschwankungen für Rohölimporte für viele afrikanische Länder, die sich ohnehin schon in einer schwierigen Situation befinden, ein weiterer Faktor der Destabilisierung. Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es? Wir werden zwei Aspekte in den Vordergrund stellen, weil die afrikanischen Länder dies von uns erwarten. Erster Aspekt: Wir unterstützen die Länder - die internationale Gemeinschaft muss das gemeinsam machen - bei der Reform ihres Energiesektors. Diese Länder haben nach Berechnungen der Weltbank durch ineffiziente Beschaffungsverfahren schon jetzt einen Verlust von rund 1 Milliarde US-Dollar. Es ist auch bekannt, dass afrikanische Länder wesentlich höhere Importpreise zu bezahlen haben, weil sie gegenüber den Öl exportierenden Ländern eine schlechtere Verhandlungsposition haben. Das heißt für uns, die Reform des Energiesektors mit voranzubringen. Auch die erneuerbaren Energien sind ein ganz zentraler Punkt bei der Veränderung der Position dieser Länder. ({1}) So viel Entwicklungszusammenarbeit können wir im Haushalt gar nicht vorsehen, wie angesichts der schon jetzt spürbaren negativen Auswirkungen der Entwicklung notwendig ist. Der zweite Aspekt: Ich habe beantragt, diese Frage auf die Tagesordnung der Septembersitzung der Weltbank zu setzen, weil ich der Meinung bin, dass die dort vertretenen Länder - das sind Öl exportierende und Öl importierende Länder und andere Industrieländer - gemeinsam über diese dramatische Situation diskutieren müssen und dass wir Mechanismen der Unterstützung seitens Weltbank und IWF überprüfen und in Gang bringen müssen, damit konkret gehandelt wird. Ein zweiter Punkt: Aids. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung unterstützt in diesem Jahr mit Neuzusagen von 55 Millionen DM konkrete Projekte, die diese Krankheit, diese Epidemie unmittelbar bekämpfen, und zwar in allen Bereichen. Die Weltbank wird auf unsere Initiative hin Mittel im Umfang von 500 Millionen DM für die Bekämpfung dieser Pandemie, dieser Seuche, dieser dramatischen Gefährdung zur Verfügung stellen. Auf dem bevorstehenden G8-Gipfel wird das eines der zentralen Themen sein. Aber ich sage an dieser Stelle auch: Die Länder sind mitverantwortlich. Ich weiß nicht, wie es bei meinen Vorgängern war, aber ich spreche bei jeder politischen Reise gegenüber den höchsten Repräsentanten an, dass sie Leadership zeigen müssen; denn Verschweigen heißt Tod. Die Regierungschefs, die Präsidenten sind selbst für Aufklärung im Land verantwortlich. Nur wenn das Verschweigen endlich durchbrochen wird, wenn nicht der Eindruck vermittelt wird, es sei ein Tabu, ({2}) werden die Menschen im Land selbst ihr Verhalten ändern. Denn gegen Aids kann man sich schützen: entweder durch Treue, durch Abstinenz oder durch Kondome. So hat es eine in Afrika erfolgreiche Initiative aufgezeigt. Das muss zum Thema gemacht werden. Die Diskussion muss von der Spitze der betroffenen Länder geführt werden. Es gibt diese Verantwortung. Vor allen Dingen soll damit auch Hoffnung geschaffen werden. Uganda hat das so gemacht. Der dortige Präsident Museveni hat das so gemacht. Er hat die Themen angesprochen. Damit hat sich die Zahl der Neuinfizierungen im Land drastisch reduziert. Es gibt also auch Hoffnung. Es ist nicht so - das wäre ja schrecklich -, dass die Seuche unaufhaltsam wäre. Durch Verhaltensänderung, durch öffentliche politische Diskussion in Afrika selbst kann etwas verändert werden. ({3}) Dritter und letzter Punkt - auch da sind wir betroffen -: gute Regierungsführung. Das ist auch ein ganz konkreter und praktischer Punkt. Es ist zum Beispiel unerträglich, wenn Diamanten, an denen Blut klebt, in den Handel gelangen. In Sierra Leone terrorisieren kriminelle Banden, die sich fälschlicherweise Rebellen nennen, die Bevölkerung. Sie hacken den Leuten die Gliedmaßen ab. Sie wollen an die Diamantenfelder; denn sie wollen mit dem Verkauf von Diamanten ihr verbrecherisches Handwerk finanzieren. Deshalb sind die Industrieländer und auch die Diamantenindustrie aufgefordert, ihre Verantwortung wahrzunehmen. Diese Quelle der Kriegsfinanzierung muss zum Versiegen gebracht werden. ({4}) - Das kostet kein Geld. Ich begrüße deshalb nachdrücklich, dass der UN-Sicherheitsrat auf Initiative der britischen Regierung gestern Nacht ein Diamantenhandelsverbot gegen Sierra Leone verhängt hat. Ich plädiere dafür, dass es auf absehBundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul bare Zeit aufrechterhalten bleibt und damit Konsequenzen gezogen werden. ({5})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (Minister:in)

Politiker ID: 11002503

Danke, Frau Präsidentin. Ich wollte zum Schluss sagen: Sie sehen die strukturellen Zusammenhänge. Wir müssen uns jedes Mal ein Element heraussuchen, wo wir bezüglich der strukturellen Fragen mit unserem eigenen Engagement etwas verändern können. Die Bundesregierung und ich als Entwicklungsministerin sind angetreten, diese Verantwortung wahrzunehmen. Wir nehmen sie wahr, weil wir wissen: Afrika ist ein Kontinent, der große Hoffnungen hat, ein Partnerkontinent, eine Region mit großen Chancen. Wir können dazu beitragen, dass die Chancen dieses Kontinentes genutzt werden. Ich danke Ihnen sehr. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Der letzte Redner dieser Debatte ist der Kollege Dr. Karl-Heinz Hornhues für die Fraktion der CDU/CSU.

Prof. Dr. Karl Heinz Hornhues (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000960, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man kann kritisieren, dass uns von der Regierungskoalition bergeweise Papier auf den Tisch gelegt wird. Wahrlich; denn es ist sehr viel zu lesen. Vieles ist gar nicht so schlecht oder sogar ganz gut. ({0}) Ich bin dafür, es nicht zu sehr zu kritisieren, weil ich jede Gelegenheit als begrüßenswert empfinde, über Afrika reden können. ({1}) Steter Tropfen höhlt den Stein. Vielleicht kommen wir doch zu dem Punkt, dass im Rahmen der unendlichen Prioritäten der jetzigen Bundesregierung die Priorität Afrika, von der wir heute einiges gehört haben, tatsächlich von der letzten Position der Prioritätenskala ein paar Millimeter näher an die anderen Prioritäten herangerückt wird. Wenn wir ehrlich sind, Herr Außenminister, müssen wir uns ja wohl darüber im Klaren sein: Wenn man über Afrika spricht, steht es für einen Moment im Mittelpunkt unseres Interesses. Kaum haben wir den Saal verlassen, bleiben vielleicht die paar „Afrikafans“, wie Herr Schuster in der Regel zu sagen beliebt, noch übrig, um sich weiter darum zu kümmern. Sie finden sich dann zur nächsten Debatte wieder zusammen, um erneut zu fordern. Ich fand es bemerkenswert, dass sich der Außenminister zu den Anträgen der ihn tragenden Koalitionsfraktion nicht geäußert hat. Ich unterstelle Ihnen, Herr Außenminister, dass Sie keine Gelegenheit hatten, die Anträge zu lesen. Es steckt eine ganze Menge an Forderungen darin, was das Außenministerium alles tun soll. Ich finde es schon bemerkenswert und warte auf die nächste Debatte, damit wir abfragen können, was die Bundesregierung dem Petitum des Kollegen Tappe folgend alles getan hat, um die Probleme vielleicht einen Millimeter näher an die Lösung heranzubringen. ({2}) - Ja, ich finde es ja prima. Ich wollte nur den Außenminister daran erinnern, damit er es nicht vergisst, weil er es eben noch nicht gesagt hat. Ich habe noch einen zweiten Punkt, nur damit sich die Legenden in diesem Lande nicht allzu fest graben: die Schuldeninitiative. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich höre ja, etwas fängt schon an, real wirksam zu werden. Es sei nur zu Protokoll gegeben, dass Schulden erlassen keine Erfindung von Ihnen ist. Ich finde es löblich, wenn sie es weiter betreiben. ({3}) Bis zum Ende unserer Regierungszeit sind immerhin 9 Milliarden DM Schulden erlassen worden. Wir fragen dann noch einmal nach. ({4}) - Herr Kollege, auch da ist einiges geschehen, wie Sie ganz genau wissen. Wenn Sie bilateral weitermachen, finde ich das ganz prima. Meine sehr geehrten Damen und Herren, nehmen Sie bitte zur Kenntnis: Es ist keine völlig neue Erfindung von Ihnen. Es gab schon vorher ein Nachdenken über Probleme. Worum geht uns in der Sache, wenn wir über Afrika diskutieren? Glücklicherweise hat sich inzwischen immerhin hier weitgehend durchgesetzt: Es geht vor allen Dingen auch um unser ureigenes Interesse, nämlich um die Frage, wie wir mit einem Kontinent weiterleben wollen, der wie kein anderer von Krisenkatastrophen geschüttelt und gebeutelt ist. Es ist unser Nachbarkontinent. Wir können das Problem Afrika nicht den Mitgliedern der südlichen Länder der Europäischen Union als Privatproblem überlassen. Vielmehr müssen wir begreifen, dass auch wir uns immer stärker diesem Problem zuwenden müssen, damit unsere Partner in der Europäischen Union auch bereit sind, auf uns zu hören, wenn wir größere Probleme haben, die vielleicht in Mittelosteuropa und nicht an dem Mittelmeerrand liegen, und bereit sind, diese Probleme mit uns gemeinsam anzugehen. Das heißt: Unser Bemühen, für Afrika mehr zu tun, hat auch den Hintergrund - das sollten wir unseren Mitbürgern sagen -, dass wir für andere Probleme, mit denen unsere Partner stärker kämpfen, mehr Verständnis haben müssen. Dabei ist durchaus eine gehörige Portion Egoismus vorhanden, wenn wir uns um diese Probleme kümmern. Wenn wir uns die Frage stellen, was man tun könne, taucht als erstes Stichwort sofort der Begriff der Prävention auf. Der bedeutendste Teil der Prävention ist die Entwicklungszusammenarbeit, die wir betreiben. Ich will nicht in eine Debatte darüber einsteigen, was gut oder schlecht ist. Ich will aber eines anmerken: Es wird immer weniger für die Entwicklungszusammenarbeit ausgegeben. Ich fand es heute insoweit gut, dass die Frau Ministerin nicht wie beim letzten Mal versucht zu erklären, dass es zwar weniger, aber trotzdem mehr sei. Was immer der Grund für die Reduzierung sein mag, es ist weniger. Es ist ein Problem, anderen deutlich machen zu müssen, warum wir mehr tun wollen, aber weniger Mittel dafür zur Verfügung stellen. Einer Europäisierung stimme ich zu, es sei denn, es würden bestimmte Zwecke damit verfolgt. Wenn dahinter steckt, mehr Zusammenarbeit in Richtung Europa mit dem Gedanken zu machen, die sollen das tun, damit wir aus dem Schneider sind, muss man dies offen sagen, ohne das Bemühen der Europäisierung überzustrapazieren. Wenn Europäisierung aber meint, die deutsche Bundesregierung und der Deutsche Bundestag wollen sich verstärkt darum bemühen, dass Europa insgesamt mit uns da wir nicht die Kleinsten sind, auch sehr stark mit uns eine Afrikapolitik entwickelt, die sich in einem für uns für notwendig gehaltenen Maße in Afrika einmischt und als Partner zur Verfügung steht, dann, Herr Außenminister, müssen wir zwingend darüber diskutieren, was die Schließung von Botschaften bedeutet. Dies ist mit dem Argument, es habe an Geld gefehlt, nicht zu beantworten. ({5}) Ich kann nicht sagen, ich wolle Krisenprävention machen, und kappe dabei eines der wenigen Instrumente. Dies ist besonders schlimm in Ländern wie Burundi, Tschad und Niger. Mich interessiert in diesem Zusammenhang die Frage, was uns noch bevorsteht. Ich weiß nicht, ob die Pressemeldungen stimmen, dass infolge weiterer Kürzungen weitere Botschaften geschlossen werden sollen. Ich gebe zu Protokoll, dass der Herr Außenminister den Kopf schüttelt. Ich schließe daraus, dass keine weitere Bedrohung für unsere Auslandsbotschaften besteht. Ich hoffe, dass uns nicht zu einem späteren Zeitpunkt mit anderen Argumenten das Gegenteil droht. Diese Strategie, sich zurückzuziehen und anderen die Verantwortung zuzuschieben - egal, ob OAU oder UNO halte ich für einen eklatanten Fehler, weil dies unseren Einfluss schwächt. Es bedeutet auch, dass wir in Wahrheit zwar schöne Reden über die Probleme in Afrika halten, tatsächlich aber selten in der Lage sind, ein Problem konkret zu lösen. Die Schwierigkeit ist, dass wir oft hier gesessen und darüber geredet haben, was andere falsch machen, wenn zum Beispiel die französische Fremdenlegion in eine bestimmte Richtung marschiert ist oder davon die Rede war, dass sich die CIA auf dem einen oder anderen Feld - ich glaube, es war im Kongo - einmischt. In diesen Fällen haben wir immer dagestanden und gesagt: „Da hätten wir...“; „Da könnten wir“, „Da müssten wir ...“. Die Frage ist, was uns an eigenen Erkenntnissen aufgrund eigener Recherche vorliegt. Man kann in diesem Zusammenhang über andere Instrumente als die Botschaften nachdenken. Wir haben eine Institution, die Nachrichten beschafft und wie ich gehört habe, ab und zu einen Reisenden nach Afrika schickt. Wenn alles so wichtig ist, wie diese Institution das schildert, müssen wir uns die Frage stellen, was getan werden kann. Die Westeuropäische Union wird in ihrem operativen Teil, den Petersberg-Aufgaben, in die Europäische Union übernommen. Wir haben gelernt: Krisenprävention ist schön, klappt aber meistens nicht. Im Ergebnis haben wir die Krisen und diese bestehen nicht immer nur aus Wirbelstürmen oder Hochwasser. Das alles wäre schon schlimm genug, aber viel zu oft wird geschossen, gemordet und getötet. Wir stehen dabei immer vor den gleichen Fragen. Meine Frage ist: In welchem Umfang drängt die Bundesregierung darauf, dass die Europäische Union mit ihren Petersberg-Aufgaben - das heißt den alten WEUAufgaben - real mit Afrika zusammenarbeitet und nicht nur ein paar Sprüche klopft? Wie sieht es konkret mit unserer Ausstattungshilfe aus? Wer einige Krisenszenarien nachzeichnet, muss sich darüber im Klaren sein, dass manches Unternehmen wahrscheinlich schlechter ausgegangen wäre, wenn es die Ausstattungshilfe nicht gegeben hätte. Ich komme damit zu einem weiteren Punkt, von dem ich weiß, dass seine Behandlung schon vor längerer Zeit eingeschlafen ist, weil viel schief gelaufen ist. Wo immer in Afrika etwas passiert, haben wir es mit dem Militär zu tun. Die Bundeswehr hat in der Vergangenheit wiederholt in ihrer internationalen Offiziersausbildung afrikanische Offiziere einbezogen. Dies ist meines Wissens eingestellt worden, weil man nicht nur gute Erfahrungen gemacht hat, um es sehr vorsichtig zu sagen. So heikel die Frage der Armee in der Demokratie ist, so haben wir doch ein spezielles Kapitel an eigenem Knowhow und Wissen. Es steht uns durchaus zu, darüber nachzudenken, ob wir nicht den Mut haben, dies in eine Überlegung einzubringen, Ländern zu helfen, in Strukturen zu denken und zu empfinden, die uns dann, wenn es wieder ernst wird, die Chance geben, an bestimmte Personen auf bestimmte Werte bezogen zu appellieren. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in den Beiträgen, die ich gehört habe, waren viele Gemeinsamkeiten enthalten. Das finde ich sehr gut. Ich finde es weiterhin sehr gut, wenn sich die Koalitionsfraktionen künftig bei der Produktion von weiteren Anträgen freundlicherweise mit uns in Verbindung setzen, wenn sie den Verdacht haben, es sei gemeinsames Gedankengut der meisten Parteien in diesem Hause. Denn bezogen auf die schönen Sätze des Außenministers und vieler anderer habe ich ein Problem. Dies heißt: Zu vielem höre ich vieles gern. Die Rede des Kollegen Tappe habe ich in großen Teilen sehr gern gehört. Allein mir fehlt der Glaube, dass das, was dort gesagt wird, Wirklichkeit wird. Ich glaube, wir brauchen weiterhin ein gewisses Maß an Gemeinsamkeit der „Afrikafans“, Herr Schuster, damit wir versuchen zu erreichen, dass Afrika im Bewusstsein von uns allen - der Bundesregierung und vielleicht auch des Volkes nicht die Gegend ist, wo am Ende nur noch die Antarktis kommt. Ein bisschen mehr sollte es sein. Ein allerletztes Wort.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Aber bitte ein allerletztes, Herr Kollege.

Prof. Dr. Karl Heinz Hornhues (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000960, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Tappe, Sie haben davon gesprochen, die Würde zurückzugeben. In unseren Museen steckt manches, was aus Afrika stammt, und für Afrika ein unersetzliches Kulturgut ist. Es ist für uns auch interessant, aber eine Bundesregierung, die sich aufmacht - ich habe das mit wenig Erfolg in der Vergangenheit versucht; versuchen Sie es einmal -, einen Kulturtransfer besonderer Art einzuleiten, um Afrika zu helfen, ein Stück der eigenen Identität wiederzugewinnen, wäre des Schweißes der Edlen wert. Bemühen Sie sich ein wenig! Danke schön. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Dr. Uschi Eid, Bündnis 90/ Die Grünen, das Wort.

Ursula Eid-Simon (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000454, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Der Außenminister hat einige Konflikte auf dem afrikanischen Kontinent angesprochen. Viele davon wurden auch im Detail besprochen. Aus aktuellem Anlass möchte ich aber einen Konflikt benennen, weil der Krieg zwischen Eritrea und Äthiopien Gott sei Dank zu Ende gegangen ist und die Verhandlungen in eine entscheidende Phase eingetreten sind. Ich möchte gerne beiden Konfliktparteien etwas mit auf den Weg geben: An Äthiopien möchte ich appellieren, nicht im militärischen Siege triumphalistisch den Nachbarn klein zu machen. An die Eritreer möchte ich appellieren, nicht nur den Krieg als beendet anzusehen, sondern auch der internationalen Öffentlichkeit klarzumachen, welche demokratischen Schritte in der nächsten Zukunft für dieses Land vorgesehen sind.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Frau Kollegin Eid, entschuldigen Sie, aber ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Kurzinterventionen nur zu Beiträgen gestattet sind. Mir wurde angekündigt, dass Sie eine Kurzintervention zu den Ausführungen des Kollegen Hornhues machen wollen. Jetzt ist es zu spät, aber ich möchte alle Kolleginnen und Kollegen an diese Spielregel erinnern. ({0}) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3701 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Friedensbemühungen am Horn von Afrika verstärken“, Drucksache 14/3767. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei Enthaltung der Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. angenommen. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Demokratische und friedliche Kräfte im Sudan unterstützen“, Drucksache 14/3768. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei Enthaltung der Fraktionen der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Konflikt in der Region der großen Seen eingedämmt - nicht gelöst“, Drucksache 14/3791. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei Enthaltung der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion angenommen. Die Beschlussfassung über den Antrag der Fraktion der PDS „Abschiebestopp für Flüchtlinge aus Äthiopien und Eritrea“, Drucksache 14/3547, entfällt; denn die PDS hat, wie der Kollege Hübner angekündigt hat, ihren Antrag zurückgezogen, weil ihrer Forderung nach sofortiger Abstimmung nicht stattgegeben wurde. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger, Dr. Hermann Otto Solms, Hildebrecht Braun ({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Ökosteuer zurücknehmen - Drucksache 14/3519 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({2}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die F.D.P. sechs Minuten erhalten soll. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die F.D.P.-Fraktion ist der Kollege Rainer Brüderle. ({3})

Rainer Brüderle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003059, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Hören Sie einmal genau zu, Herr von Larcher! Das tut Ihnen gut. ({0}) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die F.D.P. tritt für die Abschaffung der staatlichen Zwangsbeglückungsmaßnahme Ökosteuer ein. ({1}) Deshalb fordern wir heute die Bundesregierung auf: Nehmen Sie die bisherigen Schritte der Ökosteuer zurück! Verzichten Sie auf weitere Schritte! Ersetzen Sie gleichzeitig Ihr Abkassiermodell durch eine wirkliche ökologische Steuerreform! Wir zeigen Ihnen, wie es geht: Erstens. Schaffen Sie die Kraftfahrzeugsteuer ab! Legen Sie sie auf die Mineralölsteuer um! Zweitens. Wandeln Sie die Kilometerpauschale endlich in eine fahrzeugunabhängige Entfernungspauschale um! Sie treiben mit einem gescheiterten Instrument die Benzinpreise in die Höhe. Der Anteil, den die Mineralölsteuer und die Mehrwertsteuer am Preis für einen Liter Normalbenzin haben, liegt bei 70 Prozent. Die staatliche Ökosteuer ist somit entscheidender Preistreiber. Dank der Steuererhöhungen müssen die Autofahrer allein in diesem Jahr 4 Milliarden DM mehr für Kraftstoffe ausgeben. Ihre Ablenkungsmanöver bleiben zu durchsichtig. Kaum kündigen die Rohölproduzenten eine Erhöhung ihrer Fördermengen an, jubilieren Sie schon und weisen darauf hin, dass die Benzinpreise jetzt wieder sinken müssten, um von der Ökosteuer abzulenken und sie aus der Diskussion herauszuhalten. Das ist ein plumper Versuch, den schwarzen Peter weiterzureichen. Ich habe den Eindruck, Sie wollen sich permanent aus der Verantwortung stehlen. ({2}) - Wer dazwischenruft und -schreit, hat sowieso Unrecht, Herr Kollege, weil er nicht in der Lage ist, kritische Argumente zu ertragen. Sie richten sich damit selbst. Seien Sie doch wenigstens so ehrlich und sagen den Leuten, denen Sie das Geld aus der Tasche ziehen, dass Sie einen hohen Benzinpreis politisch gewollt haben! Bekennen Sie sich dazu, damit der berechtigte Zorn der Menschen auch die trifft, die dafür die Verantwortung haben. Wie wollen Sie den Rohölproduzenten erklären, dass der Preis, den sie für das Rohöl verlangen, zu hoch ist, wenn Sie selber für einen Steueranteil von 70 Prozent verantwortlich sind? Das, was Sie machen, ist sozial ungerecht. Gerade gering verdienende Arbeitnehmer, Rentner, Pendler, Studenten, Auszubildende und Sozialhilfeempfänger werden durch die Ökosteuer besonders geschröpft. Das ist Ihre Sozialpolitik. ({3}) Es ist schon ein starkes Stück, dass Sie dem Zwangsinstrument Ökosteuer das Etikett sozialer Gerechtigkeit aufkleben. Sie wissen, dass große Teile der Bevölkerung nicht von der bescheidenen Senkung der Rentenversicherungsbeiträge profitieren. Rentner, Auszubildende, Arbeitslose, Freiberufler, Landwirte und Beamte müssen die Mehrbelastung ungeschmälert tragen. Das ist die Ursache, warum immer mehr Sozialdemokraten öffentlich die Anhebung der Kilometerpauschale oder gar das Austeilen von Benzingutscheinen an Geringverdiener fordern. Das ist die Konsequenz aus der falschen Maßnahme Ökosteuer. Im Grunde ist das eine Distanzierung von der Ökosteuer. Sie sollten es schon ernst nehmen, dass ein so renommierter Umweltexperte wie Ernst Ulrich von Weizsäcker für die Aussetzung der Ökosteuer plädiert. Spätestens damit sollte auch der letzte Genosse kapiert haben, dass etwas falsch gemacht wird. ({4}) Ich meine jetzt nicht die PDS-Genossen. Lediglich die Grünen halten aufgrund ideologischer Scheuklappen voller Inbrunst an der Ökosteuer fest. Herr Schlauch und andere Grüne robben sich an das Auto heran. Die grüne Hauspostille, die „taz“, spricht davon, dass man „Gummi geben will“, dass man sich also in Richtung Auto bewegt, weil man merkt, dass man völlig falsch liegt. Wer die Rückführung der so genannten Ökosteuer als „dummes Zeug“ bezeichnet, wie Herr Kuhn, der muss doch endlich einräumen, dass das Lieblingsprojekt gescheitert ist. Ökologisch bringt die Ökosteuer nichts. ({5}) Stattdessen belasten Sie nur und erzielen keine ökologischen Effekte. Eine ökologische Steuer müsste sich beim Erreichen des Ziels selbst aufheben. In diesem Falle hätten Sie aber gar kein Geld für das Stopfen der Löcher im Haushalt und für die Rentenkasse. Die Weigerung, die Ökosteuer abzuschaffen, ist unglaublich arrogant, gerade gegenüber gering verdienenden Arbeitnehmern. ({6}) Aber die haben Sie schon längst vergessen, auch bei Ihrer Steuerreform. Sie machen lieber eine Politik für große Konzerne und nicht mehr für kleine Leute. Das ist die Veränderung Ihrer Politik. ({7}) Vizepräsidentin Petra Bläss Inzwischen treten Herr Trittin und andere Grüne öffentlich dafür ein, nicht mehr für die Rente zu rasen. Wenn weniger Auto gefahren würde, dann hätten Sie noch weniger Geld in der Kasse, um alternative Energien zu subventionieren. Das ist eine Bankrotterklärung der Grünen selbst. Man erkennt, dass es sich um eine Fehlkonstruktion handelt und dass das Konzept von A bis Z nicht funktioniert. ({8}) Sie treten auf die Innovationsbremse. ({9}) Indem Sie den Menschen das Geld durch höhere Benzinpreise wegnehmen, kommt es eben nicht zu einer schnelleren Erneuerung der Fahrzeugflotte. Auch die Erfahrungen aus den Ölkrisen von 1973 und 1980 zeigen, dass genau das Gegenteil erreicht wird. ({10}) Viele - gerade Geringverdiener - sind darauf angewiesen, weiter ihre alte Schleuder zu fahren, weil Sie ihnen das Geld für ein neues Fahrzeug durch die Ökosteuer aus der Tasche ziehen. Sie sollten sich hier dazu bekennen und nicht darum herumreden. ({11}) Was ist denn das Wort des Kanzlers wert, ({12}) der vor der Wahl erklärt hat: einmal 6 Pfennig Mineralölsteuer, dann Schluss? Das gilt alles nicht mehr, weil dieses falsch konstruierte Konzept der Ökosteuer offenbar der Kick ist, der die rot-grüne Koalition zusammenhält. Man handelt partout gegen klaren Sachverstand. Wenigstens die Sozialdemokraten sollten sich in dieser Frage von den grünen Ideologen befreien und auch auf die Stimmen ihrer Ministerpräsidenten hören, ({13}) die sagen, dass man das Projekt so nicht fortführen kann. Sie zahlen den Preis dafür, dass Sie mit solchen Leuten eine Koalition machen. Vielen Dank. ({14})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Das Wort für die SPDFraktion hat der Kollege Wolfgang Grotthaus.

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag der F.D.P., der bereits in der Aktuellen Stunde am 7. Juni 2000 in diesem Haus diskutiert und für schlecht befunden wurde, ist heute erneut Thema. Herr Brüderle, mich freut, dass ich Ihnen heute wieder antworten darf; denn ich habe bei Ihrer Rede festgestellt, dass Sie keine neuen Inhalte, sondern nur andere Worte gefunden haben. Von daher darf ich Ihnen deutlich sagen: Anträge werden durch Wiederholungen nicht besser und dieser Antrag ist immer noch schlecht. ({0}) Dieser Antrag ist deswegen schlecht, weil er weder gewichtige Argumente gegen die Ökosteuer anführt noch in seiner Verknüpfung von Benzinpreissteigerung und Ökosteuer korrekt ist. Ich meine, die F.D.P. greift dieses Thema vielmehr deswegen auf, um die Hoheit über die Stammtische zu erringen. Das wird Ihnen vielleicht kurzfristig gelingen; aber mittelfristig werden Sie damit Schiffbruch erleiden. Es ist inzwischen beinahe unerträglich, immer wieder die gleichen Aussagen nicht nur von der F.D.P., sondern auch von der CDU zu hören. Ich will Ihnen sehr deutlich sagen, dass diese Aussagen - ich habe es gerade schon erwähnt - in der Sache unrichtig sind. Ich will Ihnen - diese Sicht ist mir auch aus der Bevölkerung heraus angetragen worden - die Ursachen für die Preisentwicklung beim Mineralöl nennen. Es ist richtig, dass die Ökosteuer einen Teil der höheren Benzinpreise verursacht. Sie unterschlagen aber, dass bei diesen Preiserhöhungen auch die Abschläge beim Wechselkurs des Euros eine Rolle spielen; Sie unterschlagen, dass die Mineralölsteuer auch von anderen Faktoren abhängig ist. So hat zum Beispiel das „Handelsblatt“ geschrieben, dass ein schwacher Euro, eine jährliche Ökosteuer von 6 Pfennig und eine starke Nachfrage in den USA und Asien den Kraftstoff so teuer gemacht haben. Auch die folgende Aussage des „Handelsblattes“ ist gültig, Herr Brüderle: Doch wer bleibt schon kühl, wenn’s ums Auto geht ... die Oppositionsparteien ... - damit sind Sie gemeint wettern gegen SPD und Grüne. Deren Ökosteuer sei schuld an den hohen Preisen... Lassen Sie sich dies mit auf den Weg geben: Die Ökosteuer ist im letzten Jahr und in diesem Jahr jeweils um 6 Pfennig pro Jahr, also insgesamt um 12 Pfennig erhöht worden. Dieses führte dann automatisch zu einem Anstieg auch der Mehrwertsteuer um 2 Pfennig. Ihr Anteil an der gesamten Benzinpreiserhöhung beträgt insgesamt nur 10 Prozent. Sie aber stellen sich hier hin und tun so, als wenn die Ökosteuer den Benzinpreis insgesamt nach oben getrieben hätte. Dies ist falsch und deswegen unlauter. ({1}) Irgendwie bin ich davon überzeugt, dass Ihnen diese Zahlen nicht fremd sind. Eigentlich sollten Sie bei einer ernsthaften Analyse, Herr Brüderle, selbst zu diesen Erkenntnissen gelangt sein. ({2}) Doch Sie wollen sich dies nicht eingestehen, weil Sie gar nicht - das ist auch aufgrund Ihres Beitrages heute festzuhalten - die sachliche Auseinandersetzung suchen, sondern hier einfach nur Stimmung machen wollen. ({3}) Zurück zur Sache! Die Debatte, ob die Ökosteuer den Namen „Öko“ verdient hat, ist eigentlich ausgiebig geführt worden. Alle politischen Lager waren sich darüber einig, dass es noch ein weiter Weg hin zu einer echten Ökosteuer ist. Allerdings, so muss man festhalten, ist es durchaus ein erster Schritt, das ökologische Verhalten der Bürgerinnen und Bürger zu stärken und einen sparsameren Umgang mit Energieträgern zu erreichen. Kritiker beklagen, dass die Einnahmen der Steuer nicht für rein ökologische Zwecke ausgegeben werden. Wir meinen, das wäre ein erstrebenswertes Ziel. Doch die heute hier auftretenden Kritiker der Ökosteuer wollen dies gar nicht. Herr Brüderle, Ihr Kollege und unser früherer Kollege im Bundestag, der Kollege Möllemann, will zum Beispiel die Ökosteuer für Straßenbaumaßnahmen ausgeben. ({4}) Ich bezweifle, ob dieses dann ökologisch so wertvoll ist, wie Sie bzw. der Kollege Möllemann es darstellen. ({5}) - Ich finde es Klasse, dass Sie hier Ihren Herrn Möllemann in aller Deutlichkeit verleugnen. ({6}) Insgeheim gehen Sie auf seine Vorschläge ein und wollen gemeinsam mit dem Herrn Möllemann einen eigenen Kanzlerkandidaten aufstellen. Das werden wir noch mit Interesse beobachten. Wir werden noch des Öfteren bei Ihrem Parteimitglied Möllemann den Finger auf die Wunde legen. ({7}) Die Bundesregierung hat sich als primäres Ziel die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vorgenommen. ({8}) Ein wichtiger Aspekt sind die Lohnnebenkosten, die in der Bundesrepublik zu hoch liegen, weil sie während Ihrer Regierungszeit so stark gestiegen sind. Um hier eine Veränderung zu erreichen, verwendet die Bundesregierung die Erträge aus der Ökosteuer zur Senkung der Rentenversicherungsbeiträge und reduziert so die Lohnnebenkosten. Als Folge treten positive Effekte auf dem Arbeitsmarkt auf. Ich gehe davon aus, dass Sie heute in den Nachrichten die Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit gehört haben. Diese belegen das nämlich ganz aktuell: Insgesamt gibt es 3,47 Millionen Arbeitslose. ({9}) - 3,74 Millionen. Herzlichen Dank. Mir ist hier ein Zahlendreher passiert. - Wir meinen, dass das immer noch zu viele sind, aber dieser Wert ist der niedrigste seit 1995. ({10}) Ich erinnere daran, worüber der Kollege Merz heute Morgen in der Steuerdebatte geredet hat. Er sprach davon, dass er auf dem Arbeitsmarkt keine Veränderungen feststellen kann. Ich stelle fest: Das ist eine Aussage ohne Sachverstand. Auch hier hätte sich Ihr Kollege Merz sachverständig machen müssen. ({11}) Langfristig, Herr Fromme, hat die Ökosteuer auch einen ökologischen Lenkungseffekt. ({12}) Industrie und Verbraucher orientieren sich um. Neben einem verantwortungsvolleren Umgang mit nicht erneuerbaren Ressourcen schaffen die Entwicklung und Produktion neuer Umwelttechnologien Arbeitsplätze und lassen die deutsche Wirtschaft international gut dastehen. Dies bestätigt auch eine Aussage des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung, wonach ein Aussetzen der Ökosteuer in den nächsten drei Jahren insgesamt 500 000 Arbeitsplätze gefährden würde. Auch hier stelle ich fest: Mehr und bessere Informationen Ihrerseits könnten Sie des Öfteren davor bewahren, unsinnige Anträge zu stellen. ({13}) In der Aktuellen Stunde am 7. Juni haben wir Ihnen die Aussagen der alten Regierungskoalition zur Ökosteuer ins Gedächtnis gerufen, insbesondere jene der Kollegin Merkel und der Kollegen Schäuble und Repnik, die erklärt haben: Die klare politische Zielsetzung einer stetigen Verteuerung des Umweltverbrauchs gibt Investoren die notwendige Orientierung für langfristige Projekte.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Grotthaus, kommen Sie bitte zum Schluss.

Wolfgang Grotthaus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003137, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. - Ich will diese Aussage noch ergänzen: Sie sorgt auch dafür, dass technologischer Fortschritt und Innovation im Umweltbereich vorangetrieben werden. Heute will die Opposition davon nichts mehr wissen. Sie fordert die komplette Streichung der Ökosteuer, ohne darzustellen, wie sie die von mir genannten Ziele dann erreichen will. Ich sage Ihnen heute erneut - und damit zum dritten Mal -: Die Ökosteuer bleibt. Sie erfüllt langfristig den Zweck, Arbeit und Umwelt gleichrangig zu bewerten. Wir sind mit der Einführung der Ökosteuer angetreten, dieses Ziel zu erreichen. Herzlichen Dank. ({0})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Kollege Heinz Seiffert für die CDU/CSU-Fraktion.

Heinz Seiffert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002797, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Menschen in Deutschland bewegt derzeit nichts mehr als die explodierenden Preise für Benzin und Heizöl. ({0}) Längst reicht ein 100-Mark-Schein für eine Tankfüllung nicht mehr aus. Viele Mieter werden demnächst aus allen Wolken fallen, wenn sie ihre Nebenkostenabrechnung bekommen. Die Menschen in unserem Land sind sauer, weil sie spüren, dass sie abkassiert werden. ({1}) Herr Kollege Grotthaus, wenn Sie sagen, es gehe uns nur um die Lufthoheit über den Stammtischen, dann muss ich Sie fragen: Wie weit sind Sie eigentlich von den Problemen der Menschen weg, seit Sie seit anderthalb Jahren regieren? ({2}) Natürlich wissen auch wir, dass es nicht allein die Ökosteuer ist, die für die hohen Spritpreise verantwortlich ist. ({3}) Hinzu kommt die Außenwirkung des Euro, die etwas schwächer ist als erwartet. ({4}) Dazu zählen die gedrosselten Ölfördermengen und die dadurch gestiegenen Preise. Klar ist aber: Die Initialzündung für diese Preistreiberei an den Tankstellen geht auf Sie zurück. Das hat die rot-grüne Regierung mit ihrer so genannten Ökosteuer zu verantworten. ({5}) Sie haben mit Ihrem Stufenplan für die nächsten fünf Jahre gezeigt, dass Sie einen Erhöhungsspielraum von 35 Pfennig bei den Spritpreisen sehen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Seiffert, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Heinz Seiffert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002797, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lassen Sie mich diesen Gedanken noch zu Ende führen. Sie gehen davon aus, dass es einen Erhöhungsspielraum von 35 Pfennig gibt. Jetzt wundern Sie sich, wenn der Markt nicht auf den Staat wartet, wenn also andere versuchen, schneller diesen Spielraum auszuschöpfen.

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Herr Kollege Dreßen, bitte Ihre Zwischenfrage.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kollege Seiffert, nachdem Sie schon mehrmals diese Mär wiederholt haben, möchte ich Sie fragen: Können Sie mir einmal sagen, wie die CDU/CSU die Rente in Ordnung gebracht hätte? Wir wissen ja, dass wir im Rentenbereich Fremdleistungen in Milliardenhöhe hatten. ({0}) Nach Durchsetzung Ihrer Vorstellung wären die Beiträge auf 22 oder 23 Prozent angestiegen und hätten damit die Lohnnebenkosten erhöht. Das konterkariert die Aussage von Herrn Merz, die Lohnnebenkosten zu senken. Sagen Sie mir bitte: Wie hätten Sie ohne die Ökosteuer die Rente in Ordnung gebracht und die Fremdleistungen steuerfinanziert? ({1})

Heinz Seiffert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002797, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Dreßen, ich frage zurück: Was hat die Ökosteuer im Ernst mit der Rente zu tun? ({0}) Ich sage es Ihnen: Rein gar nichts. Wir haben eine Rentenreform durchgeführt, die Sie ohne jegliche Not zurückgenommen haben. ({1}) Jetzt müssen Sie Maßnahmen treffen, die für die alten Menschen sehr viel schlimmere Folgen haben. Das ist die Wahrheit. Mit der Ökosteuer hat das Ganze nichts zu tun. Daraus wird deutlich, dass Sie nur abkassieren wollen. ({2}) Wir haben es bei jeder Gelegenheit prophezeit: Sie treffen mit der Ökosteuer besonders die Menschen - das sagen wir Ihnen noch oft, auch wenn es Ihnen wehtut -, die es sich am wenigsten leisten können. ({3}) Diese Ökosteuer wird keine ökologische Lenkungsfunktion entwickeln und sie wird ganze Branchen in ihrer Existenz gefährden. Diese Entwicklung haben wir kommen sehen. Wir haben es Ihnen gesagt und Sie haben es nicht zur Kenntnis genommen. Auch die Tourismusbranche wird dies spüren. Die Menschen werden weniger mit dem Fahrzeug, mit ihrem PKW, Urlaub in Deutschland machen - das gilt auch für die Busreisen - und es wird alsbald die Tatsache zu beklagen sein, dass die Gastronomie einen Rückgang verspürt. ({4}) Auch die Bahn mit ihren gestiegenen Preisen ist da leider keine reizvolle Alternative. ({5}) Es ist bereits jetzt, nach der zweiten Stufe Ihrer Ökosteuerreform, überdeutlich: Diese Erhöhung der Energiepreise entwickelt keinerlei Lenkungswirkung. Von dieser Steuer geht keinerlei Anreiz zu Einsparungen von Energie aus. Das haben Sie vermutlich auch gar nicht gewollt. Der Kollege Brüderle hat es gesagt: Sie brauchen ja das Geld. ({6}) Die Autofahrer zahlen in den Jahren 1999 bis 2003 zusätzlich 68,5 Milliarden DM Mineralöl- und Mehrwertsteuer. Dies führt kaum zu einer weiteren Senkung der Rentenbeiträge und von diesen Mitteln geht keine Mark in zusätzliche Investitionen bei den Verkehrsanlagen. Das ist besonders zu beklagen. Sie stopfen mit diesem Geld nicht Löcher in den Straßen, sondern Sie stopfen damit Löcher in der Rentenkasse, die Sie selbst gerissen haben. ({7}) Die Ökosteuer ist das beste Beispiel für Ihre unausgewogene und unsoziale Politik; denn betroffen sind vor allem die sozial Schwächeren. Rentner, Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, Studenten, kinderreiche Familien, insbesondere die Menschen im ländlichen Raum sind die Leidtragenden der hohen Spritpreise. ({8}) Sie können nicht auf den ÖPNV ausweichen und profitieren oft auch nicht von der Absenkung der Rentenbeiträge. ({9}) Sie haben immer angekündigt, dass mit Ihrer Ökosteuer der Ausbau der erneuerbaren Energien gefördert werden solle. In der Realität sieht es aber leider so aus, dass erneuerbare Energien, insbesondere der Solarstrom, voll besteuert werden, aber andere, begrenzt verfügbare Energieträger, die unsere Umwelt belasten, von der Ökosteuer ausgenommen werden. Also, wer das logisch findet, muss mir das einmal erklären. ({10}) All die hehren Ziele, die Sie vorgegaukelt haben, waren Nebelkerzen. Die Ökosteuer dient in Wirklichkeit nur einem: der Geldbeschaffung. ({11}) Nach Angaben des Mineralölverbandes stiegen die Steuereinnahmen im Jahr 1999 bei Benzin um knapp 5 Prozent, bei Diesel sogar um 12,5 Prozent. Da habe ich auch Verständnis dafür, wenn die Mineralölwirtschaft heute klagt, dass sie nicht mehr in erster Linie Mineralölhändler sei, sondern Steuereintreiber geworden sei. Meine Damen und Herren, werfen wir einen Blick auf die Wirtschaft in Deutschland. Diese ist geprägt von zahlreichen kleinen und mittleren Betrieben, die allesamt von der Ökosteuer betroffen und durch sie belastet sind. Für das produzierende Gewerbe haben Sie einen reduzierten Steuersatz und - mit viel bürokratischem Aufwand - auch eine Rückvergütungsmöglichkeit geschaffen. ({12}) Der ganze Mittelstand aber, Handel, Handwerk, Verkehrs- und Dienstleistungsunternehmen gehen leer aus. Diese Betriebe haben doch gar keine andere Wahl, als die Mehrkosten über die Preise weiterzugeben, und das schlägt sich in der gestiegenen Inflationsrate nieder. Oder es wird Personal eingespart. Es sind doch keine Märchen, wenn die Kraftfahrzeuggewerbebetriebe - ein Eckpfeiler unserer Wirtschaft - beklagen, dass sie 60 000 bis 100 000 Arbeitsplätze abbauen müssen. Nehmen Sie eigentlich nicht zur Kenntnis, dass die Zulassungszahlen für PKWs in Deutschland im ersten Quartal dieses Jahres um 9 Prozent zurückgegangen sind? Die Ökosteuer hat nach meiner festen Überzeugung dazu einen erheblichen Beitrag geleistet. Dem öffentlichen Nahverkehr, der ja nach grünen Idealvorstellungen eigentlich als Alternative zum Auto gelten sollte, entstehen durch die insgesamt fünf Stufen der Ökosteuer fast eine halbe Milliarde DM an zusätzlichen Kosten. Dazu sagt der Hauptgeschäftsführer des deutschen Städte- und Gemeindebundes: Natürlich wird das über die Preise abgewälzt. Wer soll es denn sonst bezahlen? Die Auswirkungen der Ökosteuer machen auch dem deutschen Güterkraftverkehrsgewerbe schwer zu schaffen. Den im harten Wettbewerb innerhalb der EU stehenden deutschen „Brummis“ haben Sie zusätzliche Lasten aufgebürdet, die bei vielen kleinen und mittleren Betrieben echt an die Existenz gehen. Viele Speditionen leben derzeit nur noch von der Substanz, viele Arbeitsplätze sind in Gefahr. Das kann Ihnen doch nicht egal sein! Der Verband des Güterkraftverkehrsgewerbes hat doch nicht aus Lust und Tollerei eine Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Das ist doch ein Hilfeschrei dieser Unternehmen. Besonders die neuen Bundesländer sind von der Ökosteuer betroffen. Den dortigen Betrieben geht es vielfach wirtschaftlich schlechter als denen in den alten Ländern, und die Strompreise sind dort ohnehin schon höher als im Westen, ganz zu schweigen von den östlichen Nachbarländern. Sie belasten mit der Ökosteuer die Konkurrenzfähigkeit der jungen Betriebe im Osten. Ist das Ihr Beitrag zum Aufbau Ost? ({13}) - Ja, Herr von Larcher, das sind die praktischen Auswirkungen. Das muss man Ihnen sagen, da Sie sich nicht darum kümmern. ({14}) Auch die Finanzsituation der Kommunen ist durch die Ökosteuer belastet. Die höheren Strompreise in Kindergärten, Schulen, Sporthallen und Schwimmbädern steigern die Kosten in diesen öffentlichen Einrichtungen. Noch ein Wort zur Landwirtschaft. Viele Arbeitsplätze können in diesem Bereich nicht mehr verloren gehen. Doch der Strukturwandel wird durch die Ökosteuer ebenso wie durch das Steuerbelastungsgesetz und die Agenda 2000 weiter beschleunigt. In Süddeutschland schließen zurzeit täglich zwölf Milchviehbetriebe. ({15}) Im Moment haben sie noch Pächter für ihre aufgegebenen Flächen. Aber wenn die Entwicklung so fortschreitet, haben sie diese bald nicht mehr, weil dann auch die größeren Betriebe nichts mehr verdienen. Was machen Sie dann mit der viel gepriesenen Kulturlandschaft? Wollen Sie dann staatliche Landschaftspfleger einstellen? Wir brauchen doch die Landwirtschaft! ({16}) Es gibt also unendlich viele gute Gründe, die Ökosteuer sofort abzuschaffen. ({17}) Erste Zweifel an der Richtigkeit des beschrittenen Wegs hat man, wie ich höre, sowohl in der SPD als auch bei den Grünen. Vielleicht wird uns Herr Kollege Loske nachher noch näher erläutern, wie er entsprechende Äußerungen am 30. März 2000 gemeint hat. Die Ökosteuer ist unsozial, sie nutzt der Umwelt nicht, sie ist wirtschaftsfeindlich; deshalb ist sie unsinnig. Aus diesem Grunde muss sie weg. Insofern unterstützen wir mit Nachdruck den Antrag der F.D.P. Falsch wäre nach unserer Überzeugung allerdings, jetzt - wie dies auch im F.D.P.-Antrag gefordert wird - die Kfz-Steuer abzuschaffen und auf die Mineralölsteuer umzulegen. Damit würden Sie nur von dem rot-grünen Ökosteuerunsinn ablenken. ({18}) Herr Brüderle, im Gesetzblatt vom 18. April 1997 steht, dass wir nach fünf Jahren, also 2002, prüfen wollen, ob eine solche Umlage sinnvoll wäre. Dabei sind allerdings die Auswirkungen einer solchen Maßnahme für die schon jetzt gebeutelten Autofahrer, besonders im ländlichen Raum, zu bedenken. Es ist auch zu beachten, dass wir dann aus der Mineralölsteuer eine weitere Gemeinschaftssteuer machen würden. Das halte ich nicht für erstrebenswert. Wir sehen also keine Veranlassung, in diesem Punkt jetzt aktiv zu werden. Deshalb können wir die Ziffer 2 des F.D.P.-Antrags nicht mittragen. Wir legen unser Hauptaugenmerk weiterhin auf die Ökosteuer. Die muss weg. Versenken Sie die Ökosteuer im Sommerloch, rückwirkend und erst recht für die Zukunft. Vielen Dank. ({19})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Nächster Redner ist der Herr Kollege Reinhard Loske, Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen.

Dr. Reinhard Loske (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003176, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will heute nicht darüber reden, dass auch die CDU/CSU und die F.D.P. früher einmal für die ökologische Steuerreform waren; ({0}) ich will auch nicht Herrn Repnik, Herrn Schäuble, Frau Merkel und Herrn Töpfer zitieren. Ich will ebenso nicht darüber reden, dass die Mineralölsteuer in den 90er-Jahren um 50 Pfennig angestiegen ist, ({1}) dass gleichzeitig die Rentenversicherungsbeiträge angestiegen sind und dass im letzten Jahr Ihrer Regierung sogar die Mehrwertsteuer erhöht werden musste, damit die Rentenversicherungsbeiträge stabil bleiben konnten. Darüber möchte ich nicht reden, ({2}) und zwar deshalb nicht, weil ich glaube, dass diese immer gleiche Leier die politische Kultur in diesem Lande verdirbt und die Politikverdrossenheit bei den Menschen erhöht. ({3}) Ich möchte stattdessen über den vorliegenden Antrag der F.D.P. sprechen, Herr Brüderle. Der Antrag enthält drei Punkte: Ökosteuer zurücknehmen, Kfz-Steuer abschaffen und umlegen und Kilometerpauschale umwandeln - wobei Sie sich ein bisschen vor der Frage drücken, wo denn die Freigrenzen liegen sollen usw. Ich möchte zu dem ersten Punkt kommen, zur Abschaffung der ökologischen Steuerreform. Dazu möchte ich die ersten beiden Sätze aus der Begründung Ihres Antrags vorlesen. Sie lauten: Die Steuererhöhungen im Rahmen der so genannten ökologischen Steuerreform haben keine ökologischen Wirkungen erzielt. Der Benzinverbrauch steigt weiter an. Dem will ich ein paar Fakten entgegenhalten: Erstes Beispiel: Shell meldet für Januar bis April dieses Jahres - das ist erst vor wenigen Tagen veröffentlicht worden - im Vergleich zum Vorjahr einen Rückgang des Benzinabsatzes um 4,5 Prozent. Das heißt, hier besteht eine Lenkungswirkung. Zweites Beispiel: Bei allen Automobilkonzernen, und zwar durchweg, gibt es die Tendenz zum Sparauto. Das ist eine sehr löbliche Aktivität. ({4}) Ich will einmal darstellen, wie man das bei DaimlerChrysler sieht. Der Umweltbevollmächtigte Werner Pollmann hat gemäß „FAZ“ vom 13. Juni dieses Jahres Folgendes gesagt: Er sei erstens kein Feind der Ökosteuer. Man könne damit leben. Die öffentliche Diskussion halte er zweitens für sehr populistisch. Drittens und letztens könnten - jetzt passen Sie gut auf - hohe Kosten für Treibstoffe eine Quelle für Innovationen sein. Die deutschen Hersteller arbeiteten daran, den Benzinverbrauch weiter zu drücken. - Es gibt also eine ganz klare Tendenz zu Energiesparautos. ({5}) Drittes Beispiel - auch das fand ich sehr interessant -: Wenn die These richtig wäre, dass nichts passiert, wie kann es dann zu einer Meldung wie der vom 28. Juni dieses Jahres mit der Überschrift „ADAC will Autofahrern Benzinsparen beibringen - Spritsparschule in München eröffnet“ kommen? Landauf, landab sprießen solche Fahrschulen aus dem Boden. Die zeigen nämlich, wie man durch eine angepasste Fahrweise bis zu 25 Prozent des Spritverbrauchs einsparen kann. ({6}) Beispielsweise die Heidelberger Firma Eco-Consult auch das ist der Presse zu entnehmen - hat 210 Beamte der Bereitschaftspolizei Biberach im ökologischen Fahrstil trainiert. Das Ergebnis ist ein 20-prozentiger Rückgang des Verbrauchs. Genau das sind die Entwicklungen, die wir haben wollen. ({7}) Vierter und letzter Punkt inhaltlicher Natur, den ich anführen möchte: Vor wenigen Wochen war in der „Berliner Zeitung“ zu lesen, die Münchener Rückversicherung wahrlich kein unbedeutendes Unternehmen - plädiere aufgrund der wachsenden Schäden durch Naturkatastrophen, durch Klimawandel und anderes - 1999 sei weltweit ein Schaden von über 100 Milliarden Dollar entstanden - für eine deutliche Anhebung der Ökosteuer und für deren kontinuierliche Weiterentwicklung. Zitat: „Andernfalls sind die Gefahren durch zukünftige Naturkatastrophen nicht mehr versicherbar.“ Ich weiß nicht, wie Sie auf die Idee kommen, dass all das nichts bringen würde. Die Realität ist anders. Sie haben keine Verbündeten mehr. Deswegen sprechen Sie, Herr Brüderle, nur noch sehr allgemein. Bei Ihrem Stammtischniveau glaubt Ihnen das sowieso keiner mehr. ({8}) Warum sollen wir hier in Deutschland - das ist mein letzter Punkt zur Abschaffung der Ökosteuer; übrigens sind wir in Europa immer noch auf Platz neun; das will ich Ihnen vor Augen halten - mit dem Erfolgsmodell der ökologischen Steuerreform aufhören, wenn andere, wie Frankreich, Großbritannien und Italien, in die gleiche Richtung marschieren? Sie wollen Deutschland in die umweltpolitische Eiszeit zurückschießen. ({9}) Da wollen wir nicht hin. Da müssen Sie allein hingehen. Das schaffen Sie aber nicht. ({10}) Zur Umwandlung der Kfz-Steuer. Es gibt Gründe dafür, die Kfz-Steuer auf die Mineralölsteuer umzulegen. Es gibt aber auch Gründe dagegen. Zwei möchte ich nennen: Der erste Grund ist der, dass man bei der Kfz-Steuer soziale Differenzierungsmöglichkeiten vornehmen kann, dass zum Beispiel Behinderte auch in Zukunft von der Kfz-Steuer befreit werden können. Das wäre bei einer Umlegung der Kfz-Steuer auf die Mineralölsteuer nicht möglich. - Das ist ein Grund, der dafür spricht. Ein zweiter Grund, der dafür spricht: Wir können die Kfz-Steuer durch eine ökologisch orientierte Spreizung, indem wir sie nämlich am CO2-Ausstoß bzw. am Benzinverbrauch orientieren, auch so einsetzen, dass bestimmte Innovationen stimuliert werden bzw. Sparautos schneller auf den Markt kommen. ({11}) Immerhin ist der Antrag der F.D.P. insofern ein Fortschritt, als nicht zum wiederholten Male der Ladenhüter der F.D.P., man wolle einen dritten Mehrwertsteuersatz auf Energie einführen, herausgeholt wird. Nach soundso vielen Jahren hat auch die F.D.P. kapiert, dass solche nationalen Alleingänge, die wir nicht vorhaben, nichts bringen und von der EU-Kommission nicht akzeptiert würden. Danke schön. ({12})

Petra Bläss-Rafajlovski (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000189

Für die PDS-Fraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Gregor Gysi.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe eine Redezeit von drei Minuten. Das ermöglicht es mir, das Problem in seiner gesamten philosophischen, religiösen, juristischen, ökonomischen, ökologischen, sozialen, sozial-kulturellen und nicht zuletzt politisch-ideologischen Tiefe zu ergründen. ({0}) Ich will Ihnen deshalb sagen: Das Auto ist weder eine Schöpfung Gottes noch eine Erfindung des Satans. ({1}) Wir müssen einfach versuchen, mit der berühmten Kirche im Dorf zu bleiben. Deshalb betone ich: Die Ökosteuer, so wie sie angelegt ist, ist falsch. Sie können über die bestehenden Probleme auch mit entsprechenden Reden nicht hinwegtäuschen. ({2}) Das erste entscheidende Problem ist und bleibt: Sie verwenden die Einnahmen aus der Ökosteuer nicht für den ökologischen Umbau. ({3}) Sie bringen sich selber in Abhängigkeit, weil Sie damit etwas Notwendiges finanzieren. Sie sind auf diese Finanzen so angewiesen, dass Sie gar nicht hoffen dürfen, dass die Ökosteuer je wirkt, ({4}) weil Sie sonst gar nicht wüssten, woher Sie das Geld nehmen sollten, um die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung stabil zu halten. ({5}) Man muss das Geld so verwenden, dass man jedes Jahr weniger dafür verbraucht. Das heißt, dass man im ökologischen Umbau weiter ist. Zweitens. Was die Energiesteuer betrifft, kommen Sie aus der Ungerechtigkeit, dass das industrielle Gewerbe gegenüber allen anderen Firmen deutlich bevorzugt wird, nicht heraus. ({6}) Ich frage Sie noch einmal: Wer, wenn nicht die Industrie, soll denn Energie sparen? ({7}) Dadurch ist klar, dass die ökologische Wirkung gegen Null tendiert. ({8}) Sie können den anderen Firmen auch nicht erklären, warum diese den vollen Preis zahlen müssen. Damit verwischen Sie auch Marktgesetze. Der dritte Punkt ist, dass die sozial Schwächeren sowie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch die gesamte Ökosteuer ganz deutlich zur Kasse gebeten werden. ({9}) Wenn Sie hier immer große Reden halten, wie Sie ihnen mit irgendwelchen Steuergesetzen entgegenkommen, ihnen das Geld hier aber wieder wegnehmen, dann sind diese Reden zumindest hinsichtlich der sozialen Gerechtigkeit nichts wert. Ich sage Ihnen das ganz deutlich. ({10}) Sie dürfen doch nicht nur an die Energiesteuer im engeren Sinne und an die Mineralölsteuer denken. Sie müssen auch einmal an die Heizkosten denken. In meine Sprechstunde kommen Bürgerinnen und Bürger, die mir nachweisen, dass sie aufgrund dieser Steuer jetzt 800 DM pro Jahr mehr zahlen. ({11}) - Ja, sie zahlen allein bei den Heizkosten 800 DM mehr. Wenn Sie dies nicht zur Kenntnis nehmen, ist es Ihr Problem. Aber das sind die Realitäten. Die müssen Sie sich einmal anschauen. ({12}) Jetzt komme ich zum Thema Auto. Dass das Auto ein Problem ist, ist doch unbestritten. Ich sage Ihnen auch ganz klar: Ja, wir brauchen eine ökologische Steuer. Denn Umweltverbrauch muss seinen Preis haben. Das ist ganz klar. Aber diese Steuer brauchen wir nicht. Deshalb stimmen wir Punkt 1 des Antrages der F.D.P. zu. Wir müssen diese Steuer hinsichtlich der Verwendung der Mittel und des sozialen Ausgleichs völlig anders anlegen. ({13}) Ich sage Ihnen noch etwas zum Thema Auto. Darüber kann und muss man ja diskutieren. Das ist ganz klar, und zwar nicht nur wegen der Schadstoffe, sondern auch wegen der Staus etc. Nur frage ich Sie: Wo und wann haben Sie je für eine Alternative gesorgt? Wie sieht es denn im öffentlichen Nah- und Fernverkehr aus? ({14}) Gerade durch die Ökosteuer werden Bahn und Bus noch teurer. Gleichzeitig werden die Entfernungen zu den Arbeitsplätzen immer weiter. So sieht die heutige Struktur aus. Sie sagen den Menschen ja nicht, wie sie zu ihren Arbeitsplätzen kommen sollen. Wissen Sie, das Motto lautet hier: erst laufen, dann noch frieren. Das ist einfach ein bisschen viel verlangt und so nicht machbar. ({15}) Deshalb sage ich Ihnen: Die Idee der Ökosteuer geht in Ordnung. Aber diese Ökosteuer ist ein völliger Griff daneben, und zwar in jeder Hinsicht. Deshalb sollten Sie sie lieber aufgeben und mit uns eine vernünftige Variante finden, ({16}) die wirklich ökologisch ist, aber auch sozial gerecht ist und dazu führt, dass wir endlich einen öffentlichen Personennah- und -fernverkehr bekommen, der eine Alternative zum Auto ist. ({17}) Aber man kann die Menschen nicht ohne Alternative vom Auto wegbringen. Das aber machen Sie. Gleichzeitig erzählen Sie ihnen, sie müssten bereit sein, 100 Kilometer weit zu fahren, um einen Arbeitsplatz zu finden. Auch Punkt 2 des Antrages geht in Ordnung. Eine Entfernungspauschale ist viel besser als eine Kilometerpauschale. ({18}) Stellen Sie sich einmal vor: Drei Leute, die in der gleichen Straße wohnen und 50 Kilometer zu ihren Arbeitsplätzen fahren, zwingen Sie dazu, dass alle drei getrennt mit ihrem eigenen Auto fahren, damit sie die Kilometerpauschale erhalten. Bestünde jedoch eine Entfernungspauschale, könnten sie sich wenigstens in nur ein Auto setzen. Das würde schon deutlich Benzin sparen. Aber nicht einmal dazu sind Sie bereit. Deshalb sage ich: Nein, mit dieser Ökosteuer werden Sie niemals landen. ({19})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

So wurden aus drei Minuten viereinhalb Minuten. ({0}) Jetzt hat der Kollege Reinhard Schultz, SPD-Fraktion, das Wort.

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ökosteuer ist eigentlich für jede zweite Sitzungswoche ein schönes Thema - keine Frage. Ich verstehe auch die Absicht, die damit verbunden ist, dieses Thema in der Urlaubszeit zu besetzen. Das ist aus Ihrer Sicht taktisch völlig in Ordnung, an der Sache natürlich leider völlig vorbei. Es kam ohne Frage zu erheblichen Benzinpreiserhöhungen, und zwar aufgrund von Marktentwicklungen, einer Verknappung der Rohölproduktion und aufgrund einer Euro-Dollar-Parität, die Importe außerordentlich belastet, ({0}) unsere Exporte dafür deutlich gefördert hat. Man kann nicht beides - eine Import- und Exportförderung - haben, sondern das eine geht immer zulasten des anderen. Der Anteil der Ökosteuer an den Benzinpreiserhöhungen - das ist eben schon dargelegt worden - macht nur einen kleinen Bruchteil aus. Aber wir haben zum Beispiel beim Strompreis ebenfalls eine Ökosteuerkomponente. Aber in diesem Bereich sinken aufgrund der Marktentwicklung die Preise. Das heißt, die Steuer beeinflusst im Gegensatz zu Ihrer Aussage, Herr Kollege Seiffert, nicht unbedingt die Preispolitik derjenigen, die die Energie liefern. Dass es andere Faktoren gibt, wird gerade an diesem Beispiel offensichtlich. Schauen wir uns die Benzinpreise in Deutschland an, stellen wir fest, dass wir immer noch im oberen Mittelfeld und nicht etwa ganz oben liegen, da die Benzinpreise aus den geschilderten Gründen auch in anderen Ländern steigen. Wenn sich also Ihr berühmter Urlauber mit seinem Auto vom Allgäu abwendet und stattdessen nach Frankreich fährt, zahlt er 10 Pfennig mehr für den Liter Sprit, in Dänemark sogar 20 Pfennig. ({1}) - Vielleicht fliegt er auch nach Mallorca; es sei ihm gegönnt. - Aber im europäischen Ausland findet er keine „Billigbenzinoasen“, die er anfahren könnte. In vielen Fällen ist das Benzin dort nach wie vor deutlich teurer als bei uns, im Übrigen auch in Ländern ohne Ökosteuer. Dass bei uns die Preise, auch wenn sie außerordentlich hoch sind, im Vergleich zum europäischen Ausland noch einigermaßen auf dem Teppich geblieben sind, liegt auch daran, dass wir hier eine halbwegs vernünftige Wettbewerbsstruktur haben. Das Tankstellennetz verfügt - Sie haben sich diesem Thema dankenswerter Weise bei anderer Gelegenheit zugewandt - dem Umsatzvolumen nach über 20 Prozent freie Tankstellen. Dadurch wird ohne Frage im Vergleich zu Frankreich, wo es nur ganz wenige Kraftstoffanbieter gibt, die Preisgestaltung korrigiert. Wenn jemand wie Sie, Herr Brüderle, sich jetzt zum wiederholten Male zum Schutzheiligen der Sozialhilfeempfänger aufschwingt, die mit ihren Dreiliterautos besonders unter den Spritpreisen zu leiden haben ({2}) - natürlich haben Sie das wiederholt getan -, dann muss man einmal vergleichen, wie sich in Europa die Benzinpreise zu den Arbeitslöhnen verhalten. Wie lange muss ein Arbeitnehmer eigentlich arbeiten, um einen Liter Sprit bezahlen zu können? In Deutschland sind es gut fünf Minuten, in Großbritannien 6,5 Minuten, in Italien acht Minuten, in Griechenland mehr als neun Minuten und in Portugal fast 15 Minuten. Obwohl die Preise völlig unterschiedlich sind, zeigt sich deutlich, dass die Preise und die Einkommen in ein Verhältnis gesetzt werden müssen, wenn man bewerten will, wie sich der Spritpreis auf das soziale Gefüge auswirkt. Hier können wir uns mit einer Arbeitszeit von fünf Minuten im Vergleich mit fast allen europäischen Ländern gut sehen lassen. Das ist die einzige Kenngröße, die unter sozialen Gesichtspunkten zählt. ({3}) Wir haben die Ökosteuer bewusst so angelegt - dabei folgten wir im Übrigen einer Empfehlung der Europäischen Kommission -, dass wir eine Umwidmung erreichen: weg von der überhohen Belastung des Faktors Arbeit hin zur Belastung des Naturverbrauchs, ausgedrückt durch Energieverbrauch. Diese Rechnung ist nach wie vor richtig. Ginge aufgrund dieses Mechanismus der Energieverbrauch konsequent zurück - hier gebe ich Ihnen völlig Recht -, würde sich irgendwann der Effekt aufheben. Aber unsere Politik ist doch nicht, auf Dauer die Rente über die Ökosteuer zu finanzieren. Vielmehr geht es darum, bestimmte Verwerfungen aufgrund des demographischen Altersaufbaus und aufgrund von Altlasten, die mit versicherungsfremden Leistungen zusammenhängen, zum Beispiel die Finanzierung von DDR-Renten oder von Renten der Menschen, die aus Russland gekommen sind und hier nichts eingezahlt haben, aus Steuermitteln zu finanzieren. Das ist ein endliches Problem. Irgendwann wird der Bedarf an steuerfinanzierten Bestandteilen zurückgehen, sodass die Ökosteuer für andere Aufgaben verwandt werden kann. Der Shell-Konzern stellt dar, dass es in etwa 14, 15 Jahren einen riesigen Aha-Effekt geben wird, weil dann die Mineralölvorräte der ganzen Welt zu mehr als der Hälfte verbraucht sein werden. Dann werden Sie einmal sehen, was wir für Preise haben werden. Wenn wir uns vorher auch über die Steuerpolitik nicht darauf einstellen und damit initiieren, dass Technologien entwickelt werden, die mit deutlich weniger Energie auskommen, dann werden wir unser blaues Wunder erleben, was das Thema moderne Volkswirtschaft angeht. Dann stolpern wir nämlich in eine Kostenfalle, aus der wir nicht herauskommen werden. ({4}) Das ist der Sinn, deswegen unterstützen uns aufgeklärte Konzerne bei unserer Politik eines geplanten sanften Anstiegs. Dass im Augenblick Abzockerei eine Rolle spielt, dass die Mineralölkonzerne, obwohl die Einstandspreise der rohölproduzierenden Länder gesunken sind, noch einen drauflegen, ist nun einmal unmittelbar vor der Ferienzeit ein Mitnahmeeffekt, der sehr ärgerlich ist. Das Ganze hat auch etwas mit der Wettbewerbspolitik der großen Ketten gegenüber den kleinen freien Tankstellen zu tun. Dem gehen wir nach, und das wird auch mit großer politischer Aufmerksamkeit verfolgt werden. Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., haben in Ihrer Kleinen Anfrage, die ich im Übrigen gut finde - die Antwort darauf ist vom 14. Juni -, folgende Eingangsbemerkung gemacht: Mit einem Anteil von ca. 40 Prozent am Primärenergieverbrauch in Deutschland nimmt das Mineralöl eine Spitzenstellung ein. Die Entwicklung des Kraftstoffabsatzes ist daher auch in Zukunft von hervorragender Bedeutung. Trotz steigenden Verkehrsaufkommens wird der Verbrauch von Ottokraftstoff durch sparsame Fahrzeuge bis zum Jahr 2010 um circa 18 Prozent ... sinken. Dieselkraftstoff ... ({5}). Damit bestätigen Sie, dass es trotz mehr Mobilität Effekte gibt, durch die deutlich weniger Primärenergie, sprich: Mineralöl, verbraucht wird. ({6}) Ihr wissenschaftlicher Mitarbeiter hat das gut erkannt. Sie in Ihrer Weinfestlaune, Herr Brüderle, haben das nicht gelesen. Das ist das Problem. Ich denke, Ihre eigenen Dokumente sind das beste Zeugnis dafür, welche Widersprüche in Ihren Reihen auszutragen sind. Ich finde es nicht schlecht - ich schließe mich hier ausdrücklich dem Kollegen Loske an -, ({7}) wie sich der ADAC in letzter Zeit auf diese Diskussion einlässt.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Denken Sie bitte auch an Ihre Redezeit, Herr Kollege.

Reinhard Schultz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002791, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, Frau Präsidentin. Der ADAC setzt sich mit an die Spitze der Bewegung, die fordert, Benzin sparende Automobile, die auch von den kleinen Leuten zu bezahlen sind, zu entwickeln. Das ist eine wesentliche Forderung, die ich für richtig halte. Wenn man hier breite politische Lobbyarbeit betriebe, statt dem Spritverbrauch das Wort zu reden, und dafür sorgen würde, dass intelligente Technik für jeden verfügbar ist, dann hätte der ADAC eine Chance, eine ökologisch ernst genommene Einrichtung zu werden, die auch vom politischen Umfeld mehr Unterstützung bekommen könnte. Ich bin fest davon überzeugt, dass uns, wenn wir uns in wenigen Jahren wieder treffen und uns über das unterhalten, was wir an Lenkungswirkungen, an sozialer Absicherung der Rente und an Entlastung des Faktors Arbeit erreicht haben, der Rückblick auf zehn Jahre Ökosteuer Recht geben wird. Vielen Dank. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3519 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit Reinhard Schultz ({0}) einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- sung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf: 15. a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung - Drucksache 14/1247 ({1}) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2}) - Drucksache 14/3781 Berichterstattung: Abgeordnete Margot von Renesse Volker Beck ({3}) Rainer Funke b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Jünger, Rosel Neuhäuser, Christina Schenk, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS Ächtung der Gewalt in der Erziehung wirkungsvoll flankieren - Drucksachen 14/2720, 14/3761 Berichterstattung: Abgeordnete Rolf Stöckel Irmingard Schewe-Gerigk Christina Schenk Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin Margot von Renesse, SPD-Fraktion.

Margot Renesse (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001820, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vom liebsten Kind des Deutschen, dem Auto, zum Kind. Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute Nachricht: Heute werden wir endlich das Züchtigungsrecht der Eltern ganz und gar aus dem Gesetz vertreiben und damit einem alten Anliegen, das alle Kindschaftsrechtler schon seit langem vorgebracht haben, entsprechen. ({0}) Es wäre schön, wenn wir das gemeinsam in diesem Hohen Hause beschließen könnten; denn die Botschaft, die davon ausgeht, ist nicht, dass wir nun mit Knüppeln auf die Eltern einschlagen, die ihrerseits, oft in ihrer Not, keinen anderen Weg wissen, mit Kindern umzugehen, die ihnen Schwierigkeiten machen, als mit Gewalt. Wir haben stattdessen in der Tat vor, mit Mitteln des Kinder- und Jugendhilferechts ihnen dabei behilflich zu sein, andere Wege gehen zu lernen. Dies ist etwas, was wir gemeinsam machen müssten, was wir als Botschaft aus diesem Hause in die Welt schicken müssten, damit es die Menschen, die es immer noch für richtig halten, dass man Kindern auch gelegentlich eine Ohrfeige oder gar eine Tracht Prügel verpasst, damit sie funktionieren, irgendwann nicht mehr gibt. Herr Pofalla, dies ist nicht Ihre Meinung; ich weiß das wohl. Umso wichtiger wäre es gewesen, dass wir ein gemeinsames Ja zu diesem Gesetzentwurf aussprechen. ({1}) Sie haben Bedenken. Sie hätten es lieber anders. Sie hätten es lieber so, wie Sie es in der vergangenen Legislaturperiode hätten haben können. Damals war das, was Sie jetzt akzeptieren würden, Inhalt unseres Beschlussvorschlags. Es gibt noch einen Punkt, an dem eine Möglichkeit verpasst ist. Jetzt ist die Situation total anders. ({2}) - Das ist genau das Richtige: Wer zu spät kommt, den bestraft leider das Leben. Wir haben das Problem, dass wir diese Botschaft nicht an alle Eltern gleichermaßen richten können; nicht etwa, dass sie ihren Kindern keine Grenzen setzen, nicht etwa, dass sie strafbarer werden als strafbar. Dies war auch schon in der letzten Legislaturperiode nicht unser Ziel. Um die Strafbarkeit der Eltern ist es uns nie gegangen. Dies sind Kanonen, die man auf Menschen richtet, die eigentlich Hilfe brauchen. Dies war nie unser Ziel. Strafbarer als strafbar geht es nicht. Insofern kann man hier wirklich sagen: Es geht nicht darum, dass die Familien mehr mit der Staatsanwaltschaft oder dem Strafrecht konfrontiert werden. Darin sind wir uns einig. Leider gibt es dazu nicht das gemeinsame Ja. Es wäre schön gewesen. In diesem Gesetzentwurf ist noch ein zweiter Punkt enthalten, der zur Folge hat, dass wir dazu nicht gemeinsam Ja sagen können. Es wäre gut gewesen, wenn wir gemeinsam an einem Unterhaltsrecht hätten arbeiten können, das dann so sein wird, wie es sein soll, wenn wir dieses Flickwerk, diesen gordischen Knoten, diesen Scherbenhaufen von Unterhaltsrecht angehen, den wir heute nur mit einem ersten Schritt verändern können. ({3}) Denn das, was Sie uns hinterlassen haben, ist grauenhaft. ({4}) - Herr Geis, kein Mensch, der eine Unterhaltsverpflichtung hat, kann mehr durch den Blick ins Gesetz etwas über die schlichteste Verpflichtung erfahren, die ein Mensch überhaupt hat, nämlich die Verantwortung gegenüber seinem Kind. Wir haben inzwischen ein HexenVizepräsidentin Anke Fuchs einmaleins, das nur noch Fachleute durchschauen können. ({5}) Das Einfachste vom Einfachen, dass ein Vater und eine Mutter ihrem Kind Unterhalt schulden, ist nur noch eine Sache für Experten. Das Unterhaltsrecht ist wie ein Fahrradschlauch, der hundertmal geflickt worden ist und bei dem inzwischen die Flicken geflickt werden. Die Arbeit, hieraus wieder ein Ganzes zu machen, bei dem alles zusammenpasst, ist in wenigen Wochen oder Monaten nicht zu leisten. Hier muss eine saubere und intensive Arbeit geleistet werden, um zu einem tragbaren Ergebnis zu kommen, das keine Bitterkeiten hinterlässt, weil niemand mehr versteht, warum das Ganze im Ergebnis gerecht sein soll. Schauen Sie sich einmal die Rechenprogramme der Anwälte und das an, was die Familienrichter - mitunter sogar mit unterschiedlicher Rechtsprechung - überall in diesem Land entscheiden. Dann fragen Sie sich, ob Sie der Verantwortung für das Familienrecht in diesem Land in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit gerecht geworden sind. Hier werden wir viel Geröll wegräumen müssen, das Sie uns hinterlassen haben. ({6}) Jetzt machen wir in der Tat nur einen ersten Schritt. Im Augenblick ist es so, dass eine allein erziehende Mutter dann, wenn sie Kindergeld und die Nettounterhaltszahlung des Vaters des Kindes bekommt, gerade so viel hat wie das steuerrechtliche Existenzminimum, das das tatsächliche Existenzminimum nicht erreicht. Die Halbteilung ist eine Theorie, die auf dem Papier steht. Sie entspricht nicht der Realität. Das Ergebnis ist, dass Vater und Mutter einander hassen, weil die Mutter sagt: „Er zahlt nicht genug“ - sie schaut in den Kühlschrank und stellt fest, dass es nicht reicht -, und der Vater in die Tabelle schaut und sagt: Sie frisst mir die Haare vom Kopf. Wir haben einen Anfang gemacht. Dies ist aber nicht genug. Es muss weitergehen und das werden wir tun. Vielen Dank. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich erteile nun der Kollegin Ingrid Fischbach, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.

Ingrid Fischbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003117, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau von Renesse, ich bin etwas enttäuscht. Ich kann verstehen, dass Sie darüber enttäuscht sind, dass wir nicht zustimmen, aber dass der Ton dann so wurde, hat mich enttäuscht. Bisher haben wir immer sehr gut miteinander geredet. ({0}) Dies fand ich etwas überzogen. Das musste ich jetzt loswerden. ({1}) Kinder sind vor Gewalt zu schützen. Darin sind wir uns alle einig. Wir alle haben zum Wohle des Kindes Sorge zu tragen. Zum Wohle des Kindes gehören - auch da sind wir uns alle einig - seine körperliche und seelische Unversehrtheit. Kinder, die in ihrer Kindheit Gewalt seitens ihrer Eltern erfahren haben, sind eher bereit, später selbst Gewalt anzuwenden. Studien belegen: Je häufiger bzw. intensiver befragte Jugendliche in ihrer Kindheit Gewalt seitens ihrer Eltern erfahren haben, desto positiver bewerten sie selbst die Anwendung von Gewalt. Es gilt diesen Kreislauf zu durchbrechen. Die Frage ist aber, wie wir diesem Anliegen näher kommen können. Reicht der heute hier vorliegende Gesetzentwurf? In der ersten Lesung des vorliegenden Gesetzentwurfs habe ich für die CDU/CSU-Fraktion einige Fragen angesprochen. Wir haben uns geeinigt, diese Fragen in einer Sachverständigenanhörung beantworten zu lassen. Einige sind auch beantwortet worden. Ich möchte jetzt nicht alle Problemfelder wieder aufreißen; aber lassen Sie mich auf zwei Aspekte eingehen: zum einen auf den Gewaltbegriff und zum anderen auf die Justiziabilität des Rechtsanspruchs. In der Anhörung ist klar geworden, wie schwer es ist, den Begriff Gewalt zu definieren, vor allem die psychische Gewalt. Ich denke an psychische Misshandlungen und auch an Kindesvernachlässigung. Hier fällt eine deutliche Abgrenzung schwer; auch die Zuordnung ist kaum nachvollziehbar. Es muss aber auch ein Unterschied zwischen der Gewalt allgemein und der Gewalt im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern gemacht werden. Mit dem Gewaltbegriff aus dem Strafrecht können wir nicht automatisch die Beziehung zwischen Eltern und Kindern erfassen. Muss Gewalt hier nicht anders definiert werden als im Strafrecht? Oder muss das Gesetz in § 1626 des Bürgerlichen Gesetzbuches angesiedelt und somit in den gesamten Prozess der Gestaltung des elterlichen Sorgerechts einbezogen werden? Dieses Problem ist meines Erachtens mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf noch nicht zufriedenstellend gelöst. Nun komme ich zu dem Aspekt der Justiziabilität. In vielen Veranstaltungen mit Kindern und Jugendlichen bin ich gefragt worden: Welche Möglichkeiten haben Kinder eigentlich, sich auf dieses Recht zu berufen, dieses Recht durchzusetzen? Auch hier war die Antwort der Sachverständigen eindeutig und klar: Keine. Es gibt für Kinder keine Möglichkeit, den Anspruch auf gewaltfreie Erziehung durchzusetzen. Das Recht hat lediglich Appellcharakter. Ich persönlich meine, dass dieser Appellcharakter auch in der Formulierung des Bundesrates deutlich wird: „Kinder sind gewaltfrei zu erziehen.“ Ich empfinde diese Formulierung den Kindern und Jugendlichen gegenüber ehrlicher. ({2}) - Ja, wir lernen ja auch dazu, Frau Kollegin. Sie können Ihrem Anspruch - das war Ihre Formulierung - jetzt auch nicht mehr zustimmen. Vor drei Jahren war das noch anders. Es gab also auch bei Ihnen einen Sinneswandel. Das kann schon mal passieren. Wir sollten unsere Kinder und Jugendlichen ernst nehmen. Die CDU/CSU-Fraktion hat in den Beratungen versucht zu erreichen, dass sich alle Fraktionen - auch uns, Frau Kollegin, wäre es lieb gewesen, wir hätten uns einigen können - auf die Formulierung des Bundesrates einigen: „Kinder sind gewaltfrei zu erziehen.“ Das war aber nicht möglich. Ich persönlich bedauere das sehr. Da aber auch meine Fraktion die Bedeutung dieses Gesetzentwurfes in Bezug auf die gewaltfreie Erziehung sieht, die Chance für Kinder anerkennt, den Bewusstseinsprozess von Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen weiterzubringen, das heißt, deutlich zu machen, dass wir als Gesellschaft jede Form von erzieherischer Gewalt gegen Kinder ablehnen, haben wir Ihren Vorschlag im Ausschuss nicht abgelehnt. Zustimmen konnten wir nicht; ich habe gerade deutlich gemacht, warum. Wir haben uns enthalten. Allerdings gilt diese Enthaltung nur für den Teil des Gesetzentwurfs, der die Ächtung der Gewalt in der Erziehung behandelt. Wir unterstützen damit den Appell, deutlich zu machen, dass jede Gewalt verkehrt ist. Aber wir alle sind uns einig, dass dieses Gesetzesvorhaben allein nicht ausreicht. Vielfältige flankierende Maßnahmen werden nötig sein, eine breite öffentliche Diskussion über einen umfassenden gesellschaftlichen Konsens in der Frage der Ächtung der Gewalt in der Erziehung zu erreichen. Hier sind konkrete Maßnahmen erforderlich wie eine breit angelegte Informationskampagne, die das Gesetz bekannt macht. Daneben gilt es, Aufklärungsarbeit zu leisten. Wir müssen Eltern und Kindern in Konflikt- und Krisensituationen Wege und Hilfen aufzeigen, wie sie zukünftig Konflikte ohne Gewaltanwendung bewältigen können. Deshalb sind unterstützende Regelungen unverzichtbar. Es gilt, Bewusstsein zu verändern. Eine veränderte Einstellung und ein verändertes Verhalten bei Eltern müssen wachsen und Unterstützung erhalten. Es kann nicht nur per Gesetz verordnet werden. Danke. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort der Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Per Gesetz können wir sicherlich nicht alles bestimmen, aber wir können per Gesetz Rahmenbedingungen setzen. Das zu tun ist auch unsere Aufgabe. Wir reden heute über einen Gesetzentwurf, der aus zwei Bestandteilen besteht. Beide sind Meilensteine in der Rechtsgeschichte. Beide sind für uns Grüne schon seit langem wichtige Herzensanliegen. Es geht um die Verbesserung des Unterhaltsrechts. Die Entwicklung der Unterhaltssätze wird künftig an das verfügbare Einkommen gekoppelt. Die Hälfte des Kindergeldes erhalten Unterhaltzahlende in Zukunft nur, wenn sie mehr als das Barexistenzminimum der Kinder aufbringen, nämlich 135 Prozent. Das hört sich zwar erst einmal nur formal an. In der Praxis heißt es aber, dass Einelternfamilien nicht mehr sozialhilfeabhängig werden, nur weil der Unterhaltszahler die Hälfte des Kindergeldes erhält und das Kindergeld nicht bei den Familien ankommt. Das ist ein wichtiger Teil sozialer Gerechtigkeit für Kinder. ({0}) Das ist die Fortsetzung einer Reihe von familienfreundlichen Maßnahmen im Hinblick auf die Familien- und Steuerpolitik. Denn für uns ist Familie dort, wo Kinder sind. ({1}) Ein besonderer Grund zu feiern ist der Hauptteil des Gesetzes. Das ist das Recht auf gewaltfreie Erziehung. Wir wollen damit signalisieren, dass Deutschland ein kinderfreundliches Land wird. Wir wollen nicht die Eltern kriminalisieren. Wir setzen auf Hilfe vor Strafe. Das Recht von Kindern auf gewaltfreie Erziehung führt nachweislich nicht zu mehr Unfrieden in den Familien. Ganz im Gegenteil: Es verbessert die Sensibilität füreinander, es steigert die Bereitschaft, Konflikte nicht eskalieren zu lassen, sondern frühzeitig Unterstützung zu suchen. Es stärkt die Familien, hilft unseren Kindern und stärkt sie. Wir wollen ja starke Kinder in der Gesellschaft. In den skandinavischen Staaten ist die Gewalt gegen Kinder um bis zu zwei Drittel zurückgegangen. Eine solche Entwicklung wünsche ich mir auch hier in Deutschland. ({2}) Dieses Gesetz überzeugt auch die Skeptiker. Als das Recht auf gewaltfreie Erziehung vor 20 Jahren in Schweden eingeführt wurde, waren zunächst einmal 70 Prozent der Bevölkerung dagegen. Heute sind 90 Prozent dafür. Weniger Gewalt gegen Kinder heißt auch weniger Gewalt in der Gesellschaft. Eine der größten deutschen Studien zeigt: Es gibt viele Ursachen für eine Fehlentwicklung und Störung bei Kindern. Aber nur wenn Kinder Opfer von Gewalt waren, werden sie auch später gewalttätig. Das wurde uns auch von den Experten in den Anhörungen bestätigt. Gewaltfreie Erziehung ist demnach nicht nur eine Form der Erziehung. Sie ist auch vorbeugende Kriminalpolitik. Volkswirtschaftlich gesprochen ist gewaltfreie ErIngrid Fischbach ziehung eine Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft, in eine friedliche und demokratische Zukunft. Dafür möchte ich noch einen weiteren Beleg anführen, nämlich eine Studie, die aus den USA stammt. Von Professor Pfeiffer wird häufig eine renommierte Untersuchung zitiert, die sich auf die Situation im Dritten Reich bezieht. Es geht dabei um Personen, die Juden geholfen haben, indem sie sie versteckt oder ihnen zur Flucht verholfen haben. Das waren ganz unterschiedliche Leute. Nur ein Merkmal teilen all diese unterschiedlichen Menschen: Das war die gewaltfreie Erziehung, das war die Form der Kommunikation, die sie in den Familien mitbekommen haben. Es waren in der Tat die Erfahrungen in ihrer Kindheit, die sie dazu gebracht haben, später den aufrechten Gang zu wählen und sich diesen Problemen zu stellen. Wenn wir über rechtsextreme Jugendliche im Osten oder in anderen Teilen Deutschlands reden, wenn wir von der Gewalt durch Kinder reden, ist dies ein wichtiger Tatbestand. Mit diesem neuen Gesetz geht in der Tat eine Bewusstseinsfindung einher. Frau Fischbach, wenn Sie wissen wollen, was wir mit diesem Gesetzentwurf erreichen wollen: Wir wollen die Gewalt gesellschaftlich ächten und darüber debattieren, wie wir das erreichen können. Wir wollen die Lücke zwischen der Strafbarkeit und dem Wegschauen füllen und darüber eine Bewusstseinsbildung in der Gesellschaft herbeiführen. Wir sagen: Jede körperliche und seelische Gewalt gegen Kinder ist rechtswidrig, und zwar auch dann, wenn versucht wird, diese erzieherisch zu rechtfertigen. Für Gewalt gibt es keine Rechtfertigung. ({3}) Für uns kommt es in diesem Bereich auf das Erleben der Kinder an; ihre Gefühle und Rechte zählen für uns. Natürlich muss dieses Recht durch eine Aufklärungsarbeit begleitet werden. Die Bundesregierung geht dieses Problem bereits an und das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat dazu eine Kampagne gestartet. Lassen Sie mich zum Schluss noch auf diejenigen Bezug nehmen, für die unser Gesetz hauptsächlich gemacht ist, nämlich auf die Kinder und Jugendlichen. Im vergangenen Jahr haben sich über 108 000 Kinder und Jugendliche an der ersten deutschen Kinderrechtswahl beteiligt. Sie wurden gefragt, welche Rechte sie für die wichtigsten halten und welche Kinderrechte aus ihrer Sicht am meisten verletzt werden. Auf Platz eins landete jeweils das Recht auf gewaltfreie Erziehung. Deshalb mein Appell auch an alle Skeptiker: Lassen Sie uns mit diesem Gesetz den Kindern eine Stimme geben. Meinen letzten Satz möchte ich an die Kinder richten: Liebe Kinder, dieses Kinder-nicht-Schlagen-Gesetz ist euer Gesetz und das werden wir hier gemeinsam durchsetzen. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Klaus Haupt, F.D.P.-Fraktion.

Klaus Haupt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003140, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Vorrednerin hat eben zum Schluss ihrer Rede die UN-Kinderrechtskonvention und damit im Zusammenhang die deutschlandweite Kinderrechtswahl angeführt. Ich hatte das als Einstieg meiner Rede geplant. Es ist schon beachtlich: 43 Prozent der Kinder haben das Recht auf gewaltfreie Erziehung als das wichtigste Kinderrecht in Deutschland formuliert. ({0}) Kinder fühlen sich in ihrer Würde verletzt, wenn sie Gewalt in der Erziehung erfahren. Wir sollten uns bewusst werden, dass noch im 19. Jahrhundert die Gewalt des Hausherrn auch gegen Erwachsene in seiner Familie legal war und dass es noch im 20. Jahrhundert an den Schulen die Prügelstrafe gab. Beides erscheint uns heute undenkbar. Heute ist die Zeit reif, Gewalt in der Erziehung komplett zu ächten und unseren Kindern das Recht auf Gewaltfreiheit zu garantieren. ({1}) Mit diesem Gesetz wird ein Signal dafür gegeben, dass Erziehung und Gewalt nicht zusammengehören. Die Zeit ist reif, das Verhältnis der Generationen zueinander neu zu denken. Die Würde von Kindern und Erwachsenen ist gleichwertig. Dem Schutz ihrer Persönlichkeit ist gleichermaßen Rechnung zu tragen. Kinder sind nicht Objekte, sondern Subjekte. Sie sind eigene Persönlichkeiten und Träger von Rechten und Pflichten, die wir Erwachsene ernst nehmen müssen. Dieses Gesetz hat eine klare Leitbildfunktion. Es wird kein Erziehungsstil in der Erziehung vorgeschrieben, aber ein Leitbild von Gewaltfreiheit vorgestellt, das die Würde des Kindes in den Mittelpunkt stellt. ({2}) Kinder sind gegenüber jeder Gewalt, die ihnen angetan wird, wehrlos. Gewalt hat gravierende Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern. Seelische Verletzungen und körperliche Strafen beeinträchtigen das Selbstbewusstsein des Kindes, erhöhen die Aggressivität, behindern das Einfühlungsvermögen und die Gewissensbildung. Sie hinterlassen seelische und soziale Verletzungen, die die Entwicklung des Kindes beeinträchtigen. Deshalb muss die gesellschaftliche Norm klar sein: Gewalt ist kein Erziehungsmittel. ({3}) Denn die Erfahrung von Gewalt wird weitergegeben. Dies führt zu einem Teufelskreis, in dem die Würde der jungen Menschen mit Füßen getreten wird. Der verhängnisvolle Kreislauf von erfahrener Gewalt und weitergegebener Gewalt muss durchbrochen werden. Wir alle wissen aber auch, dass sich mit keinem noch so wohl ausformulierten Gesetzestext eine Veränderung in der Einstellung, in dem Handeln der Eltern verordnen lässt. Es ist richtig, Frau Fischbach: Das muss wachsen. Deshalb sind flankierende Maßnahmen fast noch wichtiger als das Gesetz selbst. Zunächst gilt es, mit einer intelligenten, groß angelegten Informationskampagne breite Bevölkerungsschichten mit der Botschaft zu erreichen. Es ist aber auch wichtig, dass mit der Änderung des SGB VIII Jugendämter zur Hilfeleistung für Eltern und Kinder zur gewaltfreien Konfliktlösung ermächtigt werden. Kinder- und Jugendhilfe, Polizei, Justiz, Psychiatrie und Schule können wesentliche Unterstützung leisten und müssen dafür ausgestattet sein. Die Deutschen geben jährlich 1,5 Milliarden DM für Erziehungsliteratur aus. Es gibt also einen großen Informationsbedarf. Viele Eltern fühlen sich überfordert. Die Verunsicherung ist groß. Wie können Kindern Grenzen gesetzt werden? Welche Möglichkeiten haben Eltern bei Konflikten? Oft resultiert ja Gewalt in der Erziehung aus dieser Hilflosigkeit. Hilfe statt Strafe muss das Motto sein, noch bevor es zum Konflikt kommt, noch vor der Eskalation. Das Thema dieses Gesetzes ist lange öffentlich diskutiert worden. Oft war es eine überzogene Debatte, von heftigen emotionalen Auseinandersetzungen begleitet. Die Angst, der Staatsanwalt wäre in Zukunft im Kinderzimmer häufiger gefragt als der Sozialarbeiter, ist völlig unbegründet. Eine Kriminalisierung der Eltern ist ausgeschlossen. Die Änderung des BGB verschafft Kindern bewusst keine unmittelbare Anspruchsgrundlage, sondern steckt den konzeptionellen Rahmen der Erziehung zugunsten der Kinder ab. Insofern hoffe ich, dass die heutige Debatte auch zur Versachlichung der Diskussion beiträgt. Die Frage nach dem Verhältnis von Familie, Erziehung und Staat trifft einen Kernbereich freiheitlich-demokratischer Grundordnung. Manche sehen in der öffentlichen Diskussion zur gewaltfreien Erziehung Risiken und Gefahren. Ich sehe die Chance, grundlegende Werte unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung in der Erziehung ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. ({4}) Ich sehe die Chance, einer kinderfreundlichen und familienfreundlicheren Gesellschaft und einer neuen Kultur des Aufwachsens, wie sie der Zehnte Kinder- und Jugendbericht gefordert hat, den Weg zu bahnen. ({5}) Meine Damen und Herren, das ist eine reizvolle Herausforderung im neuen Jahrtausend, für die sich jede Mühe lohnt. Danke. ({6})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich der Kollegin Sabine Jünger, PDS-Fraktion, das Wort.

Sabine Jünger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003156, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da ich weder über die Fähigkeit des Kollegen Gysi verfüge, alle Seiten einer Medaille in kurzer Zeit zu erläutern, noch aus meinen vier Minuten sechseinhalb Minuten machen will, will ich nur einen Satz zum Kindesunterhalt sagen, der einen Teil des Gesetzentwurfes der Bundesregierung darstellt. Wir werden dem Teil über den Kindesunterhalt zustimmen, auch wenn wir dabei Bauchschmerzen haben. Denn dies ist ein Schritt in die richtige Richtung, dem auch wir uns nicht verschließen werden. Der zweite Teil, dem ich die größere Aufmerksamkeit widmen werde, betrifft die klare Normsetzung, die mit dem Verbot der elterlichen Gewaltausübung endlich erreicht wird. Wir begrüßen dies nachdrücklich. Ich hoffe noch immer - das sage ich ganz ehrlich -, wir sind uns alle in diesem Hohen Hause darüber einig, dass weder körperliche noch seelische und auch nicht emotionale Gewalt gegen Kinder und Jugendliche geeignete Erziehungsmaßnahmen sind und dass all diese Maßnahmen das Menschenrecht auf Unverletzlichkeit der Würde von Kindern und Jugendlichen verletzen. Deshalb sind wir der Meinung - ich hoffe wirklich, dass wir alle dieser Meinung sind -, dass Kinder und Jugendliche ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben. ({0}) Wir werden heute - auch davon war schon die Rede ein Leitbild schaffen und für die notwendige Rechtssicherheit sorgen. Ich denke - darüber bin ich mir mit meiner Fraktion im Klaren -, dass ein Leitbild allein natürlich nicht reicht. Der Kollege Haupt hat es eben angesprochen: Eine normative Änderung ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung. Er muss aber durch verschiedenste Maßnahmen flankiert werden. Darüber ist schon viel geredet worden. Wir haben einen eigenen Antrag in den Deutschen Bundestag eingebracht, der heute auch zur Abstimmung steht. Ich möchte kurz auf seine wesentlichsten Punkte eingehen, weil ein Leitbild und eine Normsetzung wichtig sind. Wir müssen Kindern und Jugendlichen Rechte einräumen und ihre Stellung gegenüber den Sorgeberechtigten, gegenüber den Institutionen der Jugendhilfe und in familiären Auseinandersetzungen stärken. Dazu gehört für mich ein effektiverer Schutz von Kindern und Jugendlichen und auch lebensweltliche Hilfestellung. Kinder und Jugendliche brauchen eigene Rechte. Sie brauchen ein Recht auf Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Dazu gehört für mich auch eine Demokratisierung der Jugendhilfe. Kinder und Jugendliche müssen auch gegenüber dem Jugendamt eigene Rechte haben. Für uns gehört auch dazu, dass Kindern und Jugendlichen eine Anspruchsinhaberschaft auf Hilfen nach § 27 bis § 35 SGB VIII Anspruch auf Hilfe eingeräumt wird. Man muss auch einen freiwilligen Zugang zur Inobhutnahme schafKlaus Haupt fen und ihn erleichtern. Dazu gehört für uns auch ein eigenständiges Aufenthaltsbestimmungsrecht ab 12 Jahren ({1}) - lassen Sie mich diesen Satz zu Ende bringen, Frau von Renesse -, mit Unterstützung der Jugendhilfe. Dazu gehört für uns auch, dass man betreute Wohnformen für Jugendliche unterstützt. Ab 16 Jahren sollten sie eine eigene Wohnung anmieten können. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz muss endlich Vorrang vor ausländerrechtlichen Bestimmungen haben. Dazu gehört natürlich eine breite Aufklärungskampagne. Darüber ist schon viel geredet worden und darüber wird sicherlich auch noch viel geredet werden. Man muss dafür sorgen, dass jedes Kind, jeder Jugendliche, aber auch jedes Elternteil wissen, dass wir heute - zu dieser nicht mehr ganz frühen Stunde - das vorliegende Gesetz verabschiedet haben, und dass jeder den Inhalt des Gesetzes kennt. Wichtig sind auch der Ausbau von Prävention und Intervention sowie ein flächendeckendes Netz von Kinderund Jugendschutzzentren. Dazu gehört, dass man Familien bei ihren Erziehungsaufgaben unterstützt und dass man Formen gewaltfreier Konfliktlösung vermittelt. Dazu gehört auch, dass man endlich die Prävention statt die Folgekosten der Gewalt finanziert. Dafür werden wir uns auch weiterhin einsetzen. In diesem Sinne hoffe ich, dass das Gesetz ein Schritt in die richtige Richtung ist und dass die Gewalt gegen Kinder und Jugendliche deutlich zurückgeht. Danke schön. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Rolf Stöckel, SPD-Fraktion.

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hätte mich am Anfang meiner Rede auch gerne an die Kinder gewandt. Aber um 21.44 Uhr sind hoffentlich - die meisten Kinder im Bett und schlafen. Das, was die Kollegin Deligöz gesagt hat, nämlich dass wir heute ein Kinder-nicht-Schlagen-Gesetz verabschieden, ist tatsächlich eine gute Botschaft für die Kinder in unserem Land. ({0}) Ich möchte aber auch aufgrund eigener Erfahrung an die Adresse der Väter und Mütter sagen: Es gibt bei der Erziehung von Kindern - das ist klar - immer wieder Situationen der Überforderung. Deswegen geht es uns nicht um Strafverfolgung und Kriminalisierung. Es gibt bestehende Vorschriften, über die wir mit dem vorliegenden Gesetz nicht hinausgehen. Frau Fischbach, seit den Sonntagsreden im Internationalen Jahr des Kindes 1979 ist es nicht gelungen - auch nicht in der letzten Wahlperiode, als wir eine Vorlage mit der genauen Formulierung Ihres Vorschlags hier eingebracht haben -, das Recht der Kinder auf eine gewaltfreie Erziehung in eine Reform des Kindschaftsrechts einzubinden. ({1}) Das lag wohl in erster Linie daran, dass die CDU/CSU immer wieder das Gespenst der Kriminalisierung der Familie an die Wand gemalt hat. ({2}) Sie stehen mitten im Leben - ich weiß das, Herr Geis -; aber ich frage mich, in welchem Jahrhundert. ({3}) Der Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen liegt auf einer Linie mit der Entschließung des Bundestages zum Zehnten Kinder- und Jugendbericht. Hierin ist auch die Stellungnahme der alten Bundesregierung zur gewaltfreien Erziehung eindeutig. Lesen Sie es nach! Nicht die oft übertriebene öffentliche Debatte über die Gewalt, die von Kindern und Jugendlichen ausgeht, sondern die Debatte über die Gewalt gegen Kinder und Jugendliche und vor allen Dingen die Ächtung und der Abbau dieser Gewalt stehen heute im Mittelpunkt. ({4}) Wenn es Erwachsenen mit der Bekämpfung von Jugendkriminalität Ernst ist, dann müssen sie Vorbild sein, Regeln aufstellen und Grenzen setzen. Erziehen: ja, aber das Schlagen muss endlich ein Tabu werden. ({5}) Alle Kinderorganisationen in Deutschland fordern das seit Jahrzehnten: der Kinderschutzbund mit Aktionen wie „Kinder brauchen Liebe, keine Hiebe“, die „National Coalition“ ebenso wie das Aktionsbündnis für Kinderrechte. Ich bin stolz, dass diese Regierungskoalition und die Mehrheit in diesem Hause - Herr Haupt, wir sind Ihnen für Ihre Rede sehr dankbar - endlich das Versprechen erfüllen, unser Land kinderfreundlicher zu machen. Wir werden der Einlösung dieses Versprechens heute ein wesentliches Stück näher kommen. ({6}) Ich finde es schade, dass der Bundestag dieses Zeichen heute nicht einstimmig setzt. Wir wissen, dass heute noch immer rund 57 Prozent aller Eltern in Deutschland ihre Kinder mit Ohrfeigen oder Schlimmerem bestrafen. ({7}) Wir wissen, dass Kinder, die Gewalt erleiden oder Gewalt zwischen den Eltern miterleben müssen, später zwei- bis dreimal so oft wie Kinder ohne solche Erfahrungen selbst zu Gewalttätern werden. Wir wollen diesen Teufelskreis durchbrechen. Heute vollzieht der Bundestag wahrlich eine weitere historische Zäsur im bürgerlichen Recht, die dem Leitbild einer zivilisierten und demokratischen Gesellschaft entspricht. Das ist das Gegenteil der Zucht von eingeschüchterten Untertanen und Befehlsempfängern. Die Kritiker sagen - das wissen wir -, das Gesetz sei ein Papiertiger. Kinder, die erstmals neben dem Erziehungsrecht der Eltern nicht nur Schutz vor schwerer Misshandlung, sondern auch ein eigenes Recht auf gewaltfreie Erziehung bekommen, können nicht gegen den Klaps der Eltern klagen. Aber sie können erfahren, dass es Unrecht ist, sie zu schlagen, egal aus welchem Anlass. Es geht uns um Grundwerte, um Orientierung, um eine Konsequenz, die eine bedeutsame Leitbildfunktion für zukünftiges politisches, aber auch gesellschaftliches Handeln haben wird. Ohne zu pauschalisieren, möchte ich auch diejenigen Eltern ansprechen, die eingewandert sind und die aufgrund kultureller Traditionen Gewalt in der Familie für selbstverständlich halten. Man muss klar sagen: Diese Traditionen sind mit den Grundrechten unvereinbar. Wenn die Politik das verschweigt, dann ist das schlicht unglaubwürdig. Statt Kriminalisierung wollen wir Hilfen für die betroffenen Kinder und Eltern. Dazu gehören erreichbare und aufsuchbare Hilfen, wie Nottelefone und Beratungseinrichtungen. Aber auch die sozialen Rahmenbedingungen für gewaltfreie Erziehung in den Familien müssen insgesamt verbessert werden. Durch die Ergänzung des SGB VIII im Kinder- und Jugendhilfegesetz sollen niedrigschwellige und wirksame Hilfsangebote für Eltern geschaffen werden. Wir wissen, dass wir damit der kommunalen Ebene und den Trägern der Jugend- und Familienhilfe eine weitere große Verantwortung übertragen; aber es wird sich lohnen. Wie viel Leiden, Gewalt und soziale Folgelasten können durch zusätzliche Anstrengungen und Zusammenarbeit präventiv verhindert werden? Wie viel Lebensqualität und sozialer Frieden können dadurch gewonnen werden? Das wird nur gelingen, wenn wir es schaffen, dass dieses neue Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung in aller Munde ist, breite öffentliche Auseinandersetzungen provoziert und nicht nur Eltern, Jugendämter und Pädagogen anregt. Wir begrüßen daher ausdrücklich, dass die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und auch die Bundesministerin der Justiz eine breit angelegte Kampagne zur gewaltfreien Erziehung vorbereitet haben, die in Kürze anläuft. Sie besteht aus einem multimedialen Dach und aus Information, Fundierung durch Praxisobjekte und Vor-Ort-Aktionen im ganzen Land.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit.

Rolf Stöckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003240, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluss. - Das Konzept ist stimmig. Darum lehnen wir im Übrigen auch den viel zu allgemeinen PDS-Antrag ab. Wir alle können etwas tun, das Notwendige möglich zu machen, nicht nur, indem wir mehr Zivilcourage zeigen und nicht wegschauen, wenn zum Beispiel Stresssituationen an der „Quengelkasse“ des Supermarktes eskalieren, sondern wir können auch in den Wahlkreisen dafür werben. Wir fordern mehr Respekt für Kinder. Machen Sie mit! Schaffen wir ein breites Bündnis für Kinderrechte. Es liegt in unserer Hand, das neue Jahrhundert zum Jahrhundert der Kinder zu machen. Herzlichen Dank. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat das Wort der Kollege Ronald Pofalla, CDU/CSU-Fraktion. ({0})

Ronald Pofalla (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001726, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei mancher Rede, die hier gehalten wurde, musste man den Eindruck gewinnen, als ob heute tatsächlich ein ganz besonderer historischer Tag ({0}) - lassen Sie das doch einmal - sei, weil eine Regelung getroffen wird, die längst ins Gesetz gehört hätte. Eines bedaure ich dabei - das möchte ich gleich an den Anfang meiner Rede stellen -: In der vergangenen Wahlperiode haben wir bei anderen Mehrheitsverhältnissen größten Wert darauf gelegt, große Reformen Kindschaftsrechtsreformgesetz, Kindesunterhaltsgesetz, erbrechtliche Regelungen, Namensrecht - weitestgehend einvernehmlich zu verabschieden. Auf diese Feststellung lege ich deshalb großen Wert, weil uns das alle gemeinsam sehr viel Mühe gekostet hat. Wir haben über Monate Berichterstattergespräche geführt und haben am Schluss weitestgehend Einvernehmen zwischen allen Fraktionen hergestellt. Ich bedaure sehr - ich werde gleich versuchen, das zu erklären -, dass dieses beim jetzt vorliegenden Gesetz nicht möglich gewesen ist. In diesem Zusammenhang nehme ich die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ausdrücklich aus, weil mit den Sozialdemokraten, vertreten durch Frau von Renesse, aber auch durch den Staatssekretär Pick, am Anfang sehr ernsthafte Gespräche geführt wurden, um auch hier zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen. Für diese Gespräche will ich mich ausdrücklich bedanken. Dann ist etwas innerhalb der Koalition passiert: Nachdem schon auf Veränderungen zum bestehenden Gesetzentwurf eingegangen worden war, sollten auf einmal Dinge, die schon angedacht waren, so nicht mehr umgesetzt werden. Jetzt liegt ein Gesetzentwurf vor, der in der Tat im Detail erhebliche Mängel aufweist, die wir im Ergebnis für so umfassend halten, dass wir heute dieses Gesetz ablehnen. Ich werde das gleich im Detail begründen. Vorausschicken möchte ich auch noch, dass es keine Fraktion im Deutschen Bundestag gibt - das sollten wir doch auch einmal positiv zur Kenntnis nehmen -, die gegenüber dem zur Debatte stehenden Gesetzesziel ernsthaft eine unterschiedliche Position bezogen hätte. Diese gibt es nicht. ({1}) - Das gilt für alle Bundestagsfraktionen, Herr Kollege. Das weiß auch Frau von Renesse, die genauso wie andere Kolleginnen und Kollegen auch in der letzten Legislaturperiode bei dem Versuch sehr hilfreich gewesen ist, für dieses Problem gesetzliche Regelungen zu finden. Ich möchte jetzt die nun gefundene Formulierung, die zumindest von Einzelnen als historische Leistung dargestellt wird, verlesen: Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Über diesen Satz reden wir. Aber keiner von Ihnen, auch niemand vonseiten der Sozialdemokraten, hat gesagt, dass es sich dabei wirklich um einen einklagbaren Rechtsanspruch handele. Ich frage mich da allen Ernstes, wie sich das zur bestehenden gesetzlichen Regelung, die auch keinen Rechtsanspruch enthält, verhält. Wir unterhalten uns also über die verschiedene Wirkung unterschiedlich starker deklaratorischer Aussagen im Zivilrecht. Das ist die eigentliche Streitfrage, über die wir hier reden. Sehen Sie hier wirklich einen gravierenden Unterschied? Ich sage jedenfalls offen, dass ich es sehr bedaure, dass Sie auf unser Angebot, von der Bundesratsformulierung auszugehen, nicht eingegangen sind. Ich muss hier namentlich die Grünen nennen. Diese Koalition muss noch lernen, darauf zu achten, beim Verfolgen wichtiger gesellschaftspolitischer Ziele ein breites Einvernehmen im Parlament herzustellen. Diese Einigung ist letztendlich an den Grünen gescheitert, was ich bedaure. Dennoch sollte man hier diese Feststellung treffen. Ich komme jetzt zu den großen Beratungsangeboten, die diese Bundesregierung im Gesetz verankert hat. Ich will die entsprechende Stelle vorlesen, weil solche Regelungen häufig untergehen. In § 16 Abs. 1 des Achten Buches SGB wird die Formulierung aufgenommen: Sie - damit sind die Jugendämter gemeint sollen auch Wege aufzeigen, wie Konfliktsituationen in der Familie gewaltfrei gelöst werden können. Wenn das Ihre Lösung bezüglich der praktischen Umsetzung ist, dann wird Ihnen jeder, der mit Konfliktsituationen in Familien und mit Situationen zu tun hat, in denen Familien scheidungsbedingt auseinander fallen und sie unter den sich daraus ergebenen Konflikten leiden, sagen: Das, was Sie hier machen, ist auf dem untersten Niveau des wirklich Zumutbaren. Sie wissen das. ({2}) Ich will Ihnen offen sagen, dass sich in diesem Punkt sehr deutlich zeigt, wie ernst Sie es mit dem historischen Tag der Umsetzung des § 1631 BGB meinen. Sie haben im SGB eine Formulierung gefunden, die ich bezüglich ihrer Umsetzung fast als Unverschämtheit empfinde. Nach meiner festen Überzeugung verdeutlicht dies, wie ernst Sie es mit den Beratungsangeboten meinen. Ich komme zum Unterhaltsrecht. Sie haben dort Regelungen gefunden, die wir teilen. In § 1612 a Abs. 4 BGB haben Sie eine Regelung gefunden, die ich sprachlich kompliziert finde. Dennoch sage ich, dass das Ziel richtig ist. Sie haben in § 1612 a Abs. 5 BGB eine Regelung gefunden, die mit der Anpassung an die Nettolohnentwicklung von der Zielrichtung her ebenfalls richtig ist. Ich will Ihnen aber ersparen, § 1612 a Abs. 5 BGB vorzulesen. Wenn ich diesen Absatz hier vorlesen würde, dann würde nur ein Bruchteil der hier Anwesenden verstehen, was da eigentlich wie geregelt werden soll, auch wenn hier eine Reihe von Juristen sitzen. ({3}) - Provozieren Sie mich nicht, ihn vorzulesen. Dann würde wirklich deutlich werden, wohin der Weg führt. Ich lese Ihnen jetzt aus der Beschlussempfehlung vor. Dort heißt es - Zitat -: Besonders schwer wiegen dabei folgende Probleme: Das Unterhaltsrecht ist auf verschiedenen Gebieten inzwischen so unübersichtlich geworden, dass seine Ergebnisse für die Beteiligten oft nur schwer nachvollziehbar sind. Ich sage zu der Regelung, die Sie gleich verabschieden wollen: Die Unübersichtlichkeit nimmt zu und die sprachliche Art und Weise, mit Gesetzeszielen umzugehen, hat nach meiner festen Überzeugung das Maß des Erträglichen überschritten. Deshalb hatten wir in den Berichterstattergesprächen darum gebeten, zu einfacheren Formulierungen zu kommen, die uns ursprünglich zugesagt waren. Im letzten Absatz der Beschlussempfehlung heißt es: Die Bundesregierung wird gebeten, zügig und mit allem Nachdruck das geltende Unterhaltsrecht, insbesondere hinsichtlich seiner Abstimmung seiner Inhalte mit sozial- und steuerrechtlichen Parallelregelungen sowie der Auswirkungen der in § 1612 b Abs. 5 BGB vorgeschlagenen Änderungen in der Praxis, gründlich zu überprüfen und Vorschläge zu seiner Neuregelung einzubringen. Das ist für mich das erste Mal, dass wir im Deutschen Bundestag ein Gesetz verabschieden, wobei die, die die Mehrheit haben, das Gesetz zu verabschieden, gleichzeitig beschließen, dass das, was sie gerade beschließen, so falsch ist, dass die Bundesregierung gebeten wird, es möglichst zügig wieder zu überarbeiten. ({4}) Das ist eine Form von Gesetzesflickerei, die Sie vorher immer kritisiert haben und die Sie jetzt selber machen. Ich gehe jetzt auf den § 1612 b Abs. 5 BGB ein. Diejenigen, die an der Anhörung teilgenommen haben, wissen, dass mit dieser Regelung des § 1612 b Abs. 5 BGB Beweislastprobleme entstehen, ({5}) die wir in der Praxis bisher nicht hatten. Nach der bisherigen Regelung, so unübersichtlich sie auch sein mag, waren die Beweislastprobleme gelöst. Nach der jetzigen Regelung werden sie durcheinander gebracht, weil simple Beweislastregelungen, die bisher galten - so mehrheitlich die Auffassung der Sachverständigen, die vorgetragen haben -, auf den Kopf gestellt werden, übrigens mit der Auswirkung, dass aus der Sicht derjenigen, die unterhaltsberechtigt sind, die Beweisführung in bestimmten Konstellationen hinsichtlich der Unterhaltsmöglichkeiten und der Unterhaltspflicht des Unterhaltsverpflichteten erschwert wird. Das, was Sie im Gesetzesziel wollten, wird also auf den Kopf gestellt. Beim Unterhaltsvorschuss kommt es aufgrund Ihrer gesetzlichen Regelung zu zwei Rückgriffverhältnissen; bisher hatten wir nur eines. Wenn Sie das für eine Vereinfachung im Gesetz halten, mag das, bitte schön, Ihre Sicht der Dinge sein, aber de facto führt dies dazu, dass wir zu einer komplizierteren Regelung kommen. Dann kommt der Abschnitt betreffend das Unterhaltstitelanpassungsgesetz. Bisher konnten solche Titel einfach angepasst werden. Ihre Regelung des Unterhaltsrechts führt dazu, dass Sie eine Titelanpassung nach § 655 ZPO vornehmen müssen mit all den formalen Schwierigkeiten, die damit verbunden sind. Diese wenigen Beispiele zeigen, dass die neuen Regelungen, prozessual und praktisch gesehen, die Situation der Unterhaltsberechtigten sogar erschweren. Wir haben Ihnen angeboten, Regelungen zu erarbeiten, an denen wir uns beteiligen, wofür wir aber in der Tat Zeit benötigt hätten. Diese Zeit haben Sie nicht gesehen. Wir bedauern das außerordentlich. Das, was Sie jetzt im Unterhaltsrecht einführen, führt in der Praxis zu zusätzlichen Schwierigkeiten, zu einem zusätzlichen Prozessaufwand. ({6}) Sie führen außerdem noch einen neuen Prozentsatz ein. Für das beschleunigte Verfahren galt bisher der anderthalbfache Satz. Jetzt führen Sie im Unterhaltsrecht den 1,35-fachen Satz ein. Ich will durchaus zugestehen, dass Sie mit dieser kleinen Veränderung gegenüber dem ursprünglichen Entwurf wenigstens Zwischentabellen in der Düsseldorfer Tabelle verhindern. Nach dem ursprünglichen Entwurf wäre es auch noch dazu gekommen. Ich will am Schluss für Folgendes werben: Lassen Sie uns im Bereich des Kindschaftsrechts und des Unterhaltsrechts - ich biete das ausdrücklich an - in Zukunft mehr Zeit nehmen. Lassen Sie uns den Versuch unternehmen, zu einvernehmlichen Lösungen zu kommen, wie wir das in der vergangenen Legislaturperiode auch geschafft haben. Nur, wenn Sie solche Vorlagen machen wie diese, werden Sie von unserer Seite dafür keine Zustimmung finden. Herzlichen Dank. ({7})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt der Kollegin Ekin Deligöz das Wort.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Pofalla, Sie haben ja namentlich die Grünen angesprochen. Deshalb möchte ich Ihnen auch antworten. In der Tat, als wir das letzte Mal eine Debatte zu diesem Gegenstand hatten - ich glaube, das war die letzte Debatte, die in Bonn stattgefunden hat -, habe ich selber den Kolleginnen und Kollegen, auch aus Ihrer Partei, angeboten, uns gemeinsam hinzusetzen, weil ich mir gesagt habe: Wir senden Signale; deshalb müssen wir an diesem Bereich gemeinsam arbeiten. Wir haben gemeinsam eine Anhörung durchgeführt. Ich habe immer gesagt - und dazu stehe ich auch -: Ich will keine Wischiwaschiformulierung, ich will, dass Kinder als Rechtssubjekte gelten. Weiter habe ich gesagt: Ich schlage nirgendwo ein, wo ich nicht die Sicherheit habe, dass mir dann auch die Gegenseite entgegenkommt. Dies ist so nicht geschehen. Deshalb können Sie die Grünen jetzt nicht als die Verhinderer hinstellen. Wir Fachpolitiker haben uns untereinander sehr gut und sehr lange darüber unterhalten - auch mit dem Ministerium, auch mit dem Staatssekretär - und sind dann zu der Erkenntnis gekommen, dass die Form, die wir gewählt haben, die richtige ist, wenn wir dieses Gesetz tatsächlich ernst meinen. Zum Schluss zum Kinderunterhaltsgesetz: Sie sagen, das Ganze sei kompliziert und die Kompliziertheit nehme zu. Das haben Sie gerade wiederholt. Ich sage Ihnen eines: Die Gerechtigkeit für Kinder von allein erziehenden Müttern nimmt zu. ({0}) Wir stellen die Kinder in den Vordergrund und dazu stehe ich auch; denn ich bin - das gebe ich zu - Sozialpolitikerin. Wir haben mit dem Entschließungsantrag bekundet, dass wir das Unterhaltsrecht reformieren wollen: Wir haben das heute Mittag im Zusammenhang mit der BAföGReform angesprochen. Wir sprechen auch im ZusammenRonald Pofalla hang mit dem Rentenrecht darüber, dass wir das Unterhaltsrecht reformieren müssen, genauso wie in sehr vielen anderen Bereichen, zum Beispiel in der Sozialhilfe. Und wenn wir dann sagen, dass wir dazu stehen, dass das Unterhaltsrecht reformiert werden muss, was ist dann daran verwerflich? Wir haben hier einen wichtigen Schritt getan. Reden Sie auch einmal mit dem Verband Alleinerziehender Mütter und Väter und nicht nur mit den Unterhaltzahlenden Vätern. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege Pofalla, Sie können darauf antworten. - Das wollen Sie nicht. Dann erteile ich nun der Bundesjustizministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin das Wort.

Dr. Herta Däubler-Gmelin (Minister:in)

Politiker ID: 11000347

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Tat ist heute ein sehr guter Tag für die Kinder in Deutschland, außerdem übrigens für alle, die sich für Recht und gegen Gewalt aussprechen. ({0}) Ich danke allen, die diesen Tag möglich gemacht haben. Ich hätte Sie, Frau Fischbach, und Sie, Herr Pofalla, gerne dabei gehabt. Ich finde es schade, dass Sie nicht über diese Hürde gesprungen sind. Ich glaube auch, dass das, was Sie uns vorgetragen haben, Ihr Nein nicht rechtfertigt. Aber das werden Sie mit sich selbst ausmachen müssen. Jeder Einsichtige unter uns weiß - auch Herr Haupt hat es gesagt -, dass sich Erziehung und Gewalt ausschließen. Deswegen ist das ganz klare Signal, das von dem Gesetz, das wir heute beschließen, ausgeht: bessere Erziehung ja, Gewalt nein. ({1}) Das ist eine sehr klare und deutliche Formulierung. ({2}) Wir wollen die bessere Erziehung, Herr Geis - das wissen Sie eigentlich auch -, und wir müssen alle gemeinsam Gewalt begrenzen. Das sagt uns der gesunde Menschenverstand und nicht nur ein Pädagoge oder Wissenschaftler. Das Ziel muss darin bestehen, mündige, verantwortungsbewusste Erwachsene und Staatsbürger zu erziehen, die gelernt haben, Konflikte auszutragen, und zwar mit Worten und Argumenten und nicht mit Gewalt, die Situationen vernünftig einschätzen können und die vor allen Dingen wissen, was richtig und was falsch ist. All das gehört zu den Grundlagen eines friedlichen Zusammenlebens und muss in den Familien eingeübt werden. Auch das muss durch Erziehung vermittelt werden. Wer Prügel oder Schläge zulässt oder wer selbst prügelt oder schlägt, macht das Gegenteil: Er lehrt Verhaltensmuster, nach denen der Stärkere und nicht der mit den besseren Argumenten Recht hat. Das ist genau falsch. ({3}) Wir wissen - lassen Sie mich das als Zweites sagen -: Gewalt ist in unserer Gesellschaft ein Problem. Die Aggressivität bei Kindern und jungen Menschen nimmt zu. Das wird uns von Erzieherinnen und Erziehern und von Lehrerinnen und Lehrern immer wieder gesagt. Das ist einer der Gründe, warum diese Bundesregierung - und zwar nicht, indem sie geschmäcklerisch an diesem und jenem herumkrittelt, um dann doch nicht zustimmen zu müssen auf den verschiedenen Gebieten, um die es geht, ganz klare Signale gesetzt hat und auch weiterhin setzen wird. ({4}) Wir alle wissen auch: Kinder werden nicht gewalttätig geboren, sondern Kinder werden gewalttätig durch schlechte Vorbilder und schlechte Erziehung, kurz, weil sie Gewalt lernen. Das wissen wir aus eigener Erfahrung und das sagt uns der gesunde Menschenverstand. Jetzt wissen wir es auch aus vielen Untersuchungen. Auch das ist ein Grund, warum wir hier handeln. Jetzt komme ich zu der Formulierung. Ich habe nicht verstanden, warum Sie meinen, diese Formulierung kritisieren zu müssen. Auch Ihre Formulierung bringt kein einklagbares Recht. Unsere Formulierung dagegen drückt aus, dass es ein moralisches Recht gibt. Diesen Rechtszustand verbinden wir mit einem Appell, der außerdem den Vorzug hat, dass er sich in der Formulierung der Kinderrechtskonvention annähert. Diesen völlig eindeutigen Vorteil müssten Sie eigentlich erkennen. ({5}) Ansonsten müssen Sie den Leuten draußen Ihre Haltung erklären. Sie können nicht einerseits sagen, Sie seien der Meinung, dass Gewalt nicht zur Erziehung gehört, wenn Sie andererseits sagen, dass Sie gegen diese Formulierung sind. Das wird Ihnen niemand abnehmen. ({6}) Verehrter lieber Herr Geis, wir unterhalten uns schon lange über dieses Thema. Schon Mitte der 70er-Jahre waren wir auf dieser Seite des Hauses der Auffassung, Sie sollten sich bewegen. Wir haben es auch in den vergangenen 16 Jahren nie geschafft, Sie dazu zu bringen. Heute werden wir es schaffen, unsere Vorstellungen durchzusetzen. Ich fordere Sie nochmals dazu auf, wenn Sie es ernst meinen, mit uns zu stimmen. ({7}) Es ist nämlich so: Wir wollen mit dieser Formulierung zum Ausdruck bringen, dass Kinder nicht Objekte der Erziehung sind, sondern dass sie Subjekte, Rechtsträger sind. Das sind sie nach unserer Verfassung, wie Sie alle ganz genau wissen, schon heute. ({8}) Wir wollen das auch im Kindschaftsrecht und im Familienrecht deutlich zum Ausdruck bringen. „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung“ - das ist eine klare Formulierung, die das alles hergibt und die vor allen Dingen den Ihnen, lieber Herr Geis, wahrscheinlich nicht ganz geheuren Paradigmenwechsel, dass Kinder nicht mehr Objekt von irgendetwas sind, sondern dass Kinder eigene Rechte haben, sehr deutlich macht. ({9}) - Sie rufen jetzt irgendetwas dazwischen. Ich hoffe, dass es wenigstens das Richtige ist. ({10}) Meine Damen und Herren, es gibt einige Oberschlaue, die sagen, dies sei keine vernünftige Norm, weil die strafrechtliche Sanktion fehle. Sie habe keinen Wert. Wer so etwas sagt, der muss sich gelegentlich fragen lassen, wie zynisch man eigentlich noch werden muss, um hier sehr klar zu unterscheiden, was Recht und was strafbewehrtes Recht ist. Es ist völlig richtig: Wir setzen nicht auf ein verstärktes Wirken des Staatsanwaltes bzw. der Polizei. Wir setzen vielmehr auf Überzeugung und auf die Eltern bzw. Erwachsenen ({11}) - Herr Geis, ich weiß, es ist schwer -, die dies hören wollen und die sich dann auch entsprechend verhalten. ({12}) Aber in der Tat setzen wir auf mehr Hilfe durch die Jugendämter. Herr Pofalla, was Sie in diesem Zusammenhang gesagt haben, hat mir sehr gut gefallen. Dass wir bei dieser Norm nicht ein Mehr an Beratung vorgesehen haben, hat einen ganz einfachen Grund: Es gibt bereits eine Erziehungsund Familienberatung. Sie wissen ganz genau, dass dieses Mosaiksteinchen gefehlt hat. Deswegen haben wir es eingefügt. Stimmen Sie also unserem Gesetzentwurf zu. Dann wird Ihre Haltung in diesem Bereich glaubwürdig. Lassen Sie mich noch eines sagen: Ich bedanke mich bei all denen, die in der Öffentlichkeit mit uns dafür gestritten haben - seien das nun die Elternverbände, die Kinderschutzverbände oder, Herr Pofalla, der Familiengerichtstag, auf dem wir beide gemeinsam waren und wo gesagt wurde, dass diese Formulierung die richtige sei -, diese klare Formulierung in den vorliegenden Gesetzentwurf hineinzuschreiben. ({13}) Ich bedanke mich bei der Öffentlichkeit, damit sie weiß, wie wichtig das ist, was sie begonnen hat und was ich jetzt weiterführen muss. Jeder, der dafür sorgt, dass Erziehung ohne Gewalt durch ein gutes Vorbild oder dadurch, dass er andere da, wo er dies kann, in die Pflicht nimmt, realisiert wird, tut sehr viel mehr gegen Gewalt in unserer Gesellschaft als jemand, der sich dann, wenn eine Gewalttat passiert ist, furchtbar aufbläst, entrüstet und nach geschlossenen Heimen ruft. ({14}) Das muss uns sehr deutlich sein. Dann ist auch klar, warum dies heute ein guter Tag für die Kinder und für diejenigen ist, die gegen Gewalt in Deutschland sind. Lassen Sie mich noch etwas zum Unterhaltsrecht sagen. Ich habe Sie, Herr Pofalla, nahezu bewundert, wie viele Worte Sie gebraucht haben, um deutlich zu machen, dass Sie nicht wollen, dass Alleinerziehende ein bisschen mehr Kindergeld bekommen. ({15}) Herr Pofalla, es ist überhaupt nicht zu bestreiten, dass die in diesem Zusammenhang erforderliche technische Regelung sehr schwierig ist. Dass in dieser Beziehung bisher nichts getan worden ist, ist übrigens nicht nur unsere Schuld, sondern auch die derjenigen, die in den letzten 16 Jahren die Verantwortung getragen haben. Es ist unsere gemeinsame Schuld. Deswegen halte ich den in diesem Zusammenhang eingebrachten Entschließungsantrag für ausgesprochen richtig und für sehr ehrlich. Jeder weiß, dass bei uns die Systematik und die Bestimmungen des zivilen Unterhaltsrechts, des sozialen Unterhaltsrechts und des steuerlichen Unterhaltsrechts nur noch schwer miteinander vereinbart werden können und dass wir gemeinsam auf diesem Gebiet etwas tun müssen. Nur, wir sprechen nicht nur darüber, sondern wir werden auch etwas tun. Ich werde auf Ihre Worte zurückkommen. Vielleicht können Sie als CDU/CSU ja wenigstens bei diesem Punkt zustimmen. Ein Herz für Kinder ist nicht nur ein gutes Motto für einen Autoaufkleber. ({16}) Man muss auch klare Signale geben, wenn es um die Formulierung von Rechten im Kindschaftsrecht, um Rechte für Kinder, geht. Man muss Farbe bekennen, wenn es darum geht, allein erziehenden Müttern oder Vätern ein bisschen mehr Kindergeld zu übertragen. Das tun wir jetzt. Deswegen ist heute ein guter Tag für die Kinder. ({17}) Ich bedanke mich bei meiner Kollegin, bei der Bundesministerin für Familien, Senioren, Frauen und Jugend, dass - hoffentlich von uns allen - in den nächsten Monaten im Rahmen einer Aufklärungskampagne ÜberzeuBundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin gungsarbeit geleistet werden kann, um eine Veränderung im Denken bzw. in den Köpfen hinzubekommen. Herzlichen Dank und gute Nacht. ({18})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung, Drucksachen 14/1247 und 14/3781. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen worden. ({0}) Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3781 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Bei Enthaltung von CDU/CSU und F.D.P. ist die Beschlussempfehlung angenommen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Ächtung der Gewalt in der Erziehung wirkungsvoll flankieren“, Drucksache 14/3761. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2720 abzulehnen. Wer folgt dieser Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der PDS angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({1}) zu dem Antrag der Abgeordneten Norbert Hauser ({2}), Norbert Röttgen, Dr. Norbert Blüm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU „Wort halten“ Umsetzung der Bonn/Berlin-Beschlüsse - Drucksachen 14/1004, 14/2699 Berichterstattung: Abgeordnete Dieter Wiefelspütz Cem Özdemir Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Norbert Hauser, CDU/CSU-Fraktion.

Norbert Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003141, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn es noch einer Begründung bedurft hätte, warum wir uns heute mit dem Thema Bonn-Berlin, dem Berlin/BonnGesetz und seiner Einhaltung befassen, dann muss man sich nur den „Express“ von heute ansehen, in dem ein Brief des Landwirtschaftsministers Funke wiedergegeben ist, aus dem ich mit Genehmigung der Präsidentin zitieren möchte.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, dazu brauchen Sie nicht meine Genehmigung.

Norbert Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003141, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herzlichen Dank. Hier heißt es: Wie es ab 2002 weitergeht, bleibt abzuwarten. Ich schließe nicht aus, dass der Umzugsbeschluss und damit die Aufgabenteilung Bonn/Berlin dann auf den Prüfstand kommen. Weiter äußerte sich der Bundeslandwirtschaftsminister dazu, was dies konkret für das Ministerium bedeutet: Darüber kann man nur spekulieren. Warten wir es also ab! Dann hat die Sprecherin des Ministeriums noch einen draufgesetzt und gesagt: Bonn geht es doch besser als je zuvor. Die Stadt hat überhaupt nicht mit den nachteiligen Folgen des Umzugs zu kämpfen. Vor diesem Hintergrund verstehe ich nicht, was es da für Sorgen gibt. Ob man ein Gesetz einhält oder es bricht, wird also mittlerweile davon abhängig gemacht, ob es demjenigen, dem Rechte aus dem Gesetz zustehen, gut oder nicht gut geht. Hier muss man den Eindruck haben, dass Sie sich längst von dem Berlin/Bonn-Gesetz verabschiedet haben und dass es Ihnen nicht mehr um seine Einhaltung geht, sondern dass Sie bereit sind, dieses Berlin/Bonn-Gesetz zu brechen. ({0}) Meine Damen und Herren, es geht hier darum, dass der Deutsche Bundestag unmissverständlich erklärt, dass er zu seinen eigenen Gesetzen steht und dass er bereit ist, an der Umsetzung dieser Gesetze nicht nur mitzuwirken, sondern auch darauf zu achten, dass diese Gesetze nach Buchstaben und Sinn eingehalten werden. Die Kollegen des Haushaltsausschusses sind ja eigentlich sozusagen die Creme des Parlamentes ({1}) und der Haushaltsausschuss ist der Ausschuss, in dem die vernünftigen Leute sitzen, die wissen, wie es mit dem Geld steht und wie man mit Geld umzugehen hat. Der Haushaltsausschuss hat diesem Antrag zugestimmt. Daran sieht man, dass das Anliegen durchaus berechtigt ist. Ich komme jetzt zu den Gründen, die genannt werden, warum alles geändert werden müsse. Zum einen nennt man das Kostenargument. Man sagt: Das ist alles viel zu teuer. - All diejenigen, die die- ses Argument anführen, möchte ich fragen: Haben Sie am 20. Juni 1991 nicht gewusst, dass es mit Ministerien an zwei Sitzen teurer sein könnte als in einem Zentrum? Die- jenigen, die einwenden, 1991 habe man noch überhaupt keine Erfahrung mit den Dingen gehabt, frage ich: Wie war es denn am 26. April 1994, als das Berlin/Bonn-Ge- setz verabschiedet wurde? Haben Sie es da immer noch nicht gemerkt? Oder haben Sie am 20. Juni 1991 nur ge- dacht, man könne ruhig eine faire Arbeitsteilung zwischen Berlin und Bonn versprechen, um die Zustimmung zum Umzug zu bekommen? Oder haben Sie vielleicht am 26. April 1994 gedacht, man solle die Leute in Bonn noch ein bisschen ruhig stellen? Ein zweites Argument ist, es gebe zu viele Reibungs- verluste. - Staatssekretär Großmann, der heute Abend hier ist, hat auf eine Frage von mir im Januar 2000 fest- gestellt, dass es durch die Arbeitsteilung zwischen den beiden Dienstsitzen Berlin und Bonn zu keinen nennens- werten Schwierigkeiten komme und dass die Arbeitstei- lung sehr gut funktioniere. Das ist sicherlich auch ein Ver- dienst des Hauses von Herrn Großmann. Dann gibt es eine Reihe von Kollegen, die sagen, in den Ausschüssen mangele es manchmal an Informatio- nen; wir hätten nicht immer die Damen und Herren sofort vor Ort, die wir in der Ausschusssitzung bräuchten. - Meine Damen und Herren, ich möchte Sie daran erinnern, dass dieses Problem mit dem Gesetz und der Aufteilung zwischen Berlin und Bonn überhaupt nichts zu tun hat. Wenn beim Haushaltsausschuss oder beim Rechnungs- prüfungsausschuss manchmal 40, 50 oder 60 Beamte auf den Fluren warten, mit der Aussicht, vielleicht einmal für fünf Minuten in den Raum gelassen zu werden, dann muss man sich fragen, a) ob dies den Mitarbeiterinnen und Mit- arbeitern gegenüber zumutbar ist und b) ob dies nicht eine Verschleuderung von Humankapital ist. Hier geht die Frage an uns selber, welche Ansprüche wir stellen. Wenn wir permanent im Munde führen, dass wir eine moderne Dienstleistungsgesellschaft schaffen wollen und dass man für Multimedia und IT mehr tun müsse, aber uns ansonsten so verhalten, als wären wir noch in der Paulskirche und als wäre E-Mail so weit entfernt wie der Andromedanebel, dann müssen wir uns selber fragen, ob es nicht an uns ist, etwas zu ändern. Der Umzug von Bonn nach Berlin würde, wenn denn alle Ministerien nach Berlin kommen sollten, für Bonn den Verlust von etwa 30 000 Arbeitsplätzen bedeuten. Diesen Arbeitsplatzverlust kann die Region nicht verkraften. Dies ist auch für die betroffenen Familien nicht zumutbar. Die Stadt Bonn braucht Planungssicherheit für den weiteren Strukturwandel. Sie tragen Verantwortung für die Familien, denen Sie mit dem Berlin/Bonn-Gesetz versprochen haben, dass sie in Bonn bleiben können, und denen Sie noch beim Abschied von Bonn versprochen haben, dass Sie zu den Zusagen und zu dem Inhalt des Gesetzes stehen. Deshalb fordere ich Sie als Kollegen und auch die Bundesregierung auf, diesen Diskussionen endlich ein Ende zu bereiten, für Planungssicherheit zu sorgen und den Menschen in Bonn deutlich zu machen, dass Sie zu Sinn und Buchstaben des Gesetzes noch heute stehen. Vielen Dank. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Das Wort hat nun der Kollege Hans-Peter Kemper, SPD-Fraktion.

Hans Peter Kemper (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001083, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit der denkbar knappen Entscheidung, den Parlamentsund Regierungssitz nach Berlin zu verlegen, sind nun gut neun Jahre vergangen. Herr Dr. Schäuble, damals noch starker Mann in der CDU/CSU-Fraktion - das hat sich inzwischen gründlich geändert -, hielt eine flammende Rede für den Umzug nach Berlin und für die Hauptstadt Berlin. Man sagt ihm sogar nach, in der CDU/CSU-Fraktion sei seine Rede das Zünglein an der Waage zugunsten Berlins gewesen. Heute reden wir über einen Antrag, den er im vergangenen Jahr als Noch-Fraktionsvorsitzender gestellt hat und in dem er die schleppende Umsetzung des Bonn/ Berlin-Beschlusses bejammert. Haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, eigentlich vergessen, dass Sie schon 1991 und bis 1998 an der Regierung waren - Sie hatten nach dem Beschluss alle Möglichkeiten, einen vernünftigen Umzug vorzubereiten und wir, als Sie uns Ihren Antrag auf den Tisch gelegt haben, gerade einmal anderthalb Jahre an der Regierung waren? ({0}) Sie waren doch geradezu Berlin-süchtig. Schauen Sie sich doch einmal den Kanzleramtsbau an, den wir am Platz der Republik stehen haben und von Ihnen übernehmen mussten. ({1}) Ich denke, mit diesem scheinheiligen Antrag wollen Sie von den vielen dringenden Problemen ablenken, bei deren Lösung Sie sich heute verweigern. Ihr Antrag stammt vom Juni 1999; zu dem Zeitpunkt waren wir noch gar nicht umgezogen und konnten überhaupt noch nicht wissen, wie die Arbeitsbedingungen in Berlin aussehen würden. Dass nicht alles fristgerecht fertig werden würde, war damals schon klar; aber das hat nicht diese Regierung zu verantworten, sondern das haben wir als Altlast von Ihnen übernommen. ({2}) Norbert Hauser ({3}) Die Ausgleichszahlungen für Bonn waren längst angelaufen. Alles lief reibungslos und von daher war Ihr Antrag genauso überflüssig wie entlarvend. ({4}) Meine Damen und Herren von der Opposition, was bemängeln Sie eigentlich? Wir sind im Juli/August nach Berlin umgezogen. Ich will Ihnen deutlich sagen: Ich habe nicht zu denen gehört, die sich über den Berlin-Beschluss gefreut haben. Ich habe auch nicht zu denjenigen gehört, die sich über den Berlin-Umzug gefreut haben. Ich habe zu denen gehört, die einen Antrag unterschrieben haben, den Umzug nach Berlin so lange zu verschieben, bis dort alles fertig ist - gegen einen Umzug in Provisorien! Als Nordrhein-Westfale habe ich ganz erhebliche Sorgen gehabt, was aus der Region Bonn werden würde und wie wir in Berlin ankommen würden. Nach den Anfangsschwierigkeiten, die bei einem Umzug dieser Größenordnung immer vorkommen, haben wir hier recht gute Arbeitsbedingungen vorgefunden, auch wenn sich diese verbessern lassen und auch noch verbessern werden, wenn wir in den endgültigen Liegenschaften untergebracht sind. Die Bedingungen sind aber annehmbar und das Leben hier hat sich normalisiert. Viele von uns, die damals mit großen Bauchschmerzen nach Berlin umgezogen sind, fühlen sich inzwischen wohl, ({5}) trotz der Unzulänglichkeiten und gelegentlichen Ärgernisse, auf die ich gleich zu sprechen komme. In Bonn hat es keine dramatischen strukturellen Einbrüche gegeben. Die Arbeitslosenzahlen sind nicht gestiegen. Die Mieten und Immobilienpreise sind nicht gesunken, ganz im Gegenteil: Die durch den Verlust der Hauptstadtfunktion für die Region Bonn entstandenen Veränderungen werden strukturell recht gut abgefangen. Das Eisenbahn-Bundesamt, das Bundeszentralregister, das Bundeskartellamt, der Bundesrechnungshof, das Statistische Bundesamt, das Bundesamt für Arzneimittelkunde, das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen und diverse Entwicklungshilfeeinrichtungen waren früher nicht in Bonn, wohl aber jetzt: Dort haben viele ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die nicht mit nach Berlin umziehen wollten, einen sicheren dauerhaften Arbeitsplatz gefunden. Die vereinbarten Ministerien sind in Bonn geblieben, mit Kopfstellen in Berlin. Herr Hauser, da ich natürlich wusste, dass Sie den Artikel des „Express“ anführen würden, in dem von konspirativen Unternehmungen des Bauernministers und einem Geheimpapier die Rede ist, habe ich mir den Brief von Herrn Funke besorgt. Es handelt sich keinesfalls um ein Geheimpapier, sondern um einen Brief des Landwirtschaftsministers Karl-Heinz Funke an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - also völlig öffentlich -, weil er zu einer Personalversammlung nicht kommen konnte. Wenn Sie etwas zitieren, gebietet es die Fairness, dass Sie auch komplett zitieren. Der Hauptsatz in diesem Schreiben von Landwirtschaftsminister Funke lautet: Es gibt das Bonn/Berlin-Gesetz und damit eine klare Rechtslage. Und daran halten wir uns. Es wäre einfach nur fair gewesen, wenn Sie diesen Satz ebenfalls zitiert hätten, denn dieser gibt die Wirklichkeit wieder. ({6}) - Jawohl. Die Arbeitsfähigkeit - daran gibt es zwischen uns wohl keinen Zweifel - muss sowohl in Bonn als auch in Berlin gewährleistet sein. Sie muss immer wieder überprüft und auch verbessert werden. Ich möchte nicht erleben, dass unsere Arbeit aufgrund falscher Personalgewichtungen in Bonn oder Berlin hier behindert würde oder Sie nicht genügend Informationen bekämen. Dann möchte ich mal sehen, welchen Zirkus Sie veranstalten würden! Daher müssen wir das ständig überprüfen. Es werden weitere europäische und internationale Einrichtungen folgen. Die vereinbarten Ausgleichsmaßnahmen haben doch ihre Wirkung nicht verfehlt. Bis Juni 1999 waren von den zugesagten 2,81 Milliarden DM bereits 2,68 Milliarden DM für konkrete Maßnahmen im Bereich der Wissenschaft, der Kultur und der Wirtschaftsförderung ausgegeben bzw. fest verplant. Nordrhein-Westfalens hervorragender Ministerpräsident Wolfgang Clement, ({7}) der die nordrhein-westfälischen Interessen wirklich mit großem Einsatz vertritt, hat mehrfach darauf hingewiesen ({8}) - Herr Westerwelle, vielleicht werden Sie irgendwann auch einmal daran beteiligt, wenn Sie brav sind ({9}) dass die Region Bonn inzwischen brummt. In der Region sind inzwischen mehr Arbeitsplätze als vor dem Berlinumzug vorhanden. Wir debattieren hier über einen Antrag der Opposition, der von der Sache her längst erledigt ist. Sie schlagen mit Ihrem Antrag die Schlachten von gestern. Er ist nicht mehr als eine Luftnummer. ({10}) Haben Sie den Bericht, den die Bundesregierung am 13. September 1999 vorgelegt hat, nicht gelesen? Darin steht doch haarklein, was als Ausgleich für den strukturellen Verlust für Bonn inzwischen geleistet wurde. Ich will Sie hier nicht mit Zahlen langweilen, aber wenn Sie den Bericht selbst nicht gelesen haben und die Zahlen nicht kennen, muss ich vielleicht stichpunktartig einige nennen. Es wurden geleistet: für den Bereich Wissenschaft 1,6 Milliarden DM, für den Bereich Kultur 100 Millionen DM, für den Bereich Wirtschaft 300 Millionen DM, für den Bereich Verkehr 500 Millionen DM und an Soforthilfe 210 Millionen DM. Außerdem haben wir Grundstücke bereitgestellt, um die Ansiedlung von Einrichtungen zu erleichtern. Ich denke, dies ist eine ganze Menge und kann sich sehen lassen. Sie versuchen mit Ihrem Antrag vergebens, den Eindruck zu erwecken, als ob es einen Niedergang in der Region Bonn und Umgebung gäbe. Ich frage die beiden Norberts aus Bonn - eigentlich sind es drei, die in der Kopfleiste des Antrags stehen, und eben habe ich einen vierten Norbert aus Nordrhein-Westfalen ausgemacht, der die Kleine Anfrage gestellt hat; das Umzugsproblem scheint also in erster Linie ein Problem der Norberts zu sein -: ({11}) Warum verunsichern Sie die Menschen, die in Bonn und Umgebung leben, völlig grundlos? Dies würden Sie sicher nicht tun, wenn Sie nicht am 27. September 1998 völlig zu Recht - in der Opposition gelandet wären. ({12}) Und Berlin? Die Stadt hat sicher von dem Hauptstadtbeschluss profitiert. Nachdem sie zunächst alles daran gesetzt hat, Hauptstadt und Regierungssitz zu werden, empfing sie uns dann, als wir hierher kamen - sozusagen als kleines Dankeschön -, mit der Zweitwohnungssteuer. Die Berliner Kollegen müssen schon ertragen, dass ich das hier erwähne. Die ständige Sperrung des Brandenburger Tors durch Demonstranten ist gelegentlich lästig. Ganz besonders geärgert hat uns aber der Marsch der Neonazis durch das Brandenburger Tor. Das war beschämend. ({13}) Diese Bilder sind mit verheerender Wirkung um die Welt gegangen. So etwas darf sich nicht wiederholen; hier gibt es klare Verantwortlichkeiten. Berlin hat mit dem Hauptstadtbeschluss Verpflichtungen übernommen, die eingehalten werden müssen. Uns aus Nordrhein-Westfalen war klar, welche Mehrbelastung ständige Staatsbesuche und Objektschutz für die Sicherheitskräfte bedeuten. Das musste auch den Berliner Verantwortlichen klar sein. Von daher sind Klagen und immer neue Forderungen an den Bund in diesem Bereich unverständlich. Die Unterbringung der Polizeibeamten, die letztlich auch für unsere Sicherheit verantwortlich sind, war im letzten Winter derart katastrophal, dass mein Kollege Günter Graf hier im Plenum in einer Kurzintervention die Verbesserung dieser Unterbringung gefordert hat und beim Berliner Innenminister Werthebach massiv vorstellig geworden ist mit dem Ziel, die Situation der Polizeibeamten hier zu verbessern. Ich denke aber, dass der Umzug angesichts des gewaltigen Volumens und der gewaltigen Schwierigkeiten, die mit ihm verbunden waren, recht gut gelaufen ist. Berlin ist auf gutem Weg, eine Hauptstadt mit Charme und ein guter Gastgeber zu werden. Bonn ist auf gutem Weg, eine Bundesstadt mit hervorragenden Perspektiven zu werden. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, sind auf gutem Weg, die Fraktion der Nörgler zu werden. Schönen Dank. ({14})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat der Kollege Guido Westerwelle von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Ich will vorab zwei Punkte ansprechen. Der Antrag ist in der Sache nicht zu beanstanden. Diejenigen, die sich dem Berlin/Bonn-Gesetz und den entsprechenden Vereinbarungen verpflichtet fühlen, werden, wenn sie den Antrag gelesen haben, nicht gegen ihn sprechen können. Die Frage ist - das muss man der CDU/CSU-Fraktion sagen -, ob es klug war, diesen Antrag als Fraktion in den Deutschen Bundestag einzubringen - entgegen der Praxis, die wir als Abgeordnete der Region immer geübt haben, nämlich gemeinsam überparteiliche Initiativen einzubringen, um den Anliegen unserer Region mehr Nachdruck zu verleihen. Ob dieses Vorgehen klug gewesen ist, müssen wir dahingestellt sein lassen. ({0}) Herr Kollege Kemper, ich will Ihnen aber auch ausdrücklich sagen: Das, was heute als Brief des Landwirtschaftsministers zitiert wurde, reiht sich auch aus meiner Sicht in die traurige Reihe von Vorkommnissen seitens der Bundesregierung ein. ({1}) Das hat jetzt gar nichts mit irgendwelchen parteipolitischen „Kartereien“ zu tun. Es geht ganz einfach darum, ob das, was wir in der Abschiedssitzung im Deutschen Bundestag in Bonn alle heftig beklatscht haben, nämlich dass wir uns auch noch in Berlin Bonn verpflichtet fühlen, Realität bleibt oder ob wir hier nach der Devise handeln: Aus den Augen aus dem Sinn. ({2}) Das ist die eigentliche Sorge, die wir haben müssen. Das hat nichts mit irgendwelchen parteipolitischen „Kartereien“ zu tun. Ich stelle fest: Wir haben ein Gesetz. Das Gesetz bindet alle. Es bindet selbstverständlich auch die Bundesregierung. Schon wie der Bundesumweltminister mit den Nachfolgebehörden des Bundesgesundheitsamtes umgegangen ist, ist aus meiner Sicht eine Strapazierung der Vereinbarung und des Gesetzes. Ich weiß, dass es bei SPD und Grünen viele Kolleginnen und Kollegen gibt, die das ganz genauso sehen. Meine Damen und Herren, wenn hier jetzt Zitate von Herrn Funke gebracht werden: Es ist Ihr berechtigtes Bemühen, Ihren Parteikollegen in Schutz zu nehmen. Es bleibt aber ein befremdliches Zitat. Nicht der Antrag, über dessen taktische Klugheit wir reden können, ist die Ursache der Verunsicherung. Die Ursache der Verunsicherung sind solche Äußerungen, zumal wenn sie schriftlich gemacht werden. ({3}) Es ist ein echtes Problem, wenn Sie in Bonn Anrufe von Betroffenen bekommen, die auch Planungssicherheit brauchen - Anrufe, wie wir alle sie in vergleichbaren Fällen in unseren Wahlkreisen bekämen; Bonn ist auch mein Wahlkreis -: Was ist denn jetzt da? Was passiert denn jetzt dort? Wer das Berlin/Bonn-Gesetz jetzt für die Zeit nach 2002 öffentlich schriftlich infrage stellt, der macht meiner Meinung nach einen ganz großen, einen historischen Fehler. ({4}) Wir sind von Bonn nach Berlin umgezogen, nicht weil Bonn gescheitert ist, sondern weil wir hier die Vollendung der deutschen Einheit bewältigen konnten. Das ist ein riesiger Unterschied. Das gilt auch für die Diskussion Bonner Republik/Berliner Republik, Weimarer Republik/Bonner Republik. Hier wird etwas fortgesetzt und nicht etwas beendet. Das ist auch meiner Meinung nach ein ganz großer Unterschied im Denken, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen. ({5}) Dass dieser Antrag notwendig ist, können Sie - bei allem Respekt vor der imposanten Präsenz des Bundeskabinetts - auch daran erkennen, dass der Umzugsbeauftragte der Bundesregierung nicht hier ist. ({6}) - Der Umzugsbeauftragte ist nicht hier! ({7}) - Wo ist er denn? Sie sind der Umzugsbeauftragte? Ich dachte, das ist Herr Klimmt. ({8}) - Sie vertreten ihn? Ich bin begeistert darüber, dass Sie da sind. Aber bei allem Respekt vor der Funktion eines Staatssekretärs: Die Anwesenheit des Ministers, des Umzugsbeauftragten ist schon eine Frage der Achtung vor diesem Parlament. ({9}) Auch das Bundeskanzleramt ist hier heute nicht vertreten. ({10}) - Ich weiß gar nicht, was ihr wollt. Wenn wir da sein können, kann doch von denen auch jemand da sein, oder nicht? ({11})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, trotzdem ist Ihre Redezeit jetzt abgelaufen.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich danke Ihnen, Frau Präsidentin, für diesen Hinweis. Ich möchte noch eines sagen, was mir, meine Damen und Herren, Kolleginnen und Kollegen, ein ernstes Anliegen ist.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Dr. Guido Westerwelle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002944, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Darf ich noch einen letzten Satz sagen, Frau Präsidentin? Für Sie ist das Ganze vielleicht Jux. Ich sage Ihnen: Wenn führende Minister des Bundeskabinetts - der Landwirtschaftsminister sitzt ja in der ersten Reihe des Kabinetts - derartige Erklärungen abgeben, dann, meine ich, wäre es auch Aufgabe des Bundeskanzlers - oder seines Vertreters -, hier Klartext zu reden ({0}) und solche Äußerungen richtig zu stellen. Das ist eine Chance, die er verpasst hat. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun hat das Wort die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/Die Grünen.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst zu dem, was ich an dem Antrag korrekt finde: Der Bundestag soll bekräftigen, dass die beschlossenen Ausgleichsmaßnahmen in vollem Umfang realisiert werden - das werden sie -, dass die für Bonn vorgesehenen Bundesbehörden gemäß der geltenden Gesetzes- und Beschlusslage umziehen werden - das tun sie -, und dass sich der Bund weiterhin um die Ansiedelung zusätzlicher Institutionen, insbesondere internationaler Organisationen, nach Bonn bemüht - das tut der Bund. Von daher glaube ich, dass man nicht sagen kann, dass sich die rot-grüne Bundesregierung nicht für den Ausgleich der Bonner Interessen einsetzt. Trotzdem muss ich, nachdem wir nun ein Jahr hier sind Ihr Antrag ist ja schon ein Jahr alt - deutlich sagen: Es hilft nicht, wenn wir nur Schaufensterreden halten. Wir haben als Parlament Verantwortung auch da ({0}) - ja, das werde ich -, wo wir Probleme mit dem Berlin/Bonn-Gesetz haben. Wir wollen sie zumindest schrittweise in die Diskussion einbringen, uns ihnen stellen und sie nicht verdrängen. ({1}) - Moment, lassen Sie mich doch reden, liebe Frau Kollegin, dann werden Sie verstehen, was ich meine. Es geht darum, dass wir mit der Vorgabe des Gesetzes zunehmend Schwierigkeiten mit der Effektivität des Verwaltungshandelns haben: Auf der einen Seite müssen wir die Funktionsfähigkeit der Regierung in Berlin und die Zusammenarbeit mit Bundestag und - ab Herbst - Bundesrat gewährleisten und auf der anderen Seite über die Hälfte der Arbeitsplätze in Bonn belassen. ({2}) - Nein, hören Sie doch einmal zu, Frau Kollegin. Wir haben einen enormen Zeit-, Kosten- und Kraftaufwand. Ich möchte, dass wir uns diesem Thema ehrlich stellen. ({3}) Wir können es unserer Verwaltung, unseren Ministerinnen und Ministern sowie den Führungskräften nicht ständig zumuten, dass wir vor diesem Problem praktisch die Augen verschließen und so tun, als gäbe es das Problem nicht. ({4}) Tatsache ist: Wir haben derzeit 11 400 Arbeitsplätze der Regierung - ohne die nachgeordneten Behörden - in Bonn, 8 200 in Berlin, also knapp 60 Prozent in Bonn, 42 Prozent in Berlin. Die Ministerien mit dem ersten Dienstsitz in Bonn - das sind beispielsweise das Ministerium für Gesundheit und das Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, aber auch das Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit - haben rund 25 Prozent ihrer Arbeitsplätze in Berlin. Die Ministerien, die ihren ersten Dienstsitz in Berlin haben, weisen ganz unterschiedliche Quoten auf. Ich will einmal ein paar Beispiele nennen - ich denke, es ist schon wichtig, dass wir in dem Punkte Klarheit haben -: Das Bundesministerium des Innern hat beispielsweise 30 Prozent aller Arbeitsplätze in Bonn, das der Finanzen 46 Prozent und das Arbeitsministerium schließlich 76 Prozent. Ich denke, wir müssen nach einem Jahr Regierungstätigkeit ehrlich Bilanz ziehen: Wir betreiben insbesondere für die Führungskräfte unserer Ministerien einen unzumutbaren Aufwand, der sich zu verfestigen droht. Dieser Diskussion müssen wir uns bei aller Sympathie für die Region Bonn stellen. Wir erwarten gerade von der Führungsebene, dass sie auf der einen Seite die Koordination der Ressorts mit dem Bundestag und künftig auch mit dem Bundesrat leistet und auf der anderen Seite nach innen in effizienter Weise bis in die unteren Arbeitsebenen hineinwirkt. Ich sage Ihnen: Das wird auf Dauer nicht gut gehen. Ich weiß, dass das ein sehr schwieriges Thema ist, aber wir als Parlament können nicht einfach so tun, als könnten wir dieses Problem verdrängen. Von daher gilt meiner Meinung nach: Auf der einen Seite dürfen wir die Augen vor den Problemen nicht verschließen, in dem wir mit Schaufensteranträgen so tun, als bräuchten wir uns dem Thema nicht zu stellen, und auf der anderen Seite gilt es - das möchte ich sehr deutlich sagen -, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Es ist wichtig, dass die einzelnen Ministerien nunmehr prüfen - das erfordert auch Zeit, die man den Ministerien lassen sollte, zumal die Arbeitsfähigkeit nach dem Umzug bei den meisten betroffenen Ministerien noch nicht oder erst seit kurzem hergestellt ist -, ob sie mit der letztlich Anfang der 90er-Jahre vereinbarten Arbeitsteilung klarkommen oder ob sie Nachbesserungsbedarf sehen. Insofern sollten wir erst in der nächsten Legislaturperiode Bilanz ziehen und ehrlich prüfen, was in diesem Bereich gemacht werden muss. Ich wünsche mir dabei, dass wir die Ehrlichkeit haben, diese Probleme auch dann anzusprechen, wenn sie angesprochen werden müssen. Ich werde mich dabei jederzeit dafür einsetzen, dass bei eventuellen weiteren Umzügen auf Regierungsebene ein angemessener Ausgleich für Bonn vorgenommen wird. Wir müssen dann das Thema aktiv angehen und diskutieren, aber nicht weiter in einer Form der Vogel-Strauß-Politik. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich das Wort der Kollegin Petra Pau, PDS-Fraktion.

Petra Pau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003206, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag „Wort halten - Umsetzung der Bonn/Berlin-Beschlüsse“, über den heute abgestimmt werden soll, hat sich inzwischen ein Jahr durch das Parlament bewegt. Er zielt richtigerweise darauf, der Bundesstadt Bonn und der Region einen fairen Ausgleich für den Weggang von Bundestag und Ministerien zu sichern. Aber er hat aus meiner Sicht auch eine falsche Zielrichtung. Er zielt nämlich darauf ab, Anfang der 90er-Jahre getroffene Vereinbarungen für unabänderlich und auf ewig festgeschrieben zu erklären. Ich meine, dass daher nicht nur der federführende Innenausschuss zu Recht mit Mehrheit empfohlen hat, den Antrag heute abzulehnen. ({0}) Die Bundesregierung hat im September des vergangenen Jahres eine Bilanz über den Umzug nach Berlin und über Ausgleichsleistungen für die Region Bonn vorgelegt. Ich sehe in dieser Bilanz keinen Grund für die Unterstellung, die Region Bonn könnte unfair behandelt werden. Vielmehr registriere ich mit sehr viel Achtung, dass es im Zusammenspiel von Bund und Bonn gelungen ist, einen wirksamen Strukturwandel einzuleiten und der Bonner Region ein neues und auch international bedeutsames Renommee zu sichern. Sinnvollerweise sind zahlreiche Ämter, Institutionen und Unternehmen in die Region Bonn gerutscht - um den heute aktuellen Begriff zu benutzen - und weitere werden folgen. Ich habe nicht gehört, dass das irgendjemand inFranziska Eichstädt-Bohlig frage gestellt hätte. Wenn heute registriert wird, dass die Region Bonn die niedrigste Arbeitslosenquote der Bundesrepublik aufweist, dann ist das nach meiner Meinung ein weiteres Indiz für einen grundsätzlich engagierten und fairen Umgang mit den angesprochenen Problemen. Jetzt komme ich zum Wermutstropfen: Ein solches Engagement und eine solche Fairness der Bundesregierung würde ich mir endlich auch gegenüber Berlin wünschen. ({1}) Dieses Engagement wünsche ich mir gerade vor dem Hintergrund der immer noch ausstehenden Vereinbarung des Bundes mit dem Land Berlin über die Finanzierung der zusätzlichen Leistungen, zum Beispiel im Bereich der Sicherheit. Einer heute eingegangenen taufrischen Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage entnehme ich sogar puren Hohn in dieser Frage. So teilt das Bundesfinanzministerium zum Beispiel mit, man werde sich finanziell beteiligen, wenn man beim Land Berlin zusätzliche Leistungen bestelle. Ich wünsche mir, dass der Bundesfinanzminister und der Bundesinnenminister am Montag auf die Straße gehen und den Polizisten, die zur Sicherung der Staatsaufgaben Überstunden leisten, erklären, dass sie angeblich nicht bestellt wurden. Auch das gehört zum fairen Umgang und zu einem fairen Ausgleich zwischen Berlin und Bonn. ({2}) Ein letzter Punkt: Im Kern geht es in dem vorliegenden Antrag um etwas ganz anderes. Knapp zehn Jahre nach der Beschlussfassung und ein Jahr nach dem vollzogenen Umzug ist es legitim und geboten, zu prüfen, ob die einst gedachte Verteilung der Ministerien zwischen Bonn und Berlin wirklich effektiv ist. Man sollte sich nicht wie der Landwirtschaftsminister heute verhalten. Auf der Grundlage einer ehrlichen Bestandsaufnahme sollte 2002 nicht nur eine Bilanz, sondern ein sinnvoller Vorschlag vorgelegt werden, der wiederum den Ausgleich zwischen Berlin und Bonn zum Ziel hat. Vielleicht kommen wir zu dem Ergebnis, dass wir die Rutschbahn in beide Richtungen schmieren müssen, damit am Ende Berlin wie Bonn nicht nur einen fairen Ausgleich haben, sondern sowohl das Regieren als auch das Leben in beiden Regionen funktioniert und vielleicht auch Spaß macht. Danke schön.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat der Kollege Norbert Röttgen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. ({0})

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das kann der „General-Anzeiger“ nicht lesen, Herr Kollege Schmidt. ({0}) - Sie haben offenbar gute Kontakte. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Frage, die sich am Ende dieser Debatte stellt, lautet: Warum können SPD und Grüne diesem Antrag nicht zustimmen? Warum können Sie einem Antrag nicht zustimmen, dessen Inhalt es ist, die Bundesregierung aufzufordern, sich an die geltende Beschluss- und Gesetzeslage zu halten? ({1}) Darauf sagen Sie offensichtlich: Das ist ja eine Selbstverständlichkeit. Dann muss ich Ihnen sagen - das werden wir übrigens auch den Menschen in dieser Region sagen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD -, dass diese Region Sie offensichtlich so wenig interessiert, dass Sie die Probleme nicht einmal kennen. ({2}) - Ja, die nehmen das nicht ernst. Aber die Menschen in der Region Bonn, Rhein-Sieg und Ahrweiler nehmen es ernst. Sie haben offensichtlich noch nicht zur Kenntnis genommen, dass es akute Gesetzesverletzungen dieser Bundesregierung gibt. Das nehmen Sie nicht zur Kenntnis. Die Menschen in der Region jedoch nehmen das zur Kenntnis. ({3}) - Herr Schmidt, Sie sagen: „Das ist doch Unsinn!“ Ich sage Ihnen Folgendes: Wenn im Berlin Bonn-Gesetz festgeschrieben ist, dass das Bundesamt für Strahlenschutz von Berlin nach Bonn umzieht und der Bundesumweltminister die Entscheidung trifft, dass dieser Umzug nicht stattfindet, dann ist das eine Verletzung des Berlin/BonnGesetzes, die das Parlament als Ganzes nicht hinnehmen kann. ({4}) Ich stelle fest, Sie sind von dieser Tatsache überrascht. Das bestätigt aber nur meine These, dass Sie sich nicht für den Sachverhalt interessieren. ({5}) Das ist der Vorwurf, den ich Ihnen mache, nicht allen: Es gibt auch in Ihrer Fraktion Mitglieder, die sich für diese Region einsetzen. In dieser Debatte wird deutlich, dass Sie diese Region abgeschrieben haben. Auch der Kollege Kemper hat das in seiner Rede deutlich gemacht. Es interessiert Sie nicht mehr, was dort läuft. Sie nehmen sogar Gesetzesverstöße in Kauf. Das Beispiel des Bundesamtes für Strahlenschutz ist ein eindeutiger Gesetzesverstoß. Das kritisieren wir. Meine Damen und Herren, dies ist nicht nur ein regionales Anliegen. Es ist auch eine Frage des parlamentarischen Selbstverständnisses, ob wir es als Parlament hinnehmen, dass eine Bundesregierung erklärt, dass sie sich über Gesetze, die dieser Bundestag beschlossen hat, einfach hinwegsetzt. Das darf der Bundestag nicht hinnehmen. ({6}) Wir verlangen vom Bundesumweltminister, dass er den Anstand und den Mut hat, in das Parlament zu kommen, und zu sagen: Ich möchte dieses Gesetz ändern und habe diese oder jene Gründe dafür. Das müssen wir als Parlament insgesamt erwarten, meine Damen und Herren. ({7}) Das sollte keine Frage von Parteien sein. ({8})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Um diese Zeit lasse ich keine Zwischenfragen mehr zu, meine Damen und Herren. Ich bitte um Nachsicht, dass wir dieses so durchziehen. Ich möchte nicht, dass die Frage gestellt wird, ob die Beschlussfähigkeit gegeben ist oder nicht. Lassen Sie uns das ordentlich zu Ende bringen. Die Bemerkung, die ich gemacht habe, Herr Kollege Röttgen, wird nicht von Ihrer Redezeit abgezogen. Sie haben das Wort.

Dr. Norbert Röttgen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002765, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke sehr. Das Bundesamt für Strahlenschutz ist kein Einzelfall. Auch andere Bundesämter sind bisher nicht umgezogen. Zurzeit besteht in der Bonner Region die akute Sorge, dass der Politikbereich Gesundheit, dessen Erhalt ebenfalls gesetzlich festgelegt ist, mit der Entscheidung, die Kassenärztliche Bundesvereinigung von Köln nach Berlin zu verlagern, ausgehöhlt wird. Es ist ebenfalls eine Pflicht dieser Bundesregierung, die Politikbereiche in dieser Region zu halten und zu fördern. Wenn die Kassenärztliche Bundesvereinigung als öffentlich-rechtliche Körperschaft so beschließen würde, wie sie es vorhat, dann wäre das rechtswidrig. Auch dies ist gutachtlich nachgewiesen. Wenn die Bundesgesundheitsministerin diesen rechtswidrigen Beschluss - sie hat angedeutet, dass sie es tun will - genehmigen würde ({0}) - richtig, „wenn sie denn da wäre“; die Bundesregierung ist an dieser Thematik nicht sehr interessiert; das können wir auch heute Abend in dieser Debatte konstatieren; Herr Kollege Westerwelle hat es bereits festgestellt -, dann verhält sich diese Bundesregierung erneut rechtswidrig. Das würde die Aushöhlung eines Politikbereiches bedeuten, von der 3 000 Arbeitnehmer mit ihren Familien betroffen wären. Das ist Ihre Politik. ({1}) Aber die Sorgen der Menschen interessieren Sie nicht. Sie wissen gar nicht, dass davon 3 000 Menschen betroffen wären. Ich stelle bei Ihnen eine große Gleichgültigkeit gegenüber der Bonner Region, den dort betroffenen Menschen und Familien fest, die unsicher sind. Wir werden das den Menschen auch mitteilen. Darauf können Sie sich verlassen. ({2}) - Ja, wir werden dafür sorgen, dass die örtlichen Medien über die Arroganz der Mehrheitsfraktionen berichten werden, die sich nicht darum kümmern, ob sich die Bundesregierung an geltendes Recht hält oder nicht. Das werden wir den Bürgerinnen und Bürgern der Region mitteilen. Das verspreche ich Ihnen. ({3}) Die Bundesregierung und das Parlament sind verpflichtet, die Politikbereiche in der Bonner Region nicht nur zu erhalten, sondern auch zu fördern. Wir appellieren an Sie: Zwingen Sie die Städte und Kreise nicht in ein Kleinklein der Verteidigung! Seien Sie gesetzestreu! Das ist unsere Forderung an Sie. Sehen Sie auch die Chancen der Beschlusslage. Sie bietet auch die Chance, eine effiziente, politikorientierte Regierung und Verwaltung in der Bundeshauptstadt Berlin anzusiedeln. Kehren Sie zum früheren Dialog mit der Bonner Region zurück. Reden Sie mit den Menschen in dieser Region. Suchen Sie das konzeptionelle Gespräch. Versuchen Sie die Politikbereiche, deren Ausbau zugesagt worden ist, zu fördern. Unser Appell lautet - er richtet sich an alle Parlamentarier -: Alle Bürgerinnen und Bürger in diesem Land haben das Recht auf gesetzestreues Verhalten der Bundesregierung. ({4}) Das sollten die Bürgerinnen und Bürger auch einfordern. Die Menschen in der Regionen Bonn, Rhein-Sieg und Ahrweiler haben Anspruch auf Verlässlichkeit und Planungssicherheit. Sie befinden sich in einem schwierigen Umstrukturierungsprozess. Sie brauchen Verlässlichkeit wie die Luft zum Atmen. Sie nehmen ihnen diese Luft. Darüber bin ich sehr enttäuscht. Aber wir werden die Bürgerinnen und Bürger darüber informieren. Darauf können Sie sich verlassen. Sie werden die Quittung für Ihr Verhalten schon noch bekommen. Herzlichen Dank. ({5})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte darauf hinweisen, dass als Vertreterin der Bundesgesundheitsministerin die Parlamentarische Staatssekretärin, Frau Nickels, anwesend ist. Ich mache nur deshalb darauf aufmerksam, weil eben behauptet wurde, die Regierung sei nicht vertreten. ({0}) Ich schließe die Aussprache Wir stimmen jetzt über die Beschlussempfehlung des Innenausschusses zum Antrag der Fraktion der CDU/ CSU zur Umsetzung der Bonn/Berlin-Beschlüsse auf Drucksache 14/2699 ab. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1004 abzulehnen. Wer folgt dieser Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal- tungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Ablehnung von CDU/CSU und F.D.P. angenommen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 g auf: a) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS Straffreiheit für Spionage zugunsten der Deutschen Demokratischen Republik - Drucksache 14/3065 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({1}) Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2}) Sammelübersicht 144 zu Petitionen ({3}) - Drucksache 14/3002 - c) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS Bereinigung von politischen Ungerechtigkei- ten im Kalten Krieg - Drucksache 14/3066 - Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4}) Sammelübersicht 128 zu Petitionen ({5}) - Drucksache 14/2716 - e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6}) Sammelübersicht 129 zu Petitionen ({7}) - Drucksache 14/2717 - f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8}) Sammelübersicht 130 zu Petitionen ({9}) - Drucksache 14/2718 - g) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS Beendigung der Strafverfolgung für hoheitliches Handeln in der DDR - Drucksache 14/3067 Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss ({10}) Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Zu den Beschlussempfehlungen liegt jeweils ein Än- derungsantrag der Fraktion der PDS vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung werden die Reden der Kollegen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grü- nen und der F.D.P. zu Protokoll gegeben1). Die Kollegin Vera Lengsfeld und der Kollege Wolfgang Gehrcke bekommen zehn Minuten Redezeit. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist das so vereinbart. Ich erteile der Kollegin Vera Lengsfeld das Wort. ({11}) - Ich bitte um Entschuldigung; jetzt habe ich schon aufgerufen. ({12}) Wer von Ihnen will zuerst sprechen? - Frau Kollegin, Sie können anfangen, bitte sehr.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die politischen Maßstäbe in Deutschland haben sich in den vergangenen Jahren bedenklich verschoben. Ein bisschen Stasispitzelei wird mittlerweile wie ein Kavaliersdelikt behandelt. Linksradikalismus ist beinahe normal und soll nach dem Willen der PDS heute legalisiert werden. Landesverrat soll nun als eine Art Ehrensache für die Weltrevolution vom Deutschen Bundestag sanktioniert werden. Die PDS unternimmt mit ihrem heutigen Antrag auf Straffreiheit für DDR-Spione einen neuen und - ihr Sinn für Utopien ist ja wesentlich - besonders bizarren Versuch, endlich die ersehnte Westausdehnung zu erreichen. Sie macht sich zum Fürsprecher derjenigen, die im Westen mit dem DDR-Ministerium für Staatssicherheit zusammengearbeitet haben. Das ist insofern konsequent, als sich die PDS ihrer Rolle als „Partei der Spitzel“ schon lange bewusst ist und sie überzeugend spielt. ({0}) - Spitzel, die wesentliche Verantwortung hatten, sitzen ja auch zwischen Ihnen in diesem Saal. Wenn im Westen sonst keine Wähler zu gewinnen sind, dann hofft man wenigstens auf die Spione als Klientel. ({1}) - Es ist schön, dass Sie das freut. Sie sehen, ich verstehe Sie.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten auch diesen Teil der Debatte ordentlich miteinander führen, deswegen bitte ich um ein bisschen Ruhe.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Wie sehr der PDS Lan- desverrat am Herzen liegt, hat sie mehrfach unter Beweis gestellt. Ich erinnere an das peinliche Vorhaben, einen Vizepräsidentin Anke Fuchs 1) Anlage 25 noch im Strafvollzug befindlichen DDR-Spion, Rainer Rupp, der für eine halbe Million Mark die gesamte NATO-Militärplanung der Stasi verraten hatte, bei der PDS-Fraktion anzustellen. Ich nenne weiterhin die Tatsache, dass zwei ebenfalls rechtskräftig verurteilte Spione, das Ehepaar George und Doris Pumphrey, die die Grünen-Fraktion ausspioniert hatten, nach der Wende von der PDS-Fraktion eingestellt wurden. Frau Pumphrey betätigte sich dort bezeichnenderweise als Koordinatorin einer Arbeitsgemeinschaft „Kundschafter des Friedens“. Im Bundesvorstand der PDS sind mit Diether Dehm, der Wolf Biermann im Westen bespitzelte, die West-IM angemessen vertreten. Vielleicht dürfen wir bald auf einen Antrag der PDS hoffen und über ein „Mahnmal für den unbekannten Stasispion“ diskutieren. ({0}) Ich möchte aber heute diskutieren, welche Folgen es hat, wenn Straftaten und politisches Unrecht nicht geahndet werden. Wer dafür eintritt, Spionage für eine verbrecherische Diktatur straffrei zu stellen, der lädt dazu ein, dies auch in Zukunft so zu halten. Dabei ist der Rechtsstaat mit seinen Verrätern ausgesprochen milde umgegangen, so milde, dass Spione, die 200 000 Mark Agentenlohn von der Staatssicherheit erhalten hatten, nur zu einer Geldstrafe von 8 000 DM verurteilt worden sind. Sie konnten sich also 192 000 DM steuerfrei in die Tasche stecken. In deutschen Gefängnissen gibt es heute keine ehemaligen DDR-Spione, zumindest nicht als Gefangene. Der Spionagechef Wolf spaziert quietschvergnügt durch die Talkshows und das nennt die PDS dann Siegerjustiz. Etwa 20 000 bis 30 000 Westdeutsche haben, so schätzt der beste Kenner der Materie, Hubertus Knabe, für die HVA, also für die Hauptverwaltung Aufklärung, gearbeitet. Laut Bundesanwaltschaft wurden nach der Vereinigung gegen nur knapp 3 000 von ihnen Ermittlungsverfahren eingeleitet. Etwa 2 750 Verfahren wurden wieder eingestellt. Nur 253 Angeklagte wurden verurteilt, der größte Teil auf Bewährung. Nur 59 Westdeutsche wurden nach 1990 zu Gefängnisstrafen von mehr als zwei Jahren verurteilt. Zum Vergleich: In den USA wird Spionage mit bis zu 20 Jahren Haft geahndet. Die Richter in Deutschland zeigen - dazu bedurfte es der PDS-Propaganda leider nicht meist sehr großes Verständnis für die ehemaligen DDRSpione. Regelmäßig heißt es in den Urteilen, es bestehe keine Wiederholungsgefahr - Gott sei Dank, möchte ich hinzufügen -, ({1}) oder die Richter sprechen vom Resozialisierungsgebot. Anschließend engagieren sich die zu Resozialisierenden in der PDS. Der PDS geht es in ihrem Antrag keineswegs um eine humanitäre Geste, sondern um eine Botschaft: Spitzeltätigkeit von Bundesbürgern für das Ministerium für Staatssicherheit soll eine vollkommen legitime, womöglich ehrenhafte und dem Fortschritt verpflichtete Aufgabe gewesen sein. Nichts lag aber der DDR-Diktatur ferner als der Frieden. Die Phrasen sollen dazu dienen, das gesamte System der SED-Herrschaft zu amnestieren und politisch zu rehabilitieren. Spionage für einen demokratischen Rechtsstaat wird frech moralisch und politisch mit der Spionage für ein untergegangenes Regime gleichgesetzt. Wir werden aber nicht zulassen, dass sich dieses geschichtsrevisionistische Verständnis durchsetzt, ({2}) vor allen Dingen nicht im Deutschen Bundestag. Sehr geehrte Damen und Herren, es ist - zumindest auf den ersten Blick - verwunderlich, dass die relativistischen und revisionistischen Forderungen der PDS immer wieder auf naives Wohlwollen im Westen hoffen dürfen. Wo liegen eigentlich die Motive dafür? Dem Westen wurde es leicht gemacht, seine eigenen Verstrickungen nicht aufzulösen. Lange konnten Bundesbürger, die für die Stasi gearbeitet hatten, unentdeckt bleiben, weil die Akten als vernichtet galten. Tatsächlich lag die Agentenkartei von Markus Wolf in den Vereinigten Staaten. Als im vergangenen Jahr die spät in Gang gekommenen Verhandlungen über eine Rückführung abgeschlossen wurden, erklärte der Geheimdienstkoordinator der Bundesregierung, Ernst Uhrlau, die Daten kämen in die Gauck-Behörde und wären dort genauso zugänglich wie alle anderen Stasiakten. Um ihre eigenen Sicherheitsinteressen zu schützen, würden die Amerikaner eigens eine gefilterte Datenkopie für Deutschland anfertigen. Im Januar dieses Jahres wurde uns von der Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundesminister des Inneren, Frau Sonntag-Wolgast, noch einmal ausdrücklich versichert: Eine Einschränkung der Verwertungshoheit über die Daten durch die USA sei weder vereinbart noch beabsichtigt. Als dann jedoch die ersten CDs mit den Karteikartenkopien aus Amerika im Bundeskanzleramt eintrafen, verkündete Herr Uhrlau plötzlich, die Daten seien streng geheim. Der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf Körper erklärte, die Bundesregierung beabsichtige auch nicht, die Amerikaner um Aufhebung der Geheimhaltung zu bitten. Da fällt es schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass die Bundesregierung gar nicht wissen will oder genauer: es allein wissen will -, wer in diesem Land für die Stasi als Agent gearbeitet hat. Erst die Proteste der Union haben der Bundesregierung die Zusicherung abgerungen, die Agentenkartei der Gauck-Behörde zu übergeben. Doch dort soll sie als geheime Kommandosache unter Verschluss genommen werden. Eine Auswertung soll, wenn überhaupt, nur durch zur Geheimhaltung verpflichtete Wissenschaftler möglich sein. Mindestens zwei Jahre, so sagte Ernst Uhrlau kürzlich in einem Zeitungsinterview, würde es dauern, bis das Material gesichtet worden sei. Wesentliches Material sei von den Amerikanern klassifiziert worden und die Bundesregierung sei im Rahmen des Geheimschutzabkommens verpflichtet, solches Material unter Verschluss zu halten. Hier wird offenbar bewusst gebremst, boykottiert und auf Zeit gespielt. In den letzten Wochen war überdies zu erfahren, dass Abschriften der nach Amerika entführten Agentenkartei bereits seit Jahren in den Panzerschränken der GauckBehörde liegen. Niemand hat dort hineingeschaut, wenn Westdeutsche auf eine Stasizusammenarbeit überprüft wurden. Nicht einmal Wissenschaftler wurden an das Material herangelassen, um das Agentennetz im Westen transparent zu machen. Das ist ein Unding! Die Akten westdeutscher Spitzel müssen gemäß Stasi-UnterlagenGesetz genauso zugänglich gemacht werden wie die ehemaliger DDR-Bürger. Die Westdeutschen, die sich - im Gegensatz zu vielen Spitzeln in der DDR - meist ohne äußeren Druck und fast immer aus Geldgier auf die Stasi eingelassen haben und genau wussten, was sie taten, und genau wussten, dass dies strafbar ist, sind meist gut weggekommen. Die Handlanger der DDR nutzten die Liberalität der Bundesrepublik. Die Versuchung, die Stasiaufarbeitung auf den Osten zu beschränken, ist offenbar groß. Wir erinnern uns: Als ein Mitarbeiter der Gauck-Behörde im vergangenen Jahr ein Buch zu diesem Thema ankündigte, wurde er aufgefordert, die Arbeit daran einzustellen. Schon damals drängte sich der Eindruck auf, die Gauck-Behörde werde immer dann von der Regierung ans Gängelband genommen, wenn es um westdeutsche Stasiverstrickungen geht, insbesondere um die der SPD. ({3}) So erreichen wir mit Sicherheit keine innere Einheit, erst recht nicht, wenn westdeutschen DDR-Spitzeln nun im Nachhinein vom Deutschen Bundestag ihre Lauterkeit bescheinigt würde, wie es die PDS wünscht. Die Aufarbeitung der Stasiakten wird erfolgreiche Emanzipationsgeschichte. Millionen Menschen haben aus diesen Stasiakten neue Erkenntnisse über die DDRDiktatur gewonnen. Unzählige Inoffizielle Mitarbeiter und zufälligerweise auch einige Westspione sind enttarnt, die verbrecherischen Praktiken der Stasi sind offen gelegt worden. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Zersetzungspläne. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz hat nicht für alle Spitzel Führungspositionen verhindern können, aber einige Leute sind glücklicherweise von der politischen Bühne verschwunden. Spionage ist bereits verjährt. Allenfalls schwerer Landesverrat kann noch bestraft werden. Doch das Stasiproblem im Westen kann kein bloß juristisches oder historisches sein. Parteien und Verbände, Kirchen und Gewerkschaften, Medien und Universitäten müssen sich dieser ihrer Geschichte stellen. Es geht um politische, um ideologische Affinitäten, die heute allzu gern vertuscht werden. Das Rosenholz-Material muss der gesellschaftlichen Diskussion in Deutschland zur Verfügung gestellt werden. Wir wollen wissen, wer die Geschichte der Bundesrepublik im Hintergrund wie mitgesteuert hat und warum, auch, aus welchen Motiven gemeinsame Sache mit der SED gemacht wurde und von wem. Die Kollaboration mit dem Geheimdienst der SED sagt viel über Verfassungstreue und auch viel über den politischen Charakter desjenigen aus, der kollaboriert hat. Wer an maßgeblicher Stelle in der Bundesrepublik Deutschland freiwillig oder für Geld mit dem MfS zusammengearbeitet hat, wer beim gemeinsamen Jagen oder beim Prosecco mit den netten Genossen von drüben Informationen ausgetauscht und dabei vielleicht ideologische Nestwärme gespürt hat, ist politisch belasteter und moralisch unmöglicher als ein kleiner IM in der geschlossenen DDR.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.

Vera Wollenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002721, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Rosenholz-Akten können zeigen, dass die DDR nicht nur ein Regime von Gnaden der Sowjetunion war, sondern dass sie auch von Leuten im Westen gestützt wurde. Um der historischen Wahrheit willen müssen wir wissen, wer diese Leute gewesen sind. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Gehrcke von der PDS-Fraktion.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Frau Lengsfeld, ehrlich gesagt: Für die Weltrevolution ist es mir heute Abend ein bisschen spät. Außerdem ist mir das Wetter zu gut. Ich will es also unterlassen. ({0}) Ich werde aber versuchen, diesen späten Abend zu nutzen, Sie davon zu überzeugen, dass die Vorschläge meiner Fraktion Sinn machen und berechtigt sind. ({1}) An den Anfang meiner Rede will ich ein paar Zeilen von Bertolt Brecht stellen; das überzeugt meistens. Im Zusammenhang mit diesem Thema habe ich nämlich sehr viel an ein Gedicht von ihm gedacht, aus dem ich Ihnen vorlesen möchte: Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge. Auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser. Ach wir, die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten selbst nicht freundlich sein. ({2}) Dies gab uns Bertolt Brecht in seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“ zu bedenken. Dass der Hass die Züge verzerrt, auch wenn man freundlich sein wollte, erkennt man zuerst beim Gegenüber, beim politischen Konkurrenten und beim politischen Gegner. Die verzerrten und deformierten Züge erkannten wir jeweils beim konkurrierenden System in Ost und West, aber selten im eigenen System. Auch den so oft zitierten Satz von Rosa Luxemburg ({3}) über die Freiheit als Freiheit des Andersdenkenden verstanden wir oft nur als einen Anspruch auf die eigene Freiheit, solange wir anders dachten, als eine Freiheit der Minderheit und nicht als eine Verpflichtung der Mehrheit. Ich glaube, das sollten wir uns sagen. ({4}) Die Andersdenkenden der 50er- und 60er-Jahre in der Alt-BRD waren Kommunistinnen und Kommunisten und andere Linke. Das Verbot der KPD, die Verfolgung von Gesinnung, die strafrechtliche Auseinandersetzung über hoheitliches Handeln in der DDR, Strafverfahren betreffend Spionage Ost, soweit sie von Bürgern West begangen wurden - all das ist aus meiner Sicht nicht nur moralisch inakzeptabel und politisch falsch, es bedrückt auch nicht nur die direkt Betroffenen, sondern es deformiert in diesem Sinne, wie Brecht es formuliert hat, auch Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. ({5}) Unsere Anträge und die vorliegenden Petitionen haben eine Grundbotschaft: Es mus nicht nur der Kalte Krieg zwischen den Staaten beendet werden, sondern auch der Kalte Krieg in der Gesellschaft, in unser aller Köpfen, gerade zehn Jahre nach der deutschen Vereinigung. ({6}) Nehmen Sie sich also bitte die geistige Freiheit, aus dem Rückblick auf die Geschichte festzustellen, dass das KPD-Verbot von 1956 und die Verfolgung Andersdenkender, die politisch falsch waren, Menschen Unrecht zugefügt und der Demokratie geschadet haben. Bis zum In-Kraft-Treten des Achten Strafrechtsänderungsgesetzes im Jahr 1968 wurden in der alten Bundesrepublik etwa 200 000 Ermittlungsverfahren wegen Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates oder anderer Delikte eingeleitet. Rund 10 000 Bürgerinnen und Bürger wurden mit Untersuchungshaft, Freiheits- und Nebenstrafen beschwert. Erinnern wir uns: In den 50er-Jahren drohte der Kalte Krieg in einen heißen, in einen Atomkrieg umzuschlagen. Die Gräben zwischen Ost und West waren tief. Im Zuge des Ost-West-Konfliktes, der jeweiligen Systemanbindung beider Staaten, verschwand die Wiedervereinigung mehr und mehr von der Tagesordnung und bildete sich die Zweistaatlichkeit heraus. Hier liegen die tieferen Ursachen des KPD-Verbotes. Betrachten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, die damalige Situation doch bitte einen Moment aus einem anderen Blickwinkel: 1945 kehrten die Überlebenden des Widerstandes gegen die Nazidiktatur aus den KZs und aus der Emigration zurück, unter ihnen auch viele Kommunistinnen und Kommunisten. Diesen Menschen war unvorstellbar Schreckliches angetan worden. Sie waren für mich - das war prägend für meine Biografie - das Wertvollste, was ich in meinem politischen Leben kennen gelernt habe. ({7}) Und nun, sechs Jahre nach ihrer Befreiung aus der Hölle der KZs und der Zuchthäuser, mussten sie erneut erleben, dass ihre Partei verboten wurde und sie aus politischen Gründen verfolgt wurden. Sie wurden erneut inhaftiert oder mussten das Land, weil sie an ihrer Partei festhielten, verlassen. Welch anderer Begriff als Unrecht wäre dem angemessen? ({8}) Unrecht waren zweifellos auch die Berufsverbote in den 70er-Jahren. Es gab 11 000 Berufsverbotsverfahren, 3,5 Millionen Überprüfungen, 2 200 Disziplinarverfahren, 256 Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst und 1 250 Ablehnungen von Bewerbungen. ({9}) Davon waren auch die Kinder eben der KZ-Häftlinge betroffen, die in den 50er-Jahren inhaftiert wurden und nun wiederum die politische Verfolgung ihrer Kinder erlebten. ({10}) Was ich Ihnen schildere, ist erlebte, auch deutsche Geschichte. Sie darf nicht länger verdrängt werden. Üblicherweise - Gott sei Dank haben Sie so reagiert; dann können wir das nämlich direkt austragen - kommt bei diesem Thema der Hinweis, eine Demokratie müsse wehrhaft sein und das Unrecht sei doch im Osten geschehen und nicht im Westen. Wehrhaft aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine Demokratie dann, wenn sie auf der Überzeugung und dem Wunsch der Bürgerinnen und Bürger beruht, sie verteidigen zu wollen. ({11}) Wehrhaft ist eine Demokratie, die für alle Teile der Gesellschaft sozialen Wohlstand, Teilhabe an der Willensbildung und Transparenz der Entscheidung bietet, formal wie auch real. Das KPD-Verbot, die politischen Prozesse, die Berufsverbote waren nicht Ausdruck von Stärke der Demokratie, sondern Ausdruck ihrer Schwäche. ({12}) Sie haben die Demokratie nicht gefestigt, sondern ihr geschadet. Das zu erkennen und zu korrigieren haben wir mit unseren Vorschlägen die Chance. Auch der Hinweis auf das Unrecht Ost, für das die SED die Verantwortung trägt, kann das Unrecht West nicht rechtfertigen. Unrecht bleibt Unrecht, Herr Dr. Brecht, egal wer es begeht. Ich lehne eine Aufrechnung Unrecht West gegen Unrecht Ost und Unrecht Ost gegen Unrecht West ab. Unrecht bleibt Unrecht, egal wo es passiert. ({13}) Kommen wir in diesem Zusammenhang zu der Frage der Ungleichbehandlung der deutsch-deutschen Spionage, aus der der Umstand herrührte, dass Bürgerinnen und Bürger aus den alten Bundesländern, die sich dem Nachrichtendienst der DDR verpflichtet hatten, unter Strafe gestellt werden konnten, ihre Auftraggeber, soweit sie ihrer Tätigkeit von der DDR aus nachgingen, jedoch nicht. Mitarbeiter der westlichen Geheimdienste, die in der DDR verurteilt wurden, wurden dagegen finanziell entschädigt und beruflich gefördert - eine moralisch, politisch und juristisch unhaltbare Situation. Das wird nicht nur von der PDS so gesehen. Ich möchte Ihnen ein Zitat vom Kollegen Schäuble vorlesen, der 1990 vor dem Bundestagsausschuss Deutsche Einheit sagte: Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir im vereinten Deutschland die jeweiligen Agenten der anderen Seite ins Gefängnis stecken. Was ich mir auch nicht vorstellen kann, ist, dass wir die Mitarbeiter der DDR ins Gefängnis stecken und das umgekehrt nicht tun. ({14}) Es handelt sich um teilungsbedingte Straftaten, die außer Verfolgung gestellt werden müssen. So weit Herr Schäuble. ({15}) Ich könnte Ihnen hier ähnliche Zitate von Herrn Thierse oder von Altbundespräsident Richard von Weizsäcker vortragen. Ich glaube, dass ungeachtet der Motive der Betroffenen, die sich für eine solche nachrichtendienstliche Tätigkeit entschieden haben, gilt, dass ihre Tat teilungsbedingt war und schwerwiegende Folgen für die Betroffenen hatte: hohe Freiheitsstrafen und soziale Belastungen, Arbeitslosigkeit, Geldstrafen und Gerichtskosten, also die Vernichtung sozialer Existenzen. Auch das können wir, weil es teilungsbedingt war, mit unseren Vorschlägen korrigieren. Oder machen Sie andere, bessere Vorschläge, wie dieses Unrecht korrigiert werden kann. Auch bei unserem dritten Vorschlag bitte ich Sie, vorgefasste Meinungen für einen Augenblick zu vergessen. Hätten Sie sich zum Beispiel vorstellen können, dass AltKanzler Kohl nebenbei, ({16}) bei einem seiner vielen Gespräche mit Herrn Egon Krenz ich weiß nicht, ob sie sich geduzt haben -, diesem mitgeteilt hätte: Und nach der Vereinigung, mein Lieber, kommen Sie vor Gericht? ({17}) Oder erinnern wir uns an die Festsitzung des Bundestages zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls, bei der an dieser Stelle Michail Gorbatschow sagte: Ein ehemaliger Generalsekretär, der Chef, wird gewürdigt, ein anderer sitzt? Auch das ist Realität. Rufen Sie sich einmal in Erinnerung, was Gorbatschow hier ausgeführt hat. Er sagte damals: Es ist doch sonderbar, dass heute ausgerechnet die Personen der DDR-Staatsführung vor Gericht stehen, die vor zehn Jahren den Beschluss fassten, die Mauer durchlässig zu machen, die Personen, die keinen anderen Weg eingeschlagen und keinen anderen Beschluss gefasst haben. Viele Persönlichkeiten unseres Landes, der Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer, Lothar de Maizière, die Ministerpräsidenten Stolpe und Höppner und andere haben öffentlich über Amnestie nachgedacht. Ihnen wie uns wurde entgegengehalten, eine Beendigung der Strafverfolgung und eine Amnestie könne von den Opfern nicht akzeptiert werden. Lothar de Maizière hat sich mit diesem Problem auseinander gesetzt. Ich darf ihn zitieren: Zu den großen zivilisatorischen Kulturleistungen der Menschheit gehört es, dass sie die Ahndung strafrechtlich relevanten Verhaltens aus der Täter-OpferBeziehung herausgenommen und auf den Staat delegiert hat, um so die Opferbefindlichkeit nicht zum Richter werden zu lassen. ({18}) Das sind, glaube ich, sehr weise, durchdachte Worte. Bleibt zum Schluss die Frage, ob es vernünftig ist, dass gerade die PDS diese Probleme aufgegriffen hat. Unabhängig davon, dass andere das nicht gemacht haben, finde ich, dass gerade unsere geschichtliche Erfahrung das erfordert. ({19}) Günter Gaus - das ist mein letzter Satz - hat das in einem Zeitungsartikel sehr zu Recht und sehr gut dargestellt: Soll Anpassung, das gute Recht des schwachen Einzelnen, der sich nicht anders zu helfen weiß, zum kategorischen Imperativ aus Parteiinteresse werden? Gerade eine Partei mit Mitgliedern, die sich zu oft und zu unkritisch angepasst haben - dazu zähle auch ich mich -, hat sich entschlossen, sich nicht mehr anzupassen und auch in dieser Frage - gegen den Strom zu schwimmen. ({20})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Die Reden der SPD- Fraktion, der F.D.P.-Fraktion und der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen sind zu Protokoll gegeben worden und dort nachlesbar.1) Damit schließe ich die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen. Abstimmung über Tagesordnungspunkt 17 a. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3065 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. 1) Anlage 25 Abstimmung über Sammelübersicht 144, Drucksache 14/3002. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/3807 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt. Wir stimmen nun über die Sammelübersicht 144, Drucksache 14/3002, ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Sammelübersicht 144 angenommen. Wir kommen zum Antrag der Fraktion der PDS, Drucksache 14/3066. Interfraktionell wird Überweisung dieser Vorlage an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Jetzt kommen wir zu weiteren Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Abstimmung über Sammelübersicht 128, Drucksache 14/2716. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/3804 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? -Gegenprobe! Enthaltungen? - Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt. Wir stimmen nun über die Sammelübersicht 128, Drucksache 14/2716, ab. Wer stimmt für diese Sammelübersicht? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Damit ist die Sammelübersicht 128 angenommen. Wir stimmen über die Sammelübersicht 129, Drucksache 14/2717, ab. Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/3805 vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Wir stimmen über die Sammelübersicht 129, Drucksache 14/2717, ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die Sammelübersicht 129 ist angenommen. Wir kommen zur Sammelübersicht 130, Drucksache 14/2718. Auch hierzu liegt ein Änderungsantrag der PDS, Drucksache 14/3806, vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Wir kommen zur Abstimmung über die Sammelübersicht 130, Drucksache 14/2718. Wer stimmt für diese Sammelübersicht? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 130 ist angenommen. Wir kommen zum Antrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/3067. Interfraktionell wird Überweisung dieser Vorlage an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung des Antrags des Abgeordneten Dr. Christian Schwarz-Schilling und weiteren Abgeordneten der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Heide Mattischeck und weiteren Abgeordneten der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Claudia Roth ({0}) und weiteren Abgeordneten der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeordneten Sabine LeutheusserSchnarrenberger und weiteren Abgeordneten der Fraktion der F.D.P. Humanitäre Grundsätze in der Flüchtlingspolitik beachten - Drucksache 14/3729 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist trotz der späten Stunde eine Aussprache von einer halben Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Herrn Dr. Christian Schwarz-Schilling, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Christian Schwarz-Schilling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002128, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir hatten heute Morgen hier in diesem Saal eine sehr zu Herzen und zum Verstand gehende Aussprache über das Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Wir haben dabei lernen können, was es bedeutet, wenn in einer Generation die Grundsätze der Menschenwürde und des Rechtsstaates weggeschoben werden und wie viele Generationen es braucht, um Leid, Unrecht und Schmerzen, die dadurch angerichtet wurden, wieder zu beseitigen, wobei wir alle wissen: Beseitigt werden können sie nie mehr. Das ist ein ganz komplexer Zusammenhang. Damals, nach dem Zweiten Weltkrieg, haben wir alle gesagt: Wir wollen dafür sorgen, dass so etwas nie wieder vorkommt - nie wieder Konzentrationslager, nie wieder Unrecht und Ähnliches mehr. 50 Jahre später brannte es in Europa wieder. Europa tat so, als ginge es das gar nichts an. Denn es handelte sich um eine Randregion Europas, den Balkan. Wir schauten weg; wir waren unbeteiligt, bis die Dinge so schlimm wurden und sich auch die Vereinigten Staaten entsprechend involvierten, dass wir dann begannen, uns damit zu beschäftigen. Milosevic hat eine ganze Region mit einem Krieg überzogen und in einen Abgrund gestürzt. Nun sprachen wir alle vom „Bürgerkrieg“. Zunächst einmal eine Feststellung: Das war kein normaler Krieg, das war kein Bürgerkrieg, sondern das war ein Krieg einer hoch gerüsteten Armee gegen die Zivilbevölkerung; nicht Bürger gegen Bürger, sondern die einen standen unter dem Befehl eines Diktators und die anderen waren wehrlose Bürger. Dies ist nach landläufiger Meinung kein Bürgerkrieg. Männer wurden umgebracht und Frauen vergewaltigt im Übrigen nicht nur aus Spaß, sondern aus ideologischem Axiom: Die Maxime - man kann die Gründe dafür schriftlich nachlesen - war, dass auf bosnischem Boden serbische Kinder geboren werden sollten. Es kam zu Folter und Tod. Es gab Lager, die man sich heute kaum schlimmer vorstellen kann. Es handelte sich um eiskalt geplanten Völkermord. 700 000 bis 800 000 Menschen flohen ins Ausland, davon circa 350 000 nach Deutschland. Circa 300 000 sind allein in Bosnien umgebracht worden. 1 Million Menschen wurde in Jugoslawien aus ihren Häusern gejagt, bevor sie gesprengt wurden. Da hatten sie dann noch Glück; Vizepräsidentin Anke Fuchs denn bei vielen Menschen war es so, dass sie mit in die Luft gesprengt worden sind. Heute vor fünf Jahren, am 6. Juli 1995, begann der Angriff auf die UN-Friedenszone Srebrenica. In diesen Tagen, vor genau fünf Jahren, war die Jagd auf 30 000 Menschen, auch Frauen mit Kindern, eröffnet. 8 000 bis 10 000 Männer wurden verschleppt und auf freiem Feld ermordet. Alle, die ermordet wurden, waren unbewaffnet. Denn die UN hatte ihnen in der so genannten Friedenszone alle Waffen abgenommen. Als es dann ernst wurde, ist die UN getürmt und einige, die noch da waren, guckten hilflos zu. Dieses Gemetzel war für diese Menschen die Hölle. Die Aufnahme der 350 000 Flüchtlinge bei uns in Deutschland war eine großartige Tat und vorbildlich für die ganze Welt. Bund und Länder haben sich daran beteiligt und alle Hilfe geleistet, die man leisten konnte. Vor allen Dingen unsere Bevölkerung war unglaublich ergriffen, spendete und half, wo es nur irgend möglich war. Später kam auch unsere Bundeswehr dazu und leistete Vorbildliches. Von daher können wir nur alle sagen, dass wir auch stolz sein können auf das, was Deutschland in diesen Jahren getan hat. Dann kam der Friedensvertrag von Dayton, der in Paris unterschrieben worden ist. Er war zwar unvollkommen, aber sicherlich damals kaum anders zu machen. Denn die Mörder und Kriegsbrandstifter saßen mit am Tisch. Ein Friedensvertrag dieser Art ist meistens etwas schwierig und schief. Für manche deutsche Politiker war dies dennoch der Zeitpunkt, zu sagen, der Frieden sei da und nun sollten alle Flüchtlinge so schnell wie möglich hinaus. Die Abmachungen von Dayton sagten etwas anderes: Der UNHCR ist diejenige Organisation, die die Rückkehr der Flüchtlinge führend zu organisieren hat. Über die Rückkehr der Flüchtlinge wurde das Recht auf Heimat und auf Freiwilligkeit festgeschrieben. Es heißt dort im Artikel I des Annex 7: All refugees and displaced persons have the right freely to return in their homes of origin. Obwohl auch wir diesen Vertrag unterzeichnet haben, wurden diese Rechte der Flüchtlinge schon sehr bald nach Dayton einseitig außer Kraft gesetzt. Wir sind uns dennoch einig gewesen, dass der größte Teil dieser Flüchtlinge nicht auf Dauer bei uns bleiben soll. Darüber gibt es gar keinen Dissens. Wir waren auch darüber einig, dass eine friedliche, gestaffelte Rückkehr in mehreren Phasen stattfinden soll. Auch darüber gab es keinen Dissens. Aber jetzt kommt der dritte Punkt: Eine sensible Einzelfallprüfung bei Problemgruppen wie zum Beispiel Traumatisierten, Behinderten, Lagerinsassen, Jugendlichen, die hier aufgewachsen sind, wurde vom Innenminister, mit dem ich allein darüber seit anderthalb Jahren korrespondiere, zugesichert. Die Innenministerkonferenz sagte das Gleiche. Meine Damen und Herren, ich sage hier ganz klar: Zusagen dieser Art sind nicht eingehalten worden. Im Gegenteil: Seit Februar, März dieses Jahres erhalten diese Problemgruppen pauschal und ohne Differenzierung dieselben Ausreiseaufforderungen mit der Androhung von Zwangsmaßnahmen für den Fall, dass man Deutschland nicht bis zum angegebenen Zeitpunkt verlassen hat. Meine Damen und Herren, so haben wir nicht gewettet. Ich muss ganz offen sagen: Wer für diese Problemgruppen nur eine Verzögerung der Ausreise vorgesehen hat und nicht bereit ist, für diese 8 Prozent der einstmals 350 000 Flüchtlinge eine sensible Einzelfallregelung zu treffen, wer meint, diese Flüchtlinge seien nun lange genug bei uns gewesen und sollten nun genauso wie die anderen nach Hause geschickt werden, der hält seine Zusagen nicht ein. ({0}) Aus diesen Gründen liegen sehr viele geradezu tragische Einzelfälle auf den Tischen der Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages. Ich möchte nur zwei Fälle nennen. Ich könnte Ihnen hundert Fälle nennen; bei mir kommen jeden Tag ungefähr fünf Fälle auf den Schreibtisch - eine Aufgabe, die ich fast nicht mehr lösen kann. Die Familie Isovic aus Bosanski Brod, Republika Srpska, kam 1993 nach Deutschland und lebt jetzt in München. Eine Tochter ist in der Zwischenzeit in die USA ausgewandert. Herr Isovic hat sich in Deutschland nur wegen schwerer Verletzungen als Soldat in der Armee behandeln lassen. Seine Frau und die Tochter - sie war damals 14 Jahre alt - waren im KZ Bosanski Brod, einem berüchtigten Lager in der Heimatstadt dieser Familie. Sie wurden dort mehrere Wochen vergewaltigt und gefoltert. Sie haben sich in Deutschland nicht als traumatisierte Personen behandeln lassen, weil sie, wie sie mir später gesagt haben, gehofft und gedacht haben, dass sie die schrecklichen Erinnerungen durch Arbeit und Beschäftigung - die Eltern waren beide in Lohn und Brot - besser vergessen könnten. Erst nach der Abschiebungsdrohung im Februar dieses Jahres hat das nicht behandelte Trauma eine schlimme Entwicklung genommen. Es gab einen Selbstmordversuch der Mutter. Herr Isovic, der selber in eine furchtbare Situation geraten ist, erzählte mir, wie er, als er in seine damals noch unbeschädigte Wohnung kam, den Kopf seiner Mutter in einer Tüte im Kühlschrank gefunden hat. Das ist für sie die Heimatstadt Bosanski Brod. Diese Familie ist jetzt hier. Das Ehepaar hat natürlich den Fehler begangen, sein Trauma nicht sofort behandeln zu lassen. Es ist jetzt in psychotherapeutischer Behandlung. Der Vater hat gesagt: Er wird nur tot zurück nach Bosnien gehen. Er wird niemals zu den Tätern nach Bosanski Brod zurückkehren. Wir kennen die Situation aus dem Zweiten Weltkrieg und wissen, dass Menschen, die die Konzentrationslager überlebt haben, über Jahrzehnte hinweg gesagt haben: Wir werden nie wieder nach Deutschland kommen. Manche haben das bis heute so gehalten, bei anderen hat sich das gelöst. Eigentlich müsste so etwas bei uns bekannt sein. Wir müssten doch wissen, was in diesen Menschen vor sich geht. Nein, diese Menschen werden vorgeführt, manchmal sogar in Handschellen zu Polizeiordnungsdiensten, die eine ärztliche Beurteilung abgeben sollen. So etwas hat es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben. In keinem Land wurden ehemalige Emigranten in irgendeiner Weise vorgeführt und wieder zurückgeschickt. Meine Damen und Herren, es gibt noch einen zweiten Fall, den ich kurz erwähnen will. Eine fünfzehnjährige Stumme lebt in Sachsen-Anhalt in Möckern, im Landkreis Jerichower Land, und lernt dort seit sechs Jahren in der Taubstummenschule deutsch. Was konnte sie denn sonst lernen? Sie kann nur kommunizieren, wenn sie die Mundstellungen des Gegenübers beobachten kann. Ganz abgesehen davon, dass die Eltern nicht aus Sarajewo stammen, wurde gesagt, es gibt auch in Sarajewo eine Taubstummenschule, dorthin kann sie gehen. Es wurde überhaupt nicht darüber nachgedacht, dass die Sprachkenntnis notwendig ist, um an dieser Schule jemals kommunizieren zu können. Jetzt müssen wir auf Ministerpräsident Höppner, der gerade in den USA weilt, warten, um das Schlimmste zu verhindern. „Wir müssen eine politische Lösung finden.“ Damit komme ich zu einem wichtigen Punkt, den ich am Schluss ansprechen möchte. Es gibt jetzt nicht mehr viele Flüchtlinge bei uns und wir sollten denjenigen, die jetzt noch hier sind, das Leben nicht so erschweren und sie nicht in Angst und Panik versetzen. Diese Menschen haben aufgrund dessen, was ihnen passiert ist, ein Recht, in Frieden zu leben, wie auch wir. ({1}) Wir verscherzen jetzt unsere gute Reputation; denn wir hatten 350 000 Flüchtlinge aufgenommen. Jetzt leben noch 35 000 bei uns. In Österreich haben 67 000 ein Bleiberecht bekommen. In Schweden sind es 53 000 Menschen, die ein Bleiberecht bekommen haben. Die USA haben bis zu 140 000 aufgenommen. Im Vergleich mit der Bevölkerungszahl sind das mehr, als die Bundesrepublik Deutschland aufgenommen hat. Wir können jetzt nicht mehr sagen, wir haben die meisten, denn das hat sich geändert. Auch die Stimmung der Welt gegenüber Deutschland hat sich geändert. Lassen Sie mich zwei Dinge ganz klar sagen. Unser Grundgesetz sagt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. ... Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. ... Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Gilt so etwas für einen Menschen, der seit acht Jahren hier lebt, nur deshalb nicht, weil er einer anderen Heimat, einem anderen Volk entstammt? Nach dem Grundgesetz gilt es für jeden und nicht nur für einen Deutschen. Das muss man endlich wissen. Das Zweite: Das Ausländergesetz nennt durchaus Möglichkeiten. Warum werden diese nicht genutzt? Das Ausländergesetz sagt in § 54, Aussetzungen von Abschiebungen: Die oberste Landesbehörde kann aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten ... für die Dauer von längstens sechs Monaten ausgesetzt wird. Zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit bedarf die Anordnung des Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern, wenn die Abschiebung länger als sechs Monate ausgesetzt werden soll.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Herr Kollege, ich muss jetzt doch auf die Redezeit achten.

Dr. Christian Schwarz-Schilling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002128, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Warum macht der Innenminister nicht von sich aus das Angebot an die Länder? Wir haben ein Einvernehmen, wenn wir bei diesen Problemfällen weit über sechs Monate hinaus bis zu dem Zeitpunkt, zu dem wir eine Bleiberegelung getroffen haben, nicht abschieben. Das wäre eine Initiative. Sie fällt auch in seinen Zuständigkeitsbereich. Er hat sich ebenso wie die Länder in der letzten Zeit sehr bewegt. Ich möchte nur sagen: Es nützt alles nichts, wenn wir im Dezember eine Regelung haben und Hunderte oder Tausende vorher in die jetzt dort vorherrschenden Verhältnisse abgeschoben werden. Ich könnte Ihnen zig Fälle nennen, die so dramatisch sind wie die gerade geschilderten. Wenn sie ausreisen müssen, wird ihr Leben, ihre Familie zerstört. Das sollten wir verhindern, denn unsere Generation sollte das Recht, die Menschenwürde und all das, wofür unsere Vorfahren jahrhundertelang gekämpft haben, verteidigen. Genauso müssen wir uns auch gegenüber anderen Ländern verhalten, wenn es nötig ist. Denn Menschenrechte durchbrechen auch Landesgrenzen; wie wir auch gegenüber den Nationen sagen, dass dies keine innere Angelegenheit der Nationen ist. Menschenrechte sind für die ganze Bundesrepublik Deutschland da. ({0})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Sie sind damit einverstanden gewesen, dass ich die Redezeit in diesem Fall verlängert habe, ({0}) denn wir wollten Ihre eindrucksvolle Rede gern hören. Wir sind stolz darauf, dass wir dieses Thema heute Abend noch in dieser eindrucksvollen Weise behandeln können. Auch die nachfolgenden Redner würden wahrscheinlich gern noch länger reden, als es die Redezeit erlaubt, aber ich bitte Sie, sich daran zu halten. In diesem Sinne hat die Kollegin Heide Mattischeck das Wort.

Heide Mattischeck (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001441, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Ich möchte meinen kurzen ich werde mich an die Redezeit halten - Redebeitrag damit beginnen, noch einmal all denen Dank zu sagen, die in den letzten Jahren den 350 000 Flüchtlingen und Vertriebenen aus Bosnien und Herzegowina in unserem Land Zuflucht und Aufnahme gewährt haben: dem Bund, den Ländern, den Kommunen, vor allen Dingen aber den vielen Menschen, die sich zum Teil in vorbildlicher Weise ganz persönlich um diese Menschen gekümmert haben, die vor dem schrecklichen Krieg und dem Genozid in ihrer Heimat fliehen mussten oder vertrieben worden sind. ({0}) Der Dank gilt auch den vielen Flüchtlingsorganisationen und Wohlfahrtsverbänden, die sich dieser Not leidenden und gequälten Menschen angenommen und diese vielfältig unterstützt haben. 300 000 Flüchtlinge sind inzwischen in ihre Heimat zurückgekehrt. Sie sind dabei, die Trümmer wegzuräumen, sich eine neue Existenz aufzubauen, ihr Land wieder in Ordnung zu bringen. Welch schwere Aufgabe das ist, wissen wir, wenn wir es wollen. Sie brauchen aber noch lange internationale Unterstützung. Auch dies wissen wir. Die noch verbliebenen Flüchtlinge gehören weitgehend den Problemgruppen an, die wir in unserem Antrag beschrieben haben, die zunächst von einer Rückführung ausgenommen werden sollten. Seit dem Frühjahr dieses Jahres - dies war auch der Grund für unsere Initiative werden diese Personen weitgehend unterschiedslos aufgefordert, Deutschland kurzfristig zu verlassen. Wer ist nicht schon in seinem oder ihrem Wahlkreis von solchen Personen angesprochen oder angeschrieben worden? Wir wissen, wie hilflos wir dann oft reagieren müssen. Wir wissen allerdings auch - dies haben wir in der letzten Woche auch von dem UNHCR-Vertreter bei einer Podiumsdiskussion gehört -, dass es in den Bundesländern durchaus unterschiedliche Herangehensweisen gibt. Hier nenne ich Nordrhein-Westfalen und auch Schleswig-Holstein, die mit Flüchtlingen unterschiedlich umgehen, die zum Kreis der im Antrag genannten gehören. Mit unserem Osterappell, den zu unserer Freude und Überraschung ganz spontan 100 Abgeordnete unterschrieben haben, wollten wir einen neuen Denkanstoß geben, die begonnene Zwangsrückführung von Traumatisierten, von Alten und Kranken, von Müttern mit kleinen Kindern, von ethnisch gemischten Ehepaaren einzustellen. An dieser Stelle erlaube ich mir, auf die besondere Hartnäckigkeit des Kollegen Schwarz-Schilling in dieser Sache hinzuweisen und mich dafür auch zu bedanken. ({1}) Das öffentliche Echo auf den Osterappell - das haben Sie sicher alle zur Kenntnis genommen - war durchweg positiv. Dies hat uns ermutigt, diesen Gruppenantrag einzubringen. Ermutigt hat uns - das will ich an dieser Stelle auch sagen - die Unterstützung von Hans Koschnick und auch die Rede vom Bundespräsidenten Johannes Rau. Johannes Rau sagte in seiner viel beachteten Rede über Einwanderung und Asyl, dass es zum einen Menschen gibt, die wir hier bei uns brauchen und brauchen werden, die wir einladen, zu uns zu kommen, und solche, die uns brauchen. Zu der letzten Kategorie gehören weitgehend jene, von denen wir heute sprechen. Einige, wenn auch wenige, gehören allerdings durchaus auch zu denen, die wir dringend brauchen. Ich denke da zum Beispiel an eine Frau aus Bosnien, um deren Verbleib in Deutschland sich der Inhaber einer Änderungsschneiderei in meinem Wahlkreis händeringend bemüht; denn er findet sonst niemanden. Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, dass circa 225 Abgeordnete den Antrag unterschrieben haben, macht deutlich, dass es für dieses Anliegen eine breite Unterstützung im Deutschen Bundestag gibt. Ich bin sehr froh darüber, dass Innenminister Schily sich eindeutig dafür ausgesprochen hat, für den Personenkreis der Traumatisierten den gesetzlichen Rahmen voll auszuschöpfen. So viel Deutschland für die Flüchtlinge getan hat, so großherzig sollten wir jetzt mit denen umgehen, die dieser schreckliche Krieg am stärksten und wohl auch dauerhaft betroffen und beschädigt hat. ({2}) Wir sollten zur Kenntnis nehmen - der Kollege SchwarzSchilling hat schon darauf hingewiesen -, dass Österreich 65 000, Schweden 53 000 und Dänemark 27 000 Bosnier und Bosnierinnen dauerhaft aufnimmt. In den USA - auch das wurde gesagt - haben bereits 140 000 Männer und Frauen aus Bosnien Aufnahme gefunden. Ich denke, wir sollten uns davon nicht beschämen lassen. Wir fordern in unserem Antrag mit den vielen Unterschriften kein neues Gesetz; wir fordern auch keine Gesetzesänderung. Wir bringen darin unsere Erwartung zum Ausdruck, im Rahmen bestehender Gesetze und unter Berücksichtigung auch der Genfer Konvention alles zu unternehmen, damit dem betroffenen Personenkreis keine Ausreiseaufforderung, verbunden mit Abschiebungsdrohung, ausgesprochen wird. Sollte dies schon geschehen sein, dann sollte sie widerrufen werden. Ich möchte auch die Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass die ausführenden Ausländerbehörden das Votum des höchsten Souveräns in unserem Lande - ich gehe davon aus, dass die Abstimmung heute positiv verlaufen wird zur Kenntnis nehmen, respektieren und danach handeln. ({3}) Wir fordern die Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, dass im Rahmen von Einzelfallprüfungen Minimalkriterien angewendet werden und dass für diesen Personenkreis, von dem wir heute sprechen, Möglichkeiten auch für einen längerfristigen Aufenthalt mit einem gesicherten Rechtsstatus in Deutschland geschaffen werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass uns das gelingen wird, und bitte deshalb um Zustimmung. Ich bedanke mich dafür, dass wir hier heute Abend eine so breite Unterstützung finden. Danke schön. ({4})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Nun erteile ich der Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, F.D.P.Fraktion, das Wort.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001336, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Herr Schwarz-Schilling, Sie haben als Kenner der Region wirklich treffend, überzeugend und ergreifend die Entwicklung und auch die Situation der derzeit noch in Deutschland verbleibenden Flüchtlinge geschildert. Deshalb darf für uns in dieser Debatte nicht der Satz gelten, der die Ausländerpolitik derzeit mitbestimmt, nämlich: Wir wollen die Menschen aufnehmen, die uns nützen, und nicht die Menschen, die uns ausnutzen. - Dieser Satz galt für uns, die Initiatoren dieses Antrages, nicht, denn wir wollen gerade, dass es in der Flüchtlingspolitik einen anderen Tenor gibt. Wir wollen erreichen - niemand besser als Herr Schwarz-Schilling hat uns das mit zwei Beispielen vor Augen geführt -, dass die zum Teil völlig perspektivlose Situation von einer bestimmten Gruppe von Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien ernst genommen wird. Es handelt sich um Einzelschicksale. Wir wollen erreichen, dass sich nicht nur Bürgermeister aller Parteien vor Ort an uns als Parlamentarier wenden mit dem Ziel einer Aufschiebung der gesetzten Ausreisefrist, einer Verlängerung der Duldung für eine Familie mit Kindern, sondern dass dies hier, wo es hingehört, im Bundestag debattiert und auch von der Bundesregierung aufgegriffen wird. Wir wollen, dass die Möglichkeiten des Ausländerrechtes für die traumatisierten Flüchtlinge, für die Lagerinsassen, für die Kriegsdienstverweigerer und für die Deserteure, für Mütter oder Väter allein mit Kleinkindern und für unbegleitete Minderjährige ausgeschöpft werden. So wie es innerhalb kürzester Zeit möglich gewesen ist, mit der Blue Card in Bayern die Einwanderung von Facharbeitskräften aus einem bestimmten Bereich ausländerrechtlich großzügig zu regeln, so ist es auch ohne Problem möglich, diesen Personengruppen, die zudem zahlenmäßig gar nicht mehr ins Gewicht fallen, einen verfestigten Aufenthaltsstatus nach dem geltenden Ausländerrecht zu geben. Dadurch kann ihnen Sicherheit gegeben werden, sodass sie nicht von einer Fristsetzung zur nächsten leben müssen und möglicherweise Familien auseinander gerissen werden müssen. ({0}) Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des Gruppenantrages beantragen ausdrücklich keine Änderung des Ausländergesetzes. Es ist kein Gesetzentwurf. Wir wollen die politische Entscheidung, dass das Ausländerrecht ausgeschöpft wird, dass nach dem Ausländerrecht nicht nur eine befristete Duldung erteilt wird, sondern ein verfestigter Aufenthaltsstatus. Dass das möglich ist, zeigt schon die von uns zu begrüßende Bewegung des Bundesinnenministers, was die traumatisierten Flüchtlinge angeht. In diesem Zusammenhang erlauben Sie mir ein Wort zu der speziellen Berliner Situation. Nach der Praxis des Berliner Innensenates werden fast alle Kriegsflüchtlinge aus Bosnien, denen anerkannte Fachärzte in Deutschland eine Traumatisierung bescheinigt haben, seit dem Frühjahr 1999 pauschal aufgrund von Anweisungen von Polizeiärzten noch einmal begutachtet. Diese Gutachten und auch ärztliche Bewertungen stehen häufig nicht in Übereinstimmung mit internationalen Qualitätsstandards. Dies ist - so haben es auch Verwaltungsgerichte in Berlin festgestellt - eine rechtswidrige Praxis. Sie traumatisiert diese Flüchtlinge zusätzlich. Wir wollen, dass hiervon ein Signal ausgeht, dass diese Praxis beendet wird. Die Innenministerkonferenz wird diese Beendigung auf ihrer nächsten Tagung beraten und hoffentlich beschließen. ({1}) Deshalb - ich habe nur eine sehr kurze Redezeit - bitte ich Sie, diesen Gruppenantrag zu unterstützen; denn er enthält nur Selbstverständliches zum geltenden Ausländerrecht. Vielen Dank. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat das Wort die Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Osterappell und der jetzt von 230 Kolleginnen und Kollegen unterschriebene Gruppenantrag ist für mich ein ganz außergewöhnliches Ereignis. Dieses Ereignis bewegt mich tief, weil es für die Menschenrechte in unserem Land enorm wichtig ist. Unsere Debatte heute Abend hat etwas von einer Sternstunde, nicht weil es schon so entsetzlich spät ist.

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Gleich ist es wieder ganz früh.

Claudia Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003212, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Vielmehr ist diese politisch parlamentarische Initiative, die, wie ich erwarte, positive Änderungen mit sich bringen wird, für unsere Glaubwürdigkeit wichtig. Glaubwürdigkeit bemisst sich am Umgang mit denen, die verfolgt, die vertrieben, die Opfer von ganz schrecklichen Verbrechen geworden sind und die bei uns Hilfe und Zuflucht gesucht und vielerorts gefunden haben. Denen soll jetzt genau dieser für ihr Leben und für ihre Zukunft nötige Schutz entzogen oder verweigert werden. Die 230 Abgeordneten sind vielleicht die bisher größte überparteiliche parlamentarische Menschenrechtsgruppe für die Beachtung humanitärer Grundsätze in der Flüchtlingspolitik. 230 Abgeordnete mischen sich im allerbesten Sinne ein und formulieren mit diesem Antrag deutliche Kritik an der menschenrechtlichen Realität in unserm Land. Sie schließen nicht die Augen, sie schauen nicht weg, sie schweigen nicht, sondern sie leisten damit demokratischen Widerstand gegen die Entrechtung des Rechts von Flüchtlingen, gegen Ruck-zuck-Abschiebungen in eine völlig unsichere Zukunft. Bayern geht übrigens mit besonders gnadenlosem Beispiel voran. Denn jetzt werden in Bayern selbst ehemalige Lagerhäftlinge in einer wahren Abschiebewut von Abschiebungen nicht ausgenommen. 230 Kolleginnen und Kollegen formulieren ihren Widerspruch gegen rigorose und unzumutbare Härte und einen unmenschlichen Umgang mit Schutzbedürftigen. Als Beispiel möchte ich nennen, dass in Berlin, wie Frau Leutheusser-Schnarrenberger ausgeführt hat, traumatisierte Flüchtlinge in Berlin in Handschellen zu polizeiärztlichen Gutachtern geführt werden. Ich bin froh und stolz, dass es gelungen ist, über Parteigrenzen hinweg ein Bündnis für mehr Humanität zu schließen und als Deutscher Bundestag die Bundesregierung aufzufordern, von den Bundesländern das einzufordern, was seit langem und zu Recht von Kirchen, von Wohlfahrtsverbänden, von vielen Unternehmen, von Flüchtlingsorganisationen und von Mitbürgern, die uns in unzähligen Briefen um Unterstützung in Einzelschicksalen bitten, eingefordert wird. Wir fordern die politisch Verantwortlichen auf, die Logik der Debatte endlich umzudrehen und die Schutzgewährung wieder in den Vordergrund zu stellen, ({0}) anstatt bürokratische und kalte Erlasse zu exerzieren, ohne Rücksicht auf die tatsächliche Situation in den Herkunftsländern oder auf die Realität, die Angst und die Sorgen der Betroffenen zu nehmen. Es braucht einen differenzierten Umgang mit spezifischen Gruppen, die nicht oder noch nicht zurückkehren können. Dabei handelt es sich, wie schon angesprochen worden ist, um allein stehende, alte, traumatisierte und behinderte Menschen sowie um ethnische Minderheiten wie Roma und Askali. Es handelt sich um Menschen, deren Häuser zerstört sind und die beim besten Willen nicht ins Nichts zurückkehren können. Wir brauchen eine gewissenhafte Einzelfallprüfung und wir brauchen die Gewährung von Bleiberecht für zum Beispiel junge Menschen, die faktisch in unsere Gesellschaft integriert sind. Problemfälle - das sind die etwa 50 000 noch verbliebenen Bosnier - sind kein Problem für unsere Gesellschaft. Sie haben existenzielle Probleme, bei deren Lösung wir ihnen helfen müssen. Würden zum Beispiel traumatisierte Frauen jetzt zwangsweise abgeschoben werden, würde ihnen eine Retraumatisierung drohen. Ganz abgesehen davon gibt es in Bosnien keine Möglichkeit, die Behandlung adäquat fortzusetzen. Von einer freiwilligen Rückkehr zu sprechen ist daher purer Hohn. ({1}) Tatsache ist, dass massiver Ausreisedruck ausgeübt wird, ohne die Kritik von allen Hilfsorganisationen ernst zu nehmen. Im Menschenrechtsausschuss haben alle Hilfsorganisationen auf die Situation im Herkunftsland hingewiesen. Es wird keine Rücksicht auf die Bitten von UNMIK und UNHCR genommen, die ernsthaft davor warnen, dass eine unkoordinierte und überstürzte Rückführung von Menschen zum Beispiel in den Kosovo eine Destabilisierung mit sich bringen würde. Ich erwarte, dass unser Beschluss etwas bewirken wird und nicht einfach zu den Akten gelegt wird. Ich erwarte, dass die Abgestumpftheit der Politik beendet wird und dass sich mancher Innenminister darauf besinnt - wie es unser Kollege Schwarz-Schilling gesagt hat -, was unser Grundgesetz zum Ausdruck bringt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das ist unser moralischer Imperativ, das ist unsere historische Verantwortung, die sich im Umgang mit den Menschenrechten zeigen muss. Es geht nicht nur um das Schicksal von Flüchtlingen und Vertriebenen, es geht vor allem um die Stärke unserer Demokratie. Stark ist ein starker Staat nur dann, wenn er die Schwachen schützt und ihnen das gewährt, was sie brauchen, nämlich Leben und Zukunft. Unsere Initiative ist also auch ein Beitrag für eine wehrhafte Demokratie in Deutschland. ({2})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat das Wort die Kollegin Ulla Jelpke, PDS-Fraktion.

Ulla Jelpke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001023, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als mir dieser Antrag von einigen meiner Kollegen zur Unterschrift vorgelegt wurde, dachte ich, dieser Antrag hätte etwas Besonderes sein können. Ich dachte, Abgeordnete aus allen Parteien des Deutschen Bundestages hätten sich für Menschen eingesetzt, die in einer Notsituation stehen. Damit wäre der Antrag geradezu ein Lichtblick in der aktuellen Einwanderungsdiskussion geworden. Es geht hier nämlich nicht um die Frage der Nützlichkeit von Menschen, sondern um die bedrohliche Lage von Menschen. Herr Schwarz-Schilling, ich habe großen Respekt vor Ihnen bezüglich der Rede, die Sie heute gehalten haben. Wenn ich mich hier umschaue, so sehe ich keinen einzigen Kollegen Ihrer Fraktion, der dem Innenausschuss angehört. Denn sie sind diejenigen, die in den letzten Monaten und Jahren immer wieder blockiert haben. Dadurch ist es zu der Abschiebepolitik gekommen, die Sie heute kritisiert haben. ({0}) Claudia Roth ({1}) Diese Debatte beschämt mich deshalb, weil ich in den letzten Wochen und Monaten viele Anträge und Anfragen zu diesen Problemen gestellt habe. Ich möchte hier deutlich sagen, dass ich es nicht gut finde, dass man bei einer solchen Frage nicht in der Lage war, PDS-Abgeordnete bei diesem Antrag einzubeziehen. ({2}) Dies ist ein wichtiger Antrag, der in die richtige Richtung geht. Auch ich bin der Meinung, dass Behinderte, Kranke, alte Menschen, Traumatisierte und Angehörige bestimmter Ethnien nicht abgeschoben werden dürfen und dass eine sorgfältige Einzelfallprüfung stattfinden muss. Mit diesem Appell würde der Bundestag ein Zeichen setzen, dass die gegenwärtige Abschiebepolitik so nicht fortgesetzt werden kann. Auch ich nenne das Beispiel einer kurdischen Familie, die gerade in das Kirchenasyl gegangen ist. Die Frau wurde vergewaltigt. Sie war schwanger und verlor ihr Kind. Die Ausländerbehörde verlangt trotzdem, obwohl die Frau traumatisiert ist, dass sie das Land verlässt. Dieser Antrag kann nur ein Appell sein. Wir sind der Meinung, dass der Schutz von Kranken und Traumatisierten vor Abschiebung nicht im Belieben der Ausländerbehörde liegen darf. Wir müssen - das hat auch Herr Schwarz-Schilling angesprochen - § 53 Abs. 4 des Ausländergesetzes neu formulieren, und zwar so, dass die Europäische Menschenrechtskonvention entsprechend der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bei der Entscheidung über eine Abschiebung beachtet werden muss. Wir werden einen solchen Antrag erarbeiten und vorlegen, damit das Abschieben nicht im Belieben der Ausländerbehörde liegt. Wir werden diesem Appell zustimmen. Ich wünsche mir aber einen anderen Umgang mit Abgeordneten, die sich gerade bei solchen Fragen engagiert eingesetzt haben. Danke. ({3})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Jetzt hat die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Cornelie SonntagWolgast das Wort.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002191

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein bisschen schade, dass am Schluss dieser Debatte noch ein parteipolitisches Gegeneinander aufgekommen ist, die eigentlich so wohltuend ungewöhnlich verlaufen ist. Ich finde es schon eindrucksvoll, dass so viele Namen aus den unterschiedlichen politischen Lagern vereint auf einem Antrag zu finden sind. Fraktionsübergreifende Initiativen sind nach wie vor eine parlamentarische Rarität. Sie kommen am ehesten zustande, wenn es um Fragen der Menschenrechte geht. Ich erinnere mich noch - das liegt schon einige Jahre zurück - an die Große Anfrage von weiblichen Abgeordneten. Es handelte sich hier um den internationalen Frauenhandel. Ich erinnere mich auch an die übergreifende Initiative zu dem Vorstoß, die genitale Verstümmelung schärfer zu ahnden. Die Initiative, über die wir heute sprechen, verlangt für bestimmte Flüchtlingsgruppen aus Bosnien und Herzegowina und aus dem Kosovo bis auf weiteres das Bleiberecht in Deutschland. Das entspricht einer breiten Stimmung in der Bevölkerung der Bundesrepublik. Ich weiß aus der täglichen Praxis, wie viele solcher Bitten uns mündlich und schriftlich erreichen. Gerade Flüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina haben in Deutschland eine hohe Akzeptanz. Es wird einige von Ihnen überraschen, wenn ich Ihnen sage: Die Bundesregierung fühlt sich durch diesen Antrag keineswegs auf die Armesünderbank gedrängt, sondern sie fühlt sich in mehreren Punkten bestätigt. Sie ist sich der Tatsache bewusst, dass bestimmte Personengruppen besonderen Schutz brauchen. So sind zum Beispiel ethnische Minderheiten aus dem Kosovo nach wie vor von dem, was wir „zwangsweise Rückführung“ nennen, ausgenommen. Das Bundesinnenministerium hat die zuständigen Landesbehörden schon vor einem halben Jahr ausdrücklich gebeten, die freiwillige Rückkehr dieser Menschen äußerst behutsam anzugehen. Ebenso setzt sich das Bundesinnenministerium dafür ein, dass Menschen, die als Zeugen vom Internationalen Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien benannt worden sind, mit ihren Familien einen Aufenthaltstitel in Deutschland bekommen. Minister Schily hat sich auch - das wurde schon erwähnt - für die schwer Traumatisierten, vor allem Frauen, und für ehemalige Lagerhäftlinge aus BosnienHerzegowina und aus dem Kosovo eingesetzt mit dem Ziel, dass die Behörden den gesetzlichen Rahmen voll ausschöpfen und von den auf drei Monate beschränkten Duldungen absehen, schon um diesen Menschen eine gründliche medizinische und psychotherapeutische Behandlung zu ermöglichen. Chronisch Traumatisierte sollen eine Aufenthaltsbefugnis erhalten, so geht es aus dem Schreiben an die Innenminister und Senatoren der Länder hervor. Ich nutze die Gelegenheit, um die zuständigen Behörden ausdrücklich zu bitten, auch entsprechend zu verfahren. Sensibilität und der Wille, Ermessensspielräume wirklich und entschieden auszunutzen, sollten auch vor den Türen der örtlichen Ausländerämter nicht Halt machen. ({0}) Auch wer schon im Rentenalter ist und keine Angehörigen in Bosnien-Herzegowina hat, ist gegenwärtig ebenfalls von der Rückführung ausgenommen. Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass wir im Dialog mit dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung über eine Lockerung des Arbeitsverbotes mit Blick auf Flüchtlinge und Asylbewerber beraten und dass wir, so hoffe ich, in allernächster Zeit zu einer LöUlla Jelpke sung kommen werden, die den Gegebenheiten auf dem Arbeitsmarkt ebenso gerecht wird wie den berechtigten Interessen der Betroffenen. Das Prinzip Freiwilligkeit - hier unterscheiden wir uns vielleicht in Nuancen, Frau Kollegin Roth - hat sich bei der Rückkehr doch bewährt. Wer hätte schon vor zwei oder drei Jahren gedacht, dass sich von den fast 350 000 Flüchtlingen der allergrößte Anteil aus freien Stücken wieder in die Heimat begeben würde? Jetzt sind noch etwas mehr als 38 000 Menschen in Deutschland, die eigentlich ausreisen müssten. Ende des Jahres, so schätzt der UNHCR, werden es voraussichtlich noch 21 000 sein. Den entsprechenden politischen Willen der Länder vorausgesetzt, könnte zu diesem Zeitpunkt im Rahmen der Innenministerkonferenz eine Altfallregelung für diese Menschen vereinbart werden. Ich muss genauso deutlich darauf hinweisen, dass wir nicht generell auf das Mittel der zwangsweisen Rückführung verzichten können. Außerdem haben wir es - das wissen alle, die den Antrag unterzeichnet haben - mit der Kompetenz der Länder zu tun. Ich möchte trotzdem klar unterstreichen: Die Bundesregierung versteht diesen Antrag als eindringlichen Appell vieler, die sich aus großer Verantwortung für das Schicksal der betroffenen Menschen zu Wort melden. Dass dieser Aufruf von so vielen Abgeordneten unterschiedlicher politischer Lager getragen wird, stellt unserer parlamentarischen Demokratie, glaube ich, ein gutes Zeugnis aus. Ich bedanke mich. ({1})

Anke Fuchs (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000611

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag mit dem Titel „Humanitäre Grundsätze in der Flüchtlingspolitik beachten“, Drucksache 14/3729. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist der Antrag einstimmig angenommen. ({0}) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 c auf: Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Zu- sammenarbeit von Arbeitsämtern und Trägern der Sozialhilfe - Drucksache 14/3765 - Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ich eröffne die Aussprache. Alle Reden zu diesem Ta- gesordnungspunkt sind zu Protokoll gegeben.1) Deshalb schließe ich die Aussprache wieder. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 14/3765 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf heute, Freitag, den 7. Juli 2000, 9 Uhr, ein. Die Sitzung ist geschlossen.