Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Lieber Kollege
Lambsdorff, ich darf Ihnen im Namen des ganzen Hauses
unseren herzlichen Dank für Ihre Arbeit aussprechen.
({0})
Nun erteile ich dem Kollegen Wolfgang Bosbach,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine große Mehrheit
der Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen
Bundestag wird dem Gesetzentwurf zur Errichtung der
Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ heute
zustimmen.
({0})
Dies geschieht allerdings nicht deshalb, weil sie der Auffassung ist, dass im Verlaufe der Beratungen über diesen
Gesetzentwurf alle offenen Fragen beantwortet, alle Probleme gelöst, ein Höchstmaß an Gerechtigkeit gegenüber
allen Opfern und eine hundertprozentige Rechtssicherheit
erzielt worden seien, sondern in der Überzeugung, dass
durch dieses Gesetz eine entscheidende Voraussetzung
dafür geschaffen wird, dass 55 Jahre nach dem Ende des
Zweiten Weltkrieges und damit auch der Naziherrschaft
den ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangarbeitern, die verschleppt, entrechtet, misshandelt und ausgebeutet wurden, spät - für viele leider zu spät - in Form einer humanitären Geste ein Stück Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für erlittenes Leid widerfährt. Dies gilt
insbesondere für jene Opfer, die bis heute die umfangreichen Entschädigungs- und Wiedergutmachungsleistungen der Bundesrepublik nicht in Anspruch nehmen konnten.
Dieses Gesetz ist nicht zuletzt - in Verbindung mit den
Begleitabkommen und mit den völkerrechtlich verbindlichen Erklärungen der Verhandlungspartner - eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass deutschen Firmen
im In- und Ausland und insbesondere in den USA ein hohes Maß an Rechtssicherheit und Rechtsfrieden und ein
weitgehender Schutz vor administrativen Schikanen garantiert wird.
Wer will bestreiten - darauf hat Graf Lambsdorff zu
Recht hingewiesen -, dass auf diesem ebenso wichtigen
wie sensiblen Gebiet der Entschädigung für nationalsozialistische Zwangsarbeit Geschäft und Moral eng beieinander liegen?
Angesichts der Klagen, insbesondere der Sammelklagen und der Droh- und Boykottkulisse in den USA, haben
die deutschen Unternehmen ein berechtigtes und nachvollziehbares Interesse daran, dass die schwierigen und
komplexen humanitären, aber auch rechtlichen Fragen
und Anliegen möglichst rasch zur Zufriedenheit aller Beteiligten auf Dauer, endgültig geklärt werden.
Wenn einige Kolleginnen und Kollegen unserer Fraktion dem Gesetzentwurf dennoch nicht zustimmen können, dann bedeutet das weder, dass diese Kolleginnen und
Dr. Otto Graf Lambsdorff
Kollegen für das humanitäre Anliegen der Stiftung oder
für die berechtigten Interessen der deutschen Wirtschaft
kein Verständnis hätten, noch, dass sie dem Leid und dem
Unrecht, das den ehemaligen Zwangsarbeitern zugefügt
wurde, gar gleichgültig gegenüberstehen. Bei ihnen überwiegt die Sorge, dass durch diese Stiftung zwar Unrecht
zumindest teilweise wieder gutgemacht werden soll,
gleichzeitig aber neue Ungerechtigkeiten entstehen könnten, dass zwar formal von einer abschließenden Regelung zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts gesprochen wird, dass aber tatsächlich schon bald
neue Forderungen gestellt und akzeptiert werden könnten
und dass sich auch der vereinbarte Rechtsfrieden möglicherweise als trügerische Hoffnung erweisen könnte.
Auch wenn ich selber mit der großen Mehrheit meiner
Fraktion bei Abwägung aller Argumente zu dem Ergebnis
komme, dass ich dem Gesetzentwurf trotz der auch hier
schon angesprochenen Probleme in einzelnen Detailfragen, die nicht verschwiegen, sondern offen angesprochen
werden sollten, aus Überzeugung zustimme, so darf ich
dennoch darum bitten, die Argumente derjenigen Kolleginnen und Kollegen, die eine andere Auffassung vertreten, nicht als schlichtweg unbegründet abzulehnen oder
ihrem Nein eine Motivlage zu unterstellen, die tatsächlich
nicht vorhanden ist.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dankt Ihnen, lieber
Graf Lambsdorff, für Ihre umsichtige und kluge Verhandlungsführung. Gerne wiederhole ich das, was ich bereits
bei Einbringung des Gesetzentwurfes gesagt habe: Sie
waren zur richtigen Zeit der richtige Mann am richtigen
Ort. Ohne Ihr unermüdliches Engagement in dem langwierigen und schwierigen Verhandlungsprozess wäre die
Einigung nicht zu erzielen gewesen. Die Opfer und unser
Land haben Ihnen viel zu verdanken.
({1})
Unser aller Dank gebührt aber auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Ihres Arbeitsstabes. Auch sie haben
viel mehr als nur ihre Pflicht getan und einen wichtigen
Beitrag dazu geleistet, dass wir diesen Gesetzentwurf
heute abschließend beraten und verabschieden können.
({2})
Die Haltung der Unionsfraktion zu einigen besonders
wichtigen Punkten des gemeinsamen Gesetzentwurfes
aller im Bundestag vertretenen Fraktionen haben wir in
einer gesonderten Erklärung zur Abstimmung zusammengefasst. Lassen Sie mich zu einigen Punkten Stellung
nehmen:
Die gelegentlich geäußerte Kritik, es werde aber auch
allerhöchste Zeit, dass sich die Bundesrepublik Deutschland 55 Jahre nach dem Ende der Nazi-Barbarei endlich
einmal des Themas Entschädigung für NS-Unrecht annehme, ist zumindest in dieser Form nicht nachvollziehbar. Diese Stiftungsinitiative zur Entschädigung von NSZwangsarbeitern knüpft an das Entschädigungs- und
Versöhnungswerk an, das schon Anfang der 50er-Jahre
unter Bundeskanzler Konrad Adenauer begründet wurde.
Leider gab es in den letzten Monaten nur wenige Veröffentlichungen, in denen darauf hingewiesen wurde, dass
die Bundesrepublik in den vergangenen Jahrzehnten bereits über 104 Milliarden DM an Wiedergutmachungsleistungen erbracht hat. Auf den Wert der D-Mark von heute
umgerechnet ergibt dies einen Betrag von 200 Milliarden DM. Auch zukünftig werden wir auf der Grundlage
des schon jetzt geltenden Rechts und ohne Berücksichtigung des hier in Rede stehenden Stiftungsvermögens
noch weitere 20 Milliarden DM als Entschädigungsleistungen zu zahlen haben.
Es muss erlaubt sein, auch im Deutschen Bundestag
einmal darauf hinzuweisen, dass sich unser Land in den
vergangenen Jahrzehnten, wenn auch manchmal quälend,
so doch redlich darum bemüht hat, die dunklen Kapitel
seiner Geschichte nicht zu verdrängen oder gar zu vergessen, sondern aufzuarbeiten und aus ihnen für die Zukunft notwendige Konsequenzen zu ziehen. Wir haben
den Worten stets auch Taten folgen lassen. In diesem Zusammenhang darf ich ausdrücklich darauf hinweisen,
dass für die Unionsfraktion das Kapitel Reparationen spätestens seit dem Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages vom 12. September 1990 endgültig abgeschlossen ist,
({3})
dass für uns auch heute im Zusammenhang mit diesem
Gesetzentwurf keinerlei Veranlassung besteht, mit anderen Staaten über Reparationsforderungen zu sprechen
oder gar zu verhandeln, und dass sich an dieser Haltung
auch zukünftig nichts ändern wird.
Bislang haben alle Bundesregierungen, auch diese, aus
guten Gründen folgenden Rechtsstandpunkt vertreten:
Soweit ausländische Zwangsarbeiter außerhalb des Bundesentschädigungsgesetzes, einschließlich Art. 6 des
BEG-Schlussgesetzes, Schadensersatzansprüche geltend
machen, stehe dem das Londoner Schuldenabkommen
aus dem Jahre 1953 entgegen. Bei Forderungen nach Entschädigung wegen Zwangsarbeit handele es sich um
Reparationszahlungen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg. Dies gelte auch für Forderungen ehemaliger Zwangsarbeiter gegenüber privaten Unternehmen.
Eine völlig andere Frage ist es jedoch, ob man das
Thema Entschädigung für Zwangsarbeit wegen der besonderen historischen Verantwortung insbesondere gegenüber den noch lebenden Opfern nicht eher unter humanitären als unter rechtlichen Aspekten betrachten
muss. Gerade aufgrund dieser Überlegung wurden in der
Vergangenheit zunächst mit elf westlichen Staaten Globalabkommen zur Wiedergutmachung abgeschlossen.
Darüber hinaus hat die Bundesrepublik nach dem Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages als humanitäre Geste für die Errichtung von Stiftungen in Warschau, Moskau, Kiew und Minsk sowie für die Einrichtung des
deutsch-tschechischen Zukunftsfonds Beträge in Höhe
von insgesamt 1,5 Milliarden DM zur Verfügung gestellt.
Diese Beträge sollten auch ehemaligen Zwangsarbeitern
zugute kommen.
Mit der neu zu gründenden Bundesstiftung soll nun
eine umfassende und abschließende Regelung erreicht
werden, die insbesondere auch jenen alten, kranken und
gebrechlichen Opfern zugute kommen soll, die bislang
aus unterschiedlichsten Gründen noch keine Chance hatten, aus den umfangreichen Wiedergutmachungsprogrammen eine finanzielle Leistung zu erhalten. Gerade
weil es ein wichtiges Ziel und Anliegen dieser Stiftung ist,
das Kapitel Wiedergutmachung nationalsozialistischen
Unrechts umfassend und abschließend zu regeln, muss
dafür gesorgt werden, dass die zur Verfügung stehenden
Mittel die Leistungsberechtigten und insbesondere die
noch lebenden Opfer auch tatsächlich so rasch wie möglich und in voller Höhe erreichen.
Diese Stiftungsinitiative soll keine institutionelle Förderung betreiben, keine Sachinvestitionen tätigen oder
gar den Aufbau neuer Bürokratien finanzieren. Sie soll gegenüber den Opfern, gegenüber jedem einzelnen ehemaligen Zwangsarbeiter, durch eine Entschädigung in Form
einer humanitären Geste ein Stück Wiedergutmachung
leisten. Die Verantwortung dafür, dass die Stiftungsmittel
nicht in irgendwelchen Administrationen versickern oder
gar zweckwidrig verwendet werden, tragen die Partnerorganisationen, das noch zu bildende Kuratorium und der
Stiftungsvorstand - nicht allein gegenüber dem deutschen
Steuerzahler, der mit circa 7,5 Milliarden DM belastet
wird, sondern auch und in erster Linie gegenüber den Opfern der Nazi-Diktatur.
Die Unionsfraktion - ich glaube, dies auch im Namen
der anderen Fraktionen des Hauses sagen zu können - ist
mit Ihnen, Graf Lambsdorff, über die drohende Unterfinanzierung der so genannten sechsten Partnerorganisation, der International Organization for Migration, besorgt. Sie soll jene Opfer nicht jüdischen Glaubens betreuen und entschädigen, die in den Ländern leben, die
über keine eigene Partnerorganisation verfügen. Für die
Frage, ob überhaupt ein Leistungsanspruch geltend gemacht werden kann und, wenn ja, in welcher Höhe, können nach übereinstimmender Auffassung aller Berichterstatter nur das Lebensschicksal des Opfers, also dessen
Leid und das an ihm begangene Unrecht, maßgeblich
sein, nicht jedoch die Frage, welcher Glaubensgemeinschaft das Opfer angehört und in welchem Land das Opfer heute lebt.
({4})
Es darf im Ergebnis nicht so sein, dass ein heute in
Frankreich oder in England lebender ehemaliger polnischer Zwangsarbeiter nicht jüdischen Glaubens nur deshalb eine geringe oder möglicherweise überhaupt keine
Entschädigung erhält, weil er nach dem Kriege - aus welchen Gründen auch immer - aus Polen nach Frankreich
oder England ausgewandert ist. Diese Stiftungsinitiative
soll zumindest ein Stück Wiedergutmachung leisten und
damit der Gerechtigkeit dienen. Sie darf keine neuen Ungerechtigkeiten schaffen.
Angesichts des zur Verfügung stehenden Datenmaterials hätte es nahe gelegen, an eine andere Verteilung und
damit gleichzeitig an eine Revision des Allokationsbeschlusses zu denken. Damit wäre jedoch der gesamte ich betone: der gesamte - Verhandlungsprozess mit einem
völlig ungewissen Ausgang neu eröffnet worden. Unser
gemeinsames Ziel war es jedoch, den Gesetzgebungsvorgang noch vor der parlamentarischen Sommerpause abzuschließen, das heißt vor der Sitzung des Bundesrates am
14. Juli, damit das Gesetz möglichst rasch in Kraft tritt.
Angesichts des Umstandes, dass pro Jahr etwa 10 Prozent
der ehemaligen Zwangsarbeiter sterben, muss es unser gemeinsames Anliegen sein, dass schon in wenigen Monaten mit den ersten Akontozahlungen an die Opfer begonnen werden kann.
({5})
Wir alle wollen die jetzt noch lebenden Opfer erreichen,
nicht deren Hinterbliebene.
Zu den Problemen, über die wir im Zuge der Verhandlungen und Beratungen über diesen Gesetzentwurf in den
vergangenen Wochen sehr intensiv gesprochen haben,
gehörte auch der Wunsch der Opfer in den baltischen
Staaten, mit der Geltendmachung ihrer Ansprüche nicht an
die Stiftungen in Moskau und Minsk verwiesen zu werden.
Das Anliegen ist verständlich; in dem gewünschten Umfange konnten wir ihm leider nicht entsprechen, denn im
Ergebnis hätte auch das bedeutet, dass zumindest der Allokationsbeschluss infrage gestellt worden wäre - mit möglicherweise unabsehbaren Folgen. Jedenfalls hätten wir unser Ziel, das Gesetzgebungsverfahren noch vor der parlamentarischen Sommerpause abzuschließen, um möglichst
bald mit Zahlungen zu beginnen, nicht erreichen können.
Wir sind froh, dass wir dieses Ziel erreicht haben. Das
verdanken wir auch meinem Freund Bernd Reuter. Ich darf
mich im Namen der Fraktionen herzlich für deine gute
Verhandlungsführung bedanken. Du warst ein guter Moderator und hast uns sehr geholfen.
({6})
Und ob zu einem späteren Zeitpunkt mit den übrigen Verhandlungspartnern ein Einvernehmen auch in dieser Frage
hätte erzielt werden können, ist höchst ungewiss.
Wichtig wird es jetzt sein, dass im Gesetzesvollzug, in
der praktischen Abwicklung durch die zuständigen Partnerorganisationen in Moskau und Minsk die berechtigten
Interessen der baltischen Staaten unter Berücksichtigung
der Auffassungen des Deutschen Bundestages, die sich in
der Begründung des Gesetzestextes wiederfinden, ausreichend berücksichtigt werden. Dies gilt insbesondere für
etwaige Widerspruchsverfahren.
Für die Unionsfraktion ist dieser Gesetzentwurf auch
deshalb von Bedeutung, weil wir mit ihm den Blick nicht
nur zurück, sondern auch nach vorne richten. Die Idee der
Gründungsunternehmen der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft war es, das Stiftungsvermögen jeweils
zur Hälfte für individuelle Entschädigungsleistungen einerseits und für zukunftsbezogene Projekte andererseits
zur Verfügung zu stellen.
Ich persönlich und mit mir viele Kolleginnen und Kollegen bedauern es sehr, dass der Gedanke eines großzügig
ausgestatteten Zukunftsfonds, der ja aus seinen Erträgnissen auf Dauer tätig sein soll, in den vergangenen Monaten immer mehr an Strahlkraft verloren hat. Im Zuge
der Verhandlungen sank sein Anteil am Stiftungsvermögen von zunächst 10 Prozent auf nunmehr 7 Prozent. Und
wenn von diesem Betrag auch noch 100 Millionen DM für
Forderungen aus Versicherungsansprüchen bereitgestellt
werden müssten, hätten wir eine Untergrenze erreicht, die
nicht weiter unterschritten werden darf.
Wir sehen in dem Zukunftsfonds die besondere
Chance, nicht nur als Mahnung für kommende Generationen die Erinnerung an das NS-Unrecht wach zu halten,
sondern auch der Ausbreitung von extremistischem und
rassistischem Gedankengut sowie totalitären Systemen
aller Art entgegenzuwirken. Es ist unbedingt notwendig,
dass der Zukunftsfonds Schwerpunkte auf solche Projekte
legt, die dem Jugendaustausch, der Versöhnung, der Völkerverständigung, der Achtung von Menschenrechten,
aber auch der Pflege von Beziehungen zu den überlebenden Opfern dienen.
Auch vor dem Hintergrund dieses wichtigen Projektes,
dessen Bedeutung nicht unterschätzt werden sollte, ist
die - nach wie vor zu beklagende - mangelnde Bereitschaft vieler Wirtschaftsunternehmen, sich an der Aufbringung des Fondsvermögens zu beteiligen - milde
formuliert -, mehr als nur enttäuschend. Etwa
200 000 Unternehmen aller Branchen wurden von den
Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft aufgefordert,
der Initiative beizutreten, und wenn es stimmt, dass bislang nur gut 1,5 Prozent der Unternehmen der Aufforderung gefolgt sind, dann ist das für die deutsche Wirtschaft
kein Ruhmesblatt.
({7})
Dies muss insbesondere für diejenigen Unternehmen enttäuschend sein, die durch die Gründung der Stiftungsinitiative Verantwortung übernommen haben, und für solche Firmen, die erst vor wenigen Jahren gegründet wurden, die
also nie in das nationalsozialistische Unrechtssystem verstrickt waren und die sich trotzdem mit zum Teil erheblichen Beträgen engagieren.
Von denjenigen Unternehmen, die sich bislang vornehm zurückhalten, wurde zunächst eingewandt, man
müsse das Ergebnis der internationalen Verhandlungen
abwarten. Die Verhandlungen sind seit vier Monaten abgeschlossen. Dann wurde vorgetragen, dass auch Rechtssicherheit und dauerhafter Rechtsfrieden, vor allen Dingen in den USA, gewährleistet sein müssten. Auch diese
schwierige Problematik wurde in der Zwischenzeit zur
Zufriedenheit aller Beteiligten, nicht nur der Bundesregierung, sondern auch der deutschen Wirtschaft, gelöst.
Wir alle wissen, dass es hundertprozentigen Rechtsschutz auch und gerade in den USA nicht geben kann.
Aber wenn nicht nur die Bundesregierung, sondern auch
führende Repräsentanten der deutschen Wirtschaft erklären, dass das erzielte Verhandlungsergebnis für sie auch in
puncto Rechtssicherheit befriedigend sei, dann kann ein
Beitritt zur Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft
nicht mehr unter Hinweis auf angeblich fehlende Rechtsgarantien der USA verweigert werden.
Wenn heute dieser Gesetzentwurf - wie ich hoffe, mit
einer breiten Mehrheit dieses Parlamentes - verabschiedet wird, dann gibt es insbesondere für jene Firmen, die
im Dritten Reich Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter beschäftigt haben, keinen einzigen vernünftigen
Grund mehr dafür, sich nicht mit einem angemessenen
Betrag am Stiftungsvermögen zu beteiligen.
({8})
Diese Stiftungsinitiative kann und darf nicht ein Projekt
des Staates und relativ weniger Unternehmen bleiben.
Hier geht es vielmehr, wie gerade die kommunalen Aktivitäten zeigen, um eine gesamtstaatliche Initiative und um
eine gesamtstaatliche Verantwortung, der sich mehr als
nur 1,5 Prozent aller Unternehmen stellen müssen.
Wenn man in diesem Zusammenhang berücksichtigt,
dass die Wirtschaftsunternehmen ihre Beträge steuerlich
absetzen können und dass infolgedessen der deutsche
Steuerzahler durch die Addition von direkten Zahlungen
und Steuermindereinnahmen wirtschaftlich betrachtet
drei Viertel aller Lasten trägt, dann sollte es eigentlich
eine Selbstverständlichkeit sein, dass die heute noch fehlenden 1,8 Milliarden DM aus den Kreisen der deutschen
Wirtschaft bald aufgebracht werden.
({9})
Einig sind wir uns auch darin, dass die Auszahlung
der Stiftungsmittel an die Partnerorganisationen und an
die Opfer grundsätzlich erst dann erfolgen kann, wenn die
vor den US-Gerichten anhängigen Klagen konsolidiert
bzw. abgewiesen sind. Die Bereitschaft, diese Klagen umgangssprachlich formuliert - zu erledigen, wird nach
aller Lebenserfahrung nach Auszahlung des Geldes stark
nachlassen. Deshalb muss es bei folgender Reihenfolge
bleiben: erst Konsolidierung und Abweisung der Klagen,
dann die Auszahlung der Stiftungsmittel an die Partnerorganisationen und an die Opfer.
Abschließend darf ich noch einmal auf die Erklärung
unserer Fraktion hinweisen, insbesondere auf Ziffer 11:
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion fordert die Bundesregierung auf, mit denjenigen Staaten, die nach
dem Ende des Zweiten Weltkrieges Deutsche verschleppt und unter unmenschlichen Bedingungen zur
Arbeit gezwungen haben, oder mit deren Nachfolgestaaten Kontakt aufzunehmen mit dem Ziel, dass
auch die noch lebenden deutschen Opfer von diesen
Staaten eine - der deutschen Regelung entsprechende - Entschädigung in Form einer humanitären
Geste erhalten.
({10})
Viele Mitbürgerinnen und Mitbürger haben die Verhandlungen in den vergangenen Monaten mit großem Interesse verfolgt, insbesondere jene, die selber verschleppt,
gequält und unter grausamen Bedingungen in Russland
oder in anderen Staaten Zwangsarbeit verrichten mussten.
Vermutlich ist es politisch nicht korrekt, wenn auch an deren Schicksal erinnert wird. Es geht uns nicht um Aufrechnung, es geht uns auch nicht darum, den Eindruck zu
vermitteln, als habe es hüben und drüben in gleicher
Weise Unrecht gegeben und daher sei man quitt, als müsse
ein Schlussstrich gezogen werden. Es wäre geradezu
töricht, eine solche Auffassung zu vertreten. Aber es muss
erlaubt sein, in dieser Debatte darauf hinzuweisen, dass
auch viele Deutsche Opfer von Ausbeutung unter unmenschlichen Bedingungen waren.
Die heute noch lebenden deutschen Opfer werden nicht
eine finanzielle Entschädigung erwarten oder diese gar
einklagen. Aber zumindest auf eine humanitäre Geste haben sie am Ende dieses Jahrhunderts bzw. zu Beginn eines neuen Jahrhunderts ebenso ein Recht wie alle anderen
Opfer von Unmenschlichkeit und Tyrannei auch.
Danke schön.
({11})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Bernd Reuter, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Gesetz zur Errichtung der
Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, das
wir heute in zweiter und dritter Lesung behandeln und
verabschieden wollen, ist ein Meilenstein in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands. Dieses Gesetz symbolisiert die historische und moralische Verantwortung des
deutschen Volkes, auch hier für nationalsozialistisches
Unrecht, dem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte,
Verantwortung zu tragen. Menschen aus vielen Ländern
Europas wurden von Deutschen verschleppt, misshandelt
und durch Zwangsarbeit getötet. Die Sklaven- und
Zwangsarbeit hatte oft nur ein Ziel, nämlich Leben zu vernichten. Ich habe wie viele andere Bundestagskolleginnen
und -kollegen erschütternde Berichte über die Leidenswege von überlebenden Opfern gehört.
Mit der Errichtung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ setzen wir ein Zeichen der Entschuldigung und Versöhnung an alle Opfer, an „die Untergegangenen und die Geretteten“, wie sie Primo Levi
nannte. Es ist nicht übertrieben, diese Stiftung 55 Jahre
nach Ende des Krieges als einen historisch bedeutsamen
Schritt zu bezeichnen.
({0})
Mit aller Deutlichkeit möchte ich betonen, dass es sich
hier nur um eine humanitäre Geste handeln kann. Auch
mit noch so großem finanziellen Aufwand kann das unendliche Leid der Zwangsarbeit nicht wirklich wieder
gutgemacht werden.
({1})
Aber wir können dieses Leid anerkennen und unsere historische Verantwortung annehmen. Dies ist die Grundlage unserer Gesetzesinitiative. Dass alle Fraktionen des
Deutschen Bundestages gemeinsam diesen Gesetzentwurf tragen, zeigt, dass sich der Deutsche Bundestag seiner Verantwortung bewusst ist.
Mit dieser Stiftung dürfen wir keinen Schlussstrich
unter unsere Geschichte ziehen. Die Ungeheuerlichkeiten, die Menschen anderen Menschen angetan haben,
dürfen wir nicht vergessen. Denn nur so stellen wir sicher,
dass sich in der Zukunft ein System wie das NS-Regime
nicht wiederholt.
({2})
Die künftigen Generationen sollen in einer gesicherten
Demokratie, frei von Repressionen und in freundschaftlichem Einvernehmen mit anderen Staaten leben können.
Dabei möchte ich nicht versäumen, auch an die jüngeren Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserem Lande zu
appellieren, die Erinnerung an die deutsche Vergangenheit wach zu halten und dafür Sorge zu tragen, dass sich
die Geschichte nicht wiederholt.
({3})
Mit der heutigen Verabschiedung des Gesetzentwurfes
ist sichergestellt, dass die Stiftung mit ihrer Arbeit in
Kürze beginnen kann. Auch hierbei werden wir als Parlamentarier im Kuratorium intensiv mitarbeiten. Ich unterstreiche, was mein Kollege Wolfgang Bosbach gesagt hat:
Noch in diesem Jahr sollte mit der Auszahlung an die
meist hoch betagten Opfer begonnen werden.
Die Voraussetzungen dafür sind geschaffen. Der Bundesfinanzminister wird sicherstellen, dass der Bund die
Stiftung mit der vereinbarten Summe von 5 Milliarden DM ausstattet, und zwar noch in diesem Jahr. In einem Brief an Bundesfinanzminister Hans Eichel hat die
Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft nochmals
versichert, dass sie in ihren Bemühungen, die vollen
5 Milliarden DM zu sammeln, nicht nachlassen wird und
dass das Geld rechtzeitig zur Auszahlung zur Verfügung
steht. Herr Gibowski, der Sprecher dieser Initiative, hat
heute Morgen im Deutschlandfunk erklärt, dass die heutige Verabschiedung des Gesetzentwurfes durch den
Deutschen Bundestag helfen wird, den Druck auf die Industrie zu erhöhen, damit die Sammelaktion erfolgreich
abgeschlossen werden kann.
({4})
Durch dieses Gesetz, das deutsch-amerikanische Regierungsabkommen und die gemeinsame Erklärung aller
an den Verhandlungen beteiligten Parteien haben wir ein
ausreichendes Maß an Rechtssicherheit für die deutschen Unternehmen erreicht. Deshalb gibt es für deutsche
Firmen keinen vernünftigen Grund mehr, sich der Stiftungsinitiative nicht anzuschließen.
({5})
Ich fordere alle Unternehmen nachdrücklich auf, sich ihrer historischen Verantwortung bewusst zu werden. Die
deutsche Wirtschaft muss ihren finanziellen Beitrag von
5 Milliarden DM umgehend leisten.
({6})
Es ist überdies notwendig, dass alle Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben, ihre Firmenarchive für den
Nachweis der Leistungsberechtigung öffnen.
({7})
Das Gleiche gilt auch für die Bundesländer und für die
Kommunen. Der Internationale Suchdienst des Roten
Kreuzes in Arolsen ist durch geeignete Maßnahmen und
Aufstockung des Personals in die Lage zu versetzen, den
Opfern schnell und unbürokratisch den Nachweis der
Leistungsberechtigung zu liefern. Das gilt vor allem für
jene sechste Partnerorganisation, die Internationale Organisation für Migration - sie wird manchmal auch siebte
Partnerorganisation genannt -, die für alle Opfer im „Rest
der Welt“ zuständig ist.
Eine Gleichbehandlung aller Opfer nach dem vorliegenden Gesetz, unabhängig von ihrem jetzigen Wohnsitz
und ihrer Nationalität, ist oberstes Gebot. Das gilt nicht
nur für die Bearbeitung ihrer Anträge, sondern vor allem
für den Erhalt gleicher Leistungen. Ein ehemaliger
Zwangsarbeiter, der heute in Slowenien wohnt, darf bei
gleichem Schicksal der Verfolgung nicht weniger erhalten
als ein Opfer in einem anderen Land.
({8})
Aufgrund der geschätzten Zahl dieser Opfer ist zu befürchten - das ist auch bei Graf Lambsdorff und bei Herrn
Bosbach angeklungen -, dass die vorgesehenen Mittel für
die sechste Partnerorganisation in Höhe von 540 Millionen DM vermutlich nicht ausreichen werden. Deshalb
muss sichergestellt werden, dass alle Mittel, die in anderen Bereichen nicht in Anspruch genommen werden, an
die sechste Partnerorganisation fließen, damit keine
neuen Ungerechtigkeiten entstehen.
({9})
Die Stiftung ist auch berechtigt, Zuwendungen von Dritten anzunehmen und sich um weitere Zuwendungen zu
bemühen. Wer schon jetzt einen Beitrag leisten will, kann
dies tun. Das Bundesfinanzministerium hat dafür ein
Konto eingerichtet, auf dem bereits Beiträge eingegangen
sind. Bei der Aufteilung des Stiftungsvermögens ist sichergestellt, dass 8,1 Milliarden DM den Opfern direkt
zugute kommen. 1 Milliarde Mark werden für Vermögensschäden bereitgestellt.
Besondere Aufmerksamkeit gilt dem Fonds „Erinnerung und Zukunft“. Er ist mit 700 Millionen DM ausgestattet; wir hätten allerdings gerne 1 Milliarde DM
vorgesehen. Es geht darum, eine dauerhafte Aufgabe zu
bewerkstelligen, Projekte der Völkerverständigung und
Ver-söhnung zu finanzieren, Jugendaustausch und Zusammenarbeit auf humanitärem Gebiet sowie die Aufarbeitung der Geschichte zu organisieren. Wir dürfen die
Zahlungen an die Opfer nicht gegen diesen Zukunftsfonds
ausspielen. Beide Dinge gehören gemeinsam in unsere Initiative.
({10})
Es war ein ungewöhnliches Gesetzgebungsverfahren.
Ich möchte an dieser Stelle den Beteiligten aus allen Fraktionen des Deutschen Bundestages und den beteiligten Ministerien für die Zusammenarbeit herzlich danken. Mein
besonderer Dank und meine Anerkennung gilt dem Beauftragten des Bundeskanzlers, Graf Lambsdorff. Es ist nicht
zuletzt sein bleibendes Verdienst, dass wir heute dieses Gesetz verabschieden können.
({11})
Das Ergebnis vieler Beratungen liegt uns heute vor. Es
geht nicht um theoretische und juristische Formulierungen, gespickt mit Zahlen; es geht um menschliche Schicksale. Wer noch immer Zweifel hat, diesem Gesetz zuzustimmen, dem empfehle ich eindringlich, den Artikel über
einen ehemaligen polnischen Zwangsarbeiter zu lesen, der
in der Zeitschrift „Publik-Forum“ abgedruckt war und den
ich allen Abgeordneten in die Fächer habe legen lassen.
Dieser polnische Zwangsarbeiter ist der einzige Überlebende einer 23-köpfigen jüdischen Familie. Er hat in zweidreiviertel Jahren sechs Konzentrationslager durchlitten
und hat überlebt. Dieser Mann wartet nun auf unser Gesetz: Er möchte mit seiner Frau noch einmal in seinem Leben nach Israel fahren und möchte das Geld dafür nutzen.
Nach der Lektüre dieses Artikels dürfte eigentlich kein
Mitglied dieses Hohen Hauses diesem Gesetz seine Zustimmung verweigern.
Ich danke Ihnen.
({12})
Ich erteile dem Kollegen Max Stadler, F.D.P.-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Wenn es nach einem so langen Verhandlungsprozess und nach so schwierigen Beratungen zu einem konkreten Ergebnis kommt, dann stellt
sich bei denen, die daran beteiligt waren, schon eine gewisse Zufriedenheit ein. Für Selbstzufriedenheit ist dennoch kein Anlass: Uns ist bewusst, wie begrenzt unsere
Möglichkeiten sind, mit einer humanitären Geste den Opfern der Zwangsarbeit im Nazistaat unsere Reverenz zu
erweisen, und uns ist bewusst, dass diese humanitäre Geste für viele Opfer zu spät kommt. Den Opfern gilt daher
der erste Gedanke in dieser Debatte.
Ich bin froh, dass im Zuge dieses Verhandlungsprozesses die rein juristische Betrachtungsweise verlassen worden ist, die uns in der Vergangenheit daran gehindert hat,
das Problem zu lösen. Eine weitere Debatte um die Fragen, ob Ansprüche juristisch oder nur moralisch gerechtfertigt seien, ob Verjährung vorliege oder nicht und wer
denn der eigentliche Anspruchspartner sei, die öffentliche
Hand oder die Privatfirmen, hätte nicht weitergeführt. Mit
dem jetzt vorliegenden Stiftungsgesetz stellen sich der
Deutsche Bundestag und die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft der historischen Verantwortung.
({0})
Der Bundestag hat das getan, was seine Pflicht war und
was er nach diesen vielen Jahren und Jahrzehnten wenigstens tun konnte. Er hält das den Opfern gegebene
Versprechen, das Ergebnis der verdienstvollen Verhandlungen von Graf Lambsdorff noch vor der Sommerpause
in ein konkretes Gesetz umzusetzen. Das waren wir den
Opfern schuldig; das sind wir auch der Stiftungsinitiative
der deutschen Industrie und ihren berechtigten Interessen
schuldig gewesen.
({1})
Jetzt sind andere am Zuge. Die Stiftungsinitiative wird
von uns nachdrücklich in ihrem Bemühen unterstützt, endlich den zugesagten Gesamtbetrag von 5 Milliarden DM in
die Stiftung einzubringen. Alle anderen Redner haben es
auch schon gesagt - ich wiederhole es für die F.D.P.-Fraktion -: Jetzt gibt es keine Ausreden mehr.
({2})
Am Zuge sind auch die Anwälte, die insbesondere in den
Sammelklagen in den USA die Kläger vertreten und die
auf ihre Weise ja auch einen Beitrag geleistet haben, um die
Lösung der Problematik voranzutreiben. Aber diese Sammelklagen müssen jetzt erledigt werden, damit - so ist es
vereinbart - mit der Auszahlung an die Opfer begonnen
werden kann.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich kurz auf das
Gesetzgebungsverfahren zurückblicken; denn es war
schon so ungewöhnlich, dass es noch einer Erwähnung
wert ist. In letzter Zeit ist eine berechtigte Debatte über
die Frage entstanden, ob denn Konsensrunden das angemessene Mittel zur Lösung von Problemen seien. In der
Tat entspricht es dem traditionellen, vom Angelsächsischen her geprägten Demokratiemodell, dass sich die klaren Vorstellungen von Regierungsseite einerseits und Opposition andererseits deutlich gegenüberstehen und auch
zueinander in Kontrast gebracht werden. In diesem Gesetzgebungsverfahren haben wir uns eher am Schweizer
Konkordanzmodell orientiert. Das heißt, in völlig ungewöhnlicher Weise haben sich alle Fraktionen des Deutschen Bundestages in den Beratungen bemüht, die vorliegenden Entwürfe, die von der Bundesregierung und den
Fraktionen eingebracht wurden, gemeinsam zu verbessern.
Ein solches Verfahren, das man im Bundestag nur
höchst selten erlebt, fand seine Rechtfertigung darin, dass
hier eben nicht die übliche Auseinandersetzung zwischen
Regierung und Opposition stattgefunden hat, sondern
dass der Deutsche Bundestag als Gesamtheit Partner in einem internationalen Verhandlungsprozess gewesen ist
und die Aufgabe hatte, die Ergebnisse dieses Verhandlungsprozesses gemeinsam umzusetzen.
Die Verhandlungen der Berichterstatter mit den Ministerien und dem Arbeitsstab von Graf Lambsdorff waren
außerordentlich konstruktiv. Ich will damit das Konsensmodell nicht für weitere Fälle empfehlen, aber es ist doch
festzuhalten, dass alle Seiten dieses Hauses in dem Gesetzgebungsverfahren ihre Vorstellungen nicht nur vortragen konnten, sondern dass für das bessere Argument die
echte Chance bestanden hat, sich durchzusetzen.
Meine Damen und Herren, wir haben intern vereinbart,
entgegen dem, was noch in der ersten Lesung üblich gewesen ist, mit Dankesarien sparsam umzugehen, weil es
vielleicht dem Ernst der Thematik nicht angemessen
wäre, wenn wir uns selber zu sehr auf die Schulter klopften. Ich fand die Zusammenarbeit mit den Berichterstattern der anderen Fraktionen jedoch so bemerkenswert,
dass ich sie hier doch hervorheben und sagen möchte:
Alle, die beteiligt waren - Ulla Jelpke, Dieter
Wiefelspütz, Bernd Reuter, Volker Beck, Wolfgang
Bosbach und Martin Hohmann -, haben ihren Anteil daran. Diesen Dank möchte ich gern hier aussprechen.
({3})
Die so ungewöhnlich strukturierten Beratungen der
Berichterstatter und des Innenausschusses haben nach
meinem Urteil auch deutliche Verbesserungen gegenüber
den Ursprungsentwürfen gebracht. Ich erinnere an einige
Monita, die wir von der F.D.P. in der ersten Lesung vorgetragen haben, aber vor allem an Anliegen, die sich aus
der äußerst interessanten Anhörung des Innenausschusses ergeben haben. Ich nenne fünf Punkte:
Es ist in den Verhandlungen seit dem Allokationsbeschluss vom 23. März offen thematisiert worden, dass die
finanzielle Ausstattung für die Opfer derjenigen Staaten,
die nicht am Verhandlungsprozess beteiligt waren, möglicherweise nicht ausreichen wird. Genaues weiß man erst,
wenn die Anträge gestellt und bewertet worden sind. In
unseren Beratungen ist dieses Thema jedenfalls ganz offen angesprochen worden. Lösungsmöglichkeiten sind
aufgezeigt worden, und sofern diese nicht ausreichen sollten, bringt der Deutsche Bundestag heute mit einem Entschließungsantrag deutlich zum Ausdruck, dass das Problem, sollte es denn eines sein, gelöst werden wird. Das
sind wir dem Gedanken der Gleichbehandlung aller Opfer schuldig, und deswegen ist der Entschließungsantrag
neben dem Gesetz ebenfalls von großer Bedeutung.
({4})
Wir konnten erreichen, dass es eine Gleichbehandlung
der Opfer hinsichtlich der von ihnen aufgewendeten Verfahrenskosten geben wird. Auch das ist für die einzelnen
Betroffenen von größter Bedeutung.
Die Zusammensetzung des Kuratoriums ist größer
und nach unserer Meinung auch sinnvoller ausgestaltet
geworden. Endlich ist aus dem Gesetzentwurf der Absatz
entfernt worden, der einige Vertreter bestimmter Staaten
von der weiteren Mitarbeit im Kuratorium nach der ersten
Amtszeit ausgegrenzt hätte. Dies war völlig unverständlich, das konnten wir so nicht belassen.
Schließlich haben wir Mechanismen gefunden, die es
ermöglichen, dass bei der Auszahlung der ersten Rate flexibler vorgegangen wird, als dies der Ursprungsentwurf
vorgesehen hatte; denn die Zielsetzung besteht nun einmal darin, so rasch wie möglich so viel wie möglich von
den zur Verfügung stehenden Mitteln an die Opfer auszuzahlen. Die Einbeziehung nationaler Opferverbände ist
ein Ergebnis der schon von mir erwähnten Anhörung des
Innenausschusses.
Meine Damen und Herren, es stellt sich die Frage: Erleben wir heute den Abschluss eines historischen Vorgangs? Man ist geneigt zu sagen: Wir sind nahe daran.
Hoffen wir, dass die letzten Hürden, die außerhalb dieses
Parlaments liegen, ebenfalls noch überwunden werden.
Erst dann, wenn das Ziel erreicht wird, noch in diesem
Jahr die ersten Auszahlungen an die Opfer tatsächlich
durchzuführen, können wir wirklich zufrieden sein.
Vielen Dank.
({5})
Ich erteile dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute bringen
wir ein Gesetzeswerk zum Abschluss, für das unsere Fraktion seit 15 Jahren gekämpft hat: eine Bundesstiftung für
die ehemaligen Zwangsarbeiter unter Beteiligung der
deutschen Wirtschaft. Angesichts des Unrechts, das diesen Menschen angetan wurde, war es für uns immer unverständlich und inakzeptabel, dass sie vom deutschen
Entschädigungsrecht ausgeschlossen waren.
Der Holocaust an Juden, Sinti und Roma ist meiner
Generation aus dem Schulunterricht bekannt gewesen. Er
bedeutete millionenfache Deportation, Vernichtungslager, für die Sklavenarbeiter auch Vernichtung durch Arbeit. Über das Schicksal der anderen deportierten zivilen
Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen hingegen habe ich
in der Schule nichts erfahren: nichts davon, dass ungehorsamen Zwangsarbeitern so genannte Arbeitserziehungslager angedroht wurden, nichts davon, dass die Bedingungen dort vielfach den Bedingungen von KZs vergleichbar waren, nichts davon, dass in diesen Lagern
Menschen zu Wracks gemacht wurden, nicht wenige
schon nach wenigen Wochen starben.
Juden hatten einen Davidstern zu tragen. Wenig bekannt ist, dass Polen ein „P“ und Russen und Ukrainer ein
„Ost“ auf ihrer Kleidung tragen mussten. Habe ich in der
Schule erfahren, dass diese Menschen vielfach um ihren
Lohn gebracht und am Arbeitsplatz geschlagen wurden,
dass sie unterernährt und oftmals ohne medizinische Versorgung leben mussten, dass für sie als so genannte
Fremdvölkische der sexuelle Kontakt zu Deutschen mit
der Todesstrafe bedroht war? Nein, diese Wahrheit war
weithin verschüttet geblieben.
Das ganze Ausmaß des nationalsozialistischen
Zwangsarbeitersystems ist uns erst durch die bahnbrechenden Arbeiten von Ulrich Herbert bewusst geworden.
Erst in den letzen 15 Jahren sind erschütternde Dokumentationen über die Lebens- und Leidensbedingungen
dieser NS-Opfer erstellt worden. Sie machen auch deutlich, wie das Räderwerk des NS-Staates mit der Ausbeutung durch die Privatwirtschaft verzahnt war.
Diese Dokumentationen und die vielen Briefe, die wir
als Abgeordnete in den letzen Wochen von den überlebenden Opfern bekommen haben, zeigen mir vor allem:
Wir als Deutscher Bundestag müssen und wollen uns
stellvertretend für das deutsche Volk bei denen entschuldigen, denen man so etwas angetan hat.
({0})
Auch wenn unser Staat und die Gerichte es lange nicht
wahrhaben wollten: Der Einsatz von Zwangsarbeitern
war nationalsozialistisches Unrecht und dieses Gesetz ist
die späte Anerkenntnis dieses Tatbestandes.
Ich will Ihnen aus einer bemerkenswerten Lokalstudie
aus Goslar einige Briefe zitieren. Diese hat Friedhart
Knolle unter dem Titel „Gebt uns unsere Würde wieder“
zusammengestellt. Eine Frau aus der Ukraine, die als junges Mädchen im Frühjahr 1942 nach Grauhof im Harz
verschleppt wurde, schreibt:
Nach langer Fahrt musste ich vom 30. April 1942 bis
zum 6./7. April 1945 in der Mineralwasserfabrik
Harzer Grauhof-Brunnen in Goslar gemeinsam mit
11 weiteren jungen Frauen Zwangsarbeit leisten. Ich
war im dortigen Zwangsarbeiterlager unter gefängnisartigen und schlimmen Bedingungen eingesperrt.
So gab es zum Beispiel kein Haarwaschmittel; wir
mussten dafür die Soda benutzen, ... mit allen gesundheitlichen Folgen wie zum Beispiel Haarausfall
bei uns. Wir durften das Lager in der ersten Zeit bis
auf die Produktionsräume und unsere Unterkunft
nicht verlassen; erst viel später erhielten wir zwei bis
drei Stunden Freigang täglich. Wir litten ständig
Hunger, es gab nur schlechtes Essen, das zudem häufig durch Kakerlaken und Glasscherben gefährlich
verunreinigt war. ... Es herrschte uneingeschränkter
Arbeitszwang; wir wurden geschlagen und Tritte
gehörten zu den Alltäglichkeiten. Unser Meister
hat uns so häufig und intensiv schikaniert, dass ich
seinerzeit mehrfach an Selbstmord gedacht habe.
An die Autoren der Ausstellung schrieb Anastasia B. aus
Bogdanowka folgenden Brief, den ich auszugsweise zitiere:
Ich wurde am 25. Mai 1943 nach Deutschland verschleppt. Ich war damals 18 Jahre alt. Wir wurden
nach Goslar gebracht und dann in der Zinkhütte
Oker/Harz eingesetzt. Wir haben im Lager gewohnt
und unsere Bewacher haben uns nicht wie Menschen
gehalten. Unser Arbeitstag war 11 Stunden lang, die
Deutschen arbeiteten 6 Stunden. Am Tag haben wir
130 g Brot bekommen, nicht reines Brot, sondern mit
Sägemehl. Unsere Arbeit war sehr schwer. ... Mein
Bein wurde verletzt und zwei Wochen habe ich kein
Brot bekommen. Dann habe ich gebetet, dass ich
vielleicht irgendeine Arbeit bekomme im Sitzen,
dass ich wenigstens meine Brotration bekomme. ...
Die deutschen Mütter kamen zu unserem Lager mit
Kindern; sie waren sehr gut angezogen. Sie haben
uns angespuckt. Und wir jungen schönen Mädchen
mussten schweigend stehen und unter Tränen diese
Spucke im Gesicht wegwischen. ... Die Erinnerung
ist schmerzhaft und bitter. Ich habe keine Gesundheit, das, was wir erlebt haben, wie wir als Menschen
gedemütigt wurden, so etwas wünsche ich keinem
Menschen, nicht einmal meinen Feinden. ... Vielleicht werde ich auch nie Hilfe bekommen, aber ich
hoffe und warte, vielleicht kommt zu meiner kleinen
Rente etwas dazu.
Ich hoffe, die gute Nachricht für diese Frau - hoffentlich
lebt sie noch - ist heute, dass bald eine Zahlung, eine humanitäre Hilfe für sie erfolgt - als Versöhnungsgeste des
deutschen Volkes.
({1})
Dass diese zitierten Beispiele keine Einzelbeispiele
waren, sondern der Regelfall, sieht man an der Vielzahl
von rechtlichen Sonderregelungen des NS-Regimes gerade für NS-Verfolgte und für die Opfer slawischer Abstammung.
Auch die geschilderten Lebensumstände der in Goslar
eingesetzten Zwangsarbeiter, etwa bei den Firmen Chemische Fabrik Borchers, Harzer Grauhof-Brunnen, Luthe
Bleiwerk oder dem Reichsbahnbetriebsamt Goslar, waren
sicherlich keine Sonderfälle. Wir könnten auch Hamburg,
Hannover, Stuttgart, München, Berlin oder Köln nehmen.
Aber ich frage beispielsweise: Gehört Harzer GrauhofBrunnen zu denen, die sich nach 1945 bei den Opfern entschuldigt und ihnen einen finanziellen Ausgleich gezahlt
haben? Nein. Gehören zum Beispiel Harzer GrauhofBrunnen oder die Chemische Fabrik Borchers aus Goslar
oder ihre Rechtsnachfolger zu den Mitgliedern der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft? Wie viel haben sie gezahlt? Das wüssten wir gerne. In der veröffentlichten Mitgliederliste der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft sind diese Betriebe nicht verzeichnet.
Gerade die Unternehmen, die oder deren Rechtsvorgänger sich Sklaven und Zwangsarbeiter beschafft und
eingesetzt haben, sind aber in einer besonderen Pflicht.
Ich frage zum Beispiel die Firma Haribo in Bonn, warum
sie nicht an der Stiftungsinitiative beteiligt ist. Ich frage
die Firma Richard Hengstenberg, ich frage die EdekaZentrale AG in Hamburg,
({2})
ich frage die Sektkellerei Henkel und Söhne, ich frage die
Stollwerck AG in meinem Wahlkreis in Köln, ich frage die
Bierbrauerei Warsteiner und ich frage die Südfleisch Holding AG in München, warum sie sich bis heute ihrer
historischen Verpflichtung entziehen.
({3})
Selbst wenn man nicht wie wir von Bündnis 90/Die
Grünen eine besondere rechtliche Verantwortung der Firmen für den Zwangsarbeitereinsatz bejaht und man sich
stattdessen das Paradigma der deutschen Wirtschaft zu Eigen macht, es gehe heute allein um Verantwortung der gesamten deutschen Wirtschaft, muss man sich fragen: Wo
bleibt die angemessene finanzielle Bereitschaft des Transportgewerbes, wo der Bauwirtschaft, wo schließlich des
Medienbereichs, der die mangelnde Zahlungsbereitschaft
durch Zeitungen, Zeitschriften usw. hundertfach öffentlich dokumentiert und auch beklagt hat?
Kollege Beck, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Eckhardt?
Ja.
Herr Kollege Beck, Sie haben mehrere Firmen aus meiner Heimatstadt genannt. Ich
weiß nicht, wie gut Sie recherchiert haben. Ist Ihnen bekannt, dass die Firmen heute zu Konzernen gehören, die
sich an der Initiative beteiligt haben, etwa die Firma
Borchers über Bayer Leverkusen?
({0})
Das ist mir so nicht bekannt. Sollte es in Einzelfällen der
Fall sein, würde ich das begrüßen. Ich habe versucht zu
recherchieren. Ich habe es bei den Goslarer Firmen sehr
bewusst als Frage formuliert. Bei den anderen Firmen
weiß ich aber, dass sie nicht in der Liste auftauchen; da
gibt es eine Kontinuität.
({0})
Ich denke, wir sollten den Schwerpunkt hier vor allen
Dingen darauf legen, dass der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft nur eineinhalb Prozent, wie Kollege
Bosbach vorhin gesagt hat, beigetreten sind. Das ist der
Skandal. Jeder, der dabei ist, ist okay und jeder, der fehlt,
muss aufgefordert werden, endlich mitzumachen.
({1})
Kollege Beck, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Deß,
CDU/CSU-Fraktion?
Bitte schön.
Herr Kollege Beck, ich
möchte fragen: Haben Sie geprüft, ob die SPD für ihre
Verlagsanteile bezahlt hat?
Ich finde diese Frage der Debatte nicht angemessen und
beantworte Sie deshalb nicht.
({0})
Volker Beck ({1})
Meine Damen und Herren, nun zum Medienbereich.
Warum ist die Bertelsmann AG zum Beispiel dabei - was
zu begrüßen ist -, nicht aber die Holtzbrinck-Gruppe?
Wichtig ist natürlich nicht nur, wer zahlt, sondern auch,
in welcher Höhe gezahlt wird. Wenn uns die Stiftungsinitiative berichtet, es gebe historisch belastete Firmen,
die sich mit einmalig 50 000 DM an den Fonds freikaufen
wollten, während junge unbelastete IT-Firmen den x-fachen Betrag freiwillig bezahlten, dann ist das ein unmoralisches Angebot und eine Beleidigung der Opfer.
({2})
Das Gesetz gewährt allen Unternehmen ausreichende
Rechtssicherheit. Diese gibt es aber nur, wenn auch die
zugesagten 5 Milliarden DM möglichst bald eingezahlt
werden. Gefordert sind hier an erster Stelle die ehemaligen Profiteure der Zwangsarbeit.
Ich habe die Schreiben der Opfer gewählt, weil sie zeigen, dass es angesichts des unermesslichen Leids unangemessen wäre, davon zu sprechen, wir könnten mit diesem Stiftungsgesetz das an Sklaven- und Zwangsarbeitern
verübte Leid wieder gutmachen oder es auch nur angemessen entschädigen.
10 Milliarden DM sind eine beachtliche Summe. Aber
angesichts des Leids der Opfer ist dies eine Summe, die
wir als Bundestag nur als humanitäre finanzielle Zuwendung begreifen können. Gleichwohl hat sie für Zwangsarbeit und Vermögensschäden abschließenden Charakter.
Den zumeist verarmten Opfern, die auf dieses Geld dringlich warten, ist es aber vielleicht auch egal, welchen Namen wir dieser Zuwendung geben, wenn sie diese nur
endlich bald erleben dürfen.
Eine moralische Qualität bekommt diese Zahlung aber
erst dann, wenn wir uns zu dem Unrecht bekennen und
uns dafür entschuldigen, was den Opfern im Namen
Deutschlands angetan wurde. Nur so können wir den
Menschen auch ihre verlorene Würde wiedergeben. Das
hat unser Bundespräsident Johannes Rau vor allen anderen in der Öffentlichkeit zu Recht herausgestellt.
An der moralischen Qualität der Debatte hat es bei den
Auseinandersetzungen über die Höhe des Fonds, den Verteilungsschlüssel und die Rechtssicherheit für Firmen in
den letzten eineinhalb Jahren manchmal gefehlt. Das hat
bei den Opfern zu Recht oft Bitterkeit hinterlassen. Fraktionsübergreifend wollen wir Abgeordneten dazu beitragen, dieser moralischen Qualität wieder ihren Platz zu geben.
Wir stellen nun durch dieses Gesetz fest: Der nationalsozialistische Staat hat Sklaven- und Zwangsarbeitern
durch Deportation, Inhaftierung, Ausbeutung bis hin zur
Vernichtung durch Arbeit und durch eine Vielzahl weiterer Menschenrechtsverletzungen schweres Unrecht zugefügt. Deutsche Unternehmen, die an diesem Unrecht beteiligt waren, tragen dafür historische Verantwortung und
müssen ihr gerecht werden.
Wir wollen bei der Gesetzgebung Regelungen finden,
die dem Schicksal der Opfer angemessen sind. Dies hat
manches Mal auch öffentlich ausgetragenen Streit mit der
Wirtschaft, zum Teil auch mit einigen Fachbeamten der
Bundesregierung bedeutet. Aber es war die Sache um der
Opfer willen wert.
Wir haben als Deutscher Bundestag trotz der Besonderheit des Beratungsverfahrens, das Herr Stadler betont
hat, nicht nur einfach als Notar agiert. Wir haben im Sinne
der Opfer und der maximalen Gerechtigkeit versucht, alle
Spielräume zu nutzen, um unserer Verantwortung als Gesetzgeber bei dieser historischen Aufgabe gerecht zu werden.
Die größte Gefahr, die dieser Gesetzgebungsprozess
beinhaltet, ist, dass die Opfer, die von der IOM entschädigt werden sollen - also die nicht jüdischen Opfer außerhalb des Bereiches der osteuropäischen Versöhnungsstiftungen - zum Teil gar nichts oder ungleich weniger erhalten als die Opfer, die von anderen Organisationen
entschädigt werden sollen. Hier hat der Deutsche Bundestag in seiner Entschließung der vier Fraktionen zum
Ausdruck gebracht, dass wir bei der Administration in der
Stiftung, aber auch darüber hinaus, eine ganz besondere
Verantwortung sehen. Wir haben die Verantwortung
dafür, dass alle Opfer für gleiches Leid auch gleiche Entschädigungen bekommen.
({3})
Wir lösen heute das Versprechen an die Opfer ein, das
Gesetz noch vor der Sommerpause zu verabschieden. Wir
haben damit auch die Voraussetzungen dafür geschaffen,
dass die Opfer noch in diesem Jahr eine erste Auszahlung
erhalten. Wir hoffen nun, dass die Rücknahme der Klagen
in den USA eingeleitet wird. Die weiteren Geschicke werden in die Hände des Kuratoriums und der Partnerorganisationen gelegt. Wir wünschen uns und den Opfern, dass
sie ihre schwierige Aufgabe verantwortungsbewusst und
zügig wahrnehmen.
Lassen Sie mich zum Schluss für das gute Klima in den
Berichterstattergesprächen sowie für die vorzügliche Arbeit und Unterstützung durch den Arbeitsstab Lambsdorff
und für die Verhandlungsführung durch Graf Lambsdorff
danken. Ich möchte auch einen Dank an einen unserer
Mitarbeiter, Herrn Saathoff, anschließen, der mit seiner
Fachkompetenz in den Berichterstattergesprächen beispiellos für alle Fraktionen hilfreiche Zuarbeit im Dienste
der Sache geleistet hat.
Vielen Dank.
({4})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Ulla Jelpke, PDS-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Wie Sie in den Beiträgen heute Morgen schon
vernommen haben, hat es bei der Vorbereitung des vorliegenden Gesetzesentwurfs weit auseinander liegende Interessen gegeben. Unser Leitmotiv bei diesen Verhandlungen und auch bei diesem Gesetz war und ist die Entschädigung der Opfer. Das Nürnberger Gericht hat nach
Volker Beck ({0})
1945 die Zwangsarbeit für Millionen von Menschen, vor
allem aus Osteuropa, richtig als ein „Verbrechen gegen
die Menschlichkeit“ eingestuft. Für dieses Verbrechen
muss endlich gezahlt werden.
({1})
Für die PDS-Fraktion will ich mich deshalb an dieser
Stelle noch einmal bei allen noch lebenden NS-Opfern
und ihren Angehörigen ausdrücklich für diese Verbrechen
und für das ihnen angetane Leid entschuldigen, auch
dafür, dass erst 55 Jahre nach Kriegsende etwas für sie getan wird.
({2})
Wir werden auch in Zukunft mit diesen Opfern solidarisch
sein und helfen, wo wir können.
Wir werden dem Gesetz trotz vieler Bedenken und Kritik zustimmen. Die 10 Milliarden DM, die nun an vermutlich 1,6 Millionen noch lebende Opfer und ihre Angehörigen gezahlt werden, sind nur ein Tropfen auf den
heißen Stein. Selbst die VW-Regelung, die eine Zahlung
von immerhin 10 000 DM pro Person vorsah, hätte den
Opfern - wenn man alle entschädigt hätte - etwas mehr
Gerechtigkeit gebracht. Das hatten wir auch mit unserem
ursprünglichen Antrag gefordert. Jetzt erhalten die
Zwangsarbeiter, die im KZ waren, wahrscheinlich etwas
mehr, aber die anderen leider nur halb so viel.
Trotzdem bestreiten wir nicht: Es gibt Verbesserungen
gegenüber dem ersten Entwurf. Es sind Verbesserungen,
die vor allem dem Druck und den Protesten der Opfer, ihrer Anwälte und der osteuropäischen Länder zu verdanken sind. Ich möchte mich an dieser Stelle bei diesen bedanken, da sie uns viele Vorschläge eingereicht haben, um
die Gesetzesarbeit zu verbessern und zu erleichtern.
({3})
Ich möchte mich auch dafür bedanken, was schon
meine Kolleginnen und Kollegen getan haben, dass die
Atmosphäre, in der diese Verhandlungen stattgefunden
haben, ausgesprochen angenehm war. Ich brauche nicht
zu wiederholen, dass es in der Tat ein außergewöhnlicher
Prozess war.
Anlässlich des heutigen Tages ist es mir wichtig, stellvertretend für viele von ihnen einen Menschen zu nennen.
Er heißt Hans Frankenthal.
({4})
Er war der Sohn eines jüdischen Viehhändlers und wurde
bereits 1940 mit 14 Jahren von den Nazis zu Straßenbauarbeiten gezwungen. 1943 deportierten ihn die Nazis mit
seiner Familie nach Auschwitz. In seinem Buch „Verweigerte Rückkehr“ schildert Hans Frankenthal sein Zwangsarbeiterleben. Er schreibt - ich zitiere -:
Wenn man nicht irgendwie einen Druckposten bekam, überlebte man keine acht Wochen.
Hans Frankenthal überlebte Auschwitz, die Zwangsarbeit
im Lager Monowitz und das KZ Mittelbau-Dora. 1945
wurde er in Theresienstadt befreit.
Hans Frankenthal hat wie viele andere jahrzehntelang
für die Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter gekämpft,
zuletzt als Mitglied im Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Westfalen, im Zentralrat der Juden in
Deutschland und als stellvertretender Vorsitzender des
Auschwitz-Komitees.
Hans Frankenthal ist im Dezember vergangen Jahres
gestorben. Er gehört damit zu den NS-Opfern, die keine
Entschädigung mehr für die Zwangsarbeit bekommen.
Ich finde das auch an diesem Tag nach wie vor beschämend.
Ein weiterer Punkt. In dem Gesetz findet sich ein kleiner Titel von 50 Millionen DM. Dieses Geld ist insbesondere für Opfer medizinischer Versuche und so genannter Kinderheimfälle vorgesehen. Tausende von Kindern,
vor allem so genannte schlechtrassische Kinder von Ostarbeiterinnen, starben in den mörderischen Kinderheimen
der NS-Zeit. Auch die Menschenversuche in den KZs, für
die nunmehr eine Entschädigung gezahlt werden soll, fanden vielfach auf direkten Wunsch deutscher Pharmaunternehmen statt. Dass für diese Opfer nur 50 Millionen
DM bereitgestellt werden, liegt einzig und allein daran,
dass sie in den USA gegen Konzerne wie VW und Bayer
geklagt haben. Die 50 Millionen DM, mit denen die Klagen abgewendet werden sollen, entsprechen gerade einmal 5 Prozent eines Jahresgewinns von VW und Bayer.
Diese Klagen abzuwenden und das Ansehen der Industrie wieder herzustellen ist in meinen Augen das dominierende Motiv bei der Bundesregierung und vor allem
bei der Industrie. Das soll hier nicht verschwiegen werden. In der Erklärung, die das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung am 16. Februar 1999 bei der
Gründung der Stiftungsinitiative veröffentlicht hat, ist es
sehr deutlich ausgesprochen worden. Darin heißt es - ich
zitiere -: Die Stiftungsinitiative wolle
Klagen, insbesondere Sammelklagen in den USA, ...
begegnen und Kampagnen gegen den Ruf unseres
Landes und seiner Wirtschaft den Boden ... entziehen.
Ich erinnere an den Schweizer Bankenvergleich, in
dem sich Schweizer Banken zu Zahlungen von Milliardenhöhe verpflichtet haben. Für die deutsche Industrie,
die ganz andere Verbrechen während der NS-Zeit begangen hat als die Schweizer Banken, drohen ganz andere Urteile und viel höhere Zahlungen. Das zu verhindern war
und ist das dominierende Motiv bei der Industrie und leider auch bei der Bundesregierung. Es geht und ging ihnen,
wenn überhaupt, nur in zweiter Linie um die Opfer.
Die Industrie zahlt laut Gesetz 5 Milliarden DM. In
Wirklichkeit muss man davon 2,5 Milliarden DM abziehen. Diese bekommt die Industrie vom Finanzamt zurück.
Zieht man dann noch die 1 bis 1,2 Milliarden DM ab, die
für die so genannten Arisierungsschäden vorgesehen sind,
also für Versicherungsbetrug und Arisierungsgewinne der
Banken, dann bleiben nur 1,3 bis 1,5 Milliarden DM
übrig, die die Industrie für Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeiter zahlt - hoffentlich! Denn bis heute ist
noch unklar, wann das Geld wirklich vorhanden sein wird.
Noch unsicherer ist es, wann das Geld wirklich bei den
Opfern ankommt. Das Verhalten der Industrie ist und
bleibt ein Skandal.
({5})
Wissenschaftler, wie Professor Kuczynski, haben
schon vor einiger Zeit ausgerechnet, dass die deutsche Industrie in der NS-Zeit den Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeitern allein an Löhnen einen Betrag - umgerechnet auf heutige Preise - von 180 Milliarden DM
vorenthalten hat. Verglichen damit sind die 1,5 Milliarden DM, die die Industrie nun zuzahlt, einfach kläglich.
Wir haben - darauf habe ich schon hingewiesen - Verbesserungen im Gesetz erreicht. Ich nenne jetzt einige, die
für uns wichtig sind: Die zuerst vorgesehene Regelung,
Landarbeiter und Nichtdeportierte auszugrenzen, ist
durch eine Öffnungsklausel korrigiert werden. Die Opfer,
die gegen die deutsche Industrie geklagt haben, müssen
jetzt nicht ihre eigenen Gerichts- und Anwaltskosten zahlen. Das Kuratorium ist durch Opfer und Vertreter von
Partnerorganisationen vergrößert worden, die nicht am
Verhandlungstisch gesessen haben. Auch die verharmlosende Sprache - das ist nicht ganz unwichtig; im ersten
Gesetzentwurf war noch von „Geschehnissen“ und „Verstrickungen“ die Rede - ist weitgehend verschwunden. In
der Präambel werden Täter und Opfer deutlich beim Namen genannt.
Wichtig bleibt das Problem, dass der im Gesetz vorgesehene Betrag für die Opfer, die nicht am Verhandlungstisch gesessen haben, nicht ausreicht. Der Entschließungsantrag ist zwar ein Versuch, dafür den Bundestag
bzw. die Bundesregierung in die Pflicht zu nehmen, aber
ich sage: Papier ist geduldig. Uns wäre es lieber gewesen,
wenn die Lösung dieses Problems im Gesetz geregelt
worden wäre. Ich erkläre hier klipp und klar für meine
Fraktion: Wenn das Geld am Ende nicht reicht, dann muss
nachgezahlt werden. Darauf werden wir bestehen.
({6})
Die Industrie und auch die CDU/CSU - damit komme
ich zum Schluss - möchte dieses Gesetz gerne als Schlussstrichgesetz sehen. Für uns ist das Gesetz kein Schlussstrich, weder bezüglich der Entschädigung der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter noch der anderen
Opfer - für die schon gar nicht -, die bislang noch keine
Entschädigung für ihr Leid und keine Rehabilitierung erhalten haben. Für sie werden wir uns auch in Zukunft einsetzen, und zwar sowohl im Parlament als auch außerhalb
des Parlaments. Einen Schlussstrich unter die NS-Zeit
und die in ihr begangenen Verbrechen wird es mit uns niemals geben.
Ich danke Ihnen.
({7})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Dietmar Nietan, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zu Beginn meiner
Ausführungen den Menschen Dank sagen, denen hier
noch keiner gedankt hat. Ich möchte all denjenigen Dank
sagen, die wie Lothar Evers und andere über viele Jahre
hinweg die Opfer von NS-Verbrechen beraten und ihnen
in all den Jahrzehnten Mut gemacht haben, nicht die
Hoffnung aufzugeben,
({0})
dass ihnen irgendwann doch noch Gerechtigkeit widerfährt. Auch diesen Menschen muss man heute Dank sagen.
Ich möchte auch Deidre Berger und den anderen Kolleginnen und Kollegen vom American Jewish Committee
Dank sagen, die mit ihrer mutigen Aktion, die Namen der
Firmen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben und die damals noch nicht der Stiftungsinitiative beigetreten waren,
ins Internet zu stellen, Öffentlichkeit hergestellt haben
und auf dieses düstere Kapitel das Licht geworfen haben,
das es verdient hat.
({1})
Ich möchte an dieser Stelle auch meinen Fraktionskolleginnen und -kollegen Andrea Nahles, Simone Violka,
Michael Roth, Christoph Moosbauer und Christian
Simmert vom Bündnis 90/Die Grünen Dank sagen. Gemeinsam mit diesen Kolleginnen und Kollegen haben
auch gerade wir jungen Abgeordneten von Anfang an die
Diskussion nicht nur in unserer Fraktion, sondern auch
mit vielen Vertretern der NGOs über das Stiftungsgesetz
und insbesondere über den Zukunftsfonds geführt, weil
wir dies als Verpflichtung auch unserer jungen Generation
ansehen. Ich danke in diesem Zusammenhang auch meiner Fraktion, dass sie mir als Vertreter der jungen Generation die Möglichkeit gibt, dies heute hier zu sagen.
Es ist sehr oft gesagt worden, dass dies heute eine historische Stunde sei. Zwar teile ich diese Einschätzung es ist ein historischer Moment, weil wir uns zu unserer
Verantwortung bekennen -, aber ich empfinde diesen Moment auch als einen Moment, der mich beschämt. 55 Jahre
haben die Opfer darauf warten müssen, dass das an ihnen
begangene Unrecht endlich anerkannt wird. 55 Jahre haben Menschen warten müssen, denen von Nazideutschland unendlich großes Leid angetan wurde.
Wir wissen nicht, wie viele von ihnen daran zerbrochen
sind. Wir wissen nicht, wie viele von ihnen in dem Bewusstsein gestorben sind, dass ihnen auch die Nachfahren
der Täter eine Entschädigung und damit die Anerkennung
des an ihnen begangenen Unrechts letztlich versagt haben. Das ist, wie ich finde, schon etwas, was einem bei allem Frohsein darüber, dass wir weitergekommen sind, immer noch beschämen muss.
Trotz dieses bitteren Beigeschmacks möchte ich dem
Bundeskanzler ausdrücklich dafür danken, dass er sich
anders als sein Vorgänger intensiv für die zügige Realisierung der längst überfälligen Entschädigungsleistungen
eingesetzt hat. Herr Bundeskanzler, an dieser Stelle gebührt Ihnen unser Dank.
({2})
Mein Dank gilt aber auch den mittlerweile fast 3 000
Unternehmen, die sich in der Stiftungsinitiative zusammengeschlossen haben. Diese Unternehmen - ich betone:
nur diese 3 000 Unternehmen - bekennen sich zu der Verantwortung; aber es handelt sich gerade einmal um ganze
1,4 Prozent der Gesamtzahl. Anders herum gesagt: 98,6
Prozent der deutschen Unternehmen denken bisher nicht
daran, gesellschaftliche Mitverantwortung für diesen Bereich zu übernehmen.
Ich halte es in diesem Zusammenhang für einen Skandal, dass es junge Menschen gibt, die gerade eine Firma
gegründet haben und sich trotzdem, obwohl sie mit dieser
ganzen Sache persönlich nichts zu tun haben, an der Stiftungsinitiative beteiligen, während es andere, saturierte
große Unternehmen gibt, die es bis heute nicht für nötig
erachten, dabei mitzumachen. Man kann es nicht deutlich
genug sagen: Das ist ein Skandal.
({3})
Es ist schon höchst interessant, dass nun ins Felde geführt wird, dass zuerst die Rechtssicherheit - das ist der
ausschlaggebende Punkt - zu 100 Prozent garantiert sein
müsse, bevor man sich beteiligen könne. In diesem Sinne
äußern sich gerade solche Personen, die sonst immer sagen, der Staat möge sich doch aus möglichst allen Dingen
heraushalten. Von der amerikanischen Regierung verlangen sie jetzt, den unabhängigen Gerichten genau zu sagen,
wie man Rechtssicherheit herzustellen hat.
Auch wenn ich akzeptiere, dass Rechtssicherheit für
die deutschen Firmen zweifellos eine wichtige Frage ist,
muss ich ehrlich sagen: Wenn man die Frage der Rechtssicherheit vor die Entschädigung der Opfer - unser
eigentliches Anliegen - stellt, dann offenbart man eine
Geisteshaltung, die nicht nur eine Geringschätzung der
durch die Gewaltenteilung garantierten Unabhängigkeit
der Gerichte darstellt, sondern auch die Opfer erneut als
Mittel für einen ökonomischen Zweck missbraucht. Das
darf man nicht durchgehen lassen. Wir als Bundestagsabgeordnete müssen ein deutliches Zeichen setzen, dass die
zügige Entschädigung aller Opfer, die noch leben, für uns
weiterhin im Vordergrund aller Bemühungen stehen
muss.
({4})
Im Zentrum unserer Anstrengungen muss ebenfalls
stehen - das sage ich auch als Vertreter der jungen Generation -, den Opfern dadurch gerecht zu werden, dass wir
durch den Zukunftsfonds einen Beitrag dazu leisten, dass
die Erinnerung an das, was ihnen angetan wurde, nie verblasst. Allein dieser Auftrag - die Erinnerung an Verfolgung, Ausbeutung und Vernichtung der Opfer des Nationalsozialismus auch dann noch bei den zukünftigen Generationen wach zu halten, wenn die Opfer gestorben sind
und sie den jungen Menschen ihr Schicksal nicht mehr
selbst als Zeitzeugen berichten können - rechtfertigt es,
einen Teil der Mittel der Stiftung den noch lebenden Opfern nicht direkt zukommen zu lassen, sondern in den Zukunftsfonds fließen zu lassen.
Für mich ist der Zukunftsfonds der Teil der Stiftung,
der den Opfern gewidmet werden muss, die mittlerweile
schon verstorben sind. Ihnen kann man keine materielle
Entschädigung mehr zukommen lassen. Aber indem man
wegweisende, neue Projekte durch diesen Zukunftsfonds
fördert, mit denen der Jugendaustausch und das Wachhalten bzw. die Erinnerung unterstützt werden, kann man ihnen noch gerecht werden; darin liegt die wesentliche Berechtigung des Zukunftsfonds. Wenn man es so versteht,
dann muss jedem Versuch, den Zukunftsfonds als Steinbruch zu benutzen, um irgendwelche anderen Angelegenheiten, die man in den Verhandlungen nicht geregelt hat,
bezahlen zu können, widerstanden werden. Wir müssen
jeden Schritt in diese Richtung zurückweisen.
({5})
Es geht bei diesem Zukunftsfonds nicht darum, Prestigeprojekte zu fördern - bei einigen Vorschlägen der Wirtschaft hatte ich diesen Eindruck -; vielmehr geht es darum, vielen jungen Menschen - gerade von unten - in
Deutschland, in Israel und in den mittel- und osteuropäischen Staaten die Möglichkeit zu geben, einander zu begegnen. Das sollte aber immer vor dem Hintergrund des
Sichvergegenwärtigens der Geschichte des Holocaust und
seiner Einmaligkeit geschehen. Es geht darum, die Erinnerung an die Unvergleichbarkeit wach zu halten und in
die Zukunft zu retten. Dadurch können für junge Menschen Brücken gebaut werden, damit sie durch das Lernen
aus der Vergangenheit in der Lage sind, eine menschlichere Zukunft ohne Faschismus, ohne Rassismus und
ohne Fremdenhass zu gestalten.
({6})
Ich glaube, das ist gerade auch für uns als junge Generation sehr wichtig; denn es darf in keiner Weise einen
Schlussstrich geben. Mich irritiert, in welcher Art und
Weise jetzt einige davon reden, dass man den Gerichten
vorschreiben kann, in Bezug auf finanzielle Fragen einen
Schlussstrich zu akzeptieren. Wir sollten wirklich in aller
Deutlichkeit sagen: Diesen Schlussstrich darf es nicht geben.
Erlauben Sie mir zum Schluss, etwas von dem zu zitieren, was uns Elie Wiesel am 27. Januar dieses Jahres
hier an dieser Stelle gesagt hat:
Wer einen Schlussstrich ziehen will, hat es schon
längst getan. Er hat nicht nur das Blatt gewendet,
sondern es aus seinem Bewusstsein gerissen. Wer
sich dazu herbeilässt, die Erinnerung an die Opfer zu
verdunkeln, der tötet sie ein zweites Mal.
Das, meine Damen und Herren, darf in Deutschland nie
passieren.
Vielen Dank.
({7})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Hans-Peter Uhl, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Gestatten
Sie auch mir zu Anfang eine Bemerkung zur Arbeit
des Beauftragten der Bundesregierung, des Grafen
Lambsdorff. Völlig unbestritten haben Sie, Herr Kollege
Graf Lambsdorff, vor einem Jahr ein unglaublich schweres Erbe von Ihrem Vorgänger übernommen.
({0})
Ohne Rücksicht auf Ihre Gesundheit haben Sie sich einem
nervenaufreibenden Verhandlungsmarathon zur Verfügung gestellt. Dabei waren Sie auch ungerechtfertigten
Angriffen ausgesetzt. Deswegen gebührt Ihnen heute
umso mehr der Respekt und der Dank des Hohen Hauses.
({1})
Zu Recht, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen,
trägt die Stiftung den Titel „Erinnerung, Verantwortung
und Zukunft“; denn ohne Erinnerung und Übernahme der
Verantwortung für das Geschehene kann es keine gedeihliche Zukunft geben, kein friedliches Miteinander unter
Nachbarn. Wir beweisen heute unsere Verantwortung vor
der historischen Wahrheit. Der deutsche Staat und die
deutsche Wirtschaft wollen mit dieser Stiftung die bereits
geleisteten Wiedergutmachungszahlungen noch einmal
ergänzen und dadurch abermals ein Zeichen der Versöhnung setzen.
Das Wachhalten der Erinnerung an das vergangene
Leid darf aber nicht dazu führen, dass das Erinnern zur alleinigen Verpflichtung der Deutschen wird.
Die richtige Erinnerung darf nicht bei unserer schonungslosen Aufdeckung von Verbrechen durch die Naziherrschaft stehen bleiben. Ohne jede Aufrechnungsabsicht muss festgestellt werden: Das Unrecht des Naziregimes hat letztlich auch das Unrecht an vielen Deutschen
ausgelöst. Aber ebenso gilt, dass ein Unrecht das andere
Unrecht niemals rechtfertigen kann.
({2})
Es kann kein Aufrechnen geben, weder für uns noch für
andere. Erinnern kann nicht teilbar sein.
Heute erinnern wir an die Opfer des Naziregimes und
übernehmen wieder Verantwortung. Gerade heute ist es
deshalb aber auch eine Verpflichtung des Deutschen Bundestages, jener unschuldigen Deutschen zu gedenken, denen als Zwangsarbeiter schweres Leid und grausamste
Behandlung widerfahren sind. So müssen wir uns daran
erinnern, wie der jüdische Deutsche Hans-Georg Adler,
der während des Zweiten Weltkriegs in Theresienstadt inhaftiert war, die Verhältnisse im ehemaligen KZ Theresienstadt im Jahre 1946, also nach dem Krieg, schilderte:
Bestimmt gab es unter ihnen welche, die sich
während den Besatzungsjahren manches haben zuschulden kommen lassen, aber die Mehrzahl, darunter viele Kinder und Halbwüchsige, wurden bloß
eingesperrt, weil sie Deutsche waren.
Er fährt fort:
Nur weil sie Deutsche waren ...? Der Satz klingt
erschreckend bekannt; man hatte bloß das Wort „Juden“ mit „Deutsche“ vertauscht. ... Die Menschen
wurden elend ernährt, misshandelt und es ist ihnen
um nichts besser gegangen, als man es von deutschen
Konzentrationslagern her gewohnt war.
Wir stimmen der Zwangsarbeiterentschädigung zu.
Aber wir müssen auch an das Folgende erinnern: Allein
in einem von 1 255 polnischen Arbeits- und Deportationslagern kamen beispielsweise von 8 064 Insassen 6 488 Deutsche ums Leben. Darunter waren auch
628 Kinder, die wirklich nichts für Hitlers Herrschaft
konnten. Viele der Zwangsarbeiter ließ man verhungern,
prügelte sie zu Tode oder erschoss sie. Wer nicht arbeiten
konnte, wurde ermordet.
Wir stimmen heute der Zwangsarbeiterentschädigung zu. Aber wir müssen auch daran erinnern: In der
Tschechoslowakei gab es 2 061 Arbeits-, Straf- und Internierungslager. In Jugoslawien gab es 1 562 Lager. Dort
wurde zwischen Arbeitslagern und Lagern für Arbeitsunfähige unterschieden. In diesen letzteren Lagern wurden
die Menschen systematisch vernichtet. Im größten jugoslawischen Vernichtungslager, Rudolfsgnad, sind von
33 000 deutschen Insassen 9 503 umgebracht worden,
darunter 491 Kinder unter 14 Jahren.
Wir stimmen der Zwangsarbeiterentschädigung zu.
Aber wir müssen auch an die 700 000 deutschen Zivilisten erinnern, darunter viele Frauen und Kinder, die nach
1945 zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert wurden.
({3})
Hunderttausende von deutschen Kriegsgefangenen
mussten sich völkerrechtswidrig in Sibirien bis Mitte der
50er-Jahre zu Tode schuften. Weit über 2 Millionen Deutsche sind nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges durch
Vertreibung, Internierung und Zwangsarbeit zu Tode gekommen. All dies geschah übrigens in demselben Zeitraum, als in den Nürnberger Prozessen gegen Nazigrößen
Todesurteile wegen ebendieser Straftaten, also wegen Deportation, Zwangsarbeit und Vernichtung, ausgesprochen
wurden.
Verantwortung beginnt mit der Wahrhaftigkeit und sie
endet mit ihr. Ob Christ, Jude oder Atheist, ob Pole, Russe
oder Deutscher: Was man ihnen in den Arbeitslagern des
Zweiten Weltkrieges und danach angetan hat, waren Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der englische Berichterstatter Bashford schrieb bereits im Sommer 1945
an das englische Außenamt:
Die Konzentrationslager sind nicht aufgehoben, sondern von den neuen Besitzern übernommen worden.
... In Swientochlowice, einem Ort in Oberschlesien,
müssen Gefangene, die nicht verhungern oder zu
Tode geprügelt werden, Nacht für Nacht bis zum
Hals im kalten Wasser stehen, bis sie sterben. In
Breslau gibt es Keller, aus denen Tag und Nacht die
Schreie der Opfer dringen.
In einem Bericht an den amerikanischen Senat vom
28. August 1945 heißt es:
Man hätte erwarten dürfen, dass nach der Entdeckung der Scheußlichkeiten, die sich in den
Konzentrationslagern der Nazis ereigneten, niemals
wieder Derartiges geschehen würde; das aber scheint
leider nicht so zu sein.
So wie das Erinnern unteilbar und Leid nicht teilbar ist,
so ist auch die Verantwortung für Verbrechen nicht teilbar.
Willy Brandt kniete in Auschwitz nieder. Roman
Herzog bat im Warschauer Getto um Vergebung. Deutsche haben sich zu Recht für deutsche Untaten immer
wieder entschuldigt und um Vergebung gebeten. Wir vermissen aber, dass sich auch die Gegner von einst ihrer
Verantwortung stellen. Eine wahre Aussöhnung kann es
aber nicht geben, wenn das Leid des einen anerkannt und
das Leid des anderen geleugnet wird.
({4})
Der Dichter sagt:
Wer sich nicht erinnert und damit die eigene Verantwortung leugnet, der sät die Blumen des Bösen: Auf
dieser Saat der Selbstgerechtigkeit blüht keine Zukunft und gedeiht keine gute Nachbarschaft in Europa.
Wir stimmen der Stiftung zu, aber in unserer heutigen
Fraktionserklärung fordern wir diejenigen Staaten auf,
„die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Deutsche
verschleppt und unter unmenschlichen Bedingungen zur
Arbeit gezwungen haben, den noch lebenden deutschen
Opfern eine der deutschen Regelung zur Zwangsarbeiterfrage entsprechende Entschädigung in Form einer humanitären Geste zu gewähren“.
Wer dies verweigert mit der Begründung, dass das
deutsche Leid auf das Konto der Nazis gehe, vergisst
zweierlei: Zum einen war der Zweite Weltkrieg zu diesem
Zeitpunkt bereits zu Ende. Zum anderen wurden diese
Verbrechen zumeist an unschuldigen Zivilisten begangen.
Wir wollen nur, dass die Prinzipien der Wahrhaftigkeit
und Gerechtigkeit für alle Menschen, also auch für Deutsche, gelten. Vaclav Havel hat Recht, wenn er fordert: Jedes Volk sollte sich um einen ehrlichen Umgang mit seiner Geschichte bemühen.
Die Geschichte kennt keinen Schlussstrich. Das wissen
wir. Verantwortung für die Zukunft bedeutet deshalb, dass
wir die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus fortführen werden. Wohl aber muss es für die
Menschen in diesem Lande die Gewissheit geben, dass
die materiellen Wiedergutmachungsleistungen irgendwann ein Ende haben. Denn über 70 Prozent der heute lebenden Deutschen sind nach 1945 geboren.
Als Opposition gehen wir davon aus, dass die Bundesregierung, die die entscheidenden Gespräche geführt hat,
den Gesamtkomplex der Entschädigung nun so geregelt
hat, dass sich die vielfältig geäußerte Besorgnis, es könne
zu immer neuen Nachforderungen kommen, als haltlos erweist. Wir sind aber umso mehr überrascht über den heute
vorgelegten gemeinsamen Entschließungsantrag der
SPD, der F.D.P., der Grünen und der PDS. Darin wird
nämlich unmissverständlich die Bereitschaft zu neuen finanziellen Leistungen bereits jetzt in Aussicht gestellt.
Wir lehnen das ab.
({5})
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
„Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ - dieser Titel
der Stiftung ist Ausdruck des deutschen Bemühens um
Versöhnung und materiellen Ausgleich für das von deutscher Seite verursachte Leid. Über ein halbes Jahrhundert
nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges muss es aber
auch für Deutsche eine historische Gerechtigkeit geben.
Wir fordern nicht mehr und nicht weniger als diese Gerechtigkeit.
Wir Deutschen werden das Leid, das unsere Vorväter
anderen angetan haben, bestimmt nicht vergessen. Aber
nur mit Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit schaffen wir
Vertrauen und nur mit Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit
schaffen wir eine wahre Versöhnung zwischen den Völkern im zusammenwachsenden Europa.
({6})
Ich erteile dem Kollegen Christian Simmert, Bündnis 90/Die Grünen, das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und
Herren! Ich bin froh und dankbar, hier im Deutschen Bundestag eine Entscheidung mit treffen zu können, die allerdings schon längst hätte getroffen werden müssen.
Für uns alle ist das Gesetz zur Entschädigung der
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ein historischer
Schritt, vor allem für die Opfer, von denen nach so vielen
Jahrzehnten leider nur noch zu wenige diesen Augenblick
erleben können.
Dieser historische Schritt kann aber nicht der letzte
Schritt in der Auseinandersetzung um die deutsche Vergangenheit sein - weder im politischen noch im gesellschaftlichen Raum. Vielmehr muss ein neues Kapitel in
der Erinnerungsarbeit aufgeschlagen werden, ein Kapitel,
das gerade der jungen Generation eine Auseinandersetzung mit Naziterror, Holocaust und Zwangsarbeit ermöglicht.
({0})
Das Gesetz zur Entschädigung von ehemaligen
Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern ist kein
Schlussstrich und darf kein Schlussstrich sein. Ich denke,
das haben die Beteiligten mit dem Titel der Stiftungsinitiative „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ ausdrücken wollen.
Gerade der Zukunftsfonds hat in diesem Sinne eine
zentrale Bedeutung. Dieser kann mit dafür sorgen, dass
nicht Schlussstrichgedanken vorherrschen, sondern die
Erinnerungsarbeit eine neue Dimension bekommt. Wenn
immer weniger Zeitzeuginnen und Zeitzeugen jungen
Menschen unmittelbar aus ihren Erfahrungen berichten
können, dann werden wir lernen müssen, neue Wege der
Erinnerung zu gehen. Der Zukunftsfonds sollte deshalb
besonders für neue, innovative Projekte genutzt werden,
die sich gerade dieser Entwicklung stellen.
Was können zukünftige Generationen nicht nur über
die deutsche Vergangenheit erfahren, sondern vor allem
daraus lernen? Wie kann Erinnerungsarbeit in Schulen
nicht verschult, sondern lebendig gestaltet werden, und
dies vor dem Hintergrund, dass sich Europa näher kommt
und sich unsere Gesellschaft verändert? Wie gehen junge
Menschen in einem anderen kulturellen Kontext mit der
deutschen Vergangenheit um und welche Verantwortung
leiten sie für sich daraus ab? Neue und alte Fragen müssen gerade für die junge Generation und die zukünftigen
Generationen immer wieder beantwortet werden. Schon
deshalb kann es keinen Schlussstrich geben.
Es wäre jedoch falsch, zu glauben, dass sich die Erinnerungsarbeit in Zukunft „nur“ auf den Zukunftsfonds der
Stiftungsinitiative beschränkt. So wichtig der Fonds an
sich ist, so wichtig ist es auch, dass die bisherige
Erinnerungsarbeit weiterhin geleistet und finanziert wird.
({1})
Grundvoraussetzung für die Stiftungsinitiative generell und damit auch für den Zukunftsfonds ist jedoch, dass
die deutsche Wirtschaft endlich ihren Teil der Verantwortung annimmt. Es kann nicht sein - auch ich finde das
beschämend -, dass es noch immer Unternehmen gibt, die
Zwangsarbeiter beschäftigt haben und die sich jetzt ihrer
Verantwortung entziehen wollen, junge Unternehmen
aber, die es erst seit kurzem gibt, Mitglied der Stiftungsinitiative sind. Es geht bei der Entschädigung ehemaliger
Zwangsarbeiter um die moralische Gesamtverantwortung
der deutschen Wirtschaft. Vor dem Hintergrund von Fusionen und den Summen, die dabei im Spiel sind, kann ich
mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es für einige Unternehmen eher um Peanuts geht als um einen finanziellen Kraftakt.
Auch ich möchte mich für die gute Zusammenarbeit
bedanken. Ich hoffe, dass wir in Zukunft an diesem
Thema weiterarbeiten und gemeinsam für eine Erinnerungsarbeit eintreten, die diesen Namen auch verdient.
Danke schön.
({2})
Ich erteile das Wort
dem Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen
Sie mich zum Ende dieser sehr bewegenden Debatte,
nachdem Graf Lambsdorff als Beauftragter der
Bundesregierung schon vorgetragen hat, wie diese Stiftungsinitiative zustande gekommen ist, für die Bundesregierung noch wenige Bemerkungen machen.
({0})
Wir dürfen nie vergessen, welch unvergleichliche Verbrechen in der Zeit zwischen 1933 und 1945 von unserem Lande ausgegangen sind. 55 Millionen Tote und die
systematische Ausrottung ganzer Völker und Ethnien mit
der unglaublichen Begründung, dass das eigentlich gar
keine Menschen seien, gehören in diese Phase. Sich daran
zu erinnern ist schmerzhaft. Die deutsche Nachkriegsgeschichte ist sehr schmerzhaft und auch sehr widersprüchlich verlaufen. Aus dieser Geschichte auszutreten
ist niemandem erlaubt. Auch jetzt noch, da eine andere
Generation hier sitzt, haben wir Verantwortung.
({1})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich bitte doch wenigstens bei diesem
Thema um eine gewisse Ruhe, damit der Redner überhaupt noch zu verstehen ist.
({0})
Wir tragen Verantwortung, weil wir das Erbe nicht ausschlagen
können, das Gute nicht - das wollen wir auch nicht -, aber
das Schlechte ebenso wenig.
Deswegen tragen wir Verantwortung dafür, dass sich
das Geschehene in der Zukunft nie wiederholt. So sind
übrigens viele meiner Generation überhaupt zum politischen Engagement gekommen: Sie wollten nie wieder so
etwas wie das erleben, was wir von 1933 bis 1945, ausgehend von Deutschland, erlebt haben.
({0})
Wir haben uns schwer getan. Wir haben uns bemüht,
wieder gutzumachen - wenn das denn überhaupt geht. Jedenfalls kann dieses Leid auf materiellem Wege nicht
wirklich ausgeglichen werden. Aber man kann sich bemühen. Ich will ausdrücklich betonen: Das ist seit Anfang
der 50er-Jahre geschehen; dieser Hinweis ist richtig. Die
Vereinten Nationen haben das deutsche Vorgehen in diesem Zusammenhang als eine beispielhafte Aufarbeitung
von Krieg und Diktatur anerkannt.
Aber wir haben lange gebraucht. Das, worüber wir
heute diskutieren und was wir heute entscheiden wollen,
hätte vielleicht schon viel früher entschieden werden können.
({1})
Aber da dies bisher nicht der Fall gewesen ist, müssen wir
dies jetzt tun.
Ich freue mich darüber - dazu möchte ich herzlichen
Dank sagen -, dass es in diesem Hause bei dieser Gesetzgebung die Zustimmung aller Fraktionen und wohl fast
aller Mitglieder geben wird. Dies ist keine Schlussstrichgesetzgebung in dem Sinne, dass wir uns danach
umdrehen und sagen könnten: Damit ist für uns die Zeit
von 1933 bis 1945 ein für alle Mal historisch abgeschlossen. Das wird sie nie sein.
({2})
Wir versuchen aber, materiell zu einem Ergebnis zu kommen.
Dass wir im Rahmen des Haushaltes - ich sage das als
Finanzminister - weiter helfen werden, dass wir weiter
Entschädigungsleistungen erbringen - etwa 150 000
Rentnerinnen und Rentner bekommen weiter Entschädigungsleistungen; das muss auch so sein -, ist auch hier
eine humanitäre Geste unsererseits.
Ich will - wie alle anderen Redner auch - zuallererst
Graf Lambsdorff sehr herzlich dafür danken, dass er diese
außerordentlich schwierige Frage sehr sensibel und sehr
bestimmt zu einem Ergebnis geführt hat.
({3})
Ich sage Dank auch an die amerikanische Regierung
und stellvertretend an Stuart Eizenstat, den stellvertretenden Finanzminister und für Graf Lambsdorff führenden
Gesprächspartner auf der anderen Seite des Verhandlungstisches.
({4})
Ich sage Dank an die Stiftungsinitiative der deutschen
Wirtschaft sowie ganz besonders an Herrn Dr. Gentz und
an die an die Spitze der Initiative getretenen Unternehmen, die es geschafft haben, dass alle anderen Unternehmen ihrem Beispiel folgen, egal ob sie Zwangsarbeiter beschäftigt haben oder nicht.
({5})
Denn hier wird von denjenigen, die sich engagieren, eine
beispielhafte Initiative geleistet. Wenige fragen danach,
ob sie rechtlich verpflichtet sind oder nicht. Diejenigen
Unternehmen, die nach dem Krieg neu gegründet worden
sind und historisch mit der Entschädigung der Zwangsarbeiter nichts zu tun haben, aber die wie wir als Bürgerinnen und Bürger begreifen, dass wir nicht aus der Geschichte austreten können, geben ein hervorragendes Beispiel. Diejenigen, die schon in der Vergangenheit dabei
gewesen sind, hätten nun allen Grund, sich jetzt auch an
den Entschädigungszahlungen zu beteiligen.
({6})
Für die Bundesregierung ist aber auch klar: Hier wird
kein neues Kapitel im Hinblick auf Reparationen eröffnet.
Dieses Kapitel ist abgeschlossen. Die Bundesregierung
und das ganze deutsche Volk leisten zum Beispiel im Rahmen ihrer Hilfe zur Integration der mittel- und osteuropäischen Länder in die Europäische Union große
Anstrengungen. Unsere eigentliche Zukunftsaufgabe ist denn das ist die Lehre, die wir aus der Vergangenheit zu
ziehen haben -, alle diese Länder zu einem vereinigten
Europa zusammenzuschließen
({7})
und zu helfen, dass sie dieselbe Entwicklung nehmen, wie
wir sie, ökonomisch gesehen, erfahren haben. Das ist unser Zukunftsbeitrag, den wir - ich hoffe, das bleibt auch
so - gerne leisten wollen. Ich wiederhole es: Reparationen
haben keine Zukunft. Es wird von Deutschland aus keine
Debatten darüber geben. Dazu werden wir nicht mehr die
Hand reichen.
({8})
Eine humanitäre Geste aber musste von uns ausgehen das ist die Errichtung dieser Stiftung -, wenigstens heute,
wenn dies schon in den vergangenen Jahren nicht geleistet worden ist. Die Stiftung kann auch unmittelbar tätig
werden. Dies setzt allerdings voraus, dass alle, die an dem
Tisch gesessen haben, an dem Graf Lambsdorff für uns
die Verhandlung führte, ihren Beitrag dazu leisten. Das
sage ich mit Nachdruck gerade angesichts der Sammelklagen in den Vereinigten Staaten und denen, die noch angedroht werden.
Ich unterstreiche ausdrücklich, dass es im Rahmen dieser Stiftung möglich sein wird - das ist die Position der
Bundesregierung -, alle gerecht zu behandeln. Das bezieht sich auch auf diejenigen, die nicht am Verhandlungstisch gesessen haben. Wir sollten auch so schnell wie
irgend möglich mit den Auszahlungen beginnen; denn die
Menschen sind alt. Graf Lambsdorff hat darauf hingewiesen, wie viele Menschen sozusagen wegsterben. Wenigstens unsere Geste sollte diese Menschen noch erreichen
und etwas versöhnen.
({9})
Deswegen sind wir an einer schnellen Auszahlung interessiert.
Lassen Sie mich noch eines sagen: Es ist ein gutes Zeichen, dass alle Fraktionen bzw. fast alle Mitglieder des
Deutschen Bundestages zustimmen. Das symbolisiert unsere ausgestreckte Hand gegenüber den Opfern. Wir wissen, dass dies keinen Schlussstrich darstellt. Es ist vielmehr die Verpflichtung, für alle Zukunft dafür zu sorgen,
in unserem Lande und überall, dass Menschen als Menschen behandelt werden und nicht so, wie wir es in den
zwölf Jahren von 1933 bis 1945 - dies hatte auch große
Nachwirkungen - erlebt haben.
Herzlichen Dank für Ihre Zustimmung.
({10})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der SPD, der CDU/CSU, des Bündnisses 90/Die
Grünen, der F.D.P. und der PDS sowie der Bundesregie-
rung eingebrachten Gesetzentwurf zur Errichtung einer
Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“,
Drucksachen 14/3206, 14/3459 und 14/3758. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas-
sung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Die Fraktionen der SPD und des
Bündnisses 90/Die Grünen verlangen namentliche Ab-
stimmung. Ich bitte also die Schriftführerinnen und
Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen.
Bevor ich die Abstimmung eröffne, möchte ich mittei-
len, dass zahlreiche Erklärungen zur Abstimmung zu Pro-
tokoll gegeben worden sind.1) Ich erspare mir die Verle-
sung der Namen, da dies sehr lange dauern würde. Ich
möchte nur noch darauf hinweisen, dass der Kollege
Volker Beck eine schriftliche Erklärung zur Aussprache
abgegeben hat.2)
Sind alle Urnen besetzt? - Dann können wir mit der
Abstimmung beginnen. Ich eröffne die Abstimmung. -
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stim-
me noch nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich
schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das
Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt ge-
geben.3)
Wir setzen die Beratungen fort und kommen jetzt zur
Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P. und PDS
auf Drucksache 14/3790. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD,
Bündnis 90/Die Grünen, F.D.P. und PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem Titel „Zügige Entschädigung für Zwangsarbeiterinnen und
Zwangsarbeiter und Errichtung einer Bundesstiftung“.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1694 für erledigt zu erklären. Die PDS-Fraktion ist
damit einverstanden. Damit ist dieser Antrag erledigt.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der PDS zur Änderung des Einkommensteuergesetzes auf Drucksache 14/472. Der Finanzausschuss
empfiehlt auf Drucksache 14/3731, den Gesetzentwurf
abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD,
CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und F.D.P. abgelehnt
worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung
die weitere Beratung.
Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf:
Vereinbarte Debatte zur Steuerpolitik
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Kollege
Joachim Poß, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Der Deutsche Bundestag entscheidet heute über eine wichtige Frage des Standorts
Deutschland: über den Fortgang des wirtschaftlichen Aufschwungs, über die weitere Rückführung der Arbeitslosigkeit und über massive Steuerentlastungen für Arbeitnehmer, Wirtschaft und Mittelstand. Ich habe keine Zweifel,
dass der Deutsche Bundestag dem Vermittlungsergebnis
zum Steuersenkungsgesetz mit überzeugender Mehrheit
zustimmen wird.
({0})
- Herr Fromme, mit Ihrer Stimme wird man nicht rechnen
können, aber, ehrlich gesagt, beruhigt mich das eher.
({1})
Alle müssen wissen, dass die Wachstumsaussichten
ohne diese Steuerreform erheblich zurückgeschraubt werden müssen. Das DIW zum Beispiel rechnet für das
nächste Jahr mit einem Wachstum von nur noch 2 Prozent
statt der ursprünglich erwarteten 2,75 Prozent. Bei der
Entscheidung, die wir heute Morgen treffen, geht es ganz
konkret um Arbeitsplätze und neue Chancen für Arbeitslose in Deutschland.
({2})
Das müssen Sie von der Opposition bedenken und wissen. Das müssen die Ministerpräsidenten der Länder am
nächsten Freitag bedenken, wenn sie über dieses Vermittlungsergebnis abstimmen. Das gilt insbesondere für die
unionsgeführten oder von der Union mitregierten Landesregierungen.
({3})
Ich verhehle aber nicht: Das gilt auch für sozialdemokratische Ministerpräsidenten. Es muss bedacht werden, was
hier auf dem Spiel steht.
({4})
1) Anlagen 7-20
2) Anlage 21
3) s. Seite 10773
Sie werden sich in den nächsten acht Tagen entscheiden müssen, ob Sie der totalen Blockadestrategie des
Herrn Merz folgen wollen.
({5})
Denn dann kann die Steuerreform endgültig scheitern.
Die Landesregierungen sollten sich vor Augen führen,
was das bedeutet. Herr Merz behauptet: Kein Gesetz ist
besser als dieses Gesetz. So lautet seine Kernbotschaft.
({6})
Eigentlich können die Länder, egal ob SPD- oder
CDU-geführt, diese Botschaft nicht teilen. Sie wissen
nämlich: Verhandlungsgegenstand war zumindest aus
Sicht der CDU/CSU bisher leider nicht unser Steuerreformkonzept, auf dem Spiel stand das politische Prestige
des Fraktionsvorsitzenden Merz.
({7})
Das hat er selbst so gewollt und deshalb war Herr Merz
bisher eine schwere Hypothek für das Vermittlungsverfahren. Es ist eine sehr teure Rehabilitationsmaßnahme,
die hier durchgeführt wird.
({8})
Es ist nicht hinzunehmen, dass sich das negativ auf die
Chancen unserer Republik auswirkt. Die Opposition ist in
dieses Vermittlungsverfahren offensichtlich ohne den Willen zu einer Vermittlung gegangen.
({9})
Das ist das Entscheidende.
({10})
Dagegen sind SPD und Grüne der Union ein großes Stück
entgegengekommen, zum Beispiel beim Spitzensteuersatz, beim Tarif und beim so genannten Optionsmodell.
Das alles soll jetzt wegen des verbissenen Kampfs des
Herrn Merz um sein politisches Profil nicht in Kraft treten?
({11})
Ist es denn nicht so, dass es mittlerweile in der Union hinter vorgehaltener Hand heißt: „Kein Merz ist besser als
dieser Merz“?
({12})
Das Steuersenkungsgesetz sieht Steuerentlastungen
für alle vor: Arbeitnehmer, Mittelstand und Großunternehmen. Es begünstigt Arbeiter, Angestellte, Freiberufler,
kleine, mittlere und große Personenunternehmen sowie
Kapitalgesellschaften. Die Steuerentlastungen sind massiv. Das Steuersenkungsgesetz hat nach dem Ergebnis des
Vermittlungsverfahrens ein Entlastungsvolumen von rund
50 Milliarden DM. Was ist das für eine Logik, Herr Merz:
Keine Entlastung ist besser als diese Entlastung von
50 Milliarden DM?
Darum geht es: Wollen Sie den Menschen wirklich
weismachen, dass das geltende Vollanrechnungsverfahren bei der Körperschaftsteuer es wert ist, auf diese Steuerentlastung verzichten zu müssen? Ein Lediger mit einem Einkommen in Höhe von 70 000 DM muss im Jahre
2005 - das wird voraussichtlich das Durchschnittseinkommen sein - 2 640 DM weniger und ein Verheirateter
muss 3 316 DM weniger im Jahr zahlen. Darauf sollen die
Steuerzahler wegen dieses durchsichtigen Spiels, das auf
der rechten Seite des Hauses gespielt wird, verzichten?
Das kann doch wohl nicht wahr sein!
({13})
Ich will hier nicht in den Streit über das Für und Wider
des Vollanrechnungsverfahrens und des von uns vorgeschlagenen Halbeinkünfteverfahrens einsteigen. Aber
eines sollten die Menschen wissen: Den Systemwechsel
zum Halbeinkünfteverfahren hat eine Kommission vorgeschlagen, die mit Wissenschaftlern, Steuerexperten von
Wirtschaft und Gewerkschaften, Verbänden, mit Rechtsanwälten und Praktikern der Finanzverwaltung besetzt
war, also mit Leuten, die wissen, wovon sie sprechen, weil
sie aus der Praxis kommen.
({14})
Wenn Herr Merz sich auf Professoren stützt,
({15})
- natürlich wissen die etwas; ich stelle deren Autorität gar
nicht infrage; selbstverständlich gibt es Argumente für das
Vollanrechnungsverfahren; dies haben wir auch in der
Diskussion im Vermittlungsausschuss nicht infrage gestellt -,
({16})
denen zur fehlenden Europatauglichkeit des Vollanrechnungsverfahrens nur einfällt, dass man ja über alle betroffenen Doppelbesteuerungsabkommen neu verhandeln
kann, darf man sich nicht wundern, wenn sich alle über
Merz wundern.
({17})
Dies gilt umso mehr, als Herr Merz am 15. Februar 2000, damals noch als stellvertretender Fraktionsvorsitzender, der „FAZ“ gesagt hat, man könne über einen
Ersatz des derzeit geltenden Vollanrechnungsverfahrens
sprechen. Die Union sei hier nicht für alle Tage festgelegt. Welch eine Formulierung! Das heißt, man hat sich auf
diese Frage möglicherweise nur bis zum 14. Februar festgelegt und dann wird man weitersehen. Man kann im
Zweifel für alles auf ein Zitat zurückgreifen. Welch ein fatales Spiel, meine Damen und Herren!
({18})
Herr Merz, Sie sollten sich wieder an das erinnern, was
Sie als stellvertretender Fraktionsvorsitzender gesagt haben. Ist es nicht höchste Zeit, dass Sie Ihre vorgeschobenen Argumente, dass es um einen Systemwechsel oder um
die angeblich fehlende Gleichmäßigkeit der Besteuerung
gehe, beiseite räumen und sich dem Kern nähern? Zu unserem Konzept gibt es nämlich keine vernünftige und vor
allen Dingen finanzierbare Alternative.
({19})
Mit unserem Kompromissangebot im Vermittlungsverfahren haben wir die bereits im Gesetzentwurf vorgesehene Steuerentlastung um weitere 5 Milliarden DM ausgeweitet. Dies können wir mit Blick auf die Haushalte des
Bundes und der Länder noch verantworten, weil wir unser Konsolidierungsziel, im Jahre 2006 ohne Neuverschuldung auszukommen, damit noch darstellen und auch
die Länder damit noch verfassungsmäßige Haushalte verabschieden können. Wir halten an unseren Leitplanken
fest: Haushaltssanierung auf der einen und Steuerentlastung auf der anderen Seite.
({20})
Das sind die Markenzeichen dieser Koalition: Nachhaltigkeit der Finanzpolitik und Generationengerechtigkeit.
Dies spiegelt sich auch in unserem Kompromissvorschlag
im Vermittlungsverfahren wider.
Dagegen sind Ihre Vorschläge - was alle wissen - nicht
finanzierbar.
({21})
Dies hat Herr Merz in einem Interview mit der „Financial
Times“ am 20. Juni zugegeben; sehr zum Ärger der CSU
und von Herrn Faltlhauser. Herr Merz, warum wollen Sie
plötzlich keinen Spitzensteuersatz von 35 Prozent mehr?
Dies ist doch Gegenstand Ihres Konzeptes. Glauben Sie,
die Bürger nehmen solche Zickzackerklärungen eines
Fraktionsvorsitzenden noch ernst? Sie wussten doch, dass
ein Spitzensteuersatz von 35 Prozent nur zu finanzieren
ist - darüber gibt es zig Äußerungen -, wenn zum Beispiel
die Steuerfreiheit von Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeitszuschlägen abgeschafft wird. Nur unter solchen Umständen ist das möglich. Da sage ich Ihnen für die Sozialdemokraten: Mit der SPD wird es keine Absenkung des
Spitzensteuersatzes zulasten von Krankenschwestern,
Facharbeitern, Handwerksgesellen und anderen Arbeitnehmern geben.
({22})
Dabei kennen wir die steuersystematischen Argumente
und wissen auch, dass der Ball eigentlich ins Feld der Tarifparteien gehört.
({23})
Aber so kann man eine Praxis, die sich in 50 Jahren eingeschliffen hat und deren Änderung auch während Ihrer
Regierungsverantwortung, Herr Gerhardt, nur zaghaft angepackt wurde, leider nicht ändern. Eines muss klar sein:
Eine Krankenschwester muss zu den Gewinnern der Steuerreform gehören und darf am Ende nicht dafür bluten,
dass Sie, Herr Gerhardt, hier wahnsinnige, unfinanzierbare Tarife vorschlagen. Das ist doch der Punkt.
({24})
- Die profitiert auch von den Tarifsenkungen, Herr
Gerhardt. Schauen Sie einmal nach. Möglicherweise gebricht es Ihnen auch an dieser Stelle wieder an Sachverstand.
({25})
Auch die größte Oppositionspartei im Bundestag hat
neben ihrer Rolle, die Regierung zu kontrollieren, eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Herr Merz und alle anderen, Sie sind doch auch Ihren Wählerinnen und
Wählern verpflichtet - und die wollen jetzt auch entlastet
werden, ob sie Mittelständler sind oder Arbeitnehmer.
({26})
Wir haben eine Entscheidungsgrundlage geschaffen, in
der sich nicht nur die Vorstellungen der Sozialdemokraten
und der Grünen wiederfinden, sondern auch Ihre Vorstellungen.
({27})
Das jetzt vorliegende Gesetz ist für uns, für Sie und für die
Bundesländer akzeptabel. Es ist ein Gesetz, das die Wirtschaft jetzt braucht. Es ist ein Gesetz, auf das die Arbeitnehmer nicht länger warten wollen. Wer sagt: „Lieber
kein Gesetz als dieses Gesetz“, der will das Scheitern der
Reform.
({28})
Ich bin aber zuversichtlich, dass wir heute und auch in
der nächsten Woche, am 14. Juli, eine Mehrheit für die politische Vernunft und die Interessen aller Steuerzahler erreichen, eine Mehrheit für mehr Arbeitsplätze und den
Abbau der Arbeitslosigkeit.
({29})
Bevor ich den
nächsten Redner aufrufe, gebe ich Ihnen das von den
Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Entwurf
eines Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung,
Verantwortung und Zukunft“ bekannt. Abgegebene Stimmen 620. Mit Ja haben gestimmt 556, mit Nein haben gestimmt 42, Enthaltungen gab es 22.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 620
ja: 556
nein: 42
enthalten: 22
Ja
SPD
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({0})
Klaus Barthel ({1})
Ingrid Becker-Inglau
Wolfgang Behrendt
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Friedhelm Julius Beucher
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({2})
Kurt Bodewig
Klaus Brandner
Anni Brandt-Elsweier
Willi Brase
Dr. Eberhard Brecht
Rainer Brinkmann ({3})
Bernhard Brinkmann
({4})
Hans-Günter Bruckmann
Ursula Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Büttner ({5})
Marion Caspers-Merk
Wolf-Michael Catenhusen
Dr. Peter Danckert
Christel Deichmann
Karl Diller
Rudolf Dreßler
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Marga Elser
Peter Enders
Gernot Erler
Annette Faße
Lothar Fischer ({6})
Gabriele Fograscher
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({7})
Harald Friese
Anke Fuchs ({8})
Arne Fuhrmann
Prof. Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Günter Graf ({9})
Angelika Graf ({10})
Dieter Grasedieck
Kerstin Griese
Karl Hermann Haack
({11})
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Christel Hanewinckel
Alfred Hartenbach
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller ({12})
Gerd Höfer
Jelena Hoffmann ({13})
Walter Hoffmann
({14})
Iris Hoffmann ({15})
Frank Hofmann ({16})
Ingrid Holzhüter
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Barbara Imhof
Brunhilde Irber
Gabriele Iwersen
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Prof. Dr. Uwe Jens
Volker Jung ({17})
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Sabine Kaspereit
Susanne Kastner
Klaus Kirschner
Marianne Klappert
Siegrun Klemmer
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Brigitte Lange
Christian Lange ({18})
Detlev von Larcher
Waltraud Lehn
Robert Leidinger
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({19})
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß ({20})
Winfried Mante
Dirk Manzewski
Tobias Marhold
Lothar Mark
Christoph Matschie
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Prof. Dr. Jürgen Meyer
({21})
Ursula Mogg
Siegmar Mosdorf
Michael Müller ({22})
Jutta Müller ({23})
Christian Müller ({24})
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Volker Neumann ({25})
Gerhard Neumann ({26})
Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Eckhard Ohl
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Prof. Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein
Johannes Pflug
Prof. Dr. Eckhart Pick
Karin Rehbock-Zureich
Dr. Carola Reimann
Renate Rennebach
Dr. Edelbert Richter
Reinhold Robbe
Gudrun Roos
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({27})
Birgit Roth ({28})
Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Dieter Schloten
({29})
Ulla Schmidt ({30})
Silvia Schmidt ({31})
Dagmar Schmidt ({32})
Wilhelm Schmidt ({33})
Heinz Schmitt ({34})
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Ottmar Schreiner
Gerhard Schröder
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Richard Schuhmann
({35})
Brigitte Schulte ({36})
({37})
Volkmar Schultz ({38})
Ewald Schurer
Dr. R. Werner Schuster
Dietmar Schütz ({39})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie
Sonntag-Wolgast
Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Ludwig Stiegler
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl ({40})
Dr. Peter Struck
Joachim Stünker
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Simone Violka
Ute Vogt ({41})
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({42})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Jochen Welt
Dr. Rainer Wend
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Helmut Wieczorek
({43})
Jürgen Wieczorek ({44})
Dieter Wiefelspütz
Heino Wiese ({45})
Brigitte Wimmer ({46})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Hanna Wolf ({47})
Waltraud Wolff ({48})
Heidemarie Wright
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Otto Bernhardt
Dr. Joseph-Theodor Blank
Renate Blank
Dr. Heribert Blens
Friedrich Bohl
Dr. Maria Böhmer
Jochen Borchert
Dr. Wolfgang Bötsch
Dr. Ralf Brauksiepe
Paul Breuer
Cajus Caesar
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Renate Diemers
Thomas Dörflinger
Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({49})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({50})
({51})
Dr. Hans-Peter Friedrich
({52})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Dr. Heiner Geißler
Michael Glos
Dr. Reinhard Göhner
Peter Götz
Kurt-Dieter Grill
Hermann Gröhe
Manfred Grund
Gottfried Haschke
({53})
Norbert Hauser ({54})
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Manfred Heise
Siegfried Helias
Hans Jochen Henke
Peter Hintze
Klaus Hofbauer
Klaus Holetschek
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Bartholomäus Kalb
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Thomas Kossendey
Dr. Martina Krogmann
Dr.-Ing. Paul Krüger
Dr. Hermann Kues
Karl Lamers
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Dr. Paul Laufs
Werner Lensing
Ursula Lietz
Walter Link ({55})
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
({56})
({57})
Dr. Michael Luther
Erich Maaß ({58})
Erwin Marschewski
({59})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Hans Michelbach
Meinolf Michels
Bernward Müller ({60})
Bernd Neumann ({61})
Claudia Nolte
Günter Nooke
Friedhelm Ost
Eduard Oswald
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Ruprecht Polenz
Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Christa Reichard ({62})
Katherina Reiche
Erika Reinhardt
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Hannelore Rönsch
({63})
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Dr. Klaus Rose
Adolf Roth ({64})
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Heinz Schemken
Karl-Heinz Scherhag
Gerhard Scheu
Dietmar Schlee
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({65})
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({66})
Andreas Schmidt ({67})
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Erika Schuchardt
Wolfgang Schulhoff
Diethard Schütze ({68})
Dr. Christian SchwarzSchilling
Horst Seehofer
Rudolf Seiters
Bernd Siebert
Werner Siemann
Wolfgang Steiger
Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Andreas Storm
Dorothea Störr-Ritter
Thomas Strobl ({69})
Michael Stübgen
Edeltraut Töpfer
Gunnar Uldall
Andrea Voßhoff
Peter Weiß ({70})
Gerald Weiß ({71})
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({72})
Matthias Wissmann
Dagmar Wöhrl
Aribert Wolf
Elke Wülfing
Wolfgang Zeitlmann
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gila Altmann ({73})
Marieluise Beck ({74})
Volker Beck ({75})
Angelika Beer
Grietje Bettin
Annelie Buntenbach
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer ({76})
Katrin Dagmar GöringEckardt
Antje Hermenau
Ulrike Höfken
Michaele Hustedt
Monika Knoche
Steffi Lemke
Dr. Helmut Lippelt
Oswald Metzger
Kerstin Müller ({77})
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Cem Özdemir
Simone Probst
Claudia Roth ({78})
Christine Scheel
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({79})
Werner Schulz ({80})
Christian Sterzing
Hans-Christian Ströbele
Jürgen Trittin
Dr. Ludger Volmer
Sylvia Voß
Helmut Wilhelm ({81})
Margareta Wolf ({82})
F.D.P.
Ina Albowitz
Hildebrecht Braun
({83})
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Gisela Frick
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({84})
Rainer Funke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Joachim Günther ({85})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Der Gesetzentwurf ist damit mit der großen Mehrheit
des Hauses angenommen worden.
({86})
Wir fahren jetzt in der Debatte fort. Als Nächste hat die
Abgeordnete Gerda Hasselfeldt das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Es gibt in diesem Haus eine
breite Übereinstimmung darüber, dass wir eine Steuerreform brauchen. Es gibt auch eine breite Übereinstimmung
darüber, dass wir eine solche wollen.
({0})
Ihr ständiges Gerede, Herr Poß, von einer Blockade ist,
mit Verlaub gesagt, nichts als leeres Gequatsche ohne jegliche Grundlage.
({1})
Das Wort „Blockade“ war in der letzten Legislaturperiode angebracht. Sie haben damals nicht einmal einen eigenen Entwurf vorgelegt. Wir sind in diese AuseinanderDr. Helmut Haussmann
Ulrich Heinrich
Walter Hirche
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Ulrich Irmer
Dr. Klaus Kinkel
Dr. Heinrich Leonhard Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Günther Friedrich Nolting
Hans-Joachim Otto
({2})
Cornelia Pieper
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Gerhard Schüßler
Dr. Hermann Otto Solms
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
PDS
Dr. Dietmar Bartsch
Maritta Böttcher
Heidemarie Ehlert
Dr. Heinrich Fink
Wolfgang Gehrcke
Dr. Klaus Grehn
Uwe Hiksch
Sabine Jünger
Gerhard Jüttemann
Dr. Evelyn Kenzler
Rolf Kutzmutz
Ursula Lötzer
Dr. Christa Luft
Heidemarie Lüth
Angela Marquardt
Kersten Naumann
Rosel Neuhäuser
Christine Ostrowski
Dr. Uwe-Jens Rössel
Gustav-Adolf Schur
Dr. Ilja Seifert
Nein
CDU/CSU
Dietrich Austermann
Peter Bleser
Sylvia Bonitz
Wolfgang Börnsen
({3})
Klaus Brähmig
Georg Brunnhuber
Leo Dautzenberg
Albrecht Feibel
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Georg Girisch
Dr. Wolfgang Götzer
Horst Günther ({4})
Ernst Hinsken
Martin Hohmann
Josef Hollerith
Siegfried Hornung
Susanne Jaffke
Steffen Kampeter
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Volker Kauder
Peter Letzgus
Julius Louven
Elmar Müller ({5})
Franz Obermeier
Kurt J. Rossmanith
Anita Schäfer
Norbert Schindler
Michael von Schmude
Clemens Schwalbe
Wilhelm-Josef Sebastian
Carl-Dieter Spranger
Max Straubinger
Hans-Otto Wilhelm ({6})
Klaus-Peter Willsch
Werner Wittlich
Peter Kurt Würzbach
Benno Zierer
Wolfgang Zöller
Enthalten
CDU/CSU
Klaus Bühler ({7})
Hartmut Büttner
({8})
Dankward Buwitt
Manfred Carstens ({9})
Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Rudolf Kraus
Dr. Karl A. Lamers ({10})
Dr. Manfred Lischewski
Dr. Martin Mayer ({11})
Dr. Gerd Müller
Norbert Otto ({12})
Dr. Rupert Scholz
Margarete Späte
Arnold Vaatz
F.D.P.
Marita Sehn
PDS
Eva-Maria Bulling-Schröter
Christina Schenk
Dr. Winfried Wolf
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete
Adler, Brigitte Bierling, Hans-Dirk Grießhaber, Rita BÜNDNIS 90/DIE
SPD CDU/CSU GRÜNEN
Moosbauer, Christoph Raidel, Hans Dr. Süssmuth, Rita
SPD CDU/CSU CDU/CSU
Prof. Weisskirchen, Gert ({13}) Wimmer, Willy ({14}) Zapf, Uta
SPD CDU/CSU SPD
setzung mit einem eigenen, ausformulierten, konkret
durchgerechneten Entwurf gegangen.
({15})
Wir haben die Verhandlungen in den letzten Monaten im
Finanzausschuss konstruktiv geführt. Wir haben im Vermittlungsausschuss auf die Defizite, auf die Schwachstellen hingewiesen.
({16})
Wir haben deutlich auf den falschen Grundansatz hingewiesen. Aber auf all diese Argumente sind Sie nicht eingegangen.
({17})
Dann können Sie von uns nicht erwarten, dass wir sehenden Auges einen falschen politischen Weg mitgehen,
({18})
dass wir sehenden Auges eine falsche politische Weichenstellung mittragen. Genau diese ist in diesem Gesetzentwurf vorhanden.
({19})
Auch in Ihren geänderten Vorschlägen ist der Grundansatz nach wie vor falsch und die Entlastungswirkung
insbesondere für die Personenunternehmen und für die
Arbeitnehmer unzureichend.
({20})
Die Konsequenzen, die dadurch zu verzeichnen sind, sind
unsozial und ungerecht.
Lieber Herr Poß, ich stimme mit Ihnen überein: Auch
die Krankenschwestern müssen zu den Gewinnerinnen
dieser Reform zählen.
({21})
Aber sie zählen eben nicht dazu, weil Sie die Arbeitnehmer letztlich ganz außen vor lassen.
({22})
Die Besteuerung der Sonntags- und Nachtzuschläge spielt
da überhaupt keine Rolle. Ich komme gleich noch darauf
zu sprechen. Der Grundansatz ist falsch.
Ich sage Ihnen noch etwas zum Systemwechsel. Sie
tun ja so, als wäre das Ganze etwas Neues gewesen und
als wäre es eine Alleinveranstaltung unseres Fraktionsvorsitzenden.
({23})
Wissen Sie, es ist nicht unser Problem, dass wir einen
Fraktionsvorsitzenden haben, der von der Steuerpolitik
etwas versteht. Das ist Ihr Problem.
({24})
Wir haben von Anfang an auf die Konsequenzen dieser
Systemumstellung - sie ist falsch - hingewiesen, nämlich
als da sind: erstens die Bevorzugung der Unternehmen
und Benachteiligung der Unternehmer - es ist schon bezeichnend, dass man überhaupt zwischen Unternehmen
und Unternehmer trennt -; zweitens die Bevorzugung der
Kapitalgesellschaften gegenüber den Personenunternehmen und den Arbeitnehmern; drittens die Bevorzugung
der einbehaltenen Gewinne gegenüber den ausgeschütteten Gewinnen und viertens, nicht zu vernachlässigen, die
Benachteiligung der Kleinaktionäre durch die Umstellung
des Systems.
({25})
Das sind nur die wichtigsten Konsequenzen.
Wir haben von Anfang an deutlich gemacht, dass unsere Alternative dagegen die Beibehaltung des bewährten
Anrechnungssystems und die Senkung aller Steuersätze
sowohl im Körperschaftsteuerbereich als auch im Einkommensteuerbereich beinhaltet. Wir haben von Anfang
an darauf hingewiesen, dass die Gerechtigkeit und die
Gleichmäßigkeit der Besteuerung sowie die gerechte Entlastung aller Steuerpflichtigen Ziel dieser Reform sein
müssen.
({26})
Sie heben immer auf die 25 Prozent bei den Kapitalgesellschaften und die 43 Prozent Spitzensteuersatz bei den
Personenunternehmen ab. Ich will darauf hinweisen, dass
wir, bezogen auf das Jahr 2001, nicht über 43 Prozent reden. Vielmehr reden wir bei dem Vorschlag der Regierung
im Jahr 2001 über folgende Situation: Körperschaftsteuersatz 25 Prozent, Spitzensteuersatz bei den Personenunternehmen und den Arbeitnehmern nicht 43 Prozent, sondern 48,5 Prozent. Das ist der treffende Vergleich.
Wenn Sie etwa einen Bäckermeister und seine Familie
mit einer Spitzenbelastung von 48,5 Prozent belasten und
eine Backfabrik als GmbH mit einer Spitzenbelastung
von 25 Prozent, dann stimmt da irgendetwas nicht.
({27})
Ich weiß sehr wohl zwischen dem Grenzsteuersatz und
dem Durchschnittsteuersatz zu unterscheiden; das können
Sie mir abnehmen. Sie müssen dabei berücksichtigen,
dass beim Grenzsteuersatz, bei dieser 48,5-prozentigen
Belastung, jede zusätzlich verdiente Mark ab einer gewissen Größenordnung mit diesem hohen Grenzsteuersatz zu versteuern ist.
({28})
Sie müssen bei diesem Beispiel des Bäckermeisters
berücksichtigen, dass er von seinem gesamten Gewinn
auch noch seine Familie ernähren muss, den Lebensunterhalt zu bestreiten hat und nicht alles im Unternehmen
belassen werden kann.
({29})
Sie behaupten, die Systemumstellung sei notwendig
wegen der so genannten Europatauglichkeit. Jetzt will ich
Ihnen einmal sagen, was Sie dabei ändern.
({30})
Für den ausländischen Investor, der an einem inländischen Unternehmen beteiligt ist, ändert sich überhaupt
nichts.
({31})
Da ist nämlich nur ausschlaggebend, wie hoch der Ausschüttungssatz ist. Er kann weder in dem einen noch in
dem anderen Verfahren etwas anrechnen. Für den inländischen Investor, für den deutschen Bürger, der an einem
ausländischen Unternehmen beteiligt ist, ist das neue Verfahren in der Tat besser. Für den deutschen Bürger, der
eine inländische Beteiligung hat, ist das neue Verfahren
besser, wenn er in der oberen Einkommensklasse ist, und
schlechter, wenn er in der unteren Einkommensklasse ist.
({32})
Wenn man dies vergleicht, muss man sich die Frage stellen: Wo bleibt denn da die Gerechtigkeit,
({33})
wo bleibt das von Ihnen verfolgte Ziel, die Arbeitsplätze
im Inland in den Vordergrund der Bemühungen zu stellen?
Ich denke, dass eine Steuerreform folgende Ziele verfolgen muss: Sie muss erstens eine gerechte Besteuerung
gewährleisten und zweitens zur Schaffung von Arbeitsplätzen im Inland beitragen. Genau diese beiden Ziele
verfolgen Sie mit Ihren Vorschlägen nicht.
({34})
Was ist an Ihrem Entwurf zu verbessern? Sie haben einen Kompromissvorschlag vorgelegt, der eine Tarifänderung bei der Einkommensteuer ab dem Jahr 2005 vorsieht.
Wenn wir von einer Senkung des Spitzensteuersatzes auf
43 Prozent reden, reden wir vom Jahr 2005 - das ist viel
zu spät! Für die Jahre 2001 bis 2004 planen Sie Verschlechterungen. Wenn Sie die Tabellen vergleichen, wird
deutlich, dass die Steuerpflichtigen in den Jahren 2001 bis
2004 gegenüber dem Gesetzentwurf, den Sie im Bundestag beschlossen haben, noch weniger entlastet werden,
nämlich um 15 Milliarden DM weniger in diesen Jahren.
({35})
Das Optionsmodell ist nun vom Tisch. Sie sagen nun:
Das wollt ihr doch immer. - Wir haben das Optionsmodell - zu Recht - immer kritisiert. Aber wir haben es nie
isoliert kritisiert, sondern immer gesagt: Das Modell muss
weg, weil es eine Krücke ist, um die Ungleichbehandlung
zwischen Kapitalgesellschaften und Personenunternehmen zu umschiffen. Sie müssen die Wurzel des Übels
bekämpfen. Die Wurzel des Übels ist eben diese Ungleichbehandlung und nicht allein das Optionsmodell.
({36})
Sie haben eine zweite Änderung vorgesehen, nämlich
die Änderung bei der Gewerbesteueranrechnung. Das
ist keine Verbesserung, sondern eine Verschlechterung für
den Mittelstand. Diese trifft den Mittelstand nicht erst ab
dem Jahr 2005, sondern sie greift bereits im Jahre 2001.
({37})
Sie haben somit die leichten Verbesserungen im Tarif, die
ich durchaus anerkenne, erst ab dem Jahr 2005 vorgesehen, während Sie alles Negative in Ihrem Kompromissvorschlag bereits für die Jahre 2001 bis 2004 zur Anwendung bringen wollen. Dass wir einem solchen Vorschlag
nicht zustimmen können, sollte ein jeder begreifen, der
sich mit dieser Materie beschäftigt.
({38})
Sie verweisen weiter darauf, Sie hätten eine Mittelstandskomponente eingeführt. Dabei anerkenne ich ausdrücklich, dass Sie von Ihrem Vorhaben, die Ansparabschreibungen und die Sonderabschreibungen nicht mehr
zuzulassen, abgegangen sind und auch beim Mitunternehmererlass etwas korrigieren wollen. Ich muss Ihnen
aber vorhalten, dass Sie nicht vollständig korrigieren. Für
den Mittelstand besteht nach wie vor das ungelöste Problem - das Sie mit dem Steuerentlastungsgesetz erst geschaffen haben -,wie mit den Veräußerungsgewinnen bei
Betriebsaufgabe umgegangen wird. Dieses Problem muss
in einem Reformkonzept mit gelöst werden.
({39})
Wir wollen eine Reform, aber wir wollen eine gute Reform. Wir wollen eine Reform, die wir alle miteinander
verantworten können. Wir wollen eine Reform, die alle
Steuerpflichtigen entlastet und gerecht ist. Wir wollen
eine Reform, die zum 1. Januar 2001 in Kraft tritt. Darum
müssen wir in den nächsten Wochen ernsthaft ringen, nicht so oberflächlich, wie Sie es gemacht haben. Es geht
nicht darum, Zeitdruck zu erzeugen, sondern darum, eine
inhaltlich saubere und gute Reform für die Bürger dieses
Landes zu machen.
({40})
Das Wort hat
jetzt die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Kerstin Müller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Merz, das, was Sie in den vergangenen Tagen und auch im
Vermittlungsausschuss gemacht haben, kann man meines
Erachtens nicht mehr mit Anfangsfehlern erklären. Sie
wissen doch selbst, dass Sie mit dem störrischen Beharren, die Steuerreform wegen des Verfahrens der Besteuerung von Dividenden, der so genannten Systemfrage, zu blockieren, keinerlei Rückhalt in der Bevölkerung haben. Die Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande
verstehen nicht, worum es geht. Fragen Sie einmal die
Menschen auf der Straße, was sich hinter dem Begriff
Systemfrage verbirgt.
({0})
Diejenigen, die aus ihrer täglichen Praxis wissen,
worum es geht, raten Ihnen dringend, Ihren Widerstand
aufzugeben. Zuletzt hat Sie gestern der Bundesverband
deutscher Banken nachdrücklich aufgefordert, unserem
Vorschlag zuzustimmen, meine Damen und Herren.
({1})
- Soll ich es zitieren?
({2})
- Hören Sie einmal zu! Vielleicht können Sie sich dann
wieder ein bisschen beruhigen.
Sie haben die so genannte Systemfrage nur deshalb in
den Mittelpunkt gestellt, weil Sie fürchten, dass Sie, sobald es um die inhaltliche Debatte geht, Ihr eigenes Lager,
die B-Länder, die CDU- und CSU-geführten Länder, nicht
mehr zusammenhalten können. Die Länder brauchen eine
Steuerreform, die die Länderhaushalte verkraften können.
({3})
Die Vorschläge, die Sie gemacht haben, sind nicht finanzierbar. Deshalb haben Sie jede konstruktive Debatte
über wichtige Einzelfragen der Steuerreform konsequent
torpediert. Erst haben Sie sich geweigert, überhaupt eine
Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses einzurichten,
dann haben wir von Ihnen in fünf Sitzungen des Vermittlungsausschusses nicht einen einzigen inhaltlichen Kompromissvorschlag gehört. Bis heute sind Sie nicht in der
Lage, zu den zentralen Fragen der im Vermittlungsausschuss vorgelegten Steuerreform Stellung zu beziehen.
Auch heute hat Frau Hasselfeldt hierzu nichts gesagt. Wie
hoch soll nach Auffassung der Union die Gesamtentlastung von Bürgern und Wirtschaft ausfallen? Welchen
Spitzensteuersatz, der auch finanzierbar ist, wollen Sie?
Mit welchen konkreten Maßnahmen wollen Sie den Mittelstand tatsächlich entlasten? Vor allen Dingen: Wie wollen Sie sicherstellen, dass die Reform von Bund, Ländern
und Kommunen auch dauerhaft finanzierbar ist? Auf all
diese Fragen sind Sie bis heute die Antwort schuldig geblieben.
Herr Stoiber und Herr Teufel wollen Geld verschenken, das die Ministerpräsidenten Müller, Biedenkopf und
Vogel nicht haben. Die Landesregierungen von Saarland,
Sachsen und Thüringen hoffen doch insgeheim, dass sich
die Bundesregierung mit ihrem Konzept durchsetzt.
({4})
Und noch mehr gilt das für die Länder Brandenburg, Bremen und Berlin. In deren Haushalten ist doch jetzt schon
„Land unter“ angesagt. Wie sollen diese Länder weitere
Steuerausfälle finanzieren, meine Damen und Herren?
({5})
Inzwischen merkt es doch auch der Letzte: Sie verstecken sich hinter der Frage des Halbeinkünfteverfahrens, um zu vertuschen, dass es bei Ihnen drunter und drüber geht und dass Sie in Ihrem Lager bei diesen Fragen
keine Einigung finden.
({6})
Wir dagegen haben gemeinsam mit den SPD-geführten
Ländern einen Kompromissvorschlag vorgelegt. Dabei
sind wir Ihnen, meine Damen und Herren von der Opposition, weit entgegengekommen. Rot-Grün macht den
Menschen und der Wirtschaft ein hervorragendes Angebot. Wir sorgen dafür, dass alle Steuerzahler nachhaltig
entlastet werden. Insgesamt bringt die Steuerreform bis
zum Jahre 2005 eine Entlastung von rund 56 Milliarden
DM. Davon kommen drei Viertel den Privathaushalten
und den kleinen und mittleren Unternehmen zugute. Wir
senken schrittweise den Eingangsteuersatz, der 1998 noch
bei 25,9 Prozent gelegen hat, in den nächsten vier Jahren
auf 15 Prozent. Zusätzlich erhöhen wir den Grundfreibetrag. Wir senken den Spitzensteuersatz von 53 Prozent in
1998 in vier Jahren auf 43 Prozent und wir erhöhen die
Einkommensgrenze, ab der dieser Satz gezahlt werden
muss. Das ist die größte Steuerentlastung in der Geschichte der Bundesrepublik. Diese Steuerentlastung für
die Menschen und die Wirtschaft wollen Sie im Moment
verhindern. Das bringt Schaden für die ökonomische
Entwicklung in der Bundesrepublik.
({7})
Wir entlasten auch und gerade kleine und mittelständische Unternehmen. Diese profitieren von der Reform,
nicht nur im Wege der Senkung der Steuersätze. Sie werden zusätzlich entlastet, weil sie die Gewerbesteuer zur
Hälfte auf die Einkommensteuer anrechnen können und
weil die Anspar- und Sonderabschreibungen nach dem
neuen Vorschlag doch beibehalten werden. Dafür haben
wir Grüne uns von Anfang an besonders stark gemacht.
Das ist für den Mittelstand und für eigenkapitalschwache
Unternehmen in den neuen Ländern ganz besonders wichtig.
({8})
Genau das beschließen wir heute. Damit schaffen wir
die Voraussetzung für mehr Investitionen, für mehr
Arbeitsplätze und für mehr Ausbildungsplätze gerade im
mittelständischen Bereich. Dies ist auch der Motor für
jede weitere wirtschaftliche Entwicklung. Das Land wartet auf diese Reform. Sie ist sozial gerecht und fördert die
Kaufkraft der Haushalte und die Investitionskraft der Unternehmen. Jede weitere Verzögerung hinsichtlich ihrer
Umsetzung schadet dem Standort Deutschland.
({9})
Kerstin Müller ({10})
Unternehmen und Verwaltungen brauchen jetzt Planungssicherheit. Wenn Sie diese Reform weiterhin blockieren das wollen Sie ja tun -, dann machen Sie Politik gegen die
Arbeitslosen und bremsen den weiteren wirtschaftlichen
Aufschwung.
({11})
Ich komme gerne auf Ihr derzeitiges Lieblingsthema
zurück. Sie verkennen mit Ihrer Kritik am Halbeinkünfteverfahren, dass nur das rot-grüne Steuerkonzept eine
Senkung des Körperschaftsteuersatzes auf einheitlich
25 Prozent ermöglicht. Unter Ihrer Verantwortung hatte
Deutschland die höchsten Unternehmensteuersätze weltweit.
({12})
Durch unseren Vorschlag erreichen wir - ohne Einbeziehung der Gewerbesteuer - mit einem Schlag Platz eins im
internationalen Vergleich. Bei Berücksichtigung der Gewerbesteuer liegen wir noch immer im guten Mittelfeld.
Noch eines: Hören Sie endlich auf, das Märchen von
der Ungleichmäßigkeit der Besteuerung zu erzählen! Sie
wissen doch genau, dass es unredlich ist, den reinen Körperschaftsteuersatz ausschließlich mit dem Spitzensteuersatz der Einkommensteuer zu vergleichen. Sie unterschlagen bei diesem Vergleich regelmäßig, dass auch die
Kapitalgesellschaften Gewerbesteuer zahlen. Mit Gewerbesteuer zahlen diese tatsächlich nicht 25 Prozent, sondern im Schnitt nur rund 38 Prozent.
Dagegen erreicht nach unserem Konzept fast kein
Personenunternehmen auch nur annähernd einen Steuersatz von 38 Prozent, geschweige denn den Spitzensteuersatz. Im Gegenteil: Über 95 Prozent der Personenunternehmen liegen weit darunter. Fast 80 Prozent der
Personenunternehmen haben einen Gewinn vor Steuern
von unter 100 000 DM pro Jahr. Die übergroße Mehrheit
dieser Unternehmen zahlt ab 2005 weniger als 20 Prozent
Steuern, inklusive der Gewerbesteuer. Während Ihrer Regierungszeit, meine Damen und Herren von der Opposition, mussten die Personenunternehmen noch über
25 Prozent an Steuern verkraften. Das ist die Wahrheit
über die Steuersätze in diesem Land.
({13})
Ihre Behauptung, wir würden Personenunternehmen mit
unserem Konzept benachteiligen, ist eine freie Erfindung
Ihrer Buchhaltertheorie, Herr Merz, und sonst gar nichts.
({14})
Unser Konzept ist gerecht, praktikabel und überzeugend. Nicht umsonst fordern Wirtschaft, Industrie und
Banken seit Wochen, dass diese Steuerreform nicht verzögert werden und erst recht nicht scheitern darf. So
schrieb zum Beispiel Herr Walter, Chefökonom der Deutschen Bank, am letzten Donnerstag in der „Welt“ - das
möchte ich Ihnen wirklich nicht vorenthalten -:
Das Steuersenkungsgesetz richtet sich eindeutig an
Zielsetzungen aus, die zur langfristigen Sicherung
der Wachstumsperspektive in Deutschland ohne Alternative sind.
Weiter schreibt er:
Wenn die Aufbruchstimmung in Deutschland im
Sommerloch des Jahres 2000 dadurch verschwände,
dass die Union den Reformwillen der Bundesregierung bei Steuern und Rente mit einer reinen, aber destruktiv wirkenden Prinzipiendebatte bricht, statt ihn
mit möglichen Verbesserungen zu stärken, dann hilft
das weder unserem Land noch der CDU/CSU. Freilich wird dann dieses Land zur internationalen Lachnummer.
Das ist die Wahrheit. Dem braucht man nichts hinzuzufügen.
({15})
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Michelbach?
Nein, heute nicht.
Ausgerechnet das, wovor Dr. Norbert Walter warnt,
haben Friedrich Merz und Angela Merkel mit den unionsgeführten Ländern verabredet, gegen jede Vernunft
und gegen den erklärten Willen der deutschen Wirtschaft.
Sie haben sich und die Union damit völlig isoliert.
Auch das Ausland schaut mit Argusaugen auf uns;
denn wenn wir zulassen, dass Sie sich durchsetzen, dann
erhalten ausländische Investoren das Signal, dass sie
künftig einen höheren Steuersatz zahlen müssten. Das
wäre eine schlechte Nachricht, die Sie, meine Damen und
Herren von der Opposition, zu verantworten hätten. Wir,
Grüne und SPD, wollen dagegen ein klares Zeichen setzen. Wir wollen einen einheitlichen Körperschaftsteuersatz von 25 Prozent. Wir wollen ausländisches Kapital für
Deutschland gewinnen. Wir wollen Arbeitsplätze und
Ausbildungsplätze schaffen.
Während Sie sich weiter um die Lehrmeinungen von
einigen Professoren kümmern, sorgen wir für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Wir haben
einen mutigen Kompromissvorschlag vorgelegt, einen
Kompromiss, durch den alle Bürger und die Wirtschaft
spürbar entlastet werden, eine Steuerreform, durch die die
wirtschaftliche Entwicklung gefördert wird und durch die
Arbeitsplätze geschaffen werden.
An dieser Stelle möchte ich auch sagen: Wir sind dabei
an die Grenze dessen gegangen, was die öffentlichen
Haushalte von Bund, Ländern und Kommunen verkraften
können. Wir wollen weiterhin eine seriöse Finanzpolitik
betreiben. Wir wirtschaften nicht auf Kosten künftiger
Generationen, wie Sie es über Jahrzehnte gemacht haben.
Für uns gilt: Steuergerechtigkeit ist nur im Paket mit Generationengerechtigkeit zu haben. Mit uns wird es keine
Steuerreform auf Pump geben. Das ist gegenüber den
künftigen Generationen nicht zu verantworten.
({0})
Aber, meine Damen und Herren, da der Appell an die
Vernunft hier im Bundestag bei Ihnen ins Leere zu gehen
Kerstin Müller ({1})
scheint, lautet mein Appell an die Ministerpräsidenten
von CDU und CSU: Wer jetzt blockiert, der zahlt später
möglicherweise die Zeche. Sie sollten den Interessen Ihrer Länder folgen und sich nicht zum Büttel von CDUPräsidiumsbeschlüssen machen lassen. Das liegt nämlich
nicht im Interesse Ihrer Länder. Ich kann Sie nur auffordern, dem Gesetzentwurf am nächsten Freitag im Bundesrat zuzustimmen. Die Regierungsfraktionen haben in
den vergangenen Wochen unzählige Kompromissangebote gemacht. Wir sind der Opposition weit entgegengekommen. Wenn diese Steuerreform jetzt noch scheitert,
dann tragen Sie die Verantwortung dafür. Kommen Sie
endlich zur Vernunft und geben Sie Ihren Widerstand auf!
Danke schön.
({2})
Jetzt spricht der
Abgeordnete Carl-Ludwig Thiele.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Warum schicken die Grünen eigentlich keinen
steuer- und finanzpolitischen Sachverstand in den Vermittlungsausschuss?
({0})
Warum haben die Grünen in der letzten Wahlperiode die
Blockadepolitik von Oskar Lafontaine unterstützt?
Warum haben sie nicht konstruktiv dazu beigetragen, dass
es schon in der letzten Wahlperiode zu einer Steuerreform
gekommen ist?
({1})
Die Grünen haben in der letzten Legislaturperiode gegen
eine Nettoentlastungslüge polemisiert. Das zeigt ganz
deutlich: Die Grünen wollen mehr Steuern und mehr
Staat. Wir von der F.D.P. wollen hingegen weniger Steuern und weniger Staat.
({2})
Die F.D.P. bedauert, dass das Vermittlungsausschussverfahren zur Steuerreform gescheitert ist. Niemand ist
heute Gewinner; die Bürger und die Steuerzahler sind
Verlierer. Die Bürger erwarten von der Politik nicht nur
Lösungsvorschläge, sondern auch Lösungen. Die F.D.P.
hat schon zu Beginn der vergangenen Wahlperiode als
erste Partei des Deutschen Bundestages eine Steuerreform
mit einem Eingangsteuersatz von 15 Prozent und mit einem Spitzensteuersatz von 35 Prozent, mit einer deutlichen Entlastung der Bürger und der Unternehmen in unserem Lande, vorgelegt. Diese Reform wurde vom gesamten Sachverstand - auch vom Steuersystem her - als
positiv bewertet.
({3})
Diese Reform ist von Rot-Grün blockiert worden. Das
einzig Positive, das wir einräumen können, ist, dass RotGrün inzwischen erkennt, dass wir auch in einem Wettbewerb der Steuersysteme stehen und dass die Steuersätze
gesenkt werden müssen.
In dem Gesetzgebungsverfahren für diese Steuerreform hat die F.D.P. immer erklärt: Die Gleichmäßigkeit
der Besteuerung ist für uns die zentrale Frage; es darf
keine Benachteiligung des Mittelstandes, der Selbstständigen, der Handwerker und auch der Arbeitnehmer in unserem Land gegenüber den Kapitalgesellschaften geben.
({4})
Das ist die Kernforderung der F.D.P., von der wir nicht abrücken werden. Die Bürger erwarten von der Politik und
den Politikern Glaubwürdigkeit. Wenn wir diese verspielen, dann tragen wir selbst zur Parteienverdrossenheit bei.
({5})
Neben den unterschiedlichen Runden, die der Herr
Bundeskanzler nach Gutsherrenart zur Vorbereitung von
Lösungsvorschlägen einberufen hat, gibt es ein überparteiliches Gremium, und zwar den Vermittlungsausschuss.
Er ist in Art. 77 des Grundgesetzes konstituiert. Im Vermittlungsausschuss, wo eine Lösung gefunden werden
soll, ist nicht irgendeine Parteiräson, sondern das Verantwortungsprinzip maßgeblich. Deshalb erwarten wir, dass
spätestens in diesem Gremium die Bedenken und die Kritik der Opposition und der Länder tatsächlich Gehör finden, was vorher überhaupt nicht der Fall war.
({6})
Ich war schon erstaunt darüber, Herr Finanzminister,
wie Sie diese Bedenken in den Beratungen des Vermittlungsausschusses als unbegründet und überhaupt nicht
sachgerecht zur Seite gewischt haben. Herr Finanzminister Eichel, ich sage Ihnen das hier sehr persönlich: Es war
Ihr Fehler, diese Kritik nicht aufzunehmen. Es war Ihr
Fehler, diese Kritik als unwichtig und falsch einzuschätzen. Es war Ihr Fehler, eine Diskussion darüber abzulehnen.
({7})
Deshalb haben Sie selbst, Herr Finanzminister, das Zustandekommen dieser Steuerreform blockiert.
Schon während des Gesetzgebungsverfahrens hat RotGrün gezeigt, dass es an einer Einigung mit der Opposition überhaupt nicht interessiert war:
({8})
Erstens. Die Zahl der Sachverständigen wurde willkürlich entsprechend rot-grüner Vorstellung reduziert, um
unliebsame Kritiker auszuschalten.
({9})
Kerstin Müller ({10})
78 Professoren haben sich hiergegen verwahrt. Ich zitiere
aus ihrer Erklärung:
Nachdem zur Anhörung vor dem Finanzausschuss
Fachvertreter der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre wohlweislich nicht mehr eingeladen wurden,
möchten wir auf diesem Wege versuchen, uns Gehör
zu verschaffen.
Es ist doch ein Armutszeugnis für dieses Parlament, dass
im Vorfeld Kritiker ausgeschaltet werden.
({11})
Zweitens. Der erste Termin des Vermittlungsausschussverfahrens wurde mit Hilfe Ihrer Stimmenmehrheit
so gelegt, dass die Vertreter der F.D.P. nicht daran teilnehmen konnten.
({12})
Das hat es überhaupt noch nicht gegeben. Normalerweise
wird auf Bundesparteitage Rücksicht genommen.
Drittens. Die Tagung des Vermittlungsausschusses am
letzten Freitag wurde parallel zur Debatte über zehn Jahre
Wirtschafts- und Währungsunion in unserem Lande
durchgeführt. Als wir im Vermittlungsausschuss saßen,
hat Ihr Sprecher vor der Tür Papiere verteilt und vor der
Presse erläutert, die wir im Vermittlungsausschuss noch
nicht einmal gesehen hatten.
({13})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wer im Verfahren bei der Behandlung berechtigter Interessen der Opposition zu erkennen gibt, dass ihm diese schnurzegal
sind, wer sich mit seiner Verfahrensmehrheit rücksichtslos über die Opposition hinwegsetzt,
({14})
wer ein unechtes Vermittlungsausschussergebnis vorlegt,
zeigt deutlich, dass ihm an einem Ergebnis in der Sache
gar nicht gelegen ist.
({15})
Sie alle wissen doch selbst, dass das mutwillige Herbeiführen eines unechten Vermittlungsausschussergebnisses ein echtes Vermittlungsausschussergebnis unmöglich
macht. Das war immer so und wird auch bei diesem unechten Vermittlungsausschussergebnis nicht anders sein.
({16})
Noch einmal zur Frage, warum es keine Bewegung gegeben hat: Die Hauptkritik der F.D.P. bleibt weiterhin,
dass die Gleichmäßigkeit der Besteuerung von Kapitalgesellschaften auf der einen Seite und von Personen,
Personengesellschaften, dem Mittelstand und den Arbeitnehmern auf der anderen Seite nicht gegeben ist. Der Mittelstand und die Arbeitnehmer werden bis zum Jahr 2004
deutlich höher belastet als die Kapitalgesellschaften.
({17})
Auch nach dem Jahre 2005 halten Sie diesen Systembruch
weiter aufrecht, denn ein Spitzensteuersatz von 43 Prozent plus Solidarzuschlag steht dann einem Körperschaftsteuersatz von 25 Prozent gegenüber. Das ist nicht
hinnehmbar.
({18})
Hier werden Sie sich noch erheblich bewegen müssen.
Diese Spreizung der Steuersätze widerspricht Art. 3 des
Grundgesetzes und dürfte deshalb verfassungswidrig
sein.
Dieser Verstoß gegen Art. 3 des Grundgesetzes wird
jetzt noch deutlicher, nachdem Sie das Optionsmodell,
das nie funktioniert hätte, gestrichen haben. Damit ist die
Hoffnung vieler Personengesellschaften, sie könnten wie
eine Kapitalgesellschaft steuerlich belastet werden, endgültig geschwunden. Dieses Feigenblatt ist weg. Die Verfassungswidrigkeit wird offensichtlich.
({19})
Das vorgelegte, geänderte Konzept reicht nach unserer
Meinung bei weitem nicht aus:
Erstens. Die Gleichmäßigkeit der Besteuerung ist nicht
gewahrt. Die ideologische Unterscheidung, Unternehmen
müssten entlastet werden, Unternehmer hingegen nicht,
bleibt bestehen. Das ist eine krasse Benachteiligung des
Mittelstandes, der Bürger und der Arbeitnehmer in unserem Lande.
({20})
Zweitens. Bei den Veräußerungsgewinnen wird der
Mittelstand gegenüber den Großunternehmen weiter
deutlich benachteiligt. Die rot-grüne Koalition hat zu Beginn dieser Wahlperiode durch die Abschaffung des halben Steuersatzes den deutschen Mittelstand um ein Viertel seines Vermögens enteignet.
({21})
Das ist die Wahrheit. Auf der anderen Seite sollen aber
Veräußerungsgewinne für Kapitalgesellschaften komplett
steuerfrei gestellt werden. Das kann nicht der richtige
Weg sein. Das ist mittelstandsfeindlich und reine Willkür.
Drittens. Der Kleinaktionär und Kleinanleger wird gegenüber dem Großaktionär drastisch benachteiligt.
Viertens. Die Verschlechterung der Abschreibungsbedingungen und der Abschreibungstabellen wirkt wie eine
Desinvestitionsteuer und wird dafür sorgen, dass der Anreiz für Investitionen, die wir brauchen, um mehr Arbeitsplätze und Beschäftigung in unserem Land zu erreichen,
nicht zum Tragen kommen kann.
Fünftens. Das angebliche Entlastungsvolumen wird
mit diesem Kompromissvorschlag in den Jahren 2001 bis
2004 um 15 Milliarden DM gekürzt. Auf der anderen
Seite - die Steuerreform verfolgt eine Zeitschiene von
2001 bis 2005 - werden die Steuereinnahmen des Staates
bzw. die Steuerbelastung der Bürger und der Wirtschaft
um mehr als 200 Milliarden DM steigen.
({22})
Davon sollen ihnen 45 Milliarden DM als Entlastung
zurückgegeben werden.
({23})
Gleichzeitig wird die Ökosteuer die Bürger mit zusätzlich
35 Milliarden DM belasten. Da wird jeder Bürger fragen:
Wo bleibt die Entlastung? - Sie ist wahrhaftig nicht zu finden.
({24})
Aus Sicht der F.D.P. müssen die Bürger und der Mittelstand deutlich stärker entlastet werden als bisher geplant. Der Spitzensteuersatz muss deutlich unter 40 Prozent liegen. Das Sinken des Spitzensteuersatzes hat
zwangsläufig eine Senkung des Tarifes auch für diejenigen Steuerpflichtigen zur Folge, die den Spitzensteuersatz
nicht zu bezahlen haben. Das ist genau das Ziel, das wir
anstreben.
({25})
Es ist auch unseriös, jeden Tag neue Zahlenspielereien
auf den Tisch zu legen. Deshalb hat die F.D.P. in den vergangenen Wochen nicht täglich neue Modelle auf den
Tisch gelegt. Unser Modell ist bekannt und hat die
Sachverständigen und die Wirtschaft überzeugt. Es
könnte noch heute übernommen werden, wenn Sie ein
bisschen Mut hätten.
({26})
Das Steuersystem, das wir brauchen, benötigt niedrige
Steuersätze, klare Regelungen und die Beachtung steuerlicher Grundsätze. Im Steuerrecht muss es nach Auffassung der F.D.P. bei einer Besteuerung entsprechend der
Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen bleiben. Deshalb
dürfen Unternehmen nicht anders als Unternehmer belastet werden. Wie mein Kollege Solms in einer anderen Debatte in diesem Haus zu dem Thema erklärte, war die Aussage des Bundeskanzlers die wirtschaftspolitisch dümmste Aussage, die ein Bundeskanzler je gemacht hat.
({27})
Kapitalgesellschaften dürfen nicht anders behandelt
werden als Handwerker, Selbstständige und Arbeitnehmer. Ich appelliere daher - damit komme ich zum Schluss,
Frau Präsidentin ({28})
an die rot-grüne Koalition: Akzeptieren Sie endlich diese
steuerlichen Grundsätze! Bürger erwarten vernünftige
Lösungen und nicht nur gute Absichten. Die F.D.P. wird
sich einer systematisch sauberen und vernünftigen Steuerreform nach einem erneuten Vermittlungsausschussverfahren nicht verschließen.
Herzlichen Dank.
({29})
Zu einer Kurzintervention erhält jetzt der Kollege Oswald Metzger das
Wort.
Meine Damen und Herren! Ich finde es schon bemerkenswert, Herr Kollege Thiele - jetzt zunächst die Polemik, weil Sie in Ihrer Rede mit diesem Punkt eingestiegen
sind -, dass jemand wie Sie heute solche Töne spuckt, der
zur Zeit der alten Regierung Vorsitzender des Finanzausschusses war, der Mitglied einer Partei ist, die von 1969
bis 1998 fast ohne Unterbrechung die Vorsitzenden des
Finanzausschusses gestellt hat, und der in Bezug auf
Haushaltskonsolidierung, Steuersenkung und Lohnnebenkostensenkung in diesen 29 Jahren fast immer das Gegenteil von dem zu verantworten hatte, was Sie in Ihren
Programmen geschrieben und öffentlich verkündet haben.
({0})
Ich bedauere, dass manche Kollegen, die sehr genau
wissen, dass zu einer pragmatischen Position auch die Beachtung der finanziellen Machbarkeit und die Durchsetzbarkeit in Verhandlungen mit den Ländern im Rahmen
des Vermittlungsausschusses gehört, so tun, als hätten sie
keine Kenntnis von der Finanzlage der Länder, in denen
Ihre eigenen Parteifreunde, Herr Thiele, mit regieren - in
Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen -, und
wüssten nicht, dass sie dort sehr viel kleinere Brötchen
backen müssen.
Nicht umsonst haben die F.D.P. und die Union in den
letzten zwei Wochen im Vermittlungsausschuss überhaupt
keine Vorschläge gemacht. Sie führen lediglich zum
Schein eine Diskussion über das Halbeinkünfteverfahren,
obwohl inzwischen feststeht, dass sich Deutschland mit
der von Ihnen gewollten Rückkehr zum Vollanrechnungsverfahren international isolieren würde. Wenn wir
zum Vollanrechnungsverfahren zurückkehren würden,
meine Damen und Herren, würde gerade angesichts der
Internationalisierung der Wirtschaft im deutschen Steuerrecht ein Konzept festgezurrt, das nicht mehr wettbewerbsfähig wäre.
({1})
Deshalb entledigen Sie sie doch bitte in der Debatte Ihrer
ideologischen Verblendung und kehren Sie auf die Sachebene zurück! Wir alle wollen Planungssicherheit für unsere Wirtschaft.
Kollege Merz, wenn unser Fraktionsvorsitzender
Rezzo Schlauch Sie heute Morgen als „Oskar Merz“ betitelte, so geschah das doch nicht ohne Grund. Sie versuchen ständig eine Blockadeposition herbeizureden - und
das zu einem Zeitpunkt, da alle Fraktionen in diesem Parlament die Steuersätze für die Bürgerinnen und Bürger
wirklich senken wollen. Lassen Sie ab von Ihrer Blockade!
In neun Jahren, von denen Sie sieben Jahre lang Regierungsverantwortung getragen haben, wurde Deutschland hinsichtlich des ökonomischen Wachstums
Schlusslicht in Europa. Gott sei Dank rücken wir seit Mai
wieder an die Spitzenpositionen heran. Wenn wir aber
Planungssicherheit für unsere Wirtschaft wollen, brauchen wir das Signal einer Steuerreform und keine Hängepartie über den Sommer. Anderenfalls sind Sie dafür verantwortlich, wenn die nächsten Frühindikatoren im „Handelsblatt“ im Gegensatz zur gestrigen Veröffentlichung
einen Knick nach unten bekommen und die Aufbruchstimmung, die doch allenthalben spürbar ist, abbricht.
({2})
Wenn Sie glauben, mit dieser Strategie Erfolg zu haben
und damit auch noch die Rentenreform in diesem Land
verzögern zu können, dann wird die Union sich selber,
aber vor allem unserem Land einen Bärendienst erweisen.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort zur
Antwort hat Herr Kollege Thiele.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich vermute, ich bekomme eine ähnliche Redezeit wie der Kollege Metzger.
Erstens. Herr Kollege Metzger, ich bin in den Debatten
zu diesem Thema immer wieder darüber erstaunt, dass die
letzten 16 Jahre immer als 16 Jahre bezeichnet werden
und nicht als zweimal acht Jahre.
({0})
Es waren zweimal acht Jahre, davon einmal acht Jahre bis
zur deutschen Einheit. In dieser Zeit wurde die Staatsquote von der alten Koalition um 2,5 Prozent gesenkt.
({1})
Im Jahre 1990 hätten wir keinerlei Neuverschuldung gehabt, wenn nicht die deutsche Einheit gekommen wäre,
die wir - im Gegensatz zu vielen anderen in diesem
Hause - gewollt haben und über die wir nach wie vor
glücklich sind.
({2})
Es ist zwar richtig, dass zur Finanzierung der Kosten der
deutschen Einheit bzw. der Sanierung der sozialistisch
heruntergewirtschafteten DDR von uns Steuern und Sozialabgaben sowie die Neuverschuldung erhöht wurden.
Aber ich sage Ihnen: Das war absolut alternativlos.
({3})
Und wenn Herr Eichel momentan beklagt, dass die
Länder den Bund allein lassen, so war das beim Solidarpakt 1993 genauso der Fall. Rudi Walther von der SPD hat
als Vorsitzender des Haushaltsausschusses immer erklärt,
die Länder hätten sich an dieser Stelle ihrer Mitverantwortung entzogen. Das muss man erst einmal zur Kenntnis nehmen.
({4})
Seit 1990 haben wir versucht, die Staatsquote wieder
zu senken und eine steuerliche Entlastung der Bürger zu
erreichen. Es wird von Ihnen verschwiegen, dass der Familienleistungsausgleich in der vergangenen Legislaturperiode dazu führte, dass das Kindergeld von 70 auf
220 DM am Ende der Legislaturperiode gestiegen ist.
({5})
- Das ist Ihre Art der Geschichtsklitterung. Mir ist nicht
bekannt, Herr Poß, dass Sie seinerzeit die Mehrheit in diesem Hause gehabt hätten. Das war nicht der Fall. Die
Mehrheit hatte die Koalition der alten Regierung.
Zum zweiten Punkt, dem Anrechnungsverfahren:
Das Anrechnungsverfahren ist 1977 in der sozialliberalen
Koalition mit dem Finanzminister Hans Apel eingeführt
worden. Das war ein Riesensprung in Richtung mehr Einzelfallgerechtigkeit für den einzelnen Bürger, weil sichergestellt wurde - und das wird auch heute noch sichergestellt -, dass jeder Aktionär entsprechend seiner persönlichen Leistungsfähigkeit im Einkommensteuerrecht besteuert wird. Dass Sie diese Errungenschaft des Steuerrechts hier einfach opfern wollen, weil eine EuGH-Entscheidung Sie angeblich dazu verpflichtet, die aber
tatsächlich dazu nichts hergibt, ist mir unbegreiflich.
({6})
Da nur der Staatssekretär des Finanzministers diese Auffassung vertritt, erwarte ich vom Finanzminister die
Sprungkraft, bei der bisherigen gesetzlichen Regelung zu
bleiben und von seinen unsinnigen Vorstellungen an dieser Stelle Abstand zu nehmen.
({7})
Drittens. Wenn Haushalte konsolidiert werden sollen -
Herr Kollege
Thiele, Sie hatten drei Minuten Zeit für Ihre Antwort und
die sind jetzt vorbei.
({0})
Dann möchte ich zumindest ausreden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe die Uhr genau im Blick; ich
habe das auch Herrn Ramsauer erklärt. Herr Thiele hat sogar sechs Sekunden mehr als drei Minuten geantwortet.
Ich möchte gerne noch
einen letzten Satz sagen, Frau Präsidentin, wenn Sie gestatten.
Nein, Herr Kollege Thiele. Kurzinterventionen dürfen drei Minuten dauern und nicht länger. Ich muss Sie bitten, wieder Platz zu
nehmen.
Aber ich werde doch
trotzdem einen letzten Satz sagen dürfen, Frau Präsidentin!
Ich möchte Sie
jetzt bitten, sich hinzusetzen.
Der Unterschied zwischen uns und den Grünen ist: Wir wollen die Steuern senken, die Grünen nicht.
Herr Kollege
Thiele, ich möchte Sie bitten, sich jetzt hinzusetzen!
Das Wort hat nun der Abgeordnete Roland Claus.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Vielleicht kann ich ein wenig zu Ihrer Beruhigung beitragen: Gestern Abend haben
wir alle Gerechtigkeit à la Schröder erlebt; vielleicht haben auch Sie das gesehen. Wir haben uns - unsere Fraktion in besonderem Maße bedrückt, da wir nicht im Vermittlungsausschuss vertreten sind - durch den Dschungel
der Steuergesetze gequält, während unser Bundeskanzler
eine, wie ich finde, lobenswerte Initiative ergriffen hat, indem er sich an der Bewerbung um die Austragung der
Fußball-WM 2006 beteiligt hat.
({0})
Wir haben also die harten Bänke der Opposition drücken
müssen, während er die Daumen für diese Bewerbung gedrückt hat. Ich wollte ihm eigentlich nur noch einen Tipp
geben: Hätte der Kanzler den Kollegen Gregor Gysi
mitgenommen, dann wäre er gestern Abend unter den
Fußballzwergen nicht der kleinste gewesen.
({1})
Der Vermittlungsausschuss legt uns ein Ergebnis vor,
das keines ist. Sie nennen es deshalb auch ein „unechtes
Ergebnis“. Hier läuft genau das ab, was zu erwarten war:
Die Koalition erklärt an die Adresse der CDU/CSU, dass
diese schuld sei, dass die Politik der Koalition alternativlos sei, und die Opposition, vor allem die CDU/CSU, sagt,
die Regierung sei daran schuld.
Nun muss ich allerdings eingestehen: Der Kollege
Merz hat sich wirklich in einem magischen Viereck verfangen. Da sind zu viele Dinge zusammengekommen:
erstens die nicht ganz wegzuleugnende Verantwortung für
die frühere Steuerpolitik der CDU/CSU, die in diesem
Lande natürlich nicht vergessen ist; zweitens das unerwartete Lob der Industrie für die rot-grüne Regierung das passt ja nicht so richtig dazu -; drittens die traditionelle Kritik an der Regierung, die aus der Opposition notwendig wäre; viertens etwas, das in diesem Hause wirklich überrascht, und zwar die in der CDU/CSU-Fraktion
so plötzlich entdeckte Verantwortung für soziale Gerechtigkeit. Da hat er sich also ein bisschen vermanövriert.
({2})
So hat er das Prinzip kennen gelernt, dass man sich in der
Politik die meisten Beulen nicht vom politischen Gegner,
sondern in den eigenen Reihen holen kann.
({3})
Ich neige ja nicht dazu, die PDS zu überschätzen, wie
Sie wissen. Aber ich sage einmal ein bisschen salopp: So
ein Murks kommt im Vermittlungsausschuss eben dann
zustande, wenn Sie die PDS dort nicht mitmachen lassen.
({4})
Kompetenzen hinsichtlich knapper Kassen haben wir allemal. Ich will aber im Ernst sagen: Die PDS kritisiert
nach wie vor und auch an dieser Stelle, dass wir durch unsere Nichtbeteiligung am Vermittlungsverfahren in unseren parlamentarischen Rechten eingeschränkt sind.
Warum lehnt die PDS das Gesetz ab?
({5})
Erstens. Diese Reform stellt sich bei genauer Analyse als
eine arbeitnehmerfeindliche Reform heraus.
({6})
Auch wir verkennen natürlich nicht, dass mit der Senkung des Eingangssteuersatzes ein Fortschritt erreicht
ist. Aber im Verhältnis zu den Verbesserungen für Spitzenverdiener kommen die meisten Arbeitsnehmerinnen
und Arbeitnehmer bei dieser Reform sehr schlecht weg.
Ich will hier einfach einmal einen Fakt in Erinnerung
rufen: Es ist erst zwei Wochen her, dass wir in dieser Republik etwas ganz Bemerkenswertes zur Kenntnis nehmen mussten, nämlich dass sich von 1990 bis 1999 die
privaten Geldvermögen verdoppelt haben. Daher wäre es
wirklich möglich gewesen, den Spitzenverdienern eine
höhere Solidarität für die Gesellschaft abzuverlangen.
({7})
Das, was Sie vorhaben, sind Peanuts für die Malocher und
Kniefälle vor den Banken und der großen Industrie.
So offenbart sich wohl, was wirklich damit gemeint
war, als der Kanzler zu Beginn seiner Amtsperiode sagte,
er wolle nicht viel anders, aber vieles besser machen. Mit
dieser Steuerreform hat er Dinge angepackt, die anzugehen Helmut Kohl sich nie getraut hat. Damit hat er leider - das ist unsere Kritik - einen weiteren Schritt auf dem
Weg in die Ellenbogengesellschaft zurückgelegt.
({8})
Ein zweiter Punkt unserer Kritik: Diese Reform ist mittelstandsfeindlich und widerspricht marktwirtschaftlichen Prinzipien. Aber auch hier gibt es Fortschritte. Sie
haben jetzt wieder die Beibehaltung der Ansparabschreibung vorgesehen. Das hätten Sie leichter haben
können.
({9})
Die PDS hatte nämlich bekanntlich bei der zweiten und
dritten Lesung des Steuergesetzes einen gleich lautenden
Antrag eingebracht. Den haben Sie damals abgelehnt.
Jetzt sehen Sie doch eine Beibehaltung vor. Dies ist zu begrüßen.
Aber es ist nach wie vor eine Benachteiligung der kleinen und mittelständischen Unternehmen gegenüber der
großen Industrie zu verzeichnen. Sie schreiben hiermit
auf Dauer eine Ungleichbesteuerung fest - und das zulasten der allermeisten Personengesellschaften. Eine Alternative wäre möglich gewesen. Wir haben Ihnen eine progressive Körperschaftsbesteuerung vorgeschlagen.
Ein dritter Punkt unserer Kritik: Dieses Gesetz richtet
sich gegen die Länder und Kommunen und widerspricht
dem Prinzip des Föderalismus; dies ist immerhin ein
Verfassungsgrundsatz. Ich weiß, dass diese Kritik
selbstverständlich auch aus Bayern kommt - und dies zu
Recht; denn das Land Bayern ist nach jetzt vorliegenden
Schätzungen, die von Steuerausfällen in Höhe von 14 Prozent ausgehen, am härtesten betroffen. Damit wird ein
Verfassungsgrundsatz ernsthaft angegriffen. Ich frage
mich in diesem Zusammenhang manchmal, ob die Videoüberwachung, die derzeit in aller Munde ist, nicht
langsam in das Bundeskabinett gehört.
Vierter Punkt unserer Kritik: Dies ist ein Gesetz, das
sich gegen die neuen Bundesländer richtet, wenn ich nur
an den Fakt erinnere, dass zum Beispiel Sachsen-Anhalt
mit Steuerausfällen in Höhe von 500 Millionen DM rechnen muss. Mit dem Haushalt von Sachsen-Anhalt kenne
ich mich reichlich aus; da habe ich viele Umschichtungen
miterlebt. Wenn in einem Landeshaushalt im Zuge der
Haushaltsverhandlungen 200 oder 300 Millionen DM
umgeschichtet werden - das wissen Sie doch selbst -,
dann ist das ein großer Akt. Wenn aber jetzt auf diesem
Wege Steuereinnahmen in Höhe von 500 Millionen DM
und mehr verloren gehen, dann geht der gesamte im Hinblick auf die landespolitische Gestaltung bestehende
Spielraum flöten. Das kann man so nicht hinnehmen; das
ist zu kritisieren.
({10})
Dann wird der immer als Gegenargument vorgebrachte
selbst tragende Aufschwung infolge der mit diesem Gesetz beabsichtigten Steuerentwicklung nicht zum Tragen
kommen.
Für besonders bemerkenswert halte ich - ich hoffe,
dass ich mich da irre -, dass es einen nicht unerheblichen
Druck auf die neuen Bundesländer gegeben hat, diese
Steuergesetze mit dem zweiten Solidarpakt zu verbinden.
Ich möchte Ihnen einen fünften und letzten Punkt nennen, warum wir gegen dieses Gesetz sind: Es nimmt keine
Rücksicht auf die über 10 Millionen sozial Schwachen in
dieser Republik. Nun werden Sie sagen: Die kommen in
diesem Gesetz gar nicht vor.
({11})
Genau das ist unsere Kritik. Sie kommen nämlich nicht
vor. Aber sie sind von Kürzungen im Sozialbereich und
von steigenden Lebenshaltungskosten betroffen.
({12})
Aus all diesen Gründen werden wir Ihren Vorschlag
ablehnen. Politiker haben mitunter eine ganze Reihe von
Sammelleidenschaften. Die einen sammeln Akten; Kohl
gehört bekanntlich nicht dazu. Die anderen sammeln
Kompromisse am Kamin; das tut unser Bundeskanzler
sehr gern und nennt es dann Konsens.
({13})
Um bei meinem anfangs gebrachten Vergleich zu bleiben:
In diesem Falle müssen Sie in die Verlängerung gehen,
Herr Bundeskanzler. Ich hoffe, dass Sie bei der Bewerbung um die Fußball-WM 2006 mehr Glück haben als mit
diesem Gesetz.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat
jetzt der Herr Bundesminister Hans Eichel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als
wir, der Bundeskanzler und ich, im Dezember vergangenen Jahres das Konzept zum Steuersenkungsgesetz, zur
Steuerreform 2000 vorgelegt haben, da ging dem der Einstieg in die Haushaltskonsolidierung voraus. An den Anfang meiner Rede möchte ich daher die Frage stellen, die
Sie bis heute nicht beantwortet haben: Bleibt es dabei,
dass wir Haushaltskonsolidierung und Steuerentlastung in
einem Paket und im Rahmen der international eingegangenen Verpflichtungen behandeln - ja oder nein?
({0})
Damit ist gleichzeitig die Frage verbunden, wie hoch das
Entlastungsvolumen durch dieses Steuerpaket sein kann.
Hier liegt der fundamental falsche strategische Ansatz
der Opposition;
({1})
hieraus habe Sie sich - das sagen alle draußen - mit einer
überraschenden Volte in eine völlig abwegige Systemdebatte geflüchtet. An der Haushaltskonsolidierung haben
Sie sich nicht beteiligt. Ich kann mich nicht erinnern, von
Ihnen irgendeinen hilfreichen Beitrag gehört zu haben.
Sie haben in allen Haushaltsberatungen gesagt, überall
müsse mehr ausgegeben werden. Denselben Kommentar
haben wir auch zum Haushaltsplan für das Jahr 2001
gehört.
({2})
Aber wir müssen eine Haushaltskonsolidierung vornehmen und von den Schulden wegkommen.
Ich sage ausdrücklich: Ja, die deutsche Einheit war
eine besondere Last. Wir werfen Ihnen auch gar nicht vor,
dass dadurch Ausgaben entstanden sind. Unser Vorwurf
aber ist, dass Sie die Einheit nicht solide finanziert haben
und wir dieses Versäumnis jetzt sozusagen abarbeiten
müssen. Das ist das Problem.
({3})
Fünf Sitzungen lang sind Sie im Vermittlungsausschuss wie Ölgötzen dagesessen und haben keinen einzigen Ton gesagt. Übrigens, Herr Thiele - da Sie persönlich
geworden sind -, ich kann mich nicht erinnern, von Ihnen
im Vermittlungsausschuss einen Beitrag gehört zu haben.
Ich erinnere mich wohl an Ihre Beiträge vor den Türen des
Sitzungssaales, nicht aber im Ausschuss.
({4})
Eine Antwort auf die von mir eingangs gestellte zentrale
Frage sind Sie schuldig geblieben, meine Damen und Herren.
Schon im vergangenen Herbst haben Sie versucht, die
Konsolidierungsdebatte zu unterlaufen, indem Sie den
Menschen ein Wolkenkuckucksheim vorgegaukelt haben.
Von Bayern, Baden-Württemberg und Thüringen liegt bereits ein Gesetzentwurf auf dem Tisch. Er findet aber
keine Mehrheit, im Deutschen Bundestag nicht, aber
natürlich auch im Bundesrat nicht, weil sich die Länder
dies gar nicht leisten können.
({5})
Die CDU-Finanzminister kommen doch in mein Dienstzimmer und sagen, dass sie schon diese Steuerreform
nicht bezahlen könnten. Das ist die Wahrheit!
({6})
- Gut, ich möchte Ihnen einige Namen nennen. Zum Beispiel Herr Müller hat in einer öffentlichen Diskussion mit
mir gesagt - das musste er hinterher offenkundig revozieren -, ein nennenswert größeres Entlastungsvolumen, als
ich es vorgesehen habe, könne man sich nicht leisten. Dies
geschah in einer Diskussion mit dem Chefvolkswirt der
Dresdner Bank, Dr. Friedrich.
Auch der Staatssekretär im hessischen Finanzministerium - Sie haben ja alle zum Schweigen verdonnert - hat
erklärt, Hessen sei an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit. Das können Sie in den Zeitungen nachlesen. Sie haben das Glück, dass Ihr Gesetzentwurf gar nicht erst zur
Debatte steht, weil er nirgendwo eine Mehrheit gefunden
hat; sonst müssten einige Leute die Finger heben.
({7})
Wir können also festhalten, dass die zentrale Frage,
was überhaupt machbar und vereinbar ist, von Ihnen in
fünf Sitzungen des Vermittlungsausschusses nicht beantwortet worden ist. Ich kann auch verstehen, warum eine
Reihe von Finanzministern an dem Vermittlungsverfahren gar nicht erst teilgenommen hat. Das hätte ich an deren Stelle auch nicht getan, wenn ich so unter Kuratel
stünde und wüsste, dass ich die eingangs gestellte Frage
wahrheitsgemäß beantworten muss. Man hat ja schließlich eine Reputation zu verlieren.
({8})
Übrigens - aber das wissen Sie alles - haben Sie in der
vergangenen Wahlperiode zwei Fehler gemacht. Der erste
zentrale Fehler - das können Sie in dem Buch von Herrn
Koch nachlesen -: Eine Steuerreform macht man nicht am
Ende einer Wahlperiode, sondern am Anfang. Der zweite
zentrale Fehler: Eine Steuerreform kann man nicht mit
großen Steuersenkungen verbinden, wenn die Staatseinnahmen aus Steuern zurückgehen. Diese Einnahmen müssen steigen; ansonsten ist dies nicht machbar. Deswegen
war völlig klar, dass niemand die Umsetzung der Petersberger Beschlüsse verkraften kann. Alle Länderhaushalte
wären sonst sofort verfassungswidrig geworden. Dieses
Problem haben die Länder auch für das Jahr 2001; inzwischen geben sie das indirekt zu.
Ich höre ja jetzt schon aus München, dass man auf die
schwächeren Länder Rücksicht nehmen müsse; der Bund
solle gefälligst Privatisierungserlöse einsetzen. Herr
Rauen beispielsweise hat erklärt, ich solle dafür die Erlöse
aus der Versteigerung der UMTS-Lizenzen verwenden.
Diese unseriöse Finanzpolitik, Herr Thiele, habe ich gemeint; wir betreiben sie nicht weiter.
({9})
Einmaleinnahmen darf man nicht für laufende Ausgaben
einsetzen. Zu dieser Aussage gab es übrigens viel Zustimmung aus Ihren Reihen: von Frau Merkel, von Herrn
Biedenkopf und auch von Kurt Faltlhauser, der dies noch
in unserem gemeinsamen Gespräch mit dem „Handelsblatt“ bestätigte. Das ist das kleine Einmaleins einer seriösen Finanzpolitik, meine Damen und Herren.
({10})
Deswegen will ich von Ihnen wissen, was Sie für verkraftbar halten, quergeschrieben von allen Finanzministern, die Sie stellen.
Dann will ich von Ihnen wissen, ob wir im europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt bleiben. Alle
Europäer haben sich nämlich verpflichtet, im Jahre 2002
allenfalls noch ein Defizit von 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu haben; nach Möglichkeit sollten wir sogar Haushaltsüberschüsse haben. Bei dieser Planung
bleibe ich, meine Damen und Herren. Aber bleiben auch
Sie dabei? Was bedeutet dies denn für das Entlastungsvolumen? Die meisten europäischen Länder haben das Ziel
schon erreicht. Es gibt eine Reihe von Ländern mit Haushaltsüberschüssen. Wir dagegen sind noch lange nicht so
weit; das macht mir Sorgen. Wollen Sie denn im Zusammenhang mit dieser Steuerreform für Deutschland eine
Debatte über das Nichteinhalten der Stabilitätskriterien
einläuten, wie sie im vergangenen Frühjahr mit Italien geführt worden ist? Sie, meine Damen und Herren, waren es
doch, die den Stabilitäts- und Wachstumspakt abgeschlossen haben.
({11})
Deswegen bleibt die erste Frage, auf die Sie bis heute
jede Antwort schuldig geblieben sind: Welches Entlastungsvolumen ist verkraftbar?
({12})
Kriterium hierfür dürfen aber keine „voodoo economics“
sein nach dem Motto,
({13})
man müsse nur die Steuern ordentlich senken, dann werde
das Wachstum so kräftig sein, dass es so viele Steuern
gibt, dass man schneller aus den Schulden herauskommt
und den Staatshaushalt sanieren kann; alle verdienen daran und das Schlaraffenland ist perfekt. Nein, meine Damen und Herren, so sieht die Wirklichkeit nicht aus!
({14})
Jeder von Ihnen, der einen Betrieb sanieren muss - der
Bundeshaushalt, den ich übernommen habe, ist ein Sanierungsfall -, weiß, dass die Arbeitnehmer, die Eigentümer
und die Banken etwas hergeben müssen. Am Schluss steht
oft auch noch der Staat mit einer Bürgschaft daneben. Erst
dann kriegen wir die Sanierung hin. Anders ist das nicht
in Schweden und nicht in den Vereinigten Staaten gelaufen und anders wird es auch bei uns nicht laufen. Deswegen müssen Sie die von mir gestellte Frage einmal beantworten, meine Damen und Herren.
({15})
Vor diesem Hintergrund unternehmen wir große Anstrengungen zur Senkung der Steuern für alle. In diesem
Zusammenhang erzählen Sie hier ja Märchen. Das Entlastungsvolumen beträgt 80 Milliarden DM und baut sich ab
2005 in drei Stufen nachhaltig auf. Das sind rund 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Davon kommen über
55 Milliarden DM bei den privaten Haushalten an, insbesondere - das sage ich ganz ausdrücklich - bei den Arbeitnehmern und Beziehern kleiner Einkommen.
Aber Sie brauchen immer erst ein Verfassungsgerichtsurteil, bis Sie endlich Steuergesetze machen, die mit
der Verfassung in Einklang stehen.
({16})
Das steuerfreie Existenzminimum war bei Ihnen unerträglich niedrig. In der ganzen Zeit, in der Sie an der Regierung waren, haben Sie die kleinen Einkommen verfassungswidrig hoch besteuert.
({17})
Das Verfassungsgericht musste Sie zu einer Änderung
zwingen.
({18})
Das war der Grund für den Sprung beim steuerfreien
Existenzminimum von 1995 auf 1996. Außerdem haben
Sie die Familien verfassungswidrig besteuert. Das mussten wir in Ordnung bringen, meine Damen und Herren.
({19})
Uns dann zu erzählen, Sie wollten bei der Steuerreform
die Arbeitnehmer stärker entlasten als wir, wirkt unglaubhaft angesichts der Tatsache, dass es noch gar nicht so
lange her ist, dass Sie die Menschen kujoniert haben. Die
Zahlen liegen alle auf dem Tisch.
Nun komme ich zum Mittelstand: Von dem Entlastungsvolumen in Höhe von 80 Milliarden DM kommt der
Teil, der nicht an die Privathaushalte geht, ausschließlich
beim Mittelstand an; Sie wissen das auch.
({20})
Ich komme hier einmal auf die Kapitalgesellschaften
zu sprechen. Sie, Herr Merz, haben im vergangenen Frühjahr von dieser Stelle aus gesagt, wir trieben mit dem
Steuerentlastungsgesetz die Konzerne aus dem Land. Damals waren Sie der Patron der großen Unternehmen.
Heute sollen wir das sein. Die Wahrheit ist aber ganz einfach folgende: Wir haben sie mit dem Steuerentlastungsgesetz ordentlich belastet. Das war auch verantwortbar.
Jetzt entlasten wir sie mit ordentlich gesenkten Steuersätzen. Das geht für die Körperschaften als Nullsummenspiel aus. Die Gewinner aber sind die Personengesellschaften, also der Mittelstand, der um über 20 Milliarden DM entlastet wird. Sie kennen diesen Sachverhalt
doch!
({21})
- Vorsicht, darauf komme ich gleich noch zu sprechen.
Die Rechnung ist doch ganz einfach. Betrachten wir
die Definitivbesteuerung der Körperschaften. Dabei lassen wir den Soli weg, weil ihn alle bezahlen. Ab 1. Januar
nächsten Jahres zahlen die Kapitalgesellschaften 38 Prozent: 25 Prozent Körperschaftsteuer und 13 Prozent Gewerbesteuer. Bei den Personengesellschaften entfällt die
Gewerbesteuer - auf diesen Punkt komme ich gleich noch
einmal zu sprechen - durch die Anrechnung auf die
Einkommensteuerschuld. Das bedeutet, dass überhaupt
nur noch weniger als 5 Prozent der Personengesellschaften in die Gefahr geraten, eine höhere tarifäre Belastung
zu haben als die Kapitalgesellschaften. Über 95 Prozent
werden tarifär niedriger belastet als Kapitalgesellschaften. So einfach ist das.
({22})
Sie haben in einem Punkt Recht: Das Ganze passiert
bei der Körperschaft in der Mitte der Wahlperiode, im
Jahre 2001, auf einen Schlag, während die Senkung für
die Personengesellschaften bereits begonnen hat. Das
muss ich hier ausdrücklich erwähnen, weil Sie es Ihrerseits nicht tun. Die Senkung begann mit dem 1. Januar
1999 und verläuft systematisch in mehreren Schritten weil das alle betrifft, ist das sehr viel teurer - bis 2005.
({23})
Jetzt können Sie sagen - den Punkt kann ich zwar verstehen, aber es ist nur die halbe Wahrheit -: In 2001 geraten mehr als 5 Prozent der Personengesellschaften in die
Gefahr, mehr zu zahlen als die Kapitalgesellschaften.
Nun, vielleicht sind es 7 oder 8 Prozent, weil der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer in der Tat noch höher
ist. Mehr Personengesellschaften wird das aber nicht betreffen.
Wir haben noch ein paar weitere Veränderungen vorgenommen, und zwar auch mit dem Willen der Länder, jedenfalls mit dem der sozialdemokratisch geführten. Das
hat dazu geführt, dass wir auf all das, was Sie vorher gesagt haben, eingegangen sind. Sie haben einen Strategiewechsel vorgenommen. Das hat jeder bemerkt, auch wenn
Sie das hier am Rednerpult noch ein paar Mal bestreiten.
Ein halbes Jahr lang haben Sie mit einem Gesetzentwurf aus München Ihre Politik bestritten und gesagt: Es
muss mehr sein, die Sätze müssen weiter gesenkt werden.
Ich habe immer gesagt: Wenn wir uns den Beratungen im
Vermittlungsausschuss nähern, kommt die Stunde der
Wahrheit. Wenn die Finger für die Entlastungsvolumina
gehoben werden müssen, dann müssen die Länderfinanzminister sagen, was mit ihren Haushalten wirklich möglich ist. Siehe da: Sogar Herr Faltlhauser erklärt inzwischen, das Jahr 2001 sei ein Problem. Nun ist er nah genug an der Wahrheit. Sehen Sie, meine Damen und
Herren, da lag Ihr eigentliches strategisches Problem.
Sie hätten sich doch die Senkung des Spitzensteuersatzes, die wir zusätzlich angeboten haben, auf Ihre Fahnen
schreiben können, Herr Merz. Sie hätten sich doch die
Senkung der Progression, die Rechtsverschiebung - das
ist nämlich das eigentlich interessante Thema - auf Ihre
Fahnen schreiben können. Die bloße Senkung des Spitzensteuersatzes von 45 Prozent auf 35 Prozent kostet allein 50 Milliarden DM. Es glaubt doch kein Mensch, dass
das finanzierbar ist. Jeder weiß doch, dass das nicht geht.
({24})
Sie hätten sich das im Vermittlungsverfahren auf Ihre
Fahnen schreiben können.
Wir haben für den Mittelstand noch ein paar Dinge erreicht: Wir haben den Freibetrag bei der Betriebsveräußerung, den Sie in der vorigen Wahlperiode auf 60 000 DM
gesenkt haben, wieder auf 100 000 DM angehoben. Zu
der Frage halber Steuersatz oder Fünftelungsregelung
sage ich Ihnen, Herr Thiele: Für die meisten Fälle ist die
Fünftelungsregelung günstiger als der halbe Steuersatz.
Das ist die Wahrheit.
Wir haben die Ansparabschreibung erhalten. Wir haben gleichzeitig - das waren Voten, die aus RheinlandPfalz gekommen sind - die Umstrukturierung für die Personengesellschaften erleichtert. Auch das kostet über
1 Milliarde DM. Man findet fast nichts mehr, was man im
Bereich des Mittelstandes noch tun könnte, und das alles
hätten Sie sich auf Ihre Fahnen schreiben können.
({25})
Zu der absurden Vorstellung, eine Systemfrage zur
zentralen Frage zu machen, will ich Ihnen noch Folgendes sagen:
({26})
- Darauf komme ich sofort, Herr Michelbach. Vorsicht
mit Ihrem Zwischenruf!
Man hätte über diese Frage nachdenken können. Sehen
Sie sich doch einmal an, was Sie in der Hand hätten, wenn
Sie sich mit Ihrer Strategie, wenn sie nicht auf totale
Blockade gerichtet wäre, Herr Merz, durchgesetzt hätten.
Was hätten Sie denn in der Hand? Sie würden der staunenden Öffentlichkeit im Bundestagswahlkampf 2002 erklären: Wir haben zwar nichts mit der Senkung des Spitzensteuersatzes zu tun - das haben die von Rot-Grün
gemacht -; wir haben zwar nichts mit der Rechtsverschiebung, der Progression zu tun - das haben die anderen gemacht -; wir haben nichts mit der Erhöhung des
Freibetrags bei der Betriebsveräußerung und mit der Ansparabschreibung zu tun und wir haben auch nichts damit
zu tun, dass der Mitunternehmererlass für die kleinen und
mittleren Betriebe erhalten bleibt. Das alles haben wir, die
Union, abgelehnt. Aber wir haben das Vollanrechnungsverfahren erhalten. Die Freude im nächsten Wahlkampf wird groß sein.
({27})
Verehrter Herr Merz, man könnte ja einmal die Probe
aufs Exempel machen. Ich lasse mich gedanklich auf ein
Spiel ein. Es kann ganz gut sein - dann hätten Sie sogar
noch Glück -, dass bis dahin der EuGH das Ding aus der
Welt geschafft hat, wie er es in Bezug auf die Niederlande
bereits getan hat. Das wissen auch Sie alles.
Wie lautete denn Ihre Antwort im Vermittlungsverfahren? Es war ja klar - auch Herr Milbradt hat das
eingeräumt und es ist übrigens nicht nur eine Gruppe, die
damit ein Problem hat -, dass nur noch ein Drittel
der Dividenden über das Vollanrechnungsverfahren
läuft. In einer internationalisierten Wirtschaft muss das
auch so sein. Ausländische Unternehmer, die bei uns anlegen, fallen nicht mehr darunter. Inländer, die im Ausland
anlegen, fallen ebenfalls nicht mehr darunter. Inländer, die
steuerbefreit sind, haben nichts von dieser Veranstaltung.
Deswegen fällt überhaupt nur noch ein Drittel der Dividenden unter das Vollanrechnungsverfahren. In einer internationalisierten Wirtschaft wird dieser Anteil immer
geringer werden.
Es gibt aber ein anderes Problem. Jetzt komme ich auf
die Behauptung zurück, wir seien die Befürworter der
Kapitalgesellschaften.
({28})
Für diese gibt es aber gar keine Entlastung. Fragen Sie
einmal die Versicherungsunternehmen. Denen haben wir
im vorigen Jahr ihre Bilanzen ganz schön verhagelt. Fragen Sie einmal die Energieversorgungsunternehmen. Sie
wissen das, denn Sie haben das alles vor einem Jahr an
dieser Stelle selber vorgetragen.
({29})
Aber, meine Damen und Herren, jetzt wollen wir einmal fragen: Welches ist denn der Sinn dieses Teils der Unternehmensteuerreform? Ein Sinn ist, die kleinen und mittleren Unternehmen, die 70 Prozent der Arbeitsplätze und
80 Prozent der Ausbildungsplätze stellen, ordentlich zu
entlasten. Genau das machen wir.
({30})
Ein anderer Sinn ist: Die großen Unternehmen hatten
nie das Problem. Sie haben dies übrigens von diesem Pult
aus alles anders behauptet. Sie haben immer behauptet, die großen Unternehmen würden bei uns zu hoch
besteuert. Übrigens war das, wenn es überhaupt der Fall
war, zu Ihrer Regierungszeit. Darauf will ich nur hinweisen. Die großen Unternehmen gehen plus/minus null
aus dem Geschäft heraus, aber sie bekommen ein international wettbewerbsfähiges Steuerrecht und international wettbewerbsfähige Steuersätze. Gehen Sie doch
einmal raus und erklären Sie denen, dass sie einen Körperschaftsteuersatz von 30 Prozent behalten, statt einen
von 25 Prozent zu bekommen. Dies müssen Sie denen
einmal klarmachen. Dies ist ja fast eine Verschlechterung.
Und Sie glauben - das habe ich mir angesehen -, damit
bekäme man ausländische Investoren nach Deutschland?
Die 90er-Jahre, für die Sie hauptsächlich die politische
Verantwortung tragen - ich wische nicht weg, dass auch
der Bundesrat beteiligt war, lieber Herr Thiele -, waren
die wachstumsschwächsten in der deutschen Nachkriegszeit. Seit Mitte der 90er-Jahre steht Deutschland
beim Wirtschaftswachstum auf dem vorletzten Platz. Dies
ist nicht erst so, seit wir an der Regierung sind. Jetzt geht
es wieder aufwärts. Ich will auch nicht sagen, dass das an
uns liegt. Aber ich halte fest: Seit Mitte der 90er-Jahre
sind wir beim Wirtschaftswachstum auf dem vorletzten
Platz.
({31})
Ich will Ihnen gerne etwas vorlesen: Die ausländischen
Direktinvestitionen sind bei uns eine Katastrophe. Slowenien hat mehr Auslandskapital bekommen als wir. Jetzt
geht die Zahl hoch, aber Sie schlagen uns mit dem Vollanrechnungsverfahren einen Körperschaftsteuersatz von
30 Prozent vor. Dieser aber würde genau nicht dazu
führen, dass auch wir ausländisches Kapital ins Land
bekommen. Aber dies zu erreichen, ist die andere Aufgabe, die wir mit unserer Reform zu erfüllen haben.
({32})
Nun will ich noch etwas - ich weiß gar nicht, ob Sie
wissen, wovon Sie an diesem Punkt reden - zur Gleichmäßigkeit der Besteuerung sagen.
({33})
Nicht nur die Öffentlichkeit versteht das gar nicht; auch
Ihre Vermittlungsausschussmitglieder verstehen es zum
Teil nicht. Herr Rauen hat uns 20 Minuten lang gesagt,
dass wir den Mittelstand kaputtmachen, und hat das auf
das Halbeinkünfteverfahren bezogen. Damit hat es aber
nun gar nichts zu tun.
({34})
Er hat das Optionsmodell gemeint. Sehen Sie, so informiert sind Sie über die Themen.
({35})
Jetzt frage ich Sie einfach, was Sie meinen. Wenn Sie
meinen sollten, dass bei der Besteuerung der Kapitalgesellschaften der Steuersatz für thesaurierte Gewinne definitiv mit dem Spitzensteuersatz in der Einkommensteuer identisch sein sollte, sage ich Ihnen: Aus dieser Situation sind Sie selber ausgestiegen, und zwar im Jahre
1990. Bis dahin stimmte das. Bis dahin lag der Körperschaftsteuersatz für thesaurierte Gewinne bei 56 Prozent
und der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer
ebenfalls. Seit 1990 ging der Körperschaftsteuersatz weil Sie gemerkt haben, dass es international nicht funktioniert - auf 50 Prozent runter, der Spitzensteuersatz bei
der Einkommensteuer aber nur auf 53 Prozent. 1995 sank
er - da liegt doch das Problem - auf 45 Prozent. Das, was
Sie hier offenbar kritisieren - mir ist immer noch nicht
ganz klar, was Sie eigentlich meinen -, haben Sie doch
selber eingeführt.
Ein entscheidender Unterschied zu uns heute ist: Sie
haben in beiden Fällen die Gewerbesteuer vorgesehen.
Wir haben die Gewerbesteuer für die Personengesellschaften als Kostenfaktor beseitigt.
Nun will ich Ihnen sagen, was wir von Ihnen übernommen haben. 1998 hatten wir eine Spreizung zwischen der
Körperschaftsteuer plus Gewerbesteuer und dem Spitzensteuersatz der Einkommensteuer plus Gewerbesteuer von
acht Punkten. Sie haben Recht: Die Differenz steigt
kurzfristig ein bisschen, nämlich auf 10,5 Prozent ab dem
1. Januar 2001. Aber bereits in 2003 sinkt sie auf neun
Punkte - Sie hatten acht - und geht in 2005 auf fünf Punkte
zurück. Das ist so wenig, wie es das zu Ihrer Zeit nie gab.
({36})
Mir ist aber noch immer nicht klar, was Sie mit Gleichmäßigkeit meinen. In diesem Punkt wird unser Steuerrecht am Ende der Legislaturperiode jedenfalls deutlich
besser sein als das, was Sie uns hinterlassen haben.
({37})
In anderen europäischen Ländern gibt es allerdings
eine Riesenspreizung. Betrachten Sie einmal die Niederlande. Die Niederlande haben einen KörperschaftsteuerBundesminister Hans Eichel
satz von 35 Prozent und bei der Einkommensteuer einen
Spitzensteuersatz von 60 Prozent. Wir müssen eine
Steuerreform machen, die die Unternehmen in Deutschland im europäischen Umfeld und auch im amerikanischen Umfeld wettbewerbsfähig macht. Muss ich Ihnen
das erzählen? Muss Ihnen das ein sozialdemokratischer
Finanzminister sagen?
({38})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie sprechen
von der Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Dann will ich
doch einmal darauf hinweisen, dass Sie eine Situation
geschaffen und in Ihrem Modell beibehalten haben, in der
der Handwerksmeister und der Einzelhändler höher
besteuert werden als der Freiberufler und der Arbeitnehmer. Diese ungleiche Besteuerung beseitigen wir. Das
ist Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Wovon reden Sie in
diesem Zusammenhang also überhaupt?
Deswegen ist Ihre Behauptung, der Mittelstand komme
bei diesem Gesetz schlechter weg, falsch und in allen Aspekten widerlegbar. Die Reform, die Sie uns anbieten, ist,
wenn der Vorschlag von Bayern und Baden-Württemberg
ernst genommen wird, für die öffentlichen Kassen unbezahlbar und beschert uns im Übrigen noch nicht einmal
international wettbewerbsfähige Steuersätze bei der Körperschaftsteuer. Das macht keinen Sinn.
({39})
Wir tragen die Verantwortung, diese Steuerreform in
Gang zu setzen. Sie, Herr Merz, machen einen schwerwiegenden Fehler, wenn Sie sagen: Besser keine Steuerreform als diese. Das sehen Sie in diesem Lande ganz
alleine so.
({40})
Ich will das jetzt gar nicht weiter vertiefen. Sie wissen das
ganz genau.
Lesen Sie einmal nach, was der Internationale
Währungsfonds vorgestern zu unserer Steuerpolitik
geschrieben hat. Sie wissen ja, wer an der Spitze des IWF
steht. Ich will Herrn Köhler gar nicht für alles verantwortlich machen. Aber der Internationale Währungsfonds,
der die weltweit höchste Autorität bei der Beurteilung
dieser Fragen hat, sagt: Jawohl, ihr seid genau auf dem
richtigen Wege, mit eurer Haushaltskonsolidierung
genauso wie mit eurer Steuerpolitik. Er sagt weiter: Wir
können hinnehmen, dass 2001 - das habe ich immer gesagt
wegen des Vorziehens der Steuerreform - das Defizit einmalig ein Stückchen wächst. Aber eigentlich solltet ihr
auch das nicht machen.
Sie müssen sich überlegen, was das bedeutet. Das
heißt, zumindest die internationalen Institutionen sagen - übrigens die Europäische Zentralbank, die Europäische Kommission und alle anderen Finanzminister der
Europäischen Union ganz genauso -: Ihr dürft keine
Steuerreform mit einer Erhöhung des Staatsdefizits
machen. Recht haben sie.
Deswegen, meine Damen und Herren: Sie sind da eine
Antwort schuldig. Sie dürfen nicht nur einen Hinweis auf
eine Systemfrage geben, die wir übrigens gar nicht erfunden haben. Es handelt sich hierbei um eine Frage der praktischen Vernunft. Sie haben dazu nur erklärt: Na gut, dann
lassen wir uns eben vom Europäischen Gerichtshof verurteilen. - Das ist keine vernünftige Maxime für die
Steuerpolitik.
({41})
Wir haben hier alle eine Verantwortung und der Bundesrat hat eine Verantwortung.
({42})
Jeder weiß, worum es geht, weil alles offen ausgetauscht
wird. Wir haben eine Fülle von Angeboten gemacht, die
Sie alle hätten übernehmen können. Sie hätten sich damit
schmücken können.
Es geht in Wirklichkeit um die Frage, ob der Herr Merz
seine Autorität als Fraktionsvorsitzender durchsetzen
kann oder nicht. Das ist alles.
({43})
Genauso wird die Sache in den Landeshauptstädten auch
diskutiert. Sie müssen sich überlegen, ob Sie mit dem Föderalismus in Deutschland so umgehen wollen
({44})
oder ob Sie sagen: Föderalismus heißt, dass die Interessen
der Länder richtig wahrgenommen werden, und nichts anderes.
({45})
Sie alle haben eine Verantwortung. Die CDU/CSU
trägt in einer Fülle von Landesregierungen die Verantwortung. Die F.D.P. kommt übrigens in dieser ganzen Debatte, solange sie in der Babylonischen Gefangenschaft
bleibt, überhaupt nicht vor und wird auch nicht gebraucht,
wenn sie sich so verhält. Sie müssen doch sehen, was Sie
da anrichten.
({46})
Meine Damen und Herren, es ist nicht vernünftig, was
Sie an dieser Stelle tun. Wenn Sie das Ganze weiter blockieren, schaden Sie dem Land. Und jeder weiß auch, wer hier
blockiert.
({47})
Das Wort hat
jetzt der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Friedrich
Merz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Herr Eichel, ich habe mir, als ich sie hier gehört
habe, so gedacht: Besonders souverän und in der Sache
überzeugend war dieser Auftritt des Finanzministers
nicht.
({0})
Ich habe eine Bitte: Wenn Sie beim nächsten Mal Finanzminister der Länder zitieren, die Ihr Dienstzimmer
aufsuchen, dann sagen Sie uns doch wenigstens, wer das
war.
({1})
Wenn Sie es nicht tun, setzen wir einen Untersuchungsausschuss ein und werden Ihre Terminkalender beschlagnahmen, Herr Eichel.
({2})
Ich habe nämlich den Verdacht, dass Sie immer wieder
versuchen, mit Gesprächen Eindruck zu schinden, die in
Wahrheit gar nicht stattgefunden haben.
({3})
Herr Eichel, wir haben keinen Entwurf der Länder
Bayern und Baden-Württemberg, sondern einen Gesetzentwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion eingebracht.
Alle unionsregierten Länder haben im Bundesrat einen
Gesetzentwurf für eine große Steuerreform eingebracht.
Das unterscheidet uns von Ihnen, als Sie in der Opposition waren: Wir haben eine klare Alternative angeboten.
({4})
Zu dieser Alternative zählt, dass wir in der Tat die gleichmäßige Entlastung von großen, mittleren und kleinen Unternehmen genauso wie von Arbeitnehmern wollen.
Ich habe in diesem Zusammenhang immer gesagt: Wir
sind bereit, uns über Zeitpläne, über Entlastungsvolumina, über Steuertarife und über den Körperschaftsteuersatz zu unterhalten. Das alles haben wir immer zur
Diskussion gestellt. Aber die Haushaltskonsolidierung
ist von uns nie infrage gestellt worden.
({5})
Die Notwendigkeit einer Haushaltskonsolidierung ist von
uns immer bestätigt worden.
Damit wir auch wissen, worüber wir hier sprechen, will
ich Ihnen nur eine Zahl nennen. In den Jahren von 1998
bis 2001 nehmen allein die Steuereinnahmen des Bundes
von 341 Milliarden DM auf 442 Milliarden DM, also um
mehr als 100 Milliarden DM, zu. Das ist das Dreifache des
Entlastungsvolumens, das Sie den Bürgern dieses Landes
bis zum Jahre 2005 in Aussicht stellen.
({6})
Nun tun Sie nicht so, als ob mit den von uns gemachten Vorschlägen das notwendige und richtige Ziel der
Haushaltskonsolidierung infrage gestellt wird. Herr
Eichel, die Wahrheit ist: Seitdem diese Regierung im Amt
ist, steigt die Steuerquote, steigt die Abgabenquote, steigt
der Anteil des Staatsverbrauchs am Sozialprodukt und ist
Stillstand auf dem Arbeitsmarkt eingetreten. Das ist die
Wahrheit.
({7})
Ich will ein Zweites sagen, was uns in dieser Frage
grundlegend voneinander unterscheidet: Wir führen hier
keine Debatte über steuerpolitische Dogmen, sondern wir
führen eine Diskussion um die Frage, wie ein begrenztes
Entlastungsvolumen, das Bund, Länder und Gemeinden
aufbringen müssen, gleichmäßig auf große, mittlere und
kleine Unternehmen sowie auf Arbeitnehmer verteilt werden soll. Für eines lassen wir uns nicht mit in Haftung
nehmen: Sie haben gerade selbst zugegeben, dass Sie im
letzten Jahr die Körperschaften in der Bundesrepublik
Deutschland mit einer drastischen Verschärfung der
Gewinnermittlungsvorschriften steuerlich erheblich
höher belastet haben. Offensichtlich haben Sie denen
dabei versprochen, dass es im nächsten Jahr eine Senkung
des Körperschaftsteuersatzes auf 25 Prozent geben wird.
Herr Eichel, wir lassen uns für die Fehler, die Sie im letzten Jahr gemacht haben, nicht durch niedrigere Körperschaftsteuersätze in Haftung nehmen.
({8})
Es geht in der Tat um eine große Steuerreform, die
dieses Land dringend braucht. Wir wollen aber eine
Steuerreform, die auch und gerade den Mittelstand erreicht, und keine Steuerreform, die nur die großen Kapitalgesellschaften mit angeblich international wettbewerbsfähigen Körperschaftsteuersätzen ausstattet.
({9})
Es mag ja sein, dass Sie den guten Rat, den Sie während
der Ausschusssitzungen nie hören wollten, in den Wind
schlagen, auch wenn er öffentlich erteilt wird. Es kommt
nicht darauf an, ob das gewählte Verfahren als Anrechnungsverfahren oder Halbeinkünfteverfahren bezeichnet wird. Es kommt entscheidend darauf an, dass
Anteilseigner an Unternehmen - sei es an Kapitalgesellschaften oder an Personengesellschaften - steuerlich gleich behandelt werden. Das ist der entscheidende Punkt.
({10})
Herr Kollege
Merz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten
Dr. Barbara Hendricks?
Nein, Frau Präsidentin,
ich möchte meine Rede gerne im Zusammenhang vortragen.
({0})
- Entschuldigung, ich möchte das jetzt gerne im Zusammenhang vortragen und mich nicht durch Zwischenfragen
unterbrechen lassen.
({1})
Wenn es richtig ist, was Sie hier bezüglich der gleichmäßigen Entlastung des Mittelstandes sagen, warum
muss der Mittelstand in der Bundesrepublik Deutschland
dann bis zum Jahr 2005 warten, während gleichzeitig für
die großen Kapitalgesellschaften die Körperschaftsteuersätze zum 1. Januar 2001 gesenkt werden? Warum?
({2})
Sie haben am letzten Freitag so genannte Kompromissvorschläge unterbreitet. Der Inhalt dieser Kompromissvorschläge, die Sie auch im Vermittlungsausschuss
verbreitet und vorher der Presse gegeben haben - Ihr
Vorgehen hat auch etwas mit Stil und Umgang zu tun; aber
sei es drum -,
({3})
entpuppt sich bei Licht betrachtet als eine weitere Verschlechterung der Lage des Mittelstandes. Das weisen
Sie in Ihren Finanztableaus ja selbst aus. Gerda
Hasselfeldt hat bereits darauf hingewiesen. Für die Jahre
2001 bis 2004 wird der Mittelstand gegenüber dem, was
Sie hier mit Ihrer rot-grünen Mehrheit beschlossen haben,
noch einmal um 15 Milliarden DM höher belastet, bis
dann im Jahr 2005 eine Entlastung eintreten soll.
({4})
Ich will in diesem Zusammenhang ein weiteres
wichtiges Thema ansprechen: Wie halten Sie es eigentlich
mit der Steuerfreistellung der so genannten Veräußerungserlöse? Sie haben für die großen Kapitalgesellschaften in Aussicht gestellt, eine solche ab dem Jahre
2001 vorzunehmen. Nun soll diese Freistellung auf das
Jahr 2002 verschoben werden. Darüber gibt es mit Recht
ziemlichen Ärger; aber das ist Ihre Sache. Was aber
machen Sie mit den Veräußerungserlösen im Bereich des
Mittelstandes? Was passiert mit denen, die beispielsweise
ihr Unternehmen an die nächste Generation weitergeben
wollen? In diesem Fall werden die Veräußerungsgewinne
voll versteuert. Dort, wo es um Kapitalgesellschaften
geht, werden die Veräußerungserlöse steuerfrei gestellt.
Das hat weder mit einer Gleichmäßigkeit der Besteuerung
noch mit einer Mittelstandsförderung etwas zu tun.
({5})
Ich will Sie nun auf eine Konsequenz Ihrer Steuerpolitik aufmerksam machen, die Sie selbst wahrscheinlich
noch gar nicht gesehen haben. Sie kritisieren Vorschläge
mit den Schlagworten Krankenschwester und Chefarzt,
die wir gar nicht gemacht haben. Ich will mich auf das
konzentrieren, was Sie vorschlagen und was in diesem
Lande Wirklichkeit werden soll.
Sie wollen mit der Absenkung der Körperschaftsteuersätze eine differenzierte Besteuerung der Unternehmen
gegenüber den natürlichen Personen erreichen. Was ist die
Folge davon? Jemand, der in diesem Land ein großes Vermögen besitzt, ist gut beraten, mit In-Kraft-Treten dieser
Steuerreform die Vermögensverwaltung von privater
Hand auf eine GmbH zu übertragen. Die Folge ist, dass
die Vermögenserträge in privater Hand, in einer GmbH
organisiert, in Zukunft nur noch mit 25 Prozent besteuert
werden. Was soll eigentlich Ihre viel zitierte Krankenschwester davon halten, wenn sie mit dem oberen Teil
ihres Einkommens mittlerweile den Spitzensteuersatz von
48,5 Prozent erreicht
({6})
und der Chefarzt mit seiner Vermögensverwaltung durch
eine GmbH nur noch 25 Prozent Steuern bezahlt?
({7})
Meine Damen und Herren, die Steuerberater in der Bundesrepublik Deutschland, die eine Mandantschaft haben,
die zu den Vermögenden in diesem Land zählen, lachen
sich über die Vorschläge im Hinblick auf die Vermögensverwaltung tot, die von der rot-grünen Bundesregierung kommen.
({8})
Sie, Herr Eichel, haben nicht ohne Grund darauf
hingewiesen, dass der Gesetzgeber in der Bundesrepublik
Deutschland mehrfach vom Bundesverfassungsgericht
aufgefordert worden ist, eine verfassungskonforme
Steuergesetzgebung zu machen. Das war in der Tat begründet. Angesichts der von mir beschriebenen eklatanten
Verletzung des Grundsatzes der Gleichmäßigkeit der
Besteuerung, eines Grundsatzes, der in der Bundesrepublik Deutschland Verfassungsrang hat, der dem Gleichbehandlungsgebot des Grundgesetzes entspricht, frage ich:
({9})
Erwarten Sie allen Ernstes, dass wir einer Steuergesetzgebung zustimmen, die erneut die Frage aufwirft, ob nicht
Teile unseres Steuerrechts in der Bundesrepublik Deutschland verfassungswidrig sind? Hierfür bekommen Sie die
Zustimmung der Union nicht, Herr Bundesfinanzminister.
({10})
Nun rühmt sich diese Regierung besonders gern ihrer
Hinwendung zur so genannten New Economy. Ich habe
Ihnen bei der ersten Lesung am 18. Februar 2000 von
dieser Stelle aus den Vorwurf gemacht, es handele sich
bei der Steuerreform, die Rot-Grün mache, um eine
Steuerreform, die sich im Wesentlichen auf die Old
Economy konzentriere. Daraufhin habe ich viel hämisches Gelächter bekommen. In der Zwischenzeit haben
einige Leute nachgerechnet, welche Konsequenzen diese
Steuerreform hat. Kein Geringerer als der Chef des Weltwirtschaftsinstituts in Kiel, Professor Siebert, der nicht im
Verdacht steht, immer mit dem einverstanden gewesen zu
sein, was wir in früheren Jahren gemacht haben, hat in
jüngster Zeit darauf hingewiesen, dass diese Steuerreform
die Sachkapitalbildung in den Unternehmen privilegiert
und die Bildung von Humankapital diskriminiert.
({11})
Was hat das noch mit New Economy und moderner Wirtschaftspolitik zu tun, wenn alte Unternehmen steuerlich
entlastet und junge Unternehmensgründer der New Economy höher belastet werden, Herr Eichel? Nichts.
({12})
Deswegen ist es völlig richtig, was Professor Siebert
vor einigen Tagen sagte - wörtlich -:
Der Steuersatz sollte gerade in der neuen Informationsgesellschaft zwischen Unternehmen und natürlichen
Personen nicht gespalten sein, wenn man Wachstumskräfte in der Breite freisetzen will.
Meine Damen und Herren, es gibt eine ganze Reihe
von ernsthaften sachlichen Einwendungen gegen das
Konzept der rot-grünen Steuerreform. Damit es allen, die
uns in dieser Debatte zuhören und langsam die Nase voll
davon haben, dass wir zu keinem Ergebnis kommen, klar
wird, worum es geht: Wir streiten nicht über irgendwelche
steuertechnischen Verfahren, sondern wir streiten über
die Grundfrage, ob es in der Bundesrepublik Deutschland
auch in Zukunft dabei bleibt, dass die Einkünfte und
Gewinne, gleich wo sie entstehen und wie sie verwendet
werden, steuerlich neutral behandelt werden und steuerlich gleich belastet werden. Das ist die entscheidende
Frage, um die es geht.
({13})
Es ist ja wahr, dass dies alles sehr schwer verständlich
ist. Aber wir gehören zu denen, die noch immer bereit
sind, sich auch einmal einen Rat von außen anzuhören,
ihn anzunehmen und über ihn nachzudenken.
({14})
Man muss nicht in allen politischen Fragen der Wissenschaft folgen. Manches findet dort auch ziemlich weit von
der Realität entfernt statt. Aber die 78 Professoren, die einen geradezu dramatischen Aufruf an die deutsche Öffentlichkeit gerichtet haben,
({15})
den Fehler, den Sie jetzt planen, nicht zu machen, schließen
ihren Beitrag mit einem Zitat aus einer Bundestagsdebatte,
das ich an dieser Stelle gerne vortragen möchte. Das Zitat
lautet wörtlich:
Um die gravierenden Fehler der geplanten Steuerreform bloßzulegen, muss man nicht Wissenschaftler
sein. Auch Politiker haben erkannt: Die Meinung,
- jetzt wird das zitiert, was unser Kollege Solms in der
ersten Lesung gesagt hat ({16})
dass die Unternehmen - ({17})
- Offen gestanden nehme ich das, was vor der Regierungsbank stattfindet, nicht ernst. Das zeigt vielmehr, dass
die Regierung zu einem hohen Grad nervös ist und nicht
weiß, wie sie ihre Steuerreform durchsetzen kann.
({18})
Ich versuche, noch einmal zu zitieren:
({19})
Um die gravierenden Fehler der geplanten Steuerreform bloßzulegen, muss man nicht Wissenschaftler
sein. Auch Politiker haben erkannt: Die Meinung, dass
die Unternehmen entlastet werden müssen, aber nicht
die Unternehmer, ist die wirtschaftspolitisch dümmste
Aussage eines Bundeskanzlers seit der Existenz der
Bundesrepublik Deutschland.
({20})
Der Beitrag endet mit den Worten:
Wir können nur hoffen, dass sich die Mehrheit der
verantwortlichen Politiker dieser Erkenntnis noch
rechtzeitig anschließt.
({21})
Ich habe für die Mehrheit in diesem Hause jede Hoffnung aufgegeben.
({22})
Sie werden sich dieser Erkenntnis nicht mehr anschließen,
weil Sie völlig verbohrt und fixiert auf Ihre Ideologie der
Entlastung der Unternehmen und der höheren Belastung
der Unternehmer sind.
({23})
Das ist Ihre Entscheidung.
({24})
Es gibt für diese politische Position keine Mehrheit im
Bundesrat. Das werden Sie am nächsten Freitag bei der
letzten Sitzung des Bundesrates in Bonn erfahren. Wir
werden danach in ein zweites Vermittlungsverfahren eintreten können. Ich sage Ihnen im Namen meiner Fraktion:
Lieber eine gute Steuerreform am 29. September bei der
nächsten Sitzung des Bundesrates als eine schlechte am
14. Juli!
({25})
Wir schließen uns dem nicht an, was Sie im letzten Jahr
gemacht haben, als ein großes Unternehmen Pleite zu
gehen drohte: Wenn Philipp Holzmann Pleite geht, dann
kommt der Bundeskanzler. Aber wenn die Kleinen Pleite
gehen, dann kommt der Konkursverwalter. Ich sage Ihnen: Wir machen Steuerpolitik nicht nur für die Großen in
unserem Lande.
({26})
Wir werden uns auch in Zukunft - wenn wir in den vergangenen Jahren etwas anderes versucht haben, dann ist es
von Ihnen blockiert worden - unserer Verantwortung im
Bundestag und im Bundesrat stellen. Wir werden dafür
sorgen, dass dieses Land eine gute Steuerreform bekommt.
Wir werden auf jede Weise verhindern, dass Sie mit dem,
was Sie vorhaben, am nächsten Freitag Erfolg haben.
({27})
Wir werden Sie zwingen,
({28})
mit uns über eine Steuerreform zu verhandeln, die ihren
Namen wirklich verdient, durch die große, mittlere
und kleine Unternehmen und Betriebe entlastet werden
und die auch die Arbeitnehmer in der Bundesrepublik
Deutschland nicht völlig unberücksichtigt lässt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({29})
Ich erteile noch
einmal Herrn Bundesminister Hans Eichel das Wort.
Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen ({0}): Sehr geehrter Herr
Merz, erstens möchte ich noch einmal auf das Thema
Gleichmäßigkeit der Besteuerung zu sprechen kommen. Wie passt es zu Ihrer Forderung, Einkünfte und Gewinne, egal wo sie entstehen, steuerlich gleich zu behandeln, dass in Ihrem Steuerkonzept eine Abgeltungsteuer
vorgesehen ist? Das bedeutet, dass Sie die Kapitalerträge
günstiger als die Arbeitseinkommen besteuern. Das ist
Ihre Vorstellung von gleichmäßiger Besteuerung der Einkommen.
({1})
Zweiter Punkt: Sie behaupten, eine Politik für die Arbeitnehmer zu betreiben. Deswegen senken Sie in Ihrem
Steuerkonzept den Arbeitnehmerfreibetrag von 2 000 DM
auf 1 500 DM; die Kilometergeldpauschale machen Sie
zu einer Entfernungspauschale, indem Sie die Kilometergeldpauschale von 70 Pfennig auf 50 Pfennig verringern,
({2})
und Sie erkennen 15 Kilometer des Weges zum Arbeitsplatz nicht mehr an. Es ist die Masse der deutschen Arbeitnehmer, die Sie damit ordentlich belasten.
({3})
An keiner Stelle Ihres Konzepts befindet sich ein Ausgleich für diese zusätzliche steuerliche Belastung von Beziehern kleiner Einkommen. Ihre Behauptung, eine Politik für die Arbeitnehmer zu betreiben, ist also schlicht unwahr.
({4})
Im Übrigen wiederhole ich nur die Zahlen: Wir sorgen
für eine Nettoentlastung von über 20 Milliarden DM für
den Mittelstand und für die Kapitalgesellschaften, was die
Gesamtwirkung unserer Steuerpolitik - Steuerentlastungsgesetz und Steuersenkungsgesetz - angeht.
({5})
Die Kapitalgesellschaften - Sie haben früher im Deutschen Bundestag immer davon geredet, sie steuerlich zu
entlasten - haben es nötig, ein international wettbewerbsfähiges Steuerrecht und international wettbewerbsfähige
Steuersätze zu bekommen, damit der Standort Deutschland auch für ausländisches Kapital, das zu Ihrer Regierungszeit dieses Land gemieden hat, wieder interessant
wird. Das ist konkrete Politik für Arbeitsplätze und nicht
für Konzerne.
({6})
Was hier gespielt wird, das ist schon klar. Übrigens hat
Herr Kollege Faltlhauser - er wäre nie auf die Idee gekommen, das Thema Halbeinkünfteverfahren ins Zentrum zu rücken; er hat die Gesamtentlastung zum Thema
gemacht - in dankenswerter Offenheit schon Wochen vor
dem Beginn des Vermittlungsverfahrens gesagt, man habe
viel Zeit und man könne im Herbst noch weitermachen.
Das Einzige, was Sie erreichen wollen, ist, zu beweisen,
dass wir unser Ziel nicht gleich erreichen. Das kann ich sozusagen als oppositionellen Kraftakt - zwar noch verstehen; dem Lande dient es aber nicht. Das ist ganz klar.
({7})
Ich wiederhole: Alle Landesregierungen werden sich
deswegen überlegen müssen, ob sie am 14. Juli eine rein
parteitaktisch motivierte Position beziehen
({8})
oder ob sie die Interessen dieses Landes in den Mittelpunkt Ihrer Entscheidung stellen.
({9})
Das Wort hat der Kollege Peter Rauen, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Herr Finanzminister
Eichel, ich habe den Eindruck, dass Sie doch sehr nervös
geworden sind,
({0})
auch aufgrund der Rede von unserem Fraktionsvorsitzenden, weil Sie jetzt die Redezeit vom Kollegen Schmidt
doch noch beansprucht haben. Ihre Nervosität zeigt sich
auch daran, dass Sie hier aus Gesprächen im Vermittlungsausschuss berichten und sich dann auch noch das
Recht nehmen, meine dort getätigten Aussagen zum Mittelstand völlig falsch zu interpretieren. Das nehme ich
nicht einmal mehr übel, weil Sie davon relativ wenig verstehen.
({1})
Ich möchte nur auf einen Punkt intensiv eingehen, da
mir lediglich noch 3 Minuten und 40 Sekunden Redezeit
bleiben. Sie, Herr Finanzminister, sind ganz zum Schluss
auf die Arbeitnehmer eingegangen. Ich habe Sie im Vermittlungsausschuss gebeten, meine Berechnungen zu widerlegen, dass nach Ihren Reformen, auch unter Zugrundelegung des nachgereichten Vorschlags mit 43 Prozent
Spitzensteuersatz und einem leicht hinausgeschobenen
Erreichen der oberen Proportionalzone, der Facharbeiter
in Deutschland im Jahre 2005 prozentual mehr Steuern
zahlt als im Jahre 2001,
({2})
dass der verheiratete Facharbeiter ohne mitverdienende
Ehefrau im Jahre 2005 prozentual mehr Steuern zahlt als
im Jahre 2001,
({3})
dass der verheiratete Facharbeiter mit der mitverdienenden Ehefrau im Jahre 2005 prozentual wesentlich mehr
Steuern zahlt als im Jahre 2001.
Meine Damen und Herren, daran wird die ganze Verlogenheit dieser Steuerreform deutlich, die den Menschen
über einen langen Zeitraum von sieben Jahren eine Entlastung vorgaukelt, in Wahrheit aber am Sankt-Nimmerleins-Tag den Arbeitnehmern und den Unternehmern nur
das zurückgibt, was der Staat heimlich über die kalte Progression einkassiert hat. Dies ist ein zutiefst unredliches
Vorgehen; dazu passt, Herr Eichel, dass Sie immer von der
größten Steuerreform sprechen, die es je gegeben habe.
Ich darf daran erinnern, dass es in den 80er-Jahren unter
Stoltenberg eine Steuerreform gab, die die Menschen um
50 Milliarden DM entlastet hat. Das geschah damals bei
einem Bruttoinlandsprodukt von 1 800 Milliarden DM;
Sie bezeichnen aber trotz eines Bruttoinlandsprodukts
von 4 000 Milliarden DM und einer längeren Laufzeit als
damals Ihre Reform mit einer Entlastung von 80 Milliarden DM als die größte Steuerentlastung aller Zeiten.
({4})
Es ist eigentlich eines Finanzministers unwürdig, wenn er
durch das Nennen nur von absoluten Zahlen die volkswirtschaftlichen Zusammenhänge verzerrt. Das kann man
im Kern so nicht machen.
({5})
Herr Eichel, ich will abschließend noch eines feststellen: Sie beklagen, dass sich durch das Scheitern der Verhandlungen im Vermittlungsausschuss jetzt eine wirkliche Reform um sechs, acht oder zehn Wochen verzögert.
Herr Eichel, dieses Land hat wichtige Jahre verloren,
({6})
weil Sie 1997 als einer der Oberblockierer mit Lafontaine
und dem jetzigen Bundeskanzler Schröder in der Ausübung der Verantwortung Ihres damaligen Amtes eine
wirkliche Reform blockiert haben.
({7})
Wir wollen am Ende mit Ihnen gemeinsam zu einer Reform kommen, die wirklich, wie Friedrich Merz sagt, Arbeitnehmer, Unternehmer und Unternehmen entlastet,
aber keine Reform, die einseitig Kapitalgesellschaften begünstigt, aber natürliche Personen zur Kasse bittet. Das
werden Sie mit uns nicht machen können.
({8})
Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe nun den Zusatzpunkt 4 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes ({0}) zu dem Gesetz zur Senkung der
Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbesteuerung ({1})
- Drucksachen 14/2683, 14/3074, 14/3366,
14/3640, 14/3760 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Joachim Poß
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Das
ist nicht der Fall. Wird das Wort zur Erklärung er-
wünscht? - Das ist ebenfalls nicht der Fall.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsaus-
schuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsord-
nung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die
Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Es ist
namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze
einzunehmen. Sind alle Urnen besetzt? - Das ist der Fall.
Ich eröffne die Abstimmung. -
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall. Ich
schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das
Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später bekannt ge-
geben.1) 2)
Ich möchte für das Protokoll noch bekannt geben, dass
es gemäß § 31 der Geschäftsordnung eine Erklärung des
Kollegen Jörg Tauss, SPD-Fraktion, zur Abstimmung
über das Ergebnis des Vermittlungsausschusses gibt.
Bevor wir die Beratungen fortsetzen, bitte ich diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die der anschließenden
Debatte folgen wollen, ihre Plätze einzunehmen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2})
- zu dem Antrag der Abgeordneten Stephan
Hilsberg, Brigitte Wimmer ({3}), Klaus
Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Matthias
Berninger, Hans-Josef Fell, Kerstin Müller
({4}), Rezzo Schlauch und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Für eine Modernisierung der Ausbildungsförderung für Studierende
- zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard
Friedrich ({5}), Angelika Volquartz,
Thomas Rachel, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Eckpunkte für eine BaföG-Reform
- zu dem Antrag der Abgeordneten Maritta
Böttcher, Dr. Heinrich Fink, Dr. Ilja Seifert und
der Fraktion der PDS
Strukturelle Erneuerung der Ausbildungsförderung
- zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Dreizehnter Bericht nach § 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes zur Überprüfung
der Bedarfssätze, Freibeträge sowie Vomhundertsätze und Höchstbeträge nach § 21 Abs. 2
- Drucksachen 14/2905, 14/2031, 14/2789,
14/1927, 14/2811 Nr. 1, 14/3730 Berichterstattung:
Abgeordnete Brigitte Wimmer ({6})
Matthias Berninger
Maritta Böttcher
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Stephan Hilsberg von der SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Bundestag
wird heute Eckpunkte zur BAföG-Reform verabschieden
und es wird Sie nicht wundern, dass es die Eckpunkte der
Koalition sind.
({0})
Ich darf das vorwegnehmen, auch wenn mir das natürlich
Leid tut für die Opposition, Herr Kollege Friedrich: Das
ist ein großer Erfolg für die Studierenden.
Wir sind hier auf der politischen Ebene, und zwar nicht
nur hinsichtlich des Umstandes, dass sich die Kollegen
lieber miteinander unterhalten statt zuzuhören, und dies
auch bei der Diskussion über wichtige Reformen. Leider
gibt es bei uns einen Sprachgebrauch, der von den Betroffenen häufig nicht verstanden wird. BAföG, das ist das
Bundesausbildungsförderungsgesetz. Es ist eines der
wichtigsten Gesetze, das wir haben und das die Bundesrepublik in den vergangenen 30 Jahren ein ganzes Stück
sozialer gemacht hat. Viele Absolventen, auch viele, die
hier im Saale sitzen, viele unserer Kollegen verdanken es
BAföG, dass sie haben studieren können, dass sie akademische Grade erwerben konnten. Ich denke, ich kann im
Namen aller sagen: Die Gesellschaft verdankt BAföG ein
Stück mehr Chancengleichheit.
({1})
Aber dieses Gesetz ist in die Jahre gekommen. Es ist
sehr unverständlich geworden, es ist fürchterlich kompli-
ziert, engherzig und deshalb alles in allem unzumutbar
geworden. Aus diesem Grunde hat es in den letzten Jah-
ren umfangreiche Bemühungen um eine vollständige Re-
form des BAföG gegeben.
Natürlich muss man eines bedenken: BAföG ist nicht
der einzige Teil der Reform, die ansteht. Wir haben neben
der BAföG-Reform auch noch eine umfangreiche Hoch-
schulreform für dieses System an Haupt und Gliedern
vorzunehmen. Dazu gehören die Dienstrechtsreform und
die Hochschulstrukturreform. Dies alles ist dringend not-
wendig, doch ohne BAföG-Reform kann die Hochschul-
strukturreform nicht gelingen, weil es sonst auf unserem
Weg in die Wissensgesellschaft leicht passieren könnte,
Vizepräsidentin Petra Bläss
1) Seite 10800
2) Anlage 23
dass Kinder aus sozial schwachen Familien zurückgelassen würden. Und dann ist Chancengleichheit eben nicht
gewährleistet.
({2})
Chancengleichheit ist ein abstraktes Wort, aber hier
wird es mit Leben gefüllt. Ganz konkret: Was werden wir
machen? Wir wollen, dass die Studenten mehr Geld im
Portemonnaie haben. Wir werden die Eltern entlasten, indem das Kindergeld nicht mehr angerechnet wird und die
Freibeträge erhöht werden. Wir werden BAföG-Empfängern erstmals die Möglichkeit geben, EU-weit im Ausland
mit BAföG-Inlandssätzen studieren zu können. Wir werden durch diese Reform die letzten Reste an Ost-WestUngleichheit aufheben, sodass eine völlige Rechtsgleichheit zwischen Ost und West geschaffen wird. Das ist ein
großer Fortschritt. Wir werden solche wichtigen Dinge
wie die Anrechnung von Kindererziehungszeiten stärker
und besser berücksichtigen, als das bisher der Fall war.
Dies alles sind dringend notwendige, unverzichtbare
Bestandteile der BAföG-Reform.
({3})
Nun hat es in den letzten Monaten, in denen wir das
diskutiert haben, immer wieder kritische, skeptische Fragen von Seiten der Opposition gegeben. Die Opposition
traute uns nicht zu, die dafür notwendigen Finanzmittel
aufzubringen. Meine Damen und Herren, der Finanzplan
liegt vor. Sie alle können in den Haushalt des Jahres 2001
hineinschauen. Die Diskussion ist entschieden. Die zusätzlichen Millionen - in diesem Falle sind es 425 Millionen DM, weil das nur ein Teilzeitraum und nicht das gesamte Jahr ist - sind bereitgestellt. Es ist „fresh money“,
es ist frisches Geld, das zur mittelfristigen Finanzplanung
hinzugekommen ist,
({4})
sodass wir im Jahr 2001 nicht nur über den uns zustehenden Anteil der Innovationsmilliarde verfügen können,
sondern zusätzlich über den Anteil, der für das BAföG zur
Verfügung gestellt wird. Wenn ich dann noch berücksichtige, dass der Darlehensanteil und der Anteil der Länder
hinzukommen, werden wir es mit den 500 Millionen DM,
die zusätzlich im Haushalt stehen, schaffen, insgesamt
1,3 Milliarden DM für die Studenten zu mobilisieren.
Wenn das kein Erfolg ist, weiß ich nicht, was ein Erfolg
ist.
({5})
Natürlich haben wir mehr gewollt. Das gebe ich ganz
ehrlich zu. Wir haben einen Sockel gewollt. Der Sockel
hat sich nicht realisieren lassen. Es ist eine Sache der Ehrlichkeit, das einzugestehen. Aber es ist verlogen, wenn
F.D.P. und PDS heute immer noch so tun, als könnten sie
den Sockel realisieren.
Bei der F.D.P. wundert mich das besonders, weil der
Vorschlag, den sie dazu unterbreitet hat, total unfinanzierbar ist. Wie sich eine Partei der Besserverdienenden
das eigentlich leisten will, ist mir schleierhaft. Ich kann
mir das nur so erklären, dass Sie an dieser Stelle ja nicht
Ihr Geld ausgeben, sondern das Geld anderer.
Herr Kollege
Hilsberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Pieper?
Bitte schön, Frau Pieper.
Herr Kollege Hilsberg, nach
diesen zahlreichen Unterstellungen, die natürlich alle
nicht zutreffen,
({0})
möchte ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist - es müsste zu
Ihren Pflichten als Abgeordneter gehören, dass Sie darüber Bescheid wissen -, dass die Darlehensrückflüsse aus
dem BAföG-Bestand im Bundeshaushalt bis zu 6 Milliarden DM betragen und dass das ursprüngliche Gesetz vorgesehen hat, dass diese Darlehensrückflüsse in die neue
Finanzierung des BAföG fließen, das heißt der Sockelbetrag des Ausbildungsgeldes allein aus den Darlehensrückflüssen voll finanzierbar wäre.
Frau Pieper, Sie machen
hier wieder eine schöne Milchmädchenrechnung auf und
wollen darüber offenbar vergessen machen, dass allein Ihr
so genannter Reformvorschlag vermutlich zusätzliche
Kosten von 4 bis 5 Milliarden DM zur Folge hätte. Das
überstiege das, was an Mitteln vorhanden ist, bei weitem.
Jetzt lassen Sie mich bitte fortfahren. Ich glaube, Sie
haben noch Gelegenheit, darüber zu sprechen.
Heißt das, dass Sie
eine zweite Frage nicht zulassen, Kollege Hilsberg?
Wir wollen ja in der Sache
weiterkommen und keine Scheindiskussionen führen.
({0})
Auch zur PDS muss man nicht viel sagen. Ihr Vorschlag ist ein typisches Beispiel dafür, dass ungleiche Verhältnisse gleich behandelt werden sollen. Nicht nur der
Umstand, dass Sie 1,8 Millionen Studenten eine Summe
von 1 200 DM monatlich zur Verfügung stellen wollen,
zeigt, dass er überhaupt nicht finanzierbar ist, denn das
würde in einen zweistelligen Milliardenbereich hineingehen. Zum anderen würden Sie damit die bestehenden
sozialen Ungerechtigkeiten nicht beseitigen, sondern verfestigen. Denn diejenigen, die aus guten Familienverhältnissen kommen, nähmen das Geld dankbar entgegen, aber
sie hätten es überhaupt nicht nötig. Das heißt, soziale Ungerechtigkeiten werden bei Ihrem Antrag nur perpetuiert.
Darüber hinaus haben wir vor - das ist gemeinsam verabredet -, Bildungskredite einzurichten. Das ist ein innovativer Vorschlag, der sich an eine völlig neue Gruppe
von Studenten richtet, die bisher kein BAföG erhalten haben, bei denen es aber ebenso vorkommen kann, dass sie
in finanzielle Notlagen geraten. Deshalb kann ich mir, gerade bei Ihnen von der CDU/CSU, überhaupt nicht erklären, warum Sie diesen Vorschlag nicht unterstützen.
({1})
Vielleicht verstehen Sie das nicht; dann muss man es
Ihnen noch einmal genau erklären. Aber ich habe einen
anderen Verdacht. Mein Verdacht ist, dass Sie über Ihrem
Bemühen, sozusagen in die linke Ecke vorzustoßen und
so zu tun, als seien Sie sozial gerechter als wir, Ihre eigene
Wählerklientel vergessen. Denn es ist doch völlig klar:
Auch unter den Studenten, die zur Finanzierung ihres Studiums auf das Einkommen ihrer Eltern angewiesen sind,
gibt es soziale und finanzielle Unterschiede. Die einen Eltern sind leicht in der Lage, ein Auslandsstudium zu finanzieren, die anderen nicht. Auch wenn finanzielle Notlagen entstehen, sind diese Studenten nicht BAföG-berechtigt. Aber sie brauchen eine finanzielle Hilfe, damit
sie nicht arbeiten gehen müssen. Diesen Studenten wollen
wir mit Bildungskrediten helfen. Dies ist die politische
Stoßrichtung der Bildungskredite. Es ist sehr gut, dass es
uns gelungen ist, sie zu verankern.
({2})
Ein weiterer Punkt unseres Antrags betrifft die Expertenkommission. Auch das ist ein Punkt, den die
CDU/CSU nicht unterstützt. Ich wundere mich immer darüber. Sind Sie denn schon so weit jenseits, dass Sie nicht
einmal mehr Diskussionen über die Veränderungen in unserer Gesellschaft führen wollen?
({3})
Das wundert mich wirklich sehr. Sie können gerne
blockieren, aber Sie werden die Veränderungen nicht aufhalten. Wir werden uns um diese Veränderungen kümmern.
({4})
Es sind zum Teil ganz praktische Fragen, um die wir
uns zu kümmern haben. Ich kann doch beispielsweise
nicht ignorieren, wenn das Deutsche Studentenwerk feststellt, dass zwar immerhin 33 Prozent der Kinder aus
bildungsfernen Schichten die Sekundarstufe II besuchen,
aber viel zu wenige von diesen anschließend studieren.
Ich kann doch nicht ignorieren, dass festgestellt wird, dass
die eigentliche Selektion in der Schule vorgenommen
wird, in der Weichenstellung zwischen Berufsausbildung
und Abiturzweig.
Wenn ich hier etwas ändern will, muss ich zusätzliche
Förderinstrumente entwickeln. Das können einfache
Dinge sein. Ich kann zum Beispiel Fahrt- und Verkehrskosten zusätzlich fördern und ich kann mit Bildungsgutscheinen arbeiten. Aber ich muss mich um diese Dinge
kümmern. Denn wenn ich diese Gesellschaft sozial gerechter machen will, dann muss ich bereits in der Schule
ansetzen. Mit welchen Instrumenten kann man das machen? Wir laden Sie ein, mit uns darüber zu reden.
({5})
Das sind alles keine trivialen Probleme. Wenn Sie diese
Diskussion nicht unmittelbar im Herzstück der Politik
verankern, dann ist sie für die Gesellschaft folgenlos.
Welchen Sinn macht es, Kindergeld bis zum 27. Lebensjahr zu zahlen? Hat das etwas mit dem Ende des Studiums zu tun, mit dem Begriff des „lebenslangen Lernens“? Hat das etwas damit zu tun, dass die, die eine
Berufsausbildung machen, davon überhaupt nichts haben? Und wie gehen wir auf die Situation ein, dass wir auf
dem Weg in die Wissensgesellschaft zunehmend ganz andere Erwerbsbiografien haben werden: Abschnitte, in
denen man sein Geld selber verdienen muss, und dann
wieder Abschnitte, in denen man lernen muss? Die bestehenden sozialen Netze sichern diese Lernabschnitte nicht
genügend ab. Wir brauchen im Hinblick auf die verschiedenen sozialen Systeme umfangreiche Harmonisierungsbemühungen. Wir kümmern uns darum. Wir haben uns
dieses Problems angenommen und sind an dieser Stelle
auf einem guten Weg.
({6})
Meine Damen und Herren, wir verabschieden uns in
die Sommerpause
({7})
mit der Verabschiedung der Eckpunkte für eine solche Reform. Im Herbst dieses Jahres werden wir dann über einen
Gesetzentwurf und über viele Einzelheiten diskutieren
können. Aber die Weichen für mehr soziale Gerechtigkeit,
für die Förderung von Studenten werden wir heute stellen
und dafür danke ich Ihnen.
({8})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, gebe ich Ihnen das von den
Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Gesetz zur
Senkung der Steuersätze und zur Reform der Unternehmensbesteuerung, dem Steuersenkungsgesetz, Drucksachen 14/2683, 14/3074, 14/3366, 14/3640 und 14/3760
bekannt: Abgegebene Stimmen 591. Mit Ja haben gestimmt 312 Kolleginnen und Kollegen, mit Nein haben
gestimmt 279 Kolleginnen und Kollegen. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 591
ja: 312
nein: 279
Ja
SPD
Gerd Andres
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Hermann Bachmaier
Ernst Bahr
Doris Barnett
Dr. Hans Peter Bartels
Eckhardt Barthel ({0})
Klaus Barthel ({1})
Ingrid Becker-Inglau
Wolfgang Behrendt
Dr. Axel Berg
Hans-Werner Bertl
Petra Bierwirth
Rudolf Bindig
Lothar Binding ({2})
Kurt Bodewig
Klaus Brandner
Anni Brandt-Elsweier
Willi Brase
Dr. Eberhard Brecht
Rainer Brinkmann ({3})
Bernhard Brinkmann
({4})
Hans-Günter Bruckmann
Ursula Burchardt
Dr. Michael Bürsch
Hans Büttner ({5})
Marion Caspers-Merk
Wolf-Michael Catenhusen
Christel Deichmann
Karl Diller
Rudolf Dreßler
Detlef Dzembritzki
Dieter Dzewas
Sebastian Edathy
Ludwig Eich
Marga Elser
Peter Enders
Gernot Erler
Annette Faße
Lothar Fischer ({6})
Iris Follak
Norbert Formanski
Rainer Fornahl
Hans Forster
Dagmar Freitag
Lilo Friedrich ({7})
Anke Fuchs ({8})
Arne Fuhrmann
Prof. Monika Ganseforth
Konrad Gilges
Iris Gleicke
Günter Gloser
Uwe Göllner
Renate Gradistanac
Günter Graf ({9})
Angelika Graf ({10})
Dieter Grasedieck
Monika Griefahn
Kerstin Griese
Achim Großmann
Karl Hermann Haack
({11})
Hans-Joachim Hacker
Klaus Hagemann
Manfred Hampel
Christel Hanewinckel
Alfred Hartenbach
Anke Hartnagel
Klaus Hasenfratz
Nina Hauer
Hubertus Heil
Reinhold Hemker
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Monika Heubaum
Reinhold Hiller ({12})
Jelena Hoffmann ({13})
Walter Hoffmann
({14})
Iris Hoffmann ({15})
Ingrid Holzhüter
Christel Humme
Lothar Ibrügger
Barbara Imhof
Brunhilde Irber
Gabriele Iwersen
Renate Jäger
Jann-Peter Janssen
Ilse Janz
Prof. Dr. Uwe Jens
Volker Jung ({16})
Johannes Kahrs
Ulrich Kasparick
Sabine Kaspereit
Susanne Kastner
Klaus Kirschner
Marianne Klappert
Siegrun Klemmer
Walter Kolbow
Fritz Rudolf Körper
Karin Kortmann
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Volker Kröning
Angelika Krüger-Leißner
Horst Kubatschka
Ernst Küchler
Helga Kühn-Mengel
Ute Kumpf
Konrad Kunick
Dr. Uwe Küster
Werner Labsch
Brigitte Lange
Christian Lange ({17})
Detlev von Larcher
Waltraud Lehn
Robert Leidinger
Dr. Elke Leonhard
Eckhart Lewering
Götz-Peter Lohmann
({18})
Erika Lotz
Dr. Christine Lucyga
Dieter Maaß ({19})
Winfried Mante
Tobias Marhold
Lothar Mark
Christoph Matschie
Markus Meckel
Ulrike Mehl
Ulrike Merten
Angelika Mertens
Prof. Dr. Jürgen Meyer
({20})
Ursula Mogg
Siegmar Mosdorf
Michael Müller ({21})
Jutta Müller ({22})
Christian Müller ({23})
Franz Müntefering
Andrea Nahles
Gerhard Neumann ({24})
Dr. Edith Niehuis
Dr. Rolf Niese
Eckhard Ohl
Leyla Onur
Manfred Opel
Holger Ortel
Adolf Ostertag
Kurt Palis
Albrecht Papenroth
Prof. Dr. Martin Pfaff
Georg Pfannenstein
Johannes Pflug
Prof. Dr. Eckhart Pick
Karin Rehbock-Zureich
Dr. Carola Reimann
Renate Rennebach
Dr. Edelbert Richter
Reinhold Robbe
Gudrun Roos
René Röspel
Michael Roth ({25})
Birgit Roth ({26})
Gerhard Rübenkönig
Marlene Rupprecht
Thomas Sauer
Dr. Hansjörg Schäfer
Gudrun Schaich-Walch
Rudolf Scharping
Bernd Scheelen
Dr. Hermann Scheer
Siegfried Scheffler
Horst Schild
Dieter Schloten
({27})
Ulla Schmidt ({28})
Silvia Schmidt ({29})
Dagmar Schmidt ({30})
Wilhelm Schmidt ({31})
Heinz Schmitt ({32})
Carsten Schneider
Dr. Emil Schnell
Walter Schöler
Olaf Scholz
Karsten Schönfeld
Fritz Schösser
Ottmar Schreiner
Gerhard Schröder
Gisela Schröter
Dr. Mathias Schubert
Richard Schuhmann
({33})
Brigitte Schulte ({34})
({35})
Volkmar Schultz ({36})
Ewald Schurer
Dr. R. Werner Schuster
Dietmar Schütz ({37})
Dr. Angelica Schwall-Düren
Rolf Schwanitz
Bodo Seidenthal
Erika Simm
Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk
Dr. Cornelie
Sonntag-Wolgast
Wieland Sorge
Wolfgang Spanier
Dr. Margrit Spielmann
Jörg-Otto Spiller
Dr. Ditmar Staffelt
Ludwig Stiegler
Rita Streb-Hesse
Reinhold Strobl ({38})
Dr. Peter Struck
Jörg Tauss
Jella Teuchner
Dr. Gerald Thalheim
Franz Thönnes
Uta Titze-Stecher
Adelheid Tröscher
Hans-Eberhard Urbaniak
Rüdiger Veit
Simone Violka
Ute Vogt ({39})
Hans Georg Wagner
Hedi Wegener
Dr. Konstanze Wegner
Wolfgang Weiermann
Reinhard Weis ({40})
Matthias Weisheit
Gunter Weißgerber
Dr. Ernst Ulrich von
Weizsäcker
Vizepräsidentin Petra Bläss
Jochen Welt
Hildegard Wester
Lydia Westrich
Inge Wettig-Danielmeier
Dr. Margrit Wetzel
Dr. Norbert Wieczorek
Helmut Wieczorek
({41})
Jürgen Wieczorek ({42})
Dieter Wiefelspütz
Heino Wiese ({43})
Klaus Wiesehügel
Brigitte Wimmer ({44})
Engelbert Wistuba
Barbara Wittig
Dr. Wolfgang Wodarg
Hanna Wolf ({45})
Waltraud Wolff ({46})
Heidemarie Wright
Dr. Christoph Zöpel
Peter Zumkley
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gila Altmann ({47})
Marieluise Beck ({48})
Volker Beck ({49})
Angelika Beer
Grietje Bettin
Annelie Buntenbach
Dr. Thea Dückert
Dr. Uschi Eid
Hans-Josef Fell
Andrea Fischer ({50})
Katrin Dagmar
Göring-Eckardt
Antje Hermenau
Ulrike Höfken
Michaele Hustedt
Monika Knoche
Steffi Lemke
Dr. Helmut Lippelt
Oswald Metzger
Kerstin Müller ({51})
Winfried Nachtwei
Christa Nickels
Cem Özdemir
Simone Probst
Christine Scheel
Rezzo Schlauch
Albert Schmidt ({52})
Werner Schulz ({53})
Christian Sterzing
Jürgen Trittin
Dr. Ludger Volmer
Sylvia Voß
Helmut Wilhelm ({54})
Margareta Wolf ({55})
Nein
CDU/CSU
Ulrich Adam
Ilse Aigner
Peter Altmaier
Dietrich Austermann
Norbert Barthle
Dr. Wolf Bauer
Günter Baumann
Brigitte Baumeister
Meinrad Belle
Otto Bernhardt
Dr. Joseph-Theodor Blank
Renate Blank
Dr. Heribert Blens
Peter Bleser
Friedrich Bohl
Dr. Maria Böhmer
Sylvia Bonitz
Jochen Borchert
Wolfgang Börnsen
({56})
Klaus Brähmig
Dr. Ralf Brauksiepe
Paul Breuer
Georg Brunnhuber
Klaus Bühler ({57})
Hartmut Büttner
({58})
Dankward Buwitt
Cajus Caesar
Manfred Carstens ({59})
Leo Dautzenberg
Wolfgang Dehnel
Hubert Deittert
Renate Diemers
Thomas Dörflinger
Hansjürgen Doss
Marie-Luise Dött
Rainer Eppelmann
Anke Eymer ({60})
Ilse Falk
Dr. Hans Georg Faust
Albrecht Feibel
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({61})
({62})
Erich G. Fritz
Jochen-Konrad Fromme
Hans-Joachim Fuchtel
Dr. Jürgen Gehb
Norbert Geis
Dr. Heiner Geißler
Georg Girisch
Michael Glos
Dr. Reinhard Göhner
Dr. Wolfgang Götzer
Kurt-Dieter Grill
Hermann Gröhe
Manfred Grund
Horst Günther ({63})
Carl-Detlev Freiherr von
Hammerstein
Gottfried Haschke
({64})
Klaus-Jürgen Hedrich
Helmut Heiderich
Ursula Heinen
Manfred Heise
Siegfried Helias
Hans Jochen Henke
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Martin Hohmann
Klaus Holetschek
Josef Hollerith
Siegfried Hornung
Joachim Hörster
Hubert Hüppe
Susanne Jaffke
Georg Janovsky
Dr.-Ing. Rainer Jork
Bartholomäus Kalb
Steffen Kampeter
Dr.-Ing. Dietmar Kansy
Volker Kauder
Eckart von Klaeden
Ulrich Klinkert
Manfred Kolbe
Norbert Königshofen
Eva-Maria Kors
Thomas Kossendey
Dr. Martina Krogmann
Dr. Paul Krüger
Dr. Hermann Kues
Karl Lamers
Dr. Karl A. Lamers
({65})
Dr. Norbert Lammert
Helmut Lamp
Dr. Paul Laufs
Vera Lengsfeld
Werner Lensing
Peter Letzgus
Ursula Lietz
Walter Link ({66})
Eduard Lintner
Dr. Klaus W. Lippold
({67})
Dr. Manfred Lischewski
({68})
Julius Louven
Dr. Michael Luther
Erich Maaß ({69})
Erwin Marschewski
({70})
Dr. Martin Mayer
({71})
Wolfgang Meckelburg
Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Hans Michelbach
Meinolf Michels
Dr. Gerd Müller
Bernward Müller ({72})
Elmar Müller ({73})
Bernd Neumann ({74})
Claudia Nolte
Günter Nooke
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Norbert Otto ({75})
Dr. Peter Paziorek
Anton Pfeifer
Dr. Friedbert Pflüger
Beatrix Philipp
Marlies Pretzlaff
Dr. Bernd Protzner
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Helmut Rauber
Christa Reichard ({76})
Erika Reinhardt
Hans-Peter Repnik
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Hannelore Rönsch
({77})
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr
Dr. Klaus Rose
Kurt J. Rossmanith
Adolf Roth ({78})
Dr. Christian Ruck
Volker Rühe
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang Schäuble
Hartmut Schauerte
Heinz Schemken
Karl-Heinz Scherhag
Gerhard Scheu
Norbert Schindler
Bernd Schmidbauer
Christian Schmidt ({79})
Dr.-Ing. Joachim Schmidt
({80})
Michael von Schmude
Birgit Schnieber-Jastram
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Rupert Scholz
Dr. Erika Schuchardt
Wolfgang Schulhoff
Dr. Christian
Schwarz-Schilling
Wilhelm-Josef Sebastian
Horst Seehofer
Rudolf Seiters
Bernd Siebert
Werner Siemann
Margarete Späte
Carl-Dieter Spranger
Wolfgang Steiger
Erika Steinbach
Dr. Wolfgang Freiherr von
Stetten
Vizepräsidentin Petra Bläss
Andreas Storm
Max Straubinger
Thomas Strobl ({81})
Michael Stübgen
Edeltraut Töpfer
Gunnar Uldall
Arnold Vaatz
Peter Weiß ({82})
Gerald Weiß ({83})
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({84})
Hans-Otto Wilhelm ({85})
Klaus-Peter Willsch
Bernd Wilz
Matthias Wissmann
Werner Wittlich
Dagmar Wöhrl
Aribert Wolf
Elke Wülfing
Peter Kurt Würzbach
Wolfgang Zeitlmann
Benno Zierer
Wolfgang Zöller
F.D.P.
Ina Albowitz
Hildebrecht Braun
({86})
Ernst Burgbacher
Jörg van Essen
Gisela Frick
Paul K. Friedhoff
Horst Friedrich ({87})
Rainer Funke
Dr. Wolfgang Gerhardt
Joachim Günther ({88})
Dr. Karlheinz Guttmacher
Dr. Helmut Haussmann
Ulrich Heinrich
Walter Hirche
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Ulrich Irmer
Dr. Klaus Kinkel
Dr. Heinrich Leonhard Kolb
Gudrun Kopp
Jürgen Koppelin
Ina Lenke
Sabine LeutheusserSchnarrenberger
Günther Friedrich Nolting
Cornelia Pieper
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Gerhard Schüßler
Marita Sehn
Carl-Ludwig Thiele
Dr. Dieter Thomae
Jürgen Türk
PDS
Dr. Dietmar Bartsch
Maritta Böttcher
Eva-Maria Bulling-Schröter
Heidemarie Ehlert
Dr. Heinrich Fink
Wolfgang Gehrcke
Dr. Klaus Grehn
Uwe Hiksch
Ulla Jelpke
Gerhard Jüttemann
Rolf Kutzmutz
Ursula Lötzer
Dr. Christa Luft
Heidemarie Lüth
Angela Marquardt
Kersten Naumann
Rosel Neuhäuser
Dr. Uwe-Jens Rössel
Christina Schenk
Dr. Ilja Seifert
Vizepräsidentin Petra Bläss
({89})
Nächster Redner in der laufenden Debatte ist der Kollege Dr. Gerhard Friedrich, CDU/CSU-Fraktion.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst
möchte ich dem Kollegen Hilsberg versichern, dass wir
natürlich die Idee des Bildungskredits überprüfen werden.
Allerdings können wir mit dieser Diskussion erst dann beginnen, wenn Sie ein Konzept vorlegen.
({0})
Bisher gibt es nur diesen Begriff. Soweit ich den Entwurf
des Haushalts für das nächste Jahr gesehen habe, gibt es
dafür kein Geld.
Herr Hilsberg, Sie haben Recht, wenn Sie prognostizieren, dass die Koalition heute ein BAföG-Konzept beschließen wird. Es spricht für Sie, dass Sie zugeben - das
haben Sie aber etwas verniedlicht -, dass Sie gleichzeitig
ein Vorhaben, das man früher als „großes sozialdemokratisches Reformprojekt“ bezeichnet hat, beerdigen. Das
Drei-Körbe-Modell, ein Begriff, den wirklich kaum jemand versteht, haben Sie vor und während des letzten
Bundestagswahlkampfes kompromisslos vertreten. Dieses Modell wurde als zentrales Vorhaben in Ihrer Koalitionsvereinbarung angekündigt. Noch auf Ihrem Parteitag
im Dezember letzten Jahres haben Sie dieses Konzept bekräftigt.
Frau Kollegin Wimmer, die ich hier vor mir sitzen
sehe, hat unsere Vorschläge anlässlich einer Diskussion
am 2. Dezember 1999 sehr herablassend behandelt
({1})
und ziemlich großspurig angekündigt, dass man auf der
Grundlage des so genannten Drei-Körbe-Modells für eine
Trendwende hin zu mehr Gerechtigkeit sorgen werde.
({2})
Wenige Wochen später hat der Bundeskanzler dieses
Konzept während einer Fraktionssitzung beerdigt bzw.
Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU
Abgeordnete
Adler, Brigitte Bierling, Hans-Dirk Grießhaber, Rita
SPD CDU/CSU BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Moosbauer, Christoph Raidel, Hans Dr. Süssmuth, Rita
SPD CDU/CSU CDU/CSU
Prof. Weisskirchen, Gert ({3}) Wimmer, Willy ({4}) Zapf, Uta
SPD CDU/CSU SPD
mit einem Veto gestoppt. Seine Begründung - das hat
Kollege Berninger schon zum Ausdruck gebracht -, die
Eltern hätten das dafür notwendige Geld bereits für die Finanzierung ihrer Häuschen fest eingeplant, war wirklich
abenteuerlich.
({5})
In Wirklichkeit mussten auch Sie sich der Einsicht beugen, dass der in diesem Zusammenhang erforderliche
Sockelbetrag nicht finanzierbar ist. Das wissen wir bereits
seit Jahren. Bei einer Direktzahlung an die Studierenden
gibt es erhebliche Konflikte mit dem Unterhaltsrecht und
mit verfassungsrechtlich abgesicherten Grundsätzen des
Steuerrechts. Diese Probleme lassen sich mit sehr viel
Geld lösen, machen das Ganze aber nicht finanzierbar.
1998 hat der Bund für das BAföG insgesamt 1,5 Milliarden DM ausgegeben. Frau Bulmahn, unsere neue Bildungsministerin, hat 15 Monate gebraucht, um festzustellen, dass der Bund seine Ausgaben verdoppeln müsste,
um allein allen erwachsenen Auszubildenden ein Bildungsgeld von 400 DM monatlich zu zahlen. Diese Zeit
hat sie auch gebraucht, um festzustellen, dass kein sozialdemokratischer Finanzminister bereit ist, diese und zusätzliche Mittel für höhere Leistungen an Einkommensschwache, auf die es in diesem Zusammenhang ganz entscheidend ankommt, bereitzustellen. Hätte Frau Bulmahn
die Stellungnahmen ihres Vorgängers Rüttgers intensiv
gelesen, dann hätte sie schon bei Amtsantritt zu diesem
Ergebnis kommen können.
Herr Kollege Hilsberg, heute haben Sie die Koalition
und deren weise Beschlüsse bejubelt. Mitte Januar dieses
Jahres haben Sie schlicht und einfach von einem „Glaubwürdigkeitsverlust der SPD“ gesprochen. Bei den Grünen
war sogar von einem „Bruch der Koalitionsvereinbarung“
die Rede.
({6})
Was ist denn wirklich passiert? Einige Tage später, wohl
in der Nacht vom 19. auf den 20. Januar dieses Jahres, haben Sie unseren Vorschlag einer Reform innerhalb des
Systems übernommen. Ich war wirklich fassungslos, als
Sie in der Aktuellen Stunde vom 20. Januar 2000 schon
wieder bereit waren, den Ruhm und die Weisheit der Koalition zu preisen.
Ich will es klar sagen: Das Scheitern des Drei-KörbeModells ist für uns kein Anlass, Tränen zu vergießen. Angeblich sollte dadurch erreicht werden, erwachsene Studierende von ihren Eltern finanziell unabhängig zu machen. Tatsächlich ist dieses Ziel überhaupt nicht zu
verwirklichen; dies gilt zumindest für die meisten Studenten.
Auch die Empfänger von Bildungsgeld bleiben überwiegend auf ergänzende Unterhaltsleistungen der Eltern
angewiesen. Ein Staat, der sparen muss, sollte das Geld
auf diejenigen konzentrieren, die aufgrund der Einkommensverhältnisse wirklich staatliche Hilfe brauchen.
({7})
Wir haben immer vorhergesagt, dass jemand, der viel
Geld für die Einrichtung eines Bildungsgeldes ausgibt,
anschließend bei der Hilfe für die wirklich Einkommensschwachen sparen muss.
Ein Beispiel dafür ist ein Vorschlag der F.D.P., Frau
Kollegin Pieper. Sie bieten darin ein noch großzügigeres
Bildungsgeld an - über die Finanzierung will ich hier gar
nicht reden ({8})
und sehen für diejenigen, die es benötigen, noch einen Zuschuss von 350 DM vor. Wer noch mehr Geld braucht, bekommt dann ein Darlehen in Höhe von bis zu
750 DM monatlich. Übertragen wir das auf die heutige Situation, so wären diejenigen, die auf eine Vollförderung
angewiesen sind, bei Abschluss ihrer Ausbildung an der
Hochschule noch höher verschuldet, als sie es heute sind.
Wenn wir gemeinsam beklagen, dass von 100 Kindern
aus einkommensschwachen Familien nur 33 auf das
Gymnasium gehen und davon im Schnitt lediglich acht
ein Studium aufnehmen,
({9})
dann ist doch genau das Gegenteil notwendig, Frau Kollegin. Deshalb schlagen wir, unterstützt durch die Hochschulrektorenkonferenz, vor, die Darlehensbelastung zu
begrenzen. Meine Damen und Herren, wenn Sie eines Tages unsere Zustimmung zu Ihrem BAföG-Konzept wollen - das ist ja erst dann endgültig zu beurteilen, wenn der
Gesetzentwurf vorliegt -, dann müssen Sie bei dieser sozialen Komponente, die uns sehr wichtig ist, noch nachbessern.
({10})
Bei der letzten Debatte zu diesem Thema am 20. Januar
musste ich feststellen, dass uns die in den letzten Jahren
tatsächlich stark gesunkene Gefördertenquote vorgeworfen wird.
({11})
Es wurde gesagt, die alte Regierung hätte das BAföG ausgetrocknet.
({12})
Da Sie damit auch heute sicher wieder kommen, möchte
ich auf Folgendes aufmerksam machen: Wir hatten es mit
der schwierigen Situation zu tun, dass sich die Fachminister aus Bund und Ländern wegen ihrer unterschiedlichen Vorstellungen hinsichtlich des Wesens einer Strukturreform gegenseitig blockiert haben. Im Jahre 1997 haben die Finanzminister dreimal den einstimmigen
Beschluss gefasst, dass eine BAföG-Reform kostenneutral durchgeführt werden müsse. Und im letzten Beschluss vom Dezember 1997 - ich habe die entsprechenden Unterlagen an meinem Platz - kommt
klar zum Ausdruck, dass die Finanzminister - und zwar
Dr. Gerhard Friedrich ({13})
einstimmig - alle vorgelegten Konzepte für eine BAföGReform ablehnen.
({14})
Für die wirklich bedauerliche Entwicklung, die wir niemals gerechtfertigt haben, sind also nicht nur wir verantwortlich, die wir die letzte Regierung getragen haben,
sondern auch die sozialdemokratischen Finanzminister in
den Ländern.
Umso erstaunter sind wir, dass Sie jetzt aus den Fehlern der Vergangenheit das Recht ableiten, die Strukturreform oder, wie Frau Bulmahn neuerdings sagt - dieser Begriff ist eigentlich zutreffend -, die Totalsanierung der
Ausbildungsförderung selbst zu verzögern. Nur zu Beginn Ihrer Regierungszeit haben Sie schnell gehandelt
und, wie damals Herr Bundesminister Rüttgers kurz vor
der Wahl, die Freibeträge und die Bedarfssätze erhöht.
Aber wir stellen fest, dass Sie seit der Verabschiedung der
20. Novelle, genauer gesagt: seit dem Wechsel im Finanzministerium, eine Politik nach dem Motto „Sparen
durch Verzögern“ betreiben.
({15})
- Sie lachen, Herr Kollege Hilsberg. Als Sie nach einer
Nachtsitzung - das habe ich gelesen; Sie haben es der
Presse mitgeteilt - Ihr Konzept vorgelegt haben, war die
Finanzierung überhaupt noch nicht gesichert; es gab nur
Eckpunkte.
({16})
Darüber haben Sie mit dem Finanzminister noch wochenlang gestritten.
({17})
Der Finanzminister wollte die Reform erst im Jahr 2002
in Kraft treten lassen.
Jetzt haben Sie einen Kompromiss geschlossen und
nennen ein neues Datum für das In-Kraft-Treten, nämlich
den 1. April 2001. Damit setzen Sie sich in Widerspruch
zu dem Bericht Ihrer Regierung über die Entwicklung des
BAföG. In ihm steht, dass aus dem Anstieg der Lebenshaltungskosten eine Anhebung der Bedarfssätze und Freibeträge zum Herbst 2000 abgeleitet werden kann und dass
die Entwicklung der Nettoeinkommen eine noch höhere
Anpassung rechtfertigt.
Herr Kollege
Friedrich, ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.
Das
heißt, Sie verschieben nicht nur die inzwischen von allen
Ländern dringend angemahnte Totalsanierung des
BAföG, sondern nehmen auch in Kauf, dass das Förderniveau vorübergehend erneut absinkt. Dafür werden allein Sie die Verantwortung übernehmen müssen.
Vielen Dank.
({0})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Matthias
Berninger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor kurzem
hat die OECD eine Studie mit dem Titel „Bildung auf einen Blick“ vorgestellt, in der die Industrieländer, die
wohlhabenden Länder dieser Welt, und deren Bildungssysteme miteinander verglichen wurden. Auffällig ist,
dass in Deutschland der Anteil eines Altersjahrgangs, der
an eine Hochschule geht, erschreckend niedrig ist: niedriger als in den meisten anderen Ländern, niedriger als im
Durchschnitt aller OECD-Länder.
Hier ist von allen Seiten beklagt worden, dass in
Deutschland der Geldbeutel darüber entscheidet, ob jemand an die Uni geht oder nicht. Eine Errungenschaft der
Bildungsreform ist, dass der Anteil von Frauen bei den
Studienanfängern knapp 50 Prozent beträgt, dass also
Gleichberechtigung gegeben ist.
({0})
Im Hinblick auf die Einkommen der Eltern der Studierenden haben wir aber überhaupt noch nichts erreicht.
Bei allem Streit über die BAföG-Reform sollte man
sich dieses Ziel ganz oben auf die Fahnen schreiben. Hier
muss sich in den nächsten Jahren etwas ändern. In
Deutschland müssen mehr junge Menschen studieren. Die
Begabungsreserven kann man vor allem dort wecken, wo
die Leute nicht studieren, weil die Eltern die notwendigen
Mittel nicht zur Verfügung stellen können, obwohl deren
Kinder die Fähigkeiten zum Studieren hätten. Wenn wir
über BAföG reden, sollten wir uns meiner Meinung nach
zunächst einmal über diesen Punkt verständigen.
({1})
Ein zweiter wichtiger Punkt ist für mich die Diskussion
über die BAföG-Reform. Ich hätte es für besser gehalten,
wir hätten eine BAföG-Strukturreform gemacht, die das
klare Signal an die Familien gesandt hätte, dass unabhängig von den Eltern Studierende gefördert werden können.
Die elternunabhängige Studienfinanzierung ist aus
meiner Sicht nach wie vor das bessere Modell im Vergleich zu der bisherigen, am Elterneinkommen orientierten Ausbildungsförderung.
({2})
- Da Sie von beiden Seiten klatschen, muss ich sagen,
dass Sie von der PDS nur eine halbe elternunabhängige
Förderung wollen.
({3})
Dr. Gerhard Friedrich ({4})
Das ist so, als wollte man über einen Bach springen,
springt aber nur bis zur Mitte. Dass dies das Problem löst,
bezweifle ich.
Eine Ungerechtigkeit, die heute noch nicht thematisiert
worden ist, besteht darin, dass wir zwei Formen der Förderung haben: Über das Steuerrecht fördern wir die wohlhabenden Familien. Wir geben sehr viel Geld dafür aus,
dass sie entlastet werden, wenn ihre Kinder studieren.
Über das BAföG fördern wir diejenigen Familien, die wenig Geld haben. Der Unterschied besteht darin, dass der
Steuervorteil zu keinerlei Rückzahlungsverpflichtungen
führt, was, wie wir wissen, zumindest für die Hälfte des
BAföG gilt. Diese Ungerechtigkeit wird auch nach der
Reform fortbestehen. Ich persönlich halte dies sozialpolitisch für nicht verantwortbar und familienpolitisch für
falsch.
({5})
Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft werden wir nur
dann einen kräftigen Schritt vorankommen, wenn wir die
Familien komplett von der Verantwortung für ihre Kinder
im Studium entlasten.
Nun aber zur konkreten Reform: Herr Kollege
Friedrich, wir haben es - natürlich im zähen Kampf mit
dem Finanzminister - geschafft, 0,5 Milliarden DM zusätzlich im Haushalt zu mobilisieren. Das bedeutet, dass
wir insgesamt weitere 1,3 Milliarden DM in das BAföG
hineinstecken können. Die bedürftigen Familien in
Deutschland können mit 1,3 Milliarden DM mehr für die
Studierendenförderung rechnen. Klar war das ein harter
Kampf mit Herrn Eichel; das ist überhaupt keine Frage.
Im Kabinett ist es aber beschlossen worden. Die Ministerin hat sich an dieser Stelle durchgesetzt.
({6})
Ich möchte Ihnen einmal ein paar Zahlen vorlesen, die
die Dimension deutlich machen. Die BAföG-Ausgaben
sind im Jahr 1991 um 18 Millionen DM gesunken, im Jahr
1992 um 244 Millionen DM, im Jahr 1993 um 268 Millionen DM, im Jahr 1994 um 164 Millionen DM. 1995 hat
der Bund 85 Millionen DM weniger für das BAföG ausgegeben, 1996 202 Millionen DM weniger und 1997 hat
man sich darüber gefreut, dass es nur noch 41 Millionen DM weniger als im Vorjahr waren. Da hat man stolz
davon gesprochen, dass die Talfahrt gestoppt ist.
In Ihrer Verantwortungszeit - ich beziehe mich nur auf
diese Phase - ist das Sozialleistungsgesetz BAföG zu einem absoluten Nichts verkommen und ausgeblutet worden. Das ist auch der Grund dafür, warum heute nur so
wenige Kinder aus einkommensschwachen Familien - es
sind übrigens viel weniger, als das früher der Fall war studieren.
({7})
Es ist natürlich überhaupt keine Frage: Auch die Länderfinanzminister haben sich die Hände gerieben. Ich
halte es nicht für verantwortbar, dass sie dieses Geld eingespart haben. Es gibt aber einen Unterschied: Unsere
Ministerin wird Ihnen einen Gesetzentwurf vorlegen, in
dem 1,3 Milliarden DM mehr ausgegeben werden und
nicht Hunderte von Millionen DM weniger. Das ist ein
wichtiger Unterschied.
({8})
Die Koalitionsfraktionen haben in ihrem Antrag die
Bundesregierung aufgefordert, zum 1. April nächsten Jahres die BAföG-Reform auf den Weg zu bringen. Der
1. April ist ein realistisches Datum.
({9})
Wir werden, wenn wir so viel Geld in das BAföG
stecken, wie wir es heute vorhaben - es geht um 1,3 Milliarden DM -, an vielen Stellen innerhalb des Gesetzes
überlegen müssen: Sind bestimmte Regelungen noch
sinnvoll oder nicht, können wir das BAföG entbürokratisieren? Das bedarf eines geordneten Verfahrens. Dieses
geordnete Verfahren heißt: Im Herbst beschließt das Kabinett, im Winter berät der Bundestag und im Frühjahr tritt
die BAföG-Reform in Kraft.
({10})
Sie haben beispielsweise Forderungen gestellt, über
die man gründlich nachdenken muss - das werden wir
auch tun -, so etwa über die Forderung, die Darlehensschuld zu begrenzen, damit diejenigen, die am meisten
bedürftig sind, am wenigsten durch die BAföG-Schulden
belastet werden. Das ist ein interessanter Vorschlag, den
auch die Ministerin angesprochen hat und von dem wir
glauben, dass man ihn gründlich überprüfen und abwägen
sollte, ob er sinnvoll ist.
({11})
Dafür brauchen wir aber die Zeit bis zum 1. April.
Ich glaube, dass es in dieser Zeit gelingen wird, die
BAföG-Regelungen zu sanieren. Dass wir sie total sanieren werden, bezweifle ich. Ich habe Ihnen auch erklärt,
warum: Ich glaube, es wird in den nächsten Jahren struktureller Reformen innerhalb der Ausbildungsförderung
bedürfen. Wir werden aber in diesem Gesetz so viele
Dinge verändern, dass es am Ende nicht am BAföG liegen wird, wenn nur wenige Leute aus einkommensschwachen Familien studieren.
({12})
Natürlich haben auch die Schulen eine große Verantwortung, dafür zu sorgen, dass Leute auch dann eine
Chance zum Abitur erhalten, wenn sie aus einer Familie
stammen, die Sozialhilfe bezieht. Die Zahlen, die uns auf
dem Tisch liegen, sind erschreckend. Das wissen wir alle
und das macht uns alle besorgt.
Ich möchte noch zwei Bemerkungen zu der Strukturreformdiskussion machen. Innerhalb der Rentenreform
wird es jetzt eine Reform des Unterhaltsrechts geben.
Das hat Arbeitsminister Riester angekündigt, und das ist
vernünftig. Warum sollen diejenigen, die Kinder in die
Welt gesetzt haben, dann, wenn sie im Alter von Armut
betroffen sind, ihre Kinder belasten, während andere, die
ohne Kinder durchs Leben gegangen sind, zum Sozialamt
gehen können?
Hier werden die Unterhaltsbeziehungen zwischen Erwachsenen gekappt. Wir sollten das zum Anlass nehmen,
insgesamt darüber nachzudenken, ob die Unterhaltsbeziehungen zwischen Erwachsenen - zwischen erwachsenen
Studierenden und ihren Eltern und zwischen Rentnerinnen und Rentnern und ihren Kindern - noch vernünftig
geregelt sind. Dafür wollen wir eine Reformkommission
zur Zukunft der Bildungsfinanzierung einsetzen.
Wir wollen diese Reformkommission, weil wir sagen:
Auf dem Weg zum lebenslangen Lernen ist eine zentrale
Frage, wie man die Vorsorgeleistungen der Menschen für
die Bildung steuerlich begünstigen kann. Wir wollen die
Reformkommission, weil wir nicht selbstsicher sagen,
diese BAföG-Reform wird der größte Erfolg in der Geschichte der Republik, sondern weil wir prüfen wollen, ob
das Ziel erreicht wird oder ob weitere Maßnahmen nötig
sind. Wir wollen die Reformkommission, weil die Strukturreformdiskussion über das BAföG gezeigt hat: Es gibt
in Deutschland viele Menschen, viele Verbände und sehr
viel Engagierte, die sich mit diesem Thema beschäftigen.
Diese Menschen wollen wir an einen Tisch holen, um mit
ihnen über vernünftige Lösungen über den Tag hinaus zu
diskutieren. Ich halte das für eine gute Sache.
Am meisten freue ich mich, dass wir uns bereits auf einen Punkt geeinigt haben, der ein Stück weit Elternunabhängigkeit repräsentiert. Der Kollege Hilsberg hat ihn bereits angesprochen. Dadurch, dass wir den Studierenden
die Möglichkeit geben, elternunabhängig Bildungskredite in Anspruch nehmen zu können, wollen wir einen unbürokratischen Weg gehen, der es den Studierenden erlaubt, nicht jobben zu müssen, sondern schneller das Examen zu machen.
Herr Kollege
Berninger, auch Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Es darf nämlich nicht sein, dass Deutschland die jüngsten
Rentner und die ältesten Studenten hat. Deshalb wollen
wir ein Instrument schaffen, das das Studium beschleunigt.
Mein Appell, insbesondere an die unionsgeführten
Länder, lautet: Machen Sie dafür ebenfalls den Weg frei.
Die Koalitionsfraktionen werden ihren Anteil dazu bei
den Haushaltsberatungen abliefern.
({0})
- Das Konzept, Herr Kollege Rachel, legen wir Ihnen
selbstverständlich gern vor.
({1})
- Alles zu seiner Zeit, im Herbst.
Vielen Dank.
({2})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Cornelia Pieper für die F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich sage noch einmal deutlich: Wir beraten heute nicht über eine Strukturreform der
Bundesausbildungsförderung, sondern über Anträge der
Regierungskoalition und der Union, die auf eine Erhöhung der Bedarfssätze und Freibeträge hinauslaufen,
({0})
sozusagen über eine zukünftige 21. Novelle. Insbesondere die Regierungskoalition verabschiedet sich damit
von ihrem Vorhaben, eine echte Reform auf den Weg zu
bringen.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ich möchte Sie, Frau Ministerin, daran erinnern, was
Sie bei der Beratung des 20. Gesetzes zur Änderung der
Bundesausbildungsförderung 1999 gesagt haben. Damals sagten Sie - ich zitiere mit Genehmigung der Präsidentin:
Ich habe ... gesagt, dass wir zwar mit der vorliegenden BAföG-Novelle eine Trendwende hin zu mehr
Chancengleichzeit und sozialer Gerechtigkeit einleiten, dass aber die Hauptaufgabe noch vor uns liegt,
nämlich eine grundlegende Reform der Ausbildungsförderung.
Wir werden hierzu bis Ende dieses Jahres ein entscheidungsreifes Konzept vorlegen. Wir bauen bei
unseren Überlegungen auf den breiten Konsens auf,
ausbildungsbezogene staatliche Leistungen wie Kindergeld und Freibeträge zu einer elternunabhängigen
Förderung zusammenzufassen.
Frau Ministerin, genau das, was Sie wollten, sieht unser Gesetzentwurf vor, den wir heute hier nicht mitberaten. Ich weiß das, aber ich wollte Sie einfach noch einmal
an Ihre Vorhaben in der Regierungskoalition und auch an
die Beschlüsse des SPD-Bundesparteitages erinnern.
Die Wahrheit, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, ist: Sie sind mit Ihren richtigen Vorstellungen für eine echte Strukturreform vom Bundeskanzler zurückgepfiffen worden. Es verlief nach dem bekannten Schema - wir wissen es alle, denn dies passiert
öfter und auch vor den Augen der Öffentlichkeit -: große
Versprechen im Wahlkampf, auch einmal in der Regierungserklärung und im Koalitionsvertrag. Dann erklärt
der Kanzler der jungen Generation, als der er sich gerne
sieht, die BAföG-Reform zur Chefsache und erledigt es
auf seine Weise: Sie findet nicht statt.
({1})
Die richtige Idee einer elternunabhängigen Förderung für junge Erwachsene in der Ausbildung opfern Sie
sozusagen einer unsachlichen und demagogischen Argumentation des Kanzlers selbst: Er könne auf die Wählerstimmen der Häuslebauer nicht verzichten, die das Kindergeld und das durch Ausbildungsfreibeträge gesparte
Geld zur Abzahlung ihrer Schulden verwenden. Ich finde,
dies ist eine Anmaßung gegenüber diesem Parlament, das
die Steuerfreibeträge, die die Eltern junger Menschen bis
zu deren 27. Lebensjahr geltend machen können, genehmigt hat, damit die Ausbildung finanziert und das Geld
nicht artfremd verwendet wird. Ich glaube, dies ist eine
demagogische und unsachliche Argumentationsführung,
die wir in diesem Hohen Hause nicht dulden können.
({2})
Mit anderen Worten: Diese Regierung ist gewiss nicht
der Anwalt der jungen Generation,
({3})
denn Sie haben Ihr Wort gegenüber den jungen Menschen
gebrochen.
Eines ist auch gewiss: Der Druck der Opposition, insbesondere auch durch unseren F.D.P.-Gesetzentwurf, hat
Ihnen wenigstens geholfen, dem Finanzminister diese
rund 500 Millionen DM aus dem Haushalt 2001 abzuringen. Ohne den Druck der Opposition hätten Sie das nicht
geschafft.
({4})
Ich will Ihnen noch eines entgegenhalten: Die angebliche Nichtfinanzierbarkeit einer Strukturreform ist von
Ihrem eigenen Hause, sprich: vom Ministerium, widerlegt
worden. Ich habe ausrechnen lassen, welche Kosten mit
unserem Gesetzentwurf zum Ausbildungsgeld verbunden
sind. Dies wären Mehrkosten in Höhe von 3,5 bis 4 Milliarden DM. Ich habe schon aus der Expertenanhörung zitiert. Das Deutsche Studentenwerk hat in dieser Anhörung noch einmal daran erinnert, dass im Gesetz ursprünglich vorgesehen war, dass Rückflüsse, die schon
jetzt von Studierenden, die fertig sind, kommen, zur Refinanzierung beitragen sollen. Diese verschwinden in Höhe
von 6 Milliarden DM im Gesamthaushalt. Dies finden wir
nicht richtig. Dies entspricht auch nicht dem ursprünglichen Anliegen des Gesetzentwurfes.
({5})
Sie von der Regierungskoalition wollen mit Ihrem Antrag, wie ich schon sagte, unter anderem entbürokratisieren - das kann ich eigentlich nur begrüßen -, die Bedarfssätze auf 1 100 DM anheben, die Freibeträge ohne
Anrechnung des Kindergeldes erhöhen und die Unterschiede zwischen Ost und West abbauen, die sich auf
Wohnkosten und Krankenversicherungszuschläge beziehen.
Frau Ministerin, Letzteres haben wir Ihnen bereits vor
einem Jahr empfohlen. Da argumentierten Sie übrigens
noch, die Lebenshaltungskosten im Osten seien viel geringer und die Härtefallregelung im bisherigen Gesetz
ausreichend. Ich freue mich, dass jetzt zumindest unsere
damalige Argumentation gegriffen hat und Sie diesen
Schritt der Angleichung bei der Gesetzesänderung tun
wollen.
Aber ich frage Sie auch: Wo bleibt eigentlich Ihr Gesetzentwurf? Wir beraten hier über einen Antrag, der nebulös im Raum steht. Ein Gesetzentwurf der Regierung
liegt bis jetzt nicht vor. Sie wollen - so haben Sie uns im
Ausschuss versprochen - bis Ende des Jahres eine Gesetzesnovelle vorlegen, die dann unserem Gesetzentwurf mit
einer echten Strukturreform gegenüberstehen wird.
Der eigentliche Skandal ist, dass Sie sich, ohne einen
Gesetzentwurf vorgelegt zu haben, im Haushalt 2001 einen Blankoscheck von der Opposition ausstellen lassen
wollen. Das geht nicht, meine Damen und Herren. Ich
habe mich gefragt, warum Sie Ihren Gesetzentwurf, für
den Sie auch schon, ich glaube, vor etwa einem halben
Jahr auf einer Bundespressekonferenz geworben haben,
hier heute nicht vorlegen. Als schlüssige Argumentation
fiel mir dazu nur ein: Dann müssten Sie wahrscheinlich
bereits ab diesem Herbstsemester höheres BAföG, höhere
Bedarfssätze und Freibeträge finanzieren. Aber das wollen Sie nicht.
Frau Kollegin Pieper,
ich bitte Sie, zum Schluss zu kommen.
Ich komme zum Schluss,
Frau Präsidentin. - Sie, die Koalition, vertrösten die Studenten. Sie versuchen mit einer Hinhaltetaktik, den Studierenden vorzugaukeln, dass Sie für die Auszubildenden
etwas tun würden. Sie tun das Gegenteil: Sie wollen die
Änderung des Gesetzes zum Wahlkampfschlager machen.
Erst ab Sommersemester nächsten Jahres soll die BAföGNovelle rechtswirksam sein.
Frau Kollegin, bitte
kommen Sie zum Schluss.
Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition: Wir halten
diesen Opportunismus für nicht akzeptabel. Wir werden
dafür sorgen und Sie auch davon überzeugen, dass wir
eine echte Strukturreform der Bundesausbildungsförderung brauchen.
Vielen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist
für die PDS-Fraktion die Kollegin Maritta Böttcher.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich frage: Wie lange,
meine Damen und Herren von der Koalition, möchten Sie
die Studentinnen und Studenten eigentlich noch an der
Nase herumführen? Mit Ihrer Bildungs- und Hochschulpolitik machen Sie es der Opposition in diesem Haus
wirklich leicht.
Das entwaffnendste Argument gegen Ihre Versäumnisse ist immer noch Ihre eigene Koalitionsvereinbarung. Aus diesem Papier - man muss wohl leider sagen:
zeitgeschichtlichen Dokument - hat Kollegin Pieper eben
zitiert. Ich will dieses Zitat nicht wiederholen. Die
entscheidende Absicht, nämlich die ausbildungsbezogenen staatlichen Leistungen zusammenzufassen und dieses
Konzept Ende 1999 vorzulegen, ist eindeutig und klar,
aber nicht erfüllt.
({0})
- Sie können mir gerne eine Frage stellen, Frau Wimmer.
Als die Ministerin im Januar verkünden musste, dass
sie sich aufgrund eines Machtworts des Bundeskanzlers
auch von diesem Reformprojekt zu verabschieden hatte,
war der Sturm der Entrüstung groß, nicht nur bei der PDS,
die seit Jahren eine echte Strukturreform der Ausbildungsförderung fordert, sondern auch bei Ihren eigenen
Jugend- und Studentenverbänden, beim Deutschen Studentenwerk und bei der Hochschulrektorenkonferenz.
Völlig zu Recht mussten Sie sich den Vorwurf des Wahlbetrugs gefallen lassen, da die Studierenden mit dem Regierungswechsel 1998 die Hoffnung auf eine spürbare
Verbesserung ihrer sozialen Lage verknüpft hatten.
({1})
Von Ihnen wurden sie bitter enttäuscht.
Um die Wogen zu glätten, haben Sie im Januar buchstäblich über Nacht Eckpunkte für eine BAföG-Reform
präsentiert, mit denen anstelle der versprochenen Strukturreform der Ausbildungsförderung die Leistungen des
geltenden BAföG verbessert werden sollten. Ein halbes
Jahr ist es jetzt her, dass Sie diese Eckpunkte vorgelegt haben; aber - ich wiederhole es - es liegt noch immer kein
Gesetzentwurf der Bundesregierung vor.
({2})
- Genau.
Als Termin für die Einbringung des Gesetzentwurfs in
den Bundestag geben Sie mittlerweile November oder
Dezember an. Damit verspielen Sie kostbare Zeit. Aber
mit jedem einzelnen Semester, mit dem Sie die BAföGReform auf die lange Bank schieben, legen Sie Hunderttausenden Studentinnen und Studenten Knüppel in den
Weg zu einem erfolgreichen Studienabschluss.
({3})
Fangen Sie endlich an, Politik zu machen, statt nur davon
zu reden!
425 Millionen DM wollen Sie im Bundeshaushalt 2001
zusätzlich für die Ausbildungsförderung bereitstellen. Bei
allem Respekt für diese zusätzlichen Leistungen: Selbst
inklusive der Leistungen der Deutschen Ausgleichsbank
erreichen die BAföG-Aufwendungen des Bundes nicht
einmal das Niveau von 1994. 1994 war aber genau der
Zeitpunkt, als das Deutsche Studentenwerk eine Krise
des BAföG diagnostizierte und die Diskussion über eine
Strukturreform anstieß.
({4})
Gleichzeitig sind die jährlichen Darlehensrückzahlungen ehemalig Studierender seit 1995 um über 300 Millionen DM gestiegen.
Ich fordere Sie auf: Hören Sie auf, mit diesen enormen
Summen Löcher im Bundeshaushalt zu stopfen und setzen Sie das Geld aus den Portemonnaies ehemaliger
BAföG-Empfänger für eine zusätzliche Verbesserung der
Ausbildungsförderung ein!
({5})
Frau Kollegin
Böttcher, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Berninger?
Selbstverständlich.
Frau Kollegin, Sie haben eben gesagt, die Reform, die wir
jetzt in Gang setzen wollen, würde das Niveau von 1994
nicht erreichen. 1994 wurden 3,1 Milliarden DM für das
BAföG ausgegeben. Am Ende der Reform werden wir
aller Wahrscheinlichkeit nach 3,4 Milliarden DM, vielleicht sogar 3,5 Milliarden DM für das BAföG mobilisieren. Vor dem Hintergrund frage ich Sie: Bleiben Sie bei
Ihrer Aussage? Ist sie nicht falsch?
Ich bleibe bei meiner Aussage, da ich andere Zahlen zur Grundlage habe. Ich gebe
die Frage zurück: Wenn das so ist, warum machen Sie
denn dann keine Strukturreform?
({0})
Insofern hält die PDS an ihrem Vorschlag einer strukturellen Erneuerung der Ausbildungsförderung fest und
stellt ihre Alternative zur Regierungspolitik der leeren
Versprechen heute zur Abstimmung. Das hat einen einfachen Grund: Wenn wir die bisherigen Leistungen des Familienlastenausgleichs bündeln, so wie es versprochen
wurde, und direkt an die Studentinnen und Studenten auszahlen, können wir auf einen Schlag und mit nur geringen
zusätzlichen Belastungen für die Haushalte des Bundes
und der Länder das BAföG zumindest um 400 DM oder
500 DM - um diese Zahl will ich mich jetzt nicht streiten - pro Monat erhöhen, ohne dass es zurückzuzahlen
wäre.
Gleichzeitig machen wir Schluss mit der steuerlichen
Privilegierung von besser verdienenden Eltern von Studenten. Die Studierenden würden ein gutes Stück unabhängiger von ihren Eltern und von übermäßiger Erwerbsarbeit.
Wenn wir der Realisierung von Chancengerechtigkeit
näher kommen wollen, müssen Sie unserem Antrag heute
zustimmen.
({1})
Das Wort hat die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Edelgard
Bulmahn.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung ist
mit dem Versprechen angetreten, unser Land zu modernisieren. Dieses Versprechen halten wir. Die Erhöhung der
Zukunftsinvestitionen in Bildung und Forschung, die wir
im kommenden Jahr zum dritten Mal durchführen werden - wir haben sie 1999 und 2000 durchgeführt und auch
2001 wird sie 780 Millionen DM betragen -, ist die
Grundlage für Lebenschancen von morgen, die Grundlage für Innovation, Wohlstand und Arbeitsplätze.
({0})
Wir setzen dabei auf ein hochwertiges Bildungssystem. Das können wir nicht alleine leisten, sondern nur gemeinsam mit den Ländern. Aber wir tun unseren Teil
dafür. Wir setzen darauf, dass junge Menschen in Schulen, Hochschulen und Betrieben fundiert ausgebildet werden und dass eine exzellente Forschung durchgeführt
wird. Wir setzen auf eine rasche und breite Verwendung.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die BAföG-Reform
({1})
ist die wichtigste Voraussetzung dafür, dass alle jungen
Menschen diese Bildungschancen unabhängig vom Geldbeutel auch tatsächlich nutzen können.
({2})
Ich muss mich jetzt sowohl an Sie, Frau Pieper, als
auch an die PDS wenden. Sie verwechseln zwei Dinge.
Sie verwechseln eine Veränderung und eine Umstellung
der Familienförderung, die keinem Studierenden aus einer einkommensschwächeren Familie tatsächlich eine
müde Mark mehr bringen würde, mit der BAföG-Reform.
Deshalb sind es zwei getrennte Dinge, über die man redet.
({3})
Wir brauchen eine BAföG-Reform, wenn wir erreichen wollen, dass auch Jugendliche aus einkommensschwächeren Familien Bildungschancen nutzen können.
Daran geht überhaupt kein Weg vorbei. Wir brauchen eine
Totalsanierung des BAföG.
({4})
Das angestrebte Ziel können Sie durch eine Umstellung
der Familienförderung nicht erreichen, sondern Sie müssen die BAföG-Reform durchführen, weil nur das zur
Folge haben wird, dass gerade Studierende aus einkommensschwächeren Familien tatsächlich mehr Geld in die
Hand bekommen. Das ist der wesentliche Unterschied,
das kann man nicht gleichsetzen. Es geht um zwei völlig
verschiedene Dinge, nämlich zum einen um die Veränderung des Unterhaltsanspruches und der Unterhaltsbeziehungen zwischen Eltern und Kindern und zum anderen
um die Förderung von Studierenden aus einkommensschwächeren Familien. Die Veränderung der Unterhaltsbeziehungen zwischen Eltern und Kindern bringt den Studierenden aus einkommensschwächeren Familien nicht
mehr Geld. Insofern hat Herr Friedrich Recht.
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage der Abgeordneten Pieper?
Ich will noch auf einen zweiten Punkt eingehen, vielleicht können wir die Frage dann im Zusammenhang klären, Frau Pieper.
Die Totalsanierung des BAföG, so wie ich sie vorgeschlagen habe, ist notwendig. Mit der von uns vorgestellten Reform werden wir insgesamt mehr als 1 Milliarde
DM zusätzlich für BAföG mobilisieren. Meine Vorredner
haben darauf hingewiesen, wie das BAföG unter der Regierungskoalition von CDU/CSU und F.D.P. abgebaut
und zurückgeschraubt worden ist. Deshalb finde ich es
einfach nicht glaubwürdig, wenn man jetzt hier sagt: Es
ist alles bei weitem nicht genug. - Sie haben 16 Jahre lang
Zeit gehabt, um das BAföG zu modernisieren, und haben
es nicht getan.
({0})
Lassen Sie mich ein Zweites sagen. Ich habe von Anfang an für diese Bundesregierung erklärt, dass die grundlegende BAföG-Reform im Jahre 2001 in Kraft treten
soll. Deshalb ist schlichtweg falsch, wenn hier von Verzögerung geredet wird. Wir haben von Anfang an gesagt:
Wir gehen in zwei Schritten vor: Wir machen erst eine
BAföG-Novelle, mit der wir den Abbau des BAföG stoppen, und werden dann mit Beginn des Jahres 2002 die
richtige Strukturreform - die ich Totalsanierung genannt
habe - in Kraft treten lassen. Genauso gehen wir jetzt
auch vor.
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Pieper?
Ich habe vorhin gesagt, dass ich das in einem Komplex zusammen abhandeln will, weil ich anschließend auf die BAföG-Höhe eingehen möchte.
Ein Blick zurück: Wir haben unter der Regierungsverantwortung der CDU/CSU- und F.D.P.-Koalition eine
Halbierung der Zahl der BAföG-geförderten Studenten
hinnehmen müssen. Das hatte zur Folge, dass immer mehr
Studierende vor dem Problem standen: „Wie finanziere
ich meinen Lebensunterhalt?“ und auf Jobsuche gehen
mussten. Ihre Ausgestaltung des BAföGs hatte auch zur
Folge, dass diejenigen BAföG-Empfänger, die auf die
Höchstförderung angewiesen waren, am Ende des Studiums - nicht zuletzt vor dem Hintergrund unsicherer Berufsaussichten - vor dem höchsten Schuldenberg standen.
All dies hatte letztlich zur Konsequenz, dass sich vor
allen Dingen Jugendliche aus einkommensschwächeren
Familien von einem Studium haben abschrecken lassen.
Das Ergebnis führt uns der neueste OECD-Bericht, der
die Situation bis zum Jahre 1998 beschreibt, deutlich vor
Augen: Wir haben im internationalen Vergleich erheblich
zu wenig Studierende. In anderen Ländern nehmen
40 Prozent eines Jahrgangs ein Studium auf, während es
in Deutschland nur 28 Prozent sind. Das können wir uns
in einem Land, das in hohem Maße auf das Know-how,
auf das Können und das Wissen gerade der jungen Menschen angewiesen ist, überhaupt nicht leisten.
({0})
Ich sage ganz klar: Wir wollen es uns auch deshalb nicht
leisten, weil es dem Grundsatz der Chancengleichheit widerspricht. Dieser Grundsatz ist für uns ein wichtiger Eckpfeiler der Politik.
Die aktuelle Diskussion um die Green Card und um
den Fachkräftemangel im informationstechnischen Bereich
hat sehr deutlich gezeigt, wohin es führt, wenn Ausbildung
und Qualifizierung jahrelang vernachlässigt werden. Deshalb sind wir so vorgegangen, wie ich es beschrieben habe:
Wir haben zunächst das 20. BAföG-Änderungsgesetz initiiert, mit dem wir die Studierenden vor einer Bruchlandung
bewahrt haben, und legen jetzt die Eckpunkte für die eigentliche Reform vor. Ich habe immer gesagt, wir werden
sie im Frühherbst, am Ende der Sommerpause, in Form eines Referentenentwurfs vorlegen. Bei dieser Zeitplanung
bleiben wir.
Das heißt, wir können im parlamentarischen Beratungsverfahren auch so vorgehen - das ist unser Wille -,
dass diese Reform zum 1. April des kommenden Jahres,
also mit Beginn des Sommersemesters, in Kraft treten
wird. Eine Reform kann nicht mitten im Semester in Kraft
treten. Das wissen Sie genauso wie ich. Sie muss vielmehr
mit Semesterbeginn in Kraft treten. Genau das werden wir
vom 1. April des nächsten Jahres an tun.
({1})
Mit dieser Totalsanierung werden wir erreichen, dass
wir wieder deutlich mehr Studierende fördern, als es in
der Vergangenheit der Fall war. Bei der Berechnung des
BAföG wird das Kindergeld künftig nicht mehr angerechnet. Davon profitieren zum Beispiel Eltern mit mittlerem Einkommen.
({2})
Die Freibeträge, die für die anrechenbaren Einkommen maßgeblich sind, werden deutlich angehoben. Das
habe ich übrigens schon im Herbst letzten Jahres bei einer
Veranstaltung des DSW gesagt. Das kann man alles im
Protokoll nachlesen.
Wir verbessern auch die Leistungen der Ausbildungsförderung. Wir erhöhen das BAföG auf den Höchstsatz
von 1 100 DM. Zusammen mit dem Kindergeld stehen einem Studierenden dann 1 370 DM zur Verfügung. Das ist
eine Summe, von der man leben kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir machen nicht nur
das, sondern wir führen auch grundsätzliche Neuerungen
ein. Wir reden nicht nur über Internationalisierung, sondern wir fördern sie auch. Wir setzen bei den Studierenden auf eine Ausbildung im Ausland. Während die Vorgängerregierung die BAföG-Empfänger, die im Ausland
studieren wollten, mit der Nichtanrechnung der zusätzlichen Auslandssemester bestraft hat, werden wir die
Ausbildung im Ausland fördern, und zwar ohne enge
Grenzen und ohne Bestrafung.
({3})
Wir werden sie fördern, weil wir davon überzeugt sind,
dass Auslandserfahrung notwendig ist, und weil wir wissen, dass Auslandserfahrung nicht ein Extraluxus für einige wenige, die es sich leisten können, ist, sondern für
den akademischen Werdegang eine große Rolle spielt und
von vielen Unternehmen inzwischen ein wichtiges Einstellungskriterium ist.
Mit dieser Förderung, der parallelen Entwicklung internationaler Studiengänge, der Einführung der bekannten Bachelor- und Master-Abschlüsse sowie dem Ausbau
von Austauschmaßnahmen treiben wir die Internationalisierung der Hochschulen voran. Mit der Reform des
BAföG ermöglichen wir es den BAföG-Empfängern,
diese Chancen zu nutzen, weil wir nicht wollen, dass
BAföG-Empfänger Studierende zweiter Klasse sind. Wir
wollen nicht, dass sie sich nur eine Schmalspurausbildung
im Ausland leisten können.
({4})
Wir werden Gleichberechtigung und Gleichheit auch für
Studierende, die BAföG erhalten, herstellen.
Frau Ministerin, entschuldigen Sie, dass ich Sie noch einmal unterbreche. Da
die Kollegin Pieper ihre Frage aufrechterhält, möchte ich
Sie fragen, ob Sie sie jetzt zulassen.
Das tue ich.
Frau Ministerin, Sie sprachen von der Ungleichbehandlung, die insbesondere
durch das Ausbildungsgeld hergestellt werden würde. Das
gelte insbesondere auch für die Personen, die aus einkommensschwachen Familien kommen. Würden Sie nicht der
Argumentation Ihres Kollegen Herrn Berninger von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen folgen, der logisch aufBundesministerin Edelgard Bulmahn
gezeigt hat, dass wir bei der derzeitigen BAföG-Regelung
aufgrund der ständigen Erhöhung der Steuerfreibeträge
durch dieses Gesetz eher eine Bevorteilung der Studenten
haben, die aus besser verdienenden Familien kommen?
Stimmen Sie mir zu, dass durch ein einheitliches Ausbildungsgeld für alle, aber auch durch Zuschüsse für eine begrenzte Schicht aus einkommensschwachen Familien
eine sehr starke Differenzierung durch das von uns vorgeschlagene Drei-Körbe-Modell hergestellt wird und eine
Ungleichbehandlung aufgehoben wird?
Nein, Frau Pieper, ich kann Ihnen deshalb
nicht zustimmen, weil Sie auch bei einer Änderung der
Familienförderung für Studierende aus Familien mit einem geringen Einkommen eine zusätzliche Ausbildungsförderung brauchen. Das haben Sie in Ihrem Modell vorgesehen; das sehen Sie also selber. Sie brauchen
grundsätzlich eine Totalsanierung der individuellen Ausbildungsförderung, wenn Sie erreichen wollen, dass
Chancengleichheit nicht nur eine Phrase bleibt, sondern
auch tatsächlich umgesetzt wird. Deshalb muss die Totalsanierung des BAföG stattfinden. Wenn man Chancengleichheit erreichen will, geht daran kein Weg vorbei. Mit
einer Totalsanierung des BAföG werden wir dieses Ziel
erreichen. Das können Sie allein durch eine Umstellung
der Familienförderung nicht erreichen.
Das zweite Problem, das Sie angesprochen haben, entsteht durch eine Senkung der Steuereingangssätze und
eine Anhebung der Steuerfreibeträge. Es könnte die Situation entstehen, dass Studierende aus einkommensschwachen Familien nicht mehr BAföG-berechtigt
wären, wenn wir die Einkommensfreigrenzen nicht anheben. Deshalb heben wir ja die Einkommensfreigrenzen
an. Das ist notwendig, damit Studierende aus Familien,
die zum Beispiel ein Nettoeinkommen von rund
4 000 DM haben, trotzdem BAföG-berechtigt sind. In unserem Vorschlag ist genau diese Anhebung der Einkommensfreigrenzen vorgesehen.
Ich möchte noch einen dritten Punkt in diesem Zusammenhang ansprechen. Sie haben vorhin behauptet, Frau
Pieper, dass Ihr Vorschlag durch die BAföG-Rückflüsse
durchaus finanzierbar sei. Das ist falsch. Als Sie die Zahl
6 Milliarden DM genannt haben, haben Sie eines nicht gesagt: Die 6 Milliarden DM sind die Summe der BAföGRückflüsse aus allen Jahren. Das ist also kein Rückfluss
pro Jahr. Auch ich muss das BAföG, das ich erhalten habe,
zurückzahlen. Meine Rückzahlung und die Rückzahlungen aller anderen ehemaligen BAföG-Empfänger, die irgendwann einmal unterstützt worden sind, summieren
sich zu insgesamt 6 Milliarden DM. Aber Ihr Vorschlag
hätte alleine schon 3,7 Milliarden bis 4 Milliarden DM
pro Jahr an Kosten zur Folge, die zusätzlich zu dem kommen, was wir jetzt vorgeschlagen haben. Deshalb ist Ihr
Vorschlag beim besten Willen nicht finanzierbar. Wenn
man 6 Milliarden DM über einen langen Zeitraum verteilen muss, dann kann man nach Adam Riese beim besten
Willen nicht zusätzlich zu dem, was wir hier vorgelegt haben, noch 3,7 Milliarden bis 4 Milliarden DM pro Jahr
aufbringen. Ich bitte Sie, endlich einmal ein wirklich solides Finanzkonzept vorzulegen.
({0})
Frau Ministerin, die
Kollegin Pieper möchte eine kurze Nachfrage stellen. Ich
bitte Sie, kurz zu antworten.
({0})
Frau Ministerin, stimmen
Sie meiner Einschätzung zu, dass das Interesse an der Debatte über die Bundesausbildungsförderung in diesem
Hohen Hause anscheinend nicht sehr hoch ist, insbesondere nicht bei der Regierungskoalition? Anders kann ich
die Zwischenrufe nicht werten.
({0})
Würden Sie mir bitte die Anzahl der Anspruchsberechtigten nennen, die durch Ihre Novelle, die Sie im Winter
vorlegen wollen, zusätzlich gefördert werden sollen? Sehen Sie insbesondere nach dem letzten Familienurteil von
Karlsruhe die Chancengleichheit gefährdet, wenn nicht
alle Auszubildenden in die Bundesausbildungsförderung
einbezogen werden?
({1})
Liebe Kollegin, ich muss - erstens - feststellen, dass das Interesse der Koalition, sowohl bei der
SPD als auch beim Bündnis 90/ Die Grünen, an dieser Reform sehr groß ist, wie ich sehe. Die Zahl der an dieser Debatte interessierten Abgeordneten Ihrer Fraktion kann
man sogar an einer Hand abzählen. Es gibt offensichtlich
einen deutlichen Unterschied zwischen dem Interesse Ihrer Fraktion sowie dem meiner Fraktion und der Fraktion
von Bündnis 90/Die Grünen. Unser Interesse ist sehr
groß.
Ich werde - zweitens - die Novelle nicht im Winter
vorlegen. Ich werde den Referentenentwurf vielmehr
Ende dieses Sommers bzw. im Frühherbst vorlegen. Das
habe ich vorhin klar gesagt; das habe ich immer gesagt.
Nehmen Sie also bitte zur Kenntnis: Er wird Ende dieses
Sommers bzw. im Frühherbst und nicht im Winter vorgelegt werden. Wenn die Novelle vorliegt, dann werden Sie
auch Ihre übrigen Fragen, die Sie noch gestellt haben, beantwortet finden.
({0})
Ich möchte jetzt noch ganz kurz auf weitere Eckpunkte
der Reform eingehen. Wir gestalten die Verlängerung
der Förderungsdauer im Hinblick auf die Kindererziehungszeiten bedarfsgerechter. Das ist vor allen Dingen für
weibliche Studierende mit Kind wichtig. Das ist natürlich
auch für einige männliche Studierende wichtig, wenn sie
Kinder erziehen.
({1})
Das ist wichtig, weil wir Studierende mit Kindern nicht
benachteiligen wollen.
Wir machen das BAföG einfacher und durchschaubarer. Das kostet leider sehr viel Arbeit; denn jeder, der
schon einmal einen Blick in das Gesetz geworfen hat,
wird festgestellt haben, dass es ein wahnsinnig kompliziertes, bürokratisches Gesetz geworden ist, das leider
nicht innerhalb von zwei Wochen reformiert werden kann.
Wenn wir das Ziel erreichen wollen, ein einfacheres,
durchschaubareres und damit für diejenigen, für die dieses Gesetz gedacht ist, ein handhabbareres Gesetz zu machen, dann müssen wir auch eine Menge an Mühe und Arbeit aufwenden. Das ist notwendig. Ich möchte das Gesetz
so verändern, dass in Zukunft jeder selber abschätzen
kann, wie viel BAföG er erwarten kann, und jeder weiß,
welchen Rechtsanspruch er hat. Damit soll Planungssicherheit und Überschaubarkeit hergestellt werden. Das ist
ein wichtiges Ziel.
Wir vereinfachen die selbst für Fachleute kaum noch
verständlichen Ergänzungsregelungen. Die Regelung der
Wohnzuschläge nach der Härtefallverordnung versteht
kein Mensch mehr. Wir regeln das dort, wo es hingehört,
nämlich im Gesetz.
Außerdem planen wir - über die im Antrag der Koalitionsfraktionen enthaltenen Punkte hinaus - eine Obergrenze bei der Darlehensbelastung, Herr Friedrich. Ich
habe im letzten Jahr schon einmal gesagt, dass ich das für
notwendig halte. Ich bin sehr froh, dass Sie diese Auffassung teilen. Von daher hoffe ich, dass wir zu einem Konsens kommen können. Ich bin der Auffassung, dass bei
denjenigen, die eine Höchstförderung erhalten, eine Obergrenze vorhanden sein muss; es haben zurzeit nämlich
diejenigen, die aus den einkommensschwächsten Familien kommen, den höchsten Schuldenberg. Die jetzige
Regelung ist eigentlich nicht gerecht und von der Sache
her nicht richtig.
({2})
Wir stellen die Studierenden aus Ost und West bei der
Ausbildungsförderung gleich.
({3})
Wir heben dazu alle noch bestehenden Unterschiede bei
den Förderleistungen auf. Damit wird beim BAföG die
soziale Einheit von Ost und West endlich Realität.
({4})
Wir machen noch ein Weiteres: Wir fördern über das
BAföG mehr Interdisziplinarität; sie ist heute mehr
denn je erforderlich. Master-Studiengänge, die auf den
Bachelor-Abschlüssen aufbauen, müssen in Zukunft nicht
mehr streng fachidentisch sein; nach Ihren Beschlüssen
müssen sie das im Augenblick noch. Diese Studiengänge
werden vielmehr dann gefördert, wenn sie für den späteren Beruf besonders geeignet sind.
Über die Reform des BAföG hinaus arbeiten wir an der
Einführung eines zeitlich befristeten Bildungskredits.
Meine Vorredner haben darauf bereits hingewiesen. Wir
denken dabei an ein Programm, das Studierenden Kredite
zu günstigen Zinssätzen gewährt, unabhängig vom Förderanspruch durch das BAföG. Es ist also kein Ersatz für
das BAföG, sondern ein zusätzliches Instrument, das keinen Rechtsanspruch beinhaltet. Wir wollen mit diesem
Angebot Studierenden in besonderen Studiensituationen
eine Möglichkeit zur Selbsthilfe geben. Es handelt sich
um ein sinnvolles Ergänzungsprogramm, das notwendig
ist und der Sache gerecht wird.
Mit dem Etatentwurf für das Jahr 2001 haben wir unser Versprechen eingelöst, zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen. Diese Mittel werden nicht durch Abstriche bei anderen Bildungs- und Forschungsaufgaben aufgebracht. Das war nicht ganz einfach, aber es hat
geklappt. Es macht deutlich, dass die gesamte Bundesregierung dahinter steht.
Wie ich vorhin gesagt habe, werden wir gleich nach der
Sommerpause den Gesetzentwurf für die BAföG-Reform
vorlegen. Wenn das geschehen ist, können die parlamentarischen Beratungen noch in diesem Jahr beginnen, sodass die Studierenden bereits zu Beginn des Sommersemesters 2001
({5})
von dieser Totalsanierung des BAföG profitieren werden.
Ich bin sicher, Sie werden begreifen, dass diese Bundesregierung im Gegensatz zur Vorgängerregierung nicht nur
redet, sondern den Studierenden eine kräftige Unterstützung tatsächlich zukommen lässt.
({6})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, bevor ich der nächsten Rednerin das Wort
erteile, habe ich Ihnen eine erfreuliche Mitteilung zu machen. Wie Sie wissen, entscheiden nicht nur wir in diesem
Parlament. Die FIFA hatte heute über den Ausrichtungsort der Fußballweltmeisterschaft im Jahr 2006 zu entscheiden. Es gab ein denkbar knappes Ergebnis: Mit
einem Stimmenverhältnis von 12:11 wurde entschieden,
die Weltmeisterschaft in der Bundesrepublik Deutschland
stattfinden zu lassen.
({0})
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Angelika Volquartz von der Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt gilt es eigentlich
nur noch, die Weltmeisterschaft im BAföG zu gewinnen;
dann ist der Sieg komplett. Nur, verehrte Kolleginnen und
Kollegen auf der linken Seite des Hauses, da haben wir
doch allmählich unsere Zweifel. Frau Ministerin, Sie haben eben gesagt: Wir machen eine einfache und durchschaubare BAföG-Reform. Dazu kann man eigentlich nur
sagen: Einfach und durchschaubar ist Ihre Verzögerungstaktik seit Ihrer Regierungsübernahme gewesen. Ich erinnere an die leeren Wahlversprechen, die Sie immer wieder gegeben haben.
({0})
Wir sind uns einig, dass unsere Wissensgesellschaft
weiterentwickelt werden muss und dass wir Politiker die
Rahmendaten zu setzen bzw. zu verbessern haben. Wenn
wir davon sprechen, dass wir sie weiterentwickeln wollen, dann müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass
grundsätzliche Entscheidungen getroffen werden müssen.
Sie haben heute die Green Card angesprochen. Dazu
muss ich sehr deutlich sagen: In den Ländern, die bis
1998/99 mehrheitlich von der SPD regiert waren, hat es
im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich der
Schulen doch große Versäumnisse gegeben.
({1})
- Dazu gibt es ganz klare Daten. Frau Wimmer, Sie kommen nicht aus diesem Bereich. Sie kennen das nicht. Daran liegt es, dass Sie das nicht wissen.
({2})
Aus dem OECD-Bericht 2000 geht doch ganz deutlich hervor, dass lediglich 28 Prozent eines Jahrganges bei
uns mit dem Studium beginnen und nur 16 Prozent eines
Jahrganges abschließen. Das ist auch ein Problem der
mangelnden Qualifikation an den Schulen, die gerade in
SPD-regierten Ländern zutage tritt.
({3})
Dieser Entwicklung muss natürlich Einhalt geboten werden. Es muss eine Trendwende herbeigeführt werden.
({4})
Dazu gehört selbstverständlich auch die längst überfällige
BAföG-Reform.
Die Gefördertenquoten sind gesunken. Sie haben dabei aber einen wichtigen Punkt vergessen, Frau Bulmahn.
Sie haben nämlich vergessen zu erwähnen, dass es 1990
eine Steuerreform gab, in deren Folge die Nettoeinkommen gestiegen sind. Auch dadurch hat sich eine Veränderung ergeben. Außerdem haben wir seit 1996 den
Grundfreibetrag für Familien erhöht. Es muss einfach erwähnt werden, was wir alles für die jungen Menschen gemacht haben.
({5})
Ich sage es noch einmal deutlich - es nützt auch gar
nichts, wenn Sie hier wieder versuchen, Ihre Verzögerungstaktik mit nicht überzeugenden Argumenten zu verschleiern -: Die Bundesregierung hat diese Reform immer wieder angekündigt. Doch eine Oppositionsfraktion,
die CDU/CSU-Fraktion, war die treibende Kraft. Wir haben im Dezember letzten Jahres die Eckpunkte vorgelegt
und nicht Sie.
({6})
Sie, Frau Ministerin, sind uns dann gefolgt. Rot-Grün hat
die wesentlichen Eckpunkte übernommen. Die Kriterien,
die Sie eben lobend erwähnt haben - stärkere Berücksichtigung von Kindererziehung während des Studiums,
Erhöhung der Freibeträge usw. -, sind okay, damit bin ich
einverstanden. Aber dabei handelt es sich doch um unsere
Vorschläge. Es ist sehr schön, dass Sie diese übernommen
haben.
({7})
Es ist deutlich zu sagen, dass Rot-Grün bei den Bildungskrediten, die Sie jetzt so hervorheben, über die
Ziellinie herausgeschossen ist. Jedermann leuchtet doch
ein, dass dies zusätzliche Prüfungen erfordert und mehr
Zeitaufwand bedeutet. Warum findet darüber keine separate Diskussion statt? Herr Hilsberg hat vorhin gesagt, wir
wollten die Reform torpedieren. Das ist völlig falsch, Herr
Kollege Hilsberg.
({8})
Wir wollen eine separate Diskussion. Nehmen Sie das
bitte ganz ruhig zur Kenntnis. Dies sollte doch bloß wieder ein Alibi für ein Spiel auf Zeit sein.
Wenn die BAföG-Studienförderung nach Ihrem Willen
auf Teufel komm raus ohne ein zeitliches Limit zukünftig
verlängert werden soll,
({9})
dann kann ich dazu nur deutlich sagen, dass das der verkehrte Weg ist. Langzeitstudierenden wird damit nicht der
Weg in eine gute Zukunft bereitet. Ausnahmen sollten gemacht werden - darin sind wir uns wieder einig -,
beispielsweise sollte bei Alleinerziehenden mehr Rücksicht auf Studienverzögerungen genommen werden,
aber diese Regelung darf nicht auf Bummelstudenten ausgeweitet werden. Allerdings passen Bummelstudenten
ausgezeichnet zu Ihnen, weil Sie eine Bummelreform machen, die einfach nicht in Gang kommt.
({10})
Anstatt die Leistungsgewährung auf nicht akzeptable
Bereiche auszudehnen, stehen wir für eine Ausdehnung
der Leistungen in andere, sinnvollere Richtungen. Eine
Zielgruppe für eine Leistungserweiterung sind die einkommensschwächeren Familien. Dazu hat mein Kollege
Gerhard Friedrich schon einiges ausgeführt. Der von ihm
angesprochene Punkt unseres Programms fördert die Akzeptanz der BAföG-Leistung und schafft ein Stück mehr
soziale Gerechtigkeit, von der Sie immer reden, während
wir entsprechend handeln. Sogar der DGB hat uns in dieser Frage im Rahmen der Anhörung Recht gegeben.
Eine zweite Zielgruppe der Leistungserweiterung sind
zügig bzw. überdurchschnittlich gut Studierende. Wir
wollen verstärkt Anreize für Studenten geben, die überdurchschnittliche Abschlüsse erzielen. In diesem Punkt
den Geförderten entgegenzukommen halten wir für den
richtigeren Weg, weil wir damit in die Zukunft der Studenten investieren.
Wer nun in Anbetracht der vorliegenden Papiere
glaubt, der Boden für ein zügiges Gesetzgebungsverfahren sei bereitet und die Geförderten könnten eventuell
noch in diesem Jahr mit einem Zuschlag rechnen, der irrt
leider gewaltig.
({11})
Wir haben die entsprechenden Aussagen eben gehört.
Allerdings gibt es eine Diskrepanz, Frau Bulmahn. Ihr
Staatssekretär hat in der letzten Woche im Ausschuss gesagt, im November/Dezember gebe es einen Gesetzentwurf. Sie sprechen jetzt vom Spätsommer.
({12})
Hoffentlich haben wir im Spätsommer noch kein Glatteis.
Dann würde die Gangart etwas härter. Wir müssten dann
nämlich sagen, dass man der Bundesregierung einfach
nicht mehr glauben kann. Immer wieder wird etwas
versprochen und nicht gehalten.
({13})
Ich finde es in diesem Zusammenhang besonders amüsant, dass Sie am 4. Januar dieses Jahres einen BAföGBericht veröffentlichen, in dem Sie die Eckpunkte für
eine Reform Ende 1999 ankündigen.
({14})
Aber am 4. Januar liegt noch nichts auf dem Tisch. Es
gehört schon einiges dazu, zu glauben, dass das vielleicht
niemandem auffällt.
({15})
Als durchsichtige Erklärung in all dieser Zeit wird die
rechtliche und finanzielle Prüfung des Sockelmodells angeführt.
Es ist schon mehrfach gesagt worden, aber man muss
es noch einmal deutlich sagen: Mitte Januar - ich glaube,
es ist der 14. Januar dieses Jahres gewesen - hat der Bundeskanzler Sie schlicht und ergreifend einen Kopf kürzer
gemacht. Er hat nämlich gesagt: Schluss! Er hat in gewisser Weise gesagt, es müsse eine BAföG-Reform sein, wie
sie die CDU/CSU vorschlägt. Da hat er Recht gehabt.
Die Folge ist gewesen, dass Sie und auch Vertreter von
Rot-Grün entsprechende Vorschläge für Eckpunkte einer
BAföG-Reform auf den Tisch gelegt haben, nämlich Eckpunkte für eine Reform innerhalb des bestehenden Systems. Viel Zeit ist zum Nachteil der Studierenden verstrichen.
Wenn in Sonntagsreden der Finanzminister, die Bildungsministerin und der Bundeskanzler immer wieder
mehr Bildung einfordern, aber im grauen Alltag die
falschen Prioritäten setzen, dann kann ich nur sagen:
große Sprünge wie ein Känguru und nichts im Beutel.
Man kann nicht mit dem Versprechen von Reformen und
von einer Verdoppelung des Bildungshaushaltes auf Stimmenfang gehen und hinterher Peanuts als große Leistung
proklamieren. Unterschätzen Sie nicht die Intelligenz der
Studierenden!
Wir fordern: keine weiteren Verzögerungen durch die
Bundesregierung! Die Studierenden dürfen nicht weiter
betrogen werden. Machen wir uns das Motto eines Plakates in einer Berliner Universität zu Eigen: „Wann, wenn
nicht jetzt? Wo, wenn nicht hier? Wer, wenn nicht wir?“
Nach diesem Motto: Es muss noch in diesem Jahr geschehen.
Herzlichen Dank.
({16})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktionen
der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen zur Moder-
nisierung der Ausbildungsförderung für Studierende,
Drucksache 14/3730.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr.1 seiner Beschluss-
empfehlung, den Antrag auf Drucksache 14/2905 anzu-
nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? -
Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussemp-
fehlung ist gegen die Stimmen von CDU/CSU-Fraktion
und PDS-Fraktion bei Enthaltung der F.D.P.-Fraktion an-
genommen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der
CDU/CSU mit dem Titel „Eckpunkte für eine BAföG-Re-
form“, Drucksache 14/2031, abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltun-
gen? - Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen
von CDU/CSU-Fraktion und PDS-Fraktion bei Ent-
haltung der F.D.P.-Fraktion angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 3 seiner
Beschlussempfehlung, den Antrag der Fraktion der PDS
zur strukturellen Erneuerung der Ausbildungsförderung,
Drucksache 14/2789, abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? -
Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen der
PDS-Fraktion angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 4 seiner Beschluss-
empfehlung, den 13. Bericht der Bundesregierung nach
§ 35 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes auf
Drucksache 14/1927 zur Kenntnis zu nehmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegen-
probe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
einstimmig angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b, 27 d
bis 27 h sowie Zusatzpunkt 5 auf:
27. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung von Vorschriften über
die Tätigkeit der Wirtschaftsprüfer
({0})
- Drucksache 14/3649 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu
dem Protokoll vom 22. März 2000 zur
Änderung des Übereinkommens vom
9. Februar 1994 über die Erhebung von
Gebühren für die Benutzung bestimmter
Straßen mit schweren Nutzfahrzeugen
- Drucksache 14/3651 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-
cherheit
Haushaltsausschuss
d) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 14/3764 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts-
ordnung
Rechtsausschuss
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rita
Streb-Hesse, Dr. Margrit Wetzel, Ingrid
Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Albert Schmidt ({4}), Kerstin
Müller ({5}), Rezzo Schlauch und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Regelung des Anwohnerparkens durch
Städte und Gemeinden
- Drucksache 14/1258 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Evelyn Kenzler, Ulla Jelpke, Petra Pau,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
PDS
Änderung des Ausländergesetzes
- Drucksache 14/668 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
g) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer,
Hildebrecht Braun ({6}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Keine ersatzlosen Schließungen von
Auslandsvertretungen
- Drucksache 14/1751 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({7})
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
h) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Mertens, Angelika Graf ({8}), Hans-Werner Bertl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der
Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig,
Kerstin Müller ({9}), Albert Schmidt ({10}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bekämpfung der illegalen Kabotage und
des Sozialdumpings im Transportgewerbe
- Drucksache 14/3702 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({11})
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
ZP 5 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren
Beratung des Antrags der Abgeordneten Brunhilde
Irber, Dr. Eberhard Brecht, Annette Faße, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Sylvia Voß, Matthias Berninger, Thea
Dückert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der Abgeordneten
Ernst Burgbacher, Hildebrecht Braun ({12}),
Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P. sowie der Abgeordneten Rosel
Neuhäuser, Dr. Heinrich Fink, Rolf Kutzmutz,
Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS
Sicherung der Volksfeste, des Markthandels
und des Schaustellergewerbes
- Drucksache 14/3786 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus ({13})
Finanzausschuss
Vizepräsidentin Petra Bläss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen.
Die Vorlage auf Drucksache 14/668 soll zusätzlich an
den Innenausschuss überwiesen werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 m sowie Zusatzpunkte 6 a bis 6 e. Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache
vorgesehen ist.
Wir kommen zuerst zum Tagesordnungspunkt 28 a:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Schornsteinfegergesetzes und anderer
schornsteinfegerrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 14/3333 ({14})
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Schornsteinfegergesetzes
und anderer schornsteinfegerrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 14/3650 ({15})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({16})
- Drucksache 14/3753 Berichterstattung:
Abgeordneter Karl-Heinz Scherhag
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften
Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes/EWG
- Drucksache 14/3274 ({17})
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({18})
- Drucksache 14/3788 Berichterstattung:
Abgeordnete Sebastian Edathy
Cem Özdemir
Petra Pau
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der
PDS-Fraktion angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 c:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
produkthaftungsrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 14/3371 ({19})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({20})
- Drucksache 14/3756 Berichterstattung:
Abgeordnete Margot von Renesse
Volker Beck ({21})
Rainer Funke
Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksache
14/3756, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 28 d auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
Vizepräsidentin Petra Bläss
zur Änderung des Gerätesicherheitsgesetzes
und des Chemikaliengesetzes
- Drucksache 14/3491 ({22})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({23})
- Drucksache 14/3798 Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Heidi Knake-Werner
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung bei Gegenstimmen der
PDS angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 e:
Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von
der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 21. Mai
1999 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande über
die gegenseitige Amtshilfe bei der Beitreibung
von Steueransprüchen und der Bekanntgabe
von Schriftstücken
- Drucksache 14/3077 ({24})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({25})
- Drucksache 14/3698 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Grasedieck
Hansgeorg Hauser ({26})
Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache
14/3698, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit ({27}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Verordnung über die Erzeugung von Strom aus
Biomasse ({28})
- Drucksachen 14/3489, 14/3574 Nr. 2.1,
14/3801 Berichterstattung:
Abgeordnete Monika Ganseforth
Franz Obermeier
Michaele Hustedt
Birgit Homburger
Eva-Maria Bulling-Schröter
Der Ausschuss empfiehlt, der Verordnung auf Drucksache 14/3489 in der Ausschussfassung zuzustimmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, der F.D.P.Fraktion und der PDS-Fraktion angenommen. Ich verweise darauf, dass es eine schriftliche Erklärung der Kollegin Eva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion, zu ihrem Abstimmungsverhalten gibt.
Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 28 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 175 zu Petitionen
- Drucksache 14/3687 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 175 ist damit einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 176 zu Petitionen
- Drucksache 14/3688 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 176 ist ebenfalls einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({31})
Sammelübersicht 177 zu Petitionen
- Drucksache 14/3689 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 177 ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({32})
Sammelübersicht 178 zu Petitionen
- Drucksache 14/3690 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 178 ist gegen die Stimmen
der CDU/CSU-, der F.D.P.- und der PDS-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 k:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({33})
Sammelübersicht 179 zu Petitionen
- Drucksache 14/3691 Vizepräsidentin Petra Bläss
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 179 ist gegen die Stimmen
der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 l:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({34})
Sammelübersicht 180 zu Petitionen
- Drucksache 14/3692 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 180 ist gegen die Stimmen
der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der F.D.P.-Fraktion angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 m:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({35})
Sammelübersicht 181 zu Petitionen
- Drucksache 14/3693 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist Sammelübersicht 181 gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 6 a bis 6 e auf, weitere Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Ein bisschen Geduld brauchen Sie also noch.
Zusatzpunkt 6 a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({36})
Sammelübersicht 182 zu Petitionen
- Drucksache 14/3793 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 182 mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Zusatzpunkt 6 b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({37})
Sammelübersicht 183 zu Petitionen
- Drucksache 14/3794 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Sammelübersicht 183 mit den
Stimmen des ganzen Hauses angenommen.
Zusatzpunkt 6 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({38})
Sammelübersicht 184 zu Petitionen
- Drucksache 14/3795 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 184 ist gegen die Stimmen der CDU/CSU-, der F.D.P.- und der PDS-Fraktion
angenommen.
Zusatzpunkt 6 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({39})
Sammelübersicht 185 zu Petitionen
- Drucksache 14/3796 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 185 ist gegen die Stimmen der CDU/CSU- und der F.D.P.-Fraktion angenommen.
Wir kommen zur letzten Abstimmung, und zwar zu
Tagesordnungspunkt 6 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({40})
Sammelübersicht 186 zu Petitionen
- Drucksache 14/3797 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 186 ist gegen die Stimmen der PDS-Fraktion angenommen.
Ich bedanke mich ausdrücklich für die Disziplin bei allen Fraktionen bei diesem Abstimmungsmarathon.
Ich rufe nun Zusatzpunkt 7 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU
Absenkung der Beiträge für die Bezieher von
Arbeitslosenhilfe und die Folgen für die gesetzlichen Krankenkassen
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Fraktion
der CDU/CSU hat der Herr Kollege Wolfgang Lohmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In wenigen Tagen gehen wir in die Sommerpause.
Man kann, wenn man daran denkt, dass sicherlich auch im
Jahre 2002 die parlamentarischen Beratungen zu dieser
Zeit enden werden, sagen: Wir befinden uns in der Mitte
der Legislaturperiode. Wenn ich eine Überschrift für die
vergangenen zwei Jahre, was die Gesundheitspolitik anbelangt, suchen würde, dann würde ich schreiben: Pleiten,
Pech und Pannen, und zwar nicht nur handwerklich, wie
es von Ihren eigenen Leuten, unter anderem von Herrn
Dreßler, genannt worden ist, sondern vor allen Dingen
auch inhaltlich. Ich erinnere an das Vorschaltgesetz bzw.
an das Solidaritätsstärkungsgesetz, an die Gesundheitsreform 2000, an Änderungsanträge der Koalitionsfraktionen im Umfang von 345 Seiten und an fehlende Unterlagen bei der zweiten und dritten Lesung im Bundestag sowie im Bundesrat. - Das nur als Stichworte.
Nun leben wir mit sektoralen Budgets, vor denen wir
immer gewarnt haben. Die ersten, in einigen Bereichen
sogar katastrophalen Folgen für die Versorgung werden
sichtbar. Wir hatten gerade gestern eine öffentliche Anhörung zu der Frage der Honorierung der psychotherapeutischen Leistungen. Da ist schließlich jedem - wohl
auch jedem in der Regierung - deutlich geworden,
({0})
Vizepräsidentin Petra Bläss
wo wir gelandet sind und welche Bedingungen wir den
Psychotherapeuten, die nach unserem gemeinsamen Willen in das bestehende System integriert wurden, bei der
Verrichtung ihrer Arbeit zumuten. Inzwischen - ich habe
mir sagen lassen: gerade gestern - hat der Petitionsausschuss mit den Stimmen der SPD die Forderung aufgestellt, hier etwas zu ändern.
({1})
Es ist also dringender Handlungsbedarf gegeben.
Das alles ist nur die Spitze des Eisbergs.
({2})
Auch in manchen anderen Bereichen bestehen deutliche
Defizite, wenn Sie an chronische Erkrankungen, beispielsweise an Diabeteskranke oder Krebskranke, denken. Zum Beispiel werden keine Blutzuckermesschips
bzw. -streifen mehr zur Verfügung gestellt. Es gibt also inzwischen überall Defizite.
Wenn wir schon bisher an Ihrer Gestaltungsfähigkeit,
Frau Ministerin, Zweifel hatten, dann haben wir vor allem
angesichts des Themas, um das es heute geht, noch mehr
Zweifel an Ihrer Durchsetzungsfähigkeit beispielsweise
im Kabinett.
({3})
Da versucht der Finanzminister, die Sanierung des Haushaltes unter anderem durch den Griff in die Kassen von
Pflegeversicherung und Krankenversicherung voranzutreiben.
({4})
Bereits im vergangenen Jahr sind der Pflegeversicherung
400 Millionen DM entzogen worden. Auf zusätzlich
248 Millionen DM bemisst sich der Betrag, der aufgrund
der Tatsache der niedrigeren Rentenanpassung, die sich
nur nach der Inflationsrate richten wird, fehlen wird. Dadurch werden erhebliche Defizite entstehen, was offensichtlich von weiten Teilen der Koalition gewollt ist.
Wenn nun gemäß dem, was uns inzwischen im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf zur Gleichstellung
gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften vorliegt,
daran gedacht wird, Partner von versicherten Lesben und
Schwulen, sofern sie eine solche Lebensgemeinschaft
eingehen, in Zukunft beitragsfrei in die gesetzliche Krankenversicherung aufzunehmen, dann fragt man sich wirklich, ob - im bildlichen Sinne - die Rechte noch weiß, was
die Linke eigentlich tut.
Gleichzeitig stellt man sich in weiten Teilen - offensichtlich auch in der Regierung - die Frage - wir halten
das allerdings für weit über das Ziel hinausgeschossen -,
ob es sich die gesetzliche Krankenversicherung auf Dauer
überhaupt noch leisten kann, Familienmitglieder, vor allen Dingen nicht berufstätige und nicht Kinder erziehende
Frauen, kostenlos mit in die gesetzliche Krankenversicherung einzubeziehen. Gleichzeitig aber will man
den Beschluss fassen, dass Lebensgemeinschaften, die jedenfalls nach unserer Auffassung - mit einer Ehe nicht
vergleichbar sind, kostenlos miteinbezogen werden. Weitere Defizite in der gesetzlichen Krankenkasse sind also
vorprogrammiert.
Das Ganze summiert sich nach Berechnungen der gesetzlichen Krankenversicherung auf einen Betrag von
mindestens 5,3 Milliarden DM.
({5})
Denn ich erinnere daran, dass die Reduzierung der Zuzahlung zu Arzneimitteln zu Ausfällen in Höhe von 1 Milliarde DM, die Aussetzung des Krankenhausnotopfers zu
Ausfällen in Höhe von etwa 700 Millionen DM, die Ausweitung von Leistungen im Rahmen der beschlossenen
Gesetze im Bereich der Soziotherapie zu Mehrausgaben
in Höhe von 1 Milliarde DM und Ausnahmeregelungen
im Bereich der Krankenhäuser zu Mehrausgaben in Höhe
von etwa 2 Milliarden DM führen werden. Wenn das, was
ich soeben im Hinblick auf die Kürzung der Renten festgestellt habe, hinzukommt, haben wir ein Defizit von
5,3 Milliarden DM. In einigen Berechnungen wird sogar
von 7,5 Milliarden DM ausgegangen.
Dass dies natürlich Beitragssatzerhöhungen geradezu
provoziert bzw. erforderlich macht, dürfte keine Frage
sein. Wir stellen auch die Frage, wie eine solche Tatsache
in Zusammenhang mit den Versprechungen und Vorhaben
steht, die Sie immer genannt haben: dass ganz oben auf
der Agenda - das ist dringend notwendig - die Beitragssatzstabilität steht.
({6})
Herr Kollege
Lohmann, wir haben eine Aktuelle Stunde. Ich muss Sie
an Ihre Redezeit erinnern.
Ist
meine Redezeit schon so schnell zu Ende? Es tut mir sehr
Leid.
Ja, das geht immer
recht schnell.
Dann komme ich jetzt ganz schnell zum Ende meiner
Ausführungen: Ich appelliere in diesem Zusammenhang
sowohl vor allen Dingen an Sie, Frau Schaich-Walch, an
alle anderen in der SPD-Fraktion, aber auch an die grüne
Fraktion. Denn wenn man Zitate von Ihnen, die Sie selbst
in Veröffentlichungen etwa in der „Süddeutschen Zeitung“ vor wenigen Tagen gebracht haben, vorlesen würde das kann ich aber nicht mehr tun -, dann würde man feststellen, dass absolut klar ist, dass die Kassen, wenn Ihre
Vorhaben umgesetzt werden, die Beiträge im kommenden
Jahr erhöhen müssen.
Herr Dreßler beispielsweise hält dies für unzumutbar.
Sogar Herr Metzger warnt dringend vor einer solchen Lösung. Man kann doch nur sagen: Wenn Sie die weitere Abwärtsspirale wirklich aufhalten und eine weitere Verschlechterung der Versorgung vermeiden wollen, dann
verhindern Sie im Herbst dieses Jahres bei der zweiten
Wolfgang Lohmann ({0})
und dritten Lesung, dass eine solche Regelung eingeführt
wird.
Danke.
({1})
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Regina Schmidt-Zadel.
({0})
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen von der Union, ich spreche Sie heute einmal als
diejenigen an, die diese Aktuelle Stunde beantragt haben.
({0})
Herr Lohmann, eines gleich vorweg: Wer 16 Jahre im
Glashaus saß, der sollte eigentlich nicht mit Steinen werfen.
({1})
Aber Sie konnten sich offenbar wieder einmal nicht
zurückhalten. Zu verlockend war es, die Regierungsvereinbarung - ich betone ausdrücklich: die Regierungsvereinbarung - zur Absenkung der GKV-Beträge für Arbeitslosenhilfebezieher als Stein am Wegesrand aufzunehmen und als Munition für Ihr politisches Tagesgeschäft nutzen.
({2})
Auch ich gebe unumwunden zu:
({3})
Die Belastungen der gesetzlichen Krankenkasse in Höhe
von 1,2 Milliarden DM - sagen Sie nicht „Aha“; warten
Sie ab - durch die Absenkung der Beiträge, die aus dem
Etat des Bundesministers für Arbeit gezahlt wurden, sind
auch für uns eine bittere Pille, die nicht leicht zu
schlucken ist.
({4})
Dies sind unerfreuliche Momente für jeden Sozial- und
Gesundheitspolitiker, in denen man mit sich ringen muss.
({5})
Aber während Ihrer Regierungszeit ist es Ihnen genauso
gegangen. Dies habe ich vielfach in Gesprächen mit Ihnen
gehört. Aber - jetzt werfe ich den Stein zurück - es ist
letztlich das Ergebnis Ihrer 16 Jahre andauernden Politik
des Schuldenanhäufens,
({6})
die die rot-grüne Bundesregierung zu Sparmaßnahmen
zwingt, die wir alle gerne vermieden hätten.
Es ist doch der gigantische Schuldenberg der Kohl-Regierung, der eine Haushaltssanierung, an der sich alle
Ressorts beteiligen müssen, unausweichlich macht. Sie
haben uns ungeordnete Staatsfinanzen und einen Schuldenberg hinterlassen,
({7})
der uns zwingt, jede vierte Mark - hören Sie gut zu - für
Zins und Tilgung zu verwenden. Die Schulden hatten am
Ende Ihrer Regierungszeit mit 1,5 Billionen DM den
höchsten Stand in der Geschichte der Bundesrepublik.
80 Prozent davon sind während Ihrer Regierungsverantwortung verursacht worden.
Ich betone noch einmal: Die Absenkung der Beiträge
von Arbeitslosenhilfebeziehern zur GKV und zur Pflegeversicherung ist eine bittere Pille. Ich wäre froh, wenn wir
sie nicht schlucken müssten.
({8})
Lassen Sie mich aber folgende Punkte anmerken - ich
weise an dieser Stelle noch einmal darauf hin -: Hätten
sich die Union bzw. die Mehrheit nicht der Reform verweigert und nicht wichtige Teile der Gesundheitsreform
blockiert, wäre dieses Opfer sogar noch verkraftbar gewesen. Nicht die hier diskutierte Beitragsabsenkung, sondern Ihre Verweigerungshaltung bei wichtigen Fragen,
zum Beispiel bei der Reform der Krankenhausfinanzierung, ist die wirkliche Belastung der GKV.
({9})
Ein Drittel der Kosten bei der gesetzlichen Krankenversicherung entfallen auf den stationären Bereich. Ihre
Reformblockade kostet die Kassen jährlich Milliardensummen - ein Vielfaches mehr als die 1,2 Milliarden DM,
über die wir heute diskutieren. Die Union hat während ihrer Regierungszeit noch weit größere Verschiebeaktionen
veranstaltet.
({10})
Schlimmer noch: Herr Lohmann, es war doch geradezu
das Markenzeichen Ihrer Politik, Kosten, die eigentlich
die Allgemeinheit zu tragen hätte, auf die Beitragszahler
der Sozialversicherungssysteme abzuwälzen.
({11})
Zu keiner Zeit war der Anteil der versicherungsfremden
Leistungen in der Renten- und Krankenversicherung
höher als zu Ihrer Regierungszeit. Wenn Sie und Herr
Seehofer heute wegen der Absenkung der Beiträge von
Arbeitslosenhilfebeziehern von Verschiebebahnhöfen
sprechen,
({12})
Wolfgang Lohmann ({13})
dann verschweigen Sie, dass Seehofer selbst über Jahre
der Bahnhofsvorsteher eines gigantischen Verschiebehauptbahnhofs war.
({14})
Die hier diskutierte Absenkung der Beiträge ist kein
Selbstzweck. Sie dient auch nicht der Vorbereitung der
Systemveränderung innerhalb der Sozialversicherungen,
wie Sie es wollen und wie es bei Ihren Verschiebebahnhöfen war. Nein, die Absenkung dient zielgerichtet dem
Schuldenabbau. Auch hier besteht ein Unterschied: Ihre
Verschiebeaktionen haben die Schulden nicht verringert,
sondern sogar noch wachsen lassen. Ihre Hinterlassenschaft macht uns das Leben jetzt schwer und wir haben
mit ihr zu kämpfen.
Danke schön.
({15})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Detlef Parr.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Wenn sich SPD-Kollegen auf vielen Veranstaltungen wie vor der sozialdemokratischen Seniorenarbeitsgemeinschaft „60 plus“ zu der Behauptung versteigen,
({0})
die Attraktivität unseres Gesundheitswesens werde sich
bei gleich bleibenden Beiträgen weiter verbessern, und
zur gleichen Zeit die Bundesgesundheitsministerin sich
dem Diktat des Finanzministers unterwirft und mal eben
1,2 Milliarden DM aus den Taschen der Krankenversicherten ihrem Kabinettskollegen zuschiebt, dann beweist
das, dass sich Ihre Gesundheitspolitik mehr und mehr auf
bewusste Irreführung gründet.
({1})
Das ist besonders schlimm, wenn dies gegenüber gutgläubigen älteren Menschen erfolgt; das ist einfach nicht
in Ordnung.
Nach der Pflegeversicherung im letzten Jahr ist jetzt
also die Krankenversicherung mit 1,2 Milliarden DM
jährlich betroffen. Wohlgemerkt, es geht nicht um die Reduzierung von Steuerzuschüssen, sondern um einen dreisten Griff in die Tasche der Versicherten und der Arbeitgeber. Ist das Beitragssatzstabilität, meine Damen und
Herren? Dieses Ziel gehört bereits seit längerem offensichtlich in die Welt Ihrer Träume.
Zu der Zeit, als die Ministerin sich mit diesem üblen
Schachzug einverstanden erklärte, demonstrierte in Berlin das Bündnis „Gesundheit 2000“ gegen die Folgen
grün-roter Gesundheitspolitik - ein Bündnis, das die Gesundheitsberufe in Deutschland repräsentiert: 4,2 Millionen direkt und indirekt Beschäftigte, 38 Organisationen.
Sie alle werden durch die Federstrichaktion der Ministerin weiteren zusätzlichen Belastungen ausgesetzt. Sie,
Frau Ministerin, haben sie zum wiederholten Mal
schmählich im Stich gelassen.
({2})
Krankenschwestern, Arzthelferinnen, Ärzte, Apotheker, Patientinnen und Patienten, alle sind sich einig: Wegen der willkürlichen Ausgabenbegrenzung, die Sie gerade weiter verschärfen wollen, müssen medizinische
Leistungen wie Krankengymnastik und Sprachheiltherapien eingeschränkt werden, können Krankenhäuser Operationen nicht im erforderlichen Maße durchführen Wartelisten drohen nicht nur, sondern werden zukünftig
zum Alltag gehören -, werden Medikamente nicht mehr
wie gewohnt verschrieben und die Patienten auf billigere
Arzneimittel verwiesen und fehlt die Zeit für ausreichende Zuwendung in der Krankenpflege, um nur einige
Folgen Ihrer verfehlten Gesundheitspolitik zu beschreiben.
Das belastet gerade diejenigen, von denen SPD und
Grüne behaupten, sie lägen ihnen besonders am Herzen:
die chronisch Kranken. Gerade hier - Frau SchmidtZadel, da sind wir uns völlig einig -, bei den Volkskrankheiten Diabetes, Rheuma, Asthma sowie bei Krebserkrankungen, zeichnet sich ein zusätzlicher Versorgungsbedarf ab. Besondere Versorgungsdefizite in der
Arzneimitteltherapie bestehen bei Langzeiterkrankungen
wie MS, Hepatitis B und C sowie bei Aids. Sie interessieren sich offensichtlich nicht für die Krankheitsbilder in
unserer Gesellschaft. Hauptsache, der Plan und die Ideologie stimmen.
({3})
Statt auf das alles zu reagieren, sorgen Sie dafür, dass jetzt
noch weniger Geld in den Kassen ist. Durch Ihre Politik
zwingen Sie die Ärzte zum Verschreiben billigster Generika, also zur Umstellung ihrer Patienten auf andere als
ihre gewohnten Präparate. Sie greifen rücksichtslos in das
Vertrauensverhältnis von Arzt und Patient ein.
({4})
Sie sprechen gleichzeitig, Frau Schmidt-Zadel, von ethischen Verpflichtungen, die unsere Heilberufler selbst bei
bestem Willen nicht mehr erfüllen können, wenn Sie so
weitermachen wie bisher.
({5})
Sie sollten uns nicht wieder mit Ihrer gebetsmühlenartigen Wiederholung angeblicher Wirtschaftlichkeitsreserven kommen. Selbst wenn es sie gibt - Sie haben sie noch
nicht nachgewiesen; die 20 Milliarden DM stehen im
Raum, ohne dass Sie je spezifiziert hätten, woher Sie sie
holen wollen -,
({6})
dann müssen sie erst realisiert werden, bevor man sie abschöpfen kann.
({7})
Das haben mittlerweile sogar die gesetzlichen Krankenkassen begriffen und deshalb gegen Ihren dreisten Milliardenzugriff heftig protestiert und Beitragssteigerungen
angekündigt.
Behaupten Sie bitte auch nicht, dass das alles mit Ihrem
Globalbudget viel besser zu bewältigen sei. Wir wissen,
dass Sie nicht einmal den Mut hatten, im ursprünglichen
Entwurf zur GKV-Gesundheitsreform auf sektorale Budgets zu verzichten. Es war nicht der böse Bundesrat, der
sie hat fortbestehen lassen, das sind ganz allein Sie gewesen. Auch hier wird ein neuer Weg beschritten.
Sie gefährden mit Ihrer Politik entweder die medizinische Versorgung oder Sie sorgen über steigende Beitragssätze für eine Gefährdung des Wirtschaftsstandorts
Deutschland.
({8})
Der scheint Ihnen ohnehin nicht sonderlich am Herzen zu
liegen, wie ein anderes Beispiel, die 10. AMG-Novelle,
deutlich macht. Wir beschließen eine solche Novelle, die
die Zulassung und Nachzulassung von Arzneimitteln beschleunigen soll, und gleichzeitig versäumen Sie es, die
organisatorischen Voraussetzungen dafür zu schaffen,
dass das, was wir als Gesetzgeber wollen, auch umgesetzt
wird.
Gestern ist im Gesundheitsausschuss deutlich geworden, dass die personelle Situation beim Bundesinstitut für
Arzneimittel und Medizinprodukte katastrophal ist.
Durch den Umzug von Berlin nach Bonn verlieren Sie
wichtige leitende Mitarbeiter in einer zurzeit noch nicht
abzuschätzenden Zahl - so kann man das in einer Vorlage
der Staatssekretärin nachlesen - und sind nicht in der
Lage, sie adäquat zu ersetzen.
Firmen - das ist die Folge -, die wollen, dass ein Arzneimittel zugelassen wird, wird angeraten, das bei einem
europäischen Nachbarn zu tun. Sie lassen diese Firmen
ohne Rücksicht auf Arbeitsplätze und den Forschungsstandort Deutschland im Stich.
Für die fatalen Folgen Ihrer staatlichen Zuteilungspolitik gibt es ein weiteres Beispiel: die Lage der Psychotherapeuten in Deutschland. Herr Lohmann hat darauf
hingewiesen. Die Anhörung hat bewiesen, dass das nach
planwirtschaftlichen Gesichtspunkten bereitgestellte
Geld vorne und hinten nicht ausreicht, um den Psychotherapeuten eine angemessene Bezahlung ihrer Leistungen zu garantieren. Sehenden Auges entlassen Sie viele
Praxen, besonders in den neuen Bundesländern - das hat
Professor Azzola sehr nachdrücklich mitgeteilt -, in den
Ruin.
Es ist endlich an der Zeit, damit aufzuhören, den Menschen vorzugaukeln, alle medizinischen Leistungen seien
mit den zur Verfügung stehenden Finanzen ohne Einschränkung zu bezahlen.
Herr Kollege Parr, Sie
haben das Stichwort „aufhören“ schon genannt. Ich muss
Sie an die Redezeit in der Aktuellen Stunde erinnern.
Es ist mein letzter Satz, Frau Präsidentin.
({0})
Wir sollten endlich die demographische Entwicklung mit
der gewaltig wachsenden Zahl älterer Menschen ernst
nehmen und ehrlich sagen, dass der immense medizinische Fortschritt nicht zum Nulltarif zu haben ist.
Korrigieren Sie Ihre Entscheidung, lassen Sie die
1,2 Milliarden DM im System! Sie werden dringend gebraucht.
({1})
Bevor ich der Kollegin Katrin Göring-Eckardt das Wort erteile, bitte ich um
Aufmerksamkeit für eine Erklärung zur Geschäftsordnung vonseiten der PDS-Fraktion. Sie wissen, wir haben
einen Abstimmungsmarathon hinter uns. Dabei ist etwas
schief gegangen. Bitte, Frau Kollegin Böttcher.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Ich bitte das Hohe Haus zur Kenntnis zu nehmen, dass
wir beim Abstimmungsverhalten zu Tagesordnungspunkt 8 etwas klarstellen müssen. Es wurde über die Beschlussempfehlung des Ausschusses abgestimmt. Da wir
den Antrag der CDU/CSU ablehnen, stimmen wir natürlich Nr. 2 der Ausschussempfehlung zu. Da wir selbstverständlich dem PDS-Antrag zustimmen, lehnen wir Nr. 3
der Beschlussempfehlung des Ausschusses ab.
Ich bedanke mich.
Damit ist diese Erklärung vonseiten der PDS-Fraktion im Protokoll.
Ich erteile als nächster Rednerin in der Aktuellen
Stunde der Kollegin Katrin Göring-Eckardt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Man hat inzwischen das Gefühl, es fällt Ihnen
nichts anderes mehr ein, als darüber zu spekulieren, was
demnächst kommen könnte. Ich finde, Sie sollten versuchen, sich an den Tatsachen zu orientieren.
({0})
Mich wundert, dass Sie sich bemühen, sich als Retter
der Beitragssätze darzustellen. Schließlich war und ist
Ihre Politik eine andere: Während Ihrer Regierungszeit
haben Sie dafür gesorgt, dass die Beiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung und in der Rentenversicherung gestiegen sind.
({1})
Sie haben ebenso die steuerliche Belastung hochschnellen
lassen; davon ist heute schon geredet worden. Die Ursache lag vor allen Dingen darin, dass Sie strukturelle und
mutige Reformen weder in dem einen noch in dem anderen Sicherungssystem angehen wollten. Das war auch
schon vor der deutschen Einheit so, die Sie sicher wieder
als Begründung heranziehen wollen.
({2})
Ich will nur ein paar Beispiele nennen: Während der
Zeit Ihrer Regierung ist der Beitragssatz für die gesetzliche Krankenversicherung in den Jahren 1995 bis 1998
trotz erhöhter Zuzahlungen um durchschnittlich 0,3 Beitragspunkte gestiegen.
({3})
In dem gleichen Zeitraum sind die Beiträge zur Rentenversicherung um 1,7 Prozentpunkte gestiegen.
Rechnet man die Einführung der Pflegeversicherung mit
1 Prozent hinzu, ergibt sich für die Jahre 1995 und 1996
eine Steigerung der Sozialabgaben um insgesamt 3 Prozent. Noch deutlicher wird es, wenn man sich das
Ansteigen der Sozialabgaben über einen längeren
Zeitraum hinweg anschaut. Für die Zeit von 1985 bis
1998 - das war auch noch vor der deutschen Einheit ergibt sich eine Steigerung um fast 17 Prozent. Das ist Ihre
Politik gewesen.
({4})
Wir haben seit dem Regierungsantritt bereits eine Stabilisierung bzw. Senkung der Beiträge erreicht. So ist beispielsweise der Beitrag zur Rentenversicherung von
20,3 Prozent um 1 Prozent auf 19,3 Prozent gesunken.
({5})
Nach der Blümschen Rentenreform lägen wir jetzt übrigens bei 21 Prozent. Seit 1998 ist die Belastung durch die
Sozialabgaben rückläufig und liegt bei 41,1 Prozent. Um
eines klarzustellen: Auch wir wollen keine Sanierung des
Haushaltes auf Kosten der Krankenkassen.
({6})
Die Bundesministerin Andrea Fischer hat mit Walter
Riester, dem Arbeitsminister, einen annehmbaren Kompromiss ausgehandelt. Der ist ihr sicherlich nicht leicht
gefallen.
({7})
Aber Politik zu machen heißt natürlich auch, Kompromisse zu schließen. Ich will Ihnen auch erklären, warum
ich finde, dass es sich um einen annehmbaren Kompromiss handelt. Die Belastungen für die Krankenversicherungen in Höhe von 1,2 Milliarden DM stellen
gegenüber den 2,4 Milliarden DM, die ursprünglich zur
Debatte standen, eine, wie ich finde, tragfähige Lösung
dar.
({8})
Wir sind der Überzeugung, dass die Mindereinnahmen
in der Krankenkasse ohne Beitragssatzanhebungen zu
verkraften sind, und zwar aus folgendem Grund: Ohne zu
optimistisch sein zu wollen,
({9})
können wir mit erhöhten Einnahmen rechnen. Diese erhöhten Einnahmen haben übrigens mit unserer Politik zu
tun und fallen nicht vom Himmel. Sie stammen zum einen
aus der Regelung für die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse - ich weiß, dass Ihnen auch das nicht
gefällt,
({10})
nichtsdestotrotz führt dies zu Mehreinnahmen der
Krankenkassen - und beruhen zum anderen auf dem
Rückgang der Arbeitslosenzahlen, der nach vorsichtigen
Schätzungen der Bundesanstalt für Arbeit - nicht etwa
dieser Regierung - bei rund 200 000 liegt. Bei der zu erwartenden anhaltenden positiven Konjunktur wird dieser
noch höher sein. Für das Jahr 2001 wird ein Rückgang der
Arbeitslosenzahlen um 300 000 geschätzt. Dies bedeutet
eine klare Entlastung der Krankenversicherungen.
({11})
Und schließlich: Die Lohnabschlüsse der vergangenen
Monate bedeuten ebenfalls eine positive Entwicklung für
die Einnahmen der GKV. Um 2 Prozent höhere Lohnabschlüsse bedeuten für die gesetzliche Krankenversicherung allein eine Differenz von 4,8 Milliarden DM. Wenn
Sie dies den 1,2 Milliarden DM, die wir in dem Kompromiss ausgehandelt haben, gegenüberstellen, kann mit
Recht von Verhältnismäßigkeit gesprochen werden.
({12})
Kompromisse zu machen, ist nie angenehm; für keinen
der Beteiligten. Sie aber sollten sachlich bleiben und die
Menschen nicht unnötig verunsichern. Dies ist nicht nur
unpolitisch, sondern unverantwortlich. Dafür sollten Sie
sich zu schade sein, wenn es um solche Größenordnungen
wie die geht, von denen wir hier reden.
Vielen Dank.
({13})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Ruth Fuchs von der
PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Liebe Kollegin Katrin Göring-Eckardt, den
Versicherten ist es egal, ob der Frau Gesundheitsministerin der Kompromiss schwer oder leicht gefallen ist. Es
bleibt dabei, dass die Regierung mit der Kürzung der
Krankenkassenbeiträge bei der Arbeitslosenhilfe einen
folgenschweren Fehler begangen hat, ob sie das nun
wahrhaben will oder nicht.
({0})
- Warten Sie nur ab, Sie kriegen auch noch Ihr Fett weg.
({1})
Ob Sie es glauben oder nicht, aber Sie haben einen
neuen Verschiebebahnhof zugunsten des Bundeshaushaltes und zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung
geschaffen. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Die für
das Gesundheitswesen zur Verfügung stehenden Mittel
haben Sie damit deutlich verringert. Dies ist unverständlich, denn inzwischen ist eigentlich zur Genüge bekannt,
dass die Krankenkassen nicht nur ein Ausgabenproblem,
sondern vor allen Dingen ein systematisches Einnahmeproblem haben. Dazu sage ich Ihnen: Dieses Einnahmeproblem wird sich in der nächsten Zeit weiter verschärfen.
({2})
Wir haben schon damals bei der Diskussion der Gesundheitsreform 2000 gesagt, dass es ein Kardinalfehler
war, die Grundsituation tendenziell zurückbleibender
Beitragseinnahmen zu negieren und der gesundheitlichen
Versorgung eine Politik der knappen Finanzen zu verordnen. Dies war aus unserer Sicht ein Fehler.
({3})
Die Folgen sind schwerwiegend. Überall im Gesundheitswesen wachsen Spannungen und daraus resultierende Probleme. Die Bundesregierung muss von allen
guten Geistern verlassen sein, wenn sie in einer solchen
Situation die gesetzliche Krankenversicherung als Steinbruch betrachtet, aus dem man nach Belieben Haushaltslöcher stopfen kann. In einer Situation, in der jede Beitragsmark willkommen sein muss - aus meiner Sicht notwendig -, zwingen Arbeits- und Finanzminister die
Gesundheitsministerin zu einem ihr nicht leicht gefallenen Kompromiss, dessen politische Auswirkungen im
Gesundheitswesen als verheerend bezeichnet werden
müssen. Diese Entscheidung ist in hohem Grade verantwortungslos, weil - schon heute absehbar - auf die gesetzliche Krankenversicherung weitere finanzielle Belastungen zukommen. So wird auch die Rentenreform mit
ihren geplanten Kürzungen der Altersbezüge zu Mindereinnahmen in Milliardenhöhe führen.
Weitere Defizite ergeben sich auch aus der zu erwartenden Steuerfreiheit für die Beiträge zur privaten Altersvorsorge sowie aus dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Krankengeld. Besonders ungünstig
werden die Auswirkungen für die Kassen in den neuen
Bundesländern sein. Aufgrund der höheren Arbeitslosigkeit sinken die Einnahmen dort noch stärker und erneut
werden die AOKen am härtesten betroffen sein.
Im Übrigen macht die vorgenommene Streichung von
Kasseneinnahmen das Kabinett Schröder als Ganzes, aber
auch die Gesundheitsministerin persönlich unglaubwürdig. Ich will Ihnen auch sagen, warum ich das behaupte.
Bei der Vorgängerregierung haben die damaligen Oppositionsparteien SPD und Grüne die Sanierung des Bundeshaushaltes auf Kosten der Beitragszahler immer scharf
verurteilt. Schließlich haben auch CDU/CSU und F.D.P. das ist das, worauf ich Sie hinweisen wollte - viele Jahre
friedlich mit riesigen Verschiebebahnhöfen zulasten der
gesetzlichen Krankenversicherung koexistiert. Auch daran sollte und muss heute erinnert werden.
Wissen Sie, liebe Kollegin Regina Schmidt-Zadel, etwas wird nicht besser oder richtiger, nur weil zwei das
Gleiche tun.
({4})
Nicht nur, dass Sie als Regierungsparteien jetzt zu den
gleichen Methoden greifen wie Ihre Vorgängerregierung,
ist aus meiner Sicht schlimm. Hinzu kommt noch: Die
Sparpolitik im Gesundheitswesen haben Sie immer
wieder mit dem Gebot der Beitragssatzstabilität begründet. Jetzt aber kürzt die rot-grüne Regierung willkürlich
die Einnahmen der GKV und provoziert damit selbst
nachfolgende Beitragserhöhungen.
Vor einigen Wochen waren es nur unausgegorene und
widersprüchliche Äußerungen der Gesundheitsministerin, die dem Verdacht von Konzeptionslosigkeit Nahrung
gaben. Heute offenbart die Regierung im praktischen
Handeln, dass sie in der Gesundheitspolitik zurzeit entgegen ihren Behauptungen nicht über einen klaren Kurs verfügt. Das könnte sich bald rächen; denn dieses Politikfeld - noch immer voller ungelöster und hochbrisanter
Probleme - wird weiter in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen rücken. Spätestens
dann wird viel davon abhängen, ob eine sozialdemokratisch geführte Regierung weiß, was sie will.
Vor allem muss erwartet werden, dass sie einem zunehmenden Druck in Richtung ökonomischer Konkurrenz, Kern- und Wahlleistungen und damit einhergehender Privatisierung der gesundheitlichen Versorgung nicht
nachgibt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Als
nächste Rednerin hat die Parlamentarische Staatssekretärin Ulrike Mascher das Wort.
Sehr verehrte Kollegen und Kolleginnen! Die Kollegen von der Opposition
haben sich heute offenbar ihr oppositionelles Pflichtprogramm vor dem Sommerurlaub vorgenommen
({0})
und versuchen in Kurzform, die verbalen Schlachten der
letzten Monate noch einmal zu schlagen und auch noch
eine kleine Schreckensmeldung abzusetzen.
({1})
Seit einigen Wochen taucht auch in der Presse immer
wieder das Schreckgespenst einer Beitragserhöhung in
der Krankenversicherung auf. Es gibt sich selbst erfüllende Prophezeiungen. Man muss nur lange genug davon
reden; dann schafft man das schon.
Mit der Drohung einer Beitragserhöhung haben die
Krankenversicherungsträger versucht, auf die Entscheidung der Bundesregierung Einfluss zu nehmen. Jetzt,
nachdem die Bundesregierung entschieden hat, soll Stimmung für die Rücknahme der Entscheidung erzeugt werden.
({2})
Wenn man es nüchtern betrachtet, stellt man fest: Hintergrund der aktuellen Debatte ist, dass im Haushaltssanierungsgesetz 1999 die Bemessungsgrundlage für die
Beiträge zur Renten- und zur Pflegeversicherung der
Arbeitslosenhilfebezieher auf den Zahlbetrag der Arbeitslosenhilfe abgesenkt wurde. Die Krankenversicherungsbeiträge blieben 1999 ausgenommen. - Dieser Schritt
hatte damit zu tun, dass man damals mitten in der Erarbeitung der Gesundheitsreform 2000 steckte.
({3})
- Das finde ich auch korrekt. Wenn man ein so großes Reformvorhaben vor sich hat, darf man es nicht auch noch
mit anderen Dingen belasten.
({4})
Für die Beratungen zum Haushalt 2001 und zum Finanzplan bis 2004 ergibt sich nun aufgrund des Zukunftsprogramms folgende Ausgangslage: Es muss ein Konsolidierungsbeitrag von jährlich 2,4 Milliarden DM erbracht
werden. Selbst bei noch so sparsamer Haushalts- und
Wirtschaftsführung ist ein solcher Betrag nicht zu erwirtschaften.
Wir haben uns deswegen dafür entschieden, dass die
Krankenkassen - jedenfalls für diese Legislaturperiode -,
genauso wie die Rentenversicherung und die Pflegeversicherung, hier ihren Beitrag leisten: Absenkung der Bemessungsgrundlage für die Krankenversicherungsbeiträge der Arbeitslosenhilfeempfänger auf die Höhe der
realen Zahlbeträge.
({5})
- Doch, genau darum geht es, Herr Lohmann. Nur darum
geht es.
({6})
Versuchen Sie jetzt nicht, da einen Popanz aufzubauen!
({7})
Ich halte das für eine verantwortbare Entscheidung.
Wir haben für die Krankenkassen durch die Neuregelung
der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, das heißt
durch das 630-Mark-Gesetz, zusätzliche Einnahmen erschlossen.
({8})
- Nein!
Den Krankenkassen sind im letzten Jahr 1,6 Milliarden DM zugeflossen, obwohl das Gesetz erst im Frühjahr
in Kraft getreten ist. Hochgerechnet auf das Jahr 2000 ergeben sich einschließlich der geringfügig Nebenbeschäftigten Mehreinnahmen von rund 3 Milliarden DM. Ich
will jetzt gar nicht die Aussage des Vorsitzenden des Bundesverbandes der Ortskrankenkassen bemühen, der ja
wiederholt hat, was Ihr ehemaliger Gesundheitsminister
Seehofer immer wieder beschworen hat: die berühmten
25 Milliarden DM Wirtschaftlichkeitsreserven.
({9})
Die Mehreinnahmen in der Krankenversicherung
rechtfertigen das, was jetzt in einem Kompromiss - ich
sage als Vertreterin des Bundesministeriums für Arbeit
und Sozialordnung: dank der Hartnäckigkeit der Kollegin
Fischer ({10})
erreicht worden ist, wonach das Volumen der Krankenversicherungsbeiträge aus Arbeitslosenhilfe nicht um
2,4 Milliarden DM, sondern um 1,4 Milliarden DM abgesenkt wird. Deshalb wurde beschlossen, die Bemessungsgrundlage für die Krankenversicherungsbeiträge der Arbeitslosenhilfebezieher nicht auf den Zahlbetrag, sondern
auf einen in der Mitte zwischen dem Zahlbetrag und der
jetzigen Bemessungsgrundlage liegenden Betrag abzusenken.
Wir werden Ihnen zum Ende der Sommerpause den
entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen. Wir werden
Ihnen den Einzelplan des Bundesministeriums für Arbeit
und Sozialordnung vorlegen. Dann haben Sie noch einmal
Gelegenheit, diese Sache im Gesamtzusammenhang der
Haushaltsentwicklung und der Entwicklung der Einnahmen in der GKV zu diskutieren.
({11})
Ich glaube, dann kann man sagen: Das ist eine Entscheidung mit Augenmaß. Es macht uns doch allen keinen
Spaß, diese Haushaltssanierung zu betreiben. Wenn Sie
hier so schreien, kann ich nur sagen: Wer hat denn das
Ganze verursacht? Wir haben doch von Ihnen einen finanziellen Scherbenhaufen geerbt,
({12})
den wir jetzt in mühsamer Kleinarbeit aufarbeiten
müssen. Wir müssen jetzt versuchen, die Sache wieder in
Ordnung zu bringen.
Wenn wir in Zukunft die Entwicklung erfolgreich gestalten wollen, dann muss man hier mit Augenmaß vorgehen. Ich möchte Sie bitten, sich an den konkreten Zahlen
zu orientieren, anstatt zu versuchen, vor der Sommerpause im Plenarsaal irgendwelche Schreckgespenster zu
beschwören. Im Interesse der Betroffenen ist das, glaube
ich, keine gute Politik, die Sie hier machen.
Danke.
({13})
Als
nächster Redner hat Kollege Ulf Fink, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Unterschied zu dem, was
Frau Schmidt-Zadel und die Parlamentarische Staatssekretärin Frau Mascher vorgetragen haben, gibt es keine,
aber auch überhaupt keine einzige überzeugende konjunktur-, wirtschafts- oder finanzpolitische Begründung
für diesen Griff in die Kassen der Krankenkassen.
({0})
Die Wahrheit ist: In dem Maße, wie der eichelsche Etat
entlastet werden soll, werden die Kassen der Krankenkassen, der Pflegeversicherung und der Rentenversicherung belastet. Per saldo haben Sie wirtschaftspolitisch überhaupt nichts gewonnen. Das Staatsdefizit insgesamt verändert sich überhaupt nicht. Es ändert sich nur
eines: Statt dass die Defizite bei Herrn Eichel auftauchen,
tauchen sie nun bei Krankenkassen, Pflegeversicherung
und Rentenversicherung auf. Das ist ein unzulässiger Eingriff in die Autonomie dieser Versicherungseinrichtungen.
({1})
Frau Göring-Eckardt versucht, von ihren fehlenden Taten dadurch abzulenken, dass sie darauf hinweist, was
früher falsch gelaufen ist. Ich will Ihnen einmal ein Zitat
vorlesen und Sie können nachher raten, wer es gesagt hat:
Trotz des fortschreitenden Alters der Menschen, trotz
medizinischen Fortschritts haben wir es geschafft,
die Qualität unseres Gesundheitswesens zu erhalten
und die Beitragssituation im Rahmen des Wachstums
des Bruttoinlandsprodukts zu halten. Das ist eine
tolle Leistung. Darauf hinzuweisen wäre auch politisch lobenswert.
Nun raten Sie einmal, wer das gesagt hat: Rudolf Dreßler
im Interview mit dem „Gesundheitspolitischen Informationsdienst“ am 27. Juni. Für den Löwenanteil dieser
20 Jahre haben Union und F.D.P. die Regierungsverantwortung getragen. Vielleicht sollten Sie das einfach einmal zur Kenntnis nehmen.
({2})
Das eigentlich Entscheidende ist doch: Wir haben Untersuchungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung vorliegen, wonach die Beitragssätze zur gesetzlichen Krankenversicherung - wenn nichts geschieht - bis
zum Jahre 2040 von jetzt 13,5 Prozent auf 24 Prozent steigen werden. Es gibt verschiedene Schätzungen, aber alle
Schätzungen gehen davon aus, dass der medizinische
Fortschritt und die älter werdende Gesellschaft solche gewaltigen zusätzlichen Kosten verursachen, dass die Beitragseinnahmen damit nicht Schritt halten werden können.
Anstatt sich in einer solchen Situation um dieses
Thema intensiv zu kümmern, entziehen Sie der gesetzlichen Krankenversicherung sogar noch Beitragseinnahmen, die ihnen zustehen. Dies ist sozialpolitisch und gesundheitspolitisch ein absolutes Kuddelmuddel, dem keinerlei Prinzip zugrunde liegt. Das lässt sich auch an
Folgendem deutlich machen: Sie beschließen im Jahre
1999 - das ist jetzt, im Jahre 2000, geltendes Gesetz -,
dass für die Empfänger von Arbeitslosenhilfe Beiträge an
die Renten- und Pflegeversicherung auf der Grundlage
des tatsächlichen Zahlbetrages und nicht, wie es bisher
immer der Fall war und notwendig ist, auf der Grundlage
von 80 Prozent des früheren Bruttoentgeltes abgeführt
werden. Bei der Krankenversicherung hingegen werden
im Jahre 2000 Beiträge nach Maßgabe von 80 Prozent des
früheren Bruttoentgeltes entrichtet.
Nun könnte man darüber diskutieren, ob besser auf den
tatsächlichen Zahlbetrag oder auf 80 Prozent des früheren
Bruttoentgeltes abgestellt werden sollte. Für das Jahr
2001 beabsichtigen Sie nun aber, bei der Renten- und
Pflegeversicherung Beiträge auf der Grundlage des
tatsächlichen Zahlbetrages abzuführen. Nun könnte man
daran denken, dass Sie das auch bei der Krankenversicherung wollen. Aber das ist nicht der Fall. Bei der Krankenversicherung wollen Sie, dass das irgendwo zwischen
dem tatsächlichen Zahlbetrag und 80 Prozent des früheren Bruttoentgeltes liegt.
Diese Politik verstehe, wer will. Wir haben doch alle
Hände voll zu tun, den Menschen sinnvoll zu erläutern,
dass Sozial- und Gesundheitspolitik gewissen Prinzipien
folgt, denen eine einheitliche Logik zugrunde liegt. Sie
aber entziehen dem System jegliche Glaubwürdigkeit und
erzeugen damit eine neue Altersarmut - insbesondere in
Ostdeutschland -, obwohl Sie vorgeben, ebendiese bekämpfen zu wollen.
({3})
Gleiches gilt für die Altersverwirrten: Wir wollten etwas im Rahmen der Pflegeversicherung tun und brauchen
dafür Geld. Was aber tun Sie? Sie entziehen der Pflegeversicherung 400 bis 500 Millionen DM an Einnahmen.
Bei der Krankenversicherung müssen wir dafür sorgen,
dass die Budgetierung endlich zugunsten einer am medizinischen Bedarf ausgerichteten Versorgung geändert
wird. Was tun Sie? Sie entziehen der Krankenversicherung 1,2 Milliarden DM an Beiträgen.
Nein, meine Damen und Herren, das ist eine falsche
Politik.
({4})
Das Wort
hat jetzt die Bundesministerin Andrea Fischer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich unternehme einen Versuch, das Ritual, uns gegenseitig die
Schuld zuzusprechen, zu durchbrechen, indem ich sage:
Es ist meine Verantwortung, dass dieser Beschluss im Kabinett gefasst wurde. Dabei ist in der Tat unerheblich, ob
es mir dabei gut ging. Das ging auf meine Kappe und dazu
bekenne ich mich. Sie aber können nicht dieser harten,
schwierigen und auch schmerzhaften Operation ausweichen, den Bundeshaushalt in eine Lage zu bringen, in der
wir nicht immer mehr Schulden anhäufen, sondern ihn
entschulden.
({0})
Diese Aufgabe stellt sich uns aufgrund der Entwicklung
in den letzten Jahren in aller Schärfe und dafür tragen Sie
die Verantwortung.
Wir müssen auch darüber reden - ich komme später darauf zurück -, wie das mit der Verantwortung für die Gestaltung des Gesundheitswesens ist. Natürlich lassen sich
Aktuelle Stunden wie diese leicht beantragen. In diesem
Fall empfand ich es geradezu als Pflicht der Opposition,
diesen Stein, von dem Sie sprachen, aufzuheben angesichts der Tatsache, dass Sie wussten, dass es darum ein
großes Ringen innerhalb der Bundesregierung gab. Sie
hätten wirklich versagt, wenn Sie das nicht gemacht hätten. Das ändert aber nichts daran, dass dies leicht ist,
gleichzeitig Ihnen das Schwere unmöglich ist, nämlich
sich zu entscheiden, was Sie wollen: Das erleben wir jeden Tag in der Rentenpolitik, das erleben wir jeden Tag in
der Steuerpolitik und ich meine, das gilt auch für die
Gesundheitspolitik.
({1})
Jetzt noch einmal zu dem zweifelsohne starken Wort,
ich hätte mich dem Diktat des Finanzministers gebeugt
und meinem Kollegen mal so eben Geld rübergeschoben:
Mit Verlaub, wir reden hier vom Bundeshaushalt. Wir reden nicht davon, dass irgendwelche Deals zwischen Ministern gemacht werden, sondern von dem Bestreben, im
Bundeshaushalt die ständige Verschuldung einzudämmen, und davon, dass es großer Anstrengungen bedarf,
das zu ändern.
({2})
Ich will darauf hinweisen: Die Beitragszahler, zu deren
Fürsprecher Sie sich jetzt machen, sind in aller Regel auch
Steuerzahler. Denen ist es nicht gleichgültig, ob die Verschuldung des Bundeshaushaltes immer weiter zunimmt
und ob wir in der Lage sind, die Steuerbelastung zu senken. Sie wollen ja noch viel mehr herausholen - wie wollen Sie das eigentlich finanzieren? Ich bin deshalb dafür,
dass wir alle Verantwortung übernehmen. Ich bekenne
mich zu dem, was wir beschlossen haben.
Ich will noch einmal deutlich sagen - darauf haben
aber schon etliche Kollegen und Kolleginnen hingewiesen -: Sie können nicht behaupten, Sie seien in diesem
Bereich überhaupt nicht tätig gewesen. Die Absenkung
von 100 Prozent auf 80 Prozent, die der Kollege Fink so
vehement verteidigt hat, ist systematisch ebenfalls nicht
zu begründen, sondern war auch eine politisch gegriffene
Zahl.
({3})
Außerdem muss man berücksichtigen: In den letzten
anderthalb, zwei Jahren gab es immerhin keine Beitragssatzerhöhungen, was man von den davor liegenden Jahren
nicht sagen kann. Davor nämlich sind die Beiträge gestiegen, obwohl auch die Zuzahlungen ständig gestiegen
sind. Dies noch einmal zu der Frage, wer wofür steht.
({4})
Herr Lohmann, das Argument, das sei unsere unerschöpfliche Geldbörse, stimmt nicht. Fakt ist, dass sich
die Einnahmen durch die Neuregelung bei den 630-DMJobs positiver entwickelt haben, als wir es in unseren pessimistischen Schätzungen angenommen haben.
({5})
Wir können immerhin sagen, das wir zum ersten Mal seit
sechs Jahren im ersten Quartal des Jahres einen Anstieg
der beitragspflichtigen Einnahmen verzeichnen, der über
2 Prozent liegt. Das ist sehr ungewöhnlich. Das bedeutet,
dass die Einnahmeentwicklung an anderer Stelle
wesentlich positiver verläuft, als wir das erwarten konnten. Jeder Prozentpunkt Zuwachs bei den beitragspflichtigen Einnahmen für die Krankenversicherung bedeutet Mehreinnahmen für die gesetzliche Krankenversicherung in einer Größenordnung von 2,4 Milliarden
DM.
({6})
Deshalb stellen wir hier keine Milchmädchenrechnung
auf. Wir können sehr wohl belegen, dass das zu verkraften
ist.
Wir haben außerdem - das will ich noch einmal ganz
deutlich sagen - im Kabinett die Vereinbarung getroffen,
dass wir bis zum Ende der Legislaturperiode an dieser
Stelle keine weiteren Veränderungen vornehmen.
Noch ein Wort zu der Milchmädchenrechnung unserer
Kritiker. Wenn uns vorgehalten wird, wir würden die gesetzliche Krankenversicherung um Einnahmen aus dem
Krankenhausnotopfer bringen, so muss ich erwidern:
Meine Damen und Herren, es war Ihr Gesetz, was dieses
Krankenhausnotopfer auf drei Jahre begrenzt hat. Selbst
wenn wir es nicht geändert hätten - es wäre im letzten Jahr
ausgelaufen -, gäbe es diesen Topf in diesem Jahr nicht
mehr. Zudem haben Sie durch das Krankenhausnotopfer
nur die Hälfte von dem erzielt, was Sie gewollt haben. Sie
erinnern sich sicherlich noch an den Konflikt, den es hier
gab.
Was die Soziotherapie angeht, so rechnen Sie mit völlig überhöhten Zahlen, die überhaupt nichts mit dem zu
tun haben, was dort beschlossen worden ist.
Ich muss angesichts der ganzen Diskussion über das
Gesetz zur Gleichstellung homosexueller Lebensgemeinschaft, mit Verlaub, klarstellen, dass dieses Gesetz noch
nicht beschlossen ist. Zudem wird es nur wenige homosexuelle Paare geben, die überhaupt Leistungen dieses
Gesetzes in Anspruch nehmen werden - und die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei denen um so genannte
Hausfrauenehen handelt, ist relativ gering.
Wenn Sie also behaupten, dieses Gesetz würde für Milliardenbelastungen sorgen, dann muss ich feststellen, dass
dies nur ganz wenig mit der gesellschaftlichen Realität zu
tun hat.
({7})
Im Zusammenhang mit der Rentenreform will ich
deutlich darauf hinweisen: Mit den Zahlen, die dort zum
Teil herumschwirren, geht man von einem Status quo ante
aus, der schon jahrelang obsolet ist. Man kann natürlich
immer von früher prognostizierten Rentenentwicklungen
ausgehen. Es ist selbstverständlich klar, dass die Rentenreform, die wir beschlossen haben, auch Auswirkungen
auf die Einnahmeseite der gesetzlichen Krankenversicherung haben wird. Das ist richtig. Aber das liegt in der Logik unserer Sozialversicherungssysteme. Sie weisen
schließlich auch immer dann Einnahmeschwankungen
auf, wenn die Löhne steigen oder sinken. Mit Verlaub, der
Hinweis, dass sich die Rentenreform auch auf die gesetzliche Krankenversicherung auswirkt, kann kein Argument
gegen eine dringend notwendige Reform sein.
({8})
Jetzt zu der Frage der Verantwortung. Ja, Herr Fink, Sie
haben Recht: Die Frage des demographischen Wandels
gehört auf die Agenda. Aber es stimmt nicht, dass der demographische Wandel ein Beleg dafür ist, dass wir mit
dem heute vorhandenen Geld unter keinen Umständen
auskommen können; denn die Prognosen, die Sie erwähnt
haben, erfüllen sich erst in 20 oder 30 Jahren.
({9})
Auch Sie wissen, dass die Prognosen - je nach Studie eine große Bandbreite aufweisen. Das lohnt sich zu diskutieren. Zu dieser Diskussion bin ich auch bereit. Ich bin
der festen Überzeugung, dass wir noch schwierige
Entscheidungen vor uns haben, die sowohl die Einnahmen- als auch die Ausgabenseite betreffen werden.
Nur, wenn Sie sagen: „Ihr mit Eurer Budgetierung seid
doch Schurken, dadurch wird alles so schwierig!“, dann
müssen Sie auch hinzufügen, dass nach Ihrem Alternativvorschlag die Versicherten wieder sehr viel mehr zahlen
müssen oder dass sie bestimmte Leistungen nicht mehr in
Anspruch nehmen können. Sie verfügen doch über einschlägige Erfahrungen, was die Versicherten von einem
solchen Vorschlag halten.
({10})
Die Debatte darüber haben Sie 1997/98 schon einmal
geführt, wenn ich mich richtig erinnere. Es ist klar, wenn
man in der Opposition ist, kann man solche Forderungen
aufstellen und niemand regt sich auf, weil niemand die
Folgen Ihrer Vorschläge zu spüren bekommt. Trotzdem
müssen Sie zugeben, dass Sie an diesem Punkt auch noch
am Anfang der Lösung des Problems stehen; denn die
Wahlleistungsdebatte wird auch bei der Opposition und
insbesondere bei der CDU/CSU - wenn ich das richtig
verfolgt habe - außerordentlich kontrovers geführt. Voller
Neid erkenne ich also an, dass Sie sich in der Opposition
andere Vorschläge leisten können als wir uns in der
Regierung.
({11})
- Aber Sie können zeigen, dass auch Sie Ihren Teil der
Verantwortung übernehmen wollen, wenn Sie einen Teil
unserer Verantwortung mittragen. Alle bislang von uns
geplanten Maßnahmen, zum Beispiel Steuerung der Ausgaben, Qualitätssicherung und Herstellung von Datentransparenz, um bessere Kenntnisse über das, was tatsächlich geschieht, zu erlangen, bieten Ihnen vielfältige
Möglichkeiten, zu zeigen, wie ernst es Ihnen damit ist, die
Leistungen im Gesundheitswesen angemessen zu steuern
und einen Beitrag für die Zukunft zu leisten.
({12})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Rainer
Eppelmann von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich rede hier nicht als gesundheitspolitischer Fachmann - der bin ich auch nicht -,
({0})
sondern als betroffener Sozialpolitiker. Ich möchte
meinen Ausführungen voranstellen: Ich erhebe nicht den
Anspruch, dass wir immer dann, wenn wir regiert haben das wird auch in der Zukunft so sein -, alles richtig
gemacht haben. Aber selbst wenn man dies zugibt, muss
man heftige Kritik üben können, wenn man den Eindruck
hat, dass andere etwas falsch machen.
({1})
Ungerechtigkeit und Kurzsichtigkeit werden nicht deswegen weniger, weil sie wiederholt werden. Während bis
1999 die Beiträge der Arbeitslosenhilfebezieher zur Renten-, Pflege- und Krankenversicherung auf der Basis von
80 Prozent des bisherigen Bruttoverdienstes erhoben wurden, gilt dies zurzeit nur noch für Beiträge zur Krankenversicherung. An dieser Stelle soll nun offensichtlich
nachgearbeitet werden. Noch einmal: Das wird nicht allein deswegen besser, weil es schon einmal gemacht worden ist. Dieser Weg war falsch und bleibt falsch.
Für die Rentenansprüche bedeutet dieser Weg erhebliche Kürzungen. Er führt gerade in den neuen Ländern bei
geringerer betrieblicher und privater Altersvorsorge und
bei einer höheren Arbeitslosigkeit, auch bei einer höheren
Dauerarbeitslosigkeit, zu einer erheblich steigenden Altersarmut. Beitragszahler rutschen unter das Sozialhilfeniveau ab. Bei den jetzt erneut gewählten willkürlichen
Verschiebebahnhöfen spürt der Arbeitslosenhilfeempfänger selbst keine Entlastung; die Beitrags- und Steuerzahler aber müssen mehr schultern.
Ich bin als Mitglied der AOK in Brandenburg voll
großer Sorge. Durch die Solidarität der Kassen im Risikostrukturausgleich und durch verbesserte Effektivität hat
die Brandenburger AOK endlich wieder einmal schwarze
Zahlen geschrieben, allerdings nur ganze 4,6 Millionen
DM. Wenn Sie jetzt Ihren unheilvollen Weg der willkürlichen Absenkung fortsetzen, dann würde dadurch allein
bei der AOK in Brandenburg ein neues Minus von 34 Millionen DM entstehen.
Ich frage mich als bei der AOK Versicherter ängstlich:
Wie lange bleibt die AOK in Brandenburg und in den
neuen Ländern überhaupt noch leistungsfähig, wenn die
Zahl der Arbeitnehmer und damit die der Beitragszahler
zurückgeht? Wie kann die AOK in Brandenburg, wie können die AOKen in den neuen Ländern ihren Haushalt wenigstens wieder ausgleichen? Durch eine Erhöhung der
schon jetzt vergleichsweise hohen Beiträge? Durch was
denn sonst! Das ist kein guter Weg; das ist und bleibt ein
schlechter Weg.
Danke schön.
({2})
Als
nächster Redner hat der Kollege Eike Hovermann von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Herrn Lohmann ging es um
Pleiten, Pech und Pannen. Zwar waren wir von Rot-Grün
gemeint; aber hinter diesen Begriffen verbarg sich die
Diskussion über die Finanzen im Gesundheitswesen. Der
Vorwurf lautet, die Gesundheit blute aus, man nehme Belastungen einfach hin und der Weg zur Zweiklassenmedizin werde geebnet. Ich kann dazu nur sagen: Alle Haushalte, bis auf den von Bildung und Forschung, haben Einschnitte hinnehmen müssen, so auch der für Gesundheit.
Die entscheidende Frage ist: Waren die Einschnitte bei der
Gesundheit so gravierend? Hätte es nicht schon in der
Vergangenheit Möglichkeiten gegeben, innerhalb des Gesundheitssystems wirtschaftlich und finanziell etwas zu
machen? Ich will nicht nach hinten schauen; diese Rituale
liegen mir nicht so sehr.
({0})
Ich will nur daran erinnern, dass im Zuge der Auseinandersetzung über den vorgelegten Entwurf zu einer Reform des Gesundheitsstrukturgesetzes zum Beispiel die
Datensammlung bzw. die Datenzusammenführung verhindert - das Wort „blockiert“ darf ich nicht nehmen worden ist. Nach Meinung aller Experten ist dies das einzige sinnvolle Instrument zur Steuerung und zur Kontrolle
des Gesundheitswesens und seiner Ausgaben. Alle Fachleute waren und sind sich darin einig, dass dieses Instrument kommen muss, weil nur auf diesem Weg Milliarden
DM an Ausgaben zum Beispiel bei den Arzneimitteln eingespart werden könnten: durch Vermeidung zu häufiger
Verschreibungen, durch Vermeidung der Herstellung zu
teurer und falscher Arzneien, durch Vermeidung von
unnötigen Doppeluntersuchungen, durch die Kontrolle
der Verweildauer im Krankenhaus - ich erinnere an die
Praxis unnötiger Einweisungen am Mittwoch und am
Samstag; Sie kennen das - , durch „Doktorhopping“ und
durch vieles anderes mehr.
Es gibt im Gesundheitswesen riesige Einsparpotenziale. Die Frage ist, ob der Finanzminister hier nicht auf
die Idee gekommen ist, die einsparbaren Dinge im Gesundheitswesen mit den Belastungen, die er dem Gesundheitssystem zugemutet hat, aufzurechnen. Es gilt festzuhalten, was Frau Schmidt-Zadel gesagt hat: Es war eine
bittere Pille. Ich sage lieber: Es ist eine Kröte, an der wir
sehr schwer zu schlucken haben.
({1})
Ich erinnere auch daran, dass an sich der doppelte Betrag an Kürzungen, nämlich 2,4 Milliarden DM, auf dem
Gesundheitsbereich hätte lasten müssen. Aber die Gesundheitsministerin hat diesen Betrag erfolgreich auf
1,2 Milliarden DM reduziert.
({2})
- Herr Lohmann, wir sind erst am Anfang des Weges. Wir
sind uns völlig klar darüber, dass wir spätestens nach der
Sommerpause in Gesprächen mit der Bundesregierung
weitere Entlastungen für die GKV erreichen wollen und
auch müssen. Wir alle wissen, in vielen Bereichen des Gesundheitswesens gäbe es genug Möglichkeiten, die
1,2 Milliarden DM sinnvoll einzusetzen.
Wir fordern Sie allerdings auf, mit uns in einen Dialog
einzutreten und nach weiteren Wegen im Gesundheitssystem zu suchen. Ich denke, Herr Dr. Parr, etwa an die Vernetzung von Praxen und die integrierte Versorgung gemäß
§ 140 SGB V. Dadurch können 20 bis 30 Prozent der Gelder eingespart werden, die jetzt noch im Gesundheitssystem im Grunde für ineffektive Dinge ausgegeben werden.
Ich würde Sie, Herr Parr, ausdrücklich bitten, nicht von
billigen Generika zu sprechen, weil dadurch der Eindruck
erweckt wird, dies seien sozusagen Tabletten von minderer Bedeutung und schlechterer Qualität. Sie wissen genau, dass die Generika, die sich auf dem Markt befinden
und verantwortungsbewusst verschrieben werden, die
gleichen Wirkstoffe haben und gleiche Wirkungen erzielen. Vermeiden Sie bitte, wenn Sie von billigen Generika
sprechen, den Touch, diese seien zweite Wahl, die wollen
wir nicht. Sie wissen genauso gut wie ich, dass es vielfältige Arzneimittel gegen hohen Blutdruck gibt, die alle die
gleichen Wirkstoffe beinhalten und alle die gleichen Auswirkungen haben, deren Preise aber zwischen 8 und
40 DM liegen. Seltsamerweise werden in 70 Prozent der
Fälle die teureren Mittel verschrieben. Das ist nicht nötig.
Um das zu verhindern, brauchen wir die Datenzusammenführung.
({3})
Ich denke, man kann an sinnvollen Strukturreformen
mitarbeiten. Sicherlich war auch die Positivliste ein Mittel - das wurde von Ihnen bestritten -, langfristig Kosten
im Gesundheitssystem einzusparen.
({4})
Die Schweiz, die über ein ausgezeichnetes Gesundheitssystem verfügt, praktiziert dieses so und niemand beschwert sich. Wir wissen natürlich, welch mächtige
Lobby dahinter steht: Diese möchte das nicht und auch
nicht, dass das Prinzip des Reimports eingeführt wird oder
etwa die Möglichkeit der Aut-idem-Verschreibung durch
den Apotheker, Herr Zöller.
({5})
- Dann müssen wir aber auch zusammenfinden und zusehen, dass Sie unser Gesundheitsstrukturgesetz in all seinen Implikationen mittragen, Herr Lohmann.
({6})
Auf diesem Wege haben wir ja auch die von Ihnen eingeführten starren Fristen im Reha-System verändert - ein
völlig falscher Ansatz. Insbesondere die bayrischen Kurorte, Herr Zöller, hätten dadurch beinahe ihren Niedergang erlebt. Sie wissen, dass Ihr ehemaliger Parteifreund,
Herr Gnan, zu uns gekommen ist und gesagt hat: Helfen
Sie uns, in Bayern geht die Sonne unter!
({7})
Inzwischen zeigt sich, wie Herr Professor Steinbach sagt,
ein Silberstreif am Horizont. Den werden wir mithilfe all
der von uns geplanten Schritte vergrößern.
Ich erinnere auch an die Vereinbarung über den Katalog von Operationen, die ambulant durchgeführt werden
können. Ich will Ihnen das einmal vorlesen.
Nein,
Herr Kollege, bitte nicht mehr vorlesen.
Ich schließe damit auch ab.
Sie haben
Ihre Redezeit bereits reichlich überschritten.
Verehrter Herr Präsident,
das habe ich jetzt erst erfahren. Darf ich den Satz noch zu
Ende bringen?
Bitte sehr,
gerne.
Herr Präsident, ein letzter
Satz mit ein paar Zahlen.
({0})
- Das muss an Ihnen liegen.
In den USA werden 65 Prozent aller Leistenbrüche ambulant behandelt, bei uns nur 4 Prozent. Es wäre gar kein
Problem, dass auch wir diese Zahlen erreichen.
Wir haben immer darauf hingewiesen, dass das gesamte Gesundheitsstrukturgesetz auf solche Dinge ausgerichtet worden ist. Wir wollen da weitermachen und den
Silberstreif am Horizont vergrößern. Wir bitten Sie, nicht
durch unqualifizierte Bemerkungen über billige Generika
den Eindruck zu erwecken, als ob wir uns auf dem Weg
zur Zweiklassenmedizin befänden.
({1})
Herr Präsident, ich danke.
({2})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Sabine BergmannPohl von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Fischer,
nachdem ich Ihre Rede gehört habe, ist mir jetzt wirklich
nicht mehr klar, ob Ihnen überhaupt bewusst ist, welche
Folgen Ihre Gesundheitspolitik hat.
({0})
Sie bringen durch Ihre Gesundheitspolitik und den Griff
in die Kassen der gesetzlichen Krankenversicherungen,
die Sie um 1,2 Milliarden DM erleichtern, diese in eine
nicht mehr zu korrigierende Schieflage. Das hat übrigens
auch Frau Schaich-Walch bestätigt. Sie hat nämlich am
21. Juni 2000 gesagt:
Sollte Riester Erfolg haben, dann „ist absolut klar,
dass die Kassen im kommenden Jahr die Beiträge erhöhen“.
Das heißt: Sie sind sich offensichtlich gar nicht darüber
im Klaren, weil Sie selbst den Grundsatz der Beitragssatzstabilität infrage stellen.
({1})
Hinzu kommt, dass Sie mithilfe des Vorschaltgesetzes
Wahlkampfgeschenke gemacht haben.
Sie sprechen zum Beispiel auch das Krankenhausnotopfer an. Ich finde Ihr Vorgehen unglaublich, weil Sie
wissen, dass sich die Länder gewehrt haben, die Kosten
für die Instandhaltung der Krankenhäuser zu bezahlen.
({2})
Weil zum Beispiel OP-Säle nicht mehr funktionieren, haben wir das Krankenhausnotopfer eingeführt. Sie werfen
uns aber vor, unsozial gehandelt zu haben. Sie wissen
ganz genau, Frau Fischer, dass wir damals in der Klemme
waren.
Hinzu kommt auch, dass Sie die Krankenkassen durch
Ihre Gesundheitsreform mit 2 Milliarden DM und durch
Beitragsausfälle aufgrund der Kürzung bei den Renten
zusätzlich belastet haben: mit 600 Millionen DM in diesem Jahr und 1,4 Milliarden DM im nächsten Jahr. Das
heißt also: 5,8 bis 6,6 Milliarden DM werden der Krankenversicherung fehlen. Ich möchte von Ihnen schon wissen, wie Sie das ausgleichen wollen.
Wenn Sie mir mit dem Märchen von der positiven Wirkung der Einbeziehung der geringfügigen Arbeitsverhältnisse kommen, dann muss ich Ihnen sagen: Erstens nimmt
die Zahl dieser Arbeitsverhältnisse ab. Zweitens betragen
die Beiträge aufgrund dieser Arbeitsverhältnisse jährlich
nur 2 Milliarden DM. Drittens können Sie jede Mark nur
einmal ausgeben.
({3})
Sie haben uns also noch nicht gesagt, wie Sie die Ausfälle
ausgleichen wollen.
Wir merken ja jetzt schon, dass diese Gesundheitspolitik zu einem Qualitätsabbau geführt hat. Sie selbst haben
am 17. September des vorigen Jahres im Bundestag gesagt:
... wenn wir die Ausgaben in den nächsten Jahren
entsprechend den Löhnen steigern, kann es nicht
sein, dass wir damit in eine Zwei Klassen Medizin,
in eine Barfuß-Medizin oder was auch immer
zurückfallen. Das ist einfach völlig unrealistisch.
Das ist etwas, was Panik verursachen soll, aber mit
der Realität nichts zu tun hat.
({4})
Was aber ist passiert? Herr Kirschner, schauen Sie sich
einmal an, was der VFA und die Gmünder Ersatzkasse gesagt haben, die unsere Politik nicht gerade gutheißen.
Diese haben nämlich festgestellt, dass 2,5 Millionen Asthmatiker nicht mehr ausreichend medikamentös behandelt
werden. 88 Prozent der Alzheimererkrankten und 75 Prozent der Personen mit chronischer Herzinsuffizienz erhalten keine nach wissenschaftlichem Stand erforderliche
Therapie. 65 Prozent der Menschen mit Depressionen
sind unterversorgt. Jeder Vierte in Deutschland ist inzwischen medizinisch unterversorgt.
({5})
An dieser Tatsache kommen Sie nicht vorbei.
({6})
Gestern haben Sie in unserer Anhörung gehört, dass ein
Psychotherapeut in Mecklenburg-Vorpommern - man
höre und staune - 14,8 Pfennige für eine Behandlungsstunde bekommt.
({7})
Frau Fischer, ich weiß also gar nicht, wie Sie dieses Gesundheitswesen mit Ihrer Politik retten wollen.
Wenn Sie von Qualitätssicherungsmaßnahmen sprechen, dann merkt man, dass Sie offensichtlich nicht so tief
in der Materie stecken; denn Qualitätssicherungsmaßnahmen sparen kein Geld, sondern sie kosten Geld.
({8})
- Herr Kirschner, wenn Sie uns vorwerfen, dass in einem
langen Zeitraum Beiträge geringfügig angehoben worden
sind, dann muss ich sagen: Das geschah aufgrund des medizinischen Fortschritts. Überlegen Sie doch einmal, was
heute alles möglich ist! Von Lebertransplantationen sowie
von Herz-Lungen-Transplantationen haben wir noch vor
zehn Jahren nicht zu träumen gewagt. Aber sie kosten
Geld und müssen bezahlt werden. Sie liegen mit Ihrer Gesundheitspolitik schon sehr daneben. Sie werden dafür
auch die Quittung erhalten; denn durch Ihre Politik haben
wir bereits heute eine Zwei Klassen Medizin in Deutschland.
({9})
Frau Fischer, wenn Sie weitere Haushaltslöcher mit
Krankenversicherungsbeiträgen stopfen wollen, dann
muss ich Ihnen empfehlen, dieses Geld lieber mit Ihren
Zirkusauftritten hereinzuholen
({10})
als mit einem Griff in die Kasse der Krankenkassen.
Vielen Dank.
({11})
Das Wort
hat jetzt der Kollege Horst Schmidbauer von der SPDFraktion:
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen
und Herren! Ich denke, das war eigentlich eine gute
Chance, mehr Argumente in der Sache auszutauschen.
Aber leider ist - außer vom Kollegen Eppelmann - davon
sehr wenig Gebrauch gemacht worden. Gerade Sie, Frau
Kollegin Bergmann-Pohl, haben hier mit einer Argumentation aufgewartet, die nicht neu ist; denn dass die chronisch Kranken in diesem Land unterversorgt sind, haben
die Menschen schon vor zehn Jahren gewusst.
({0})
Es hat sich auch in den letzten Jahren nichts getan. In der
ganzen Gesundheitsdebatte haben Sie in hohem Maße gepennt.
Wir haben mit der Reform 2000 die so genannten kommunizierenden Röhren geschaffen. Wir werden das Geld
aus der Überversorgung, das Geld aus der Fehlversorgung
nehmen - es also nicht aus dem System herausnehmen,
sondern es nutzen -, um die Unterversorgung gerade der
chronisch Kranken zu überwinden. In dieser Richtung
werden wir agieren.
({1})
Ich glaube, wir müssen als Sozialdemokraten deutlich
machen, dass die Frage, die jetzt der Regierung zur Entscheidung vorliegt, in der Koalition noch nicht entschieden ist und dass wir uns natürlich bemühen werden und
dafür arbeiten wollen, überzeugen wollen, dass dieser
Kelch an der solidarischen Krankenversicherung vorbeigeht. Wenn Sie uns dabei helfen, Kollege Thomae, habe
ich natürlich nichts dagegen.
Das Ziel der Haushaltskonsolidierung tragen wir uneingeschränkt mit; denn das ist ja nachhaltig begründet
worden. Aber damit die Sanierung nicht zulasten der Solidargemeinschaft der Versicherten geht, brauchen wir Alternativen. Wir wären froh gewesen, wenn heute im Rahmen der Aussprache Alternativen benannt worden wären,
wie wir einen anderen und besseren Weg finden können.
Es steht außer Zweifel, dass der Erfolg der Bundesregierung am Arbeitsmarkt zu Mehreinnahmen führen wird.
Ob allerdings die Mehreinnahmen die Einsparungen in
der Größenordnung von 1,2 Milliarden DM ausgleichen
werden, ist eine andere Frage. Unsere Befürchtung ist
eher folgende: Wir glauben, dass die Opposition dies als
Vorwand benutzt, um Druck auf die Patientinnen und Patienten auszuüben.
({2})
Das ist das, was uns in dieser Frage am meisten schreckt.
Deshalb will ich auch gar nicht leugnen, dass wir in der
Frage der Sanierung der Staatsfinanzen vorankommen
müssen. Allerdings: Wenn heute von der Union oder auch
von der F.D.P. wegen dieser geplanten Umleitungsaktion
gleich von einem „Verschiebebahnhof“ geredet wird, sollten Sie sich lieber erinnern, welche geradezu gigantischen
Baumaßnahmen von Verschiebebahnhöfen unter der Regierung Kohl/Waigel/Seehofer/Blüm stattgefunden haben.
({3})
Sie haben in immer kürzeren Abständen ständig Mittel hin
und her geschoben mit dem Ergebnis, dass der Zug unseres Sozialstaates überhaupt nicht mehr vorankam, dass
der Zug unseres Sozialstaates letztlich im Sumpf der
Staatsverschuldung stecken geblieben ist.
Im Gegensatz zu den Chefrangierern der alten Regierung werden wir in der SPD-Fraktion nach Alternativen
trachten, damit das Vertrauen in das Gesundheitssystem
nicht untergraben wird.
Die letzte Glanzleistung Ihrer Chefrangierer war, den
Krankenversicherungen 5 Milliarden DM aus den Taschen zu ziehen. Durch die Absenkung der Bemessungsgrundlage der Beiträge für die Arbeitslosen haben Sie die
Krankenkassen um 5 Milliarden DM erleichtert. Ihr grandioses seinerzeitiges Ergebnis: Beitragserhöhung statt
Beitragsstabilität. Ich denke, so pharisäerhaft, wie Sie tun,
darf nur tun, wer sich auf die strenge Einhaltung von Regeln und Gesetzen berufen kann.
({4})
Darauf berufen darf sich nur der, der selbst noch im
Stande der Unschuld ist. Aber unschuldig am Zustand der
Krankenversicherung, der Rentenversicherung, der Pflegeversicherung, der Arbeitslosenversicherung sind Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, ganz gewiss nicht - im Gegenteil!
({5})
Es ist allzu billig, sich über jemanden zu mokieren, der
Schwierigkeiten beim Aufräumen hat und Probleme anpacken muss. Sie dürfen nicht vergessen, dass es sich um
das Aufräumen Ihrer Hinterlassenschaften handelt.
({6})
Als letzter Redner in der Aktuellen Stunde hat der Kollege
Matthäus Strebl, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Jederzeit wollte sich
der Bundeskanzler am Abbau der Arbeitslosigkeit messen
lassen. Heute diskutieren wir darüber, wie Rot-Grün die
Arbeitslosen bekämpft,
({0})
wie Sie mit kurzatmigen Aktionen die Belastbarkeit der
sozialen Sicherungssysteme testen. Bei der Rente diskutieren wir zwischenzeitlich über das Riester-Modell
Nr. 68. Bei der Pflegeversicherung zerstören Sie systematisch die Finanzierungsgrundlage. Ähnlich ist es bei der
gesetzlichen Krankenversicherung. Sie setzen Rotstift gegen schwarze Zahlen.
({1})
Die Sozialkassen, Kollege Schmidbauer, dienen Ihnen
nur noch als Verschiebebahnhof für Ihre hektische Haushaltspolitik.
Was Sie damit zerstören, ist enorm: die Vertrauensgrundlage für den Generationenvertrag und das Vertrauenskapital der Sozialversicherung. Ihre Sozialpolitik
gleicht einem Rummelplatz: Sie verkünden laut schreiend
die neuesten Angebote, als Lose nur Nieten, und selbst bei
den Gewinnen ist bereits der Lack ab. So funktioniert
Schröders Rummelplatzpolitik. Wen wundert es, dass die
Menschen trotz weltweit guter Konjunkturdaten und demographischer Entspannung auf dem Arbeitsmarkt dieser
Bundesregierung nichts mehr glauben?
Noch im November 1998 kündigte im „Kölner Express“ der zwischenzeitlich privatisierte Schröder-Kompagnon, der damalige Bundesfinanzminister Lafontaine,
der Fahnenflucht begangen hat, an, dass die Zahl der Arbeitslosen um 1 Million sinken werde. Wir von den Unionsparteien werden Sie daran messen. Heute diskutieren
wir darüber, dass die Beiträge der Arbeitslosenhilfeempfänger zur gesetzlichen Krankenkasse sinken sollen.
Die Situation der Langzeitarbeitslosen hat sich nämlich
weiter verschärft. Diese Kehrtwenden, die Sie in der Arbeitsmarktpolitik, bei der Pflege, in der Gesundheitspolitik und in der Rentenpolitik vorführen, zeigen Ihre
Ratlosigkeit.
({2})
Mein Vorwurf ist: Sie haben sich mit falschen Versprechungen an die Macht gemogelt, im Wahlkampf die
Union diffamiert
({3})
und müssen heute damit klarkommen, dass die Wirklichkeit anders aussieht als die bunt bemalten Papiere aus der
SPD-Zentrale.
({4})
Was die Schröder-Regierung am meisten zu fürchten
hat, ist das Langzeitgedächtnis der Menschen, die Sie im
Wahlkampf mit falschen Versprechungen geleimt haben.
Sie lösen keine Probleme, Sie sind das Problem.
({5})
Allein die Abkehr von der nettolohnbezogenen Rente
verursacht bei den Krankenkassen in diesem und im
nächsten Jahr 2 Milliarden DM Mindereinnahmen. Und
es geht noch weiter: Durch die Kürzung der Beiträge von
Arbeitslosenhilfeempfängern zur Rentenversicherung
schafft diese Regierung neue Altersarmut, die sie dann mit
einer Art Grundrente wieder bekämpfen will. Und durch
die Kürzung der Beiträge von Arbeitslosenhilfeempfängern zur sozialen Pflegeversicherung wurden dieser die
Mittel genommen, die sie braucht, um den altersverwirrten Menschen, den Demenzkranken zum Beispiel, zu helfen.
Nun wollen Sie die Beiträge der Arbeitslosenhilfeempfänger zur gesetzlichen Krankenversicherung kürzen. Das
Ergebnis wird sein: jährlich 1,2 bis 1,5 Milliarden DM
Mindereinnahmen. Durch diese Mindereinnahmen sind
die Arbeitsplätze von sehr vielen Krankenpflegerinnen
und Krankenpflegern gefährdet. Dies steigert den enormen Druck, dem die Beschäftigten im Gesundheitswesen
ausgesetzt sind, nochmals.
Wir, die CDU/CSU, sind zu einem fairen Umbau der
sozialen Sicherungssysteme bereit. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren von Rot-Grün, dazu müssen Sie
hier erst die Nebelkerzen verschwinden lassen. Es müssen
wieder Klarheit und Wahrheit in die gesamte Sozialpolitik einkehren. Statt die Arbeitslosen zu melken, wären
eine durchgreifende Steuerreform, eine verlässliche Rentenreform und ein wahres Bündnis für Arbeit, das diesen
Namen auch verdient, notwendig.
({6})
Im letzten Jahr der unionsgeführten Bundesregierung
wurde die Zahl der Arbeitslosen um 400 000 reduziert.
Das entlastet die Sozialversicherung und stabilisiert ihre
Finanzgrundlage. Seit 1999 bleibt der Abbau der Arbeitslosigkeit unter der Entlastung des Arbeitsmarktes durch
die geburtenschwachen Jahrgänge.
Eine „neue Mitte“ wollten Sie, die neue Bundesregierung, ansprechen. Eine neue Ehrlichkeit wäre hilfreicher,
um den notwendigen Konsens beim Umbau der Sozialsysteme und die dafür notwendige Akzeptanz in der Bevölkerung zu schaffen. Mit einer Kürzungsorgie gegen
die Arbeitslosen zeigt diese Bundesregierung ihre Hilflosigkeit in der sozialen Frage.
Zum Schluss möchte ich Ihnen eines sagen: Es wird
Zeit, dass der DGB mit 8 Millionen DM auch eine Kampagne für eine andere, eine ehrliche Sozialpolitik startet.
({7})
Die Union wird aufmerksam beobachten, ob hier die Genossensolidarität wichtiger ist als der Einsatz für soziale
Gerechtigkeit.
({8})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90 /DIE GRÜNEN
Stärkung des sozialen Zusammenhalts der Gesellschaft durch Weiterentwicklung des Sozialstaats und mehr Gerechtigkeit
- Drucksache 14/3787 Matthäus Strebl
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Rudolf Dreßler von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
Sozialpolitik war ein Schwerpunkt des SPD-Wahlprogramms im Jahre 1998.
({0})
Alle Wahlanalysen berichten, dass wir gewählt wurden,
weil große Teile der Bevölkerung ein Gerechtigkeitsdefizit empfunden haben. Man erwartet von der Sozialdemokratie, dass sie dieses Gerechtigkeitsdefizit abstellt.
Sozialpolitik wurde zu einem Schwerpunkt des Arbeitsprogramms der Koalitionsfraktionen, von Bündnis 90/
Die Grünen und SPD. Wir haben in den ersten Monaten
dieser Legislaturperiode viel auf den Weg gebracht. Manche sagen: zu viel. Die wichtigsten Maßnahmen sind im
Einzelnen im vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen aufgelistet.
Auch für die zweite Hälfte der Legislaturperiode setzen die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen
wichtige sozialpolitische Reformvorhaben auf die Tagesordnung. Besondere Bedeutung kommen der Rentenreform, der Reform der Betriebsverfassung und der Arbeitsförderung zu. Das alles wird zu gegebener Zeit in diesem Hause erörtert.
Stattdessen möchte ich mir in meiner letzten Rede im
Deutschen Bundestag ein paar offene Anmerkungen zu
den zukünftigen sozialpolitischen Aufgaben und Herausforderungen erlauben. Vielleicht akzeptieren einige sogar
den Begriff „grundsätzlich“. Dazu gehören auch einige
Gedanken zu unserem Streit und unseren Übereinstimmungen in der Sozialpolitik der vergangenen Jahre.
({1})
Die Bundesrepublik Deutschland ist ein sozialer und
demokratischer Bundesstaat. Demokratie ist nicht denkbar ohne das Adjektiv „sozial“.
({2})
„Sozial“ heißt übersetzt „gesellschaftlich“. Es meint nicht
„karitativ“, so wichtig dies auch sein mag.
({3})
Das Soziale in unserer Gesellschaft zielt nicht auf
bloße Existenzsicherung ab, wie es der Fürsorgestaat tut.
Sozialpolitik in einer Demokratie muss vielmehr zuallererst das Ziel verfolgen, den Menschen die gleichen Chancen auf Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen
Leben zu eröffnen.
({4})
Auch wenn wir dies nicht vollständig erreichen werden:
Wir waren in den letzten 50 Jahren in der Bundesrepublik
auf diesem Weg erfolgreich. Das erreichte Maß an Chancengleichheit ist das Fundament für den inneren Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Ich warne nachhaltig, es
aufs Spiel zu setzen.
({5})
Wenn ich mir die Diskussionen der letzten Jahre vergegenwärtige, habe ich Zweifel, ob diese enorme Bedeutung
unseres Sozialstaatspostulats für die beschriebene Gesellschaftspolitik allen politisch Handelnden noch gegenwärtig ist.
({6})
Die gesellschaftspolitischen Wirkungen unserer sozialstaatlichen Verfassung werden immer weniger gewürdigt, die Vorteile, die auch die Wirtschaft daraus zieht, im
Übrigen auch nicht. Hingegen werden soziale Institutionen als Hemmschuh für die wirtschaftliche Entwicklung
identifiziert, die es zu deregulieren gelte. Der Neoliberalismus meldet sich mit der lauten Forderung, der Staat
müsse sich zurückziehen und die Entwicklung dem freien
Spiel der Kräfte des Marktes überlassen. Dies, so die Behauptung, führe zu einem größeren Maß an Wohlstand
und Wohlfahrt. Es wird unterstellt, die Menschen könnten
in viel größerem Umfang für sich selber sorgen und der
Sozialstaat könne sich folglich „auf die wirklich Bedürftigen“ konzentrieren. Anders ausgedrückt: Jeder sei künftig wieder seines eigenen Glückes Schmied. Die zunehmende Individualisierung der Menschen wird in Gegensatz gebracht zu unseren bewährten solidarischen und
sozialen Sicherungssystemen.
Mit Verlaub, meine Damen und Herren: Da wird doch
allerhand durcheinander geworfen. Aber auf jeden Fall reklamieren diese Auffassungen das Etikett „modern“. Wer
dagegen an den bewährten Zielen und Grundprinzipien
unseres Sozialstaates festhalten will, bekommt das Prädikat „Traditionalist“ - und das ist negativ gemeint.
Diese oberflächliche Art der Diskussion macht mich
besorgt. Manches allerdings amüsiert mich auch. Bemerkenswert finde ich vor allem, dass sich die Protagonisten
solcher politischen Haltungen offenbar nicht bewusst
sind, dass sie selbst in einer jahrhundertealten Tradition
stehen.
({7})
Ich möchte das hier nicht in epischer Breite ausführen,
aber von Traditionen verstehe ich etwas. Das werden nicht
einmal meine ärgsten Gegner bestreiten.
({8})
Das Denkmuster, nach dem eine höhere Macht schon
alles richtet, wenn sich der Staat nur heraushält, hat eine
jahrhundertelange Tradition. Es findet sich schon bei
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
Thomas von Aquin. Die höhere Macht war bei ihm der
liebe Gott. Das Zeitalter, das durch diesen Grundgedanken geprägt war, nannte man übrigens Mittelalter.
({9})
Ich bekenne: Auch ich bin Traditionalist.
({10})
Aber ich bin mir der Tradition, auf die ich mich beziehe,
bewusst. Sie ist jedenfalls insofern moderner, als sie etwas
jüngeren Datums ist. Dem Mittelalter folgte nämlich das
Zeitalter der Aufklärung.
({11})
Im Zeitalter der Aufklärung wurde der Staat in die
Pflicht genommen und ihm eine aktive Rolle gegeben.
Die Aufklärer meinten nämlich, dass nichts allein von sich
aus zu einem harmonischen Ganzen gefügt werden könne,
wenn nicht Menschen durch aktives Eingreifen etwas
nachhelfen.
Auch die großen Werte der Aufklärung - Freiheit, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit - sind für mich hochaktuell.
({12})
Diese Werte taugen immer noch als Orientierungsmaßstab für Politik, insbesondere für Sozialpolitik.
({13})
Dies gilt gerade dann, wenn wir Brüderlichkeit durch Solidarität ersetzt haben. Es ist mir ein Anliegen, darauf aufmerksam zu machen, dass sich abzeichnende neue
Grundlinien der Gesellschaftspolitik in unserem Lande, denen einige die Überschrift „Modernisierung“ zuerkannt haben, einen Generationenkonflikt heraufbeschwören können. So wie Jung und Alt schon heute miteinander umgehen, ist eine solche Gefahr nicht von der
Hand zu weisen.
({14})
Was ich meine, möchte ich anhand eines durchaus humorvollen Histörchens deutlich machen, das ich vor einigen Tagen gehört habe und das alle Mithörer unheimlich
cool - so heißt das ja auf Neudeutsch - fanden:
({15})
Da sitzt auf der Düsseldorfer Königsallee ein älterer Herr
in seinem Mercedes und wartet geduldig darauf, dass vor
ihm ein Parkplatz frei wird. Just in dem Moment, als der
Parkplatz endlich geräumt ist und er einparken will,
nähert sich ein junger Mann in seinem schnittigen Sportcoupé und schnappt ihm den Parkplatz ratzfatz vor der
Nase weg. Dieser garniert sein Tun auch noch mit der
schnodderigen Bemerkung: „Tja, Opa, so löst man ein
Problem, wenn man jung und dynamisch ist“. Der so
apostrophierte Opa bleibt ganz ruhig, legt den ersten Gang
ein, gibt Vollgas und faltet den schnittigen Sportflitzer zusammen wie einen Schuhkarton.
({16})
Danach steigt er aus, überreicht dem völlig verdutzten
jungen Mann, jetzt Besitzer eines Schrotthaufens, seine
Visitenkarte mit folgender Bemerkung: „Und so, junger
Freund, löst man ein Problem, wenn man alt und reich
ist“.
({17})
Irgendwie ist das ja lustig. Aber irgendwie bleibt einem
auch das Lachen im Halse stecken; denn dieses Histörchen offenbart bei beiden Beteiligten Verhaltensweisen,
die frei von jeder Rücksichtnahme auf den anderen sind.
({18})
Aggressivität auf die jeweils andere Generation ist hier
das hervorstechende Merkmal. Den beiden fehlt es an Solidarität füreinander. An deren Stelle tritt die Ellbogenmentalität. Soll das etwa das prägende Element für das
zukünftige gesellschaftspolitische Zusammenleben sein?
In der Diskussion über unsere gemeinsame Zukunft
höre ich immer, Solidarität sei zwar unzeitgemäß, müsse
aber nunmehr neu bestimmt werden. Das war es dann aber
auch; denn das Wie, Was und Warum einer Neubestimmung bleiben im Nebel. Ich frage: Muss Solidarität wirklich neu bestimmt werden oder ist Solidarität nicht das
Urelement jeder menschlichen Gesellschaft, wenn sie
denn ein humanes Antlitz trägt?
({19})
Ich habe eher den Eindruck, dass wir in einer Zeit leben, in der Solidarität einseitig als etwas verstanden wird,
was man im Fall der Fälle erhalten möchte, in der aber immer weniger bereit sind, Solidarität selbst zu leisten.
Solidarität nur als Empfangsberechtigung, nicht aber als
Leistungsverpflichtung - soll das eigentlich modern sein?
Bei einem solchen Verständnis von Solidarität wäre es
doch eigentlich politische Aufgabe, sie wieder in ihren alten Stand zu setzen, sie als Geben und Nehmen zu definieren.
({20})
Ich bin doch hoffentlich nicht der Einzige, der die ebenso
rechten wie billigen Sprüche von „Hilf dir selbst, dann
hilft dir Gott!“ für eine ziemliche Unverfrorenheit hält.
„Jeder ist seines Glückes Schmied“ predigen in der Regel
auch nur diejenigen, bei denen der Schmied schon mindestens einmal war.
({21})
Sie predigen es vorzugsweise jenen, die nie auch nur den
Hauch einer Chance haben, dass ebenjener Schmied vorbeikommen wird. Soll das die neu bestimmte Solidarität
sein?
Was heißt es denn, wenn es heute in der jungen Generation eine Neigung gibt, mit Blick auf die Altersversorgung und ihre Probleme den Alten vorzuwerfen, durch die
Erfüllung ihrer Ansprüche würden sie den Jungen einen
guten Teil ihrer Zukunft wegnehmen? Stimmt das denn
oder ist es nicht vielmehr so, dass die Startposition materiell wie ausbildungsmäßig für keine Generation in der
Geschichte je so günstig wie die der heutigen Jugend trotz erheblicher Probleme auf dem Arbeitsmarkt - gewesen ist?
({22})
Ist es denn nicht auch so, dass diese Startposition der Jungen Ergebnis der ebenso zielstrebigen wie zähen Aufbauarbeit der vorangegangenen Generationen gewesen ist?
Von wegen, die Alten fressen uns die Zukunft vom Kopf!
Die Wahrheit ist, die Alten haben durch ihre Arbeit den
Jungen erst Zukunft gegeben.
({23})
Noch eines scheint vergessen worden zu sein: Es gibt
keine Gesellschaft, die nur aus Gewinnern besteht. In jeder Gesellschaft, und sei sie noch so vollendet, gibt es immer auch Verlierer und Schwächere. Das mag man bedauern, aber es ist so. Ich werde mich deshalb auch nicht
darin beirren lassen, dass sich die Qualität einer Gesellschaft an ihrer Fähigkeit bemisst, diesen Schwächeren gerecht zu werden
({24})
und ihnen deutlich zu machen, dass auch sie dazu gehören
und ihren gleichberechtigten Platz haben. Das ist das
Kernelement der Freiheit und ein wesentliches Element
republikanischer Gesinnung.
({25})
Es geht um Freiheit für alle und nicht nur für die, die
sie sich ohnehin aus eigener Kraft besorgen können. Denjenigen, die sich mit dem oberflächlichen Prädikat der
Modernisierung schmücken, entgegne ich Folgendes: Die
Ausübung individueller Freiheit braucht soziale Voraussetzungen und eine ihrer wichtigsten ist die Solidarität.
Wir brauchen deshalb keine Neubestimmung von Solidarität, sondern wir brauchen endlich wieder republikanische Gesinnung, meine Damen und Herren.
({26})
Zum Wert der Freiheit: Jeder Mensch soll eine
Chance erhalten, ein selbst bestimmtes Leben zu führen
und seine Fähigkeiten, Begabungen und Ambitionen voll
zu entfalten. Ist das ein unmodernes Ziel? Ist das Sozialromantik? Fragen Sie die Menschen in unserem Land.
Vielleicht werden einige einwenden, dass dieses Ziel
wohl nie ganz zu erreichen ist. Aber die meisten werden
zustimmen, dass sie es anstreben; denn Freiheit heißt auch
Individualität.
Die Voraussetzungen sind heute günstiger als je zuvor.
Bildung und neue Kommunikationsmedien eröffnen vielen Menschen ganz neue Optionen. Sie sind nicht mehr an
das Milieu gebunden, in das sie hineingeboren wurden.
Sie haben ganz andere Freiheitsgrade in ihrer Lebensplanung und der Wahl ihres Lebensstils. Die Globalisierung,
nicht nur als internationale Verflechtung der Wirtschaft,
sondern als Zusammenwachsen verschiedenster Kulturen
und Gesellschaften der Welt verstanden, verstärkt diese
Entwicklung.
Damit sind wir beim Wert der Gleichheit. Gleichheit
bedeutet nicht Gleichmacherei. Das wäre ganz falsch. Die
Menschen sind verschieden, sie haben verschiedene
Voraussetzungen und unterschiedliche Bedürfnisse. Ungleiches gleich zu behandeln ist ungerecht. Das ist schon
mehrfach versucht worden und gründlich schief gegangen, wie wir aus der Geschichte wissen.
({27})
Gleichheit bedeutet gleiche Chancen auf Persönlichkeitsentwicklung und eine würdevolle Lebensführung, gleiche
Chancen auf Teilhabe. Gleichheit bedeutet Gleichberechtigung trotz Verschiedenheit. Das führt zur Brüderlichkeit, heute nennen wir das Solidarität. Ich will es so formulieren: Wir sind aufeinander angewiesen.
Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung, Selbstentfaltung und Individualität kann nicht heißen: Ich für meine
Interessen zur Not gegen den Rest der Welt. Das würde allenfalls bei ganz wenigen funktionieren. Freiheit und
Individualität stehen nicht im Gegensatz zu Kollektivität
oder, besser ausgedrückt, Gesellschaftlichkeit. Im Gegenteil: Die meisten Menschen können sich Individualität,
also Freiheit, nur auf der Basis einer solidarischen Absicherung leisten.
({28})
Der gut verdienende Internetdesigner oder Medienmensch konnte dies deshalb werden, weil die Gesellschaft
seine Schul- und seine Hochschulausbildung bezahlt hat.
Das ist vermutlich vielen, die mit diesen Sicherheiten
ganz selbstverständlich groß geworden sind, gar nicht bewusst. Deshalb müssen wir darüber sprechen. Freiheit im
Sinne von Individualität ist für die meisten Menschen
auch in unserer Gesellschaft nur auf der Basis gemeinsamer sozialer Absicherung möglich. Deshalb ist unser Sozialstaat keine Last. Der Sozialstaat ist eine Errungenschaft im Interesse der Emanzipation des einzelnen Menschen.
({29})
Unser Modell der gemeinsamen Absicherung von
Chancengleichheit nenne ich genial. Wenn wir es nicht
schon hätten, müssten wir es erfinden. Wir werden zu
Recht weltweit darum beneidet. Das System ist deshalb so
genial, weil es die Gesellschaft nicht in diejenigen spaltet,
die für sich allein Vorsorge tragen, und diejenigen, die auf
Unterstützung angewiesen sind. Nein, keiner muss in diesem System Danke sagen. Keiner muss das Gefühl haben,
nur für den anderen zu bezahlen. Jeder trägt im Rahmen
seiner Möglichkeiten Verantwortung auch für die anderen
und erwirbt dadurch das Recht, von diesen im Bedarfsfall
unterstützt zu werden.
({30})
Ich frage: Warum stellen wir dies nicht in der öffentlichen Auseinandersetzung als ein hohes Gut heraus, das
uns viel wert ist und auf das wir stolz sein können? Stattdessen schwingt in den Forderungen nach mehr Eigenvorsorge und mehr Eigenverantwortung der Vorwurf mit, die
Menschen würden sich bisher zu sehr auf den Staat verlassen. Ich frage: Wo bitte schön fängt die Eigenverantwortung denn an, jenseits von 2 000 DM monatlich?
Ungefähr so viel zahlt nämlich ein Facharbeiter mit einem
Bruttoeinkommen in Höhe von 5 000 DM in die Sozialversicherung ein - von seinen Steuern, mit denen schließlich Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, kulturelle
und Jugendeinrichtungen sowie unsere innere und äußere
Sicherheit finanziert werden, ganz zu schweigen.
Die Bürger betreiben Eigenvorsorge. Mehr noch: Sie
übernehmen nicht nur Eigenverantwortung, sondern auch
solche für die Gemeinschaft. Ich erinnere daran, dass die
westdeutschen Arbeitnehmer seit zehn Jahren Hunderte
von Milliarden DM aufgebracht haben, um die soziale
Absicherung der deutschen Einheit zu finanzieren. Das
haben sie zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt. Die Welt
staunt heute noch darüber. Das ist eine Riesenleistung und
eine großartige verantwortungsbewusste Haltung der
Menschen in unserem Land der Gemeinschaft gegenüber.
Diese Tradition müssen wir hegen und pflegen, wir dürfen sie nicht herunterreden.
({31})
Ich fasse es in die These: Nicht Globalisierung statt
Tradition, sondern Globalisierung der Tradition, der Tradition der Aufklärung.
Ich werde demnächst aus dem Deutschen Bundestag
ausscheiden und eine neue Aufgabe übernehmen. Dass
dies einige mit Erleichterung zur Kenntnis nehmen, macht
mich ein bisschen stolz.
({32})
Vor zweieinhalb Jahren musste ich mein Leben neu
sortieren. Das einschneidende Ereignis eines Verkehrsunfalls zwang mich täglich in eine Auseinandersetzung mit
fast allen Sekundärtugenden. Ich habe diese Auseinandersetzung angenommen und, so glaube ich, einigermaßen
gemeistert.
({33})
Ich will heute daran erinnern, um mich bei jenen Kolleginnen und Kollegen - parteiübergreifend - zu bedanken,
die mir auf unterschiedlichste Weise dabei geholfen haben. Gestatten Sie mir, dass ich stellvertretend drei Namen nenne: Norbert Blüm, Wolfgang Schäuble und
Rudolf Scharping.
Man kann in vielen Details unterschiedlicher Meinung
sein und streiten. Große sozialpolitische Reformen sollten im Interesse der Menschen und im Interesse des Zusammenhalts der Gesellschaft parteiübergreifend vorgenommen werden. Darum sollten wir uns immer wieder
neu bemühen. Der Opposition kommt in diesem Zusammenhang immer die größere Verantwortung zu, weil sie
nicht handeln muss; eine Regierung muss, die Opposition
kann.
Ich möchte auf fünf große sozialpolitische Reformvorhaben verweisen, die wir parteiübergreifend erarbeitet
haben, Reformen, bei denen wir in der Opposition Verantwortung übernommen haben: die Rentenreform 1989,
das Renten-Überleitungsgesetz, das Gesundheitsstrukturgesetz von 1992, die Pflegeversicherung und den sozialpolitischen Teil des Einigungsvertrages. Wir haben über
die Details hart gestritten und wir haben gerungen. Wir
wussten uns aber in den grundsätzlichen Zielen einig.
Ich habe denjenigen, die neben mir daran beteiligt waren, für ihre Zusammenarbeit, für ihre Fairness und für
den wechselseitigen Respekt, der unsere Arbeit begleitet
hat, zu danken. Stellvertretend für viele andere möchte
ich diesen Dank insbesondere an die Kollegen Norbert
Blüm -, noch einmal Horst Seehofer, Julius Cronenberg
und Dieter Thomae richten. Vielleicht trifft auf uns alle
ein bisschen der Satz zu, den Willy Brandt an das Ende
seiner Zeit gesetzt hat: „Man hat sich bemüht.“
({34})
Ich denke,
ich spreche in Ihrer aller Namen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, wenn ich dem Kollegen Dreßler den sehr herzlichen Dank des ganzen Hauses ausspreche.
Herr Kollege Dreßler, Sie waren seit Ihrem Amtsantritt
im Deutschen Bundestag im Jahre 1980 einer der herausragenden Sozialpolitiker dieses Hauses. Sie haben sich um
die Sozialpolitik in Deutschland verdient gemacht. Ich
wünsche Ihnen im Namen aller Kolleginnen und Kollegen
auch für Ihre zukünftigen wichtigen Aufgaben viel Erfolg,
insbesondere für die wichtige und schwierige Aufgabe des
deutschen Botschafters in Israel.
({0})
Der nächste Redner ist der Kollege Josef Laumann von
der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr
geehrter Herr Dreßler, zunächst einmal möchte ich Ihnen
auch im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Respekt und Anerkennung für Ihre Tätigkeit über sechs
Wahlperioden hier im Deutschen Bundestag aussprechen.
Sie sind in dieser Zeit ohne Frage einer der bedeutendsten
Sozialpolitiker dieses Hauses gewesen. Niemand, auch
wir als Ihre politischen Gegner nicht, auch die Jüngeren
im Parlament nicht, kann Ihnen Ihre Riesensachkenntnisse streitig machen. Man hatte immer den Eindruck das spürte man -, dass Sie Ihre Arbeit daran orientierten,
Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Menschen in
diesem Land, die der Solidarität bedürfen, am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.
Ich finde, wir Jüngeren, die die Sozialpolitik in den
nächsten Jahren hier im Parlament tragen und weiterentwickeln müssen - Sozialpolitik ist nie statisch, etwas, was
so bleiben kann, wie es ist, sondern sie muss gesellschaftlichen Veränderungen angepasst werden, über Generationen und Fraktionen im Deutschen Bundestag hinweg -,
sollten nicht jedem Modetrend erliegen.
({0})
Die Sozialversicherung zur Absicherung bei Krankheit,
Alter und Arbeitslosigkeit ist nichts Altmodisches und
muss auch von uns Jüngeren verteidigt werden.
({1})
Ich bin sicher, dass der Begriff Sozialversicherung, wenn
der DAX irgendwann einmal etwas fällt und viele Leute
merken, dass die Buchwerte sich nicht wie gewünscht realisieren, nicht mehr in allen Ohren so altmodisch klingt,
wie das heute bei dem einen oder anderen vielleicht der
Fall ist.
Aber, Herr Dreßler, es wäre heute von mir als Vertreter
der Union eine unehrliche Rede, wenn ich nicht auch folgenden Punkt ansprechen würde: Sie als Sozialexperte
haben den Wahlkampf Ihrer Partei für die letzte Bundestagswahl wesentlich mit vorbereitet. Das war Ihr gutes
Recht. Es ist das Recht der Opposition, sich für ihren
Wahlkampf ein bestimmtes politisches Feld auszusuchen.
Sie haben damals an der Rentenreform, die wir als
CDU/CSU und F.D.P. am Ende unserer Wahlperiode gemeinsam zu verantworten hatten, vor allen Dingen den
demographischen Faktor kritisiert und von einer Verwüstung der Rentenversicherung gesprochen. Sie haben an
die Wand gemalt, dass unsere Politik zu Altersarmut
führen würde. Ich finde, nicht Sie, aber manch einer in Ihrer Fraktion muss sich doch fragen, ob die Politik, die
heute von der SPD in Deutschland mit vertreten wird,
noch mit dem in Einklang steht, was im letzten Wahlkampf versprochen worden ist.
({2})
Ich stelle mir in diesen Tagen oft vor, wie wohl Herr
Dreßler von diesem Pult aus, aber auch auf vielen Pressekonferenzen und auf vielen anderen Veranstaltungen darauf reagiert hätte, wenn Sozialminister Norbert Blüm ein
Papier aus seinem Hause in Umlauf gebracht hätte, nach
dem wir in der gesetzlichen Rentenversicherung irgendwann bei einem Rentenniveau von 64 Prozent landen
würden.
Wir müssen uns in unserer Gesellschaft bemühen - da
muss Politik mit gutem Beispiel vorangehen -, die Frage
der Generationengerechtigkeit im Kopf zu behalten. Ich
persönlich empfinde es genauso, wie Sie es gesagt haben.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die ganz jungen Leute,
auch die Generation meiner Kinder, heute in Deutschland
Rahmenbedingungen vorfinden werden, von denen Ihre,
aber auch meine Generation noch geträumt hat: in einem
Europa zu leben, in dem es die reale Sorge vor Krieg nicht
mehr gibt.
In den 60er- und 70er-Jahren, auch noch bis in die 80erJahre hinein, hatten wir eine andere Situation. Ich kann
mich noch daran erinnern, wie wir das Ganze Mitte der
70er-Jahre, als ich Soldat war, gesehen haben. Wir haben
heute ein breit gefächertes Bildungssystem für alle Generationen, eine Teilhabe an der Bildung ist für alle möglich. Dennoch müssen wir gerade in der Sozialpolitik daran denken, dass auch diejenigen, die trotzdem nicht mithalten können, eine Chance haben, am Arbeitsmarkt und
am gesellschaftlichen Leben insgesamt teilzunehmen.
({3})
Sozialpolitik der Zukunft - das soll mein letzter Gedanke sein - darf sich nicht darauf beschränken, sich um
die Armen und Entrechteten zu kümmern, der Samariter
zu sein. Wir müssen vielmehr für den normalsituierten
Bürger die gemeinschaftliche Absicherung bei Krankheit
und Alter in Pflicht- und Kollektivsystemen behalten;
denn sie schützen vor Altersarmut und gewährleisten jedem die notwendige medizinische Versorgung.
({4})
Gesetzliche Krankenkassen sind nichts Altmodisches.
Wir brauchen sie, damit auch Menschen, die zum Beispiel
von Geburt an Handicaps haben, zu bezahlbaren Beiträgen versichert sind.
Sehr geehrter Herr Dreßler, seien Sie sicher, dass es
auch in der jüngeren Generation der Abgeordneten des
Deutschen Bundestages viele Menschen geben wird, die
aus diesem Geist heraus Sozialpolitik weiterentwickeln
werden. Sie werden das auch in Ihrer neuen Funktion beobachten können.
Ich gehe davon aus, dass für Sie und Ihre Familie in
diesem Neuanfang, den Sie mit knapp 60 Jahren nach
sechs Wahlperioden im Deutschen Bundestag noch einmal machen dürfen, ein großer Reiz liegt, und wünsche
Ihnen von Herzen, dass Sie in dieser Aufgabe für die Zeit,
in der Sie noch etwas gestalten möchten, eine schöne innere Befriedigung finden. Die besten Wünsche der
CDU/CSU werden Sie nach Israel begleiten.
Schönen Dank.
({5})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Thea Dückert vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Lieber Kollege Dreßler! Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute
zwei wichtige Punkte, die zusammengehören. Wir haben
einen wichtigen Anlass, der zu dieser Debatte geführt hat:
Der Kollege Dreßler wird nun nach Israel gehen. Ganz
eng damit verwoben - deswegen können wir diese Debatte führen - ist eine inhaltliche Themenstellung, nämlich die Frage: Wohin geht unsere Politik der Weiterentwicklung und der Erneuerung des Sozialstaates?
Wo ist unser Ziel? Wo ist diese Perspektive? Herr Dreßler,
Sie haben eben in bewährter Art und Weise viele Punkte
in die Debatte eingebracht. Wir haben nach 19 Monaten
gemeinsamer Regierung eine stolze Bilanz vorzuweisen,
doch geht es insbesondere um die angesprochene Perspektive.
Ich bin - ich habe es gestern schon gesagt - nicht länger Abgeordnete, als diese Regierung im Amt ist. Auf
diese Art und Weise bin ich nicht in den Genuss der kontroversen und lebendigen Debatten der letzten Jahre um
die Sozialpolitik gekommen und konnte so den häufigen
Schlagabtausch nicht verfolgen. Ich habe aber das, was
nach außen gedrungen ist, aus einer Außenperspektive
sehr deutlich wahrnehmen können. Dabei hat sich bei mir
ein Bild festgesetzt, das sich auch anderen Menschen vermittelt hat, nämlich dass jemand um die Sozialpolitik
ringt, der sie nicht einfach als Blinddarm, sondern als
Herz des Sozialstaats begreift.
({0})
Mit dieser Form, engagiert Sozialpolitik zu betreiben,
wird eine sehr wichtige gesellschaftliche Funktion gerade
in der heutigen Zeit, in der wir uns den neuen Herausforderungen der Zukunft stellen müssen, erfüllt. Die Zukunft
wird Probleme aufwerfen, die in ihrer Komplexität und
Vielseitigkeit von unserem heutigen Sozialsystem häufig
gar nicht verarbeitet werden können. In einer solchen Situation der Veränderung, Weiterentwicklung und Erneuerung haben Sie gewissermaßen einen sozialen Kompass
dargestellt, der ein Stück Sicherheit in die Debatte bringt
und den Raum für eine Debatte um Zukunftsfragen öffnet.
Ich weiß, Sie hören nicht gerne den Begriff der Modernisierung, aber wir diskutieren natürlich auch unter dieser
Begrifflichkeit und meinen das nicht so oberflächlich, wie
Sie das zu Recht in Ihrem Beitrag kritisiert haben. Sie
nehmen, Herr Dreßler, eine Rolle an, in der man den Traditionalisten als wohlverstandene und positive Ausprägung begreifen kann.
Sie haben gesagt und vorhin noch einmal ausgeführt,
dass sich die Qualität einer Gesellschaft an der Fähigkeit, den Schwachen gerecht zu werden und ihnen deutlich zu machen, dass sie dazugehören, bemesse. Ich
denke, dieser wichtige und zentrale Satz für die Sozialpolitik ist für uns eine Aufforderung zu einer Politik der Integration, einer Politik gegen Ausgrenzung und auch einer
Politik der Antidiskriminierung.
Ich glaube, dass wir in den letzten 19 Monaten angefangen haben, mit sehr viel Aufmerksamkeit und Kraft zu
versuchen, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Es
ist nicht einfach nur eine sozialpolitische Aufforderung im
engeren Sinne, es ist vielmehr eine kulturelle Aufforderung an uns alle, eine Integration der ausländischen Mitbürger - das gehört zur Sozialpolitik - oder eine Politik zu
betreiben, die den Menschen, die in ihre Heimatländer
nicht zurück können, den Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht.
Integration ist ein sehr wichtiges Zentrum unserer Politik, das wir sehr ernst genommen haben. Dies betrifft
auch die Arbeitsmarktpolitik, in der es heute immer mehr
darum geht, diejenigen, die trotz einer positiven wirtschaftlichen und konjunkturellen Entwicklung außen vor
stehen, in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Das ist
ein wichtiger Punkt und ein Zentrum der Arbeitsmarktpolitik dieser Regierung sowie des Bündnisses für Arbeit.
Herr Dreßler, Sie brechen die Lanze für diese Politik
der Integration. Ich denke, dass insbesondere die Armut das haben Sie immer wieder thematisiert - ein sehr zentraler Punkt der Ausgrenzung in unserer heutigen Konsumgesellschaft ist. Wir wissen auch, dass insbesondere
das Leben mit Kindern heute ein besonderes Armutsrisiko
darstellt.
In der Koalition haben wir uns diesen Bereich in einer
sehr umfassenden Art und Weise zu Herzen genommen,
weil wir von der alten Bundesregierung etwas vorgefunden haben, was sehr schnell wieder zu korrigieren war. An
dieser Stelle will ich nicht alle Punkte inhaltlich aufführen, die dazu geführt haben, dass das Leben mit Kindern heute schon etwas einfacher geworden ist. Nach
19 Monaten ist aber noch viel zu tun.
Die Politik der vergangenen Monate ist eine Antwort
auf das, was Sie fordern. Das haben Sie wieder ausgeführt, als Sie von den drei großen G - Gleichheit, Gerechtigkeit und Glaubwürdigkeit - gesprochen haben. Sie
sprachen davon, dass es um Chancengleichheit geht. In
unserer Gesellschaft können wir die Politik der Chancengleichheit nirgends besser ansetzen als bei den Kindern,
gerade bei Kindern, die in einkommensschwachen Familienverhältnissen leben.
Sie haben von den drei großen G als Aufforderung, Politik zu machen, gesprochen. Sie haben in der Verbindung
dazu gesagt, dass jeder großen Reform zunächst einmal
die Anerkennung und die Aussprache der Wahrheit und
der Realität vorausgehen. Dies mit der Anforderung an
Gleichheit, Gerechtigkeit und Glaubwürdigkeit verbunden ist etwas, was den großen sozialpolitischen Reformen, denen wir gegenüberstehen, zum jetzigen Zeitpunkt
zugrunde gelegt worden ist. Das gilt für die Gesundheitsreform, und das gilt auch für die Rentenreform.
Dies ist sehr schwierig - ich komme noch einmal auf
diesen Punkt zu sprechen -, weil ich an einer Stelle eine
Differenz zu dem sehe, was Sie vorgetragen haben.
Ich denke, dass man Gleichheit, Gerechtigkeit und
Glaubwürdigkeit nicht abschließend definieren kann.
Gerechtigkeit ist ein Begriff ist, der sich in dieser Gesellschaft entwickelt, sodass es neue Facetten und
Schwerpunkte gibt.
Die Frage der Generationengerechtigkeit ist für uns
ein ganz zentraler Punkt. Wenn wir heute über die Rentenreform diskutieren, dann ist die neue Sensibilität in unserer Gesellschaft, zum Beispiel über etwas Zentrales
oder Profanes, wie die Beitragssätze zu reden, damit verbunden, dass wir eine vernünftige Sozialpolitik nur betreiben können, wenn die Politik nicht auf Kosten der jungen Generation geht. Das versuchen wir in unserem Konzept der Rentenreform zusammenzubringen. Deswegen
reden wir über die Notwendigkeit einer Beitragsstabilisierung und über die Notwendigkeit, dass die ältere Generation dazu einen Beitrag leisten muss. Wir führen diese
Diskussion nicht, weil wir meinen, man müsse den alten
Menschen in die Tasche greifen.
Frau Kollegin, darf ich Sie an die Zeit erinnern?
Ich komme gleich zum Schluss.
An dieser Stelle geht es vielmehr darum, dass sich
diese Gesellschaft so verändert, dass zum Beispiel Generationengerechtigkeit einen anderen Schwerpunkt bekommt. Deswegen glaube ich, dass wir bei der Rentenreform, selbst wenn Sie in vielen Punkten Kritik anmelden,
dieser Überschrift folgen.
Meine Damen und Herren, eigentlich wollte ich noch
etwas zur Gesundheitsreform sagen. Das tue ich jetzt
nicht. Alle wissen, dass meine Meinung mit der des Kollegen Dreßler weitgehend übereinstimmt. Auch in diesem
Prozess ging es immer um das Ringen von Lösungen. Das
ist ganz klar.
Frau Kollegin, bitte.
Ich komme zum Schluss.
Herr Kollege Dreßler, Sie gehen nach Israel. Das ist ein
Neubeginn. Meine Worte, die ich Ihnen mit auf den Weg
geben kann, sind vielleicht nicht so schön wie von
Hermann Hesse, der gesagt hat: „Und jedem Anfang
wohnt ein Zauber inne.“ Ich hoffe das sehr für Sie. Ich
nenne noch ein Zitat von Mao Zedong, den Sie vielleicht
auch mögen: „Die Zukunft ist licht.“ Das wünsche ich Ihnen auch für Israel.
({0})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Irmgard Schwaetzer von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der heutigen Debatte verlässt ein wirklich politisches Schwergewicht die
Bonner bzw. die Berliner Bühne. Auf der Bonner Bühne
hat er länger als auf der Berliner Bühne agiert. Aber immer hat er agiert und war nicht zu überhören.
({0})
Ich glaube - das stellt die F.D.P. als kleinere Oppositionsfraktion sowieso fest; aber auch die CDU/CSU tut es -,
dass es einer ungeheuren Anstrengung bedarf, aus der
Opposition heraus sozialpolitische Entwicklungen bzw.
politische Entscheidungen überhaupt mitzugestalten.
Aber auch dies haben Sie, Herr Kollege Dreßler, geschafft, als Sie nach dem Regierungswechsel 1982 für
viele Jahre in die Opposition gezwungen wurden.
({1})
Ich möchte an drei Dinge erinnern: Erstens. Die F.D.P.
hat den Konsens über die Rentenreform 1989 aus großer
Überzeugung mitgetragen. Zweitens. Schmerzliche Erinnerungen hat die F.D.P. dagegen an die Verhandlungen
über das Gesundheitsstrukturgesetz, die 1992 in Lahnstein stattfanden, als die Übereinstimmung zwischen dem
Arbeits- und Gesundheitsminister Blüm und dem oppositionellen Sozialpolitiker Rudolf Dreßler wesentlich
größer war als die mit der F.D.P.
({2})
- Okay, in Lahnstein hat schon Seehofer verhandelt, aber
es war Dreßler.
({3})
Bei uns ruft die Erinnerung an Lahnstein keine ungeteilte
Freude hervor.
Drittens. Etwas Ähnliches hat sich dann bei den Verhandlungen über die Pflegeversicherung 1999 abgespielt.
Man fragt sich natürlich, worauf das beruht. Ich
möchte einen Punkt unterstreichen - das haben Sie, Herr
Dreßler, auch an der Reaktion der Opposition auf das, was
Sie gerade vorgetragen haben, gemerkt -: Wir unterscheiden uns nicht durch die Ziele, die wir in der Sozialpolitik
verfolgen. Auf Art. 20 des Grundgesetzes, den sozialen,
demokratischen Rechtsstaat, sind wir alle verpflichtet.
Ihm fühlen wir uns alle auch verpflichtet. Im Wesentlichen diskutieren wir über Instrumente.
Ich denke, Sie nehmen mir ab, dass sich die Abgeordneten meiner Fraktion häufig durch Ihre polemischen
Feststellungen verletzt fühlten, die Sie zweifellos mit
großer rhetorischer Brillanz und Schärfe vorgetragen haben; denn wir haben natürlich die beachtliche Resonanz,
die Sie damit erzielt haben, bemerkt. Bei mir persönlich
hat das eine oder andere durchaus auch Aggressionen
ausgelöst. So bin ich eben.
({4})
Die leichte Frustration, die Ihnen in den letzten Jahren
anzumerken war, ist, glaube ich, durchaus verständlich.
Wir alle haben bemerkt, dass sich in der SPD eine Auseinandersetzung darüber vollzieht, wie die Sozialpolitik
für die Informationsgesellschaft aussehen soll. Diese
Auseinandersetzung hat zu Beginn dieser Legislaturperiode dazu geführt, dass die Reformen der alten Regierung
zurückgenommen wurden. Aber im Rahmen der Rentenreform tauchen die Reformen der alten Regierung in etwas veränderter Form wieder auf, wie die Einführung der
Sozialversicherungspflicht bei den 630-Mark-Jobs und
die Regelung zur Bekämpfung der Scheinselbstständigkeit belegen. Eine Sozialpolitik für die Informationsgesellschaft hätte in beiden Fällen die Pflicht zur Versicherung wesentlich adäquater anerkennen können.
Sie haben auf den Grundsatz „Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit“ hingewiesen. Ich bin fest überzeugt,
dass keine Partei, die ihr Überleben in unserer Gesellschaft dauerhaft sichern möchte, an diesem Dreiklang
vorbeikommt. Die Prioritäten werden unterschiedlich gesetzt. Bei den Freien Demokraten ist es die Freiheit, die
ganz eindeutig die größere Betonung hat. Am Ruf der
Französischen Revolution, dem Anfangspunkt bürgerlicher Freiheit, kann keiner vorbei.
Es kann aber auch niemand daran vorbei, dass sich gerade in der jungen Generation die Begriffe Solidarität und
Gerechtigkeit in einem Bedeutungswandel befinden. Globalisierung bedingt verschärften Wettbewerb, aber auch
ein erhöhtes Maß an Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Mobilität. Das bedeutet: Der Sozialstaat muss
und kann anders gestaltet werden. Steigende Lebenserwartung und medizinischer Fortschritt sind in einer
Gesellschaft, in der sich die Arbeit verändert und anders
gestaltet ist, als es noch vor 10 oder 20 Jahren der Fall gewesen ist, nicht mehr zu finanzieren.
Deswegen geht es nicht darum, Umlage gegen Privatvorsorge oder Kapitaldeckung auszuspielen;
({5})
vielmehr geht es darum, das Beste aus beiden Ansätzen zu
nehmen und Solidarität und Umlage mit den Chancen der
Nutzung des Kapitalmarktes zu verbinden.
({6})
Auch das bedeutet nicht, dass staatliche Hilfe entfällt,
wenn sich der Staat zurückzieht. Es bedeutet nur, dem
Einzelnen mehr Entscheidungsspielraum zu überlassen,
wie er selbst staatliche Hilfe einsetzt.
Herr Dreßler, ich bedanke mich bei Ihnen im Namen
der F.D.P. für die - in den meisten Fällen - konstruktive
Auseinandersetzung. Sie waren kein leichter Gegner. Sie
sind immer geachtet gewesen. Ich habe mit Ihnen nur vier
Jahre, von 1983 bis 1987, im Ausschuss für Arbeit- und
Sozialordnung verbracht. Immerhin waren wir nachts um
drei Uhr für eine Ausschusssitzung auf den Beinen, als es
unter der Leitung von Eugen Glombig - damals waren
noch andere dabei - um die Auszubildenden im Bäckerhandwerk ging. Wir haben uns da nichts erspart.
Ich wünsche Ihnen im Namen der F.D.P. Glück und Erfolg, Zufriedenheit und persönliches Wohlergehen in Ihrer neuen Aufgabe.
Ich danke Ihnen.
({7})
Als nächste Rednerin hat die Kollegin Dr. Heidi Knake-Werner von
der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Kollege
Dreßler, heute ist nicht ein Antrag wichtig, sondern
Rudolf Dreßler ist wichtig. Ich darf sagen: Rudolf Dreßler
zuzuhören hat sich für mich heute wieder einmal gelohnt.
Dafür ein ganz herzliches Dankeschön!
({0})
Ich muss leider auch sagen: Der Antrag, den Sie heute
eingebracht haben, hat sich nicht gelohnt. Sie hätten sich
ihn ersparen sollen. Ich finde, er wird auch dem Kollegen
Dreßler in keiner Weise gerecht.
({1})
Wenn Sie diesen Antrag neben die Rede von Herrn
Dreßler legen, dann werden Sie unschwer feststellen, was
ich damit meine.
({2})
Insofern zitiere ich gerne aus einer jüngst veröffentlichten
Rede von Rudolf Dreßler. Er sagte:
Der Hang zur Oberflächlichkeit in unserer Gesellschaft ist zu einer grassierenden Seuche geworden.
Das gilt leider auch für diesen Antrag.
({3})
Trotzdem will ich dazu kurz etwas sagen. Wenn ich mir
Ihre zwölf Spielstriche umfassende Bilanz der 19 Monate
Sozial- und Arbeitmarktpolitik anschaue, dann muss ich
Ihnen einfach sagen: Mit einer Bilanz kann man zwar sehr
viel zum Ausdruck bringen, aber man kann natürlich auch
sehr viel verschweigen. Letzteres tun Sie vorrangig. So
vorzugehen ist eben nicht glaubwürdig. Auf Ihrer Aktivseite schwelgen Sie, wie ich finde, in Überbewertung Ihrer Leistungen und auf der Passivseite steht nichts anderes als ein trotziges „Weiter so“.
Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich ignoriere
den sozialpolitischen Elan in Ihrer Anfangszeit keineswegs; aber ich registriere natürlich auch, die Brüche in Ihrer Politik und Ihren Versprechungen seit dem Abgang
von Lafontaine. Sie müssen sich heute einfach fragen lassen: Haben Sie dieser Bundesregierung wirklich nichts
anderes zu sagen, als sie aufzufordern, den eingeschlagenen Weg nach dem Motto weiterzugehen: „Augen zu
und durch“? Das finde ich auch angesichts der heutigen
Rede von Rudolf Dreßler äußerst mager.
({4})
- Das hat nicht Dreßler gesagt - auf ihn komme ich noch
zu sprechen -, sondern ich beziehe mich jetzt auf den Antrag. - Er hat Ihnen einiges ins Stammbuch geschrieben,
was Sie ernst nehmen sollten und in Ihre Politik aufnehmen müssten. Dieser Antrag ist auch im Vergleich zu dem
Titel, den Sie dafür gewählt haben und gemäß dem es um
Weiterführung des Sozialstaates und um mehr Gerechtigkeit gehen soll, äußerst mager.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, glauben Sie wirklich, dass das riestersche Rentenkonzept zur Weiterentwicklung des Sozialstaates und zu mehr sozialer Gerechtigkeit führt?
({5})
Ich glaube das nicht. Das Gegenteil ist der Fall.
({6})
Ihr Konzept richtet sich gegen die Interessen von Millionen Menschen, die auf eine ausreichende soziale Alterssicherung angewiesen sind. Es richtet sich auch gegen die
junge Generation, die über die Maßen belastet wird. Ich
will hier noch einmal Dreßler zitieren:
Ob diese Entwicklung noch mit den Grundsätzen einer solidarischen Gesellschaftspolitik in Einklang zu
bringen ist, das muss jeder für sich entscheiden.
Er hat sich entschieden, und zwar, wie ich finde, richtig.
({7})
Rudolf Dreßler gehört zweifellos zu den Politikern in
der SPD, die das soziale Profil dieser Partei über Jahre geprägt haben. Er hat Werte wie soziale Gerechtigkeit gegen den Kurs der Modernisierer in den eigenen Reihen energisch verteidigt. Er musste wie viele andere auch die Erfahrung machen, dass die Beulen, die man sich im
politischen Leben einhandelt, nicht immer vom politischen Gegner kommen, manchmal sogar seltener von
ihm.
Spätestens seit dem Schröder-Blair-Papier hat sich
Dreßler als Traditionalist, als Betonkopf, als Sozialromantiker verunglimpfen lassen müssen. Ich finde, er hat
diesen Angriff gut pariert. Heute hat er dafür wieder ein
gutes Beispiel abgelegt. In seiner bereits zitierten Rede
sagte Dreßler allen Schröders und Clements zum Trotz:
... wer mehr Gerechtigkeit durchsetzen will, der
schafft dies nicht durch Anpassung an die Realitäten… Nein, der schafft dies nur durch seine Entschlossenheit, Realitäten zu verändern!
({8})
Das ist Dreßlers Credo.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, er wird
Ihnen fehlen und er wird auch uns fehlen.
({9})
Wenn Rudolf Dreßler heute geht, geht in der Tat ein Stück
sozialdemokratisches Urgestein. Sie haben es selber gesagt: Manche werden erleichtert sein. Sie sind ein wenig
stolz darauf. Ich gönne ihnen zwar diese Genugtuung,
aber ich finde es schade. Manch kämpferische Rede,
manch intellektueller Höhenflug, manch polemische Polterei werden wir künftig vermissen. Ich wünsche Ihnen
auch im Namen der gesamten PDS-Fraktion alles Gute für
Ihre neue Aufgabe als Diplomat - den kann ich mir allerdings noch nicht so ganz vorstellen.
({10})
Als nächster Redner hat der Kollege Johannes Singhammer von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ihnen,
Herr Kollege Rudolf Dreßler, gelten mein Respekt und
meine Achtung für Ihre politische Lebensleistung hier im
Hohen Hause. Wir haben uns gerne mit Ihnen gemessen,
sei es mit dem leichten Florett oder mit dem schweren Säbel.
({0})
Wir wünschen Ihnen persönlich als Diplomat in Israel bei
der Vertretung unseres Landes Glück, Erfolg und auch
Befriedigung.
Herr Kollege Dreßler, Sie haben die Gelegenheit genutzt, wie es einem so erfahrenen Politiker wie Ihnen zukommt, mit Ihrer Rede ein politisches Vermächtnis, das
einige Grundsätze enthält, zu hinterlassen. Gestatten Sie
mir deshalb, darauf kurz einzugehen.
Für uns steht im Mittelpunkt einer zukunftsgewandten Sozialpolitik die Überzeugung, dass der Mensch Maß
und Mitte der Politik bleiben muss, dass Freiheit und Gerechtigkeit zusammengehören und dass die Würde des
Menschen - wie es unser Grundgesetz formuliert - unantastbar ist. Wir gehen von einem christlichen Menschenbild aus. Wir nehmen deshalb den Menschen so an,
wie er ist. Wir wollen ihn nicht ändern und nicht neu erschaffen. Wir nehmen ihn mit seinen Stärken und
Schwächen an.
({1})
An diesem Grundsatz richten wir unsere politischen
Forderungen aus. Deshalb sind wir der Meinung, dass Gerechtigkeit, zumal soziale Gerechtigkeit, nicht mit
Gleichheit verwechselt werden darf. Wir treten dafür ein,
jeden zu befähigen, seine Leistung zu erbringen und zu
steigern. Wir treten auch dafür ein, dass sich jeder mit seiner ganzen Persönlichkeit einbringen kann.
({2})
Wir wollen eine menschliche Gesellschaft, die den
Schwachen hilft. Wer Freiheit schafft, muss denjenigen
schützen und demjenigen helfen, der diese Freiheit nicht
in allen Bereichen so nutzen kann wie vielleicht die überwiegende Zahl der Menschen. Darunter fallen ganz konkret in den nächsten Jahren bei uns in Deutschland zuallererst Familien, denen diese Teilhabe nicht in angemessener Weise möglich ist. Darunter fallen auch
Menschen mit einem Handicap, die deshalb auch in Zukunft unsere besondere Hilfe benötigen.
Wir gehen von einem Grundsatz aus, der lautet, dass
eine nachhaltige Sozialpolitik Leistungsanreize geben
muss. Leistung soll belohnt werden. Wir brauchen die
Starken und ihre Leistung, damit wir auch denen, die
schwächer sind, helfen können.
Rudolf Dreßler geht, sein Antrag bleibt. Deshalb will
ich auch auf diesen Antrag ganz kurz eingehen. Da hier
eine Bilanz des großen Erfolges gezogen wird, wird es Sie
nicht wundern, dass wir, was die ersten 19 Monate dieser
rot-grünen Regierung betrifft, die Entwicklung nicht ganz
so euphorisch sehen. Ich will nicht alle Einzelheiten aufzählen. Ich will aber zum Beispiel in diesem Zusammenhang das Gesetz zur Vermeidung von Scheinselbstständigkeit nennen, das Sie schon nach einem halben Jahr korrigiert haben. Dazu zählt auch die schwierige
Geburt des Gesetzes hinsichtlich der 630-DM-Jobs. Seine
Auswirkungen auf das Ehrenamt beschäftigen uns ja gerade.
Ich möchte noch auf einen zentralen Punkt eingehen,
der uns in der nächsten Zeit sehr intensiv beschäftigen
wird. Das ist die Frage der Sicherheit der Renten. Wir
haben mittlerweile den vierten Entwurf des Bundesarbeitsministers vorliegen. Schon das Herausgreifen von
zwei Punkten zeigt, so meine ich, dass das vorliegende
Konzept erhebliche Probleme in sich birgt.
Erster Punkt. Bei einer korrekten Berechnung und einem entsprechenden Vergleich der Auswirkungen des
Rentengesetzes der früheren Regierung mit den Auswirkungen aufgrund des neuen Entwurfs muss man feststellen, dass nicht, wie von Ihnen angegeben, ein Rentenniveau von 65 Prozent erreicht wird - dieses Niveau wäre
durch unser Gesetz erreicht worden; Sie haben es aber
heftig bekämpft und uns dafür im zurückliegenden Wahlkampf getadelt -, sondern nur ein Niveau von 61 Prozent.
Ein zweiter wichtiger Punkt. Dieses Konzept birgt die
Problematik in sich, dass derjenige besser weg kommt,
der früher in Rente geht, und dass derjenige, der länger
einzahlt und seine Beiträge leistet, dementsprechend
benachteiligt wird.
Damit würde bei einer Berücksichtigung dieses Konzepts
der Anreiz, sich früher aus dem Arbeitsleben zu entfernen,
nicht geringer, sondern er würde wachsen. Das wiederum
würde auf die jüngere Generation erhebliche Auswirkungen haben. Wir brauchen die jüngere Generation. Wir
müssen ihr glaubhaft machen, dass das ein gerechtes
System ist, bei dem die Jüngeren nicht zu kurz kommen,
sondern bei dem sie, wenn sie lange eingezahlt haben,
letztendlich das, was sie eingezahlt haben, auch wieder
zurückerhalten.
In diesem Zusammenhang Folgendes: Wenn wir bei
den Zukunftslinien einer Politik sind, die den Erfordernissen von Nachhaltigkeit und wirklicher Zukunftssicherheit genügt, müssen wir natürlich auch auf die demographische Entwicklung eingehen. Ich denke, dass in den
kommenden Jahren von allen Entwicklungen die demographische Entwicklung die größten Auswirkungen auf
die Sozialsysteme haben wird. Im Zusammenhang mit der
Rente diskutieren wir sie intensiv. Bei der Gesundheitsreform wird es ähnlich sein. Bei anderen Sozialversicherungssystemen, beispielsweise bei der Pflegeversicherung, spüren wir auch jetzt schon ihre Folgen.
Die demographische Entwicklung ist die größte Herausforderung für Deutschland in den nächsten 30, 40 Jahren - nebenbei bemerkt auch für die Innovationsfähigkeit,
die unser Land braucht, wobei wir darauf angewiesen
sind, dass auch Jüngere nachwachsen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir verabschieden heute Rudolf Dreßler. Wir wünschen Ihnen, Herr
Kollege Dreßler, im diplomatischen Dienst in Israel und
auf Ihrem weiteren Lebensweg alles Gute. Sie haben nun
auch die Möglichkeit, Ihre Erfahrungen in anderer Weise
einzubringen. Sie haben in diesem Hohen Hause tiefe
Spuren hinterlassen.
({3})
Diesen vielen
herzlichen Grüßen und Wünschen möchte auch ich persönlich mich anschließen.
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
mit dem Titel „Stärkung des sozialen Zusammenhalts der
Gesellschaft durch Weiterentwicklung des Sozialstaats
und mehr Gerechtigkeit“ auf Drucksache 14/3787. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Antrag ist damit mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU
und F.D.P. bei Enthaltung der PDS angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Wissenschafts- und Hochschulzusammenarbeit
mit den Entwicklungs- und Transformationsländern stärken
- Drucksache 14/3376 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch
höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Klaus-Jürgen Hedrich.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Rudolf Dreßler
hat vorhin in einer durchaus beeindruckenden Rede
auf das Element der Solidarität in einer Gesellschaft
hingewiesen. Aber eine Gesellschaft ist nur so solidarisch,
wie sie sich auch gegenüber anderen Gesellschaften, Nationen und Völkern verhält. Deshalb ist es, glaube ich, in
einer enger werdenden globalen Struktur von ganz entscheidender Bedeutung, dass man sich nicht nur darüber
Rechenschaft ablegt - so wichtig das ist -, wie es im eigenen Lande aussieht, sondern auch darüber, wie es in anderen Ländern aussieht, und insbesondere darüber, wie
die Beziehungen zwischen Völkern gestaltet sind.
Vor diesem Hintergrund kommt der Frage der Zusammenarbeit im Bereich von Wissenschaft und Hochschulen
gerade mit Entwicklungsländern, Transformationsländern und Schwellenländern eine zunehmende Bedeutung
zu. Es ist nicht nur von entscheidender Bedeutung, dass
wir dazu beitragen, dass in diesen Ländern die entsprechenden Fachkräfte ausgebildet werden, sondern es ist in
gleicher Weise entscheidend, wie wir das Verhältnis zu
diesen Ländern sehen.
Deshalb möchte ich, auch vor dem Hintergrund der
Diskussionen der letzten Wochen und Monate, für unsere
Fraktion noch einmal sehr deutlich machen: Deutschland
hat ein Interesse daran, dass die Besten der Welt in unser
Land kommen, um hier zu arbeiten und zu studieren.
({0})
Dies muss auch in unserem eigenen Interesse liegen.
Leider verletzt die Bundesregierung, die diesem Grundsatz, den ich gerade genannt habe, manchmal zustimmt,
diesen in ihrer aktuellen Politik. Sie können das an vielen
Punkten erkennen. Beispielsweise werden die Fördermittel für den Wissenschaftsaustausch zurückgefahren.
In der letzten Zeit ist viel darüber gesprochen worden, wie
wir junge Wissenschaftler zum Beispiel aus Indien nach
Deutschland holen können, Stichwort: Green Card. Zum
gleichen Zeitpunkt reduziert aber die Bundesregierung
die Zusammenarbeit mit Indien im ingenieurwissenschaftlichen Bereich, also ausgerechnet in dem Bereich,
in dem man den Mangel an Fachkräften in Deutschland
beklagt und in dem man immer ausgerechnet nach Indien
schielt - was mich ein bisschen wundert, aber das hat sich
so eingebürgert. Diese Reduzierung ist schon ein bisschen
grotesk.
({1})
Gegenwärtig haben wir die Situation, dass lediglich
etwa 100 Inder pro Semester ihr Studium in Deutschland
aufnehmen und nur 700 indische Studenten und Wissenschaftler insgesamt in Deutschland ihre Ausbildung
genießen, während die Besten dieser Welt in Scharen in
die Vereinigten Staaten strömen. Zurzeit sind es mehr als
39 000 Bürger allein aus Indien, die in den Vereinigten
Staaten ihre wissenschaftliche Ausbildung durchlaufen,
also ein Vielfaches der Zahl derer, die sich in Deutschland
aufhalten.
Wir sind in unserer Wissenschaftspolitik ein bisschen
provinziell. Vorhin wurde ausgeführt, wie viele Chancen
die jüngere Generation hat; das ist wahr. Aber wir haben
der eigenen Generation viele Chancen verbaut, indem wir
gerade in der Bildungspolitik dem Prinzip der Gleichmacherei, das Herr Dreßler vorhin als falsch dargestellt hat,
das Wort geredet haben. Dadurch ist die deutsche Bildungslandschaft in vielen Bereichen nicht mehr so attraktiv wie es die Bildungslandschaften unserer Nachbarn
sind: der Holländer, der Engländer, der Franzosen, von
den Amerikanern ganz zu schweigen.
({2})
Wir müssen ein Interesse daran haben, unsere Universitäten auf dem höchsten Stand zu halten. Aber wenn wir
von Kooperation sprechen, möchte ich auch darauf verweisen: Wir sollten nicht immer nur auf die akademische
Jugend und die akademische Landschaft schauen, sondern wir sollten auch an die hoch qualifizierten Facharbeiter denken. Hier geht die Bundesregierung einen merkwürdigen Weg - gerade das BMZ, Frau Staatssekretärin,
was mir überhaupt nicht einleuchtet -, indem sie in zunehmendem Maße die Ausbildung von Bürgern aus Entwicklungsländern in die Entwicklungsländer selbst verlagert, statt diesen Menschen die Chance zu geben, nach
Deutschland zu kommen und deutsche Kultur und deutsche Sprache kennen zu lernen.
Vielleicht reden Sie einmal mit Ihrem zuständigen Referatsleiter ein ernstes Wort, damit er diesem Unsinn endlich ein Ende bereitet. Das können Sie von der Leitungsebene her entscheiden. Sie drücken sich hier um Ihre
Verantwortung, und das vor dem Hintergrund, dass gerade
auf diesem Gebiet viel stärker als übrigens in unseren
Nachbarländern für Deutschland eine große Chance besteht, weil die deutsche Wirtschaft bereit ist, an der Ausbildung von jungen Menschen aus den Entwicklungsländern mitzuwirken. Diese Chancen sollten wir nutzen und
nicht verbauen.
Noch ein letztes Wort zur Hochschulkooperation. Wir
sollten diese Hochschulkooperation in einem ganz besonderen Maße mit den so genannten Schwellenländern betreiben, mit Ländern wie zum Beispiel Brasilien, Indonesien, Indien und Südafrika. Dies sind Länder, die für uns
zum einen aus entwicklungspolitischer Sicht und zum anderen - dies ist an dieser Stelle hinzuzufügen - natürlich
auch als Handelspartner interessant sind. Je stärker der
Bildungs- und Entwicklungsstand eines Landes vorangeschritten ist, desto interessanter ist dieses Land für uns als
Wirtschaftspartner. Es muss in unserem Interesse liegen,
dass junge Menschen die Chance haben, nach Deutschland zu kommen.
Ich plädiere aber mit großem Nachdruck dafür, dass
wir dies nicht als Einbahnstraße betrachten, sondern dass
wir in zunehmendem Maße deutsche Studenten, deutsche
Wissenschaftler und deutsche Fachkräfte ermutigen, im
Ausland zu studieren. Dabei sollten sie nicht nur in die
USA gehen - auch das ist wichtig -, sondern auch bereit
sein, in Entwicklungsländern zu studieren und diese kennen zu lernen. Denn es gibt auch in den Entwicklungsländern, zum Beispiel in Brasilien, in Chile, in Argentinien,
in Mexiko, aber auch in Indien, hervorragende wissenschaftliche Institute.
({3})
Um also zu einem stärkeren kulturellen Austausch
zwischen den Völkern beizutragen, sollten wir unsere
Landsleute ermutigen, ins Ausland zu gehen. Ich halte es
für selbstverständlich, dass wir dieses Element stärken.
Wenn wir den Gedanken des immer stärkeren Zusammenwachsens der Welt ernst meinen, dann muss es dazu
kommen, dass sich Menschen aus unterschiedlichen Ländern in einem stärkeren Maße begegnen. Dazu gehört,
dass man mobil ist und ins Ausland geht.
({4})
In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die
Zahl der ausländischen Studenten in Deutschland stagniert. Das kann uns nicht beruhigen. Es gibt zwei, drei
Ausnahmen. Dazu gehört zum Beispiel Korea. Ansonsten
stagnieren die Zahlen bzw. gehen sie zurück. Das liegt
nicht allein, wie häufig gesagt wird, an der Sprachbarriere. Wenn heute mehr Indonesier in Japan studieren als
in Deutschland und Sprachwissenschaftler einem sagen,
der Sprung von Bahasa Indonesia ins Japanische sei viel
schwieriger als von der indonesischen in jede indoeuropäische Sprache, dann macht dies deutlich: Die Sprachbarriere allein kann kein Grund dafür sein.
Deshalb muss der Standort Deutschland attraktiver
werden. Wir müssen die Bundesregierung und die Bundesländer ermutigen, entsprechende Angebote zu machen. Es ist richtig, nüchtern festzustellen, dass leider die
Zeit vorbei ist, in der Deutsch die Wissenschaftssprache
war. Das ist heute Englisch. Wenn wir es an deutschen
Universitäten als selbstverständlich betrachten, dass Wissenschaftler aus dem Ausland ihre Examens- bzw. Doktorarbeit in englischer Sprache abliefern können, dann
sollte es auch selbstverständlich sein, dass wir in zunehmendem Maße Studiengänge anbieten, die in englischer
Sprache durchgeführt werden.
({5})
Ich plädiere übrigens nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Notwendigkeit, die Prozesse in den Transformationsländern zu beschleunigen, dafür, dass wir uns
auch überlegen, ob wir nicht an der einen oder anderen
deutschen Universität, vor allem an einer Universität in
den neuen Bundesländern, entsprechende Angebote in
russischer Sprache machen.
Wir sollten also unsere Möglichkeiten flexibler gestalten. Deutschland als Wissenschaftsnation hat heute nach
wie vor viel zu bieten. Aber wir dürfen uns nicht ausruhen. Andere Länder haben aufgeholt und die Entwicklungsländer nehmen an diesem Prozess in einem zunehmenden Maße teil. Es gilt diese Chancen zu nutzen.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Frank Hempel.
Verehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Insbesondere lieber
Kollege Hedrich, wenn dieser Antrag im September 1998
vorgelegt worden wäre, dann hätten Sie eigentlich die
gleiche Rede halten können.
({0})
Denn Sie beschreiben in der Analyse des Antrags weitestgehend eine Entwicklung, die in der Zeit stattgefunden
hat, als es einen Bundeskanzler Kohl und als es in den
letzten Jahren Ihrer Regierung einen Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit namens Spranger gab.
Eine Antwort auf die im Herbst 1998 vorgefundene Situation sind die Schwerpunktsetzungen der Bundesregierung auch im Blick auf die Wissenschafts- und Hochschulzusammenarbeit - im Übrigen nicht nur mit den
Entwicklungs- und Transformationsländern. Wie in den
letzten Monaten schon so oft machen es sich die Sprecher,
insbesondere die der größeren Oppositionsfraktion, sehr
einfach. „Haushaltskürzungen rückgängig machen“ ist
mittlerweile eine stehende Floskel geworden. Nur, angesichts des finanziellen Scherbenhaufens, den uns die
frühere Regierung hinterlassen hat, werden und können
wir dies nicht machen.
Trotzdem verweise ich darauf, dass die Mittel für die
Wissenschaftskooperation im Rahmen der Aus- und Fortbildung von Angehörigen der Entwicklungsländer, wie
der entsprechende Haushaltstitel heißt, seit Regierungsübernahme ja prozentual gestiegen sind und auch weiter
steigen werden, wie Sie dem entsprechenden Haushaltstitel des Haushaltes entnehmen können. Dies entspricht im
Übrigen Überlegungen, die Fachleute bereits in der letzten Legislaturperiode, zum Beispiel auf einem Symposium der Alexander-von-Humboldt-Stiftung, vorgeschlagen haben. Sie wissen, dass dies schon damals zum Beispiel der Deutsche Akademische Austauschdienst, der
DAAD, die Alexander-von-Humboldt-Stiftung und die
Deutsche Forschungsgemeinschaft, die DFG, sehr erfolgreich abwickelten.
Es wird allerdings darauf ankommen, das Gesamtkonzept und damit die Bedingungen auch für den Wissenschafts- und Hochschulbereich vor dem Hintergrund einer
Neuorientierung der Politik in der Entwicklungszusammenarbeit zu verbessern, zum Beispiel dadurch, dass der
noch von der alten Regierung eingesetzte Bundesbeauftragte für das Hochschulmarketing Ende des Jahres 1999,
also schon ein Jahr nach Bildung der neuen Bundesregierung, ein Memorandum unter Einbeziehung der Länder
vorgelegt hat, die ja in vielfältiger Hinsicht Verantwortung für den Hochschulbereich tragen. Die im Memorandum genannten Maßnahmen werden von uns umgesetzt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei verschiedenen
Delegationsreisen, insbesondere in afrikanische Entwicklungsländer, habe ich gemerkt, dass die Gesamtsituation
in Deutschland, die nach wie vor von Ressentiments gegenüber Menschen anderer Länder und anderer Hautfarbe, insbesondere aus Entwicklungsländern, geprägt ist,
Studierende aus dem Bereich der akademischen Eliten davon abhält, in Deutschland zu studieren. Dies muss man
zur Kenntnis nehmen.
Diese Ressentiments dürfen nicht geschürt werden,
wie es von bestimmten politischen Kräften in diesem
Land getan wurde. Ich komme aus einem Bundesland, in
dem ich gespürt habe, wie dies auf fruchtbaren Boden fallen kann. Hier ist, meine ich, Vertrauensarbeit zu leisten,
die dann geschieht, wenn in den Projektzusammenhängen, zum Beispiel im Bildungsbereich, ein konstruktivkritischer Dialog geführt wird, der auch auf die
Studienbedingungen in Deutschland eingeht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland muss
mit offenen Angeboten an die Partner in den Entwicklungs- und Transformationsländern herantreten. Herr
Hedrich, die Angebote an unseren Hochschulen, Fachhochschulen und Universitäten sind gar nicht so schlecht
wie in Ihrem Antrag angedeutet ist. Die Kolleginnen und
Kollegen der Unionsfraktion tun gut daran, den Hochschulstandort Deutschland nicht schlechter zu reden als er
ist.
({1})
Gewiss gab es in der Vergangenheit massive Versäumnisse, aufgrund derer unsere Regierung und insbesondere
die Ministerin für Bildung und Forschung aktiv geworden
sind. Die Umstrukturierung hat unter der neuen Bundesregierung schon begonnen. Diese Neuorientierung der
Hochschulen, Fachhochschulen und Universitäten im
Blick auf mehr internationale Attraktivität und Übereinstimmung bei Ausbildungsgängen und Abschlüssen ist
von der neuen Bundesregierung in Gesprächen mit den
Bundesländern immer wieder Gegenstand der Diskussion
gewesen. Hier gibt es auch erste Erfolge: So bieten einige
Universitäten oder Fachhochschulen, zum Beispiel die
Fachhochschule Neubrandenburg in Mecklenburg-Vorpommern, wo ich herkomme, einen Bachelor- und Masterstudiengang an.
Die Mitarbeit beim Aufbau neuer wirtschaftlicher,
rechtlicher und administrativer Strukturen in den Ländern
Mittel- und Osteuropas ist ebenfalls in vollem Gange. Das
Gleiche gilt für die bereits genannten Fachorganisationen
der Entwicklungszusammenarbeit, die sich in diesen Ländern wie bereits in der Vergangenheit in den Entwicklungsländern engagieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, Sie
sollten im Übrigen zur Kenntnis nehmen, dass die deutschen Hochschulabschlüsse international anerkannt sind
und dass bei allen bilateralen Verhandlungen und multilateralen Konsultationen deutlich gemacht wird, dass es in
Deutschland qualifizierte Hochschulausbildung verbunden mit entsprechender Begleitung und Integrationsprogrammen gibt.
Mit der Novellierung des Hochschulrahmengesetzes
sind die Voraussetzungen dafür geschaffen worden, dass
sich die Hochschulen in Richtung Internationalisierung
verändern können. Auch die angebotenen Aufbaustudiengänge mit entwicklungsbezogener Schwerpunktsetzung werden bereits gut angenommen. Hier empfehle ich,
auch in die Haushalte des Auswärtigen Amtes und des
Bundesministeriums für Forschung zu schauen, aus denen
deutlich wird, dass in erheblichem Umfange Programme
in englischer Sprache durchgeführt werden.
Bei einem Aufenthalt im südlichen Afrika habe ich
selbst erfahren, dass in Deutschland ausgebildete Studenten noch gut von der Nachkontaktbetreuung zum Beispiel der Carl-Duisberg-Gesellschaft sprechen. Nicht vergessen sollten wir in diesem Zusammenhang die zahlreichen in der ehemaligen DDR ausgebildeten Facharbeiter
und Akademiker, die - das habe ich in Mosambik selbst
erlebt - ein großes Interesse daran haben, mit uns in Kontakt zu bleiben.
({2})
Ich verweise etwa auf die Windhuker Erklärung, die vor
dem Hintergrund der Auswertung von Erfahrungen von in
Deutschland ausgebildeten Fachkräften aus Angola, Namibia, Simbabwe usw. entstanden ist.
Hier wird deutlich, dass die Bundesregierung bzw. die
von ihr unterstützten Organisationen - ich nenne hier als
Beispiel die Arbeitsgruppe Entwicklung und Fachkräfte
im Bereich der Migration und der Entwicklungszusammenarbeit, AGEF, in Berlin - bereits heute die partnerschaftliche Nachkontaktbetreuung und die Anwendung
des an Fach- und Hochschulen Gelernten fördern.
Die bedeutendste Sprache in internationalen Zusammenhängen ist - nicht erst seit dem Jahr 2000 - die englische Sprache. Von daher gesehen ist das Angebot für
junge Menschen aus Entwicklungsländern, möglichst
schon im Heimatland Deutsch zu lernen, die eine Seite. In
diesem Zusammenhang - das erkenne ich natürlich an spielen die Goethe-Institute schon eine entscheidende
Rolle. Ich bin aber der Meinung, dass der Ausbau der Studiengänge in englischer Sprache genauso wichtig ist. Hier
verweise ich darauf, dass gerade die neue Bundesregierung im Sinne einer verstärkten Internationalisierung der
Angebote an Hochschulen initiativ geworden ist.
Wir sollten allerdings auch nicht so tun, als würden in
der Sekundarausbildung und auch in der Hochschulausbildung in Entwicklungs- und Transformationsländern
nicht bereits deutsches Know-how und deutsche Fachkräfte eingesetzt. Diese Fachkräfte leisten, wie wir wissen, eine nicht unerhebliche Werbung für den Ausbildungs- und Hochschulstandort Deutschland. Das wissen
Sie auch, Herr Kollege Hedrich.
({3})
Ich habe gerade auch in Gesprächen anlässlich von Delegationsreisen festgestellt, dass der Bereich von Public
Private Partnership gewachsen ist. Gerade im Bereich
der Hochschulen sind die deutschen Fachorganisationen
vom DAAD bis zur GTZ, der Gesellschaft für Technische
Zusammenarbeit, an der Koordination beteiligt. Ein Blick
in die Kursangebote für Aufbaustudiengänge mit entwicklungsländerbezogener Problematik zeigt, dass an den
deutschen Universitäten die Herausforderung der Globalisierung ernst genommen wird.
({4})
Ich wundere mich schon ein wenig, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Union, dass Sie nun plötzlich aus
Ihren Reihen nach der „Kinder-statt-Inder“-Kampagne
die Reform des Ausländerrechts als Vehikel zur Verbesserung der von Ihnen in diesem Antrag angesprochenen
Situation bemängeln. Hier stelle ich fest, dass gerade die
Bundesregierung - insbesondere der Bundeskanzler - die
Anregungen der Wirtschaft für diesen Bereich schon
längst aufgegriffen hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, schauen Sie sich einmal die Zahlen der vom BMZ geförderten Stipendiaten
an.
({5})
- Doch. - Dann werden Sie nämlich feststellen, dass sie
im Vergleich zum Ende Ihrer Regierungszeit erheblich gestiegen sind.
({6})
Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, werden in diesem
Jahr weit über 3 000 Stipendiaten gefördert, während es
noch 1997 nur knapp über 2 000 waren.
({7})
Ich gehe davon aus, dass im Zuge des Gesamtkonzeptes der Politik der Entwicklungszusammenarbeit der Koalitionsregierung diese und die anderen von mir angesprochenen Tendenzen auch künftig verstärkt werden.
Ich bedanke mich.
({8})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Ulrike Flach.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! In der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts wird die Zusammenarbeit im Bereich der Wissenschaft und Hochschulen immer wichtiger. Ich bin sehr
froh, dass wir uns hier parteiübergreifend einig sind. Ich
wäre noch froher, wenn auch ein Vertreter des entsprechenden Ministeriums anwesend wäre.
({0})
Ich freue mich, dass Sie, Frau Eid, anwesend sind, aber
dem Bildungsministerium hätte es sicherlich auch gut angestanden, wenn es hier heute Abend anwesend gewesen
wäre.
({1})
Die F.D.P.-Fraktion hat schon vor einiger Zeit einen
Antrag zur Verbesserung der Attraktivität des Hochschulstandorts Deutschland eingebracht. In dem Antrag der
Union finden sich viele Gemeinsamkeiten. Wir begrüßen
das.
In Deutschland zeigt sich ein dramatischer Mangel an
Naturwissenschaftlern und Ingenieuren. Hier könnte sich
praktische Wissenschaftskooperation zeigen. Gingen
früher überwiegend deutsche Fachkräfte in Entwicklungsländer - meine beiden Vorredner haben es schon angeführt -, so sind wir heute umgekehrt auf IT-Spezialisten aus aller Welt angewiesen.
Auch hier hätte ich gern das Bildungsministerium gefragt: Ist es Ihnen eigentlich selbst nicht schon peinlich,
wenn Sie im Ausland mit Wissenschaftlern sprechen und
die überbürokratischen kleinkarierten Hürden für die Erteilung von Green Cards erklären müssen, die Ihnen Herr
Riester ins Gepäck gelegt hat?
({2})
Ich kann mir natürlich einen kleinen Seitenhieb auf die
Antragsteller nicht verkneifen. Ich lese bei Ihnen den sehr
guten Satz, dass das deutsche Ausländerrecht
es ausländischen Studierenden unnötig erschwert, an
ein abgeschlossenes Studium eine zeitlich limitierte,
berufliche Tätigkeit ... anzuhängen.
({3})
Wir stimmen dem natürlich zu, ich als Nordrhein-Westfälin eh. Ist das aber wirklich die Union, die ich in den letzten Monaten erlebt habe, als Ihre unselige Kampagne
({4})
„Kinder statt Inder“ über unsere Lande zog?
({5})
Ich freue mich über diesen Sinneswandel und hoffe, dass
er die nächsten beiden Wahlkämpfe übersteht.
Meine Damen und Herren, internationale Hochschulzusammenarbeit setzt auch die Vergleichbarkeit der Systeme und Abschlüsse voraus. Wir begrüßen die inzwischen fast 400 neuen Bachelor- und Masterstudiengänge in Deutschland. Es muss aber auch klar sein, dass
die Wertigkeit eines deutschen Bachelor im Vergleich mit
US- oder englischen Abschlüssen nach wie vor offensichtlich zu wünschen übrig lässt. Es gibt noch Nachholbedarf.
In den Entwicklungsländern gibt es eine steigende
Nachfrage nach Bildung im Ausland. Aber da haben immer wieder die anderen die Nase vorn. Herr Hedrich, Sie
haben es gerade schon erwähnt. Mit circa 100 000 ausländischen Studierenden liegen wir deutlich hinter den
Briten und Amerikanern.
Wir, die F.D.P., setzten uns deshalb für mehr internationale Studiengänge an deutschen Hochschulen, für
mehr englisch- und französischsprachige Kurse - mit den
russischen laufen Sie bei uns offene Türen ein - und natürlich für eine bessere Beratung ausländischer Studierender
ein.
lch begrüße in diesem Zusammenhang die neue Initiative der Max-Planck-Gesellschaft, die mit 9 bereits gegründeten und 30 geplanten Research Schools ein innovatives Projekt für Promotionsstudiengänge, bei denen es
auch um mehr Kooperation mit ausländischen Unis und
Instituten geht, umsetzt. Das sind sinnvolle Projekte, auch
für die so genannte Dritte Welt.
Wir müssen gerade in den Entwicklungsländern für das
deutsche Bildungssystem werben. Hier möchte ich betonen, Frau Eid: Die Schrumpfpolitik der rot-grünen Regierung bei den Goethe-Instituten schadet diesem Ziel sicherlich massiv.
({6})
Ich kann bei Ihnen kein Auslandsmarketing für die
deutsche Hochschullandschaft erkennen, wie es die anderen betreiben. Ich kann auch kein zwischen Bund und
Ländern abgestimmtes Konzept zur Erhöhung der Stipendienfonds für Postgraduierte aus Entwicklungsländern erkennen. Die virtuelle Universität, die gerade in diesem
Zusammenhang von nicht unerheblicher Bedeutung wäre,
gibt es im Augenblick nur auf dem Papier.
Vor wenigen Tagen haben wir über die nachhaltige Entwicklung gesprochen. Dort wie hier zeigt sich, dass wir es
mit einer Querschnittsaufgabe der Ressorts zu tun haben.
Bildungs- und Forschungspolitik im In- und Ausland, auswärtige Kulturpolitik, Entwicklungszusammenarbeit und
Wirtschaftspolitik müssen zusammenwirken.
Der CDU/CSU-Antrag enthält viele sinnvolle Anregungen. Wenn die Regierung diese gemeinsam mit unseren Vorschlägen zur Attraktivitätssteigerung umsetzen
würde, kämen wir ein Stück weiter, hier vor Ort und bei
einer Partnerschaft zwischen Hochschulen und Instituten
in Deutschland und in den Entwicklungsländern.
({7})
Das Wort hat
jetzt die Frau Staatssekretärin Uschi Eid.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte
Damen und Herren! Ich begrüße es ausdrücklich, dass wir
uns heute mit dem wichtigen Thema der Wissenschaftsund Hochschulkooperation mit unseren Partnerländern im
Süden und im Osten befassen. Internationale Zusammenarbeit gerade auch im Wissenschafts- und Hochschulbereich ist eine Selbstverständlichkeit, wenn wir gemeinsam
und im Sinne einer wirklichen Partnerschaft nach Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit suchen wollen.
Die Zusammenarbeit hat vielfältige und lang wirkende
positive Effekte und ist zum Nutzen aller Beteiligten.
Wissenschafts- und Hochschulkooperation entspricht
dem Gebot unserer Zeit. Dazu brauchten wir nicht durch
einen CDU/CSU-Antrag aufgefordert zu werden.
({0})
Hierzu trägt auch die Entwicklungspolitik der Bundesregierung in erheblichem Umfang bei. Im Rahmen der
notwendigen Haushaltskonsolidierung, zu der natürlich
auch der Entwicklungsetat beitragen musste, ist es uns
sogar gelungen, den Bereich der Wissenschaftskooperation noch aufzuwerten, auch wenn Sie von der CDU/CSU
hier die ganze Zeit das Gegenteil behaupten.
Einen Titel - vielleicht hören Sie gut zu, Herr Hedrich haben Sie bei Ihren Ausführungen außen vor gelassen:
Aus dem Titel „Aus- und Fortbildung für Angehörige aus
Entwicklungsländern“ wurden 1999 für die Wissenschaftskooperation 26 Prozent der Mittel verwandt. In
diesem Jahr sind es 27,3 Prozent und für 2001 haben wir
einen Anteil von 30 Prozent vorgesehen. Diese Zahlen widerlegen Ihre Behauptungen, die Sie zu Beginn der Debatte aufgestellt haben.
({1})
Diese Mittel sind im Antrag der CDU/CSU überhaupt
nicht berücksichtigt. Selbiger bezieht sich lediglich auf
auslaufende Programme im Bereich der Finanziellen Zusammenarbeit und Technischen Zusammenarbeit im engeren Sinne und übersieht, dass wir Programme der Wissenschaftskooperation bereits seit mehreren Jahren im
Rahmen der Technischen Zusammenarbeit im weiteren
Sinne finanzieren.
Erlauben Sie mir daher, das verzerrte Bild, das die
CDU/CSU versucht zu zeichnen, etwas zurechtzurücken:
Wir fördern im Rahmen unserer Entwicklungszusammenarbeit derzeit insgesamt 12 verschiedene Programme der
Wissenschafts- und Hochschulkooperation. Dabei arbeiten wir in den meisten Fällen mit dem Deutschen Akademischen Austauschdienst zusammen.
1999 erhielten über 1 000 Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler von uns finanzierte Stipendien, um sich
in ihren Ländern selber weiterbilden zu können, davon allein über 700 in Afrika. Mit diesen Programmen unterstützen wir den Aufbau nationalen Expertentums. Hierfür
haben wir 1999 10,8 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Wir werden das Mittelvolumen in den nächsten Jahren ungefähr beibehalten.
Wir fördern 33 Aufbaustudiengänge mit entwicklungsbezogener Thematik, die aktuell 740 Teilnehmern
aus unseren Partnerländern eine praxisorientierte Weiterqualifikation mit international anerkannten Abschlüssen
bieten. 1999 haben wir hierfür 14,3 Millionen DM zur
Verfügung gestellt. In den kommenden Jahren werden wir
diese Kurspalette jeweils um zwei Programme erweitern.
Ebenfalls mit unserer Unterstützung wurden mittlerweile 98 Hochschulpartnerschaften zwischen deutschen Universitäten und wissenschaftlichen Einrichtungen in Entwicklungsländern aufgebaut. Wir fördern die
Vermittlung deutscher Wissenschaftler ins Ausland. Dieses Jahr zum Beispiel werden allein 40 Dozenten nach
Brasilien und Chile entsandt. Wir fördern auch Stipendien
für Nachwuchswissenschaftler aus fortgeschrittenen Partnerländern, damit sie sich hier in Deutschland weiter qualifizieren. So wird ein Programm mit Thailand, den Philippinen und Vietnam von neun Promotionsstipendien im
Jahre 1998 auf 32 Neustipendien im Jahre 2001 erweitert.
Wir tragen auch den wachsenden Möglichkeiten aufgrund der neuen Kommunikationstechnologien Rechnung.
So hat der DAAD im letzten Jahr mit unserer Unterstützung mit dem Aufbau von Datenbanken und internationalen Netzwerken begonnen, die es ehemaligen Stipendiaten ermöglichen, sich auch nach der Rückkehr in ihre
Heimatländer weiterzubilden und aktuelle Forschungsergebnisse weltweit auszutauschen. Hierzu gehört zum Beispiel auch das Projekt „Alumni.med.Live“ eines Hochschulkonsortiums unter der Federführung der Universität
Heidelberg - eine multimediale Medizinwissensbank, die
über das Internet zugänglich ist und der virtuellen Weiterbildung in aller Welt dient. Es ist noch keine virtuelle Universität, aber immerhin eine virtuelle medizinische Fakultät.
({2})
Darüber hinaus haben wir die Zusammenarbeit mit der
deutschen Wirtschaft intensiviert, die in wachsendem
Maße ebenfalls Vorhaben der Wissenschaftskooperation
finanziert. Hierzu gehören unter anderem zwölf Stiftungslehrstühle am Chinesisch-Deutschen Hochschulkolleg an
der Tongji Universität in Schanghai, 16 Stipendien für ein
Postgraduiertenprogramm in Zusammenarbeit mit ausgewählten asiatischen Universitäten in den Bereichen Elektroingenieurwesen, Informations- und Kommunikationstechnologie, das von der Asean Brown Boveri AG, Mannheim, finanziert wird, und eine Kooperation der Siemens
AG mit dem DAAD im Rahmen eines auf Asien ausgerichteten Stipendienprogramms in der finanziellen Größe
von circa 4 Millionen DM, wovon Siemens fast zwei Drittel finanziert.
Dies ist nur eine kleine Auswahl derzeit laufender Aktivitäten. Wir haben dem Ausschuss für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung vor wenigen Wochen
einen umfangreichen Informationsvermerk zu diesem
Thema zur Verfügung gestellt, der die Zustimmung aller
Fraktionen fand, auch die der CDU/CSU und der F.D.P.
Lassen Sie mich daher zum Schluss noch einmal betonen: Die Wissenschafts- und Hochschulkooperation war
und ist eine wichtige Aufgabe der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Dies wird auch in Zukunft so bleiben.
({3})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Carsten Hübner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vieles im Antrag von CDU/CSU
ist auch aus unserer Sicht durchaus in Ordnung. Die Forderungen sind richtig. Vieles ist allerdings nicht neu. Wir
haben gehört: Einiges ist umgesetzt. Die sehr positive Betrachtung der Haushaltsentwicklung teilen wir natürlich
nicht. Ich denke, es ist ganz wichtig, darauf hinzuweisen, welch entscheidendes Kriterium die Förderung von
Hochschulzusammenarbeit und Wissenschaftszusammenarbeit auch für die Entwicklungspolitik ist und dass in
diesem Bereich gar nicht genug Mittel eingesetzt werden
können.
Was uns am Antrag von CDU/CSU stört, ist der Tenor:
dass Wissenschafts- und Hochschulzusammenarbeit vornehmlich aus dem Blickwinkel einer Wirtschafts- und
Standortpolitik betrachtet wird. Ich denke, das ist gerade
angesichts der Kooperation mit Entwicklungsländern
nicht die richtige Sichtweise. Wir denken, der vielleicht
schon etwas verstaubte, aber noch immer sehr aktuelle
humboldtsche Bildungsbegriff ist gerade im Kontext einer zu schaffenden Infrastrukturentwicklung und einer zu
schaffenden gesellschaftlichen Weiterentwicklung in diesen Ländern sehr viel angebrachter als die Formulierung
von Interessen, denen wir in diesen Ländern zukünftig
möglichst noch verstärkt nachgehen wollen.
({0})
Ich werde mich deswegen auf drei Anmerkungen beschränken. Die erste Anmerkung zu dem vorliegenden
Antrag und zur bisherigen Politik bezieht sich auf die
Frage: Wer kommt eigentlich de facto in den Genuss unserer bisherigen Stipendien- und Förderprogramme?
Ich denke, wir sollten sehr viel stärker darauf achten, dass
die Entwicklungsländer, die sich Bildungspolitik gegenwärtig nicht leisten können, in diese Maßnahmen einbezogen werden,
({1})
dass Stipendienprogramme zunehmend auf genau diese
Klientel zugeschnitten werden. Wir haben in diesen Ländern bereits Bildungseliten, die gleichzeitig gesellschaftliche Eliten sind. Die bedürfen dieser Förderung in vielen Fällen nicht. Denjenigen, die gewisse Möglichkeiten
nicht haben, bleibt die Förderung trotz dieser Programme
auch weiter oft vorenthalten. Da sollten wir soziale Indikatoren sehr viel stärker berücksichtigen.
Das Zweite ist: Wir müssen sehr viel stärker darauf
achten, dass Frauen in den Genuss dieser Programme
kommen. Frauen sind - das wissen alle, die in der Entwicklungspolitik tätig sind - in vielen Fällen der Motor
gesellschaftlicher Prozesse, gerade in den Entwicklungsländern. Ihnen müssen unter den ganz besonderen und
sehr schwierigen Bedingungen zusätzliche Angebote
eröffnet werden. Eine Schwerpunktverlagerung in diesem
Bereich ist unbedingt notwendig, um die derzeit bestehenden Defizite auszugleichen.
({2})
Und dann gilt - das ist vorhin vom Kollegen Hedrich
angesprochen worden -: Mut zu Neuem und natürlich
auch Mut zur Expansion in Bereichen, die sinnvoll erscheinen. Ich fände es sinnvoll, wenn wir in der Bundesrepublik Deutschland sehr viel stärker Studiengänge nicht nur Aufbaustudiengänge - zum Beispiel in russischer Sprache, in Englisch oder Französisch anbieten
würden, die sich ganz speziell mit Fragen befassen, die für
Studierende aus Entwicklungsländern und auch aus den
Schwellenländern von Interesse sind.
Studiengänge, die sich mit Infrastrukturentwicklung,
mit Dezentralisierung, mit Demokratisierung, mit einer
nachhaltigen ökonomischen und ökologischen Entwicklung unter den Bedingungen auseinander setzen, die in
den Entwicklungsländern vorherrschen und die nicht nur
das reproduzieren, was im Moment in den entwickelten
Ländern als Entwicklungsmodell hochgehalten wird.
Diese Spezifizierung im Hinblick auf die besonderen Bedingungen fände ich wichtig. Hier, denke ich, könnten wir
noch sehr viel tun.
Zum Schluss will ich nur sagen: Ich möchte die Teile
im CDU/CSU-Antrag unterstützen, die auf eine Art
Nachbetreuung verweisen. Ich war vor kurzem in Laos.
Dort haben wir mit dem Botschafter gesprochen. Er müht
sich sehr, diejenigen Studierenden, die Deutsch können,
an einen Tisch zu bekommen, in einem Gremium zu organisieren. Das sind in Laos immerhin 3 000 Menschen.
Laos ist ein kleines Land. Diese Leute bieten sowohl für
ökonomische Kooperation als auch für Entwicklungskooperation sowie für den allgemeinen gesellschaftlichen
und kulturellen Dialog ein großes Potenzial.
Diese Gruppen von Studierenden, von Akademikern
und auch von Führungseliten sind im Moment noch nicht
greifbar. Es bedarf vielfach eines großen Engagements,
um ihnen in diesen Ländern Foren zu bieten, sodass wir
direkt an ihren Erfahrungen und ihr Wissen anknüpfen
können. In diesem Sinne hoffe ich, dass wir im Ausschuss
zu einer lebhaften Diskussion kommen werden.
Danke schön.
({3})
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3376 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorschlagen. Sind Sie einverstanden? Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die Berufe in der Altenpflege ({0})
- Drucksache 14/1578 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
({2})
- Drucksache 14/3736 Berichterstattung:
Abgeordnete Christa Lörcher
Maria Eichhorn
Monika Balt
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist auch
hier für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Widerspruch gibt es nicht. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Frau Ministerin Dr. Christine Bergmann.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit Mitte der
80er-Jahre, also seit ungefähr 15 Jahren, hat es immer
wieder Versuche gegeben, eine bundeseinheitliche Regelung für einen anerkannten Fachberuf Altenpflege zu
schaffen. Für dieses bedeutsame Vorhaben, das wir dringend brauchen, um Verbesserung in der Pflege alter Menschen zu erreichen, war erst ein Regierungswechsel nötig.
({0})
Jetzt liegt unser Regierungsentwurf auf dem Tisch. Ich
bin froh darüber. Nun müssen wir sagen, worum es geht.
({1})
- Es ist so, Sie haben das Vorhaben nicht zuwege gebracht. Worum geht es also in diesem Gesetz? - Es geht
darum, die Qualität der Pflege alter Menschen auf die
Dauer zu sichern. Das ist unsere Aufgabe als Politikerinnen und Politiker. Ich bin der Meinung, das sollte uns auch
über die Fraktionsgrenzen hinweg einen.
Zu dieser Qualitätssicherung gehört unzweifelhaft die
Ausbildung der Altenpflegerinnen und Altenpfleger. Sie
kennen den Sachverhalt. Wir haben heute in 16 Bundesländern 17 verschiedene Ausbildungen. Ziele, Inhalte,
Dauer und Strukturen sind unterschiedlich. Dabei darf es
nicht länger bleiben. Neuregelungen zur Qualitätsverbesserung in Bundesgesetzen wie im Heimgesetz, im
SGB XI, im SGB V, die Sie von der Opposition zu Recht
fordern, gehen ins Leere, wenn das Pflegepersonal nicht
so ausgebildet ist, dass entsprechende Standards in der
Pflegepraxis dann auch umgesetzt werden können.
({2})
Ich denke, es bezweifelt eigentlich niemand mehr, dass
von den Fachkräften in der Altenpflege sowohl im stationären als auch im ambulanten Bereich hohe Professionalität und besondere Qualifikation gefordert werden.
Den Anspruch an die Altenpflege kann man deutlich machen, wenn man einmal darauf hinweist, dass das Durchschnittsalter bei den Menschen, die in ein Heim aufgenommen werden, bei über 80 Jahren liegt und dass 50 Prozent der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner unter
Demenz leiden, also verwirrt sind. Das heißt: hier muss
unwahrscheinlich viel in der Pflege geleistet werden.
Wir wissen, dass die Bundesländer mit ihren Ausbildungsgesetzen in der Vergangenheit wichtige Grundlagen
für die Qualifizierung der Altenpflegekräfte geschaffen
haben. Sie haben dafür Sorge getragen, dass sich der Altenpflegeberuf etabliert hat. Es ist nun aber endlich an der
Zeit, dass wir die Altenpflege als Berufsfeld mit Zukunft
adäquat weiterentwickeln. Dazu gehört, dass wir die Altenpflegeausbildung aus dem Dickicht der unterschiedlichen Länderregelungen herausholen.
({3})
Ich will nun ein paar Argumente dafür aufführen,
warum wir dieses bundeseinheitliche Altenpflegegesetz
so dringend brauchen: Wir brauchen es, damit Altenpflegerinnen und Altenpfleger bundesweit einheitlich ausgebildet werden und überall in Deutschland die gleichen
Mindestqualifikationen erfüllen. Wir brauchen es, damit
die Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden, dass
der Beruf ein eigenes Profil erhält und die Gleichwertigkeit mit dem Beruf der Krankenschwester und des Krankenpflegers erreicht wird.
Wir brauchen die bundeseinheitlichen Vorschriften,
damit die Altenpflege in allen Bundesländern ein Ausbildungsberuf wird, der nicht nur für Umschülerinnen und
Umschüler, sondern auch für Erstauszubildende attraktiv
wird. Wir benötigen dieses Gesetz auch, damit dieser nach
wie vor typische Frauenberuf keine strukturellen Benachteiligungen gegenüber anderen Berufen erfährt, wie es im
Moment in einigen Ländern schlichtweg der Fall ist, wenn
man daran denkt, dass zum Beispiel nicht überall eine
Ausbildungsvergütung gezahlt wird. Durch das Altenpflegegesetz mit seinen bundeseinheitlichen Ausbildungs- und Berufszulassungsvorschriften erfährt der Beruf endlich die ihm gebührende gesellschaftliche Anerkennung. Darüber kann man nicht nur reden, dafür muss
man auch etwas tun.
({4})
Die Koalitionsfraktionen haben im Gesetzgebungsverfahren nach den Anhörungen Änderungen vorgenommen,
die meine volle Unterstützung finden. Ich will aus Zeitgründen nur auf drei Punkte eingehen:
Zum einen geht es um die Frage der Umschulung. Sie
wissen, dass es eine Sonderregelung gibt, die Ende des
Jahres 2001 ausläuft. Die Anhörung und viele Gespräche
haben ergeben, dass wir die Umschulungsregelung nicht
in diesem Verfahren schaffen können, sondern dass wir
uns gesondert davon mit den Vertretern der zuständigen
Ressorts und den Vertretern der Länder zusammensetzen
müssen, um eine einvernehmliche Regelung zu finden,
die nicht nur den Altenpflegeberuf betrifft, sondern generell die Heilberufe und die sozialpflegerischen Berufe.
Damit können zunächst bis zum 31. Dezember 2001 begonnene Umschulungen wie bisher dreijährig durchgeführt und entsprechend gefördert werden.
Wichtig war auch, dass wir die Strukturen zur Finanzierung der Ausbildungsvergütung präzisiert haben. Ich
denke, dass wir dafür ein solides Fundament geschaffen
haben. Die Ermächtigungsnorm zur Einführung eines
Umlageverfahrens wurde nochmals konkretisiert, damit
hier Rechtssicherheit herrscht.
Nicht zuletzt begrüße ich die Einführung von Experimentierklauseln zur Erprobung integrierter Ausbildungsmodelle. Das weist auf unser eigentliches Ziel.
({5})
Wir haben damit die Weichen für die Weiterentwicklung
der Pflegeberufe im Hinblick auf ein langfristiges Ergebnis gestellt.
Bis zur letzten Woche hatte ich wenig Zweifel daran,
dass dieses Gesetz eine breite Zustimmung finden würde.
Ich hatte erwartet, dass Sie, meine Damen und Herren von
der CDU/CSU, zu Ihren politischen Zielen und Versprechen der vergangenen Legislaturperioden stehen werden.
Ich kann den von Ihnen vollzogenen Sinneswandel nicht
ganz verstehen. Sie werden auch Mühe haben, das zu erklären.
({6})
Ich muss Sie fragen, wo Ihre Glaubwürdigkeit in dieser
Sache bleibt.
Wir haben eine von Bayern angeführte Debatte, ob der
Bund für dieses Gesetz die notwendige Gesetzgebungskompetenz habe. Sie wissen, dass wir Rechtsgutachten
auf dem Tisch haben, die diese Frage bejahen. Sie müssen
sich daran erinnern, dass eine von Ihnen gestellte Regierung vor zwei Legislaturperioden in dem gleichen Fall die
Bundeskompetenz bejaht hat und dass auch die Mehrheit
der Länder in den letzten Legislaturperioden dieses niemals in Zweifel gezogen hat. Ihre Haltung ist daher nicht
sehr überzeugend.
Wenn ich mir überlege, was von Ihnen an inhaltlichen
Einwänden zu diesem Gesetz - teilweise in letzter Sekunde - vorgebracht wurde, muss ich Ihnen vorhalten: Sie
haben nicht einen einzigen Änderungsantrag zu diesem
Gesetz gestellt. Wenn Sie bestimmte Punkte anders sehen
und daher Verbesserungen gewünscht hätten, hätten wir
gerne darüber reden können.
({7})
- Das fällt Ihnen sehr spät ein. Das ist alles nicht sehr
überzeugend. Ich denke, Sie müssen den Pflegebedürftigen erklären, warum Sie diesem Gesetz nicht zustimmen.
Ich bin davon überzeugt, dass durch die Änderungen,
die im Wesentlichen auch den Vorschlägen des Bundesrates und den Forderungen der Fachverbände entsprechen,
eine sehr gute Grundlage für die bundeseinheitliche Altenpflegeausbildung geschaffen wird. Deshalb möchte
ich mich für die gute Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen bedanken. Wir
haben etwas auf den Weg gebracht, worauf viele in diesem Land warten.
In diesen Dank möchte ich auch die Vertreterinnen und
Vertreter der Fachverbände und Interessenvertretungen
einschließen, die nicht müde geworden sind, die Bundeseinheitlichkeit der Altenpflege einzufordern. Es war
eine lange Strecke, die wir zurücklegen mussten, bis wir
dieses Gesetz auf den Tisch legen konnten. Wir sind es
diesem Berufsstand, der über lange Jahre hingehalten
wurde, und natürlich auch den Pflegebedürftigen, die Anspruch auf eine qualifizierte Pflege haben, schuldig, dass
dieses Gesetz endlich verabschiedet wird. Deshalb erwarte ich nicht nur hier, sondern auch im Bundesrat eine
Zustimmung, dass dieses Vorhaben, das lange überfällig
ist, nicht weiter blockiert wird.
Danke.
({8})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Maria Eichhorn.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn heute Menschen in ein Altenheim eintreten, sind sie im Durchschnitt 86 Jahre alt.
Zwischen 50 und 60 Prozent der in den Heimen betreuten
alten Menschen sind dement. Diese Menschen bedürfen
einer besonderen Betreuung. Die Anforderungen an die
Altenpflege werden deswegen immer höher. Aufgabe der
Altenpflegerinnen und Altenpfleger ist es, älteren Menschen zu helfen, die körperliche, geistige und seelische
Gesundheit zu fördern und ihre Selbstständigkeit zu unterstützen und zu erhalten. Ihre Arbeit dient dazu, alten
Menschen einen würdigen Lebensabend und einen würdevollen Tod zu ermöglichen, eine schöne, aber auch
höchst anspruchsvolle Aufgabe für Altenpflegerinnen und
Altenpfleger.
Die Bundesregierung hat bei der Vorlage des Regierungsentwurfes zur Altenpflege erklärt, dass sie mit einer
bundeseinheitlichen Neuregelung der Altenpflegeausbildung den Beruf aufwerten möchte. Frau Ministerin, eine
bundeseinheitliche Regelung als solche bringt keine Qualitätsverbesserung. Es kommt auf den Inhalt an.
({0})
Unser Ziel ist eine bessere Altenpflegeausbildung.
Das ist aber bei dem Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben, nicht der Fall. Das hat die Anhörung im Dezember
bestätigt.
({1})
Sie hat deutlich gemacht, dass der Gesetzentwurf der
Bundesregierung völlig ungeeignet ist. Wir hätten ein völlig neues Gesetz vorlegen müssen. Mit Änderungsanträgen hätte man überhaupt nichts bewirken können.
Trotz einer Vielzahl von Änderungen, die Sie aufgrund
des niederschmetternden Urteils der Sachverständigen
beider Beratungen im Ausschuss vorgelegt haben, sieht
der Arbeitskreis Ausbildungsstätten für Altenpflege - ich
zitiere -: „den Gesetzentwurf in seiner Zielsetzung als gescheitert an“.
Denn der Gesetzentwurf regelt den Beruf weit unterhalb
der in Ländern erreichten Standards der Altenpflegeausbildung.
({2})
Die Änderung des Krankenpflegegesetzes im Altenpflegegesetz lässt die Vermutung aufkommen, den Beruf
nicht qualitativ voranzubringen, sondern mittelfristig abzuschaffen. Ich unterstelle Ihnen zwar nicht, dass Sie das
tatsächlich wollen, aber es kann die Folge dieser Änderung sein. Darauf weisen Fachleute hin.
Die Zugangsvoraussetzungen zur Altenpflege sollen
gleich oder ähnlich ausgestaltet werden wie die Zugangsvoraussetzungen zur Krankenpflegeausbildung. Damit
wird die Altenpflege im Konkurrenzkampf gegenüber der
Krankenpflege nur zweiter Sieger sein, das heißt, dass
nicht mehr Schüler zu erwarten sind. Das Gegenteil aber
wäre notwendig, da bereits heute Fachkräfte knapp sind.
Statt ein höheres Qualifikationsniveau zu erreichen,
wird die theoretische Ausbildung erheblich gekürzt. Das
Berufsbild wird auf die somatische Pflege verengt. Der
Schwerpunkt wird hin zur geriatrischen Krankenpflege
verlagert. Dies entspricht keinesfalls den fachlichen Erfordernissen. Der Altenpflegeberuf, der als einziger speziell auf die Lebenslagen und Krisen im Alter zugeschnitten ist, wird zugunsten einer medizinisch-pflegerischen
Orientierung aufgegeben, für die es aber bereits den Krankenpflegeberuf gibt.
Aufgrund der Kritik der Länder und der Sachverständigen haben Sie § 26 des Altenpflegegesetzes, der die
Umschulung betrifft, herausgenommen. Die Herausnahme dieses Paragraphen garantiert jedoch nur für wenige Monate dreijährige Ausbildungszeiten; denn bereits
kurze Zeit nach dem geplanten In-Kraft-Treten des Gesetzes wird die Regelung, dass Umschulungen auch drei
Jahre gefördert werden können, auslaufen. Über eine
Nachfolgeregelung - das haben Sie gerade selber zugegeben - muss noch gesondert verhandelt werden.
Die Fachschulen für Altenpflege haben sich bewährt.
Das Gesetz, das Sie heute beschließen wollen, wird schulrechtliche Strukturen zerstören; denn die Regelschule, die
das Gesetz jetzt vorsieht, ist eine Schule der besonderen
Art. Es ist zu befürchten, dass zahlreiche Träger ihre
Schulen aufgeben, wenn sie diese in Berufsfachschulen
umwandeln müssen. Das lässt sich nicht nur mit der geringeren Zahl an Lehrkräften und dem geringeren Betriebszuschuss begründen, sondern auch mit der fehlenden Anbindung an Einrichtungen, in denen die praktische
Ausbildung durchgeführt werden kann und die bereit
sind, eine Ausbildungsvergütung zu zahlen oder zu refinanzieren. Die Ansiedlung der Ausbildung an Fachschulen ermöglicht zurzeit den direkten Zugang zur Fachhochschule. Diese Durchlässigkeit wird zerstört. Der Beruf in der Altenpflege mündet damit in der Sackgasse. Ich
frage: Wollen Sie das wirklich?
Laut Gesetzentwurf soll die praktische Ausbildung
überwiegend in den Einrichtungen erfolgen und der Umfang der theoretischen und praktischen Ausbildung in der
Schule soll geringer werden. Begründung ist die Ausbildungsvergütung. Frau Ministerin, in der Praxis gibt es
derzeit nicht genügend Ressourcen, um diesen Verlust an
Ausbildungsqualität ausgleichen zu können; denn es fehlen in der Regel die qualifizierten Ausbilder. Notwendige Schlüsselqualifikationen können angesichts dieser
Struktur der Ausbildung nicht mehr vermittelt werden.
Aber Teamfähigkeit, Koordinierung von Leistungen, Beratung von Angehörigen und der Umgang mit Menschen
gerade in der ambulanten Pflege sind grundlegende Anforderungen einer modernen Altenpflege.
({3})
Die Ausbildung ist als berufliche Erstausbildung
konzipiert. Damit liegt das Eintrittsalter bei 16 oder
17 Jahren. Dies ist angesichts der bei der Betreuung alter
Menschen zwangsläufig auftretenden physischen und
psychischen Belastungen höchst problematisch. Sterbebegleitung und die zunehmende Zahl an Demenzkranken
stellen höchste Anforderungen. Während in der Krankenpflege mit einer Gesundung der Patienten zu rechnen ist,
müssen in der Altenpflege die Menschen regelmäßig bis
zu ihrem Tode begleitet werden. Die Erfahrung zeigt, dass
junge Berufsanfänger wesentlich kürzer im Beruf bleiben
als solche, die erst später einsteigen. Wenn man das weiß,
dann müsste man eigentlich alles dafür tun, um Berufsrückkehrerinnen, die nach einer Familienpause wieder
einsteigen wollen, für die Altenpflegeausbildung zu gewinnen.
({4})
Es ist jedoch fraglich, ob eine dreijährige berufliche Ausbildung für solche Frauen noch attraktiv ist.
Weiterhin ungeklärt ist die Frage der Finanzierung.
Die von den Ländern und Sachverständigen vorgetragenen rechtlichen Einwände gegen eine Umlagefinanzierung haben sich bestätigt. Im Gegensatz zu Ihnen, Frau
Ministerin, sehe ich keine solide Finanzierung; denn die
jetzt generell vorgesehene Finanzierung durch die Träger
wird zu einer drastischen Reduzierung der Zahl an Ausbildungsplätzen führen. Ein dramatischer Fachkräftemangel wird die Folge sein; denn in den Ländern, in denen bereits jetzt die Träger die Ausbildungsvergütung finanzieren müssen, stehen zwischenzeitlich - das wissen Sie
genauso gut wie ich - weniger als die Hälfte der zuvor
vorhandenen Zahl an Ausbildungsplätzen zur Verfügung.
Die mögliche Berücksichtigung der Kosten in den
Pflegesätzen konnte dies nicht verhindern. Da eine Umlagefinanzierung mit erheblichen rechtlichen Hürden
versehen ist, wird sie, wenn sie als Notlösung erforderlich
ist, nicht schnell genug greifen können. Es besteht die
große Gefahr, dass bewährte Ausbildungsstätten schließen müssen. Die qualitativ gute Entwicklung in der Altenpflegeausbildung in den letzten Jahren würde damit
wieder zunichte gemacht.
In Ihrem Papier, das Sie im Ausschuss zur verfassungsrechtlichen Prüfung des Umlageverfahrens vorgelegt haben, versuchen Sie, die grundsätzlichen rechtlichen
Einwendungen zu zerstreuen. Dagegen hält zum Beispiel
das Land Baden-Württemberg an seiner Auffassung fest,
dass die verfassungsrechtlichen Bedenken durch das Bundesverfassungsgericht zunächst zu klären sind. Was die
oft zitierte Gesetzgebungskompetenz betrifft, sind die
von Bayern geäußerten Bedenken nicht ausgeräumt.
Der Stellungnahme der Bundesregierung zur Gesetzgebungskompetenz des Bundes für ein Altenpflegegesetz
hat die zuständige bayerische Staatsministerin für Unterricht und Kultus, Frau Hohlmeier, in einer Sitzung des
Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages letzte
Woche widersprochen. Sie hat darauf hingewiesen, dass
es neben Gutachtern, die dem Bund eine umfassende
Normsetzungskompetenz zugestehen, auch eine Vielzahl
von Professoren gibt, die zur gegenteiligen Auffassung
gelangen.
({5})
Die Bundesregierung sieht als wesentliche Gründe für
eine bundeseinheitliche Altenpflege ein bundeseinheitliches Qualifikationsniveau und bundesweit vergleichbare Fachkenntnisse der Altenpflegerinnen und Altenpfleger an. Die propagierte Vereinheitlichung findet jedoch nach dem Urteil der Fachleute nicht statt; denn auch
in Zukunft soll jedes Land auf der Basis abgesenkter Minimalstandards seine Form wählen können.
Fazit, meine Damen und Herren, Frau Ministerin:
Der Gesetzentwurf entspricht trotz Nachbesserungen
nicht dem Qualitätsstandard, den der Bildungsstandort
Deutschland erfordert. Statt die Qualität der Ausbildung
zu verbessern, wird sie durch dieses Gesetz verschlechtert. Das ist ein historischer Rückschritt. Das können wir
und wollen wir nicht mittragen. Wir werden diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.
({6})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Eichhorn, Ihre Rede hat mich ziemlich überrascht. Wir wollen heute das beschließen, was Sie seit
10 Jahren durchzusetzen versucht haben und was die
Grundlage der Bundesratsinitiative ist. Ich kann Ihr Verhalten eigentlich nur so werten, dass Sie ärgerlich darüber
sind, dass wir das umsetzen, was Sie in 10 Jahren nicht geschafft haben.
({0})
Mit dem Gesetzentwurf zur bundeseinheitlichen Altenpflegeausbildung beschließen wir das Ende einer vermeintlich unendlichen Geschichte; denn drei Ministerinnen - die Kolleginnen Lehr, Rönsch und Nolte - haben in
über zehn Jahren den Versuch unternommen, 17 unterschiedliche Länderregelungen zu einer bundeseinheitlichen Ausbildung zu vereinheitlichen - leider ohne Erfolg.
Es bedurfte einer rot-grünen Bundesregierung, dass dieser Durchbruch jetzt endlich gelingen konnte.
({1})
Künftig werden alle Altenpflegeschülerinnen - ich benutze bewusst die weibliche Form, weil zu 90 Prozent
Frauen betroffen sind - eine Ausbildungsvergütung erhalten. Das war bisher nicht der Fall. Keine wird mehr Schulgeld zahlen müssen und der Abschluss befähigt zur
gleichwertigen Tätigkeit in allen Bundesländern - auch
das war bisher nicht möglich - und innerhalb der Europäischen Union. Die Qualität der Ausbildung erfährt in
vielen Bundesländern eine Aufwertung. Sie wissen ganz
genau, dass die Ausbildung in einigen Ländern sehr viel
schlechter ist als jetzt geregelt. Wir haben sie angepasst.
Damit schaffen wir mit diesem Gesetz einen attraktiven und qualifizierten Beruf und den Erfordernissen der
Auszubildenden wird Rechung getragen. Es ist ein Beruf,
der künftig von noch mehr jungen Menschen nachgefragt
wird und der einen wissenschaftlichen Überbau in den
Pflegewissenschaften hat.
Wir sorgen endlich dafür, dass dem hartnäckig behaupteten Vorurteil „Pflegen kann jeder“, das ja der ehemalige
Sozialminister Blüm prägte, ein Ende bereitet wird. Und: Wir schaffen einen Beruf, der den geänderten Anforderungen der Pflegebedürftigen Rechnung trägt.
Es wurde hier schon gesagt: Früher waren die Menschen Ende 60, wenn sie in ein Heim gingen, heute liegt
das durchschnittliche Alter bei der Aufnahme in ein Heim
bei 86 Jahren. Es ist unser Ziel, dass alte Menschen so
lange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung bleiben.
Das bedeutet aber für das Pflegepersonal eine ungeheure
Herausforderung. In diesem Alter treten in den meisten
Fällen eine Reihe von Krankheiten und, damit verbunden,
ein höherer Pflegebedarf auf. Die Fachleute sprechen von
Multimorbidität. Auch diesem Umstand wird in der
neuen Ausbildung Rechnung getragen: Geriatrische Rehabilitationskonzepte, Gesundheitsvorsorge, Begleitung
von Sterbenden sind nur einige Stichworte. Für uns heißt
ganzheitliche Altenpflege auch, die alten Menschen in
ihren persönlichen und sozialen Angelegenheiten zu betreuen und ihnen Hilfe zur Erhaltung der eigenständigen
Lebensführung zukommen zu lassen. Es handelt sich also
um einen anspruchsvollen Beruf.
Dass die Qualität der Schulen und des Lehrpersonals
noch nicht auf einem einheitlich hohen Niveau ist, ist der
Abstimmung mit den Bundesländern geschuldet. Hier
sind mittelfristig Verbesserungen notwendig. Darin stimme ich dem Kollegen Haupt ausdrücklich zu. Aber
16 Länder davon zu überzeugen, auf ihre eigenen Gesetze
zu verzichten, kommt schon einem Kunststück gleich. Es
ist gut, dass das nun endlich gelungen ist.
Uns Bündnisgrüne freut besonders, dass mit dem
neuen Gesetzentwurf ein Vorschlag von uns aufgenommen wurde, durch den der Einstieg in eine integrierte
Pflegeausbildung ermöglicht wird, denn in der Alten-,
Kranken- und Kinderkrankenpflege gibt es zahlreiche inhaltliche Überschneidungen. Modellversuche zeigen: Das
ist das Modell der Zukunft. Ich würde mir wünschen, dass
möglichst bald von einem Bundesland von der Experimentierklausel Gebrauch gemacht wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, durch die Änderungsanträge der Koalitionsfraktionen haben wir insbesondere den Anregungen des Bundesrates, aber auch der
Sachverständigenanhörung Rechnung getragen. Ein
wichtiger Punkt dabei war die Kritik an der verkürzten
Ausbildung der Umschülerinnen; diese stellen bisher
immerhin zwei Drittel. Dieses wurde nun aus dem Gesetz
herausgenommen. Lassen Sie uns nun gemeinsam die
Zeit bis Ende 2001 - denn es läuft zum 1. Januar 2002
aus - für Verhandlungen zwischen Bund und Ländern
nutzen, um eine dreijährige Umschulungszeit für alle
Gesundheitsfachberufe zu erreichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
ich würde mir wünschen, Sie würden diesem Gesetzentwurf zustimmen. Er entspricht genau dem, was Sie zehn
Jahre lang forderten. Er wird doch nicht einfach dadurch
schlechter, dass Sie nun in der Opposition sind.
({2})
Es handelt sich hier nämlich um ein echtes Generationenprojekt: qualifizierte Ausbildung für junge Menschen,
qualifizierte Pflege für alte Menschen. Dem sollten Sie
sich nicht verweigern.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Klaus Haupt.
Frau Präsidentin! Meine liebe
Kolleginnen und Kollegen! Um ein Gesetz zur Regelung
derAltenpflege wurde lange gerungen. Wir Liberalen begrüßen, dass diese fast unendliche Geschichte nun endlich
zu einem Abschluss kommt.
({0})
Der wachsende Bedarf an qualifizierter Altenpflege,
auf die immer mehr ältere Bürgerinnen und Bürger angewiesen sind, erfordert einen gewissen einheitlichen Ausbildungsstandard der Pfleger. Für die jungen Menschen
wird zugleich die Attraktivität dieses wichtigen Berufszweiges erhöht. Beide Seiten haben ein Anrecht auf
Schutz der Berufsbezeichnung, bundeseinheitliche Ausbildungsstandards, bundeseinheitliche Zugangsvoraussetzungen sowie eine Regelung der Ausbildungsvergütungen.
Wir begrüßen, dass die Regelausbildungsdauer grundsätzlich drei Jahre betragen soll, dass die Umschüler aus
dem Kreis der Verkürzungsberechtigten ausgeschlossen
sind und Verkürzungsmöglichkeiten nunmehr nur noch
restriktiv, bei wirklichen Berufserfahrungen im Bereich
der Pflege, vorgesehen sind. Es darf weder unter arbeitsmarkt- noch unter finanzpolitischen Gesichtspunkten eine
Verkürzung der Ausbildung geben.
({1})
Ein inflationärer Gebrauch von Verkürzung beeinträchtigt
die Qualität der Ausbildung, auf die wir im Interesse der
Pflegebedürftigen nicht verzichten wollen.
Es ist gut, dass die Pflegeschulen die Gesamtverantwortung für die Altenpflegeausbildung zugewiesen bekommen. Die Aufgabenteilung zwischen Schule und Praxis ist jetzt klarer. Unter dem Aspekt der Qualität - Frau
Schewe-Gerigk verwies schon darauf - bedauern wir
aber, dass die Anforderungen an Lehrpersonal und Schule
nicht konkreter festgeschrieben werden. Diese sind im
Gesetzentwurf zu ungenau gehalten. Hier wird das Gesetz
seinem eigenen Anspruch nicht ganz gerecht. Neben der
Ausübung eines sozialpflegerischen Berufs wäre aus liberaler Sicht ein pädagogischer Fachhochschul- oder Hochschulabschluss eine wünschenswerte Voraussetzung für
Leiter und Dozenten in der Altenpflegeausbildung.
({2})
Dies würde den sonst geltenden Regeln in unserer Bildungslandschaft besser entsprechen.
Die jetzt vorgesehene Finanzierung der Ausbildung
und damit auch die Art der Ausbildungsvergütung ist
einfacher gelöst als durch das zunächst vorgesehene Umlageverfahren. Ziel muss es trotzdem sein, die Finanzierung möglichst einfach und ohne besonderen Verwaltungsaufwand zu regeln.
Sicherlich lässt der Gesetzentwurf Wünsche offen.
Doch ist der Gesetzentwurf ein wichtiger Schritt zu einheitlichen Ausbildungsstandards. Deshalb unterstützen
wir Liberalen auch die Absicht, eine integrierte Ausbildung für Kranken- und Altenpflege anzustreben und modellhaft eine gemeinsame Ausbildung zu erproben.
Die nun vorgesehene Öffnungsklausel, so scheint es,
ist ein viel versprechendes Instrument, gemeinsame Ausbildungsstrukturen zu erproben. Das Altenpflegegesetz
kann so eine wichtige Vorstufe für eine einheitliche
Pflegeausbildung sein. Längerfristig wäre es nützlich,
zunächst die Pflegeberufe in einem einheitlichen Ausbildungsberuf zusammenzuführen, die Schlüsselqualifikationen zu vermitteln und zu gewährleisten, dass die im
dualen Bildungssystem heute üblichen Qualitäten erreicht
werden.
Die F.D.P. hofft, dass mit der Verabschiedung des Altenpflegegesetzes die Diskussion nicht beendet ist, sondern über eine weitere Verbesserung in der Pflegeausbildung nachgedacht wird. Dies ist sowohl im Interesse der
älteren als auch der jüngeren Generation. Ich wiederhole
mich: Packen wir es an!
({3})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Monika Balt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor ungefähr zwei Stunden hörten
wir in der letzten Rede unseres Kollegen Dreßler das wie er es selber bezeichnet hat - „Histörchen“ von dem
jungen Dynamischen und von dem alten Reichen - ein
wohl mehr als ernster Hintergrund. Letztlich hat es auch
einen Bezug zum vorliegenden Entwurf des Altenpflegegesetzes, der nach über zehnjähriger Diskussion nunmehr auf dem Tisch liegt. Diesem Gesetzentwurf kann
meine Fraktion in dieser Form nicht zustimmen. Wir werden uns deshalb enthalten.
Im federführenden Ausschuss für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend sprach man von einer historischen
Stunde. Für wen eigentlich? Zwar sind im Gesetzentwurf
eine Reihe von Forderungen enthalten, die auch die PDS
in ihrem Antrag 1996 erhoben hatte. Zum Beispiel wird
mit diesem Gesetz der Abbau der Niveauunterschiede
zwischen den Ländern und zwischen den Altenpflegeeinrichtungen angestrebt. Eine einheitliche Ausbildungsdauer von drei Jahren soll erreicht werden. Das alles finden wir gut. Doch mit dieser Bundeseinheitlichkeit wird
der gegenwärtige Zustand, nämlich 17 unterschiedliche
Regelungen in 16 Bundesländern, auf ein neues Niveau
gehoben, aber nicht beendet.
Jetzt zu den Problemen. Für mich ist ausschlaggebend
und wichtig, aus welchem Blickwinkel man das Problem
der Altenpflegeausbildung betrachtet. Ich meine, da kann
es nur einen geben: den der pflegebedürftigen älteren
Menschen.
({0})
Wir sagen, dass die Altenpflege gewährleisten muss, dass
Ältere nicht nur gepflegt, sondern fachlich qualifiziert begleitet und betreut werden.
({1})
Sie dagegen, meine Damen und Herren von der rot-grünen Regierung, stellen bei den Ausbildungszielen die
medizinische Pflege und Behandlung an die erste Stelle,
Rehabilitation an die dritte und Hilfe zur Erhaltung und
Aktivierung der eigenständigen Lebensführung an die
siebente Stelle. Damit wird Altenpflege zu einem „Heilhilfsberuf“ degradiert. Mir ist natürlich vollkommen klar,
warum der Gesetzgeber das macht: Es bestünde sonst
keine Bundeskompetenz. Wer sich aber für eine Pflege
„Still, sauber, satt“ entscheidet und Schritte in diese Richtung tut, dem reicht natürlich auch ein Mindestmaß an
Ausbildung. Kosten werden minimiert. Es sind wieder
nur Frauenberufe.
Durch das Gesetz wird in der Folge ein Rückgang des
qualitativ-fachlichen Niveaus der Ausbildung herbeigeführt. Dazu ein Beispiel: Die Ausbildung im Freistaat
Thüringen umfasst gegenwärtig 2 580 Theoriestunden.
Nach In-Kraft-Treten des Gesetzes werden es nur noch
1 830 Theoriestunden sein können. Das ist ein Minus von
30 Prozent.
Dieses Raster wird in allen Bundesländern zur Regel
werden. Die Abstriche werden zwingend in der psychosozialen, rechtlichen und hilfeplanungsspezifischen
Kompetenz erfolgen. Dieses Manko wird auch nicht
durch die stärkere Betonung der praktischen Ausbildung
ausgeglichen.
({2})
Das Berufsbild wird auf somatische Pflege verengt und
es erfolgt eine Schwerpunktverlagerung auf geriatrische
Krankenpflege. Der ältere Mensch hat aber nicht nur Anspruch auf Pflege - so er dieser bedarf -, sondern er hat
auch Anspruch auf Betreuung einschließlich sozialer Betreuung. Somit kann es nicht nur um Krankenpflege gehen.
Den Weg, den das Gesetz zur Ausbildungsfinanzierung
vorsieht, sehen wir als außerordentlich problematisch an.
Zudem ist die Finanzierung durch das Umlageverfahren
verfassungsrechtlich sehr umstritten. Daher geht der Gesetzgeber nun den Weg, die Träger aufzufordern, sich freiwillig zur Finanzierung zu verpflichten.
Frau Kollegin,
denken Sie bitte an die Zeit.
Erfahrungen in den Ländern zeigen, dass dadurch nur noch ein Drittel der Träger weiterhin Ausbildungsplätze sicherstellen wird. Darüber hinaus ist zu befürchten, dass kleinere Trägerkapazitäten
untergehen, da das ursprünglich angestrebte Umlageverfahren, das einen Ausgleich für alle Altenpflegeeinrichtungen regelt, unabhängig davon, ob dort Ausbildung
stattfindet oder nicht, verfassungsrechtlich kaum realisierbar sein wird.
Frau Kollegin,
Sie können nicht einfach weiterreden. Das geht nicht.
Ich komme zu meinem letzten
Satz.
Man darf dabei nicht vergessen: In Altenpflegeheimen
lebt nur rund ein Drittel unserer älteren pflegebedürftigen
Mitbürgerinnen und Mitbürger.
Würden Sie jetzt
bitte aufhören! Ich habe es schon zweimal gesagt. Es geht
nicht, dass Sie einfach so durchreden.
({0})
Deshalb brauchen wir ein Gesetz,
das diesen Forderungen Rechnung trägt.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Christa Lörcher.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Frau Eichhorn, ich
glaube, Sie haben den falschen Gesetzentwurf gehabt.
Wahrscheinlich ist Ihnen auch entgangen, dass sehr viele
Vorschläge des Bundesrates in unseren Änderungsantrag
aufgenommen und im Ausschuss auch durchgesetzt wurden.
Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat in der letzten Woche mit deutlicher Mehrheit beschlossen, dass ab 2001 die Altenpflegeausbildung in unserem Land bundeseinheitlich und mit gemeinsamen
Qualitätsstandards durchgeführt werden soll. Die mitberatenden Ausschüsse haben sich ebenfalls mehrheitlich
für diesen Gesetzentwurf mit den vorliegenden Änderungsanträgen ausgesprochen. Herzlichen Dank dafür.
Am Tag der Ausschussberatungen stand in der „Berliner Morgenpost“ ein Bericht mit der Überschrift „Maschinen - Diener an Bett und Arbeitsplatz, Roboter für
Pflegebedürftige und Körperbehinderte“. Zitat: „Und
wann kommt die elektronische Krankenschwester?“ Auf
der Messe „Altenpflege 2000“ wurde sie vorgestellt; für
Koma-Patienten entwickelt, wird sie jetzt auch Pflegeheimen angeboten: „Eine Waschanlage für bettlägerige Patienten - zeitsparend, porentief rein und absolut hygienisch, garantiert ohne menschliche Zuwendung.“
Wollen wir das? Ich bin sicher: Wer Pflegetätigkeit
kennt und verantwortlich ausübt oder Verantwortung
dafür trägt, will das nicht. Hilfsmittel, auch technische
Hilfen wie zum Beispiel ein Lifter, sind sinnvoll und
wichtig, weil sie die oft schwere Arbeit erleichtern. Aber
sie können nie eine qualifizierte ganzheitliche Pflege ersetzen, in der Körper, Geist und Psyche einbezogen werden.
({0})
Waschen ist mehr als Körperreinigung; es ist auch Kommunikation, Beobachtung von körperlichen und geistigen
Fähigkeiten, Mobilisation, Berührung. Längst ist bekannt,
dass Koma-Patienten - wie wir alle - Worte, Berührung
und Zuwendung brauchen.
Der Gesetzentwurf zur Altenpflegeausbildung mit unseren Änderungsvorschlägen soll das Berufsbild Altenpflege verbessern, aufwerten und attraktiver machen:
durch fundierte Ausbildungsziele, eine Kombination von
Theorie und Praxis, qualifizierte Praxisbegleitung und die
Gesamtverantwortung der Altenpflegeschule, durch eine
dreijährige Ausbildungszeit und das Recht auf eine angemessene Ausbildungsvergütung.
Qualität in der Pflege kann und soll damit verbessert
und gesichert werden. Eine steigende Lebenserwartung
gibt uns mehr Jahre. Dass Menschen diese Jahre in Würde
verbringen können, auch bei Pflegebedürftigkeit, ist unser
Anliegen. Mehr Lebensjahre heißt auch ein höheres Risiko bezüglich Krankheiten im Alter: Störungen bei Herz
und Kreislauf, Bewegungseinschränkungen, psychische
Krankheiten wie Depressionen, mehr Demenzerkrankungen. Es heißt mehr Pflegebedürftigkeit zu Hause, wobei
die Pflege oft von Angehörigen und von professionellen
Kräften gemeinsam geleistet wird. Es bedeutet auch ein
höheres Alter beim Eintritt in stationäre Einrichtungen,
wobei der Bedarf an Grund- und Behandlungspflege, aber
auch an Aktivierung und Rehabilitation entsprechend
steigt.
Ich wundere mich, dass trotz Kenntnis dieses Sachverhaltes in allen Bereichen der Pflege von manchen noch
immer die Bundeskompetenz für die Regelung der Berufe in der Altenpflege infrage gestellt wird.
({1})
Medizinisch-pflegerische Kenntnisse sind die Grundlage
für eine qualifizierte Arbeit. Ich will dafür zwei Beispiele
nennen.
Bei der zunehmenden Zahl von Diabeteskranken in unserer Gesellschaft, derzeit rund 5 Millionen Menschen
und der größte Teil von ihnen mit Altersdiabetes, ist es unbedingt nötig, dass eine Fachkraft in der Pflege zu jedem
Zeitpunkt genau beobachtet und feststellen kann, wenn es
jemandem schlecht geht: Liegt ein zu niedriger oder ein
zu hoher Blutzuckerwert vor? Was ist sofort zu tun? Was
muss und darf ich machen? Was kann und darf nur der
Arzt tun?
Auch die Zahl der Parkinsonkranken bei uns ist hoch rund 200 000 Menschen leiden an Parkinson. Viele wohnen zu Hause, werden vom Partner oder von der Partnerin versorgt; manche treffen sich in Selbsthilfegruppen
und erhalten dort Unterstützung. Aber auch professionelle
Hilfe ist nötig. Gerade bei Parkinson ist bekannt, dass Rehabilitationsmaßnahmen wie Bewegungsübungen und
Sprachtraining viel an Lebensqualität erhalten oder eine
Verschlechterung verzögern können. Fundierte Kenntnisse und Fähigkeiten in der Pflege, aber auch in den Bereichen Aktivieren und Rehabilitation, sind bei der Pflegeausbildung und Berufstätigkeit nötig.
Es ist gut, dass stationäre und ambulante Pflegeeinrichtungen als Praxislernorte verbindlich festgelegt sind.
Zusätzlich ist sinnvoll, dass bei der praktischen Ausbildung - eine Kannbestimmung im Gesetzentwurf - auch
ein Praktikum in einer psychiatrischen Einrichtung, zum
Beispiel in der Gerontopsychiatrie oder in einer Rehabilitationseinrichtung, etwa einer geriatrischen Rehaklinik, möglich ist.
Besonders positiv - das möchte ich zum Schluss vermerken - ist, dass Modellversuche hinsichtlich einer integrierten Pflegeausbildung mit diesem Gesetzentwurf
ermöglicht werden.
Ich hoffe und wünsche uns, dass wir die Pflegeberufe
in Übereinstimmung mit den europäischen Richtlinien
auf der heute zu beschließenden gemeinsamen Grundlage
einer dreijährigen qualifizierten Altenpflegeausbildung in
den kommenden Jahren gemeinsam weiterentwickeln im Interesse derjenigen Menschen, die Hilfe und Betreuung brauchen, und derjenigen, die diese wichtige und anspruchsvolle Arbeit leisten.
Herzlichen Dank.
({2})
Ich schließe damit die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Altenpflegegesetzes. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der F.D.P. gegen die
Stimmen der CDU/CSU bei Enthaltung der PDS angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist damit auch in dritter Lesung mit dem soeben festgestellten Stimmenergebnis angenommen worden.
({0})
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und
F.D.P.
Diskriminierung von Frauen bei den Olympischen Spielen
- Drucksache 14/3769 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch
höre ich nicht. Dann verfahren wir auch so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die
Abgeordnete Angelika Graf.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Junge und erfolgreiche
Sportlerinnen und Sportler sind für Kinder und Jugendliche wichtige Identifikationsfiguren. Die Schwimmerin
Franziska von Almsick zum Beispiel hat in den letzten
Jahren insbesondere für Mädchen den Schwimmsport
sehr interessant gemacht. Das hat die steigende Zahl von
Anmeldungen in Schwimmvereinen ganz deutlich gezeigt.
Die Ausübung von Sport, die dadurch angeregt wird,
vermittelt jungen Menschen nicht nur soziale Kompetenzen. Durch den Sport lernen sie im Allgemeinen auch, mit
ihrem eigenen Körper umzugehen und auf ihn zu achten.
Sport ist also Gesundheitsvorsorge im besten Sinne. Der
Sport gibt den Menschen die Möglichkeit, sich selbst zu
verwirklichen, die eigenen Grenzen auszuloten und
Selbstbewusstsein im wahrsten Sinne des Wortes aufzubauen. Dies alles sind insbesondere für junge Frauen in
der ganzen Welt wichtige Dinge.
Eine besondere Rolle im Ablauf der sportlichen Ereignisse über die Jahre hinweg spielen die Olympischen
Spiele. Sie haben sich im Laufe der Jahre durchaus verwandelt. Im Jahre 1896 haben sich in Athen 295 Männer
sportlich gemessen haben. Im Jahre 1900 waren in Paris
schon 11 Frauen am Start. In den letzten Jahrzehnten haben immer mehr Frauen aus allen Erdteilen und jeder
Hautfarbe an den Olympischen Spielen teilgenommen.
Begonnen hat das Ganze allerdings mit Stamathia Roviti,
die 1896 durch ihre inoffizielle Teilnahme am Marathonlauf ihren Protest gegen die Frauendiskriminierung
deutlich gemacht hat.
Es waren recht starke Frauen, die da um Medaillen und nicht nur um diese - kämpften. Die etwas Älteren von
Ihnen können sich sicher noch an die vor kurzem verstorbene dunkelhäutige Sprinterin Florence Griffith-Joyner
erinnern. Das war die mit den langen Fingernägeln.
({0})
- Ja genau, die mit den schönen bunten. - Sie hat Goldmedaillen über 100 Meter und über 200 Meter gewonnen.
Sie war nicht nur für den Frauensport ganz allgemein,
sondern insbesondere auch für farbige Frauen eine Identifikationsfigur.
Trotz dieser Fortschritte gibt es noch immer eine
Reihe von Ländern, die reine Männerdelegationen zu den
Olympischen Spielen schicken. Die Entwicklung ist zwar
rückläufig. Aber es erschreckt schon, dass 1992 nach
Barcelona immer noch 34 Länder ohne weibliche Teilnehmer angereist sind. Auch in Atlanta gab es 1996 noch
29 Delegationen, die ohne Frauen angetreten sind. Das
waren damals unter anderem Länder wie Afghanistan,
Bolivien, Brunei, Bahrain, Dschibuti, Haiti, Irak, Kuwait
und Saudi-Arabien. Diese Liste muss nicht zu Ende geführt werden. Es ist sehr beeindruckend, welche Länder
in diesem Zusammenhang zu nennen sind: unter anderem
viele afrikanische und arabische Länder.
Dort wurden und werden - das ist ganz offensichtlich Frauen aktiv oder passiv diskriminiert und an der Ausübung des Sportes gehindert. Ob das nun dadurch passiert, dass Bekleidungsvorschriften, zum Beispiel der
Tschador im Iran oder die Burka in Afghanistan, oder andere angeblich theologisch oder kulturell bedingte
Zwänge die Frauen an der Ausübung des Sportes hindern,
ob den Frauen die Ausübung des Sportes vollständig verboten wird oder man ihnen andere Rechte vorenthält, was
sie daran hindert, oder ob es schlicht und einfach die Gedankenlosigkeit und das Machoverhalten von Männern
sind, die den Frauen diese Betätigung bzw. Erfolge auf
diesem Gebiet nicht gönnen wollen, das spielt meiner Ansicht nach bei der Beurteilung des Ganzen keine Rolle.
Fest steht: Es widerspricht deutlich der olympischen
Charta und dem olympischen Gedanken.
In der Olympischen Charta steht geschrieben:
Alle Formen der Diskriminierung mit Bezug auf ein
Land oder eine Person, sei es aus Gründen von
Rasse, Religion, Politik, Geschlecht und sonstigen
Motiven sind mit der olympischen Bewegung unvereinbar.
({1})
Schauen wir nach Sydney: Obwohl die Ergebnisse der
Qualifizierung aus den einzelnen Ländern noch nicht vorliegen und infolgedessen auch noch keine Aussagen über
die Zusammensetzung der Delegationen gemacht werden
können, appellieren wir mit dem vorliegenden fraktionsübergreifenden Antrag - dies ist auch ein deutlicher
Fortschritt gegenüber früher -,
({2})
den wir heute noch rechtzeitig vor dem Beginn der Spiele
im September dieses Jahres verabschieden, an das Nationale Olympische Komitee, beim IOC die Einhaltung der
Charta einzufordern und harte Sanktionen - ich meine, sie
müssen bis zum Ausschluss von den Spielen gehen - gegen Länder zu beschließen, die sich daran nicht halten.
({3})
Ausreden jedenfalls kann es nicht mehr geben. Für die
Kleinststaaten wurden die Leistungsvorgaben bei den
Qualifikationen abgeschafft, sodass nun auf jeden Fall
Frauen aus diesen Ländern teilnehmen können. Die
Trainingsbedingungen für viele Sportlerinnen haben sich
durch das Engagement, zum Beispiel unseres eigenen
NOK, deutlich verbessert. Irakerinnen und Palästinenserinnen zum Beispiel können zurzeit in Deutschland mit
deutscher Unterstützung trainieren. Das ist ein Vorteil
gegenüber den schwierigen Trainingsbedingungen im eigenen Land. Ich meine, dass dies etwas ist, was weiterverfolgt werden muss und wofür man dem Nationalen
Olympischen Komitee - im Sinne der internationalen
Frauenbewegung und des internationalen Frauensportes danken muss.
Ich meine, wir sollten unseren Dank durch die Zustimmung zu diesem Antrag manifestieren.
({4})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Monika Brudlewsky.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Leider haben wir gerade ein deutsches sportliches Debakel hinter uns. Aber
bei den Olympischen Spielen in Australien hoffen wir auf
bessere Ergebnisse für Deutschland. Bei diesem Fest der
Nationen werden sich Sportler aus aller Welt im sportlichen Wettkampf miteinander messen und Millionen Menschen werden über die Medien mit Spannung live dabei
sein.
Obwohl sicher ein großes Fest der Begegnung daraus
wird, müssen wir auch dieses Mal wieder befürchten, dass
weibliche Sportler aus einer Reihe von teilnehmenden
Staaten aufgrund angeblich religiöser Vorbehalte, gepaart
mit männlichem Chauvinismus, außen vor bleiben müssen, nur weil sie Frauen sind oder weil diese Staaten keine
Sport treibenden Frauen dulden.
({0})
Dies ist ein klarer Verstoß gegen die olympische Charta.
Wir wollen und müssen den Frauen dieser Länder zu verstehen geben: Dies muss und wird sich ändern.
({1})
Die olympische Charta verbietet, wie Frau Graf schon
zitiert hat, jede Form von Diskriminierung. Dazu gehört auch die Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts. Menschenrechte sind auch Frauenrechte.
Angelika Graf ({2})
Menschrechtsverletzungen einiger Länder gegenüber
ihren Frauen gehören daher an den Pranger gestellt. Diesen Ländern und ihren Regierungen muss vor der
Weltöffentlichkeit klargemacht werden, dass es so nicht
weitergehen kann.
Meine Kollegin Bärbel Sothmann hat vor vier Jahren
in einer Debatte zum gleichen Thema den Satz geprägt:
Diese Frauenapartheid ist nicht weniger menschenrechtsverletzend als die Rassenapartheid in Südafrika. Schließlich bringen diese Länder damit die Miss- und Verachtung
der Hälfte ihrer Bevölkerung zum Ausdruck. Um noch
einmal zum Fußball zu kommen: Diese Länder verdienen
die rote Karte der Weltgemeinschaft. Sie halten anscheinend Frauen für nicht würdig oder nicht fähig, ihre Länder im sportlichen Wettstreit zu vertreten, obwohl es doch
für jeden Sportler eine Ehre ist, für die Olympischen
Spiele nominiert zu werden und sich mit den weltbesten
Sportlern messen zu können.
Sport ist aber auch eine Frage von Persönlichkeit,
Selbstdisziplin, Ausdauer und persönlichem Engagement,
was Vorbildcharakter vor allem für junge Menschen hat.
Gerade in Ländern der Dritten Welt haben die Sportler oft
Kultstatus und werden wie Popstars verehrt; ich denke nur
an die hervorragenden afrikanischen Läuferinnen und
Läufer. Manche Regierungen sehen hierin Gefahren. Statt
selbstbewusste und erfolgreiche Frauen wollen sie lieber
Frauen als eine dumm gehaltene schwarz umhüllte Masse,
die ohne männliche Begleitung noch nicht einmal alleine
vor die Tür gehen dürfen, wenn ich zum Beispiel an das
Taliban-Regime in Afghanistan denke. Frauen mit Gesicht, mit Persönlichkeit, mit Durchsetzungsvermögen
könnten in diesen Ländern Begehrlichkeiten nach mehr
Rechten und Freiheiten einfordern und als Vorbild für andere gelten. Dies passt natürlich nicht in die Ideologie solcher Regime.
Auch wenn sich die Zahl der Länder, die ausschließlich
mit Männern zu den Olympischen Spielen anreisten, von
35 Länder 1992 in Barcelona auf 29 Länder 1996 in Atlanta verringert hatte, so sind dies immer noch zu viele.
Wie viele werden es wohl in diesem Jahr sein? Wir sind
gespannt.
Es sei zugestanden, dass aufgrund der geringen Bevölkerungszahlen und auch des unterschiedlichen sportlichen Interesses sich die olympischen Mannschaften mancher Länder nur auf ganz bestimmte Sportarten konzentrieren oder Frauen sich nicht qualifizieren konnten.
({3})
So ist es aber immer noch eine andere Frage, ob ich es
sportbegeisterten jungen Mädchen und Frauen, die es
auch in diesen Ländern gibt, generell verbiete, Sport zu
treiben, was ein ureigenes menschliches Bedürfnis ist,
oder ob ich ihnen zumindest die grundsätzliche Möglichkeit einräume, sich in ihren Sportarten und entsprechend
ihren sportlichen Neigungen für ein solches Weltereignis
zu qualifizieren. Dies setzt aber voraus, dass diese Staaten
den Frauen Trainingsmöglichkeiten zur Verfügung stellen, wie sie auch den Männern zustehen. Auch dürfen vermeintlich religiöse Kleiderordnungen nicht einem sportlichen Training entgegenstehen, wenn die Frauen von sich
aus dieses Recht wahrnehmen wollen.
Grundsätzlich hat dieses Problem nichts mit Religion
zu tun. Schließlich gibt es auch eine Reihe islamischer
Staaten, die ihre hervorragenden Sportlerinnen nach Australien schicken werden; dies betone ich ausdrücklich. Sie
werden im Koran eine Reihe von Frauen finden, beispielsweise die Tochter des Propheten Mohammed, die
man nach heutiger Sichtweise durchaus als emanzipierte
Frauen bezeichnen würde.
100 Jahre nach der Teilnahme der ersten Frauen an
Olympischen Spielen der Neuzeit sollte die Emanzipation
so weit fortgeschritten sein, dass mit Beginn des 21. Jahrhunderts diese Diskriminierung überwunden ist. Daran
müssen wir mitwirken.
Ein Einwurf sei mir als ehemalige DDR-Bürgerin im
Zusammenhang mit Diskriminierung von Frauen im
Sport und vor dem Hintergrund der gerade laufenden Prozesse gegen Trainer und Funktionäre der ehemaligen
DDR in Bezug gerade auf das Doping von jungen Menschen erlaubt. Die DDR, die Sowjetunion und die meisten
sozialistischen Staaten sahen in der Olympiade auch ein
wichtiges ideologisches Propagandamittel, um die Überlegenheit des Sozialismus durch ihre Sportlerinnen und
Sportler zu demonstrieren. Das Doping unserer DDRFrauen gehörte da leider zur Tagesordnung, um zu zeigen,
wozu der Sozialismus gerade auch hinsichtlich der sportlich emanzipatorischen Förderung von Frauen fähig ist.
Auch hier wurden Frauen benutzt und aufgrund der unverantwortlichen Betreuung durch Funktionäre zu hormonell behandelten Wettkampfmaschinen herangezogen,
ohne dass Rücksicht auf gesundheitliche Folgen genommen worden wäre. Ich habe selber solche Mädchen kennen gelernt, die später unter der Dopingbehandlung gesundheitlich schwer litten, zumal man ihnen diese Mittel
meist ohne Information über die Folgen verabreichte.
Auch wurden sie später oft allein gelassen, wenn sie nicht
als Kader verwendet werden konnten, und hatten so große
Probleme mit dem Abtrainieren.
Diese Praxis war genauso menschenverachtend wie
der völlige Ausschluss von Sportlerinnen. Auch das will
natürlich keiner. Diese Praxis findet heute zum Glück
auch die juristische Würdigung durch ordentliche Gerichte.
Uns geht es in diesem Zusammenhang um die
grundsätzliche Achtung der Würde der Frau und die Ermöglichung der Wahrnehmung ihrer Rechte und Chancen
und nicht um ihre Instrumentalisierung für Ideologien und
Religionen.
Ich danke Ihnen.
({4})
Als einzigem
männlichen Redner in dieser Debatte erteile ich jetzt dem
Abgeordneten Winfried Hermann das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hoffe,
man muss sich in diesem Haus nicht dafür entschuldigen,
dass man als Mann zur Diskriminierung von Frauen
spricht. Ich glaube nämlich, dass es eine moderne Auffassung ist, dass sich auch die Männer um die Beseitigung
von Diskriminierungen kümmern.
({0})
Ich möchte meine Rede gern mit einem kleinen historischen Exkurs beginnen; denn man kann die Diskriminierung nicht verstehen, ohne die Geschichte der Olympischen Spiele ein wenig zu kennen. Man könnte vielleicht zugespitzt sagen: Die Geschichte der Olympischen
Spiele war schon immer auch eine Geschichte von Diskriminierung.
In Griechenland waren die Olympischen Spiele sicherlich etwas anders als in der modernen Welt, aber einige
Parallelen sind erkennbar. In Griechenland waren nur
Männer als Athleten zugelassen; Frauen waren nur als Zuschauerinnen zugelassen, wenn sie jung und unverheiratet waren. Die Kampfrichter waren Männer; lediglich eine
Priesterin, die alle vier Jahre gewählt wurde, hatte gewissermaßen die Oberaufsicht. Das war eine merkwürdige
Konzeption, dennoch war es eigentlich eine Männerveranstaltung.
Die modernen Olympischen Spiele von Pierre de
Coubertin haben im Grunde genommen diese Tradition
aufgenommen - Sie schmunzeln schon -: Es war wiederum eine Männerveranstaltung. 1896 waren keine
Frauen dabei, 1900 waren nur wenige Frauen vertreten.
Sie waren eher geduldet als erwünscht. Erst 1928 hat man
sich durchringen können, Frauen offiziell zu akzeptieren.
Dann hat eine neue Form von Diskriminierung, diesmal im positiven Sinne, begonnen: Man hat zwischen gemischten und reinen Frauenwettbewerben unterschieden.
Ich glaube, man muss anerkennen, dass im Sport mehr als
anderswo sichtbar wird, dass Mann und Frau zwar im
Prinzip gleich sind, aber in mancher Hinsicht eben doch
nicht. Deswegen macht es auch Sinn, dass Männer und
Frauen in unterschiedlichen Wettbewerben antreten.
Frauen dürfen aber nicht per se vom Sport und von Olympischen Spielen fern gehalten werden.
Die Geschichte der folgenden Jahre und Jahrzehnte
war eine Geschichte des Kampfes der Frauen für die Beteiligung an den Spielen. Sie haben es gerade aufgelistet,
wie Spiel um Spiel immer mehr Frauen hinzugekommen
sind. Aber auch heute können wir immer noch feststellen,
dass eine Beteiligung in vielen Ländern nicht gelungen
ist. Zum Teil gibt es völlig geschlechtsspezifische Mannschaften. Ich warne aber davor, das als Phänomen des Islams zu geißeln - Sie haben das hier nicht getan, aber man
liest es bisweilen in der Sportpresse, nach dem Motto, die
harten Islamstaaten lassen die Frauen nicht zu den Olympischen Spielen -, denn es sind weit mehr als nur die islamischen Staaten. Es gibt auch anderswo Diskriminierungen. Oft ist es nicht eine verfassungsmäßige Diskriminierung, sondern eine kulturelle, und das ist vermutlich
auch das eigentliche und größere Problem.
Das gilt übrigens auch für die anderen Bereiche, nicht
nur für die Mannschaften. Schauen Sie sich einmal die
Nationalen Olympischen Komitees oder das IOC an. Das
sind reine Männerklubs, Altherrenklubs, in denen Frauen
lange Zeit überhaupt nicht vorgekommen sind.
({1})
Mühsam macht das IOC jetzt eine Kampagne, um
mehr Frauen für den Bereich der Organisation und des
Managements zu gewinnen. Dort finden sich erst 10 Prozent bis 20 Prozent Frauen. Das ist angesichts der Tatsache, dass wir im 21. Jahrhundert leben, beschämend. Hier
gibt es noch viel Nachholbedarf, übrigens auch in
Deutschland. Wir haben, glaube ich, keinen Grund, allzu
hochnäsig zu sein und auf andere Staaten zu zeigen, nur
weil sie keine Frauen in ihren Olympiateams haben. Bei
uns haben wir bei Funktionären reine Männermannschaften. Auch das ist unerträglich.
Ich glaube, dass die Staaten, in denen Frauen verfassungsmäßig explizit vom Sport ausgeschlossen werden,
hart sanktioniert werden müssen, und zwar bis hin zum
letzten Mittel, dem Ausschluss von Olympischen Spielen.
Ich möchte allerdings nicht einer pauschalen harten Ausgrenzung das Wort reden.
({2})
Ich glaube, das wäre nicht klug.
Zur Geschichte der Olympischen Spiele gehörten auch
immer politisch begründete Boykotts. So hat man etwa
bei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau durch den
Boykott der westlichen Staaten versucht, den Krieg der
Sowjetunion in Afghanistan zu verhindern, was nicht gelungen ist und eher zum Schaden der Olympischen Spiele
war. Auch das Vorgehen 1984 in Los Angeles - der Revancheboykott der kommunistischen Staaten - war nicht
sinnvoll. Auf der anderen Seite steht der sehr erfolgreiche
Ausschluss der Südafrikanischen Republik über viele
Jahre hinweg, weil sie Apartheidrepublik war. Dort hat es
auch etwas geholfen. Also kann so etwas im Einzelfall
sehr wohl politisch wirken. Deswegen muss man sich das
Verhängen von Sanktionen genau überlegen.
Im Großen und Ganzen wird es wahrscheinlich darauf
ankommen, Staaten, die diskriminierende Kulturen haben, trotzdem an Olympischen Spielen teilnehmen zu lassen, ihnen aber deutlich zu signalisieren, dass man Frauendiskriminierung nicht akzeptieren kann. Ich glaube,
dass Beteiligung statt Ausgrenzung eher zu einer Modernisierung dieser Staaten und Kulturen führt und dies am
ehesten der Politik der Nichtdiskriminierung förderlich
ist. In diesem Sinne glaube ich, dass wir noch viele Jahre
des Streitens für Olympische Spiele ohne Diskriminierung vor uns haben.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag, der uns heute beschäftigt, ist nach noch
streitiger Behandlung vor vier Jahren, nämlich 1996 zu
den Olympischen Spielen in Atlanta, jetzt ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen. 1996 gab es getrennte Anträge - nach dem alten Muster: Regierungskoalition auf
der einen Seite, Oppositionsfraktionen auf der anderen
Seite. Inhaltlich haben sie sich mehr kosmetisch denn in
der Sache unterschieden. Heute sind wir jedenfalls in diesem Punkt etwas weiter. Gerade die jetzigen Oppositionsfraktionen zeigen, dass es ihnen hier um ein vernünftiges
Befassen mit dem Thema geht. Dies ist also schon einmal
ein wirklicher Fortschritt.
({0})
In meinen Augen ist es selbstverständlich - dies haben
auch alle hier gesagt -, die Diskriminierung von Frauen
bei Olympischen Spielen, wie aber natürlich auch in allen
anderen Bereichen, und hier besonders das Fernhalten
von Frauen vom sportlichen Wettbewerb anzuprangern.
Schlimm ist, dass es dies nach wie vor gibt. Wir haben
heute schon einige Bemerkungen zur Entwicklung und
zur Geschichte hören können.
Bewirkt der Antrag denn irgendetwas? Bewirkt er etwas beim Internationalen Olympischen Komitee, einem
Gremium mit 113 Mitgliedern und noch nicht einmal
zehn Frauen? Hieran habe ich erhebliche Zweifel. Ich
habe heute in Vorbereitung auf diese Debatte versucht,
mit IOC-Vertretern zu sprechen. Soweit sie zu erreichen
waren, waren sie auf dieses Thema überhaupt nicht anzusprechen. Ich denke, so wird es auch weitergehen.
Selbstverständlich ist das IOC nach seinem Statut verpflichtet, zu versuchen - und entscheidend darauf hinzuwirken -, jegliche Diskriminierung, aus welchen Gründen
auch immer, zu beseitigen. Dies ist nun einmal das wichtigste Grundprinzip der Charta des Internationalen Olympischen Komitees. Nur dann kann gemäß dem Hauptgrund für die olympische Bewegung ein Beitrag zu einer
friedlicheren und besseren Welt geleistet werden, wie es
in diesen schönen hehren Worten in der Charta des IOC
geschrieben steht.
Für den Deutschen Bundestag ist es ein Leichtes, diesen Antrag zu beschließen. Er kostet uns nichts - er kostet kein Geld, er kostet keinen Aufwand - als die Auseinandersetzung und die Debatte heute. Aber was kann er
tatsächlich bewirken? In meinen Augen kann er dann etwas bewirken, wenn wir deutlich machen, dass die Ursachen der Diskriminierung von Frauen in vielen Staaten
in religiösen und kulturellen Bereichen liegen, dort lange
Wurzeln und Traditionen haben, und dass ohne Kenntnis
und Analyse dieser gesellschaftspolitischen Hintergründe
vor allem in den Staaten, in denen Frauen überhaupt keine
Möglichkeit haben, im alltäglichen Bereich Sport auszuüben, keine wirksamen Maßnahmen ergriffen werden
können. Auf diese Hintergründe müssen wir eingehen.
Man muss versuchen, dies zum Gegenstand von Politik zu
machen.
({1})
Ich bin der Auffassung, dass dieser Antrag, der heute
beschlossen werden soll, auch ein Auftrag an die Bundesregierung ist, sich die große Mehrheitsmeinung hier im
Plenum, im Bundestag zu Eigen zu machen. Sie sollte dies
gerade in der Außenpolitik, in den kritischen Dialogen mit
den Ländern, in denen Menschenrechte verletzt werden,
zum Thema machen. Es ist bereits zu Recht gesagt worden: Frauen überhaupt nicht die Möglichkeit zu sportlicher Betätigung zu geben ist eine Verletzung ihrer
Rechte und eine Verletzung von Menschenrechten. Deshalb, denke ich, sollten wir hier heute Einvernehmen darüber erzielen, dass es zum einen eine Verpflichtung des
Bundestages ist, dieses Problem in Debatten deutlich zu
machen, und dass es zum anderen immer auch Gegenstand der Dialoge der Bundesregierung mit diesen Ländern sein muss und offen und ehrlich eingefordert werden
muss. Es gibt schon nächste Woche bei dem Besuch des
iranischen Präsidenten in Deutschland Gelegenheit, das
mit Nachdruck zu tun.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Petra Bläss.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Stoßrichtung des interfraktionellen Antrags ist richtig und auch notwendig. Die Kollegin
Graf hat bereits aus der olympischen Charta zitiert und betont, dass Diskriminierung aufgrund des Geschlechts mit
der olympischen Bewegung unvereinbar ist.
Dennoch werden Frauen auch bei Olympischen Spielen systematisch diskriminiert. Wir haben in der Debatte
bereits einige Beispiele dafür gehört. Ich war, ehrlich gesagt, ziemlich überrascht, zu lesen, dass bei den Olympischen Spielen 1996 immerhin noch 35 Länder ausschließlich Männer in ihre Mannschaften nominiert hatten.
Es ist bekannt, dass Frauen gerade in diesen Ländern - die
Kollegin Graf hat bereits einige Staaten aufgezählt; deshalb kann ich mir das an dieser Stelle sparen - grundlegende Menschenrechte nach wie vor verweigert werden.
Diese Woche ging durch die Presse, dass Frauen in Kuwait nicht wählen dürfen. Erst recht haben sie nicht die
Chance, im Sport zu gleichen Rechten wie die Männer zu
kommen.
Dennoch greift es zu kurz, dieses Problem allein mit
kultureller Tradition abzutun. Hier werden Frauenrechte
unterdrückt. Die kürzlich stattgefundene UN-Sondergeneralversammlung Peking plus Fünf in New York hat
noch einmal bekräftigt, was bereits im Rahmen der UNWeltkonferenz des Jahres 1995 festgeschrieben wurde:
Frauenrechte sind Menschenrechte und unteilbar,
({0})
das heißt, auch nicht mit der Berufung auf kulturelle Traditionen zu relativieren und einzuschränken.
Südafrika durfte von 1964 bis 1988 nicht an den Olympischen Spielen teilnehmen mit der Begründung, das
Apartheidsystem widerspreche der olympischen Idee und
ihrer Charta. Bei den genannten Staaten haben wir es mit
Geschlechterapartheid zu tun, was der olympischen
Charta genauso widerspricht. Wo bleiben die Konsequenzen des Internationalen Olympischen Komitees? Der vorliegende Antrag ist hier meines Erachtens sehr allgemein
geblieben. Die notwendige Forderung, die entsprechenden Länder von der Teilnahme an den Olympischen Spielen auszuschließen, fehlt.
({1})
Der Kollege Hermann hat bereits darauf verwiesen:
Die Diskriminierung von Frauen ist schon in der Struktur
des IOC angelegt; denn das Exekutivkomitee des IOC besteht ausschließlich aus Männern. Schon das allein ist ein
Skandal und muss geändert werden.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den Olympischen
Spielen geht es nicht nur um sportliche Ehre, sondern bekanntlich auch um viel Geld. Wir sollten auch an die millionenschweren Sponsorinnen und Sponsoren appellieren, ihren Einfluss geltend zu machen und zu verlangen,
dass Geschlechterapartheid bekämpft wird.
Lassen Sie mich abschließend noch eine kurze Bemerkung machen, die ich mir gern erspart hätte: Einmal mehr
stellt sich das Parlament bei einem wichtigen interfraktionellen Anliegen ein Armutszeugnis aus. Es ist traurig,
dass bei einem solchen Thema, bei dem es offensichtlich
im Hause Konsens gibt, politische Ausgrenzungsbeschlüsse wieder über das gemeinsame Sachinteresse - ich
sage das jetzt bewusst in sportlichem Jargon - gesiegt haben. Ich hoffe, dass das jetzt zum letzten Mal der Fall war.
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Christine Lehder.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Diskriminierung von Frauen im Sport ist vielseitig. Von meinen
Vorrednerinnen und meinem Vorredner wurden schon einige Facetten aufgegriffen. Ich möchte einen bereits angeführten Punkt beleuchten, nämlich die Diskriminierung
von Frauen bei der Besetzung von Entscheidungspositionen in internationalen und nationalen Sportorganisationen.
({0})
Fangen wir jedoch mit etwas Erfreulichem an. Wie wir
alle wissen, ist das Vereinsleben generell männlich dominiert, was natürlich auf eine bestimmte Rollenverteilung
in vergangener Zeit zurückzuführen ist. Diese ehemals
klassische Rollenverteilung bricht Gott sei Dank immer
weiter auf und schreitet unaufhaltsam in Richtung Gleichberechtigung voran. Auch vor den Sportvereinen macht
diese Entwicklung nicht Halt. So ist die Zahl der Mitgliedschaften von Frauen in den Sportvereinen stetig gestiegen und liegt im Moment bei 38,6 Prozent.
Aber leider können wir uns nicht allzu sehr darüber
freuen. Es ist nämlich festzustellen, dass Frauen gemessen an dieser Entwicklung in den Führungsgremien der
Sportorganisationen noch immer unterrepräsentiert sind.
So beträgt beispielsweise der Anteil der Frauen in den
Präsidien der Landessportverbände lediglich 17 Prozent.
Als ostdeutsche Abgeordnete bin ich dabei stolz darauf,
dass gerade in den neuen Bundesländern ein ständiger
Anstieg zu verzeichnen ist.
({1})
Fakt ist aber, dass dieser Anteil bei weitem noch nicht
die Zahl der weiblichen Mitglieder widerspiegelt. Hier
besteht also dringend Handlungsbedarf. Es kann nicht
sein, dass Frauen, die in gleichem Maße leistungsfähig
und qualifiziert sind wie Männer, immer noch bei der
Vergabe von Führungspositionen benachteiligt werden
bzw. sich selbst benachteiligen, indem sie manchmal zu
zurückhaltend auf sich bietende Gelegenheiten reagieren.
Ziel muss es sein, eine wirkliche Gleichstellung von
Männern und Frauen zu erreichen; „gender mainstreaming“ scheint für mich hierbei der richtige Ansatz zu sein.
Dieses Leitprinzip der Bundesregierung sieht vor, bei allen Planungen, Gesetzesvorhaben und Programmen die
Gleichbehandlung von Männern und Frauen zu berücksichtigen. Dies ist meiner Ansicht nach auf andere Felder
und Bereiche beliebig übertragbar und könnte dementsprechend auch Bestandteil des Handlungsmus-ters von
Sportorganisationen werden.
Ich denke, dass über diesen Weg mehr Akzeptanz erreicht werden kann - übrigens auch bei Männern - als mit
einer isolierten Betrachtung der frauenspezifischen Belange. Das Präsidium des NOK für Deutschland hat im
Februar 2000 beschlossen, bis zum Ende des Jahres einen
konkreten Aktionsplan zur Förderung von Frauen zu erarbeiten, in dem „gender mainstreaming“ ein große Rolle
spielt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu Beginn dieses
Jahrtausends sind sehr viel mehr Frauen in den Präsidien
der Spitzenverbände und Landessportbünde vertreten als
noch vor zehn Jahren. Doch im Vergleich zur Politik ist
die Teilhabe von Frauen an der Verantwortung im Sport in
Deutschland noch erheblich im Rückstand. Es liegt nicht
nur im Interesse der Frauen, dieses Defizit aufzuholen und
sich ausreichende Mitwirkungsmöglichkeiten im Sport zu
eröffnen. Es sollte auch an die demokratische Legitimation der Vereine und Verbände gedacht werden, die in der
Zukunft auch an der Frage der Teilhabe von Frauen gemessen werden.
({2})
Der DSB ist mit einer Satzungsänderung auf dem richtigen Weg. Hierin wird festgeschrieben, dass der Anteil
von Frauen in den Bundesausschüssen entsprechend ihren
Mitgliederzahlen ausgerichtet werden soll und dass Frauen mindestens eine Funktion als Präsidentin bzw. Vizepräsidentin ausüben sollen.
Auch das IOC kann die Augen vor diesen Entwicklungen nicht verschließen. In seiner Resolution der 2. IOCWeltkonferenz zum Thema „Frauen und Sport“ steht
geschrieben - es wurde hier ja auch schon mehrfach erwähnt -:
Die Konferenz erinnert daran, dass das Ziel der
Olympischen Bewegung der Aufbau einer friedvollen und besseren Welt durch den Sport und das olympische Ideal ohne Diskriminierung irgendwelcher
Art ist.
Durch einige Punkte des Forderungskataloges wird
aber dennoch deutlich, wie groß die Diskriminierung in
den eigenen Reihen ist. So fordert das IOC, bis zum Ende
des Jahres 2000 - es wurde schon von Herrn Hermann und
von Frau Leutheusser-Schnarrenberger erwähnt - eine
10-prozentige Mindestvertretung von Frauen in Entscheidungspositionen zu erreichen, was schon 1996 vom IOC
beschlossen wurde und leider immer noch nicht vollständig umgesetzt ist. Ein weiterer Punkt ist die Forderung
nach einer Mindestvertretung von wenigstens einer Repräsentantin in nationalen Delegationen bei den internationalen und regionalen Versammlungen. Dieser Stand ist
bei der Besetzung ebenfalls noch nicht erreicht. Das empfinde ich als sehr bedenklich. Ich kann nur immer wieder
daran erinnern, dass wir uns im Jahre 2000 befinden und
nicht im 18. Jahrhundert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für mich ist es unvorstellbar, dass es keine ausreichende Beteiligung von
Frauen in den einzelnen Gremien gibt. Ich denke da an die
vielen weiblichen Spitzensportlerinnen, die uns überall
auf der Welt bei den Wettkämpfen vertreten, wie zum Beispiel Gunda Niemann-Stirnemann im Eisschnelllauf,
Birgit Fischer im Kanusport oder Steffi Graf im Tennis,
um nur einige unter den vielen zu nennen.
Hier muss endlich etwas passieren. Die Sportorganisationen auf den unterschiedlichen Ebenen stellen sich
durch diese Diskriminierung auf lange Sicht ein Armutszeugnis aus. Jetzt ist Handeln angesagt!
Vielen Dank.
({3})
Letzte Rednerin in
dieser Debatte ist die Kollegin Irmgard Karwatzki für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich nehme mit
einem lachenden und einem weinenden Auge zur Kenntnis, dass von dem für den Sport zuständigen Ministerium
kein Vertreter auf der Regierungsbank sitzt.
({0})
Ich will hier nur anmerken: Würden wir hier heute
schon über die Fußballweltmeisterschaft 2006 reden, säße
nicht nur der Minister auf der Regierungsbank. Ich will
nicht bezweifeln, dass der Minister noch in Zürich ist und
erwarte auch gar nicht, dass er hier sitzt. Ich halte es aber
für eine Missachtung des Parlaments, dass sein Haus
überhaupt nicht vertreten ist.
({1})
- Lieber Herr Kollege Schmidt, ich sage das noch sehr
freundlich. Ich weiß noch aus meiner Zeit als Parlamentarische Staatssekretärin, dass in vergleichbaren Fällen
Kollegen aus Ihrer Fraktion gefordert haben, man müsse
von 9 Uhr morgens bis 1 Uhr nachts auf der Regierungsbank sitzen. Insofern bitte ich, weiterzugeben, dass es so
nicht geht.
({2})
- Ich bedanke mich sehr dafür, aber wir wollen hoffen,
dass sich das in Zukunft ändert.
Die Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger hat eben
bereits gesagt, sie finde es begrüßenswert, dass wir uns
darauf verständigt hätten, einen gemeinsamen Antrag eingebracht zu haben. Ich bin in Kollegenkreisen gefragt
worden, ob es nichts Wichtigeres gebe, als sich für die Belange von Frauen im internationalen Sport zu engagieren.
({3})
- Ich glaube, es waren auch einige von Ihnen dabei.
Zugegeben: Es gibt Ärgerlicheres auf der Welt. Doch
wenn sich die Vorkämpferinnen der Frauenrechte in früheren Jahren oder die Lobbyisten in anderen Bereichen davon gibt es ja sehr viele - das auch jedes Mal gefragt
hätten, wären viele Fortschritte für die Menschen nicht erreicht worden. Deshalb halte ich die erneuten Appelle an
die Entscheidungsträger beim Internationalen Olympischen Komitee, die olympische Charta einzuhalten, nach
wie vor für wichtig. Es lohnt, sich dafür einzusetzen.
({4})
Ich will nicht so viel von dem zitieren, was meine Vorrednerinnen und Vorredner aus allen Parteien hinsichtlich
der Wichtigkeit des olympischen Geistes, der Freundschaft, der Solidarität und des Fairplay gesagt haben. Es
ist alles gesagt worden und man braucht es nicht zu wiederholen. Ich möchte nur noch eines herausstellen: Wir
müssen weiter daran arbeiten, dass sich die Sichtweise der
Männer ändert. Eben hat jemand gesagt, sowohl das
Internationale Olympische Komitee als auch die Nationalen Olympischen Komitees würden mehrheitlich von
Männern beherrscht. Dennoch glaube ich, dass in der
Zwischenzeit eine Sensibilisierung dahingehend eingetreten ist, dass es ohne Frauen auch im Sport und in den
Führungsgremien des Spitzensports nicht geht. Insofern
wurde in dieser Richtung eine Öffnung für viele Sportarten erreicht.
Ich glaube dennoch, dass wir damit nicht zufrieden
sein können. Die wenigen Frauen, die in diesen Gremien
heute Verantwortung tragen - das ist ähnlich wie hier im
Parlament -, sind aufgefordert, für die Frauen möglichst
das zu erreichen, was aus der Sicht von Frauen im Sport
stärker zum Tragen kommen sollte. Die Frauen, die Verantwortung tragen, müssen sich an der Lösung der Probleme im Hochleistungssport beteiligen. Die Frauen müssen sich in diesen Gremien auch stärker mit dem Kampf
gegen das Doping beschäftigen. Es ist weiter wichtig, sich
mit den ständig steigenden Leistungsstandards kritisch
auseinander zu setzen.
Abschließend: Es ist eigentlich ein Skandal, dass wir
uns zu Beginn des dritten Jahrtausends mit der Frage der
Diskriminierung von Frauen im Sport beschäftigen müssen.
Herzlichen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen
und F.D.P. zur Diskriminierung von Frauen bei den Olympischen Spielen in Sydney 2000, Drucksache 14/3769.
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Damit ist der Antrag mit den Stimmen
des ganzen Hauses angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 sowie die Zusatzpunkte 8 bis 11 auf:
13. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. R.
Werner Schuster, Joachim Tappe, Brigitte Adler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
({0}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Afrikas Entwicklung unterstützen
- Drucksache 14/3701 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({1})
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim
Tappe, Dr. R. Werner Schuster, Wilhelm Schmidt
({2}), Dr. Peter Struck und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
({3}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Friedensbemühungen am Horn von Afrika verstärken
- Drucksache 14/3767 ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. R.
Werner Schuster, Joachim Tappe, Brigitte Adler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
({4}), Rezzo Schlauch und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Demokratische und friedliche Kräfte im
Sudan unterstützen
- Drucksache 14/3768 ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim
Tappe, Dr. R. Werner Schuster, Wilhelm Schmidt
({5}), Dr. Peter Struck und der Fraktion der
SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika KösterLoßack, Kerstin Müller ({6}), Rezzo Schlauch
und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN
Konflikt in der Region der Großen Seen eingedämmt - nicht gelöst
- Drucksache 14/3791 ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten
Hübner, Fred Gebhardt, Heidi Lippmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Abschiebestopp für Flüchtlinge aus Äthiopien
und Eritrea
- Drucksache 14/3547 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({7})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Joachim Tappe von der SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Obwohl ich weiß, dass das Auswärtige Amt konzeptionell an einer neuen Afrikapolitik
arbeitet, möchte ich unsere afrikapolitische Debatte am
heutigen Tage mit einer kritischen These einleiten, die
meines Erachtens den derzeitigen Zustand treffend beschreibt: Die deutsche Afrikapolitik agiert seit vielen Jahren sowohl unterhalb ihrer Möglichkeiten als auch - das
halte ich für sehr viel gravierender - unterhalb der objektiven Notwendigkeit. Stattdessen befindet sie sich durchaus im Einklang mit der öffentlichen Meinung, die angesichts der zahlreichen Krisen und Konflikte in Afrika die
Frage stellt, weshalb wir uns - auch mit Blick auf die Probleme im eigenen Land oder angesichts der europäischen
Herausforderungen - überhaupt noch um Afrika kümmern. Selbst in diesem Hause hat es erheblichen Rechtfertigungsdruck für die heutige Debatte gegeben.
({0})
Realität ist, dass nach dem Wegfall des Ost-West-Konfliktes Afrika politisch marginalisiert worden ist und
tatsächlich zum vergessenen Kontinent mutiert, der lediglich dann Aufmerksamkeit erzielt, wenn wieder einmal
Bilder von hungernden oder sterbenden Kindern als Ausdruck einer humanitären Katastrophe an unser Mitleid appellieren.
Dass die afrikanischen Länder in der deutschen Außenpolitik - noch, wie ich hoffe - eine niedrige Priorität genießen, halte ich für einen schweren Fehler. Deshalb begrüße ich es sehr, dass es in der Bundesregierung ernsthafte Überlegungen gibt, unsere Afrikapolitik neu zu
justieren.
({1})
Der Deutsche Bundestag will sich mit der heutigen Debatte konstruktiv in diese Diskussion einbringen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Afrikapolitik ist
auch Interessenpolitik. Ich will von den vielfältigen
deutschen Interessen gegenüber Afrika zwei exemplarisch benennen, die in der öffentlichen Diskussion
meines Erachtens nicht die notwendige Aufmerksamkeit
finden: erstens unser existenzielles Interesse an einer stabilen und friedlichen Weltordnung, die ohne Afrika mit
seinen bald 1 Milliarde Menschen nicht möglich ist. Das
bedeutet: Die Länder Subsahara-Afrikas dürfen nicht dem
Staatsverfall, dem Chaos und auch nicht kriminellen und
korrupten Despoten ausgeliefert werden, auch wegen der
Gefahren des Übergreifens solcher Beispiele, wie wir sie
leider zuhauf aus Afrika kennen, auf andere Weltregionen.
Das Auseinanderklaffen der Nord-Süd-Wohlstandsschere verstärkt zusätzlich die weltweite politische Instabilität, deren sichtbare Zeichen der internationale Terrorismus mit all seinen innenpolitischen Implikationen und
natürlich auch der religiöse Fundamentalismus sind. Ich
verweise hierbei auch auf den sich verstärkenden Migrationsdruck, gerade aus Afrika.
Zweitens. Ein weiteres, überragendes Interesse deutscher Politik an Afrika liegt im Erhalt dieses riesigen Ökosystems für den globalen Lebensraum Erde. Dabei müssen wir uns klarmachen, dass Afrika Opfer und weniger
Verursacher der kontinentalen Umweltzerstörung ist.
({2})
Desertifikation, Bodendegradation und hohe Wasserknappheit, verstärkt durch ein hohes Bevölkerungswachstum, und die damit verbundene Erschöpfung und Zerstörung ökologischer Ressourcen sind in jüngster Vergangenheit bereits Ursache für heftige und blutige Konflikte
gewesen. Wenn wir nicht helfen, diese Probleme wirksam
zu lösen, dann werden unsere Kinder und Enkel die Konsequenzen und Auswirkungen teuer bezahlen müssen.
Zur Wahrung dieser zentralen Interessen scheint mir
eine stärkere Gewichtung deutscher Afrikapolitik notwendig zu sein.
({3})
Jeder von uns weiß, dass die Architektur der Weltfinanzen, die hohe Verschuldung, das Abgekoppeltsein von
den Globalisierungsprozessen und die Terms of Trade neben den hausgemachten Ursachen die größten Entwicklungshemmnisse für die Afrikaner darstellen. Nun weiß
auch ich, dass im bilateralen Kontext vieles unzulänglich
und unzureichend bleiben wird. Deshalb sollten die Vertreter der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik im
Rahmen der GASP stärker auf eine Europäisierung der
Afrikapolitik drängen, selbst dann, wenn wir mit französischen, britischen oder auch mit amerikanischen Interessen in Konflikt geraten sollten.
({4})
Erste Schritte hin zu einer europäischen Koordinierung ist
die Bundesregierung - dankenswerterweise - bereits gegangen.
Meine persönliche Afrikaerfahrung lehrt mich, dass
trotz umfangreicher Hilfen, die seit mehr als 30 Jahren geleistet werden, der Armutsgraben noch tiefer geworden
ist, auch deshalb, weil nicht immer die richtigen Prioritäten gesetzt worden sind,
({5})
zu vieles unkoordiniert und in Konkurrenz zueinander geschieht, worunter die Effizienz gelitten hat. Eine Entmythologisierung der weltweiten Entwicklungszusammenarbeit scheint mir deshalb unausweichlich zu sein.
({6})
Dieser Effizienzdebatte müssen wir uns zwar stellen.
Aber diese Diskussion - das fordere ich bewusst als
Außenpolitiker - darf nicht nur unter entwicklungspolitischen Gesichtspunkten geführt werden. Wir müssen
Afrika endlich auch als außenpolitischen Faktor wahrnehmen.
({7})
Dazu gehört auch - das sage ich durchaus kritisch auch in
Richtung Bundesregierung - das Überdenken der Botschaftsschließungen und der unzureichenden Möglichkeiten deutscher Kulturpolitik in Afrika.
({8})
In unserem Engagement für Afrika sollten wir uns trotz
aller Rückschläge, die es in verstärktem Maße in den letzten Jahren gegeben hat und die es leider auch in Zukunft
geben wird, nicht entmutigen lassen. Die Wunden Afrikas, so sagte mir jüngst ein afrikanischer Freund, sind unsere Politiker, die ihre eigenen Interessen vor das Wohlergehen der Menschen stellen. Wir haben - daran sollten wir
uns durchaus erinnern - in der Vergangenheit oft genug
auf das falsche Pferd gesetzt. Jedem Abgeordneten in diesem Hause fallen in diesem Zusammenhang sicherlich
entsprechende Namen ein.
Trotz aller Probleme, die Afrika hat, wage ich eine weitere These: Afrika ist der Kontinent der Zukunft.
({9})
Es wird zwar noch drei oder vier Generationen dauern.
Aber den Afrikanern wird der Übergang von dem riesigen
Spagat, den sie heute noch machen müssen, nämlich mit
einem Bein in der Eisenzeit und mit dem anderen in der
Moderne zu stehen, zum aufrechten Gang gelingen.
Ich gründe meine These auf Beobachtungen, die ich in
den letzten zwei, drei Jahren bei meinen zahlreichen Besuchen in Afrika verstärkt machen konnte. Ich will einige
signifikante Beobachtungen nennen.
Erstens. Zunehmend mehr Afrikaner begreifen den Unterschied zwischen Befreiung und Freiheit.
Zweitens. Die jungen afrikanischen Eliten in Politik,
Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur, die nicht durch den
Unabhängigkeitskampf geprägt sind, erkennen zunehmend, dass die Legitimation von Macht, die sich in den
absolutistischen Attitüden der ehemaligen Guerillakämpfer pervertiert, nicht ausreicht, ein Land zu regieren.
({10})
Drittens. Der historisch zu nennende Wandel in Südafrika, die Beendigung des 20 Jahre währenden grausamen Bürgerkriegs in Mosambik, die Rückkehr Nigerias in
die demokratische Staatengemeinschaft, die jüngsten
Wahlen in Simbabwe, der friedliche Machtwechsel im Senegal, die in vielen afrikanischen Ländern spürbare Verbesserung der Menschenrechtssituation, die Fortschritte,
die sich in der Presse- und Medienlandschaft zeigen, die
Pluralisierung politischer Systeme mit einer Stärkung parlamentarischer Rechte, die in vielen Ländern angestrebte
Dezentralisierung mit dem Ziel einer größeren Teilhabe
der Menschen an politischen Entscheidungen - alles das
sind ermutigende Entwicklungen, zu denen auch deutsche
Afrikapolitik in der Vergangenheit maßgeblich beigetragen hat.
Viertens. Viele politisch verantwortliche Afrikaner haben in der Zwischenzeit erkannt, dass sie in den letzten
40 Jahren ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben.
({11})
Bei meinem letzten Besuch in Tansania hat uns der tansanische Staatspräsident zum Schluss gesagt: Wir haben
40 Jahre lang auf die Geberländer geschaut und gefragt:
Was könnt ihr für uns tun? Dabei haben wir die Frage verdrängt: Was müssen wir eigentlich selbst für uns tun? Ich
finde, das gibt Hoffnung.
({12})
Seien wir uns darüber im Klaren: Wirksame und auf
Akzeptanz ausgerichtete Afrikapolitik beginnt bei uns zu
Hause und sie nötigt uns darüber hinaus, in größeren zeitlichen Dimensionen zu denken. Politik für Afrika erfordert deshalb von uns vor allem Geduld und bis zu einem
gewissen Grade auch Nachsicht; denn wie unsere eigene
Demokratiegeschichte zeigt: Der Weg zu politischer Stabilität ist ein langer und schwieriger Prozess, der bekanntlich auch bei uns nicht frei von Konflikten und Katastrophen war. Auch deshalb sollten wir uns vor Arroganz und besserwisserischer Überheblichkeit gegenüber
unseren afrikanischen Partnern hüten und im Rahmen der
in Sonntagsreden oft beschworenen weltweiten kulturellen Vielfalt akzeptieren, dass die afrikanische Geschichte
lange vor der Kolonisierung mit der Herausbildung eigener Werte, eigener Kulturen und eigener Traditionen begonnen hat.
({13})
Diese ernst zu nehmen erfordert auch, unsere staatsfixierten Entwicklungshilfekriterien kritisch zu hinterfragen
({14})
und beispielsweise darüber nachzudenken, ob die ritualisierte demokratische Debatte nach westlichen Mustern
das afrikanische, konsensorientierte Palaver, gegründet
auf Alter und Weisheit, in allen Fällen ersetzen kann
oder gar muss und ob Formen traditioneller Rechtsfindung der afrikanischen Identität und der Realität nicht
besser entsprechen und dennoch rechtsstaatlichen Prinzipien genügen.
Das heißt für mich: Wir müssen den Afrikanern Zeit
und Gelegenheit lassen, eigene Formen ihres gesellschaftlich organisierten Zusammenlebens zu entwickeln
und diese müssen wir dann auch akzeptieren. Eine fortschreitende Entafrikanisierung und eine kulturelle Entwurzelung der Afrikaner scheint mir der falsche Weg zu
sein, partnerschaftlichen Umgang, der nötig ist, um den
Afrikanern ihre Menschenwürde zurückzugeben, in gleicher Augenhöhe zu pflegen.
Die Koalitionsfraktionen legen deshalb vier Anträge
vor: einen mit dem Titel „Afrikas Entwicklung unterstützen“, der die grundsätzliche Dimension deutscher Afrikapolitik thematisiert. Weil Afrika kein homogener Kontinent ist, sondern - im Gegenteil - eine Region mit höchster Diversität, flankieren wir diesen Antrag aktuell mit
regional- und problemorientierten Handlungsoptionen:
erstens zur Unterstützung eines möglichen Friedensprozesses im Sudan, zweitens zur aktuellen Entwicklung am
Horn von Afrika und drittens zur friedlichen Entwicklung
in Zentralafrika, in der Schlüsselregion der Großen Seen.
Das Bedürfnis nach hoher Aktualität hat leider dazu geführt, dass diese Anträge erst sehr spät vorgelegt worden
sind. Ich bitte um Entschuldigung, aber auch um Verständnis dafür.
Mein letzter Satz, Frau Präsidentin.
Das muss auch wirklich der letzte sein.
Alle Anträge verfolgen das
Ziel, die Bundesregierung aufzufordern und zu ermutiJoachim Tappe
gen, im aufgeklärten deutschen Eigeninteresse noch mehr
für Afrika zu tun und damit auch einen wichtigen Beitrag
zur Krisenprävention zu leisten.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächster Redner für
die Fraktion der CDU/CSU ist der Kollege Rudolf Kraus.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die letzte Afrikadebatte liegt erst kurze Zeit zurück: Sie fand am 18. Februar
dieses Jahres statt. Damals ging es um den Antrag der
CDU/CSU-Fraktion mit der Überschrift „Afrika darf
nicht zu einem vergessenen Kontinent werden“. Dieser
Antrag hat als Positives im Wesentlichen nur eines bewirkt, nämlich dass wir heute wieder über Afrika diskutieren, weil auch die Koalitionsfraktionen entsprechende
Anträge eingereicht haben. Im Übrigen ist seitdem leider
nur ganz wenig bis nichts passiert. Ich entnahm der Rede
meines Kollegen von der SPD, dass offensichtlich auch
viele Kollegen der Koalitionsfraktionen die Situation
ähnlich beurteilen. Einen Teil der Rede, die ich damals gehalten habe, könnte ich praktisch heute wieder vorlesen.
Die Bundesregierung hat keine Initiativen ergriffen, die
erkennen lassen, dass sie wirklich bereit wäre, sich etwas
einfallen zu lassen, was zur Verbesserung der Situation in
Afrika beitragen kann.
({0})
- Herr Dr. Schuster, ich bin ganz sicher, dass gleich noch
aufgezählt wird, was alles an Positivem geleistet wurde;
ich bin darauf gespannt und werde genau zuhören.
Ich habe am 18. Februar 2000 gesagt, dass es in Afrika
eine ganze Menge von Anzeichen für eine bessere Entwicklung gibt. Ich habe festgestellt, dass nach zwei Jahrzehnten der Stagnation und des Niedergangs das Wirtschaftswachstum in Afrika in der zweiten Hälfte der 90erJahre erstmals wieder etwas stärker als seine Bevölkerung
gewachsen ist. Ich habe vorgetragen, dass sich die zunehmende Reformorientierung in Afrika offenbar auf einen
wachsenden Bewusstseinswandel der politisch Verantwortlichen gründet und sich mehr und mehr afrikanische
Regierungen und Entscheidungsträger zu ihrer Eigenverantwortung für die Entwicklung bekennen.
Diese positive Entwicklung stockt allerdings derzeit.
Seit langem gibt es ja die kriegerischen Auseinandersetzungen im Sudan, in Somalia, in Sierra Leone, in Liberia und in der Demokratischen Republik Kongo. Dabei
habe ich noch nicht die Länder aufgeführt, in denen der
Frieden noch immer sehr trügerisch wirkt. Dabei habe ich
in erster Linie die Region der Großen Seen im Auge.
Ganz sicher sind nun zwei Gebiete hinzugekommen, in
denen die kriegerischen Auseinandersetzungen eine ganz
andere Qualität erhalten haben. Ich meine Eritrea und
Äthiopien sowie Simbabwe. Dabei hatten gerade in Simbabwe gute Voraussetzungen für eine weitere demokratische und wirtschaftliche Entwicklung vorgelegen. Es gab
eine ausgedehnte Zivilgesellschaft und es gab einen relativ breiten Mittelstand. Präsident Mugabe legte nunmehr
fest, dass mehr als 600 weißen Farmern gehörende Farmen ohne Entschädigung verstaatlicht werden können,
nachdem er vorher zu Landbesetzungen angestiftet hatte.
Dennoch bleibe ich dabei, dass die Entwicklung der
Zivilgesellschaft in den Ländern Afrikas eine ganz entscheidende Voraussetzung sowohl für eine Hinwendung
zu demokratischen Verhältnissen als auch für eine Besserung der wirtschaftlichen Situation ist.
Doch gerade der Zivilgesellschaft Afrikas droht derzeit
ein weiteres Risiko - besser gesagt: die Katastrophe ist
bereits eingetreten - von einem kaum kalkulierbaren Ausmaße. Ich denke an die Krankheit Aids. Nach zwischenzeitlich vorliegenden Informationen wird es immer
deutlicher, welche schreckliche Bedeutung Aids schon für
die gegenwärtige Situation und vor allem für die zukünftige Entwicklung Afrikas hat.
Kein Staat und kein Kontinent auf der Welt sind so
stark von der Ausbreitung dieser Immunkrankheit betroffen wie Afrika. Schätzungsweise 14 Millionen Menschen
sind daran bereits gestorben. 22 Millionen Menschen sind
infiziert. Man sagt, dass fünf von sechs Erkrankten auf der
ganzen Welt in Afrika leben. Angesichts der Tatsache,
dass dort täglich 5 500 Menschen an Aids sterben und sich
11 000 Menschen neu infizieren kann man erkennen, welche Katastrophe eingetreten ist.
Viele Forscher fürchten, dass sich diese Zahlen in den
nächsten Jahren verdoppeln werden. Bereits heute hat
Aids in den Ländern des südlichen Afrikas zu einer Senkung der Lebenserwartung um zehn Jahre geführt. Es
muss befürchtet werden, dass im nächsten Jahrzehnt die
Lebenserwartung um weitere zehn Jahre zurückgeht. Aids
wird deshalb viele Staaten Afrikas südlich der Sahara in
ihrer Entwicklung um Jahrzehnte zurückwerfen.
Die mittlerweile rund 10 Millionen Aidswaisen stellen
Afrikas bislang größte soziale Katastrophe dar. Sie bedürfen dringend unserer Hilfe, da immer mehr von ihnen
von Vernachlässigung und Ausbeutung bedroht sind, sich
oft als Straßenkinder durchschlagen müssen und keine
funktionierende soziale Umgebung mehr vorfinden.
({1})
Die Ausbreitung von Aids in Afrika hat Auswirkungen
auf ganze Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens.
Das Ausmaß ist von der Größenordnung her ganz sicher
vergleichbar mit den Entwicklungen im mittelalterlichen
Europa, als die Pestepidemien auftraten. Vielleicht dauert
es etwas länger als früher, bis die Menschen in großer
Zahl hinweggerafft werden. Aber letztendlich besteht der
Unterschied nur darin, dass Aids gerade die arbeitsfähigen
und aktiven Jahrgänge betrifft, was das Elend natürlich
gewaltig vergrößert.
Anhand eines prozentualen Vergleichs kann man feststellen, dass in manchen Ländern des südlichen Afrikas in
den nächsten Jahren mehr Menschen ihr Leben verlieren,
als es durch die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges
in Europa der Fall war. Es handelt sich also um eine Katastrophe gigantischen Ausmaßes.
Die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen sind in einem erschreckendem Ausmaße davon betroffen. Es drohen Verelendung, Verrohung und politische Lethargie. Es gibt keine Möglichkeit
mehr, die demokratische Entwicklung voranzutreiben.
Vom Sterben in Würde kann natürlich überhaupt keine
Rede sein. Man muss sich vorstellen, dass in vielen Fällen die Menschen miserabel gepflegt werden und dass die
medizinische Versorgung keinesfalls auch nur annähernd
ausreichend ist. Das ist erklärbar angesichts der Tatsache,
dass die medizinische Versorgung mit Medikamenten für
einen Tag oft mehr kostet, als manche in Monaten verdienen.
Ich glaube, dass gerade ein Industrieland wie die Bundesrepublik Deutschland, aber auch ganz Europa gefordert ist, diesem himmelschreienden Elend wenigstens dadurch zu begegnen, dass man versucht, Medikamente zu
bezahlbaren Preisen bereitzustellen.
({2})
Es müssen furchtbare körperliche, aber auch seelische
Qualen sein, die die Menschen erleiden müssen, wenn sie
erkennen, dass sie nicht gut versorgt werden, und wenn
sie insbesondere mit ansehen müssen, wie ihre Hinterbliebenen ins Elend gestürzt werden.
Aids stellt sich zunehmend als eine Herausforderung
für die deutsche Entwicklungspolitik dar. Es entwickelt
sich in immer größerem Maße zu einem destabilisierenden Faktor in Afrika. Ich möchte an dieser Stelle noch darauf aufmerksam machen, dass das BMZ die Mittel für
die Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika in diesem Jahr insgesamt um circa 20 Prozent gekürzt und damit auf den niedrigsten Stand seit 1972 heruntergefahren
hat.
({3})
- Herr Kollege Hornhues, ich werde es speziell für Sie
noch einmal ganz deutlich sagen: Die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika sind in diesem Jahr
um insgesamt 20 Prozent gekürzt worden und haben damit den niedrigsten Stand seit 1972 erreicht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
zum Schluss meiner kurzen Rede noch ganz kurz auf den
Antrag der Fraktionen der SPD und der Bündnisgrünen
„Afrikas Entwicklung unterstützen“ eingehen. Der Antrag enthält aus unserer Sicht relativ wenig Neues. Er enthält nach meiner Auffassung viele Allgemeinplätze und
gibt der Regierung im Gegensatz zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU keinerlei wirklich konkrete Hinweise,
was in Afrika schnell besser gemacht werden kann und
sollte. Das ist allerdings nicht so schlimm, weil die Regierung, wenn sie denn will, sich an den Antrag der Fraktion der CDU/CSU halten und die in ihm gegebenen konkreten Anleitungen übernehmen kann.
Wegen der kurzfristigen Vorlage der Anträge der Fraktionen der SPD und der Bündnisgrünen „Demokratische
und friedliche Kräfte im Sudan unterstützen“ usw. bestand für uns nicht die Möglichkeit, diese Anträge wirklich einer inhaltlichen Prüfung zu unterziehen. Dennoch
soll bereits heute über diese Anträge abgestimmt werden.
Wir denken, dass das gegenüber der Opposition nicht
ganz richtig ist. Es ist ein Zeichen mangelnden Respekts
gegenüber der Opposition, derartige Dinge so kurzfristig
vorzulegen. Weil aber in diesen Anträgen sicherlich auch
gute Gedanken enthalten sind, werden wir zwar nicht zustimmen, uns aber der Stimme enthalten.
Ich bedanke mich.
({4})
Für die Bundesregierung spricht jetzt der Bundesminister des Auswärtigen,
Joseph Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „The Economist“, eine Wirtschaftszeitung aus Großbritannien, hat
am 13. Mai getitelt: „Hopeless Africa“, hoffnungsloses
Afrika. Ich teile diese Meinung überhaupt nicht. Die Europäische Union hat auch klar gemacht, dass wir uns eine
solche resignative Position, ob wir es wollen oder nicht,
als Europäer, als Bewohner des Nachbarkontinents nicht
erlauben können. Deshalb war der erstmals durchgeführte
Gipfel zwischen der Organisation Afrikanischer Staaten
und der Europäischen Union in Kairo ein so überaus
wichtiges Signal.
({0})
All denjenigen - lassen Sie mich das gleich hinzufügen, Herr Tappe -, die eine verstärkte Europäisierung
unserer Afrikapolitik fordern, sage ich: In der Tat hat
sich die Bundesregierung auf diesem Gipfel dafür eingesetzt und sie hat gegen historisch gewachsene nationale
Eigenheiten, um es ganz diplomatisch zu formulieren,
auch durchgesetzt, dass wir auf dem eingeschlagenen
Weg des engen Kontaktes, der partnerschaftlichen Zusammenarbeit „auf gleicher Augenhöhe“ zwischen den
beiden Nachbarkontinenten weitergehen und insofern
auch eine Verstetigung der Zusammenarbeit auf dieser
Ebene erreichen.
Gestatten Sie mir, verehrter Herr Vorredner von der
Opposition, folgenden Hinweis: Ich glaube, diese Diskussion bringt innenpolitisch nichts, afrikapolitisch aber
schon gar nichts. Denn wenn Ihre Position richtig wäre,
würde dies bedeuten, dass die Bundesregierung eine blühende Afrikapolitik vorgefunden und diese in eineinhalb
Jahren zerschlagen hätte.
({1})
Ihre Analyse der Aids-Problematik erkenne ich als
richtig an. Ein Blick auf die erste Seite der heutigen Ausgabe der „Herald Tribune“ macht klar, um was für ein
wirklich dramatisches Problem es sich dabei handelt. Ich
könnte es mir ganz einfach machen, würde mich dann allerdings auf dasselbe unfruchtbare Niveau der innenpolitischen Auseinandersetzung begeben, wenn ich fragen
würde: Was haben Sie denn in den 16 Jahren Ihrer RegieRudolf Kraus
rungsarbeit gemacht? Dieses Problem hat sich ja nun
wirklich nicht über Nacht aufgebaut, sondern über Jahre,
um nicht zu sagen: weit über ein Jahrzehnt.
Insofern rate ich dringend dazu: Lassen Sie uns diese
Form der Debatte beenden, weil die Afrikapolitik, die
Gott sei Dank auch in der Vergangenheit durchaus breiter
fundiert war, sonst Schaden nehmen würde. Wir würden
damit einer billigen innenpolitischen Münze den Vorrang
vor einer unter schwierigen Bedingungen erreichten gemeinsamen afrikapolitischen Initiative in diesem Haus
einräumen.
({2})
Reden wir doch nicht drum herum: Wir sind uns einig,
dass für die Afrikapolitik mehr getan werden müsste. Die
Verteidigungspolitiker sitzen zusammen und meinen, es
müsste mehr für die Verteidigungspolitik getan werden.
So sitzen alle Fachpolitiker zusammen und denken in erster Linie an ihr Ressort.
({3})
- Ich sage ja auch gar nicht, dass alles eine Frage des Geldes ist. Aber ich wende mich hier gerade an den Oppositionsredner und gerade im Zusammenhang mit dem, was
er gefordert hat, ist vieles eine Frage des Geldes, vor allen Dingen wenn er der Bundesregierung vorwirft,
({4})
dass beim Entwicklungshaushalt Kürzungen in Höhe von
20 Prozent vorgenommen worden seien. Da kann ich Ihnen nur sagen: Sie haben uns einen Haushalt hinterlassen - ({5})
- Nein, das müssen Sie sich anhören.
({6})
Denn wenn Sie meinen, dass es mir Spaß machen würde,
Botschaften und Generalkonsulate zu schließen, oder
wenn Sie meinen, dass es der Kollegin Wieczorek-Zeul
Spaß machen würde, Entwicklungshilfemittel zurückzufahren, statt sie zu erhöhen, und ich würde sie dabei gerne
unterstützen, dann täuschen Sie sich! Ich sage Ihnen: Wir
müssen hier eine Sanierungsphase durchlaufen. Das werden wir auch tun und dann werden gerade in diesem Bereich wieder Aufwüchse zu verzeichnen sein.
Der Zwischenruf „Nicht alles ist eine Frage des Geldes“ ist richtig. Dennoch dürfen wir das Geld nicht vergessen; sonst bleiben wir bei schönen Worten und dabei
wollen wir es nicht belassen. Ansonsten stimme ich Ihnen
darin völlig zu.
Der gegenwärtige Blick auf Afrika - die Vorredner haben es schon dargestellt - zeigt viel Schatten, aber auch
viel Licht. Wenn man realistisch auf Afrika blickt, kann
man meines Erachtens durchaus eine optimistische Position einnehmen. Vor allen Dingen sollten wir keine paternalistische Position einnehmen, schon gar nicht als Europäer.
({7})
Ich will die Geschichte unserer Kontinente nicht vergleichen. Missverstehen Sie mich nicht; ich behaupte
nicht, dass sich Afrika auf dem Stand befindet, auf dem
sich Europa im Jahre 1945 befunden hat. Aber der Blick
etwa auf den europäischen Kontinent im Jahre 1932
zeigte einen Kontinent, der erneut der Selbstzerstörung
entgegentrieb. Die Behauptung einer britischen Zeitung ich glaube, es war die „Times“ -, der Konflikt im Kongo
sei der Erste Weltkrieg Afrikas, ist sicher eine Überspitzung. Und doch hat sie auch etwas Wahres. Wenn ich
heute auf den Balkan schaue, erkenne ich viele Elemente
des Konflikts, den man, mit denselben verderblichen, fatalen Konsequenzen, an vielen Orten in Afrika findet. Für
Paternalismus, für Überlegenheitsgefühle, für eine hochnäsige europäische Haltung gibt es auch und gerade angesichts der kolonialen Vergangenheit überhaupt keine
Veranlassung.
({8})
Deswegen denke ich, ist es das Wichtigste, dass wir unseren Beitrag zu einer neuen Partnerschaft leisten. Neue
Partnerschaft setzt aber voraus, dass man von Gleich zu
Gleich und nicht paternalistisch verkehrt. Sie setzt voraus,
dass man bereit ist, bei einer humanitären Katastrophe,
bei einer Naturkatastrophe großzügig zu helfen. Wir haben dies in Mosambik gezeigt. In Mosambik haben wir im
Zusammenhang mit dem dortigen Aufbau der Krisenbewältigungskapazitäten der Europäischen Union, der
jetzt gemeinsam mit den Skandinaviern vorgenommen
wird, insistiert - mittlerweile haben wir es durchgesetzt -,
gleichzeitig zivile Krisenbewältigungskapazitäten aufzubauen. Dies hat sich als überaus wichtig erwiesen.
Wenn es so ist, dass wir in Zukunft verstärkt mit globalen Katastrophen zu tun haben werden, bei denen sehr
schnell, faktisch aus dem Stand heraus, Hilfe über 10 000
und mehr Kilometer geleistet werden muss, weil die
Möglichkeiten dort regional nicht gegeben sind, dann
müssen wir dafür die entsprechenden Hilfsmittel bereithalten. Das ist eine Konsequenz aus der Erfahrung der
Flutkatastrophe in Mosambik.
Besonders tragisch ist, dass es ein Land nach einem
jahrelangen blutigen, furchtbaren Bürgerkrieg getroffen
hat, das sich auf den Weg einer hoffnungsvollen Entwicklung gemacht hat und in dem nun die Anstrengungen, die
Mühsal, die harte Arbeit der Menschen von Jahren von einem Sturm zunichte gemacht worden sind. Deswegen sehen wir uns in der Pflicht, Mosambik hier nicht allein zu
lassen.
({9})
Gestatten Sie mir, an diesem Punkt auf die Frage zu
kommen: Was habt ihr gemacht? Die Kölner Entschuldungsinitiative, die die Bundesregierung, namentlich
Bundeskanzler Schröder, als zentralen Punkt unserer
G7-/G8-Präsidentschaft durchgesetzt hat, hat vor allen
Dingen die Ärmsten der Armen, überwiegend die afrikanischen Länder, entlastet.
({10})
- Das ist nicht richtig.
({11})
- Da können Sie gerne sagen: Schauen wir einmal. Diese
Initiative hätte ich mir schon viel früher von Ihnen gewünscht.
({12})
Ein weiterer für mich in diesem Zusammenhang sehr
wichtiger Punkt ist, dass wir Acht geben müssen, dass mit
Afrika nicht ein ganzer Kontinent von der Entwicklung
der Weltwirtschaft abgekoppelt wird. Hier im Rahmen
des Lomé-Abkommens einen neuen Akzent zu setzen
war, glaube ich, sehr wichtig. Im Zusammenhang mit der
Informationsgesellschaft auch über die Frage des Analphabetismus zu diskutieren, darauf Acht zu geben, dass
der Graben zwischen der Weltwirtschaft und einem
ganzen Kontinent nicht tiefer, sondern zugeschüttet wird,
wird eine der Hauptaufgaben der zukünftigen Afrikapolitik sein.
({13})
Gleichzeitig wird es darauf ankommen, klarzumachen,
dass partnerschaftliche Zusammenarbeit auch bedeutet,
an die Eigenverantwortung der Afrikaner und vor allen
Dingen der afrikanischen Eliten zu appellieren. Eine gute
Regierung, Demokratie, Transparenz und die Bekämpfung von Korruption, all dies sind keine spezifischen Herausforderungen nur für die Regierungen in Afrika. Das
gilt für Asien, für Amerika und für Europa ganz genauso.
Die Herrschaft des Rechts ist die Voraussetzung einer
rechtsstaatlichen, demokratischen Entwicklung.
({14})
Diese Herrschaft des Rechts hat nichts mit Kulturimperialismus oder mit dem Aufdrücken von fremden Werten zu tun. Ich behaupte vielmehr: Die Herrschaft des
Rechts ist kompatibel mit jeder menschlichen Kultur auf
unserem Globus. Insofern kommt es ganz entscheidend
darauf an, dass einige Grundprinzipien, denen wir uns alle
verpflichtet haben, indem wir die entsprechenden Konventionen der Vereinten Nationen unterzeichnet haben,
tatsächlich durchgesetzt werden. Denn anderenfalls - das
müssen wir immer wieder feststellen - setzt die Abwärtsspirale von Korruption, politischer Unterdrückung und
Unterentwicklung erneut ein. Hier gibt es durchaus beeindruckende positive Entwicklungen. Mosambik habe
ich genannt; Botswana und andere Länder könnte ich hier
zusätzlich anführen.
Gleichzeitig füge ich aber hinzu, dass ich die Entwicklung im südlichen Afrika mit großer Sorge betrachte. Ich
spreche hier nicht von dem tragischen 30-jährigen Krieg
zum Beispiel in Angola. Dies ist eine furchtbare Tragödie.
Ich spreche hier nicht von der Tragödie am Horn von
Afrika. Ich spreche hier nicht von der verantwortungslosen Absurdität des Krieges zwischen Eritrea und Äthiopien. Ich spreche auch nicht von dem 30-jährigen Bürgerkrieg im Sudan oder von der furchtbaren Barbarei in
Westafrika. Das alles sind Katastrophen, denen wir uns
zuwenden müssen und angesichts derer es im Rahmen der
Mittel, die wir haben, unserer Solidarität bedarf. Ich spreche hier vor allen Dingen von Simbabwe und der Entwicklung im südlichen Afrika. Denn ich glaube, unsere
Afrikapolitik darf keine kontinentale sein. Vielmehr brauchen wir einen Ansatz im Hinblick auf eine regionale
Stabilisierung. Das ist für mich der entscheidende Punkt.
({15})
Deswegen kommt Ländern wie Südafrika und Nigeria
eine überragende Bedeutung zu. Selbst unter den Bedingungen der Militärdiktatur, die hier im Hause zu Recht
scharf kritisiert und bekämpft wurde, war Nigeria für
Westafrika ein entscheidender Stabilitätsanker. Dies dürfen wir nie vergessen.
Vor dem Hintergrund einer regionalen Stabilisierung
macht mir die Entwicklung im südlichen Afrika in der Tat
sehr große Sorgen. Warum? Weil in der Frage der Landverteilung en masse Sprengstoff verborgen liegt. In Simbabwe, in einem Land, das zu den potenziell reichsten
Ländern gehört und eigentlich ein Stabilitätsanker sein
müsste, wird zum Zweck des Machterhalts und zulasten
der dortigen Demokratie mit der offenen Fackel im
Sprengstoffschuppen hantiert. Das kann Auswirkungen
auf das gesamte südliche Afrika, auf Südafrika und Namibia, haben.
Wir müssen ein überragendes Interesse daran haben,
dass Südafrika jenen vom Vorredner zu Recht als großartig bezeichneten demokratischen Weg hin zu Versöhnung,
Aussöhnung und Entwicklung - auch unter schwierigen
Bedingungen - weiter erfolgreich geht.
Wir haben ebenso ein Interesse an einer Entwicklung
in Namibia, die nicht rückwärts läuft. Das hängt allerdings davon ab, ob die Frage der Landverteilung friedlich
gelöst wird oder ob sie gegen die Demokratisierung und
zum Zwecke des Machterhalts instrumentalisiert wird. Insofern kommt dieser Frage aus unserer Sicht eine überragende Bedeutung zu.
Die Demokratisierung und die Herrschaft des Rechts,
die Stärkung regionaler Stabilisierungsbemühungen regionaler Organisationen, aber natürlich auch die Stärkung
der Eigenkräfte, auch der ökonomischen Eigenkräfte,
sind also die Elemente einer neuen Afrikapolitik.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Punkt aufnehmen, den der verehrte Vorredner der Opposition angesprochen hat: Ich freue mich, dass Sie das Thema Aids so
stark in den Mittelpunkt gerückt haben. Sie haben in der
Tat Recht - der Bundesverteidigungsminister, die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung und ich haben das auf unseren Reisen nach
Afrika mitbekommen -: Die Gefahr, die von AIDS ausgeht, die Zerstörung der Kultur, der Sozialstruktur in
ihrem innersten Kern, nämlich der Familie, ist auch eine
politische Gefahr, die Gefahr der sozialen Destabilisierung. Diesem Problem müssen wir uns dringend zuwenden. Das ist eine Aufgabe, die Deutschland nicht alleine
lösen kann. Hier ist in der Tat die Europäische Union gefragt, hier liegt ein weiterer Europäisierungsansatz in der
Afrikapolitik. Das ist für mich ein ganz entscheidender
Punkt.
Trotz aller Unterschiede, die es zwischen Regierung
und Opposition wohl geben muss, stelle ich aber ein hohes Maß an Übereinstimmung fest. Entlang der Grundsätze, die ich Ihnen hier dargestellt habe, werden wir, die
Bundesregierung, die neue Afrikapolitik der regionalen
Stabilisierung entwickeln. Wir werden versuchen, sie mit
den vorhandenen Mitteln umzusetzen, eng eingebunden
in eine neue Afrikapolitik der Europäischen Union.
Ich bedanke mich.
({16})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht jetzt der Kollege Joachim Günther.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der afrikanische Kontinent stellt für die Außen- und Entwicklungspolitik eine besondere Herausforderung dar. Dort leben
über 800 Millionen Menschen, etwa 580 Millionen südlich der Sahara. Beinahe 200 Millionen Afrikaner sind
chronisch unterernährt. 23 Millionen Kinder leiden an
Mangelernährung. 6 Millionen Menschen in Afrika sind
Flüchtlinge.
Trotz dieser im Vergleich zu anderen Regionen der
Welt schlimmen Gesamtbilanz wäre es falsch, von einem
allgemeinen Afropessimismus zu sprechen. Vielmehr
muss die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Afrika differenziert beurteilt werden. Eine Reihe
afrikanischer Staaten hat, vor allem bei der Demokratisierung, eine beachtliche Entwicklung erzielen können. In
20 afrikanischen Staaten liegt das reale Wachstum inzwischen bei 4 bis 6 Prozent. Die Lebenserwartung der Menschen in Afrika ist seit 1960 um 25 Prozent gestiegen; die
Gefahren der Gegenwart wurden vorhin bereits aufgeführt. Der Zugang zur schulischen Ausbildung vor allem
für Mädchen wurde verbessert. Diese Entwicklung zeigt,
dass sich Anstrengungen zur Förderung von Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit und sozialer Marktwirtschaft tatsächlich lohnen.
Diese Erfahrung zeigt aber auch, dass in Afrika die Regierungen und Eliten der Länder die Hauptverantwortung
für die Entwicklung ihrer Länder tragen. Dort, wo sie sich
ernsthaft um politische, rechtsstaatliche und wirtschaftliche Reformen bemühen, ist unsere volle Unterstützung
zugesagt. Aber dort, wo Regime vorsätzlich vom Grundsatz der guten Regierungsführung abweichen, wo sie
wichtige Ressourcen verschwenden und wo die Korruption ständig zunimmt, müssen wir - vielleicht deutlicher
als in der Vergangenheit - Konsequenzen ziehen.
({0})
Jede noch so gute Entwicklungszusammenarbeit kann
zur wirtschaftlichen Entwicklung nur einen begrenzten
Beitrag leisten. Wir müssen uns von der Vorstellung lösen,
die Armut in Afrika allein durch Finanztransfers oder groß
angelegte Entschuldungsaktionen bewältigen zu können.
Die Regierungen in Afrika müssen ihre Märkte vom staatlichen Dirigismus befreien, Landreformen zulassen und
für klare Eigentumsverhältnisse sorgen. Wenn es nicht gelingt, eine solche Entwicklungsstrategie für die ländlichen
Räume zu schaffen, wird der Drang zur Bildung von nicht
mehr lenkbarer Verstädterung in diesen Bereichen noch
viel größer.
Dreh- und Angelpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung ist aus unserer Sicht ein verstärkter Einsatz marktwirtschaftlicher Instrumente. Dazu gehört in erster Linie die Förderung und Entwicklung des Finanzsektors.
Wesentliche Elemente sind unter anderem der Zugang
zu Kleinkrediten, der Aufbau von Dorfbanksystemen, die
Ausbildung von Bankfachleuten, eine stabile Geldpolitik
der Entwicklungsländer und Rechtssicherheit im Finanzwesen. Ebenso wichtig ist die Unterstützung beim Aufbau
eines effizienten Dienstleistungssektors sowie im Verkehrs- und Kommunikationsbereich.
Ganz entscheidend für die Entwicklungschancen unserer Partnerländer ist darüber hinaus ihre volle Teilnahme
am freien Welthandel. Handel ist besser als Hilfe. Die
Beispiele vieler erfolgreicher Schwellenländer belegen,
dass es nur dort, wo eine konsequente Deregulierung stattfindet, zur nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung
kommt. Dies bedeutet aus unserer Sicht selbstverständlich auch, dass unsere eigene Handelspolitik auf den Prüfstand gehört: der Abbau von Handelshemmnissen vor allem im Agrar- und Textilbereich sowie die Beendigung
marktverzerrender Subventionspolitik, um nur wenige
Punkte anzusprechen.
Vor diesem Hintergrund ist es besonders bedauerlich,
dass im Rahmen der Haushaltskürzungen nicht nur Afrika
betroffen ist, sondern auch die freiwilligen Beiträge für
internationale Organisationen heruntergefahren werden
mussten. Wie steht es so schön in dem Antrag, den wir gerade beraten? Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, insbesondere die Intensivierung und
Ausweitung des politischen Dialogs als Instrument zu etablieren. Das ist richtig; das unterstützen wir. Aber wie
sieht die Realität aus, Herr Außenminister? Massive
Schließungen von Botschaften in Afrika in einer Zeit, in
der dieser leidgeprüfte Kontinent verzweifelt nach Auswegen aus seiner Misere sucht und auf Partnerschaften,
wie Sie es vorhin betont haben, besonders angewiesen ist.
Bei allem Verständnis für die Haushaltszwänge hätte
man sich kreativere Lösungen als eine ersatzlose Schließung von Botschaften vorstellen können.
({1})
Für die betroffenen Länder ist der Abzug des deutschen
Botschafters und seines Personals ein verheerender Rückschlag in ihren Reform- und Entwicklungsbemühungen.
Wie soll man es zum Beispiel der Regierung des Tschad
vermitteln, dessen Bevölkerung von Hungersnöten bedroht ist, dass das reiche Deutschland kein Geld mehr für
den Unterhalt einer kleinen Botschaft hat? Aus der Sicht
dieser Länder bedeutet der Abzug praktisch den Abbruch
der Beziehungen. Der hierdurch entstandene Schaden,
Herr Außenminister, kann auch durch noch so viele Reisen von Ihnen nach Afrika nicht ausgeglichen werden.
({2})
Nach der Afrikakonferenz, nach Ihrer Afrikareise und
auch nach Ihrer heutigen Rede, Herr Außenminister, habe
ich immer noch keine konzeptionellen Grundlinien einer Afrikapolitik feststellen können. Welche Vorstellungen hat die Bundesregierung für die Beilegung der Konflikte im Kongo und um die Großen Seen in Zentralafrika? Welche Vorstellungen hat die Bundesregierung für
einen Friedensprozess im Sudan?
({3})
Wir brauchen noch viele Antworten auf diesem Gebiet.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, große
Teile dieses Antrags können von uns mitgetragen werden.
Einzelne Punkte, zum Beispiel eine neue Entschuldungsinitiative - die erste ist noch nicht einmal voll abgeschlossen - bedürfen weiterer Diskussionen. Aber eines
müsste die Koalition doch heute machen - auch Herr
Tappe hat darauf hingewiesen -: Sie müsste zu einem
Sturm auf das Außenministerium ansetzen, damit ein
großer Teil der deutschen Botschaften in Afrika als ein
Eckpfeiler unserer Politik erhalten bleibt.
({4})
Aus diesem Grund, meine Damen und Herren, werden wir
uns der Stimme enthalten.
({5})
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Carsten Hübner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorweg eine kurze Bemerkung,
weil Afrika wieder einmal gegenüber einem Land des reichen Nordens den Kürzeren gezogen hat: Die Fußballweltmeisterschaft wird in Deutschland und nicht in Südafrika stattfinden. So sehr das hier viele begrüßen mögen,
fände ich es doch ganz gut, wenn der Vorschlag unseres
Fraktionsvorsitzenden aufgegriffen würde und im Gegenzug ein Maßnahmenpaket geschnürt würde, um der Basissportentwicklung in Afrika von deutscher Seite etwas
mehr Gewicht zu verleihen, als es bisher der Fall ist. Das
wäre zumindest im Ansatz ein Ausgleich.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mit einer
ganz kritischen Bemerkung beginnen; denn ich befürchte,
dass wir mit der Afrikadebatte, wie wir sie heute führen,
nachdem sie relativ kurzfristig angesetzt worden ist, weder dem Thema noch den Fachpolitikern einen wirklichen
Gefallen tun und auch wenig zur Lösung der Probleme
beitragen können.
Ich möchte dies im Namen einer kleinen Oppositionspartei ganz kurz erläutern: Drei Anträge, und zwar die Anträge „Friedensbemühungen am Horn von Afrika verstärken“ - er umfasst fünf Seiten -, „Demokratische und
friedliche Kräfte im Sudan unterstützen“ - er umfasst acht
Seiten - und „Konflikt in der Region der Großen Seen eingedämmt - nicht gelöst“ - er umfasst sieben Seiten -, sind
am gestrigen Tag eingereicht worden. Das ist aus meiner
Sicht ein unhaltbarer Zustand; denn das offenbart, dass
eine wirkliche parlamentarische Beratung und eine entsprechende Vorbereitung offenbar nicht im Sinne der Antragsteller oder der zuständigen parlamentarischen Geschäftsführer lag. Hinzu kommt, dass über all diese Anträge heute abgestimmt wird. Das heißt, eine Beratung in
den Ausschüssen ist ebenfalls nicht möglich.
Ich möchte auch darauf hinweisen, dass die Anträge,
die zum Teil von strategischer Bedeutung sind und in denen wirklich gut aufgezeigt wird, wo die Probleme liegen,
heute zur Abstimmung stehen, während der Antrag, in
dem der sofortige Handlungsbedarf angesprochen wird,
nämlich der Antrag „Abschiebestopp für Flüchtlinge aus
Äthiopien und Eritrea“, zur Beratung an die Ausschüsse
überwiesen werden soll, was heißt, dass er frühestens
Ende September aufgerufen wird. Ich sage Ihnen: Das ist
eine unhaltbare Praxis. Deswegen ziehen wir unseren Antrag heute zurück. Das machen wir nicht mit.
({1})
Meine Damen und Herren, viele Absichtserklärungen
des Antrags „Afrikas Entwicklung unterstützen“ teile ich,
denn es sind gute Ansätze, über die wir diskutieren können und möchten. Leider sind nur wenige konkrete Maßnahmen und keine zeitlich fixierten Maßnahmen enthalten. Das bedauern wir sehr. Die besondere deutsche Rolle,
der besondere EU-Prozess und die Rolle Deutschlands
darin werden nicht entsprechend untermauert und das
konzeptionell Neue tritt nicht wirklich in den Vordergrund.
Auch ich möchte noch einmal deutlich machen, wie
sich die Situation derzeit in Afrika gestaltet. Einige Daten
wurden schon genannt. Ich möchte noch einige hinzufügen.
Die Verschuldung der afrikanischen Staaten ist von
250 Milliarden US-Dollar in den 80er-Jahren auf inzwischen 360 Milliarden US-Dollar gestiegen. Ich finde es
richtig, dass wir die Entschuldungsinitiative, so wie sie
bisher in Fahrt gekommen ist, nur als einen ersten Teilerfolg begreifen; denn die Summe der Entschuldung - und
diese bezieht sich nicht nur auf Afrika - beläuft sich noch
nicht einmal auf 110 Milliarden US-Dollar, auf den Betrag, um den der Schuldenstand Afrikas gestiegen ist.
Die Direktinvestitionen sind in den letzten Jahren - Sie
haben darauf hingewiesen, dass Handel manchmal sinnJoachim Günther ({2})
voller ist als Helfen, das mag auch sein - auf weniger
als 1 Prozent weltweit gesunken. Afrika hat nur einen
1,5-prozentigen Anteil am Welthandel. Das sind doch Indizes, die deutlich machen, wie dramatisch die Situation ist.
Es gibt Millionen von Flüchtlingen. Das sind Binnenflüchtlinge, Flüchtlinge vor wirtschaftlicher Not, vor
Elend, Hunger und Katastrophen, aber natürlich auch vor
kriegerischen Auseinandersetzungen. 19 von 48 afrikanischen Staaten sind direkt in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt.
Meine Damen und Herren, vor dem Hintergrund dieser
Zahlen möchte ich nur ganz kurz deutlich machen, welche Fragestellungen mir in diesem Antrag nicht genügend
gewürdigt werden. Nicht hervorgehoben ist zum Beispiel
die Forderung des NGO-Netzwerkes Jubilee 2000 South,
also des Südablegers der Erlass-Jahr-Kampagne, nach einem vollständigen und sofortigen Schuldenerlass und
nach Maßnahmen, die die Schuldenlast wirklich reduzieren. Es darf keinen langen Prozess geben. Im Rahmen der
Schuldeninitiative hat man sich, wenn ich richtig informiert bin, bisher zunächst auf Uganda konzentriert.
({3})
- Gut. Mosambik ist im Zusammenhang mit der Flutkatastrophe in ein Sofortprogramm aufgenommen worden.
Dort ist es aber nicht über die Initiative so schnell zu einer Entschuldung gekommen.
Es gibt keine besondere Förderung und Protektion der
kleinen und mittleren Unternehmen, stattdessen setzten
wir weiter auf die Marktöffnung. Ich erinnere nur an das
neu ausgehandelte Lomé-Abkommen, das schrittweise
Deregulierungen vorsieht und in dem die WTO weiterhin
den Bezugspunkt unserer Zusammenarbeit darstellt.
({4})
Es gibt auch keine konkreten Maßnahmen in diesem Antrag, durch die die Süd-Süd-Zusammenarbeit verstärkt
unterstützt werden soll. Es geht jetzt darum, das nicht immer nur zu proklamieren, sondern mit ganz konkreten
Maßnahmen zu untermauern. Auch auf eine ganz konkrete und strikte Initiative im Bereich des Waffenhandelsverbots, zumal für Kleinwaffen, die in den Konflikten im
Wesentlichen zum Tragen kommen, ist in dem Antrag
nicht deutlich genug Bezug genommen worden.
Herr Kollege Hübner,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
Ein letztes Wort: Zu Aids ist
viel gesagt worden. Ich sage Ihnen, welches das Problem
von Aids ist: Das Problem ist nicht allein, dass es eine
Krankheit ist. Vielmehr ist es auch zu einem soziokulturellen Problem für Afrika geworden. Darauf hat der
Außenminister hingewiesen. Aidsbekämpfung ist teuer.
Wenn wir dieses Geld nicht von hier aus einsetzen, wenn
wir unsere Unternehmen, die hiergegen wirksame Präparate entwickelt haben, nicht dazu bringen, sie zu günstigeren Preisen zur Verfügung zu stellen, werden wir in
Afrika eine Katastrophe nicht absehbaren Ausmaßes erleben.
Danke.
({0})
Für die SPD-Fraktion
spricht jetzt die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie WieczorekZeul.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich teile
die Auffassung der Kolleginnen und Kollegen, die gesagt
haben, dass Afrika trotz aller großen Probleme, die sich
für diesen Kontinent stellen, im 21. Jahrhundert Riesenchancen hat. Dies ist nicht nur meine persönliche Überzeugung, sondern auch die Weltbank hat dies in ihrer
jüngsten Studie ausdrücklich noch einmal belegt. Sie hat
aber deutlich gemacht, dass auch in Afrika selbst Veränderungen notwendig sind. Diese betreffen Investitionen
zugunsten der Menschen, der Bildung und der Gesundheit. Die Wirtschaftsstrukturen müssen im Rahmen der
Möglichkeiten verändert und entsprechende Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Veränderungen sind
auch im Bereich der verantwortlichen Regierungsführung
und Krisenlösung notwendig. Natürlich müssen auch die
internationale Gemeinschaft sowie die einzelnen Geberländer ihrer Verantwortung gegenüber diesen Ländern
und dem Kontinent gerecht werden.
Heute ist nicht der Tag, dies im Einzelnen darzustellen.
Dies haben wir schon gemacht. Aber ich sage noch einmal
zur Erinnerung: Erstens. Im Rahmen des Lomé-Abkommens, welches die Voraussetzungen dafür schafft, dass
diese Länder unter veränderten Wirtschaftsstrukturen im
Rahmen ihrer Möglichkeiten vom internationalen Wettbewerb profitieren können, hat es gerade jetzt eine Zusage
über 13,8 Milliarden Euro gegeben. Deutschland ist zu
23 Prozent daran beteiligt.
Zweitens. Die Entschuldungsinitiative wird vor allen
Dingen für die afrikanischen Länder 50 Milliarden DM der größte Teil der Länder, die davon profitieren, liegt in
Afrika - bringen.
Drittens. 42 Prozent der Mittel unserer gesamten bilateralen Entwicklungszusammenarbeit fließen in den Bereich des afrikanischen Kontinents. Dies sage ich, damit
diejenigen, die hier anderes behauptet haben, das richtig
stellen können.
({0})
Ich möchte heute Abend drei Punkte ansprechen, bei
denen wir konkret handeln können. Es kommt darauf an,
dass wir nicht nur reden, sondern auch handeln. Ich
möchte sagen, was ich für besonders wichtig halte. Dies
mache ich deshalb, weil afrikanische Regierungen dies
uns gegenüber ansprechen:
Erstens. Die Erhöhung der Rohölpreise bedeutet eine
dramatische Verschlechterung der Terms of Trade für die
afrikanischen Länder und besonders für diejenigen afrikanischen Länder, die kein Erdöl produzieren, sondern es
importieren. Die Preissteigerungen der OPEC - das wissen Sie alle - haben schon bei unseren Autofahrern Unmut verursacht. Aber in Afrika bedeutet das, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass aufgrund der vorhandenen
Struktur ganze Wirtschaften zerrüttet werden. Angesichts
dessen ist das, was wir hier in Deutschland diskutiert haben, wirklich nur ein kleiner Ansatz.
Sie müssen sich vorstellen, dass dies Länder sind, die
erstens durch die Rohölpreissteigerungen stärker betroffen sind und die dies zweitens nicht durch Erlöse aus ihren
eigenen Rohstoffen ausgleichen können, sodass sich die
Terms of Trade dramatisch zu ihren Lasten verschlechtern. Afrikanische Länder sind im Übrigen weit mehr von
der Erhöhung als andere Regionen betroffen, denn die
Preissteigerungen fallen dort aufgrund der geringeren
Einkommen sehr viel stärker ins Gewicht. Außerdem sind
Preisschwankungen für Rohölimporte für viele afrikanische Länder, die sich ohnehin schon in einer schwierigen
Situation befinden, ein weiterer Faktor der Destabilisierung.
Welche Handlungsmöglichkeiten gibt es? Wir werden
zwei Aspekte in den Vordergrund stellen, weil die afrikanischen Länder dies von uns erwarten. Erster Aspekt: Wir
unterstützen die Länder - die internationale Gemeinschaft
muss das gemeinsam machen - bei der Reform ihres
Energiesektors. Diese Länder haben nach Berechnungen
der Weltbank durch ineffiziente Beschaffungsverfahren
schon jetzt einen Verlust von rund 1 Milliarde US-Dollar.
Es ist auch bekannt, dass afrikanische Länder wesentlich
höhere Importpreise zu bezahlen haben, weil sie gegenüber den Öl exportierenden Ländern eine schlechtere Verhandlungsposition haben. Das heißt für uns, die Reform
des Energiesektors mit voranzubringen. Auch die erneuerbaren Energien sind ein ganz zentraler Punkt bei der
Veränderung der Position dieser Länder.
({1})
So viel Entwicklungszusammenarbeit können wir im
Haushalt gar nicht vorsehen, wie angesichts der schon
jetzt spürbaren negativen Auswirkungen der Entwicklung
notwendig ist.
Der zweite Aspekt: Ich habe beantragt, diese Frage auf
die Tagesordnung der Septembersitzung der Weltbank zu
setzen, weil ich der Meinung bin, dass die dort vertretenen Länder - das sind Öl exportierende und Öl importierende Länder und andere Industrieländer - gemeinsam
über diese dramatische Situation diskutieren müssen und
dass wir Mechanismen der Unterstützung seitens Weltbank und IWF überprüfen und in Gang bringen müssen,
damit konkret gehandelt wird.
Ein zweiter Punkt: Aids. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung unterstützt in diesem Jahr mit
Neuzusagen von 55 Millionen DM konkrete Projekte, die
diese Krankheit, diese Epidemie unmittelbar bekämpfen,
und zwar in allen Bereichen. Die Weltbank wird auf unsere Initiative hin Mittel im Umfang von 500 Millionen DM für die Bekämpfung dieser Pandemie, dieser
Seuche, dieser dramatischen Gefährdung zur Verfügung
stellen. Auf dem bevorstehenden G8-Gipfel wird das eines der zentralen Themen sein.
Aber ich sage an dieser Stelle auch: Die Länder sind
mitverantwortlich. Ich weiß nicht, wie es bei meinen Vorgängern war, aber ich spreche bei jeder politischen Reise
gegenüber den höchsten Repräsentanten an, dass sie Leadership zeigen müssen; denn Verschweigen heißt Tod. Die
Regierungschefs, die Präsidenten sind selbst für Aufklärung im Land verantwortlich. Nur wenn das Verschweigen endlich durchbrochen wird, wenn nicht der Eindruck
vermittelt wird, es sei ein Tabu,
({2})
werden die Menschen im Land selbst ihr Verhalten ändern. Denn gegen Aids kann man sich schützen: entweder
durch Treue, durch Abstinenz oder durch Kondome. So
hat es eine in Afrika erfolgreiche Initiative aufgezeigt.
Das muss zum Thema gemacht werden. Die Diskussion
muss von der Spitze der betroffenen Länder geführt werden. Es gibt diese Verantwortung.
Vor allen Dingen soll damit auch Hoffnung geschaffen
werden. Uganda hat das so gemacht. Der dortige Präsident Museveni hat das so gemacht. Er hat die Themen angesprochen. Damit hat sich die Zahl der Neuinfizierungen
im Land drastisch reduziert. Es gibt also auch Hoffnung.
Es ist nicht so - das wäre ja schrecklich -, dass die Seuche unaufhaltsam wäre. Durch Verhaltensänderung, durch
öffentliche politische Diskussion in Afrika selbst kann etwas verändert werden.
({3})
Dritter und letzter Punkt - auch da sind wir betroffen -: gute Regierungsführung. Das ist auch ein ganz
konkreter und praktischer Punkt. Es ist zum Beispiel unerträglich, wenn Diamanten, an denen Blut klebt, in den
Handel gelangen. In Sierra Leone terrorisieren kriminelle
Banden, die sich fälschlicherweise Rebellen nennen, die
Bevölkerung. Sie hacken den Leuten die Gliedmaßen ab.
Sie wollen an die Diamantenfelder; denn sie wollen mit
dem Verkauf von Diamanten ihr verbrecherisches Handwerk finanzieren. Deshalb sind die Industrieländer und
auch die Diamantenindustrie aufgefordert, ihre Verantwortung wahrzunehmen. Diese Quelle der Kriegsfinanzierung muss zum Versiegen gebracht werden.
({4})
- Das kostet kein Geld.
Ich begrüße deshalb nachdrücklich, dass der UN-Sicherheitsrat auf Initiative der britischen Regierung gestern Nacht ein Diamantenhandelsverbot gegen Sierra
Leone verhängt hat. Ich plädiere dafür, dass es auf absehBundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul
bare Zeit aufrechterhalten bleibt und damit Konsequenzen
gezogen werden.
({5})
Frau Kollegin, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
Danke, Frau Präsidentin.
Ich wollte zum Schluss sagen: Sie sehen die strukturellen Zusammenhänge. Wir müssen uns jedes Mal ein
Element heraussuchen, wo wir bezüglich der strukturellen
Fragen mit unserem eigenen Engagement etwas verändern können.
Die Bundesregierung und ich als Entwicklungsministerin sind angetreten, diese Verantwortung wahrzunehmen. Wir nehmen sie wahr, weil wir wissen: Afrika ist ein
Kontinent, der große Hoffnungen hat, ein Partnerkontinent, eine Region mit großen Chancen. Wir können dazu
beitragen, dass die Chancen dieses Kontinentes genutzt
werden.
Ich danke Ihnen sehr.
({0})
Der letzte Redner dieser Debatte ist der Kollege Dr. Karl-Heinz Hornhues für
die Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Man kann kritisieren, dass
uns von der Regierungskoalition bergeweise Papier auf
den Tisch gelegt wird. Wahrlich; denn es ist sehr viel zu
lesen. Vieles ist gar nicht so schlecht oder sogar ganz gut.
({0})
Ich bin dafür, es nicht zu sehr zu kritisieren, weil ich jede
Gelegenheit als begrüßenswert empfinde, über Afrika reden können.
({1})
Steter Tropfen höhlt den Stein. Vielleicht kommen wir
doch zu dem Punkt, dass im Rahmen der unendlichen Prioritäten der jetzigen Bundesregierung die Priorität Afrika,
von der wir heute einiges gehört haben, tatsächlich von
der letzten Position der Prioritätenskala ein paar Millimeter näher an die anderen Prioritäten herangerückt wird.
Wenn wir ehrlich sind, Herr Außenminister, müssen
wir uns ja wohl darüber im Klaren sein: Wenn man über
Afrika spricht, steht es für einen Moment im Mittelpunkt
unseres Interesses. Kaum haben wir den Saal verlassen,
bleiben vielleicht die paar „Afrikafans“, wie Herr
Schuster in der Regel zu sagen beliebt, noch übrig, um
sich weiter darum zu kümmern. Sie finden sich dann zur
nächsten Debatte wieder zusammen, um erneut zu fordern.
Ich fand es bemerkenswert, dass sich der Außenminister zu den Anträgen der ihn tragenden Koalitionsfraktion
nicht geäußert hat. Ich unterstelle Ihnen, Herr Außenminister, dass Sie keine Gelegenheit hatten, die Anträge zu
lesen. Es steckt eine ganze Menge an Forderungen darin,
was das Außenministerium alles tun soll. Ich finde es
schon bemerkenswert und warte auf die nächste Debatte,
damit wir abfragen können, was die Bundesregierung
dem Petitum des Kollegen Tappe folgend alles getan hat,
um die Probleme vielleicht einen Millimeter näher an die
Lösung heranzubringen.
({2})
- Ja, ich finde es ja prima. Ich wollte nur den Außenminister daran erinnern, damit er es nicht vergisst, weil er es
eben noch nicht gesagt hat.
Ich habe noch einen zweiten Punkt, nur damit sich die
Legenden in diesem Lande nicht allzu fest graben: die
Schuldeninitiative. Meine sehr geehrten Damen und
Herren, ich höre ja, etwas fängt schon an, real wirksam zu
werden. Es sei nur zu Protokoll gegeben, dass Schulden
erlassen keine Erfindung von Ihnen ist. Ich finde es löblich, wenn sie es weiter betreiben.
({3})
Bis zum Ende unserer Regierungszeit sind immerhin
9 Milliarden DM Schulden erlassen worden. Wir fragen
dann noch einmal nach.
({4})
- Herr Kollege, auch da ist einiges geschehen, wie Sie
ganz genau wissen. Wenn Sie bilateral weitermachen,
finde ich das ganz prima.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, nehmen Sie
bitte zur Kenntnis: Es ist keine völlig neue Erfindung von
Ihnen. Es gab schon vorher ein Nachdenken über Probleme.
Worum geht uns in der Sache, wenn wir über Afrika
diskutieren? Glücklicherweise hat sich inzwischen immerhin hier weitgehend durchgesetzt: Es geht vor allen
Dingen auch um unser ureigenes Interesse, nämlich um
die Frage, wie wir mit einem Kontinent weiterleben wollen, der wie kein anderer von Krisenkatastrophen geschüttelt und gebeutelt ist. Es ist unser Nachbarkontinent.
Wir können das Problem Afrika nicht den Mitgliedern der
südlichen Länder der Europäischen Union als Privatproblem überlassen. Vielmehr müssen wir begreifen, dass
auch wir uns immer stärker diesem Problem zuwenden
müssen, damit unsere Partner in der Europäischen Union
auch bereit sind, auf uns zu hören, wenn wir größere
Probleme haben, die vielleicht in Mittelosteuropa und
nicht an dem Mittelmeerrand liegen, und bereit sind, diese
Probleme mit uns gemeinsam anzugehen.
Das heißt: Unser Bemühen, für Afrika mehr zu tun, hat
auch den Hintergrund - das sollten wir unseren Mitbürgern sagen -, dass wir für andere Probleme, mit denen unsere Partner stärker kämpfen, mehr Verständnis haben
müssen. Dabei ist durchaus eine gehörige Portion Egoismus vorhanden, wenn wir uns um diese Probleme kümmern.
Wenn wir uns die Frage stellen, was man tun könne,
taucht als erstes Stichwort sofort der Begriff der Prävention auf. Der bedeutendste Teil der Prävention ist die Entwicklungszusammenarbeit, die wir betreiben. Ich will
nicht in eine Debatte darüber einsteigen, was gut oder
schlecht ist. Ich will aber eines anmerken: Es wird immer
weniger für die Entwicklungszusammenarbeit ausgegeben. Ich fand es heute insoweit gut, dass die Frau Ministerin nicht wie beim letzten Mal versucht zu erklären, dass
es zwar weniger, aber trotzdem mehr sei. Was immer der
Grund für die Reduzierung sein mag, es ist weniger. Es ist
ein Problem, anderen deutlich machen zu müssen, warum
wir mehr tun wollen, aber weniger Mittel dafür zur Verfügung stellen.
Einer Europäisierung stimme ich zu, es sei denn, es
würden bestimmte Zwecke damit verfolgt. Wenn dahinter
steckt, mehr Zusammenarbeit in Richtung Europa mit
dem Gedanken zu machen, die sollen das tun, damit wir
aus dem Schneider sind, muss man dies offen sagen, ohne
das Bemühen der Europäisierung überzustrapazieren.
Wenn Europäisierung aber meint, die deutsche Bundesregierung und der Deutsche Bundestag wollen sich verstärkt darum bemühen, dass Europa insgesamt mit uns da wir nicht die Kleinsten sind, auch sehr stark mit uns eine Afrikapolitik entwickelt, die sich in einem für uns für
notwendig gehaltenen Maße in Afrika einmischt und als
Partner zur Verfügung steht, dann, Herr Außenminister,
müssen wir zwingend darüber diskutieren, was die
Schließung von Botschaften bedeutet. Dies ist mit dem
Argument, es habe an Geld gefehlt, nicht zu beantworten.
({5})
Ich kann nicht sagen, ich wolle Krisenprävention machen,
und kappe dabei eines der wenigen Instrumente. Dies ist
besonders schlimm in Ländern wie Burundi, Tschad und
Niger.
Mich interessiert in diesem Zusammenhang die Frage,
was uns noch bevorsteht. Ich weiß nicht, ob die Pressemeldungen stimmen, dass infolge weiterer Kürzungen
weitere Botschaften geschlossen werden sollen. Ich gebe
zu Protokoll, dass der Herr Außenminister den Kopf
schüttelt. Ich schließe daraus, dass keine weitere Bedrohung für unsere Auslandsbotschaften besteht. Ich hoffe,
dass uns nicht zu einem späteren Zeitpunkt mit anderen
Argumenten das Gegenteil droht.
Diese Strategie, sich zurückzuziehen und anderen die
Verantwortung zuzuschieben - egal, ob OAU oder UNO halte ich für einen eklatanten Fehler, weil dies unseren
Einfluss schwächt. Es bedeutet auch, dass wir in Wahrheit
zwar schöne Reden über die Probleme in Afrika halten,
tatsächlich aber selten in der Lage sind, ein Problem konkret zu lösen. Die Schwierigkeit ist, dass wir oft hier gesessen und darüber geredet haben, was andere falsch machen, wenn zum Beispiel die französische Fremdenlegion
in eine bestimmte Richtung marschiert ist oder davon die
Rede war, dass sich die CIA auf dem einen oder anderen
Feld - ich glaube, es war im Kongo - einmischt. In diesen
Fällen haben wir immer dagestanden und gesagt: „Da hätten wir...“; „Da könnten wir“, „Da müssten wir ...“.
Die Frage ist, was uns an eigenen Erkenntnissen aufgrund eigener Recherche vorliegt. Man kann in diesem
Zusammenhang über andere Instrumente als die Botschaften nachdenken. Wir haben eine Institution, die
Nachrichten beschafft und wie ich gehört habe, ab und zu
einen Reisenden nach Afrika schickt. Wenn alles so wichtig ist, wie diese Institution das schildert, müssen wir uns
die Frage stellen, was getan werden kann.
Die Westeuropäische Union wird in ihrem operativen
Teil, den Petersberg-Aufgaben, in die Europäische
Union übernommen. Wir haben gelernt: Krisenprävention
ist schön, klappt aber meistens nicht. Im Ergebnis haben
wir die Krisen und diese bestehen nicht immer nur aus
Wirbelstürmen oder Hochwasser. Das alles wäre schon
schlimm genug, aber viel zu oft wird geschossen, gemordet und getötet. Wir stehen dabei immer vor den gleichen
Fragen. Meine Frage ist: In welchem Umfang drängt die
Bundesregierung darauf, dass die Europäische Union mit
ihren Petersberg-Aufgaben - das heißt den alten WEUAufgaben - real mit Afrika zusammenarbeitet und nicht
nur ein paar Sprüche klopft? Wie sieht es konkret mit unserer Ausstattungshilfe aus?
Wer einige Krisenszenarien nachzeichnet, muss sich
darüber im Klaren sein, dass manches Unternehmen
wahrscheinlich schlechter ausgegangen wäre, wenn es die
Ausstattungshilfe nicht gegeben hätte. Ich komme damit
zu einem weiteren Punkt, von dem ich weiß, dass seine
Behandlung schon vor längerer Zeit eingeschlafen ist,
weil viel schief gelaufen ist.
Wo immer in Afrika etwas passiert, haben wir es mit
dem Militär zu tun. Die Bundeswehr hat in der Vergangenheit wiederholt in ihrer internationalen Offiziersausbildung afrikanische Offiziere einbezogen. Dies ist meines Wissens eingestellt worden, weil man nicht nur gute
Erfahrungen gemacht hat, um es sehr vorsichtig zu sagen.
So heikel die Frage der Armee in der Demokratie ist, so
haben wir doch ein spezielles Kapitel an eigenem Knowhow und Wissen. Es steht uns durchaus zu, darüber nachzudenken, ob wir nicht den Mut haben, dies in eine Überlegung einzubringen, Ländern zu helfen, in Strukturen zu
denken und zu empfinden, die uns dann, wenn es wieder
ernst wird, die Chance geben, an bestimmte Personen auf
bestimmte Werte bezogen zu appellieren.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in den
Beiträgen, die ich gehört habe, waren viele Gemeinsamkeiten enthalten. Das finde ich sehr gut. Ich finde es weiterhin sehr gut, wenn sich die Koalitionsfraktionen künftig bei der Produktion von weiteren Anträgen freundlicherweise mit uns in Verbindung setzen, wenn sie den
Verdacht haben, es sei gemeinsames Gedankengut der
meisten Parteien in diesem Hause. Denn bezogen auf die
schönen Sätze des Außenministers und vieler anderer
habe ich ein Problem. Dies heißt: Zu vielem höre ich vieles gern. Die Rede des Kollegen Tappe habe ich in großen
Teilen sehr gern gehört. Allein mir fehlt der Glaube, dass
das, was dort gesagt wird, Wirklichkeit wird. Ich glaube,
wir brauchen weiterhin ein gewisses Maß an Gemeinsamkeit der „Afrikafans“, Herr Schuster, damit wir versuchen zu erreichen, dass Afrika im Bewusstsein von uns allen - der Bundesregierung und vielleicht auch des Volkes nicht die Gegend ist, wo am Ende nur noch die Antarktis
kommt. Ein bisschen mehr sollte es sein.
Ein allerletztes Wort.
Aber bitte ein allerletztes, Herr Kollege.
Herr Tappe,
Sie haben davon gesprochen, die Würde zurückzugeben.
In unseren Museen steckt manches, was aus Afrika
stammt, und für Afrika ein unersetzliches Kulturgut ist. Es
ist für uns auch interessant, aber eine Bundesregierung,
die sich aufmacht - ich habe das mit wenig Erfolg in der
Vergangenheit versucht; versuchen Sie es einmal -, einen
Kulturtransfer besonderer Art einzuleiten, um Afrika zu
helfen, ein Stück der eigenen Identität wiederzugewinnen,
wäre des Schweißes der Edlen wert. Bemühen Sie sich ein
wenig!
Danke schön.
({0})
Zu einer Kurzintervention erteile ich der Kollegin Dr. Uschi Eid, Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Frau
Präsidentin! Der Außenminister hat einige Konflikte auf
dem afrikanischen Kontinent angesprochen. Viele davon
wurden auch im Detail besprochen. Aus aktuellem Anlass
möchte ich aber einen Konflikt benennen, weil der Krieg
zwischen Eritrea und Äthiopien Gott sei Dank zu Ende
gegangen ist und die Verhandlungen in eine entscheidende Phase eingetreten sind.
Ich möchte gerne beiden Konfliktparteien etwas mit
auf den Weg geben: An Äthiopien möchte ich appellieren,
nicht im militärischen Siege triumphalistisch den Nachbarn klein zu machen. An die Eritreer möchte ich appellieren, nicht nur den Krieg als beendet anzusehen, sondern
auch der internationalen Öffentlichkeit klarzumachen,
welche demokratischen Schritte in der nächsten Zukunft
für dieses Land vorgesehen sind.
Frau Kollegin Eid,
entschuldigen Sie, aber ich muss Sie darauf aufmerksam
machen, dass Kurzinterventionen nur zu Beiträgen gestattet sind. Mir wurde angekündigt, dass Sie eine Kurzintervention zu den Ausführungen des Kollegen
Hornhues machen wollen. Jetzt ist es zu spät, aber ich
möchte alle Kolleginnen und Kollegen an diese Spielregel erinnern.
({0})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3701 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Friedensbemühungen am Horn von Afrika verstärken“, Drucksache 14/3767. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist
bei Enthaltung der Fraktionen der CDU/CSU und der
F.D.P. angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag
der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Demokratische und friedliche Kräfte
im Sudan unterstützen“, Drucksache 14/3768. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei Enthaltung der Fraktionen der
CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen
mit dem Titel „Konflikt in der Region der großen Seen
eingedämmt - nicht gelöst“, Drucksache 14/3791. Wer
stimmt für diesen Antrag? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist bei Enthaltung der CDU/CSU- und
der F.D.P.-Fraktion angenommen.
Die Beschlussfassung über den Antrag der Fraktion der
PDS „Abschiebestopp für Flüchtlinge aus Äthiopien und
Eritrea“, Drucksache 14/3547, entfällt; denn die PDS hat,
wie der Kollege Hübner angekündigt hat, ihren Antrag
zurückgezogen, weil ihrer Forderung nach sofortiger Abstimmung nicht stattgegeben wurde.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit
Homburger, Dr. Hermann Otto Solms, Hildebrecht
Braun ({1}), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der F.D.P.
Ökosteuer zurücknehmen
- Drucksache 14/3519 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({2})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die
F.D.P. sechs Minuten erhalten soll. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner für die
F.D.P.-Fraktion ist der Kollege Rainer Brüderle.
({3})
Hören Sie einmal genau zu,
Herr von Larcher! Das tut Ihnen gut.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die
F.D.P. tritt für die Abschaffung der staatlichen Zwangsbeglückungsmaßnahme Ökosteuer ein.
({1})
Deshalb fordern wir heute die Bundesregierung auf: Nehmen Sie die bisherigen Schritte der Ökosteuer zurück!
Verzichten Sie auf weitere Schritte! Ersetzen Sie gleichzeitig Ihr Abkassiermodell durch eine wirkliche ökologische Steuerreform!
Wir zeigen Ihnen, wie es geht: Erstens. Schaffen Sie
die Kraftfahrzeugsteuer ab! Legen Sie sie auf die Mineralölsteuer um! Zweitens. Wandeln Sie die Kilometerpauschale endlich in eine fahrzeugunabhängige Entfernungspauschale um! Sie treiben mit einem gescheiterten Instrument die Benzinpreise in die Höhe. Der Anteil, den die
Mineralölsteuer und die Mehrwertsteuer am Preis für einen Liter Normalbenzin haben, liegt bei 70 Prozent. Die
staatliche Ökosteuer ist somit entscheidender Preistreiber.
Dank der Steuererhöhungen müssen die Autofahrer allein
in diesem Jahr 4 Milliarden DM mehr für Kraftstoffe ausgeben.
Ihre Ablenkungsmanöver bleiben zu durchsichtig.
Kaum kündigen die Rohölproduzenten eine Erhöhung ihrer Fördermengen an, jubilieren Sie schon und weisen darauf hin, dass die Benzinpreise jetzt wieder sinken müssten, um von der Ökosteuer abzulenken und sie aus der
Diskussion herauszuhalten. Das ist ein plumper Versuch,
den schwarzen Peter weiterzureichen. Ich habe den Eindruck, Sie wollen sich permanent aus der Verantwortung
stehlen.
({2})
- Wer dazwischenruft und -schreit, hat sowieso Unrecht,
Herr Kollege, weil er nicht in der Lage ist, kritische Argumente zu ertragen. Sie richten sich damit selbst.
Seien Sie doch wenigstens so ehrlich und sagen den
Leuten, denen Sie das Geld aus der Tasche ziehen, dass
Sie einen hohen Benzinpreis politisch gewollt haben! Bekennen Sie sich dazu, damit der berechtigte Zorn der
Menschen auch die trifft, die dafür die Verantwortung haben.
Wie wollen Sie den Rohölproduzenten erklären, dass
der Preis, den sie für das Rohöl verlangen, zu hoch ist,
wenn Sie selber für einen Steueranteil von 70 Prozent verantwortlich sind? Das, was Sie machen, ist sozial ungerecht. Gerade gering verdienende Arbeitnehmer, Rentner,
Pendler, Studenten, Auszubildende und Sozialhilfeempfänger werden durch die Ökosteuer besonders geschröpft.
Das ist Ihre Sozialpolitik.
({3})
Es ist schon ein starkes Stück, dass Sie dem Zwangsinstrument Ökosteuer das Etikett sozialer Gerechtigkeit
aufkleben. Sie wissen, dass große Teile der Bevölkerung
nicht von der bescheidenen Senkung der Rentenversicherungsbeiträge profitieren. Rentner, Auszubildende,
Arbeitslose, Freiberufler, Landwirte und Beamte müssen
die Mehrbelastung ungeschmälert tragen. Das ist die Ursache, warum immer mehr Sozialdemokraten öffentlich
die Anhebung der Kilometerpauschale oder gar das Austeilen von Benzingutscheinen an Geringverdiener fordern. Das ist die Konsequenz aus der falschen Maßnahme
Ökosteuer. Im Grunde ist das eine Distanzierung von der
Ökosteuer.
Sie sollten es schon ernst nehmen, dass ein so renommierter Umweltexperte wie Ernst Ulrich von Weizsäcker
für die Aussetzung der Ökosteuer plädiert. Spätestens damit sollte auch der letzte Genosse kapiert haben, dass etwas falsch gemacht wird.
({4})
Ich meine jetzt nicht die PDS-Genossen.
Lediglich die Grünen halten aufgrund ideologischer
Scheuklappen voller Inbrunst an der Ökosteuer fest. Herr
Schlauch und andere Grüne robben sich an das Auto
heran. Die grüne Hauspostille, die „taz“, spricht davon,
dass man „Gummi geben will“, dass man sich also in
Richtung Auto bewegt, weil man merkt, dass man völlig
falsch liegt. Wer die Rückführung der so genannten Ökosteuer als „dummes Zeug“ bezeichnet, wie Herr Kuhn, der
muss doch endlich einräumen, dass das Lieblingsprojekt
gescheitert ist.
Ökologisch bringt die Ökosteuer nichts.
({5})
Stattdessen belasten Sie nur und erzielen keine ökologischen Effekte. Eine ökologische Steuer müsste sich beim
Erreichen des Ziels selbst aufheben. In diesem Falle hätten Sie aber gar kein Geld für das Stopfen der Löcher im
Haushalt und für die Rentenkasse. Die Weigerung, die
Ökosteuer abzuschaffen, ist unglaublich arrogant, gerade
gegenüber gering verdienenden Arbeitnehmern.
({6})
Aber die haben Sie schon längst vergessen, auch bei Ihrer
Steuerreform. Sie machen lieber eine Politik für große
Konzerne und nicht mehr für kleine Leute. Das ist die Veränderung Ihrer Politik.
({7})
Vizepräsidentin Petra Bläss
Inzwischen treten Herr Trittin und andere Grüne öffentlich dafür ein, nicht mehr für die Rente zu rasen. Wenn
weniger Auto gefahren würde, dann hätten Sie noch weniger Geld in der Kasse, um alternative Energien zu subventionieren. Das ist eine Bankrotterklärung der Grünen
selbst. Man erkennt, dass es sich um eine Fehlkonstruktion handelt und dass das Konzept von A bis Z nicht funktioniert.
({8})
Sie treten auf die Innovationsbremse.
({9})
Indem Sie den Menschen das Geld durch höhere Benzinpreise wegnehmen, kommt es eben nicht zu einer schnelleren Erneuerung der Fahrzeugflotte. Auch die Erfahrungen aus den Ölkrisen von 1973 und 1980 zeigen, dass genau das Gegenteil erreicht wird.
({10})
Viele - gerade Geringverdiener - sind darauf angewiesen, weiter ihre alte Schleuder zu fahren, weil Sie ihnen
das Geld für ein neues Fahrzeug durch die Ökosteuer aus
der Tasche ziehen. Sie sollten sich hier dazu bekennen und
nicht darum herumreden.
({11})
Was ist denn das Wort des Kanzlers wert,
({12})
der vor der Wahl erklärt hat: einmal 6 Pfennig Mineralölsteuer, dann Schluss? Das gilt alles nicht mehr, weil dieses falsch konstruierte Konzept der Ökosteuer offenbar
der Kick ist, der die rot-grüne Koalition zusammenhält.
Man handelt partout gegen klaren Sachverstand. Wenigstens die Sozialdemokraten sollten sich in dieser Frage von
den grünen Ideologen befreien und auch auf die Stimmen
ihrer Ministerpräsidenten hören,
({13})
die sagen, dass man das Projekt so nicht fortführen kann.
Sie zahlen den Preis dafür, dass Sie mit solchen Leuten
eine Koalition machen.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort für die SPDFraktion hat der Kollege Wolfgang Grotthaus.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag der
F.D.P., der bereits in der Aktuellen Stunde am 7. Juni 2000
in diesem Haus diskutiert und für schlecht befunden
wurde, ist heute erneut Thema. Herr Brüderle, mich freut,
dass ich Ihnen heute wieder antworten darf; denn ich habe
bei Ihrer Rede festgestellt, dass Sie keine neuen Inhalte,
sondern nur andere Worte gefunden haben. Von daher darf
ich Ihnen deutlich sagen: Anträge werden durch Wiederholungen nicht besser und dieser Antrag ist immer noch
schlecht.
({0})
Dieser Antrag ist deswegen schlecht, weil er weder gewichtige Argumente gegen die Ökosteuer anführt noch in
seiner Verknüpfung von Benzinpreissteigerung und
Ökosteuer korrekt ist. Ich meine, die F.D.P. greift dieses
Thema vielmehr deswegen auf, um die Hoheit über die
Stammtische zu erringen. Das wird Ihnen vielleicht kurzfristig gelingen; aber mittelfristig werden Sie damit
Schiffbruch erleiden.
Es ist inzwischen beinahe unerträglich, immer wieder
die gleichen Aussagen nicht nur von der F.D.P., sondern
auch von der CDU zu hören. Ich will Ihnen sehr deutlich
sagen, dass diese Aussagen - ich habe es gerade schon erwähnt - in der Sache unrichtig sind. Ich will Ihnen - diese
Sicht ist mir auch aus der Bevölkerung heraus angetragen
worden - die Ursachen für die Preisentwicklung beim
Mineralöl nennen.
Es ist richtig, dass die Ökosteuer einen Teil der höheren Benzinpreise verursacht. Sie unterschlagen aber, dass
bei diesen Preiserhöhungen auch die Abschläge beim
Wechselkurs des Euros eine Rolle spielen; Sie unterschlagen, dass die Mineralölsteuer auch von anderen
Faktoren abhängig ist. So hat zum Beispiel das „Handelsblatt“ geschrieben, dass
ein schwacher Euro, eine jährliche Ökosteuer von
6 Pfennig und eine starke Nachfrage in den USA und
Asien den Kraftstoff so teuer gemacht
haben. Auch die folgende Aussage des „Handelsblattes“
ist gültig, Herr Brüderle:
Doch wer bleibt schon kühl, wenn’s ums Auto geht
... die Oppositionsparteien ...
- damit sind Sie gemeint wettern gegen SPD und Grüne. Deren Ökosteuer sei
schuld an den hohen Preisen...
Lassen Sie sich dies mit auf den Weg geben: Die Ökosteuer ist im letzten Jahr und in diesem Jahr jeweils um
6 Pfennig pro Jahr, also insgesamt um 12 Pfennig erhöht
worden. Dieses führte dann automatisch zu einem Anstieg
auch der Mehrwertsteuer um 2 Pfennig. Ihr Anteil an der
gesamten Benzinpreiserhöhung beträgt insgesamt nur
10 Prozent. Sie aber stellen sich hier hin und tun so, als
wenn die Ökosteuer den Benzinpreis insgesamt nach oben
getrieben hätte. Dies ist falsch und deswegen unlauter.
({1})
Irgendwie bin ich davon überzeugt, dass Ihnen diese
Zahlen nicht fremd sind. Eigentlich sollten Sie bei einer
ernsthaften Analyse, Herr Brüderle, selbst zu diesen Erkenntnissen gelangt sein.
({2})
Doch Sie wollen sich dies nicht eingestehen, weil Sie gar
nicht - das ist auch aufgrund Ihres Beitrages heute festzuhalten - die sachliche Auseinandersetzung suchen, sondern hier einfach nur Stimmung machen wollen.
({3})
Zurück zur Sache! Die Debatte, ob die Ökosteuer den
Namen „Öko“ verdient hat, ist eigentlich ausgiebig geführt worden. Alle politischen Lager waren sich darüber
einig, dass es noch ein weiter Weg hin zu einer echten
Ökosteuer ist. Allerdings, so muss man festhalten, ist es
durchaus ein erster Schritt, das ökologische Verhalten der
Bürgerinnen und Bürger zu stärken und einen sparsameren Umgang mit Energieträgern zu erreichen. Kritiker beklagen, dass die Einnahmen der Steuer nicht für rein
ökologische Zwecke ausgegeben werden. Wir meinen,
das wäre ein erstrebenswertes Ziel. Doch die heute hier
auftretenden Kritiker der Ökosteuer wollen dies gar nicht.
Herr Brüderle, Ihr Kollege und unser früherer Kollege im
Bundestag, der Kollege Möllemann, will zum Beispiel die
Ökosteuer für Straßenbaumaßnahmen ausgeben.
({4})
Ich bezweifle, ob dieses dann ökologisch so wertvoll ist,
wie Sie bzw. der Kollege Möllemann es darstellen.
({5})
- Ich finde es Klasse, dass Sie hier Ihren Herrn
Möllemann in aller Deutlichkeit verleugnen.
({6})
Insgeheim gehen Sie auf seine Vorschläge ein und wollen
gemeinsam mit dem Herrn Möllemann einen eigenen
Kanzlerkandidaten aufstellen. Das werden wir noch mit
Interesse beobachten. Wir werden noch des Öfteren bei
Ihrem Parteimitglied Möllemann den Finger auf die
Wunde legen.
({7})
Die Bundesregierung hat sich als primäres Ziel die
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vorgenommen.
({8})
Ein wichtiger Aspekt sind die Lohnnebenkosten, die in
der Bundesrepublik zu hoch liegen, weil sie während Ihrer Regierungszeit so stark gestiegen sind. Um hier eine
Veränderung zu erreichen, verwendet die Bundesregierung die Erträge aus der Ökosteuer zur Senkung der Rentenversicherungsbeiträge und reduziert so die Lohnnebenkosten. Als Folge treten positive Effekte auf dem Arbeitsmarkt auf. Ich gehe davon aus, dass Sie heute in den
Nachrichten die Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit
gehört haben. Diese belegen das nämlich ganz aktuell:
Insgesamt gibt es 3,47 Millionen Arbeitslose.
({9})
- 3,74 Millionen. Herzlichen Dank. Mir ist hier ein Zahlendreher passiert. - Wir meinen, dass das immer noch zu
viele sind, aber dieser Wert ist der niedrigste seit 1995.
({10})
Ich erinnere daran, worüber der Kollege Merz heute
Morgen in der Steuerdebatte geredet hat. Er sprach davon,
dass er auf dem Arbeitsmarkt keine Veränderungen feststellen kann. Ich stelle fest: Das ist eine Aussage ohne
Sachverstand. Auch hier hätte sich Ihr Kollege Merz sachverständig machen müssen.
({11})
Langfristig, Herr Fromme, hat die Ökosteuer auch einen
ökologischen Lenkungseffekt.
({12})
Industrie und Verbraucher orientieren sich um. Neben einem verantwortungsvolleren Umgang mit nicht erneuerbaren Ressourcen schaffen die Entwicklung und Produktion neuer Umwelttechnologien Arbeitsplätze und lassen
die deutsche Wirtschaft international gut dastehen.
Dies bestätigt auch eine Aussage des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung, wonach ein
Aussetzen der Ökosteuer in den nächsten drei Jahren insgesamt 500 000 Arbeitsplätze gefährden würde. Auch hier
stelle ich fest: Mehr und bessere Informationen Ihrerseits
könnten Sie des Öfteren davor bewahren, unsinnige Anträge zu stellen.
({13})
In der Aktuellen Stunde am 7. Juni haben wir Ihnen die
Aussagen der alten Regierungskoalition zur Ökosteuer
ins Gedächtnis gerufen, insbesondere jene der Kollegin
Merkel und der Kollegen Schäuble und Repnik, die erklärt haben: Die klare politische Zielsetzung einer stetigen Verteuerung des Umweltverbrauchs gibt Investoren
die notwendige Orientierung für langfristige Projekte.
Herr Kollege
Grotthaus, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum
Schluss. - Ich will diese Aussage noch ergänzen: Sie sorgt
auch dafür, dass technologischer Fortschritt und Innovation im Umweltbereich vorangetrieben werden. Heute
will die Opposition davon nichts mehr wissen. Sie fordert
die komplette Streichung der Ökosteuer, ohne darzustellen, wie sie die von mir genannten Ziele dann erreichen
will.
Ich sage Ihnen heute erneut - und damit zum dritten
Mal -: Die Ökosteuer bleibt. Sie erfüllt langfristig den
Zweck, Arbeit und Umwelt gleichrangig zu bewerten. Wir
sind mit der Einführung der Ökosteuer angetreten, dieses
Ziel zu erreichen.
Herzlichen Dank.
({0})
Nächster Redner ist
der Kollege Heinz Seiffert für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Die Menschen in
Deutschland bewegt derzeit nichts mehr als die explodierenden Preise für Benzin und Heizöl.
({0})
Längst reicht ein 100-Mark-Schein für eine Tankfüllung
nicht mehr aus. Viele Mieter werden demnächst aus allen
Wolken fallen, wenn sie ihre Nebenkostenabrechnung bekommen. Die Menschen in unserem Land sind sauer, weil
sie spüren, dass sie abkassiert werden.
({1})
Herr Kollege Grotthaus, wenn Sie sagen, es gehe uns
nur um die Lufthoheit über den Stammtischen, dann muss
ich Sie fragen: Wie weit sind Sie eigentlich von den Problemen der Menschen weg, seit Sie seit anderthalb Jahren
regieren?
({2})
Natürlich wissen auch wir, dass es nicht allein die Ökosteuer ist, die für die hohen Spritpreise verantwortlich ist.
({3})
Hinzu kommt die Außenwirkung des Euro, die etwas
schwächer ist als erwartet.
({4})
Dazu zählen die gedrosselten Ölfördermengen und die dadurch gestiegenen Preise. Klar ist aber: Die Initialzündung für diese Preistreiberei an den Tankstellen geht auf
Sie zurück. Das hat die rot-grüne Regierung mit ihrer so
genannten Ökosteuer zu verantworten.
({5})
Sie haben mit Ihrem Stufenplan für die nächsten fünf
Jahre gezeigt, dass Sie einen Erhöhungsspielraum von
35 Pfennig bei den Spritpreisen sehen.
Herr Kollege Seiffert,
gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Lassen Sie mich diesen
Gedanken noch zu Ende führen. Sie gehen davon aus,
dass es einen Erhöhungsspielraum von 35 Pfennig gibt.
Jetzt wundern Sie sich, wenn der Markt nicht auf den Staat
wartet, wenn also andere versuchen, schneller diesen
Spielraum auszuschöpfen.
Herr Kollege Dreßen,
bitte Ihre Zwischenfrage.
Kollege Seiffert, nachdem Sie
schon mehrmals diese Mär wiederholt haben, möchte ich
Sie fragen: Können Sie mir einmal sagen, wie die
CDU/CSU die Rente in Ordnung gebracht hätte? Wir wissen ja, dass wir im Rentenbereich Fremdleistungen in
Milliardenhöhe hatten.
({0})
Nach Durchsetzung Ihrer Vorstellung wären die Beiträge
auf 22 oder 23 Prozent angestiegen und hätten damit die
Lohnnebenkosten erhöht. Das konterkariert die Aussage
von Herrn Merz, die Lohnnebenkosten zu senken. Sagen
Sie mir bitte: Wie hätten Sie ohne die Ökosteuer die Rente
in Ordnung gebracht und die Fremdleistungen steuerfinanziert?
({1})
Herr Kollege Dreßen, ich
frage zurück: Was hat die Ökosteuer im Ernst mit der
Rente zu tun?
({0})
Ich sage es Ihnen: Rein gar nichts. Wir haben eine Rentenreform durchgeführt, die Sie ohne jegliche Not
zurückgenommen haben.
({1})
Jetzt müssen Sie Maßnahmen treffen, die für die alten
Menschen sehr viel schlimmere Folgen haben. Das ist die
Wahrheit. Mit der Ökosteuer hat das Ganze nichts zu tun.
Daraus wird deutlich, dass Sie nur abkassieren wollen.
({2})
Wir haben es bei jeder Gelegenheit prophezeit: Sie treffen mit der Ökosteuer besonders die Menschen - das sagen wir Ihnen noch oft, auch wenn es Ihnen wehtut -, die
es sich am wenigsten leisten können.
({3})
Diese Ökosteuer wird keine ökologische Lenkungsfunktion entwickeln und sie wird ganze Branchen in ihrer
Existenz gefährden. Diese Entwicklung haben wir kommen sehen. Wir haben es Ihnen gesagt und Sie haben es
nicht zur Kenntnis genommen.
Auch die Tourismusbranche wird dies spüren. Die
Menschen werden weniger mit dem Fahrzeug, mit ihrem
PKW, Urlaub in Deutschland machen - das gilt auch für
die Busreisen - und es wird alsbald die Tatsache zu beklagen sein, dass die Gastronomie einen Rückgang verspürt.
({4})
Auch die Bahn mit ihren gestiegenen Preisen ist da leider
keine reizvolle Alternative.
({5})
Es ist bereits jetzt, nach der zweiten Stufe Ihrer Ökosteuerreform, überdeutlich: Diese Erhöhung der Energiepreise entwickelt keinerlei Lenkungswirkung. Von dieser
Steuer geht keinerlei Anreiz zu Einsparungen von Energie
aus. Das haben Sie vermutlich auch gar nicht gewollt. Der
Kollege Brüderle hat es gesagt: Sie brauchen ja das Geld.
({6})
Die Autofahrer zahlen in den Jahren 1999 bis 2003 zusätzlich 68,5 Milliarden DM Mineralöl- und Mehrwertsteuer. Dies führt kaum zu einer weiteren Senkung der
Rentenbeiträge und von diesen Mitteln geht keine Mark
in zusätzliche Investitionen bei den Verkehrsanlagen. Das
ist besonders zu beklagen. Sie stopfen mit diesem Geld
nicht Löcher in den Straßen, sondern Sie stopfen damit
Löcher in der Rentenkasse, die Sie selbst gerissen haben.
({7})
Die Ökosteuer ist das beste Beispiel für Ihre unausgewogene und unsoziale Politik; denn betroffen sind vor allem die sozial Schwächeren. Rentner, Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, Studenten, kinderreiche Familien, insbesondere die Menschen im ländlichen Raum sind die
Leidtragenden der hohen Spritpreise.
({8})
Sie können nicht auf den ÖPNV ausweichen und profitieren oft auch nicht von der Absenkung der Rentenbeiträge.
({9})
Sie haben immer angekündigt, dass mit Ihrer Ökosteuer der Ausbau der erneuerbaren Energien gefördert
werden solle. In der Realität sieht es aber leider so aus,
dass erneuerbare Energien, insbesondere der Solarstrom,
voll besteuert werden, aber andere, begrenzt verfügbare
Energieträger, die unsere Umwelt belasten, von der Ökosteuer ausgenommen werden. Also, wer das logisch findet, muss mir das einmal erklären.
({10})
All die hehren Ziele, die Sie vorgegaukelt haben, waren Nebelkerzen. Die Ökosteuer dient in Wirklichkeit nur
einem: der Geldbeschaffung.
({11})
Nach Angaben des Mineralölverbandes stiegen die
Steuereinnahmen im Jahr 1999 bei Benzin um knapp
5 Prozent, bei Diesel sogar um 12,5 Prozent. Da habe ich
auch Verständnis dafür, wenn die Mineralölwirtschaft
heute klagt, dass sie nicht mehr in erster Linie Mineralölhändler sei, sondern Steuereintreiber geworden sei.
Meine Damen und Herren, werfen wir einen Blick auf
die Wirtschaft in Deutschland. Diese ist geprägt von zahlreichen kleinen und mittleren Betrieben, die allesamt von
der Ökosteuer betroffen und durch sie belastet sind. Für
das produzierende Gewerbe haben Sie einen reduzierten
Steuersatz und - mit viel bürokratischem Aufwand - auch
eine Rückvergütungsmöglichkeit geschaffen.
({12})
Der ganze Mittelstand aber, Handel, Handwerk, Verkehrs- und Dienstleistungsunternehmen gehen leer aus.
Diese Betriebe haben doch gar keine andere Wahl, als die
Mehrkosten über die Preise weiterzugeben, und das
schlägt sich in der gestiegenen Inflationsrate nieder.
Oder es wird Personal eingespart. Es sind doch keine
Märchen, wenn die Kraftfahrzeuggewerbebetriebe - ein
Eckpfeiler unserer Wirtschaft - beklagen, dass sie 60 000
bis 100 000 Arbeitsplätze abbauen müssen. Nehmen Sie
eigentlich nicht zur Kenntnis, dass die Zulassungszahlen
für PKWs in Deutschland im ersten Quartal dieses Jahres
um 9 Prozent zurückgegangen sind? Die Ökosteuer hat
nach meiner festen Überzeugung dazu einen erheblichen
Beitrag geleistet.
Dem öffentlichen Nahverkehr, der ja nach grünen
Idealvorstellungen eigentlich als Alternative zum Auto
gelten sollte, entstehen durch die insgesamt fünf Stufen
der Ökosteuer fast eine halbe Milliarde DM an zusätzlichen Kosten. Dazu sagt der Hauptgeschäftsführer des
deutschen Städte- und Gemeindebundes:
Natürlich wird das über die Preise abgewälzt. Wer
soll es denn sonst bezahlen?
Die Auswirkungen der Ökosteuer machen auch dem
deutschen Güterkraftverkehrsgewerbe schwer zu
schaffen. Den im harten Wettbewerb innerhalb der EU
stehenden deutschen „Brummis“ haben Sie zusätzliche
Lasten aufgebürdet, die bei vielen kleinen und mittleren
Betrieben echt an die Existenz gehen. Viele Speditionen
leben derzeit nur noch von der Substanz, viele Arbeitsplätze sind in Gefahr. Das kann Ihnen doch nicht egal
sein! Der Verband des Güterkraftverkehrsgewerbes hat
doch nicht aus Lust und Tollerei eine Klage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Das ist doch ein Hilfeschrei dieser Unternehmen.
Besonders die neuen Bundesländer sind von der Ökosteuer betroffen. Den dortigen Betrieben geht es vielfach
wirtschaftlich schlechter als denen in den alten Ländern,
und die Strompreise sind dort ohnehin schon höher als im
Westen, ganz zu schweigen von den östlichen Nachbarländern. Sie belasten mit der Ökosteuer die Konkurrenzfähigkeit der jungen Betriebe im Osten. Ist das Ihr Beitrag zum Aufbau Ost?
({13})
- Ja, Herr von Larcher, das sind die praktischen Auswirkungen. Das muss man Ihnen sagen, da Sie sich nicht darum kümmern.
({14})
Auch die Finanzsituation der Kommunen ist durch die
Ökosteuer belastet. Die höheren Strompreise in Kindergärten, Schulen, Sporthallen und Schwimmbädern steigern die Kosten in diesen öffentlichen Einrichtungen.
Noch ein Wort zur Landwirtschaft. Viele Arbeitsplätze können in diesem Bereich nicht mehr verloren gehen. Doch der Strukturwandel wird durch die Ökosteuer
ebenso wie durch das Steuerbelastungsgesetz und die
Agenda 2000 weiter beschleunigt. In Süddeutschland
schließen zurzeit täglich zwölf Milchviehbetriebe.
({15})
Im Moment haben sie noch Pächter für ihre aufgegebenen
Flächen. Aber wenn die Entwicklung so fortschreitet, haben sie diese bald nicht mehr, weil dann auch die größeren Betriebe nichts mehr verdienen. Was machen Sie dann
mit der viel gepriesenen Kulturlandschaft? Wollen Sie
dann staatliche Landschaftspfleger einstellen? Wir brauchen doch die Landwirtschaft!
({16})
Es gibt also unendlich viele gute Gründe, die Ökosteuer sofort abzuschaffen.
({17})
Erste Zweifel an der Richtigkeit des beschrittenen Wegs
hat man, wie ich höre, sowohl in der SPD als auch bei den
Grünen. Vielleicht wird uns Herr Kollege Loske nachher
noch näher erläutern, wie er entsprechende Äußerungen
am 30. März 2000 gemeint hat.
Die Ökosteuer ist unsozial, sie nutzt der Umwelt nicht,
sie ist wirtschaftsfeindlich; deshalb ist sie unsinnig. Aus
diesem Grunde muss sie weg. Insofern unterstützen wir
mit Nachdruck den Antrag der F.D.P.
Falsch wäre nach unserer Überzeugung allerdings,
jetzt - wie dies auch im F.D.P.-Antrag gefordert wird - die
Kfz-Steuer abzuschaffen und auf die Mineralölsteuer
umzulegen. Damit würden Sie nur von dem rot-grünen
Ökosteuerunsinn ablenken.
({18})
Herr Brüderle, im Gesetzblatt vom 18. April 1997
steht, dass wir nach fünf Jahren, also 2002, prüfen wollen,
ob eine solche Umlage sinnvoll wäre. Dabei sind allerdings die Auswirkungen einer solchen Maßnahme für die
schon jetzt gebeutelten Autofahrer, besonders im ländlichen Raum, zu bedenken. Es ist auch zu beachten, dass
wir dann aus der Mineralölsteuer eine weitere Gemeinschaftssteuer machen würden. Das halte ich nicht für
erstrebenswert.
Wir sehen also keine Veranlassung, in diesem Punkt
jetzt aktiv zu werden. Deshalb können wir die Ziffer 2 des
F.D.P.-Antrags nicht mittragen.
Wir legen unser Hauptaugenmerk weiterhin auf die
Ökosteuer. Die muss weg. Versenken Sie die Ökosteuer
im Sommerloch, rückwirkend und erst recht für die Zukunft.
Vielen Dank.
({19})
Nächster Redner ist
der Herr Kollege Reinhard Loske, Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
will heute nicht darüber reden, dass auch die CDU/CSU
und die F.D.P. früher einmal für die ökologische Steuerreform waren;
({0})
ich will auch nicht Herrn Repnik, Herrn Schäuble, Frau
Merkel und Herrn Töpfer zitieren. Ich will ebenso nicht
darüber reden, dass die Mineralölsteuer in den 90er-Jahren um 50 Pfennig angestiegen ist,
({1})
dass gleichzeitig die Rentenversicherungsbeiträge angestiegen sind und dass im letzten Jahr Ihrer Regierung sogar die Mehrwertsteuer erhöht werden musste, damit die
Rentenversicherungsbeiträge stabil bleiben konnten. Darüber möchte ich nicht reden,
({2})
und zwar deshalb nicht, weil ich glaube, dass diese immer
gleiche Leier die politische Kultur in diesem Lande verdirbt und die Politikverdrossenheit bei den Menschen erhöht.
({3})
Ich möchte stattdessen über den vorliegenden Antrag
der F.D.P. sprechen, Herr Brüderle. Der Antrag enthält
drei Punkte: Ökosteuer zurücknehmen, Kfz-Steuer abschaffen und umlegen und Kilometerpauschale umwandeln - wobei Sie sich ein bisschen vor der Frage drücken,
wo denn die Freigrenzen liegen sollen usw.
Ich möchte zu dem ersten Punkt kommen, zur Abschaffung der ökologischen Steuerreform. Dazu möchte ich die ersten beiden Sätze aus der Begründung Ihres
Antrags vorlesen. Sie lauten:
Die Steuererhöhungen im Rahmen der so genannten
ökologischen Steuerreform haben keine ökologischen Wirkungen erzielt. Der Benzinverbrauch
steigt weiter an.
Dem will ich ein paar Fakten entgegenhalten: Erstes Beispiel: Shell meldet für Januar bis April dieses Jahres - das
ist erst vor wenigen Tagen veröffentlicht worden - im Vergleich zum Vorjahr einen Rückgang des Benzinabsatzes
um 4,5 Prozent. Das heißt, hier besteht eine Lenkungswirkung.
Zweites Beispiel: Bei allen Automobilkonzernen, und
zwar durchweg, gibt es die Tendenz zum Sparauto. Das ist
eine sehr löbliche Aktivität.
({4})
Ich will einmal darstellen, wie man das bei DaimlerChrysler sieht. Der Umweltbevollmächtigte Werner
Pollmann hat gemäß „FAZ“ vom 13. Juni dieses Jahres
Folgendes gesagt: Er sei erstens kein Feind der Ökosteuer.
Man könne damit leben. Die öffentliche Diskussion halte
er zweitens für sehr populistisch. Drittens und letztens
könnten - jetzt passen Sie gut auf - hohe Kosten für Treibstoffe eine Quelle für Innovationen sein. Die deutschen
Hersteller arbeiteten daran, den Benzinverbrauch weiter
zu drücken. - Es gibt also eine ganz klare Tendenz zu
Energiesparautos.
({5})
Drittes Beispiel - auch das fand ich sehr interessant -:
Wenn die These richtig wäre, dass nichts passiert, wie
kann es dann zu einer Meldung wie der vom 28. Juni dieses Jahres mit der Überschrift „ADAC will Autofahrern
Benzinsparen beibringen - Spritsparschule in München
eröffnet“ kommen? Landauf, landab sprießen solche
Fahrschulen aus dem Boden. Die zeigen nämlich, wie
man durch eine angepasste Fahrweise bis zu 25 Prozent
des Spritverbrauchs einsparen kann.
({6})
Beispielsweise die Heidelberger Firma Eco-Consult auch das ist der Presse zu entnehmen - hat 210 Beamte
der Bereitschaftspolizei Biberach im ökologischen Fahrstil trainiert. Das Ergebnis ist ein 20-prozentiger Rückgang des Verbrauchs. Genau das sind die Entwicklungen,
die wir haben wollen.
({7})
Vierter und letzter Punkt inhaltlicher Natur, den ich anführen möchte: Vor wenigen Wochen war in der „Berliner
Zeitung“ zu lesen, die Münchener Rückversicherung wahrlich kein unbedeutendes Unternehmen - plädiere
aufgrund der wachsenden Schäden durch Naturkatastrophen, durch Klimawandel und anderes - 1999 sei weltweit ein Schaden von über 100 Milliarden Dollar entstanden - für eine deutliche Anhebung der Ökosteuer und für
deren kontinuierliche Weiterentwicklung. Zitat: „Andernfalls sind die Gefahren durch zukünftige Naturkatastrophen nicht mehr versicherbar.“
Ich weiß nicht, wie Sie auf die Idee kommen, dass
all das nichts bringen würde. Die Realität ist anders. Sie
haben keine Verbündeten mehr. Deswegen sprechen
Sie, Herr Brüderle, nur noch sehr allgemein. Bei Ihrem
Stammtischniveau glaubt Ihnen das sowieso keiner mehr.
({8})
Warum sollen wir hier in Deutschland - das ist mein
letzter Punkt zur Abschaffung der Ökosteuer; übrigens
sind wir in Europa immer noch auf Platz neun; das will ich
Ihnen vor Augen halten - mit dem Erfolgsmodell der
ökologischen Steuerreform aufhören, wenn andere, wie
Frankreich, Großbritannien und Italien, in die gleiche
Richtung marschieren? Sie wollen Deutschland in die
umweltpolitische Eiszeit zurückschießen.
({9})
Da wollen wir nicht hin. Da müssen Sie allein hingehen.
Das schaffen Sie aber nicht.
({10})
Zur Umwandlung der Kfz-Steuer. Es gibt Gründe
dafür, die Kfz-Steuer auf die Mineralölsteuer umzulegen.
Es gibt aber auch Gründe dagegen. Zwei möchte ich nennen: Der erste Grund ist der, dass man bei der Kfz-Steuer
soziale Differenzierungsmöglichkeiten vornehmen kann,
dass zum Beispiel Behinderte auch in Zukunft von der
Kfz-Steuer befreit werden können. Das wäre bei einer
Umlegung der Kfz-Steuer auf die Mineralölsteuer nicht
möglich. - Das ist ein Grund, der dafür spricht.
Ein zweiter Grund, der dafür spricht: Wir können die
Kfz-Steuer durch eine ökologisch orientierte Spreizung,
indem wir sie nämlich am CO2-Ausstoß bzw. am Benzinverbrauch orientieren, auch so einsetzen, dass bestimmte
Innovationen stimuliert werden bzw. Sparautos schneller
auf den Markt kommen.
({11})
Immerhin ist der Antrag der F.D.P. insofern ein Fortschritt, als nicht zum wiederholten Male der Ladenhüter
der F.D.P., man wolle einen dritten Mehrwertsteuersatz
auf Energie einführen, herausgeholt wird. Nach soundso
vielen Jahren hat auch die F.D.P. kapiert, dass solche nationalen Alleingänge, die wir nicht vorhaben, nichts bringen und von der EU-Kommission nicht akzeptiert würden.
Danke schön.
({12})
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Dr. Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe eine Redezeit von drei
Minuten. Das ermöglicht es mir, das Problem in seiner gesamten philosophischen, religiösen, juristischen, ökonomischen, ökologischen, sozialen, sozial-kulturellen und
nicht zuletzt politisch-ideologischen Tiefe zu ergründen.
({0})
Ich will Ihnen deshalb sagen: Das Auto ist weder eine
Schöpfung Gottes noch eine Erfindung des Satans.
({1})
Wir müssen einfach versuchen, mit der berühmten Kirche
im Dorf zu bleiben. Deshalb betone ich: Die Ökosteuer,
so wie sie angelegt ist, ist falsch. Sie können über die bestehenden Probleme auch mit entsprechenden Reden
nicht hinwegtäuschen.
({2})
Das erste entscheidende Problem ist und bleibt: Sie
verwenden die Einnahmen aus der Ökosteuer nicht für
den ökologischen Umbau.
({3})
Sie bringen sich selber in Abhängigkeit, weil Sie damit etwas Notwendiges finanzieren. Sie sind auf diese Finanzen
so angewiesen, dass Sie gar nicht hoffen dürfen, dass die
Ökosteuer je wirkt,
({4})
weil Sie sonst gar nicht wüssten, woher Sie das Geld nehmen sollten, um die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung stabil zu halten.
({5})
Man muss das Geld so verwenden, dass man jedes Jahr
weniger dafür verbraucht. Das heißt, dass man im ökologischen Umbau weiter ist.
Zweitens. Was die Energiesteuer betrifft, kommen Sie
aus der Ungerechtigkeit, dass das industrielle Gewerbe
gegenüber allen anderen Firmen deutlich bevorzugt wird,
nicht heraus.
({6})
Ich frage Sie noch einmal: Wer, wenn nicht die Industrie,
soll denn Energie sparen?
({7})
Dadurch ist klar, dass die ökologische Wirkung gegen
Null tendiert.
({8})
Sie können den anderen Firmen auch nicht erklären,
warum diese den vollen Preis zahlen müssen. Damit verwischen Sie auch Marktgesetze.
Der dritte Punkt ist, dass die sozial Schwächeren sowie
die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch die gesamte Ökosteuer ganz deutlich zur Kasse gebeten werden.
({9})
Wenn Sie hier immer große Reden halten, wie Sie ihnen
mit irgendwelchen Steuergesetzen entgegenkommen, ihnen das Geld hier aber wieder wegnehmen, dann sind
diese Reden zumindest hinsichtlich der sozialen Gerechtigkeit nichts wert. Ich sage Ihnen das ganz deutlich.
({10})
Sie dürfen doch nicht nur an die Energiesteuer im engeren Sinne und an die Mineralölsteuer denken. Sie müssen auch einmal an die Heizkosten denken. In meine
Sprechstunde kommen Bürgerinnen und Bürger, die mir
nachweisen, dass sie aufgrund dieser Steuer jetzt 800 DM
pro Jahr mehr zahlen.
({11})
- Ja, sie zahlen allein bei den Heizkosten 800 DM mehr.
Wenn Sie dies nicht zur Kenntnis nehmen, ist es Ihr Problem. Aber das sind die Realitäten. Die müssen Sie sich
einmal anschauen.
({12})
Jetzt komme ich zum Thema Auto. Dass das Auto ein
Problem ist, ist doch unbestritten. Ich sage Ihnen auch
ganz klar: Ja, wir brauchen eine ökologische Steuer. Denn
Umweltverbrauch muss seinen Preis haben. Das ist ganz
klar. Aber diese Steuer brauchen wir nicht. Deshalb stimmen wir Punkt 1 des Antrages der F.D.P. zu. Wir müssen
diese Steuer hinsichtlich der Verwendung der Mittel und
des sozialen Ausgleichs völlig anders anlegen.
({13})
Ich sage Ihnen noch etwas zum Thema Auto. Darüber
kann und muss man ja diskutieren. Das ist ganz klar, und
zwar nicht nur wegen der Schadstoffe, sondern auch wegen der Staus etc. Nur frage ich Sie: Wo und wann haben
Sie je für eine Alternative gesorgt? Wie sieht es denn im
öffentlichen Nah- und Fernverkehr aus?
({14})
Gerade durch die Ökosteuer werden Bahn und Bus noch
teurer. Gleichzeitig werden die Entfernungen zu den
Arbeitsplätzen immer weiter. So sieht die heutige Struktur aus. Sie sagen den Menschen ja nicht, wie sie zu ihren
Arbeitsplätzen kommen sollen. Wissen Sie, das Motto
lautet hier: erst laufen, dann noch frieren. Das ist einfach
ein bisschen viel verlangt und so nicht machbar.
({15})
Deshalb sage ich Ihnen: Die Idee der Ökosteuer geht in
Ordnung. Aber diese Ökosteuer ist ein völliger Griff daneben, und zwar in jeder Hinsicht. Deshalb sollten Sie sie
lieber aufgeben und mit uns eine vernünftige Variante finden,
({16})
die wirklich ökologisch ist, aber auch sozial gerecht ist
und dazu führt, dass wir endlich einen öffentlichen Personennah- und -fernverkehr bekommen, der eine Alternative zum Auto ist.
({17})
Aber man kann die Menschen nicht ohne Alternative vom
Auto wegbringen. Das aber machen Sie. Gleichzeitig erzählen Sie ihnen, sie müssten bereit sein, 100 Kilometer
weit zu fahren, um einen Arbeitsplatz zu finden.
Auch Punkt 2 des Antrages geht in Ordnung. Eine Entfernungspauschale ist viel besser als eine Kilometerpauschale.
({18})
Stellen Sie sich einmal vor: Drei Leute, die in der gleichen
Straße wohnen und 50 Kilometer zu ihren Arbeitsplätzen
fahren, zwingen Sie dazu, dass alle drei getrennt mit
ihrem eigenen Auto fahren, damit sie die Kilometerpauschale erhalten. Bestünde jedoch eine Entfernungspauschale, könnten sie sich wenigstens in nur ein Auto setzen.
Das würde schon deutlich Benzin sparen. Aber nicht einmal dazu sind Sie bereit. Deshalb sage ich: Nein, mit dieser Ökosteuer werden Sie niemals landen.
({19})
So wurden aus drei
Minuten viereinhalb Minuten.
({0})
Jetzt hat der Kollege Reinhard Schultz, SPD-Fraktion,
das Wort.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ökosteuer ist eigentlich für
jede zweite Sitzungswoche ein schönes Thema - keine
Frage. Ich verstehe auch die Absicht, die damit verbunden
ist, dieses Thema in der Urlaubszeit zu besetzen. Das ist
aus Ihrer Sicht taktisch völlig in Ordnung, an der Sache
natürlich leider völlig vorbei.
Es kam ohne Frage zu erheblichen Benzinpreiserhöhungen, und zwar aufgrund von Marktentwicklungen,
einer Verknappung der Rohölproduktion und aufgrund einer Euro-Dollar-Parität, die Importe außerordentlich belastet,
({0})
unsere Exporte dafür deutlich gefördert hat. Man kann
nicht beides - eine Import- und Exportförderung - haben,
sondern das eine geht immer zulasten des anderen.
Der Anteil der Ökosteuer an den Benzinpreiserhöhungen - das ist eben schon dargelegt worden - macht nur einen kleinen Bruchteil aus. Aber wir haben zum Beispiel
beim Strompreis ebenfalls eine Ökosteuerkomponente.
Aber in diesem Bereich sinken aufgrund der Marktentwicklung die Preise. Das heißt, die Steuer beeinflusst im
Gegensatz zu Ihrer Aussage, Herr Kollege Seiffert, nicht
unbedingt die Preispolitik derjenigen, die die Energie liefern. Dass es andere Faktoren gibt, wird gerade an diesem
Beispiel offensichtlich.
Schauen wir uns die Benzinpreise in Deutschland an,
stellen wir fest, dass wir immer noch im oberen Mittelfeld
und nicht etwa ganz oben liegen, da die Benzinpreise aus
den geschilderten Gründen auch in anderen Ländern steigen. Wenn sich also Ihr berühmter Urlauber mit seinem
Auto vom Allgäu abwendet und stattdessen nach Frankreich fährt, zahlt er 10 Pfennig mehr für den Liter Sprit, in
Dänemark sogar 20 Pfennig.
({1})
- Vielleicht fliegt er auch nach Mallorca; es sei ihm
gegönnt. - Aber im europäischen Ausland findet er keine
„Billigbenzinoasen“, die er anfahren könnte. In vielen
Fällen ist das Benzin dort nach wie vor deutlich teurer als
bei uns, im Übrigen auch in Ländern ohne Ökosteuer.
Dass bei uns die Preise, auch wenn sie außerordentlich
hoch sind, im Vergleich zum europäischen Ausland noch
einigermaßen auf dem Teppich geblieben sind, liegt auch
daran, dass wir hier eine halbwegs vernünftige Wettbewerbsstruktur haben. Das Tankstellennetz verfügt - Sie
haben sich diesem Thema dankenswerter Weise bei anderer Gelegenheit zugewandt - dem Umsatzvolumen nach
über 20 Prozent freie Tankstellen. Dadurch wird ohne
Frage im Vergleich zu Frankreich, wo es nur ganz wenige
Kraftstoffanbieter gibt, die Preisgestaltung korrigiert.
Wenn jemand wie Sie, Herr Brüderle, sich jetzt zum
wiederholten Male zum Schutzheiligen der Sozialhilfeempfänger aufschwingt, die mit ihren Dreiliterautos besonders unter den Spritpreisen zu leiden haben
({2})
- natürlich haben Sie das wiederholt getan -, dann muss
man einmal vergleichen, wie sich in Europa die Benzinpreise zu den Arbeitslöhnen verhalten. Wie lange muss
ein Arbeitnehmer eigentlich arbeiten, um einen Liter Sprit
bezahlen zu können? In Deutschland sind es gut fünf Minuten, in Großbritannien 6,5 Minuten, in Italien acht Minuten, in Griechenland mehr als neun Minuten und in Portugal fast 15 Minuten. Obwohl die Preise völlig unterschiedlich sind, zeigt sich deutlich, dass die Preise und die
Einkommen in ein Verhältnis gesetzt werden müssen,
wenn man bewerten will, wie sich der Spritpreis auf das
soziale Gefüge auswirkt. Hier können wir uns mit einer
Arbeitszeit von fünf Minuten im Vergleich mit fast allen
europäischen Ländern gut sehen lassen. Das ist die einzige Kenngröße, die unter sozialen Gesichtspunkten
zählt.
({3})
Wir haben die Ökosteuer bewusst so angelegt - dabei
folgten wir im Übrigen einer Empfehlung der Europäischen Kommission -, dass wir eine Umwidmung erreichen: weg von der überhohen Belastung des Faktors Arbeit hin zur Belastung des Naturverbrauchs, ausgedrückt
durch Energieverbrauch. Diese Rechnung ist nach wie vor
richtig. Ginge aufgrund dieses Mechanismus der Energieverbrauch konsequent zurück - hier gebe ich Ihnen völlig
Recht -, würde sich irgendwann der Effekt aufheben.
Aber unsere Politik ist doch nicht, auf Dauer die Rente
über die Ökosteuer zu finanzieren. Vielmehr geht es darum, bestimmte Verwerfungen aufgrund des demographischen Altersaufbaus und aufgrund von Altlasten, die
mit versicherungsfremden Leistungen zusammenhängen,
zum Beispiel die Finanzierung von DDR-Renten oder von
Renten der Menschen, die aus Russland gekommen sind
und hier nichts eingezahlt haben, aus Steuermitteln zu finanzieren. Das ist ein endliches Problem. Irgendwann
wird der Bedarf an steuerfinanzierten Bestandteilen
zurückgehen, sodass die Ökosteuer für andere Aufgaben
verwandt werden kann.
Der Shell-Konzern stellt dar, dass es in etwa 14, 15 Jahren einen riesigen Aha-Effekt geben wird, weil dann die
Mineralölvorräte der ganzen Welt zu mehr als der Hälfte
verbraucht sein werden. Dann werden Sie einmal sehen,
was wir für Preise haben werden. Wenn wir uns vorher
auch über die Steuerpolitik nicht darauf einstellen und damit initiieren, dass Technologien entwickelt werden, die
mit deutlich weniger Energie auskommen, dann werden
wir unser blaues Wunder erleben, was das Thema moderne Volkswirtschaft angeht. Dann stolpern wir nämlich
in eine Kostenfalle, aus der wir nicht herauskommen werden.
({4})
Das ist der Sinn, deswegen unterstützen uns aufgeklärte
Konzerne bei unserer Politik eines geplanten sanften Anstiegs.
Dass im Augenblick Abzockerei eine Rolle spielt, dass
die Mineralölkonzerne, obwohl die Einstandspreise der
rohölproduzierenden Länder gesunken sind, noch einen
drauflegen, ist nun einmal unmittelbar vor der Ferienzeit
ein Mitnahmeeffekt, der sehr ärgerlich ist. Das Ganze hat
auch etwas mit der Wettbewerbspolitik der großen Ketten
gegenüber den kleinen freien Tankstellen zu tun. Dem gehen wir nach, und das wird auch mit großer politischer
Aufmerksamkeit verfolgt werden.
Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der
F.D.P., haben in Ihrer Kleinen Anfrage, die ich im Übrigen gut finde - die Antwort darauf ist vom 14. Juni -, folgende Eingangsbemerkung gemacht:
Mit einem Anteil von ca. 40 Prozent am
Primärenergieverbrauch in Deutschland nimmt das
Mineralöl eine Spitzenstellung ein. Die Entwicklung des Kraftstoffabsatzes ist daher auch in Zukunft von hervorragender Bedeutung. Trotz steigenden Verkehrsaufkommens wird der Verbrauch von
Ottokraftstoff durch sparsame Fahrzeuge bis zum
Jahr 2010 um circa 18 Prozent ... sinken. Dieselkraftstoff ... ({5}).
Damit bestätigen Sie, dass es trotz mehr Mobilität Effekte
gibt, durch die deutlich weniger Primärenergie, sprich:
Mineralöl, verbraucht wird.
({6})
Ihr wissenschaftlicher Mitarbeiter hat das gut erkannt.
Sie in Ihrer Weinfestlaune, Herr Brüderle, haben das nicht
gelesen. Das ist das Problem. Ich denke, Ihre eigenen Dokumente sind das beste Zeugnis dafür, welche Widersprüche in Ihren Reihen auszutragen sind.
Ich finde es nicht schlecht - ich schließe mich hier ausdrücklich dem Kollegen Loske an -,
({7})
wie sich der ADAC in letzter Zeit auf diese Diskussion
einlässt.
Denken Sie bitte auch
an Ihre Redezeit, Herr Kollege.
Ja, Frau Präsidentin. Der ADAC setzt sich mit an die Spitze der Bewegung, die fordert, Benzin sparende Automobile, die
auch von den kleinen Leuten zu bezahlen sind, zu entwickeln. Das ist eine wesentliche Forderung, die ich für
richtig halte. Wenn man hier breite politische Lobbyarbeit
betriebe, statt dem Spritverbrauch das Wort zu reden, und
dafür sorgen würde, dass intelligente Technik für jeden
verfügbar ist, dann hätte der ADAC eine Chance, eine
ökologisch ernst genommene Einrichtung zu werden, die
auch vom politischen Umfeld mehr Unterstützung bekommen könnte.
Ich bin fest davon überzeugt, dass uns, wenn wir uns in
wenigen Jahren wieder treffen und uns über das unterhalten, was wir an Lenkungswirkungen, an sozialer Absicherung der Rente und an Entlastung des Faktors Arbeit erreicht haben, der Rückblick auf zehn Jahre Ökosteuer
Recht geben wird.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/3519 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
Reinhard Schultz ({0})
einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf:
15. a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen
SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ächtung
der Gewalt in der Erziehung
- Drucksache 14/1247 ({1})
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({2})
- Drucksache 14/3781 Berichterstattung:
Abgeordnete Margot von Renesse
Volker Beck ({3})
Rainer Funke
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend ({4}) zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Jünger, Rosel
Neuhäuser, Christina Schenk, Dr. Gregor Gysi und
der Fraktion der PDS
Ächtung der Gewalt in der Erziehung wirkungsvoll flankieren
- Drucksachen 14/2720, 14/3761 Berichterstattung:
Abgeordnete Rolf Stöckel
Irmingard Schewe-Gerigk
Christina Schenk
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Margot von Renesse, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Vom liebsten Kind des Deutschen, dem Auto, zum Kind. Es gibt eine gute und eine
schlechte Nachricht. Die gute Nachricht: Heute werden
wir endlich das Züchtigungsrecht der Eltern ganz und gar
aus dem Gesetz vertreiben und damit einem alten Anliegen, das alle Kindschaftsrechtler schon seit langem vorgebracht haben, entsprechen.
({0})
Es wäre schön, wenn wir das gemeinsam in diesem Hohen Hause beschließen könnten; denn die Botschaft, die
davon ausgeht, ist nicht, dass wir nun mit Knüppeln auf
die Eltern einschlagen, die ihrerseits, oft in ihrer Not, keinen anderen Weg wissen, mit Kindern umzugehen, die ihnen Schwierigkeiten machen, als mit Gewalt. Wir haben
stattdessen in der Tat vor, mit Mitteln des Kinder- und Jugendhilferechts ihnen dabei behilflich zu sein, andere
Wege gehen zu lernen.
Dies ist etwas, was wir gemeinsam machen müssten,
was wir als Botschaft aus diesem Hause in die Welt
schicken müssten, damit es die Menschen, die es immer
noch für richtig halten, dass man Kindern auch gelegentlich eine Ohrfeige oder gar eine Tracht Prügel verpasst,
damit sie funktionieren, irgendwann nicht mehr gibt. Herr
Pofalla, dies ist nicht Ihre Meinung; ich weiß das wohl.
Umso wichtiger wäre es gewesen, dass wir ein gemeinsames Ja zu diesem Gesetzentwurf aussprechen.
({1})
Sie haben Bedenken. Sie hätten es lieber anders. Sie
hätten es lieber so, wie Sie es in der vergangenen Legislaturperiode hätten haben können. Damals war das, was
Sie jetzt akzeptieren würden, Inhalt unseres Beschlussvorschlags.
Es gibt noch einen Punkt, an dem eine Möglichkeit verpasst ist. Jetzt ist die Situation total anders.
({2})
- Das ist genau das Richtige: Wer zu spät kommt, den bestraft leider das Leben.
Wir haben das Problem, dass wir diese Botschaft nicht
an alle Eltern gleichermaßen richten können; nicht etwa,
dass sie ihren Kindern keine Grenzen setzen, nicht etwa,
dass sie strafbarer werden als strafbar. Dies war auch
schon in der letzten Legislaturperiode nicht unser Ziel.
Um die Strafbarkeit der Eltern ist es uns nie gegangen.
Dies sind Kanonen, die man auf Menschen richtet, die eigentlich Hilfe brauchen. Dies war nie unser Ziel. Strafbarer als strafbar geht es nicht. Insofern kann man hier wirklich sagen: Es geht nicht darum, dass die Familien mehr
mit der Staatsanwaltschaft oder dem Strafrecht konfrontiert werden. Darin sind wir uns einig. Leider gibt es dazu
nicht das gemeinsame Ja. Es wäre schön gewesen.
In diesem Gesetzentwurf ist noch ein zweiter Punkt
enthalten, der zur Folge hat, dass wir dazu nicht gemeinsam Ja sagen können. Es wäre gut gewesen, wenn wir
gemeinsam an einem Unterhaltsrecht hätten arbeiten
können, das dann so sein wird, wie es sein soll, wenn wir
dieses Flickwerk, diesen gordischen Knoten, diesen
Scherbenhaufen von Unterhaltsrecht angehen, den wir
heute nur mit einem ersten Schritt verändern können.
({3})
Denn das, was Sie uns hinterlassen haben, ist grauenhaft.
({4})
- Herr Geis, kein Mensch, der eine Unterhaltsverpflichtung hat, kann mehr durch den Blick ins Gesetz etwas über die schlichteste Verpflichtung erfahren, die ein
Mensch überhaupt hat, nämlich die Verantwortung gegenüber seinem Kind. Wir haben inzwischen ein HexenVizepräsidentin Anke Fuchs
einmaleins, das nur noch Fachleute durchschauen können.
({5})
Das Einfachste vom Einfachen, dass ein Vater und eine
Mutter ihrem Kind Unterhalt schulden, ist nur noch eine
Sache für Experten. Das Unterhaltsrecht ist wie ein Fahrradschlauch, der hundertmal geflickt worden ist und bei
dem inzwischen die Flicken geflickt werden. Die Arbeit,
hieraus wieder ein Ganzes zu machen, bei dem alles zusammenpasst, ist in wenigen Wochen oder Monaten nicht
zu leisten. Hier muss eine saubere und intensive Arbeit geleistet werden, um zu einem tragbaren Ergebnis zu kommen, das keine Bitterkeiten hinterlässt, weil niemand
mehr versteht, warum das Ganze im Ergebnis gerecht sein
soll.
Schauen Sie sich einmal die Rechenprogramme der
Anwälte und das an, was die Familienrichter - mitunter
sogar mit unterschiedlicher Rechtsprechung - überall in
diesem Land entscheiden. Dann fragen Sie sich, ob Sie
der Verantwortung für das Familienrecht in diesem Land
in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit gerecht geworden
sind. Hier werden wir viel Geröll wegräumen müssen, das
Sie uns hinterlassen haben.
({6})
Jetzt machen wir in der Tat nur einen ersten Schritt. Im
Augenblick ist es so, dass eine allein erziehende Mutter
dann, wenn sie Kindergeld und die Nettounterhaltszahlung des Vaters des Kindes bekommt, gerade so viel hat
wie das steuerrechtliche Existenzminimum, das das tatsächliche Existenzminimum nicht erreicht. Die Halbteilung ist eine Theorie, die auf dem Papier steht. Sie entspricht nicht der Realität. Das Ergebnis ist, dass Vater und
Mutter einander hassen, weil die Mutter sagt: „Er zahlt
nicht genug“ - sie schaut in den Kühlschrank und stellt
fest, dass es nicht reicht -, und der Vater in die Tabelle
schaut und sagt: Sie frisst mir die Haare vom Kopf.
Wir haben einen Anfang gemacht. Dies ist aber nicht
genug. Es muss weitergehen und das werden wir tun.
Vielen Dank.
({7})
Ich erteile nun der
Kollegin Ingrid Fischbach, CDU/CSU-Fraktion, das
Wort.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau von Renesse, ich bin etwas enttäuscht. Ich kann
verstehen, dass Sie darüber enttäuscht sind, dass wir nicht
zustimmen, aber dass der Ton dann so wurde, hat mich
enttäuscht. Bisher haben wir immer sehr gut miteinander
geredet.
({0})
Dies fand ich etwas überzogen. Das musste ich jetzt loswerden.
({1})
Kinder sind vor Gewalt zu schützen. Darin sind wir uns
alle einig. Wir alle haben zum Wohle des Kindes Sorge zu
tragen. Zum Wohle des Kindes gehören - auch da sind wir
uns alle einig - seine körperliche und seelische Unversehrtheit. Kinder, die in ihrer Kindheit Gewalt seitens ihrer Eltern erfahren haben, sind eher bereit, später selbst
Gewalt anzuwenden. Studien belegen: Je häufiger bzw.
intensiver befragte Jugendliche in ihrer Kindheit Gewalt
seitens ihrer Eltern erfahren haben, desto positiver bewerten sie selbst die Anwendung von Gewalt. Es gilt diesen Kreislauf zu durchbrechen. Die Frage ist aber, wie wir
diesem Anliegen näher kommen können. Reicht der heute
hier vorliegende Gesetzentwurf?
In der ersten Lesung des vorliegenden Gesetzentwurfs
habe ich für die CDU/CSU-Fraktion einige Fragen angesprochen. Wir haben uns geeinigt, diese Fragen in einer
Sachverständigenanhörung beantworten zu lassen. Einige
sind auch beantwortet worden. Ich möchte jetzt nicht alle
Problemfelder wieder aufreißen; aber lassen Sie mich auf
zwei Aspekte eingehen: zum einen auf den Gewaltbegriff
und zum anderen auf die Justiziabilität des Rechtsanspruchs.
In der Anhörung ist klar geworden, wie schwer es ist,
den Begriff Gewalt zu definieren, vor allem die psychische Gewalt. Ich denke an psychische Misshandlungen
und auch an Kindesvernachlässigung. Hier fällt eine deutliche Abgrenzung schwer; auch die Zuordnung ist kaum
nachvollziehbar.
Es muss aber auch ein Unterschied zwischen der Gewalt allgemein und der Gewalt im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern gemacht werden. Mit dem Gewaltbegriff aus dem Strafrecht können wir nicht automatisch die
Beziehung zwischen Eltern und Kindern erfassen. Muss
Gewalt hier nicht anders definiert werden als im Strafrecht? Oder muss das Gesetz in § 1626 des Bürgerlichen
Gesetzbuches angesiedelt und somit in den gesamten Prozess der Gestaltung des elterlichen Sorgerechts einbezogen werden? Dieses Problem ist meines Erachtens mit
dem heute vorliegenden Gesetzentwurf noch nicht zufriedenstellend gelöst.
Nun komme ich zu dem Aspekt der Justiziabilität. In
vielen Veranstaltungen mit Kindern und Jugendlichen bin
ich gefragt worden: Welche Möglichkeiten haben Kinder
eigentlich, sich auf dieses Recht zu berufen, dieses Recht
durchzusetzen? Auch hier war die Antwort der Sachverständigen eindeutig und klar: Keine. Es gibt für Kinder
keine Möglichkeit, den Anspruch auf gewaltfreie Erziehung durchzusetzen. Das Recht hat lediglich Appellcharakter.
Ich persönlich meine, dass dieser Appellcharakter auch
in der Formulierung des Bundesrates deutlich wird: „Kinder sind gewaltfrei zu erziehen.“ Ich empfinde diese
Formulierung den Kindern und Jugendlichen gegenüber
ehrlicher.
({2})
- Ja, wir lernen ja auch dazu, Frau Kollegin. Sie können
Ihrem Anspruch - das war Ihre Formulierung - jetzt auch
nicht mehr zustimmen. Vor drei Jahren war das noch anders. Es gab also auch bei Ihnen einen Sinneswandel. Das
kann schon mal passieren.
Wir sollten unsere Kinder und Jugendlichen ernst nehmen. Die CDU/CSU-Fraktion hat in den Beratungen versucht zu erreichen, dass sich alle Fraktionen - auch uns,
Frau Kollegin, wäre es lieb gewesen, wir hätten uns einigen können - auf die Formulierung des Bundesrates einigen: „Kinder sind gewaltfrei zu erziehen.“ Das war aber
nicht möglich. Ich persönlich bedauere das sehr.
Da aber auch meine Fraktion die Bedeutung dieses Gesetzentwurfes in Bezug auf die gewaltfreie Erziehung
sieht, die Chance für Kinder anerkennt, den Bewusstseinsprozess von Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen
weiterzubringen, das heißt, deutlich zu machen, dass wir
als Gesellschaft jede Form von erzieherischer Gewalt gegen Kinder ablehnen, haben wir Ihren Vorschlag im Ausschuss nicht abgelehnt. Zustimmen konnten wir nicht; ich
habe gerade deutlich gemacht, warum. Wir haben uns enthalten. Allerdings gilt diese Enthaltung nur für den Teil
des Gesetzentwurfs, der die Ächtung der Gewalt in der Erziehung behandelt. Wir unterstützen damit den Appell,
deutlich zu machen, dass jede Gewalt verkehrt ist.
Aber wir alle sind uns einig, dass dieses Gesetzesvorhaben allein nicht ausreicht. Vielfältige flankierende
Maßnahmen werden nötig sein, eine breite öffentliche
Diskussion über einen umfassenden gesellschaftlichen
Konsens in der Frage der Ächtung der Gewalt in der Erziehung zu erreichen.
Hier sind konkrete Maßnahmen erforderlich wie eine
breit angelegte Informationskampagne, die das Gesetz
bekannt macht. Daneben gilt es, Aufklärungsarbeit zu
leisten. Wir müssen Eltern und Kindern in Konflikt- und
Krisensituationen Wege und Hilfen aufzeigen, wie sie
zukünftig Konflikte ohne Gewaltanwendung bewältigen
können. Deshalb sind unterstützende Regelungen unverzichtbar.
Es gilt, Bewusstsein zu verändern. Eine veränderte Einstellung und ein verändertes Verhalten bei Eltern müssen
wachsen und Unterstützung erhalten. Es kann nicht nur
per Gesetz verordnet werden.
Danke.
({3})
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Ekin Deligöz, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Per Gesetz
können wir sicherlich nicht alles bestimmen, aber wir
können per Gesetz Rahmenbedingungen setzen. Das zu
tun ist auch unsere Aufgabe.
Wir reden heute über einen Gesetzentwurf, der aus
zwei Bestandteilen besteht. Beide sind Meilensteine in
der Rechtsgeschichte. Beide sind für uns Grüne schon seit
langem wichtige Herzensanliegen.
Es geht um die Verbesserung des Unterhaltsrechts.
Die Entwicklung der Unterhaltssätze wird künftig an das
verfügbare Einkommen gekoppelt. Die Hälfte des Kindergeldes erhalten Unterhaltzahlende in Zukunft nur,
wenn sie mehr als das Barexistenzminimum der Kinder
aufbringen, nämlich 135 Prozent. Das hört sich zwar erst
einmal nur formal an. In der Praxis heißt es aber, dass
Einelternfamilien nicht mehr sozialhilfeabhängig werden,
nur weil der Unterhaltszahler die Hälfte des Kindergeldes
erhält und das Kindergeld nicht bei den Familien ankommt. Das ist ein wichtiger Teil sozialer Gerechtigkeit
für Kinder.
({0})
Das ist die Fortsetzung einer Reihe von familienfreundlichen Maßnahmen im Hinblick auf die Familien- und
Steuerpolitik. Denn für uns ist Familie dort, wo Kinder
sind.
({1})
Ein besonderer Grund zu feiern ist der Hauptteil des
Gesetzes. Das ist das Recht auf gewaltfreie Erziehung.
Wir wollen damit signalisieren, dass Deutschland ein kinderfreundliches Land wird. Wir wollen nicht die Eltern
kriminalisieren. Wir setzen auf Hilfe vor Strafe. Das
Recht von Kindern auf gewaltfreie Erziehung führt nachweislich nicht zu mehr Unfrieden in den Familien. Ganz
im Gegenteil: Es verbessert die Sensibilität füreinander,
es steigert die Bereitschaft, Konflikte nicht eskalieren zu
lassen, sondern frühzeitig Unterstützung zu suchen. Es
stärkt die Familien, hilft unseren Kindern und stärkt sie.
Wir wollen ja starke Kinder in der Gesellschaft. In den
skandinavischen Staaten ist die Gewalt gegen Kinder um
bis zu zwei Drittel zurückgegangen. Eine solche Entwicklung wünsche ich mir auch hier in Deutschland.
({2})
Dieses Gesetz überzeugt auch die Skeptiker. Als das
Recht auf gewaltfreie Erziehung vor 20 Jahren in Schweden eingeführt wurde, waren zunächst einmal 70 Prozent
der Bevölkerung dagegen. Heute sind 90 Prozent dafür.
Weniger Gewalt gegen Kinder heißt auch weniger Gewalt in der Gesellschaft. Eine der größten deutschen Studien zeigt: Es gibt viele Ursachen für eine Fehlentwicklung und Störung bei Kindern. Aber nur wenn Kinder Opfer von Gewalt waren, werden sie auch später gewalttätig.
Das wurde uns auch von den Experten in den Anhörungen
bestätigt.
Gewaltfreie Erziehung ist demnach nicht nur eine
Form der Erziehung. Sie ist auch vorbeugende Kriminalpolitik. Volkswirtschaftlich gesprochen ist gewaltfreie ErIngrid Fischbach
ziehung eine Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft, in eine friedliche und demokratische Zukunft.
Dafür möchte ich noch einen weiteren Beleg anführen,
nämlich eine Studie, die aus den USA stammt. Von Professor Pfeiffer wird häufig eine renommierte Untersuchung zitiert, die sich auf die Situation im Dritten Reich
bezieht. Es geht dabei um Personen, die Juden geholfen
haben, indem sie sie versteckt oder ihnen zur Flucht verholfen haben. Das waren ganz unterschiedliche Leute.
Nur ein Merkmal teilen all diese unterschiedlichen Menschen: Das war die gewaltfreie Erziehung, das war die
Form der Kommunikation, die sie in den Familien mitbekommen haben. Es waren in der Tat die Erfahrungen in ihrer Kindheit, die sie dazu gebracht haben, später den aufrechten Gang zu wählen und sich diesen Problemen zu
stellen.
Wenn wir über rechtsextreme Jugendliche im Osten
oder in anderen Teilen Deutschlands reden, wenn wir von
der Gewalt durch Kinder reden, ist dies ein wichtiger Tatbestand.
Mit diesem neuen Gesetz geht in der Tat eine Bewusstseinsfindung einher. Frau Fischbach, wenn Sie wissen
wollen, was wir mit diesem Gesetzentwurf erreichen wollen: Wir wollen die Gewalt gesellschaftlich ächten und
darüber debattieren, wie wir das erreichen können. Wir
wollen die Lücke zwischen der Strafbarkeit und dem
Wegschauen füllen und darüber eine Bewusstseinsbildung in der Gesellschaft herbeiführen. Wir sagen: Jede
körperliche und seelische Gewalt gegen Kinder ist rechtswidrig, und zwar auch dann, wenn versucht wird, diese
erzieherisch zu rechtfertigen. Für Gewalt gibt es keine
Rechtfertigung.
({3})
Für uns kommt es in diesem Bereich auf das Erleben
der Kinder an; ihre Gefühle und Rechte zählen für uns.
Natürlich muss dieses Recht durch eine Aufklärungsarbeit begleitet werden. Die Bundesregierung geht dieses
Problem bereits an und das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat dazu eine Kampagne
gestartet.
Lassen Sie mich zum Schluss noch auf diejenigen Bezug nehmen, für die unser Gesetz hauptsächlich gemacht
ist, nämlich auf die Kinder und Jugendlichen. Im vergangenen Jahr haben sich über 108 000 Kinder und Jugendliche an der ersten deutschen Kinderrechtswahl beteiligt.
Sie wurden gefragt, welche Rechte sie für die wichtigsten
halten und welche Kinderrechte aus ihrer Sicht am meisten verletzt werden. Auf Platz eins landete jeweils das
Recht auf gewaltfreie Erziehung. Deshalb mein Appell
auch an alle Skeptiker: Lassen Sie uns mit diesem Gesetz
den Kindern eine Stimme geben.
Meinen letzten Satz möchte ich an die Kinder richten:
Liebe Kinder, dieses Kinder-nicht-Schlagen-Gesetz ist
euer Gesetz und das werden wir hier gemeinsam durchsetzen.
({4})
Das Wort hat nun der
Kollege Klaus Haupt, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Meine Vorrednerin hat eben
zum Schluss ihrer Rede die UN-Kinderrechtskonvention
und damit im Zusammenhang die deutschlandweite Kinderrechtswahl angeführt. Ich hatte das als Einstieg meiner Rede geplant. Es ist schon beachtlich: 43 Prozent der
Kinder haben das Recht auf gewaltfreie Erziehung als das
wichtigste Kinderrecht in Deutschland formuliert.
({0})
Kinder fühlen sich in ihrer Würde verletzt, wenn sie
Gewalt in der Erziehung erfahren. Wir sollten uns bewusst
werden, dass noch im 19. Jahrhundert die Gewalt des
Hausherrn auch gegen Erwachsene in seiner Familie legal
war und dass es noch im 20. Jahrhundert an den Schulen
die Prügelstrafe gab. Beides erscheint uns heute undenkbar.
Heute ist die Zeit reif, Gewalt in der Erziehung komplett zu ächten und unseren Kindern das Recht auf Gewaltfreiheit zu garantieren.
({1})
Mit diesem Gesetz wird ein Signal dafür gegeben, dass
Erziehung und Gewalt nicht zusammengehören. Die Zeit
ist reif, das Verhältnis der Generationen zueinander neu zu
denken. Die Würde von Kindern und Erwachsenen ist
gleichwertig. Dem Schutz ihrer Persönlichkeit ist gleichermaßen Rechnung zu tragen. Kinder sind nicht Objekte, sondern Subjekte. Sie sind eigene Persönlichkeiten
und Träger von Rechten und Pflichten, die wir Erwachsene ernst nehmen müssen.
Dieses Gesetz hat eine klare Leitbildfunktion. Es wird
kein Erziehungsstil in der Erziehung vorgeschrieben, aber
ein Leitbild von Gewaltfreiheit vorgestellt, das die Würde
des Kindes in den Mittelpunkt stellt.
({2})
Kinder sind gegenüber jeder Gewalt, die ihnen angetan wird, wehrlos. Gewalt hat gravierende Folgen für die
Persönlichkeitsentwicklung von Kindern. Seelische Verletzungen und körperliche Strafen beeinträchtigen das
Selbstbewusstsein des Kindes, erhöhen die Aggressivität,
behindern das Einfühlungsvermögen und die Gewissensbildung. Sie hinterlassen seelische und soziale Verletzungen, die die Entwicklung des Kindes beeinträchtigen.
Deshalb muss die gesellschaftliche Norm klar sein: Gewalt ist kein Erziehungsmittel.
({3})
Denn die Erfahrung von Gewalt wird weitergegeben. Dies
führt zu einem Teufelskreis, in dem die Würde der jungen
Menschen mit Füßen getreten wird.
Der verhängnisvolle Kreislauf von erfahrener Gewalt
und weitergegebener Gewalt muss durchbrochen werden.
Wir alle wissen aber auch, dass sich mit keinem noch so
wohl ausformulierten Gesetzestext eine Veränderung in
der Einstellung, in dem Handeln der Eltern verordnen
lässt. Es ist richtig, Frau Fischbach: Das muss wachsen.
Deshalb sind flankierende Maßnahmen fast noch wichtiger als das Gesetz selbst. Zunächst gilt es, mit einer intelligenten, groß angelegten Informationskampagne
breite Bevölkerungsschichten mit der Botschaft zu erreichen. Es ist aber auch wichtig, dass mit der Änderung des
SGB VIII Jugendämter zur Hilfeleistung für Eltern und
Kinder zur gewaltfreien Konfliktlösung ermächtigt werden. Kinder- und Jugendhilfe, Polizei, Justiz, Psychiatrie
und Schule können wesentliche Unterstützung leisten
und müssen dafür ausgestattet sein.
Die Deutschen geben jährlich 1,5 Milliarden DM für
Erziehungsliteratur aus. Es gibt also einen großen Informationsbedarf. Viele Eltern fühlen sich überfordert. Die
Verunsicherung ist groß. Wie können Kindern Grenzen
gesetzt werden? Welche Möglichkeiten haben Eltern bei
Konflikten? Oft resultiert ja Gewalt in der Erziehung aus
dieser Hilflosigkeit. Hilfe statt Strafe muss das Motto
sein, noch bevor es zum Konflikt kommt, noch vor der
Eskalation.
Das Thema dieses Gesetzes ist lange öffentlich diskutiert worden. Oft war es eine überzogene Debatte, von
heftigen emotionalen Auseinandersetzungen begleitet.
Die Angst, der Staatsanwalt wäre in Zukunft im Kinderzimmer häufiger gefragt als der Sozialarbeiter, ist völlig
unbegründet. Eine Kriminalisierung der Eltern ist ausgeschlossen. Die Änderung des BGB verschafft Kindern bewusst keine unmittelbare Anspruchsgrundlage, sondern
steckt den konzeptionellen Rahmen der Erziehung zugunsten der Kinder ab. Insofern hoffe ich, dass die heutige
Debatte auch zur Versachlichung der Diskussion beiträgt.
Die Frage nach dem Verhältnis von Familie, Erziehung
und Staat trifft einen Kernbereich freiheitlich-demokratischer Grundordnung. Manche sehen in der öffentlichen Diskussion zur gewaltfreien Erziehung Risiken und
Gefahren. Ich sehe die Chance, grundlegende Werte unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung in der
Erziehung ins öffentliche Bewusstsein zu rücken.
({4})
Ich sehe die Chance, einer kinderfreundlichen und familienfreundlicheren Gesellschaft und einer neuen Kultur
des Aufwachsens, wie sie der Zehnte Kinder- und Jugendbericht gefordert hat, den Weg zu bahnen.
({5})
Meine Damen und Herren, das ist eine reizvolle Herausforderung im neuen Jahrtausend, für die sich jede
Mühe lohnt.
Danke.
({6})
Nun erteile ich der
Kollegin Sabine Jünger, PDS-Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Da ich weder über die Fähigkeit des
Kollegen Gysi verfüge, alle Seiten einer Medaille in kurzer Zeit zu erläutern, noch aus meinen vier Minuten sechseinhalb Minuten machen will, will ich nur einen Satz zum
Kindesunterhalt sagen, der einen Teil des Gesetzentwurfes der Bundesregierung darstellt. Wir werden dem
Teil über den Kindesunterhalt zustimmen, auch wenn wir
dabei Bauchschmerzen haben. Denn dies ist ein Schritt in
die richtige Richtung, dem auch wir uns nicht verschließen werden.
Der zweite Teil, dem ich die größere Aufmerksamkeit
widmen werde, betrifft die klare Normsetzung, die mit
dem Verbot der elterlichen Gewaltausübung endlich
erreicht wird. Wir begrüßen dies nachdrücklich. Ich hoffe
noch immer - das sage ich ganz ehrlich -, wir sind uns alle
in diesem Hohen Hause darüber einig, dass weder körperliche noch seelische und auch nicht emotionale Gewalt
gegen Kinder und Jugendliche geeignete Erziehungsmaßnahmen sind und dass all diese Maßnahmen das Menschenrecht auf Unverletzlichkeit der Würde von Kindern
und Jugendlichen verletzen. Deshalb sind wir der Meinung - ich hoffe wirklich, dass wir alle dieser Meinung
sind -, dass Kinder und Jugendliche ein Recht auf gewaltfreie Erziehung haben.
({0})
Wir werden heute - auch davon war schon die Rede ein Leitbild schaffen und für die notwendige Rechtssicherheit sorgen. Ich denke - darüber bin ich mir mit meiner Fraktion im Klaren -, dass ein Leitbild allein natürlich
nicht reicht. Der Kollege Haupt hat es eben angesprochen:
Eine normative Änderung ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung. Er muss aber durch verschiedenste Maßnahmen flankiert werden. Darüber ist schon viel geredet
worden.
Wir haben einen eigenen Antrag in den Deutschen
Bundestag eingebracht, der heute auch zur Abstimmung
steht. Ich möchte kurz auf seine wesentlichsten Punkte
eingehen, weil ein Leitbild und eine Normsetzung wichtig sind.
Wir müssen Kindern und Jugendlichen Rechte einräumen und ihre Stellung gegenüber den Sorgeberechtigten,
gegenüber den Institutionen der Jugendhilfe und in familiären Auseinandersetzungen stärken. Dazu gehört für
mich ein effektiverer Schutz von Kindern und Jugendlichen und auch lebensweltliche Hilfestellung. Kinder und
Jugendliche brauchen eigene Rechte. Sie brauchen ein
Recht auf Entwicklung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Dazu gehört für mich auch eine Demokratisierung
der Jugendhilfe. Kinder und Jugendliche müssen auch
gegenüber dem Jugendamt eigene Rechte haben. Für uns
gehört auch dazu, dass Kindern und Jugendlichen eine
Anspruchsinhaberschaft auf Hilfen nach § 27 bis § 35
SGB VIII Anspruch auf Hilfe eingeräumt wird. Man muss
auch einen freiwilligen Zugang zur Inobhutnahme schafKlaus Haupt
fen und ihn erleichtern. Dazu gehört für uns auch ein eigenständiges Aufenthaltsbestimmungsrecht ab 12 Jahren
({1})
- lassen Sie mich diesen Satz zu Ende bringen, Frau von
Renesse -, mit Unterstützung der Jugendhilfe. Dazu
gehört für uns auch, dass man betreute Wohnformen für
Jugendliche unterstützt. Ab 16 Jahren sollten sie eine eigene Wohnung anmieten können.
Das Kinder- und Jugendhilfegesetz muss endlich Vorrang vor ausländerrechtlichen Bestimmungen haben.
Dazu gehört natürlich eine breite Aufklärungskampagne.
Darüber ist schon viel geredet worden und darüber wird
sicherlich auch noch viel geredet werden. Man muss dafür
sorgen, dass jedes Kind, jeder Jugendliche, aber auch jedes Elternteil wissen, dass wir heute - zu dieser nicht
mehr ganz frühen Stunde - das vorliegende Gesetz verabschiedet haben, und dass jeder den Inhalt des Gesetzes
kennt.
Wichtig sind auch der Ausbau von Prävention und Intervention sowie ein flächendeckendes Netz von Kinderund Jugendschutzzentren. Dazu gehört, dass man Familien bei ihren Erziehungsaufgaben unterstützt und dass
man Formen gewaltfreier Konfliktlösung vermittelt.
Dazu gehört auch, dass man endlich die Prävention statt
die Folgekosten der Gewalt finanziert. Dafür werden wir
uns auch weiterhin einsetzen.
In diesem Sinne hoffe ich, dass das Gesetz ein Schritt
in die richtige Richtung ist und dass die Gewalt gegen
Kinder und Jugendliche deutlich zurückgeht.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat nun der
Kollege Rolf Stöckel, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Ich hätte mich am Anfang meiner Rede auch
gerne an die Kinder gewandt. Aber um 21.44 Uhr sind hoffentlich - die meisten Kinder im Bett und schlafen.
Das, was die Kollegin Deligöz gesagt hat, nämlich dass
wir heute ein Kinder-nicht-Schlagen-Gesetz verabschieden, ist tatsächlich eine gute Botschaft für die Kinder in
unserem Land.
({0})
Ich möchte aber auch aufgrund eigener Erfahrung an
die Adresse der Väter und Mütter sagen: Es gibt bei der
Erziehung von Kindern - das ist klar - immer wieder Situationen der Überforderung. Deswegen geht es uns nicht
um Strafverfolgung und Kriminalisierung. Es gibt bestehende Vorschriften, über die wir mit dem vorliegenden
Gesetz nicht hinausgehen.
Frau Fischbach, seit den Sonntagsreden im Internationalen Jahr des Kindes 1979 ist es nicht gelungen - auch
nicht in der letzten Wahlperiode, als wir eine Vorlage mit
der genauen Formulierung Ihres Vorschlags hier eingebracht haben -, das Recht der Kinder auf eine gewaltfreie
Erziehung in eine Reform des Kindschaftsrechts einzubinden.
({1})
Das lag wohl in erster Linie daran, dass die CDU/CSU immer wieder das Gespenst der Kriminalisierung der Familie an die Wand gemalt hat.
({2})
Sie stehen mitten im Leben - ich weiß das, Herr Geis -;
aber ich frage mich, in welchem Jahrhundert.
({3})
Der Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen liegt auf
einer Linie mit der Entschließung des Bundestages zum
Zehnten Kinder- und Jugendbericht. Hierin ist auch die
Stellungnahme der alten Bundesregierung zur gewaltfreien Erziehung eindeutig. Lesen Sie es nach! Nicht die
oft übertriebene öffentliche Debatte über die Gewalt, die
von Kindern und Jugendlichen ausgeht, sondern die Debatte über die Gewalt gegen Kinder und Jugendliche
und vor allen Dingen die Ächtung und der Abbau dieser
Gewalt stehen heute im Mittelpunkt.
({4})
Wenn es Erwachsenen mit der Bekämpfung von Jugendkriminalität Ernst ist, dann müssen sie Vorbild sein,
Regeln aufstellen und Grenzen setzen. Erziehen: ja, aber
das Schlagen muss endlich ein Tabu werden.
({5})
Alle Kinderorganisationen in Deutschland fordern das
seit Jahrzehnten: der Kinderschutzbund mit Aktionen wie
„Kinder brauchen Liebe, keine Hiebe“, die „National Coalition“ ebenso wie das Aktionsbündnis für Kinderrechte.
Ich bin stolz, dass diese Regierungskoalition und die
Mehrheit in diesem Hause - Herr Haupt, wir sind Ihnen
für Ihre Rede sehr dankbar - endlich das Versprechen erfüllen, unser Land kinderfreundlicher zu machen. Wir
werden der Einlösung dieses Versprechens heute ein wesentliches Stück näher kommen.
({6})
Ich finde es schade, dass der Bundestag dieses Zeichen
heute nicht einstimmig setzt.
Wir wissen, dass heute noch immer rund 57 Prozent
aller Eltern in Deutschland ihre Kinder mit Ohrfeigen
oder Schlimmerem bestrafen.
({7})
Wir wissen, dass Kinder, die Gewalt erleiden oder Gewalt
zwischen den Eltern miterleben müssen, später zwei- bis
dreimal so oft wie Kinder ohne solche Erfahrungen selbst
zu Gewalttätern werden. Wir wollen diesen Teufelskreis
durchbrechen.
Heute vollzieht der Bundestag wahrlich eine weitere
historische Zäsur im bürgerlichen Recht, die dem Leitbild
einer zivilisierten und demokratischen Gesellschaft
entspricht. Das ist das Gegenteil der Zucht von eingeschüchterten Untertanen und Befehlsempfängern.
Die Kritiker sagen - das wissen wir -, das Gesetz sei
ein Papiertiger. Kinder, die erstmals neben dem Erziehungsrecht der Eltern nicht nur Schutz vor schwerer Misshandlung, sondern auch ein eigenes Recht auf gewaltfreie
Erziehung bekommen, können nicht gegen den Klaps der
Eltern klagen. Aber sie können erfahren, dass es Unrecht
ist, sie zu schlagen, egal aus welchem Anlass. Es geht uns
um Grundwerte, um Orientierung, um eine Konsequenz,
die eine bedeutsame Leitbildfunktion für zukünftiges politisches, aber auch gesellschaftliches Handeln haben
wird.
Ohne zu pauschalisieren, möchte ich auch diejenigen
Eltern ansprechen, die eingewandert sind und die aufgrund kultureller Traditionen Gewalt in der Familie für
selbstverständlich halten. Man muss klar sagen: Diese
Traditionen sind mit den Grundrechten unvereinbar.
Wenn die Politik das verschweigt, dann ist das schlicht
unglaubwürdig.
Statt Kriminalisierung wollen wir Hilfen für die betroffenen Kinder und Eltern. Dazu gehören erreichbare
und aufsuchbare Hilfen, wie Nottelefone und Beratungseinrichtungen. Aber auch die sozialen Rahmenbedingungen für gewaltfreie Erziehung in den Familien müssen
insgesamt verbessert werden. Durch die Ergänzung des
SGB VIII im Kinder- und Jugendhilfegesetz sollen niedrigschwellige und wirksame Hilfsangebote für Eltern geschaffen werden.
Wir wissen, dass wir damit der kommunalen Ebene
und den Trägern der Jugend- und Familienhilfe eine weitere große Verantwortung übertragen; aber es wird sich
lohnen. Wie viel Leiden, Gewalt und soziale Folgelasten
können durch zusätzliche Anstrengungen und Zusammenarbeit präventiv verhindert werden? Wie viel Lebensqualität und sozialer Frieden können dadurch gewonnen
werden?
Das wird nur gelingen, wenn wir es schaffen, dass dieses neue Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung in
aller Munde ist, breite öffentliche Auseinandersetzungen
provoziert und nicht nur Eltern, Jugendämter und Pädagogen anregt. Wir begrüßen daher ausdrücklich, dass die
Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und auch die Bundesministerin der Justiz eine breit
angelegte Kampagne zur gewaltfreien Erziehung vorbereitet haben, die in Kürze anläuft. Sie besteht aus einem
multimedialen Dach und aus Information, Fundierung
durch Praxisobjekte und Vor-Ort-Aktionen im ganzen
Land.
Herr Kollege, denken
Sie an Ihre Redezeit.
Ich komme zum Schluss. - Das
Konzept ist stimmig. Darum lehnen wir im Übrigen auch
den viel zu allgemeinen PDS-Antrag ab.
Wir alle können etwas tun, das Notwendige möglich zu
machen, nicht nur, indem wir mehr Zivilcourage zeigen
und nicht wegschauen, wenn zum Beispiel Stresssituationen an der „Quengelkasse“ des Supermarktes eskalieren,
sondern wir können auch in den Wahlkreisen dafür werben.
Wir fordern mehr Respekt für Kinder. Machen Sie mit!
Schaffen wir ein breites Bündnis für Kinderrechte. Es
liegt in unserer Hand, das neue Jahrhundert zum Jahrhundert der Kinder zu machen.
Herzlichen Dank.
({0})
Jetzt hat das Wort der
Kollege Ronald Pofalla, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Bei mancher Rede, die hier
gehalten wurde, musste man den Eindruck gewinnen, als
ob heute tatsächlich ein ganz besonderer historischer Tag
({0})
- lassen Sie das doch einmal - sei, weil eine Regelung getroffen wird, die längst ins Gesetz gehört hätte.
Eines bedaure ich dabei - das möchte ich gleich an den
Anfang meiner Rede stellen -: In der vergangenen Wahlperiode haben wir bei anderen Mehrheitsverhältnissen
größten Wert darauf gelegt, große Reformen Kindschaftsrechtsreformgesetz, Kindesunterhaltsgesetz,
erbrechtliche Regelungen, Namensrecht - weitestgehend
einvernehmlich zu verabschieden. Auf diese Feststellung
lege ich deshalb großen Wert, weil uns das alle gemeinsam sehr viel Mühe gekostet hat. Wir haben über Monate
Berichterstattergespräche geführt und haben am Schluss
weitestgehend Einvernehmen zwischen allen Fraktionen
hergestellt. Ich bedaure sehr - ich werde gleich versuchen,
das zu erklären -, dass dieses beim jetzt vorliegenden Gesetz nicht möglich gewesen ist.
In diesem Zusammenhang nehme ich die sozialdemokratische Bundestagsfraktion ausdrücklich aus, weil mit
den Sozialdemokraten, vertreten durch Frau von Renesse,
aber auch durch den Staatssekretär Pick, am Anfang sehr
ernsthafte Gespräche geführt wurden, um auch hier zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen. Für diese Gespräche will ich mich ausdrücklich bedanken.
Dann ist etwas innerhalb der Koalition passiert: Nachdem schon auf Veränderungen zum bestehenden Gesetzentwurf eingegangen worden war, sollten auf einmal
Dinge, die schon angedacht waren, so nicht mehr umgesetzt werden. Jetzt liegt ein Gesetzentwurf vor, der in der
Tat im Detail erhebliche Mängel aufweist, die wir im Ergebnis für so umfassend halten, dass wir heute dieses Gesetz ablehnen. Ich werde das gleich im Detail begründen.
Vorausschicken möchte ich auch noch, dass es keine
Fraktion im Deutschen Bundestag gibt - das sollten wir
doch auch einmal positiv zur Kenntnis nehmen -, die gegenüber dem zur Debatte stehenden Gesetzesziel ernsthaft eine unterschiedliche Position bezogen hätte. Diese
gibt es nicht.
({1})
- Das gilt für alle Bundestagsfraktionen, Herr Kollege.
Das weiß auch Frau von Renesse, die genauso wie andere
Kolleginnen und Kollegen auch in der letzten Legislaturperiode bei dem Versuch sehr hilfreich gewesen ist, für
dieses Problem gesetzliche Regelungen zu finden.
Ich möchte jetzt die nun gefundene Formulierung, die
zumindest von Einzelnen als historische Leistung dargestellt wird, verlesen:
Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung.
Über diesen Satz reden wir. Aber keiner von Ihnen, auch
niemand vonseiten der Sozialdemokraten, hat gesagt,
dass es sich dabei wirklich um einen einklagbaren
Rechtsanspruch handele. Ich frage mich da allen Ernstes, wie sich das zur bestehenden gesetzlichen Regelung,
die auch keinen Rechtsanspruch enthält, verhält. Wir unterhalten uns also über die verschiedene Wirkung unterschiedlich starker deklaratorischer Aussagen im Zivilrecht. Das ist die eigentliche Streitfrage, über die wir hier
reden. Sehen Sie hier wirklich einen gravierenden Unterschied? Ich sage jedenfalls offen, dass ich es sehr bedaure,
dass Sie auf unser Angebot, von der Bundesratsformulierung auszugehen, nicht eingegangen sind. Ich muss hier
namentlich die Grünen nennen.
Diese Koalition muss noch lernen, darauf zu achten, beim
Verfolgen wichtiger gesellschaftspolitischer Ziele ein
breites Einvernehmen im Parlament herzustellen. Diese
Einigung ist letztendlich an den Grünen gescheitert, was
ich bedaure. Dennoch sollte man hier diese Feststellung
treffen.
Ich komme jetzt zu den großen Beratungsangeboten,
die diese Bundesregierung im Gesetz verankert hat. Ich
will die entsprechende Stelle vorlesen, weil solche Regelungen häufig untergehen. In § 16 Abs. 1 des Achten Buches SGB wird die Formulierung aufgenommen:
Sie
- damit sind die Jugendämter gemeint sollen auch Wege aufzeigen, wie Konfliktsituationen
in der Familie gewaltfrei gelöst werden können.
Wenn das Ihre Lösung bezüglich der praktischen Umsetzung ist, dann wird Ihnen jeder, der mit Konfliktsituationen in Familien und mit Situationen zu tun hat, in denen
Familien scheidungsbedingt auseinander fallen und sie
unter den sich daraus ergebenen Konflikten leiden, sagen:
Das, was Sie hier machen, ist auf dem untersten Niveau
des wirklich Zumutbaren. Sie wissen das.
({2})
Ich will Ihnen offen sagen, dass sich in diesem Punkt
sehr deutlich zeigt, wie ernst Sie es mit dem historischen
Tag der Umsetzung des § 1631 BGB meinen. Sie haben
im SGB eine Formulierung gefunden, die ich bezüglich
ihrer Umsetzung fast als Unverschämtheit empfinde.
Nach meiner festen Überzeugung verdeutlicht dies, wie
ernst Sie es mit den Beratungsangeboten meinen.
Ich komme zum Unterhaltsrecht. Sie haben dort Regelungen gefunden, die wir teilen. In § 1612 a Abs. 4 BGB
haben Sie eine Regelung gefunden, die ich sprachlich
kompliziert finde. Dennoch sage ich, dass das Ziel richtig
ist. Sie haben in § 1612 a Abs. 5 BGB eine Regelung gefunden, die mit der Anpassung an die Nettolohnentwicklung von der Zielrichtung her ebenfalls richtig ist. Ich will
Ihnen aber ersparen, § 1612 a Abs. 5 BGB vorzulesen.
Wenn ich diesen Absatz hier vorlesen würde, dann würde
nur ein Bruchteil der hier Anwesenden verstehen, was da
eigentlich wie geregelt werden soll, auch wenn hier eine
Reihe von Juristen sitzen.
({3})
- Provozieren Sie mich nicht, ihn vorzulesen. Dann würde
wirklich deutlich werden, wohin der Weg führt.
Ich lese Ihnen jetzt aus der Beschlussempfehlung vor.
Dort heißt es - Zitat -:
Besonders schwer wiegen dabei folgende Probleme:
Das Unterhaltsrecht ist auf verschiedenen Gebieten
inzwischen so unübersichtlich geworden, dass seine
Ergebnisse für die Beteiligten oft nur schwer nachvollziehbar sind.
Ich sage zu der Regelung, die Sie gleich verabschieden
wollen: Die Unübersichtlichkeit nimmt zu und die sprachliche Art und Weise, mit Gesetzeszielen umzugehen, hat
nach meiner festen Überzeugung das Maß des Erträglichen überschritten. Deshalb hatten wir in den Berichterstattergesprächen darum gebeten, zu einfacheren Formulierungen zu kommen, die uns ursprünglich zugesagt
waren.
Im letzten Absatz der Beschlussempfehlung heißt es:
Die Bundesregierung wird gebeten, zügig und mit allem Nachdruck das geltende Unterhaltsrecht, insbesondere hinsichtlich seiner Abstimmung seiner Inhalte mit sozial- und steuerrechtlichen Parallelregelungen sowie der Auswirkungen der in § 1612 b
Abs. 5 BGB vorgeschlagenen Änderungen in der
Praxis, gründlich zu überprüfen und Vorschläge zu
seiner Neuregelung einzubringen.
Das ist für mich das erste Mal, dass wir im Deutschen
Bundestag ein Gesetz verabschieden, wobei die, die die
Mehrheit haben, das Gesetz zu verabschieden, gleichzeitig beschließen, dass das, was sie gerade beschließen, so
falsch ist, dass die Bundesregierung gebeten wird, es
möglichst zügig wieder zu überarbeiten.
({4})
Das ist eine Form von Gesetzesflickerei, die Sie vorher
immer kritisiert haben und die Sie jetzt selber machen.
Ich gehe jetzt auf den § 1612 b Abs. 5 BGB ein. Diejenigen, die an der Anhörung teilgenommen haben, wissen,
dass mit dieser Regelung des § 1612 b Abs. 5 BGB Beweislastprobleme entstehen,
({5})
die wir in der Praxis bisher nicht hatten. Nach der bisherigen Regelung, so unübersichtlich sie auch sein mag, waren die Beweislastprobleme gelöst. Nach der jetzigen
Regelung werden sie durcheinander gebracht, weil simple
Beweislastregelungen, die bisher galten - so mehrheitlich
die Auffassung der Sachverständigen, die vorgetragen haben -, auf den Kopf gestellt werden, übrigens mit der Auswirkung, dass aus der Sicht derjenigen, die unterhaltsberechtigt sind, die Beweisführung in bestimmten Konstellationen hinsichtlich der Unterhaltsmöglichkeiten und der
Unterhaltspflicht des Unterhaltsverpflichteten erschwert
wird. Das, was Sie im Gesetzesziel wollten, wird also auf
den Kopf gestellt.
Beim Unterhaltsvorschuss kommt es aufgrund Ihrer
gesetzlichen Regelung zu zwei Rückgriffverhältnissen;
bisher hatten wir nur eines. Wenn Sie das für eine Vereinfachung im Gesetz halten, mag das, bitte schön, Ihre Sicht
der Dinge sein, aber de facto führt dies dazu, dass wir zu
einer komplizierteren Regelung kommen.
Dann kommt der Abschnitt betreffend das Unterhaltstitelanpassungsgesetz. Bisher konnten solche Titel einfach angepasst werden. Ihre Regelung des Unterhaltsrechts führt dazu, dass Sie eine Titelanpassung nach
§ 655 ZPO vornehmen müssen mit all den formalen
Schwierigkeiten, die damit verbunden sind.
Diese wenigen Beispiele zeigen, dass die neuen Regelungen, prozessual und praktisch gesehen, die Situation
der Unterhaltsberechtigten sogar erschweren. Wir haben
Ihnen angeboten, Regelungen zu erarbeiten, an denen wir
uns beteiligen, wofür wir aber in der Tat Zeit benötigt hätten. Diese Zeit haben Sie nicht gesehen. Wir bedauern das
außerordentlich. Das, was Sie jetzt im Unterhaltsrecht
einführen, führt in der Praxis zu zusätzlichen Schwierigkeiten, zu einem zusätzlichen Prozessaufwand.
({6})
Sie führen außerdem noch einen neuen Prozentsatz
ein. Für das beschleunigte Verfahren galt bisher der anderthalbfache Satz. Jetzt führen Sie im Unterhaltsrecht
den 1,35-fachen Satz ein. Ich will durchaus zugestehen,
dass Sie mit dieser kleinen Veränderung gegenüber dem
ursprünglichen Entwurf wenigstens Zwischentabellen in
der Düsseldorfer Tabelle verhindern. Nach dem ursprünglichen Entwurf wäre es auch noch dazu gekommen.
Ich will am Schluss für Folgendes werben: Lassen Sie
uns im Bereich des Kindschaftsrechts und des Unterhaltsrechts - ich biete das ausdrücklich an - in Zukunft mehr
Zeit nehmen. Lassen Sie uns den Versuch unternehmen,
zu einvernehmlichen Lösungen zu kommen, wie wir das
in der vergangenen Legislaturperiode auch geschafft haben. Nur, wenn Sie solche Vorlagen machen wie diese,
werden Sie von unserer Seite dafür keine Zustimmung
finden.
Herzlichen Dank.
({7})
Zu einer Kurzintervention erteile ich jetzt der Kollegin Ekin Deligöz das
Wort.
Herr
Kollege Pofalla, Sie haben ja namentlich die Grünen angesprochen. Deshalb möchte ich Ihnen auch antworten.
In der Tat, als wir das letzte Mal eine Debatte zu diesem Gegenstand hatten - ich glaube, das war die letzte
Debatte, die in Bonn stattgefunden hat -, habe ich selber
den Kolleginnen und Kollegen, auch aus Ihrer Partei, angeboten, uns gemeinsam hinzusetzen, weil ich mir gesagt
habe: Wir senden Signale; deshalb müssen wir an diesem
Bereich gemeinsam arbeiten.
Wir haben gemeinsam eine Anhörung durchgeführt.
Ich habe immer gesagt - und dazu stehe ich auch -: Ich
will keine Wischiwaschiformulierung, ich will, dass Kinder als Rechtssubjekte gelten. Weiter habe ich gesagt: Ich
schlage nirgendwo ein, wo ich nicht die Sicherheit habe,
dass mir dann auch die Gegenseite entgegenkommt. Dies ist so nicht geschehen. Deshalb können Sie die Grünen jetzt nicht als die Verhinderer hinstellen.
Wir Fachpolitiker haben uns untereinander sehr gut
und sehr lange darüber unterhalten - auch mit dem Ministerium, auch mit dem Staatssekretär - und sind dann zu
der Erkenntnis gekommen, dass die Form, die wir gewählt
haben, die richtige ist, wenn wir dieses Gesetz tatsächlich
ernst meinen.
Zum Schluss zum Kinderunterhaltsgesetz: Sie sagen,
das Ganze sei kompliziert und die Kompliziertheit nehme
zu. Das haben Sie gerade wiederholt. Ich sage Ihnen eines: Die Gerechtigkeit für Kinder von allein erziehenden
Müttern nimmt zu.
({0})
Wir stellen die Kinder in den Vordergrund und dazu stehe
ich auch; denn ich bin - das gebe ich zu - Sozialpolitikerin.
Wir haben mit dem Entschließungsantrag bekundet,
dass wir das Unterhaltsrecht reformieren wollen: Wir haben das heute Mittag im Zusammenhang mit der BAföGReform angesprochen. Wir sprechen auch im ZusammenRonald Pofalla
hang mit dem Rentenrecht darüber, dass wir das Unterhaltsrecht reformieren müssen, genauso wie in sehr vielen
anderen Bereichen, zum Beispiel in der Sozialhilfe. Und
wenn wir dann sagen, dass wir dazu stehen, dass das Unterhaltsrecht reformiert werden muss, was ist dann daran
verwerflich?
Wir haben hier einen wichtigen Schritt getan. Reden
Sie auch einmal mit dem Verband Alleinerziehender Mütter und Väter und nicht nur mit den Unterhaltzahlenden
Vätern.
({1})
Herr Kollege Pofalla,
Sie können darauf antworten. - Das wollen Sie nicht.
Dann erteile ich nun der Bundesjustizministerin
Dr. Herta Däubler-Gmelin das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der
Tat ist heute ein sehr guter Tag für die Kinder in Deutschland, außerdem übrigens für alle, die sich für Recht und
gegen Gewalt aussprechen.
({0})
Ich danke allen, die diesen Tag möglich gemacht haben.
Ich hätte Sie, Frau Fischbach, und Sie, Herr Pofalla,
gerne dabei gehabt. Ich finde es schade, dass Sie nicht
über diese Hürde gesprungen sind. Ich glaube auch, dass
das, was Sie uns vorgetragen haben, Ihr Nein nicht
rechtfertigt. Aber das werden Sie mit sich selbst ausmachen müssen.
Jeder Einsichtige unter uns weiß - auch Herr Haupt hat
es gesagt -, dass sich Erziehung und Gewalt ausschließen.
Deswegen ist das ganz klare Signal, das von dem Gesetz,
das wir heute beschließen, ausgeht: bessere Erziehung ja,
Gewalt nein.
({1})
Das ist eine sehr klare und deutliche Formulierung.
({2})
Wir wollen die bessere Erziehung, Herr Geis - das wissen Sie eigentlich auch -, und wir müssen alle gemeinsam
Gewalt begrenzen. Das sagt uns der gesunde Menschenverstand und nicht nur ein Pädagoge oder Wissenschaftler. Das Ziel muss darin bestehen, mündige, verantwortungsbewusste Erwachsene und Staatsbürger zu erziehen, die gelernt haben, Konflikte auszutragen, und zwar
mit Worten und Argumenten und nicht mit Gewalt, die
Situationen vernünftig einschätzen können und die vor allen Dingen wissen, was richtig und was falsch ist.
All das gehört zu den Grundlagen eines friedlichen
Zusammenlebens und muss in den Familien eingeübt
werden. Auch das muss durch Erziehung vermittelt werden. Wer Prügel oder Schläge zulässt oder wer selbst prügelt oder schlägt, macht das Gegenteil: Er lehrt Verhaltensmuster, nach denen der Stärkere und nicht der mit den
besseren Argumenten Recht hat. Das ist genau falsch.
({3})
Wir wissen - lassen Sie mich das als Zweites sagen -:
Gewalt ist in unserer Gesellschaft ein Problem. Die Aggressivität bei Kindern und jungen Menschen nimmt zu.
Das wird uns von Erzieherinnen und Erziehern und von
Lehrerinnen und Lehrern immer wieder gesagt. Das ist einer der Gründe, warum diese Bundesregierung - und zwar
nicht, indem sie geschmäcklerisch an diesem und jenem
herumkrittelt, um dann doch nicht zustimmen zu müssen auf den verschiedenen Gebieten, um die es geht, ganz
klare Signale gesetzt hat und auch weiterhin setzen wird.
({4})
Wir alle wissen auch: Kinder werden nicht gewalttätig
geboren, sondern Kinder werden gewalttätig durch
schlechte Vorbilder und schlechte Erziehung, kurz, weil
sie Gewalt lernen. Das wissen wir aus eigener Erfahrung
und das sagt uns der gesunde Menschenverstand. Jetzt
wissen wir es auch aus vielen Untersuchungen. Auch das
ist ein Grund, warum wir hier handeln.
Jetzt komme ich zu der Formulierung. Ich habe nicht
verstanden, warum Sie meinen, diese Formulierung kritisieren zu müssen. Auch Ihre Formulierung bringt kein
einklagbares Recht. Unsere Formulierung dagegen drückt
aus, dass es ein moralisches Recht gibt. Diesen Rechtszustand verbinden wir mit einem Appell, der außerdem den
Vorzug hat, dass er sich in der Formulierung der Kinderrechtskonvention annähert. Diesen völlig eindeutigen
Vorteil müssten Sie eigentlich erkennen.
({5})
Ansonsten müssen Sie den Leuten draußen Ihre Haltung erklären. Sie können nicht einerseits sagen, Sie seien
der Meinung, dass Gewalt nicht zur Erziehung gehört,
wenn Sie andererseits sagen, dass Sie gegen diese Formulierung sind. Das wird Ihnen niemand abnehmen.
({6})
Verehrter lieber Herr Geis, wir unterhalten uns schon
lange über dieses Thema. Schon Mitte der 70er-Jahre waren wir auf dieser Seite des Hauses der Auffassung, Sie
sollten sich bewegen. Wir haben es auch in den vergangenen 16 Jahren nie geschafft, Sie dazu zu bringen. Heute
werden wir es schaffen, unsere Vorstellungen durchzusetzen. Ich fordere Sie nochmals dazu auf, wenn Sie es ernst
meinen, mit uns zu stimmen.
({7})
Es ist nämlich so: Wir wollen mit dieser Formulierung
zum Ausdruck bringen, dass Kinder nicht Objekte der Erziehung sind, sondern dass sie Subjekte, Rechtsträger
sind. Das sind sie nach unserer Verfassung, wie Sie alle
ganz genau wissen, schon heute.
({8})
Wir wollen das auch im Kindschaftsrecht und im Familienrecht deutlich zum Ausdruck bringen. „Kinder haben
ein Recht auf gewaltfreie Erziehung“ - das ist eine klare
Formulierung, die das alles hergibt und die vor allen Dingen den Ihnen, lieber Herr Geis, wahrscheinlich nicht
ganz geheuren Paradigmenwechsel, dass Kinder nicht
mehr Objekt von irgendetwas sind, sondern dass Kinder
eigene Rechte haben, sehr deutlich macht.
({9})
- Sie rufen jetzt irgendetwas dazwischen. Ich hoffe, dass
es wenigstens das Richtige ist.
({10})
Meine Damen und Herren, es gibt einige Oberschlaue,
die sagen, dies sei keine vernünftige Norm, weil die strafrechtliche Sanktion fehle. Sie habe keinen Wert. Wer so
etwas sagt, der muss sich gelegentlich fragen lassen, wie
zynisch man eigentlich noch werden muss, um hier sehr
klar zu unterscheiden, was Recht und was strafbewehrtes
Recht ist.
Es ist völlig richtig: Wir setzen nicht auf ein verstärktes Wirken des Staatsanwaltes bzw. der Polizei. Wir setzen vielmehr auf Überzeugung und auf die Eltern bzw. Erwachsenen
({11})
- Herr Geis, ich weiß, es ist schwer -, die dies hören wollen und die sich dann auch entsprechend verhalten.
({12})
Aber in der Tat setzen wir auf mehr Hilfe durch die Jugendämter.
Herr Pofalla, was Sie in diesem Zusammenhang gesagt
haben, hat mir sehr gut gefallen. Dass wir bei dieser Norm
nicht ein Mehr an Beratung vorgesehen haben, hat einen
ganz einfachen Grund: Es gibt bereits eine Erziehungsund Familienberatung. Sie wissen ganz genau, dass dieses
Mosaiksteinchen gefehlt hat. Deswegen haben wir es eingefügt. Stimmen Sie also unserem Gesetzentwurf zu.
Dann wird Ihre Haltung in diesem Bereich glaubwürdig.
Lassen Sie mich noch eines sagen: Ich bedanke mich
bei all denen, die in der Öffentlichkeit mit uns dafür gestritten haben - seien das nun die Elternverbände, die Kinderschutzverbände oder, Herr Pofalla, der Familiengerichtstag, auf dem wir beide gemeinsam waren und wo gesagt wurde, dass diese Formulierung die richtige sei -,
diese klare Formulierung in den vorliegenden Gesetzentwurf hineinzuschreiben.
({13})
Ich bedanke mich bei der Öffentlichkeit, damit sie weiß,
wie wichtig das ist, was sie begonnen hat und was ich jetzt
weiterführen muss.
Jeder, der dafür sorgt, dass Erziehung ohne Gewalt
durch ein gutes Vorbild oder dadurch, dass er andere da,
wo er dies kann, in die Pflicht nimmt, realisiert wird, tut
sehr viel mehr gegen Gewalt in unserer Gesellschaft als
jemand, der sich dann, wenn eine Gewalttat passiert ist,
furchtbar aufbläst, entrüstet und nach geschlossenen Heimen ruft.
({14})
Das muss uns sehr deutlich sein. Dann ist auch klar,
warum dies heute ein guter Tag für die Kinder und für diejenigen ist, die gegen Gewalt in Deutschland sind.
Lassen Sie mich noch etwas zum Unterhaltsrecht sagen. Ich habe Sie, Herr Pofalla, nahezu bewundert, wie
viele Worte Sie gebraucht haben, um deutlich zu machen,
dass Sie nicht wollen, dass Alleinerziehende ein bisschen
mehr Kindergeld bekommen.
({15})
Herr Pofalla, es ist überhaupt nicht zu bestreiten, dass die
in diesem Zusammenhang erforderliche technische Regelung sehr schwierig ist. Dass in dieser Beziehung bisher
nichts getan worden ist, ist übrigens nicht nur unsere
Schuld, sondern auch die derjenigen, die in den letzten
16 Jahren die Verantwortung getragen haben. Es ist unsere
gemeinsame Schuld.
Deswegen halte ich den in diesem Zusammenhang eingebrachten Entschließungsantrag für ausgesprochen richtig und für sehr ehrlich. Jeder weiß, dass bei uns die Systematik und die Bestimmungen des zivilen Unterhaltsrechts, des sozialen Unterhaltsrechts und des steuerlichen
Unterhaltsrechts nur noch schwer miteinander vereinbart
werden können und dass wir gemeinsam auf diesem Gebiet etwas tun müssen. Nur, wir sprechen nicht nur darüber, sondern wir werden auch etwas tun. Ich werde auf
Ihre Worte zurückkommen. Vielleicht können Sie als
CDU/CSU ja wenigstens bei diesem Punkt zustimmen.
Ein Herz für Kinder ist nicht nur ein gutes Motto für einen Autoaufkleber.
({16})
Man muss auch klare Signale geben, wenn es um die Formulierung von Rechten im Kindschaftsrecht, um Rechte
für Kinder, geht. Man muss Farbe bekennen, wenn es darum geht, allein erziehenden Müttern oder Vätern ein
bisschen mehr Kindergeld zu übertragen. Das tun wir
jetzt. Deswegen ist heute ein guter Tag für die Kinder.
({17})
Ich bedanke mich bei meiner Kollegin, bei der Bundesministerin für Familien, Senioren, Frauen und Jugend,
dass - hoffentlich von uns allen - in den nächsten Monaten im Rahmen einer Aufklärungskampagne ÜberzeuBundesministerin Dr. Herta Däubler-Gmelin
gungsarbeit geleistet werden kann, um eine Veränderung
im Denken bzw. in den Köpfen hinzubekommen.
Herzlichen Dank und gute Nacht.
({18})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung, Drucksachen 14/1247 und 14/3781. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung
zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der
CDU/CSU-Fraktion angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf
ist gegen die Stimmen der CDU/CSU angenommen worden.
({0})
Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3781 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Bei Enthaltung von CDU/CSU und F.D.P. ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend zu dem Antrag der Fraktion der PDS mit dem
Titel „Ächtung der Gewalt in der Erziehung wirkungsvoll
flankieren“, Drucksache 14/3761. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/2720 abzulehnen.
Wer folgt dieser Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! Enthaltungen? - Damit ist die Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({1}) zu dem
Antrag der Abgeordneten Norbert Hauser ({2}),
Norbert Röttgen, Dr. Norbert Blüm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
„Wort halten“ Umsetzung der Bonn/Berlin-Beschlüsse
- Drucksachen 14/1004, 14/2699 Berichterstattung:
Abgeordnete Dieter Wiefelspütz
Cem Özdemir
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Norbert Hauser, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn es
noch einer Begründung bedurft hätte, warum wir uns
heute mit dem Thema Bonn-Berlin, dem Berlin/BonnGesetz und seiner Einhaltung befassen, dann muss man
sich nur den „Express“ von heute ansehen, in dem ein
Brief des Landwirtschaftsministers Funke wiedergegeben
ist, aus dem ich mit Genehmigung der Präsidentin zitieren
möchte.
Herr Kollege, dazu
brauchen Sie nicht meine Genehmigung.
Herzlichen
Dank.
Hier heißt es:
Wie es ab 2002 weitergeht, bleibt abzuwarten. Ich
schließe nicht aus, dass der Umzugsbeschluss und
damit die Aufgabenteilung Bonn/Berlin dann auf den
Prüfstand kommen.
Weiter äußerte sich der Bundeslandwirtschaftsminister
dazu, was dies konkret für das Ministerium bedeutet:
Darüber kann man nur spekulieren. Warten wir es
also ab!
Dann hat die Sprecherin des Ministeriums noch einen
draufgesetzt und gesagt:
Bonn geht es doch besser als je zuvor. Die Stadt hat
überhaupt nicht mit den nachteiligen Folgen des Umzugs zu kämpfen. Vor diesem Hintergrund verstehe
ich nicht, was es da für Sorgen gibt.
Ob man ein Gesetz einhält oder es bricht, wird also
mittlerweile davon abhängig gemacht, ob es demjenigen,
dem Rechte aus dem Gesetz zustehen, gut oder nicht gut
geht. Hier muss man den Eindruck haben, dass Sie sich
längst von dem Berlin/Bonn-Gesetz verabschiedet haben
und dass es Ihnen nicht mehr um seine Einhaltung geht,
sondern dass Sie bereit sind, dieses Berlin/Bonn-Gesetz
zu brechen.
({0})
Meine Damen und Herren, es geht hier darum, dass der
Deutsche Bundestag unmissverständlich erklärt, dass er
zu seinen eigenen Gesetzen steht und dass er bereit ist, an
der Umsetzung dieser Gesetze nicht nur mitzuwirken,
sondern auch darauf zu achten, dass diese Gesetze nach
Buchstaben und Sinn eingehalten werden.
Die Kollegen des Haushaltsausschusses sind ja eigentlich sozusagen die Creme des Parlamentes
({1})
und der Haushaltsausschuss ist der Ausschuss, in dem die
vernünftigen Leute sitzen, die wissen, wie es mit dem
Geld steht und wie man mit Geld umzugehen hat.
Der Haushaltsausschuss hat diesem Antrag zugestimmt.
Daran sieht man, dass das Anliegen durchaus berechtigt
ist.
Ich komme jetzt zu den Gründen, die genannt werden,
warum alles geändert werden müsse.
Zum einen nennt man das Kostenargument. Man
sagt: Das ist alles viel zu teuer. - All diejenigen, die die-
ses Argument anführen, möchte ich fragen: Haben Sie am
20. Juni 1991 nicht gewusst, dass es mit Ministerien an
zwei Sitzen teurer sein könnte als in einem Zentrum? Die-
jenigen, die einwenden, 1991 habe man noch überhaupt
keine Erfahrung mit den Dingen gehabt, frage ich: Wie
war es denn am 26. April 1994, als das Berlin/Bonn-Ge-
setz verabschiedet wurde? Haben Sie es da immer noch
nicht gemerkt? Oder haben Sie am 20. Juni 1991 nur ge-
dacht, man könne ruhig eine faire Arbeitsteilung zwischen
Berlin und Bonn versprechen, um die Zustimmung zum
Umzug zu bekommen? Oder haben Sie vielleicht am
26. April 1994 gedacht, man solle die Leute in Bonn noch
ein bisschen ruhig stellen?
Ein zweites Argument ist, es gebe zu viele Reibungs-
verluste. - Staatssekretär Großmann, der heute Abend
hier ist, hat auf eine Frage von mir im Januar 2000 fest-
gestellt, dass es durch die Arbeitsteilung zwischen den
beiden Dienstsitzen Berlin und Bonn zu keinen nennens-
werten Schwierigkeiten komme und dass die Arbeitstei-
lung sehr gut funktioniere. Das ist sicherlich auch ein Ver-
dienst des Hauses von Herrn Großmann.
Dann gibt es eine Reihe von Kollegen, die sagen, in
den Ausschüssen mangele es manchmal an Informatio-
nen; wir hätten nicht immer die Damen und Herren sofort
vor Ort, die wir in der Ausschusssitzung bräuchten. -
Meine Damen und Herren, ich möchte Sie daran erinnern,
dass dieses Problem mit dem Gesetz und der Aufteilung
zwischen Berlin und Bonn überhaupt nichts zu tun hat.
Wenn beim Haushaltsausschuss oder beim Rechnungs-
prüfungsausschuss manchmal 40, 50 oder 60 Beamte auf
den Fluren warten, mit der Aussicht, vielleicht einmal für
fünf Minuten in den Raum gelassen zu werden, dann muss
man sich fragen, a) ob dies den Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeitern gegenüber zumutbar ist und b) ob dies nicht eine
Verschleuderung von Humankapital ist. Hier geht die
Frage an uns selber, welche Ansprüche wir stellen. Wenn
wir permanent im Munde führen, dass wir eine moderne
Dienstleistungsgesellschaft schaffen wollen und dass man
für Multimedia und IT mehr tun müsse, aber uns ansonsten so verhalten, als wären wir noch in der Paulskirche
und als wäre E-Mail so weit entfernt wie der Andromedanebel, dann müssen wir uns selber fragen, ob es nicht an
uns ist, etwas zu ändern.
Der Umzug von Bonn nach Berlin würde, wenn denn
alle Ministerien nach Berlin kommen sollten, für Bonn
den Verlust von etwa 30 000 Arbeitsplätzen bedeuten.
Diesen Arbeitsplatzverlust kann die Region nicht verkraften. Dies ist auch für die betroffenen Familien nicht
zumutbar. Die Stadt Bonn braucht Planungssicherheit für
den weiteren Strukturwandel. Sie tragen Verantwortung
für die Familien, denen Sie mit dem Berlin/Bonn-Gesetz
versprochen haben, dass sie in Bonn bleiben können, und
denen Sie noch beim Abschied von Bonn versprochen haben, dass Sie zu den Zusagen und zu dem Inhalt des Gesetzes stehen.
Deshalb fordere ich Sie als Kollegen und auch die Bundesregierung auf, diesen Diskussionen endlich ein Ende
zu bereiten, für Planungssicherheit zu sorgen und den
Menschen in Bonn deutlich zu machen, dass Sie zu Sinn
und Buchstaben des Gesetzes noch heute stehen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat nun der
Kollege Hans-Peter Kemper, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seit der denkbar knappen Entscheidung, den Parlamentsund Regierungssitz nach Berlin zu verlegen, sind nun gut
neun Jahre vergangen. Herr Dr. Schäuble, damals noch
starker Mann in der CDU/CSU-Fraktion - das hat sich inzwischen gründlich geändert -, hielt eine flammende
Rede für den Umzug nach Berlin und für die Hauptstadt
Berlin. Man sagt ihm sogar nach, in der CDU/CSU-Fraktion sei seine Rede das Zünglein an der Waage zugunsten
Berlins gewesen.
Heute reden wir über einen Antrag, den er im vergangenen Jahr als Noch-Fraktionsvorsitzender gestellt hat
und in dem er die schleppende Umsetzung des Bonn/
Berlin-Beschlusses bejammert. Haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, eigentlich
vergessen, dass Sie schon 1991 und bis 1998 an der Regierung waren - Sie hatten nach dem Beschluss alle Möglichkeiten, einen vernünftigen Umzug vorzubereiten und wir, als Sie uns Ihren Antrag auf den Tisch gelegt
haben, gerade einmal anderthalb Jahre an der Regierung
waren?
({0})
Sie waren doch geradezu Berlin-süchtig. Schauen Sie
sich doch einmal den Kanzleramtsbau an, den wir am
Platz der Republik stehen haben und von Ihnen übernehmen mussten.
({1})
Ich denke, mit diesem scheinheiligen Antrag wollen
Sie von den vielen dringenden Problemen ablenken, bei
deren Lösung Sie sich heute verweigern. Ihr Antrag
stammt vom Juni 1999; zu dem Zeitpunkt waren wir noch
gar nicht umgezogen und konnten überhaupt noch nicht
wissen, wie die Arbeitsbedingungen in Berlin aussehen
würden. Dass nicht alles fristgerecht fertig werden würde,
war damals schon klar; aber das hat nicht diese Regierung
zu verantworten, sondern das haben wir als Altlast von
Ihnen übernommen.
({2})
Norbert Hauser ({3})
Die Ausgleichszahlungen für Bonn waren längst angelaufen. Alles lief reibungslos und von daher war Ihr Antrag genauso überflüssig wie entlarvend.
({4})
Meine Damen und Herren von der Opposition, was
bemängeln Sie eigentlich? Wir sind im Juli/August nach
Berlin umgezogen. Ich will Ihnen deutlich sagen: Ich habe
nicht zu denen gehört, die sich über den Berlin-Beschluss
gefreut haben. Ich habe auch nicht zu denjenigen gehört,
die sich über den Berlin-Umzug gefreut haben. Ich habe
zu denen gehört, die einen Antrag unterschrieben haben,
den Umzug nach Berlin so lange zu verschieben, bis dort
alles fertig ist - gegen einen Umzug in Provisorien! Als
Nordrhein-Westfale habe ich ganz erhebliche Sorgen
gehabt, was aus der Region Bonn werden würde und wie
wir in Berlin ankommen würden.
Nach den Anfangsschwierigkeiten, die bei einem Umzug dieser Größenordnung immer vorkommen, haben wir
hier recht gute Arbeitsbedingungen vorgefunden, auch
wenn sich diese verbessern lassen und auch noch verbessern werden, wenn wir in den endgültigen Liegenschaften
untergebracht sind. Die Bedingungen sind aber annehmbar und das Leben hier hat sich normalisiert.
Viele von uns, die damals mit großen Bauchschmerzen
nach Berlin umgezogen sind, fühlen sich inzwischen
wohl,
({5})
trotz der Unzulänglichkeiten und gelegentlichen Ärgernisse, auf die ich gleich zu sprechen komme.
In Bonn hat es keine dramatischen strukturellen Einbrüche gegeben. Die Arbeitslosenzahlen sind nicht gestiegen. Die Mieten und Immobilienpreise sind nicht gesunken, ganz im Gegenteil: Die durch den Verlust der
Hauptstadtfunktion für die Region Bonn entstandenen
Veränderungen werden strukturell recht gut abgefangen.
Das Eisenbahn-Bundesamt, das Bundeszentralregister,
das Bundeskartellamt, der Bundesrechnungshof, das Statistische Bundesamt, das Bundesamt für Arzneimittelkunde, das Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen und diverse Entwicklungshilfeeinrichtungen waren
früher nicht in Bonn, wohl aber jetzt: Dort haben viele
ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die nicht mit
nach Berlin umziehen wollten, einen sicheren dauerhaften
Arbeitsplatz gefunden. Die vereinbarten Ministerien sind
in Bonn geblieben, mit Kopfstellen in Berlin.
Herr Hauser, da ich natürlich wusste, dass Sie den Artikel des „Express“ anführen würden, in dem von konspirativen Unternehmungen des Bauernministers und einem
Geheimpapier die Rede ist, habe ich mir den Brief von
Herrn Funke besorgt. Es handelt sich keinesfalls um ein
Geheimpapier, sondern um einen Brief des Landwirtschaftsministers Karl-Heinz Funke an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - also völlig öffentlich -, weil er zu
einer Personalversammlung nicht kommen konnte. Wenn
Sie etwas zitieren, gebietet es die Fairness, dass Sie auch
komplett zitieren. Der Hauptsatz in diesem Schreiben von
Landwirtschaftsminister Funke lautet:
Es gibt das Bonn/Berlin-Gesetz und damit eine klare
Rechtslage. Und daran halten wir uns.
Es wäre einfach nur fair gewesen, wenn Sie diesen Satz
ebenfalls zitiert hätten, denn dieser gibt die Wirklichkeit
wieder.
({6})
- Jawohl.
Die Arbeitsfähigkeit - daran gibt es zwischen uns
wohl keinen Zweifel - muss sowohl in Bonn als auch in
Berlin gewährleistet sein. Sie muss immer wieder überprüft und auch verbessert werden. Ich möchte nicht erleben, dass unsere Arbeit aufgrund falscher Personalgewichtungen in Bonn oder Berlin hier behindert würde
oder Sie nicht genügend Informationen bekämen. Dann
möchte ich mal sehen, welchen Zirkus Sie veranstalten
würden! Daher müssen wir das ständig überprüfen.
Es werden weitere europäische und internationale Einrichtungen folgen. Die vereinbarten Ausgleichsmaßnahmen haben doch ihre Wirkung nicht verfehlt. Bis
Juni 1999 waren von den zugesagten 2,81 Milliarden DM
bereits 2,68 Milliarden DM für konkrete Maßnahmen im
Bereich der Wissenschaft, der Kultur und der Wirtschaftsförderung ausgegeben bzw. fest verplant. Nordrhein-Westfalens hervorragender Ministerpräsident
Wolfgang Clement,
({7})
der die nordrhein-westfälischen Interessen wirklich mit
großem Einsatz vertritt, hat mehrfach darauf hingewiesen
({8})
- Herr Westerwelle, vielleicht werden Sie irgendwann
auch einmal daran beteiligt, wenn Sie brav sind ({9})
dass die Region Bonn inzwischen brummt. In der Region
sind inzwischen mehr Arbeitsplätze als vor dem Berlinumzug vorhanden.
Wir debattieren hier über einen Antrag der Opposition,
der von der Sache her längst erledigt ist. Sie schlagen mit
Ihrem Antrag die Schlachten von gestern. Er ist nicht
mehr als eine Luftnummer.
({10})
Haben Sie den Bericht, den die Bundesregierung am
13. September 1999 vorgelegt hat, nicht gelesen? Darin
steht doch haarklein, was als Ausgleich für den strukturellen Verlust für Bonn inzwischen geleistet wurde. Ich
will Sie hier nicht mit Zahlen langweilen, aber wenn Sie
den Bericht selbst nicht gelesen haben und die Zahlen
nicht kennen, muss ich vielleicht stichpunktartig einige
nennen. Es wurden geleistet: für den Bereich Wissenschaft 1,6 Milliarden DM, für den Bereich Kultur
100 Millionen DM, für den Bereich Wirtschaft 300 Millionen DM, für den Bereich Verkehr 500 Millionen DM und
an Soforthilfe 210 Millionen DM. Außerdem haben wir
Grundstücke bereitgestellt, um die Ansiedlung von Einrichtungen zu erleichtern. Ich denke, dies ist eine ganze
Menge und kann sich sehen lassen.
Sie versuchen mit Ihrem Antrag vergebens, den Eindruck zu erwecken, als ob es einen Niedergang in der Region Bonn und Umgebung gäbe. Ich frage die beiden
Norberts aus Bonn - eigentlich sind es drei, die in der Kopfleiste des Antrags stehen, und eben habe ich einen vierten
Norbert aus Nordrhein-Westfalen ausgemacht, der die
Kleine Anfrage gestellt hat; das Umzugsproblem scheint
also in erster Linie ein Problem der Norberts zu sein -:
({11})
Warum verunsichern Sie die Menschen, die in Bonn und
Umgebung leben, völlig grundlos? Dies würden Sie sicher nicht tun, wenn Sie nicht am 27. September 1998 völlig zu Recht - in der Opposition gelandet wären.
({12})
Und Berlin? Die Stadt hat sicher von dem Hauptstadtbeschluss profitiert. Nachdem sie zunächst alles daran gesetzt hat, Hauptstadt und Regierungssitz zu werden, empfing sie uns dann, als wir hierher kamen - sozusagen als
kleines Dankeschön -, mit der Zweitwohnungssteuer. Die
Berliner Kollegen müssen schon ertragen, dass ich das
hier erwähne. Die ständige Sperrung des Brandenburger
Tors durch Demonstranten ist gelegentlich lästig. Ganz
besonders geärgert hat uns aber der Marsch der Neonazis
durch das Brandenburger Tor. Das war beschämend.
({13})
Diese Bilder sind mit verheerender Wirkung um die Welt
gegangen. So etwas darf sich nicht wiederholen; hier gibt
es klare Verantwortlichkeiten.
Berlin hat mit dem Hauptstadtbeschluss Verpflichtungen übernommen, die eingehalten werden müssen. Uns
aus Nordrhein-Westfalen war klar, welche Mehrbelastung
ständige Staatsbesuche und Objektschutz für die Sicherheitskräfte bedeuten. Das musste auch den Berliner Verantwortlichen klar sein. Von daher sind Klagen und immer
neue Forderungen an den Bund in diesem Bereich unverständlich.
Die Unterbringung der Polizeibeamten, die letztlich
auch für unsere Sicherheit verantwortlich sind, war im
letzten Winter derart katastrophal, dass mein Kollege
Günter Graf hier im Plenum in einer Kurzintervention die
Verbesserung dieser Unterbringung gefordert hat und
beim Berliner Innenminister Werthebach massiv vorstellig geworden ist mit dem Ziel, die Situation der Polizeibeamten hier zu verbessern.
Ich denke aber, dass der Umzug angesichts des gewaltigen Volumens und der gewaltigen Schwierigkeiten, die
mit ihm verbunden waren, recht gut gelaufen ist. Berlin ist
auf gutem Weg, eine Hauptstadt mit Charme und ein guter
Gastgeber zu werden. Bonn ist auf gutem Weg, eine
Bundesstadt mit hervorragenden Perspektiven zu werden.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
sind auf gutem Weg, die Fraktion der Nörgler zu werden.
Schönen Dank.
({14})
Jetzt hat der Kollege
Guido Westerwelle von der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen
und Kollegen! Ich will vorab zwei Punkte ansprechen.
Der Antrag ist in der Sache nicht zu beanstanden. Diejenigen, die sich dem Berlin/Bonn-Gesetz und den entsprechenden Vereinbarungen verpflichtet fühlen, werden,
wenn sie den Antrag gelesen haben, nicht gegen ihn sprechen können.
Die Frage ist - das muss man der CDU/CSU-Fraktion
sagen -, ob es klug war, diesen Antrag als Fraktion in den
Deutschen Bundestag einzubringen - entgegen der Praxis, die wir als Abgeordnete der Region immer geübt haben, nämlich gemeinsam überparteiliche Initiativen einzubringen, um den Anliegen unserer Region mehr Nachdruck zu verleihen. Ob dieses Vorgehen klug gewesen ist,
müssen wir dahingestellt sein lassen.
({0})
Herr Kollege Kemper, ich will Ihnen aber auch ausdrücklich sagen: Das, was heute als Brief des Landwirtschaftsministers zitiert wurde, reiht sich auch aus meiner
Sicht in die traurige Reihe von Vorkommnissen seitens
der Bundesregierung ein.
({1})
Das hat jetzt gar nichts mit irgendwelchen parteipolitischen „Kartereien“ zu tun. Es geht ganz einfach darum, ob
das, was wir in der Abschiedssitzung im Deutschen Bundestag in Bonn alle heftig beklatscht haben, nämlich dass
wir uns auch noch in Berlin Bonn verpflichtet fühlen,
Realität bleibt oder ob wir hier nach der Devise handeln:
Aus den Augen aus dem Sinn.
({2})
Das ist die eigentliche Sorge, die wir haben müssen. Das
hat nichts mit irgendwelchen parteipolitischen „Kartereien“ zu tun.
Ich stelle fest: Wir haben ein Gesetz. Das Gesetz bindet alle. Es bindet selbstverständlich auch die Bundesregierung. Schon wie der Bundesumweltminister mit den
Nachfolgebehörden des Bundesgesundheitsamtes umgegangen ist, ist aus meiner Sicht eine Strapazierung der
Vereinbarung und des Gesetzes. Ich weiß, dass es bei SPD
und Grünen viele Kolleginnen und Kollegen gibt, die das
ganz genauso sehen.
Meine Damen und Herren, wenn hier jetzt Zitate von
Herrn Funke gebracht werden: Es ist Ihr berechtigtes
Bemühen, Ihren Parteikollegen in Schutz zu nehmen. Es
bleibt aber ein befremdliches Zitat. Nicht der Antrag, über
dessen taktische Klugheit wir reden können, ist die Ursache der Verunsicherung. Die Ursache der Verunsicherung sind solche Äußerungen, zumal wenn sie schriftlich
gemacht werden.
({3})
Es ist ein echtes Problem, wenn Sie in Bonn Anrufe
von Betroffenen bekommen, die auch Planungssicherheit
brauchen - Anrufe, wie wir alle sie in vergleichbaren Fällen in unseren Wahlkreisen bekämen; Bonn ist auch mein
Wahlkreis -: Was ist denn jetzt da? Was passiert denn jetzt
dort? Wer das Berlin/Bonn-Gesetz jetzt für die Zeit nach
2002 öffentlich schriftlich infrage stellt, der macht meiner
Meinung nach einen ganz großen, einen historischen Fehler.
({4})
Wir sind von Bonn nach Berlin umgezogen, nicht weil
Bonn gescheitert ist, sondern weil wir hier die Vollendung
der deutschen Einheit bewältigen konnten. Das ist ein
riesiger Unterschied. Das gilt auch für die Diskussion
Bonner Republik/Berliner Republik, Weimarer Republik/Bonner Republik. Hier wird etwas fortgesetzt und
nicht etwas beendet. Das ist auch meiner Meinung nach
ein ganz großer Unterschied im Denken, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen.
({5})
Dass dieser Antrag notwendig ist, können Sie - bei
allem Respekt vor der imposanten Präsenz des Bundeskabinetts - auch daran erkennen, dass der Umzugsbeauftragte der Bundesregierung nicht hier ist.
({6})
- Der Umzugsbeauftragte ist nicht hier!
({7})
- Wo ist er denn? Sie sind der Umzugsbeauftragte? Ich
dachte, das ist Herr Klimmt.
({8})
- Sie vertreten ihn? Ich bin begeistert darüber, dass Sie da
sind. Aber bei allem Respekt vor der Funktion eines
Staatssekretärs: Die Anwesenheit des Ministers, des Umzugsbeauftragten ist schon eine Frage der Achtung vor
diesem Parlament.
({9})
Auch das Bundeskanzleramt ist hier heute nicht vertreten.
({10})
- Ich weiß gar nicht, was ihr wollt. Wenn wir da sein können, kann doch von denen auch jemand da sein, oder
nicht?
({11})
Herr Kollege, trotzdem ist Ihre Redezeit jetzt abgelaufen.
Ich danke Ihnen,
Frau Präsidentin, für diesen Hinweis.
Ich möchte noch eines sagen, was mir, meine Damen
und Herren, Kolleginnen und Kollegen, ein ernstes Anliegen ist.
Herr Kollege, denken
Sie bitte an Ihre Redezeit.
Darf ich noch einen
letzten Satz sagen, Frau Präsidentin?
Für Sie ist das Ganze vielleicht Jux. Ich sage Ihnen:
Wenn führende Minister des Bundeskabinetts - der Landwirtschaftsminister sitzt ja in der ersten Reihe des Kabinetts - derartige Erklärungen abgeben, dann, meine ich,
wäre es auch Aufgabe des Bundeskanzlers - oder seines
Vertreters -, hier Klartext zu reden
({0})
und solche Äußerungen richtig zu stellen. Das ist eine
Chance, die er verpasst hat.
({1})
Nun hat das Wort die
Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig, Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zunächst zu dem, was ich an dem Antrag korrekt finde: Der Bundestag soll bekräftigen, dass die beschlossenen Ausgleichsmaßnahmen in vollem Umfang
realisiert werden - das werden sie -, dass die für Bonn
vorgesehenen Bundesbehörden gemäß der geltenden Gesetzes- und Beschlusslage umziehen werden - das tun sie -,
und dass sich der Bund weiterhin um die Ansiedelung zusätzlicher Institutionen, insbesondere internationaler Organisationen, nach Bonn bemüht - das tut der Bund. Von
daher glaube ich, dass man nicht sagen kann, dass sich die
rot-grüne Bundesregierung nicht für den Ausgleich der
Bonner Interessen einsetzt.
Trotzdem muss ich, nachdem wir nun ein Jahr hier sind Ihr Antrag ist ja schon ein Jahr alt - deutlich sagen: Es hilft
nicht, wenn wir nur Schaufensterreden halten. Wir haben
als Parlament Verantwortung auch da
({0})
- ja, das werde ich -, wo wir Probleme mit dem Berlin/Bonn-Gesetz haben. Wir wollen sie zumindest schrittweise in die Diskussion einbringen, uns ihnen stellen und
sie nicht verdrängen.
({1})
- Moment, lassen Sie mich doch reden, liebe Frau Kollegin, dann werden Sie verstehen, was ich meine.
Es geht darum, dass wir mit der Vorgabe des Gesetzes
zunehmend Schwierigkeiten mit der Effektivität des
Verwaltungshandelns haben: Auf der einen Seite
müssen wir die Funktionsfähigkeit der Regierung in Berlin und die Zusammenarbeit mit Bundestag und - ab
Herbst - Bundesrat gewährleisten und auf der anderen
Seite über die Hälfte der Arbeitsplätze in Bonn belassen.
({2})
- Nein, hören Sie doch einmal zu, Frau Kollegin.
Wir haben einen enormen Zeit-, Kosten- und Kraftaufwand. Ich möchte, dass wir uns diesem Thema ehrlich
stellen.
({3})
Wir können es unserer Verwaltung, unseren Ministerinnen und Ministern sowie den Führungskräften nicht ständig zumuten, dass wir vor diesem Problem praktisch die
Augen verschließen und so tun, als gäbe es das Problem
nicht.
({4})
Tatsache ist: Wir haben derzeit 11 400 Arbeitsplätze
der Regierung - ohne die nachgeordneten Behörden - in
Bonn, 8 200 in Berlin, also knapp 60 Prozent in Bonn,
42 Prozent in Berlin. Die Ministerien mit dem ersten
Dienstsitz in Bonn - das sind beispielsweise das Ministerium für Gesundheit und das Ministerium für Ernährung,
Landwirtschaft und Forsten, aber auch das Ministerium
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit - haben
rund 25 Prozent ihrer Arbeitsplätze in Berlin. Die Ministerien, die ihren ersten Dienstsitz in Berlin haben, weisen
ganz unterschiedliche Quoten auf. Ich will einmal ein paar
Beispiele nennen - ich denke, es ist schon wichtig, dass
wir in dem Punkte Klarheit haben -: Das Bundesministerium des Innern hat beispielsweise 30 Prozent aller
Arbeitsplätze in Bonn, das der Finanzen 46 Prozent und
das Arbeitsministerium schließlich 76 Prozent.
Ich denke, wir müssen nach einem Jahr Regierungstätigkeit ehrlich Bilanz ziehen: Wir betreiben insbesondere für die Führungskräfte unserer Ministerien einen unzumutbaren Aufwand, der sich zu verfestigen droht. Dieser Diskussion müssen wir uns bei aller Sympathie für die
Region Bonn stellen. Wir erwarten gerade von der Führungsebene, dass sie auf der einen Seite die Koordination
der Ressorts mit dem Bundestag und künftig auch mit
dem Bundesrat leistet und auf der anderen Seite nach innen in effizienter Weise bis in die unteren Arbeitsebenen
hineinwirkt. Ich sage Ihnen: Das wird auf Dauer nicht gut
gehen. Ich weiß, dass das ein sehr schwieriges Thema ist,
aber wir als Parlament können nicht einfach so tun, als
könnten wir dieses Problem verdrängen.
Von daher gilt meiner Meinung nach: Auf der einen
Seite dürfen wir die Augen vor den Problemen nicht verschließen, in dem wir mit Schaufensteranträgen so tun, als
bräuchten wir uns dem Thema nicht zu stellen, und auf der
anderen Seite gilt es - das möchte ich sehr deutlich sagen -,
das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Es ist wichtig, dass die einzelnen Ministerien nunmehr prüfen - das
erfordert auch Zeit, die man den Ministerien lassen sollte,
zumal die Arbeitsfähigkeit nach dem Umzug bei den meisten betroffenen Ministerien noch nicht oder erst seit
kurzem hergestellt ist -, ob sie mit der letztlich Anfang der
90er-Jahre vereinbarten Arbeitsteilung klarkommen oder
ob sie Nachbesserungsbedarf sehen. Insofern sollten wir
erst in der nächsten Legislaturperiode Bilanz ziehen und
ehrlich prüfen, was in diesem Bereich gemacht werden
muss. Ich wünsche mir dabei, dass wir die Ehrlichkeit haben, diese Probleme auch dann anzusprechen, wenn sie
angesprochen werden müssen. Ich werde mich dabei jederzeit dafür einsetzen, dass bei eventuellen weiteren
Umzügen auf Regierungsebene ein angemessener Ausgleich für Bonn vorgenommen wird. Wir müssen dann das
Thema aktiv angehen und diskutieren, aber nicht weiter in
einer Form der Vogel-Strauß-Politik.
({5})
Nun erteile ich das
Wort der Kollegin Petra Pau, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag „Wort halten - Umsetzung
der Bonn/Berlin-Beschlüsse“, über den heute abgestimmt
werden soll, hat sich inzwischen ein Jahr durch das Parlament bewegt. Er zielt richtigerweise darauf, der Bundesstadt Bonn und der Region einen fairen Ausgleich für den
Weggang von Bundestag und Ministerien zu sichern.
Aber er hat aus meiner Sicht auch eine falsche Zielrichtung. Er zielt nämlich darauf ab, Anfang der 90er-Jahre
getroffene Vereinbarungen für unabänderlich und auf
ewig festgeschrieben zu erklären. Ich meine, dass daher
nicht nur der federführende Innenausschuss zu Recht mit
Mehrheit empfohlen hat, den Antrag heute abzulehnen.
({0})
Die Bundesregierung hat im September des vergangenen Jahres eine Bilanz über den Umzug nach Berlin und
über Ausgleichsleistungen für die Region Bonn vorgelegt.
Ich sehe in dieser Bilanz keinen Grund für die Unterstellung, die Region Bonn könnte unfair behandelt werden.
Vielmehr registriere ich mit sehr viel Achtung, dass es im
Zusammenspiel von Bund und Bonn gelungen ist, einen
wirksamen Strukturwandel einzuleiten und der Bonner
Region ein neues und auch international bedeutsames Renommee zu sichern.
Sinnvollerweise sind zahlreiche Ämter, Institutionen
und Unternehmen in die Region Bonn gerutscht - um den
heute aktuellen Begriff zu benutzen - und weitere werden
folgen. Ich habe nicht gehört, dass das irgendjemand inFranziska Eichstädt-Bohlig
frage gestellt hätte. Wenn heute registriert wird, dass die
Region Bonn die niedrigste Arbeitslosenquote der Bundesrepublik aufweist, dann ist das nach meiner Meinung
ein weiteres Indiz für einen grundsätzlich engagierten und
fairen Umgang mit den angesprochenen Problemen.
Jetzt komme ich zum Wermutstropfen: Ein solches Engagement und eine solche Fairness der Bundesregierung
würde ich mir endlich auch gegenüber Berlin wünschen.
({1})
Dieses Engagement wünsche ich mir gerade vor dem Hintergrund der immer noch ausstehenden Vereinbarung des
Bundes mit dem Land Berlin über die Finanzierung der
zusätzlichen Leistungen, zum Beispiel im Bereich der
Sicherheit.
Einer heute eingegangenen taufrischen Antwort der
Bundesregierung auf eine kleine Anfrage entnehme ich
sogar puren Hohn in dieser Frage. So teilt das Bundesfinanzministerium zum Beispiel mit, man werde sich finanziell beteiligen, wenn man beim Land Berlin zusätzliche Leistungen bestelle. Ich wünsche mir, dass der Bundesfinanzminister und der Bundesinnenminister am
Montag auf die Straße gehen und den Polizisten, die zur
Sicherung der Staatsaufgaben Überstunden leisten, erklären, dass sie angeblich nicht bestellt wurden. Auch das
gehört zum fairen Umgang und zu einem fairen Ausgleich
zwischen Berlin und Bonn.
({2})
Ein letzter Punkt: Im Kern geht es in dem vorliegenden
Antrag um etwas ganz anderes. Knapp zehn Jahre nach
der Beschlussfassung und ein Jahr nach dem vollzogenen
Umzug ist es legitim und geboten, zu prüfen, ob die einst
gedachte Verteilung der Ministerien zwischen Bonn und
Berlin wirklich effektiv ist. Man sollte sich nicht wie der
Landwirtschaftsminister heute verhalten. Auf der Grundlage einer ehrlichen Bestandsaufnahme sollte 2002 nicht
nur eine Bilanz, sondern ein sinnvoller Vorschlag vorgelegt werden, der wiederum den Ausgleich zwischen Berlin und Bonn zum Ziel hat. Vielleicht kommen wir zu dem
Ergebnis, dass wir die Rutschbahn in beide Richtungen
schmieren müssen, damit am Ende Berlin wie Bonn nicht
nur einen fairen Ausgleich haben, sondern sowohl das Regieren als auch das Leben in beiden Regionen funktioniert
und vielleicht auch Spaß macht.
Danke schön.
Jetzt hat der Kollege
Norbert Röttgen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Das kann der „General-Anzeiger“ nicht lesen, Herr Kollege Schmidt.
({0})
- Sie haben offenbar gute Kontakte.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Frage, die sich am Ende dieser Debatte stellt, lautet: Warum
können SPD und Grüne diesem Antrag nicht zustimmen?
Warum können Sie einem Antrag nicht zustimmen, dessen Inhalt es ist, die Bundesregierung aufzufordern, sich
an die geltende Beschluss- und Gesetzeslage zu halten?
({1})
Darauf sagen Sie offensichtlich: Das ist ja eine Selbstverständlichkeit. Dann muss ich Ihnen sagen - das werden
wir übrigens auch den Menschen in dieser Region sagen,
verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD -, dass
diese Region Sie offensichtlich so wenig interessiert, dass
Sie die Probleme nicht einmal kennen.
({2})
- Ja, die nehmen das nicht ernst. Aber die Menschen in der
Region Bonn, Rhein-Sieg und Ahrweiler nehmen es ernst.
Sie haben offensichtlich noch nicht zur Kenntnis genommen, dass es akute Gesetzesverletzungen dieser Bundesregierung gibt. Das nehmen Sie nicht zur Kenntnis. Die
Menschen in der Region jedoch nehmen das zur Kenntnis.
({3})
- Herr Schmidt, Sie sagen: „Das ist doch Unsinn!“ Ich
sage Ihnen Folgendes: Wenn im Berlin Bonn-Gesetz festgeschrieben ist, dass das Bundesamt für Strahlenschutz
von Berlin nach Bonn umzieht und der Bundesumweltminister die Entscheidung trifft, dass dieser Umzug nicht
stattfindet, dann ist das eine Verletzung des Berlin/BonnGesetzes, die das Parlament als Ganzes nicht hinnehmen
kann.
({4})
Ich stelle fest, Sie sind von dieser Tatsache überrascht.
Das bestätigt aber nur meine These, dass Sie sich nicht für
den Sachverhalt interessieren.
({5})
Das ist der Vorwurf, den ich Ihnen mache, nicht allen: Es
gibt auch in Ihrer Fraktion Mitglieder, die sich für diese
Region einsetzen. In dieser Debatte wird deutlich, dass
Sie diese Region abgeschrieben haben. Auch der Kollege
Kemper hat das in seiner Rede deutlich gemacht. Es interessiert Sie nicht mehr, was dort läuft. Sie nehmen sogar
Gesetzesverstöße in Kauf. Das Beispiel des Bundesamtes
für Strahlenschutz ist ein eindeutiger Gesetzesverstoß.
Das kritisieren wir.
Meine Damen und Herren, dies ist nicht nur ein regionales Anliegen. Es ist auch eine Frage des parlamentarischen Selbstverständnisses, ob wir es als Parlament hinnehmen, dass eine Bundesregierung erklärt, dass sie sich
über Gesetze, die dieser Bundestag beschlossen hat,
einfach hinwegsetzt. Das darf der Bundestag nicht hinnehmen.
({6})
Wir verlangen vom Bundesumweltminister, dass er den
Anstand und den Mut hat, in das Parlament zu kommen,
und zu sagen: Ich möchte dieses Gesetz ändern und habe
diese oder jene Gründe dafür. Das müssen wir als Parlament insgesamt erwarten, meine Damen und Herren.
({7})
Das sollte keine Frage von Parteien sein.
({8})
Um diese Zeit lasse
ich keine Zwischenfragen mehr zu, meine Damen und
Herren.
Ich bitte um Nachsicht, dass wir dieses so durchziehen.
Ich möchte nicht, dass die Frage gestellt wird, ob die Beschlussfähigkeit gegeben ist oder nicht. Lassen Sie uns
das ordentlich zu Ende bringen.
Die Bemerkung, die ich gemacht habe, Herr Kollege
Röttgen, wird nicht von Ihrer Redezeit abgezogen.
Sie haben das Wort.
Danke sehr.
Das Bundesamt für Strahlenschutz ist kein Einzelfall.
Auch andere Bundesämter sind bisher nicht umgezogen.
Zurzeit besteht in der Bonner Region die akute Sorge,
dass der Politikbereich Gesundheit, dessen Erhalt ebenfalls gesetzlich festgelegt ist, mit der Entscheidung, die
Kassenärztliche Bundesvereinigung von Köln nach Berlin zu verlagern, ausgehöhlt wird. Es ist ebenfalls eine
Pflicht dieser Bundesregierung, die Politikbereiche in dieser Region zu halten und zu fördern. Wenn die Kassenärztliche Bundesvereinigung als öffentlich-rechtliche
Körperschaft so beschließen würde, wie sie es vorhat,
dann wäre das rechtswidrig. Auch dies ist gutachtlich
nachgewiesen. Wenn die Bundesgesundheitsministerin
diesen rechtswidrigen Beschluss - sie hat angedeutet,
dass sie es tun will - genehmigen würde
({0})
- richtig, „wenn sie denn da wäre“; die Bundesregierung
ist an dieser Thematik nicht sehr interessiert; das können
wir auch heute Abend in dieser Debatte konstatieren; Herr
Kollege Westerwelle hat es bereits festgestellt -, dann
verhält sich diese Bundesregierung erneut rechtswidrig.
Das würde die Aushöhlung eines Politikbereiches bedeuten, von der 3 000 Arbeitnehmer mit ihren Familien betroffen wären. Das ist Ihre Politik.
({1})
Aber die Sorgen der Menschen interessieren Sie nicht. Sie
wissen gar nicht, dass davon 3 000 Menschen betroffen
wären. Ich stelle bei Ihnen eine große Gleichgültigkeit
gegenüber der Bonner Region, den dort betroffenen Menschen und Familien fest, die unsicher sind. Wir werden
das den Menschen auch mitteilen. Darauf können Sie sich
verlassen.
({2})
- Ja, wir werden dafür sorgen, dass die örtlichen Medien
über die Arroganz der Mehrheitsfraktionen berichten werden, die sich nicht darum kümmern, ob sich die Bundesregierung an geltendes Recht hält oder nicht. Das werden
wir den Bürgerinnen und Bürgern der Region mitteilen.
Das verspreche ich Ihnen.
({3})
Die Bundesregierung und das Parlament sind verpflichtet, die Politikbereiche in der Bonner Region nicht
nur zu erhalten, sondern auch zu fördern. Wir appellieren
an Sie: Zwingen Sie die Städte und Kreise nicht in ein
Kleinklein der Verteidigung! Seien Sie gesetzestreu! Das
ist unsere Forderung an Sie. Sehen Sie auch die Chancen
der Beschlusslage. Sie bietet auch die Chance, eine effiziente, politikorientierte Regierung und Verwaltung in der
Bundeshauptstadt Berlin anzusiedeln. Kehren Sie zum
früheren Dialog mit der Bonner Region zurück. Reden
Sie mit den Menschen in dieser Region. Suchen Sie das
konzeptionelle Gespräch. Versuchen Sie die Politikbereiche, deren Ausbau zugesagt worden ist, zu fördern. Unser
Appell lautet - er richtet sich an alle Parlamentarier -:
Alle Bürgerinnen und Bürger in diesem Land haben das
Recht auf gesetzestreues Verhalten der Bundesregierung.
({4})
Das sollten die Bürgerinnen und Bürger auch einfordern.
Die Menschen in der Regionen Bonn, Rhein-Sieg und
Ahrweiler haben Anspruch auf Verlässlichkeit und Planungssicherheit. Sie befinden sich in einem schwierigen
Umstrukturierungsprozess. Sie brauchen Verlässlichkeit
wie die Luft zum Atmen. Sie nehmen ihnen diese Luft.
Darüber bin ich sehr enttäuscht. Aber wir werden die Bürgerinnen und Bürger darüber informieren. Darauf können
Sie sich verlassen. Sie werden die Quittung für Ihr Verhalten schon noch bekommen.
Herzlichen Dank.
({5})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich möchte darauf hinweisen, dass als Vertreterin der Bundesgesundheitsministerin die Parlamentarische Staatssekretärin, Frau Nickels, anwesend ist. Ich
mache nur deshalb darauf aufmerksam, weil eben behauptet wurde, die Regierung sei nicht vertreten.
({0})
Ich schließe die Aussprache
Wir stimmen jetzt über die Beschlussempfehlung des
Innenausschusses zum Antrag der Fraktion der CDU/
CSU zur Umsetzung der Bonn/Berlin-Beschlüsse auf
Drucksache 14/2699 ab. Der Ausschuss empfiehlt, den
Antrag auf Drucksache 14/1004 abzulehnen. Wer folgt
dieser Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal-
tungen? - Die Beschlussempfehlung ist bei Ablehnung
von CDU/CSU und F.D.P. angenommen.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 g
auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Straffreiheit für Spionage zugunsten der
Deutschen Demokratischen Republik
- Drucksache 14/3065 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
b) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 144 zu Petitionen
({3})
- Drucksache 14/3002 -
c) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Bereinigung von politischen Ungerechtigkei-
ten im Kalten Krieg
- Drucksache 14/3066 -
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 128 zu Petitionen
({5})
- Drucksache 14/2716 -
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 129 zu Petitionen
({7})
- Drucksache 14/2717 -
f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 130 zu Petitionen
({9})
- Drucksache 14/2718 -
g) Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Beendigung der Strafverfolgung für hoheitliches Handeln in der DDR
- Drucksache 14/3067 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({10})
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Zu den Beschlussempfehlungen liegt jeweils ein Än-
derungsantrag der Fraktion der PDS vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung werden die
Reden der Kollegen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grü-
nen und der F.D.P. zu Protokoll gegeben1). Die Kollegin
Vera Lengsfeld und der Kollege Wolfgang Gehrcke bekommen zehn Minuten Redezeit. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist das so vereinbart.
Ich erteile der Kollegin Vera Lengsfeld das Wort.
({11})
- Ich bitte um Entschuldigung; jetzt habe ich schon aufgerufen.
({12})
Wer von Ihnen will zuerst sprechen? - Frau Kollegin, Sie
können anfangen, bitte sehr.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die politischen Maßstäbe in
Deutschland haben sich in den vergangenen Jahren bedenklich verschoben. Ein bisschen Stasispitzelei wird
mittlerweile wie ein Kavaliersdelikt behandelt. Linksradikalismus ist beinahe normal und soll nach dem Willen
der PDS heute legalisiert werden. Landesverrat soll nun
als eine Art Ehrensache für die Weltrevolution vom Deutschen Bundestag sanktioniert werden.
Die PDS unternimmt mit ihrem heutigen Antrag auf
Straffreiheit für DDR-Spione einen neuen und - ihr Sinn
für Utopien ist ja wesentlich - besonders bizarren Versuch, endlich die ersehnte Westausdehnung zu erreichen.
Sie macht sich zum Fürsprecher derjenigen, die im Westen mit dem DDR-Ministerium für Staatssicherheit zusammengearbeitet haben. Das ist insofern konsequent, als
sich die PDS ihrer Rolle als „Partei der Spitzel“ schon
lange bewusst ist und sie überzeugend spielt.
({0})
- Spitzel, die wesentliche Verantwortung hatten, sitzen ja
auch zwischen Ihnen in diesem Saal.
Wenn im Westen sonst keine Wähler zu gewinnen sind,
dann hofft man wenigstens auf die Spione als Klientel.
({1})
- Es ist schön, dass Sie das freut. Sie sehen, ich verstehe
Sie.
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wir sollten auch diesen Teil der Debatte ordentlich miteinander führen, deswegen bitte ich um ein
bisschen Ruhe.
Wie sehr der PDS Lan-
desverrat am Herzen liegt, hat sie mehrfach unter Beweis
gestellt. Ich erinnere an das peinliche Vorhaben, einen
Vizepräsidentin Anke Fuchs
1) Anlage 25
noch im Strafvollzug befindlichen DDR-Spion, Rainer
Rupp, der für eine halbe Million Mark die gesamte
NATO-Militärplanung der Stasi verraten hatte, bei der
PDS-Fraktion anzustellen.
Ich nenne weiterhin die Tatsache, dass zwei ebenfalls
rechtskräftig verurteilte Spione, das Ehepaar George und
Doris Pumphrey, die die Grünen-Fraktion ausspioniert
hatten, nach der Wende von der PDS-Fraktion eingestellt
wurden. Frau Pumphrey betätigte sich dort bezeichnenderweise als Koordinatorin einer Arbeitsgemeinschaft
„Kundschafter des Friedens“. Im Bundesvorstand der
PDS sind mit Diether Dehm, der Wolf Biermann im Westen bespitzelte, die West-IM angemessen vertreten. Vielleicht dürfen wir bald auf einen Antrag der PDS hoffen
und über ein „Mahnmal für den unbekannten Stasispion“
diskutieren.
({0})
Ich möchte aber heute diskutieren, welche Folgen es
hat, wenn Straftaten und politisches Unrecht nicht geahndet werden. Wer dafür eintritt, Spionage für eine verbrecherische Diktatur straffrei zu stellen, der lädt dazu ein,
dies auch in Zukunft so zu halten. Dabei ist der Rechtsstaat mit seinen Verrätern ausgesprochen milde umgegangen, so milde, dass Spione, die 200 000 Mark Agentenlohn von der Staatssicherheit erhalten hatten, nur zu einer
Geldstrafe von 8 000 DM verurteilt worden sind. Sie
konnten sich also 192 000 DM steuerfrei in die Tasche
stecken.
In deutschen Gefängnissen gibt es heute keine ehemaligen DDR-Spione, zumindest nicht als Gefangene. Der
Spionagechef Wolf spaziert quietschvergnügt durch die
Talkshows und das nennt die PDS dann Siegerjustiz.
Etwa 20 000 bis 30 000 Westdeutsche haben, so schätzt
der beste Kenner der Materie, Hubertus Knabe, für die
HVA, also für die Hauptverwaltung Aufklärung, gearbeitet. Laut Bundesanwaltschaft wurden nach der Vereinigung gegen nur knapp 3 000 von ihnen Ermittlungsverfahren eingeleitet. Etwa 2 750 Verfahren wurden wieder
eingestellt. Nur 253 Angeklagte wurden verurteilt, der
größte Teil auf Bewährung. Nur 59 Westdeutsche wurden
nach 1990 zu Gefängnisstrafen von mehr als zwei Jahren
verurteilt.
Zum Vergleich: In den USA wird Spionage mit bis zu
20 Jahren Haft geahndet. Die Richter in Deutschland zeigen - dazu bedurfte es der PDS-Propaganda leider nicht meist sehr großes Verständnis für die ehemaligen DDRSpione. Regelmäßig heißt es in den Urteilen, es bestehe
keine Wiederholungsgefahr - Gott sei Dank, möchte ich
hinzufügen -,
({1})
oder die Richter sprechen vom Resozialisierungsgebot.
Anschließend engagieren sich die zu Resozialisierenden
in der PDS.
Der PDS geht es in ihrem Antrag keineswegs um eine
humanitäre Geste, sondern um eine Botschaft: Spitzeltätigkeit von Bundesbürgern für das Ministerium für
Staatssicherheit soll eine vollkommen legitime, womöglich ehrenhafte und dem Fortschritt verpflichtete Aufgabe
gewesen sein. Nichts lag aber der DDR-Diktatur ferner als
der Frieden. Die Phrasen sollen dazu dienen, das gesamte
System der SED-Herrschaft zu amnestieren und politisch
zu rehabilitieren. Spionage für einen demokratischen
Rechtsstaat wird frech moralisch und politisch mit der
Spionage für ein untergegangenes Regime gleichgesetzt.
Wir werden aber nicht zulassen, dass sich dieses
geschichtsrevisionistische Verständnis durchsetzt,
({2})
vor allen Dingen nicht im Deutschen Bundestag.
Sehr geehrte Damen und Herren, es ist - zumindest auf
den ersten Blick - verwunderlich, dass die relativistischen
und revisionistischen Forderungen der PDS immer wieder auf naives Wohlwollen im Westen hoffen dürfen. Wo
liegen eigentlich die Motive dafür? Dem Westen wurde es
leicht gemacht, seine eigenen Verstrickungen nicht aufzulösen. Lange konnten Bundesbürger, die für die Stasi
gearbeitet hatten, unentdeckt bleiben, weil die Akten als
vernichtet galten. Tatsächlich lag die Agentenkartei von
Markus Wolf in den Vereinigten Staaten.
Als im vergangenen Jahr die spät in Gang gekommenen Verhandlungen über eine Rückführung abgeschlossen
wurden, erklärte der Geheimdienstkoordinator der Bundesregierung, Ernst Uhrlau, die Daten kämen in die
Gauck-Behörde und wären dort genauso zugänglich wie
alle anderen Stasiakten. Um ihre eigenen Sicherheitsinteressen zu schützen, würden die Amerikaner eigens eine
gefilterte Datenkopie für Deutschland anfertigen. Im Januar dieses Jahres wurde uns von der Parlamentarischen
Staatssekretärin beim Bundesminister des Inneren, Frau
Sonntag-Wolgast, noch einmal ausdrücklich versichert:
Eine Einschränkung der Verwertungshoheit über die Daten durch die USA sei weder vereinbart noch beabsichtigt.
Als dann jedoch die ersten CDs mit den Karteikartenkopien aus Amerika im Bundeskanzleramt eintrafen, verkündete Herr Uhrlau plötzlich, die Daten seien
streng geheim.
Der Parlamentarische Staatssekretär Fritz Rudolf
Körper erklärte, die Bundesregierung beabsichtige auch
nicht, die Amerikaner um Aufhebung der Geheimhaltung
zu bitten. Da fällt es schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass die Bundesregierung gar nicht wissen will oder genauer: es allein wissen will -, wer in diesem Land
für die Stasi als Agent gearbeitet hat. Erst die Proteste der
Union haben der Bundesregierung die Zusicherung abgerungen, die Agentenkartei der Gauck-Behörde zu übergeben. Doch dort soll sie als geheime Kommandosache unter Verschluss genommen werden. Eine Auswertung soll,
wenn überhaupt, nur durch zur Geheimhaltung verpflichtete Wissenschaftler möglich sein.
Mindestens zwei Jahre, so sagte Ernst Uhrlau kürzlich
in einem Zeitungsinterview, würde es dauern, bis das Material gesichtet worden sei. Wesentliches Material sei von
den Amerikanern klassifiziert worden und die Bundesregierung sei im Rahmen des Geheimschutzabkommens verpflichtet, solches Material unter Verschluss zu
halten. Hier wird offenbar bewusst gebremst, boykottiert
und auf Zeit gespielt.
In den letzten Wochen war überdies zu erfahren, dass
Abschriften der nach Amerika entführten Agentenkartei
bereits seit Jahren in den Panzerschränken der GauckBehörde liegen. Niemand hat dort hineingeschaut, wenn
Westdeutsche auf eine Stasizusammenarbeit überprüft
wurden. Nicht einmal Wissenschaftler wurden an das Material herangelassen, um das Agentennetz im Westen
transparent zu machen. Das ist ein Unding! Die Akten
westdeutscher Spitzel müssen gemäß Stasi-UnterlagenGesetz genauso zugänglich gemacht werden wie die ehemaliger DDR-Bürger. Die Westdeutschen, die sich - im
Gegensatz zu vielen Spitzeln in der DDR - meist ohne
äußeren Druck und fast immer aus Geldgier auf die Stasi
eingelassen haben und genau wussten, was sie taten, und
genau wussten, dass dies strafbar ist, sind meist gut weggekommen. Die Handlanger der DDR nutzten die Liberalität der Bundesrepublik.
Die Versuchung, die Stasiaufarbeitung auf den Osten
zu beschränken, ist offenbar groß. Wir erinnern uns: Als
ein Mitarbeiter der Gauck-Behörde im vergangenen Jahr
ein Buch zu diesem Thema ankündigte, wurde er aufgefordert, die Arbeit daran einzustellen. Schon damals
drängte sich der Eindruck auf, die Gauck-Behörde werde
immer dann von der Regierung ans Gängelband genommen, wenn es um westdeutsche Stasiverstrickungen
geht, insbesondere um die der SPD.
({3})
So erreichen wir mit Sicherheit keine innere Einheit, erst
recht nicht, wenn westdeutschen DDR-Spitzeln nun im
Nachhinein vom Deutschen Bundestag ihre Lauterkeit
bescheinigt würde, wie es die PDS wünscht.
Die Aufarbeitung der Stasiakten wird erfolgreiche
Emanzipationsgeschichte. Millionen Menschen haben
aus diesen Stasiakten neue Erkenntnisse über die DDRDiktatur gewonnen. Unzählige Inoffizielle Mitarbeiter
und zufälligerweise auch einige Westspione sind enttarnt,
die verbrecherischen Praktiken der Stasi sind offen gelegt
worden. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die
Zersetzungspläne. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz hat nicht
für alle Spitzel Führungspositionen verhindern können,
aber einige Leute sind glücklicherweise von der politischen Bühne verschwunden.
Spionage ist bereits verjährt. Allenfalls schwerer Landesverrat kann noch bestraft werden. Doch das Stasiproblem im Westen kann kein bloß juristisches oder historisches sein. Parteien und Verbände, Kirchen und Gewerkschaften, Medien und Universitäten müssen sich dieser
ihrer Geschichte stellen. Es geht um politische, um ideologische Affinitäten, die heute allzu gern vertuscht werden.
Das Rosenholz-Material muss der gesellschaftlichen
Diskussion in Deutschland zur Verfügung gestellt werden. Wir wollen wissen, wer die Geschichte der Bundesrepublik im Hintergrund wie mitgesteuert hat und warum,
auch, aus welchen Motiven gemeinsame Sache mit der
SED gemacht wurde und von wem. Die Kollaboration mit
dem Geheimdienst der SED sagt viel über Verfassungstreue und auch viel über den politischen Charakter
desjenigen aus, der kollaboriert hat. Wer an maßgeblicher
Stelle in der Bundesrepublik Deutschland freiwillig oder
für Geld mit dem MfS zusammengearbeitet hat, wer beim
gemeinsamen Jagen oder beim Prosecco mit den netten
Genossen von drüben Informationen ausgetauscht und
dabei vielleicht ideologische Nestwärme gespürt hat, ist
politisch belasteter und moralisch unmöglicher als ein
kleiner IM in der geschlossenen DDR.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit.
Die Rosenholz-Akten
können zeigen, dass die DDR nicht nur ein Regime von
Gnaden der Sowjetunion war, sondern dass sie auch von
Leuten im Westen gestützt wurde. Um der historischen
Wahrheit willen müssen wir wissen, wer diese Leute gewesen sind.
({0})
Jetzt erteile ich das
Wort dem Kollegen Gehrcke von der PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Werte Frau Lengsfeld, ehrlich
gesagt: Für die Weltrevolution ist es mir heute Abend ein
bisschen spät. Außerdem ist mir das Wetter zu gut. Ich will
es also unterlassen.
({0})
Ich werde aber versuchen, diesen späten Abend zu nutzen,
Sie davon zu überzeugen, dass die Vorschläge meiner
Fraktion Sinn machen und berechtigt sind.
({1})
An den Anfang meiner Rede will ich ein paar Zeilen
von Bertolt Brecht stellen; das überzeugt meistens. Im
Zusammenhang mit diesem Thema habe ich nämlich sehr
viel an ein Gedicht von ihm gedacht, aus dem ich Ihnen
vorlesen möchte:
Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die
Züge. Auch der Zorn über das Unrecht macht die
Stimme heiser. Ach wir, die wir den Boden bereiten
wollten für Freundlichkeit, konnten selbst nicht
freundlich sein.
({2})
Dies gab uns Bertolt Brecht in seinem Gedicht „An die
Nachgeborenen“ zu bedenken.
Dass der Hass die Züge verzerrt, auch wenn man freundlich sein wollte, erkennt man zuerst beim Gegenüber,
beim politischen Konkurrenten und beim politischen
Gegner. Die verzerrten und deformierten Züge erkannten
wir jeweils beim konkurrierenden System in Ost und
West, aber selten im eigenen System. Auch den so oft zitierten Satz von Rosa Luxemburg
({3})
über die Freiheit als Freiheit des Andersdenkenden verstanden wir oft nur als einen Anspruch auf die eigene Freiheit, solange wir anders dachten, als eine Freiheit der
Minderheit und nicht als eine Verpflichtung der Mehrheit.
Ich glaube, das sollten wir uns sagen.
({4})
Die Andersdenkenden der 50er- und 60er-Jahre in der
Alt-BRD waren Kommunistinnen und Kommunisten und
andere Linke. Das Verbot der KPD, die Verfolgung von
Gesinnung, die strafrechtliche Auseinandersetzung über
hoheitliches Handeln in der DDR, Strafverfahren betreffend Spionage Ost, soweit sie von Bürgern West begangen wurden - all das ist aus meiner Sicht nicht nur moralisch inakzeptabel und politisch falsch, es bedrückt auch
nicht nur die direkt Betroffenen, sondern es deformiert in
diesem Sinne, wie Brecht es formuliert hat, auch Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
({5})
Unsere Anträge und die vorliegenden Petitionen haben
eine Grundbotschaft: Es mus nicht nur der Kalte Krieg
zwischen den Staaten beendet werden, sondern auch der
Kalte Krieg in der Gesellschaft, in unser aller Köpfen, gerade zehn Jahre nach der deutschen Vereinigung.
({6})
Nehmen Sie sich also bitte die geistige Freiheit, aus
dem Rückblick auf die Geschichte festzustellen, dass das
KPD-Verbot von 1956 und die Verfolgung Andersdenkender, die politisch falsch waren, Menschen Unrecht
zugefügt und der Demokratie geschadet haben. Bis zum
In-Kraft-Treten des Achten Strafrechtsänderungsgesetzes im Jahr 1968 wurden in der alten Bundesrepublik
etwa 200 000 Ermittlungsverfahren wegen Gefährdung
des demokratischen Rechtsstaates oder anderer Delikte
eingeleitet. Rund 10 000 Bürgerinnen und Bürger wurden mit Untersuchungshaft, Freiheits- und Nebenstrafen
beschwert.
Erinnern wir uns: In den 50er-Jahren drohte der Kalte
Krieg in einen heißen, in einen Atomkrieg umzuschlagen.
Die Gräben zwischen Ost und West waren tief. Im Zuge
des Ost-West-Konfliktes, der jeweiligen Systemanbindung beider Staaten, verschwand die Wiedervereinigung
mehr und mehr von der Tagesordnung und bildete sich die
Zweistaatlichkeit heraus. Hier liegen die tieferen Ursachen des KPD-Verbotes.
Betrachten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, die
damalige Situation doch bitte einen Moment aus einem
anderen Blickwinkel: 1945 kehrten die Überlebenden des
Widerstandes gegen die Nazidiktatur aus den KZs und aus
der Emigration zurück, unter ihnen auch viele Kommunistinnen und Kommunisten. Diesen Menschen war unvorstellbar Schreckliches angetan worden. Sie waren für
mich - das war prägend für meine Biografie - das Wertvollste, was ich in meinem politischen Leben kennen gelernt habe.
({7})
Und nun, sechs Jahre nach ihrer Befreiung aus der Hölle
der KZs und der Zuchthäuser, mussten sie erneut erleben,
dass ihre Partei verboten wurde und sie aus politischen
Gründen verfolgt wurden. Sie wurden erneut inhaftiert
oder mussten das Land, weil sie an ihrer Partei festhielten,
verlassen. Welch anderer Begriff als Unrecht wäre dem
angemessen?
({8})
Unrecht waren zweifellos auch die Berufsverbote in
den 70er-Jahren. Es gab 11 000 Berufsverbotsverfahren,
3,5 Millionen Überprüfungen, 2 200 Disziplinarverfahren, 256 Entlassungen aus dem öffentlichen Dienst und
1 250 Ablehnungen von Bewerbungen.
({9})
Davon waren auch die Kinder eben der KZ-Häftlinge betroffen, die in den 50er-Jahren inhaftiert wurden und nun
wiederum die politische Verfolgung ihrer Kinder erlebten.
({10})
Was ich Ihnen schildere, ist erlebte, auch deutsche Geschichte. Sie darf nicht länger verdrängt werden.
Üblicherweise - Gott sei Dank haben Sie so reagiert;
dann können wir das nämlich direkt austragen - kommt
bei diesem Thema der Hinweis, eine Demokratie müsse
wehrhaft sein und das Unrecht sei doch im Osten geschehen und nicht im Westen. Wehrhaft aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist eine Demokratie dann, wenn sie auf
der Überzeugung und dem Wunsch der Bürgerinnen und
Bürger beruht, sie verteidigen zu wollen.
({11})
Wehrhaft ist eine Demokratie, die für alle Teile der Gesellschaft sozialen Wohlstand, Teilhabe an der Willensbildung und Transparenz der Entscheidung bietet, formal
wie auch real. Das KPD-Verbot, die politischen Prozesse,
die Berufsverbote waren nicht Ausdruck von Stärke der
Demokratie, sondern Ausdruck ihrer Schwäche.
({12})
Sie haben die Demokratie nicht gefestigt, sondern ihr geschadet. Das zu erkennen und zu korrigieren haben wir
mit unseren Vorschlägen die Chance.
Auch der Hinweis auf das Unrecht Ost, für das die SED
die Verantwortung trägt, kann das Unrecht West nicht
rechtfertigen. Unrecht bleibt Unrecht, Herr Dr. Brecht,
egal wer es begeht. Ich lehne eine Aufrechnung Unrecht
West gegen Unrecht Ost und Unrecht Ost gegen Unrecht
West ab. Unrecht bleibt Unrecht, egal wo es passiert.
({13})
Kommen wir in diesem Zusammenhang zu der Frage
der Ungleichbehandlung der deutsch-deutschen Spionage, aus der der Umstand herrührte, dass Bürgerinnen
und Bürger aus den alten Bundesländern, die sich dem
Nachrichtendienst der DDR verpflichtet hatten, unter
Strafe gestellt werden konnten, ihre Auftraggeber, soweit
sie ihrer Tätigkeit von der DDR aus nachgingen, jedoch
nicht. Mitarbeiter der westlichen Geheimdienste, die in
der DDR verurteilt wurden, wurden dagegen finanziell
entschädigt und beruflich gefördert - eine moralisch, politisch und juristisch unhaltbare Situation.
Das wird nicht nur von der PDS so gesehen. Ich möchte
Ihnen ein Zitat vom Kollegen Schäuble vorlesen, der 1990
vor dem Bundestagsausschuss Deutsche Einheit sagte:
Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir im vereinten
Deutschland die jeweiligen Agenten der anderen
Seite ins Gefängnis stecken. Was ich mir auch nicht
vorstellen kann, ist, dass wir die Mitarbeiter der DDR
ins Gefängnis stecken und das umgekehrt nicht tun.
({14})
Es handelt sich um teilungsbedingte Straftaten, die
außer Verfolgung gestellt werden müssen.
So weit Herr Schäuble.
({15})
Ich könnte Ihnen hier ähnliche Zitate von Herrn Thierse
oder von Altbundespräsident Richard von Weizsäcker
vortragen.
Ich glaube, dass ungeachtet der Motive der Betroffenen, die sich für eine solche nachrichtendienstliche Tätigkeit entschieden haben, gilt, dass ihre Tat teilungsbedingt
war und schwerwiegende Folgen für die Betroffenen
hatte: hohe Freiheitsstrafen und soziale Belastungen, Arbeitslosigkeit, Geldstrafen und Gerichtskosten, also die
Vernichtung sozialer Existenzen.
Auch das können wir, weil es teilungsbedingt war, mit
unseren Vorschlägen korrigieren. Oder machen Sie andere, bessere Vorschläge, wie dieses Unrecht korrigiert
werden kann.
Auch bei unserem dritten Vorschlag bitte ich Sie, vorgefasste Meinungen für einen Augenblick zu vergessen.
Hätten Sie sich zum Beispiel vorstellen können, dass AltKanzler Kohl nebenbei,
({16})
bei einem seiner vielen Gespräche mit Herrn Egon Krenz ich weiß nicht, ob sie sich geduzt haben -, diesem mitgeteilt hätte: Und nach der Vereinigung, mein Lieber, kommen Sie vor Gericht?
({17})
Oder erinnern wir uns an die Festsitzung des Bundestages zum zehnten Jahrestag des Mauerfalls, bei der an
dieser Stelle Michail Gorbatschow sagte: Ein ehemaliger Generalsekretär, der Chef, wird gewürdigt, ein anderer sitzt? Auch das ist Realität. Rufen Sie sich einmal in
Erinnerung, was Gorbatschow hier ausgeführt hat. Er
sagte damals:
Es ist doch sonderbar, dass heute ausgerechnet die
Personen der DDR-Staatsführung vor Gericht stehen, die vor zehn Jahren den Beschluss fassten, die
Mauer durchlässig zu machen, die Personen, die keinen anderen Weg eingeschlagen und keinen anderen
Beschluss gefasst haben.
Viele Persönlichkeiten unseres Landes, der Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer, Lothar de Maizière, die
Ministerpräsidenten Stolpe und Höppner und andere haben öffentlich über Amnestie nachgedacht. Ihnen wie uns
wurde entgegengehalten, eine Beendigung der Strafverfolgung und eine Amnestie könne von den Opfern nicht
akzeptiert werden. Lothar de Maizière hat sich mit diesem
Problem auseinander gesetzt. Ich darf ihn zitieren:
Zu den großen zivilisatorischen Kulturleistungen der
Menschheit gehört es, dass sie die Ahndung strafrechtlich relevanten Verhaltens aus der Täter-OpferBeziehung herausgenommen und auf den Staat delegiert hat, um so die Opferbefindlichkeit nicht zum
Richter werden zu lassen.
({18})
Das sind, glaube ich, sehr weise, durchdachte Worte.
Bleibt zum Schluss die Frage, ob es vernünftig ist, dass
gerade die PDS diese Probleme aufgegriffen hat. Unabhängig davon, dass andere das nicht gemacht haben, finde
ich, dass gerade unsere geschichtliche Erfahrung das erfordert.
({19})
Günter Gaus - das ist mein letzter Satz - hat das in einem Zeitungsartikel sehr zu Recht und sehr gut dargestellt:
Soll Anpassung, das gute Recht des schwachen
Einzelnen, der sich nicht anders zu helfen weiß, zum
kategorischen Imperativ aus Parteiinteresse werden?
Gerade eine Partei mit Mitgliedern, die sich zu oft und zu
unkritisch angepasst haben - dazu zähle auch ich mich -,
hat sich entschlossen, sich nicht mehr anzupassen und auch in dieser Frage - gegen den Strom zu schwimmen.
({20})
Die Reden der SPD-
Fraktion, der F.D.P.-Fraktion und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen sind zu Protokoll gegeben worden und
dort nachlesbar.1)
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zu den Abstimmungen. Abstimmung
über Tagesordnungspunkt 17 a. Interfraktionell wird
Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3065 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
1) Anlage 25
Abstimmung über Sammelübersicht 144, Drucksache 14/3002. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der
Fraktion der PDS auf Drucksache 14/3807 vor, über den
wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist
der Änderungsantrag abgelehnt.
Wir stimmen nun über die Sammelübersicht 144,
Drucksache 14/3002, ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist die Sammelübersicht 144 angenommen.
Wir kommen zum Antrag der Fraktion der PDS,
Drucksache 14/3066. Interfraktionell wird Überweisung
dieser Vorlage an den in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschuss vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Jetzt kommen wir zu weiteren Beschlussempfehlungen
des Petitionsausschusses. Abstimmung über Sammelübersicht 128, Drucksache 14/2716. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/3804 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? -Gegenprobe! Enthaltungen? - Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt.
Wir stimmen nun über die Sammelübersicht 128,
Drucksache 14/2716, ab. Wer stimmt für diese Sammelübersicht? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Damit ist die Sammelübersicht 128 angenommen.
Wir stimmen über die Sammelübersicht 129, Drucksache 14/2717, ab. Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS auf Drucksache 14/3805 vor. Wer stimmt für
diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Der
Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wir stimmen über die Sammelübersicht 129, Drucksache 14/2717, ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Die Sammelübersicht 129 ist angenommen.
Wir kommen zur Sammelübersicht 130, Drucksache 14/2718. Auch hierzu liegt ein Änderungsantrag der
PDS, Drucksache 14/3806, vor. Wer stimmt für diesen
Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wir kommen zur Abstimmung über die Sammelübersicht 130, Drucksache 14/2718. Wer stimmt für diese
Sammelübersicht? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 130 ist angenommen.
Wir kommen zum Antrag der Fraktion der PDS auf
Drucksache 14/3067. Interfraktionell wird Überweisung
dieser Vorlage an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags des Abgeordneten
Dr. Christian Schwarz-Schilling und weiteren Abgeordneten der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Heide Mattischeck und weiteren Abgeordneten der Fraktion der SPD, der Abgeordneten
Claudia Roth ({0}) und weiteren Abgeordneten der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
sowie der Abgeordneten Sabine LeutheusserSchnarrenberger und weiteren Abgeordneten der
Fraktion der F.D.P.
Humanitäre Grundsätze in der Flüchtlingspolitik beachten
- Drucksache 14/3729 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist trotz der
späten Stunde eine Aussprache von einer halben Stunde
vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort Herrn
Dr. Christian Schwarz-Schilling, CDU/CSU-Fraktion.
Frau
Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
Wir hatten heute Morgen hier in diesem Saal eine sehr zu
Herzen und zum Verstand gehende Aussprache über das
Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Wir haben dabei lernen können,
was es bedeutet, wenn in einer Generation die Grundsätze
der Menschenwürde und des Rechtsstaates weggeschoben werden und wie viele Generationen es braucht, um
Leid, Unrecht und Schmerzen, die dadurch angerichtet
wurden, wieder zu beseitigen, wobei wir alle wissen: Beseitigt werden können sie nie mehr. Das ist ein ganz komplexer Zusammenhang.
Damals, nach dem Zweiten Weltkrieg, haben wir alle
gesagt: Wir wollen dafür sorgen, dass so etwas nie wieder
vorkommt - nie wieder Konzentrationslager, nie wieder
Unrecht und Ähnliches mehr. 50 Jahre später brannte es
in Europa wieder. Europa tat so, als ginge es das gar nichts
an. Denn es handelte sich um eine Randregion Europas,
den Balkan. Wir schauten weg; wir waren unbeteiligt, bis
die Dinge so schlimm wurden und sich auch die Vereinigten Staaten entsprechend involvierten, dass wir dann
begannen, uns damit zu beschäftigen.
Milosevic hat eine ganze Region mit einem Krieg
überzogen und in einen Abgrund gestürzt. Nun sprachen
wir alle vom „Bürgerkrieg“. Zunächst einmal eine Feststellung: Das war kein normaler Krieg, das war kein Bürgerkrieg, sondern das war ein Krieg einer hoch gerüsteten
Armee gegen die Zivilbevölkerung; nicht Bürger gegen
Bürger, sondern die einen standen unter dem Befehl eines
Diktators und die anderen waren wehrlose Bürger. Dies ist
nach landläufiger Meinung kein Bürgerkrieg.
Männer wurden umgebracht und Frauen vergewaltigt im Übrigen nicht nur aus Spaß, sondern aus ideologischem Axiom: Die Maxime - man kann die Gründe dafür
schriftlich nachlesen - war, dass auf bosnischem Boden
serbische Kinder geboren werden sollten. Es kam zu Folter und Tod. Es gab Lager, die man sich heute kaum
schlimmer vorstellen kann. Es handelte sich um eiskalt
geplanten Völkermord.
700 000 bis 800 000 Menschen flohen ins Ausland, davon circa 350 000 nach Deutschland. Circa 300 000 sind
allein in Bosnien umgebracht worden. 1 Million Menschen wurde in Jugoslawien aus ihren Häusern gejagt, bevor sie gesprengt wurden. Da hatten sie dann noch Glück;
Vizepräsidentin Anke Fuchs
denn bei vielen Menschen war es so, dass sie mit in die
Luft gesprengt worden sind.
Heute vor fünf Jahren, am 6. Juli 1995, begann der Angriff auf die UN-Friedenszone Srebrenica. In diesen Tagen, vor genau fünf Jahren, war die Jagd auf 30 000 Menschen, auch Frauen mit Kindern, eröffnet. 8 000 bis
10 000 Männer wurden verschleppt und auf freiem Feld
ermordet. Alle, die ermordet wurden, waren unbewaffnet.
Denn die UN hatte ihnen in der so genannten Friedenszone alle Waffen abgenommen. Als es dann ernst
wurde, ist die UN getürmt und einige, die noch da waren,
guckten hilflos zu.
Dieses Gemetzel war für diese Menschen die Hölle.
Die Aufnahme der 350 000 Flüchtlinge bei uns in
Deutschland war eine großartige Tat und vorbildlich für
die ganze Welt. Bund und Länder haben sich daran beteiligt und alle Hilfe geleistet, die man leisten konnte. Vor allen Dingen unsere Bevölkerung war unglaublich ergriffen, spendete und half, wo es nur irgend möglich war. Später kam auch unsere Bundeswehr dazu und leistete
Vorbildliches. Von daher können wir nur alle sagen, dass
wir auch stolz sein können auf das, was Deutschland in
diesen Jahren getan hat.
Dann kam der Friedensvertrag von Dayton, der in
Paris unterschrieben worden ist. Er war zwar unvollkommen, aber sicherlich damals kaum anders zu machen.
Denn die Mörder und Kriegsbrandstifter saßen mit am
Tisch. Ein Friedensvertrag dieser Art ist meistens etwas
schwierig und schief. Für manche deutsche Politiker war
dies dennoch der Zeitpunkt, zu sagen, der Frieden sei da
und nun sollten alle Flüchtlinge so schnell wie möglich hinaus. Die Abmachungen von Dayton sagten etwas anderes: Der UNHCR ist diejenige Organisation, die die Rückkehr der Flüchtlinge führend zu organisieren hat. Über die
Rückkehr der Flüchtlinge wurde das Recht auf Heimat
und auf Freiwilligkeit festgeschrieben. Es heißt dort im
Artikel I des Annex 7:
All refugees and displaced persons have the right
freely to return in their homes of origin.
Obwohl auch wir diesen Vertrag unterzeichnet haben,
wurden diese Rechte der Flüchtlinge schon sehr bald nach
Dayton einseitig außer Kraft gesetzt.
Wir sind uns dennoch einig gewesen, dass der größte
Teil dieser Flüchtlinge nicht auf Dauer bei uns bleiben
soll. Darüber gibt es gar keinen Dissens. Wir waren auch
darüber einig, dass eine friedliche, gestaffelte Rückkehr in
mehreren Phasen stattfinden soll. Auch darüber gab es
keinen Dissens.
Aber jetzt kommt der dritte Punkt: Eine sensible Einzelfallprüfung bei Problemgruppen wie zum Beispiel
Traumatisierten, Behinderten, Lagerinsassen, Jugendlichen, die hier aufgewachsen sind, wurde vom Innenminister, mit dem ich allein darüber seit anderthalb Jahren
korrespondiere, zugesichert. Die Innenministerkonferenz
sagte das Gleiche. Meine Damen und Herren, ich sage
hier ganz klar: Zusagen dieser Art sind nicht eingehalten
worden. Im Gegenteil: Seit Februar, März dieses Jahres
erhalten diese Problemgruppen pauschal und ohne Differenzierung dieselben Ausreiseaufforderungen mit der
Androhung von Zwangsmaßnahmen für den Fall, dass
man Deutschland nicht bis zum angegebenen Zeitpunkt
verlassen hat.
Meine Damen und Herren, so haben wir nicht gewettet. Ich muss ganz offen sagen: Wer für diese Problemgruppen nur eine Verzögerung der Ausreise vorgesehen
hat und nicht bereit ist, für diese 8 Prozent der einstmals
350 000 Flüchtlinge eine sensible Einzelfallregelung zu
treffen, wer meint, diese Flüchtlinge seien nun lange genug bei uns gewesen und sollten nun genauso wie die anderen nach Hause geschickt werden, der hält seine Zusagen nicht ein.
({0})
Aus diesen Gründen liegen sehr viele geradezu tragische Einzelfälle auf den Tischen der Kolleginnen und
Kollegen des Deutschen Bundestages. Ich möchte nur
zwei Fälle nennen. Ich könnte Ihnen hundert Fälle nennen; bei mir kommen jeden Tag ungefähr fünf Fälle auf
den Schreibtisch - eine Aufgabe, die ich fast nicht mehr
lösen kann.
Die Familie Isovic aus Bosanski Brod, Republika
Srpska, kam 1993 nach Deutschland und lebt jetzt in
München. Eine Tochter ist in der Zwischenzeit in die USA
ausgewandert. Herr Isovic hat sich in Deutschland nur
wegen schwerer Verletzungen als Soldat in der Armee behandeln lassen. Seine Frau und die Tochter - sie war damals 14 Jahre alt - waren im KZ Bosanski Brod, einem
berüchtigten Lager in der Heimatstadt dieser Familie. Sie
wurden dort mehrere Wochen vergewaltigt und gefoltert.
Sie haben sich in Deutschland nicht als traumatisierte Personen behandeln lassen, weil sie, wie sie mir später gesagt
haben, gehofft und gedacht haben, dass sie die schrecklichen Erinnerungen durch Arbeit und Beschäftigung - die
Eltern waren beide in Lohn und Brot - besser vergessen
könnten.
Erst nach der Abschiebungsdrohung im Februar dieses
Jahres hat das nicht behandelte Trauma eine schlimme
Entwicklung genommen. Es gab einen Selbstmordversuch der Mutter. Herr Isovic, der selber in eine furchtbare
Situation geraten ist, erzählte mir, wie er, als er in seine
damals noch unbeschädigte Wohnung kam, den Kopf seiner Mutter in einer Tüte im Kühlschrank gefunden hat.
Das ist für sie die Heimatstadt Bosanski Brod.
Diese Familie ist jetzt hier. Das Ehepaar hat natürlich
den Fehler begangen, sein Trauma nicht sofort behandeln
zu lassen. Es ist jetzt in psychotherapeutischer Behandlung. Der Vater hat gesagt: Er wird nur tot zurück nach
Bosnien gehen. Er wird niemals zu den Tätern nach Bosanski Brod zurückkehren.
Wir kennen die Situation aus dem Zweiten Weltkrieg
und wissen, dass Menschen, die die Konzentrationslager
überlebt haben, über Jahrzehnte hinweg gesagt haben:
Wir werden nie wieder nach Deutschland kommen. Manche haben das bis heute so gehalten, bei anderen hat sich
das gelöst. Eigentlich müsste so etwas bei uns bekannt
sein. Wir müssten doch wissen, was in diesen Menschen
vor sich geht.
Nein, diese Menschen werden vorgeführt, manchmal
sogar in Handschellen zu Polizeiordnungsdiensten, die
eine ärztliche Beurteilung abgeben sollen. So etwas hat es
nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben. In keinem
Land wurden ehemalige Emigranten in irgendeiner Weise
vorgeführt und wieder zurückgeschickt.
Meine Damen und Herren, es gibt noch einen zweiten
Fall, den ich kurz erwähnen will. Eine fünfzehnjährige
Stumme lebt in Sachsen-Anhalt in Möckern, im Landkreis Jerichower Land, und lernt dort seit sechs Jahren in
der Taubstummenschule deutsch. Was konnte sie denn
sonst lernen? Sie kann nur kommunizieren, wenn sie die
Mundstellungen des Gegenübers beobachten kann. Ganz
abgesehen davon, dass die Eltern nicht aus Sarajewo
stammen, wurde gesagt, es gibt auch in Sarajewo eine
Taubstummenschule, dorthin kann sie gehen. Es wurde
überhaupt nicht darüber nachgedacht, dass die Sprachkenntnis notwendig ist, um an dieser Schule jemals kommunizieren zu können. Jetzt müssen wir auf Ministerpräsident Höppner, der gerade in den USA weilt, warten, um
das Schlimmste zu verhindern. „Wir müssen eine politische Lösung finden.“
Damit komme ich zu einem wichtigen Punkt, den ich
am Schluss ansprechen möchte. Es gibt jetzt nicht mehr
viele Flüchtlinge bei uns und wir sollten denjenigen, die
jetzt noch hier sind, das Leben nicht so erschweren und sie
nicht in Angst und Panik versetzen. Diese Menschen haben aufgrund dessen, was ihnen passiert ist, ein Recht, in
Frieden zu leben, wie auch wir.
({1})
Wir verscherzen jetzt unsere gute Reputation; denn
wir hatten 350 000 Flüchtlinge aufgenommen. Jetzt leben
noch 35 000 bei uns. In Österreich haben 67 000 ein Bleiberecht bekommen. In Schweden sind es 53 000 Menschen, die ein Bleiberecht bekommen haben. Die USA haben bis zu 140 000 aufgenommen. Im Vergleich mit der
Bevölkerungszahl sind das mehr, als die Bundesrepublik
Deutschland aufgenommen hat. Wir können jetzt nicht
mehr sagen, wir haben die meisten, denn das hat sich
geändert. Auch die Stimmung der Welt gegenüber
Deutschland hat sich geändert.
Lassen Sie mich zwei Dinge ganz klar sagen. Unser
Grundgesetz sagt:
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen
Gewalt. ... Alle Menschen sind vor dem Gesetz
gleich. ... Niemand darf wegen seines Geschlechts,
seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache,
seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner
religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Gilt so etwas für einen Menschen, der seit acht Jahren
hier lebt, nur deshalb nicht, weil er einer anderen Heimat,
einem anderen Volk entstammt? Nach dem Grundgesetz
gilt es für jeden und nicht nur für einen Deutschen. Das
muss man endlich wissen.
Das Zweite: Das Ausländergesetz nennt durchaus
Möglichkeiten. Warum werden diese nicht genutzt? Das
Ausländergesetz sagt in § 54, Aussetzungen von Abschiebungen:
Die oberste Landesbehörde kann aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung
politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass die Abschiebung von Ausländern aus bestimmten Staaten ... für die Dauer von
längstens sechs Monaten ausgesetzt wird. Zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit bedarf die Anordnung des Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern, wenn die Abschiebung länger als
sechs Monate ausgesetzt werden soll.
Herr Kollege, ich
muss jetzt doch auf die Redezeit achten.
Warum macht der Innenminister nicht von sich aus das
Angebot an die Länder? Wir haben ein Einvernehmen,
wenn wir bei diesen Problemfällen weit über sechs Monate hinaus bis zu dem Zeitpunkt, zu dem wir eine Bleiberegelung getroffen haben, nicht abschieben. Das wäre
eine Initiative. Sie fällt auch in seinen Zuständigkeitsbereich. Er hat sich ebenso wie die Länder in der letzten Zeit
sehr bewegt.
Ich möchte nur sagen: Es nützt alles nichts, wenn wir
im Dezember eine Regelung haben und Hunderte oder
Tausende vorher in die jetzt dort vorherrschenden Verhältnisse abgeschoben werden. Ich könnte Ihnen zig Fälle
nennen, die so dramatisch sind wie die gerade geschilderten. Wenn sie ausreisen müssen, wird ihr Leben, ihre Familie zerstört. Das sollten wir verhindern, denn unsere
Generation sollte das Recht, die Menschenwürde und all
das, wofür unsere Vorfahren jahrhundertelang gekämpft
haben, verteidigen. Genauso müssen wir uns auch gegenüber anderen Ländern verhalten, wenn es nötig ist. Denn
Menschenrechte durchbrechen auch Landesgrenzen; wie
wir auch gegenüber den Nationen sagen, dass dies keine
innere Angelegenheit der Nationen ist.
Menschenrechte sind für die ganze Bundesrepublik
Deutschland da.
({0})
Sie sind damit einverstanden gewesen, dass ich die Redezeit in diesem Fall verlängert habe,
({0})
denn wir wollten Ihre eindrucksvolle Rede gern hören.
Wir sind stolz darauf, dass wir dieses Thema heute
Abend noch in dieser eindrucksvollen Weise behandeln
können.
Auch die nachfolgenden Redner würden wahrscheinlich gern noch länger reden, als es die Redezeit erlaubt,
aber ich bitte Sie, sich daran zu halten. In diesem Sinne
hat die Kollegin Heide Mattischeck das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe
Kollegen, liebe Kolleginnen! Ich möchte meinen kurzen ich werde mich an die Redezeit halten - Redebeitrag damit beginnen, noch einmal all denen Dank zu sagen, die
in den letzten Jahren den 350 000 Flüchtlingen und Vertriebenen aus Bosnien und Herzegowina in unserem Land
Zuflucht und Aufnahme gewährt haben: dem Bund, den
Ländern, den Kommunen, vor allen Dingen aber den vielen Menschen, die sich zum Teil in vorbildlicher Weise
ganz persönlich um diese Menschen gekümmert haben,
die vor dem schrecklichen Krieg und dem Genozid in ihrer Heimat fliehen mussten oder vertrieben worden sind.
({0})
Der Dank gilt auch den vielen Flüchtlingsorganisationen
und Wohlfahrtsverbänden, die sich dieser Not leidenden
und gequälten Menschen angenommen und diese vielfältig unterstützt haben.
300 000 Flüchtlinge sind inzwischen in ihre Heimat
zurückgekehrt. Sie sind dabei, die Trümmer wegzuräumen, sich eine neue Existenz aufzubauen, ihr Land wieder in Ordnung zu bringen. Welch schwere Aufgabe das
ist, wissen wir, wenn wir es wollen. Sie brauchen aber
noch lange internationale Unterstützung. Auch dies wissen wir.
Die noch verbliebenen Flüchtlinge gehören weitgehend den Problemgruppen an, die wir in unserem Antrag
beschrieben haben, die zunächst von einer Rückführung
ausgenommen werden sollten. Seit dem Frühjahr dieses
Jahres - dies war auch der Grund für unsere Initiative werden diese Personen weitgehend unterschiedslos aufgefordert, Deutschland kurzfristig zu verlassen. Wer ist
nicht schon in seinem oder ihrem Wahlkreis von solchen
Personen angesprochen oder angeschrieben worden? Wir
wissen, wie hilflos wir dann oft reagieren müssen.
Wir wissen allerdings auch - dies haben wir in der letzten Woche auch von dem UNHCR-Vertreter bei einer Podiumsdiskussion gehört -, dass es in den Bundesländern
durchaus unterschiedliche Herangehensweisen gibt. Hier
nenne ich Nordrhein-Westfalen und auch Schleswig-Holstein, die mit Flüchtlingen unterschiedlich umgehen, die
zum Kreis der im Antrag genannten gehören.
Mit unserem Osterappell, den zu unserer Freude und
Überraschung ganz spontan 100 Abgeordnete unterschrieben haben, wollten wir einen neuen Denkanstoß geben, die begonnene Zwangsrückführung von Traumatisierten, von Alten und Kranken, von Müttern mit kleinen
Kindern, von ethnisch gemischten Ehepaaren einzustellen.
An dieser Stelle erlaube ich mir, auf die besondere
Hartnäckigkeit des Kollegen Schwarz-Schilling in dieser
Sache hinzuweisen und mich dafür auch zu bedanken.
({1})
Das öffentliche Echo auf den Osterappell - das haben
Sie sicher alle zur Kenntnis genommen - war durchweg
positiv. Dies hat uns ermutigt, diesen Gruppenantrag einzubringen. Ermutigt hat uns - das will ich an dieser Stelle
auch sagen - die Unterstützung von Hans Koschnick und
auch die Rede vom Bundespräsidenten Johannes Rau.
Johannes Rau sagte in seiner viel beachteten Rede über
Einwanderung und Asyl, dass es zum einen Menschen
gibt, die wir hier bei uns brauchen und brauchen werden,
die wir einladen, zu uns zu kommen, und solche, die uns
brauchen. Zu der letzten Kategorie gehören weitgehend
jene, von denen wir heute sprechen. Einige, wenn auch
wenige, gehören allerdings durchaus auch zu denen, die
wir dringend brauchen. Ich denke da zum Beispiel an eine
Frau aus Bosnien, um deren Verbleib in Deutschland sich
der Inhaber einer Änderungsschneiderei in meinem Wahlkreis händeringend bemüht; denn er findet sonst niemanden.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, dass circa 225 Abgeordnete den Antrag unterschrieben haben, macht deutlich, dass es für dieses Anliegen eine breite Unterstützung
im Deutschen Bundestag gibt. Ich bin sehr froh darüber,
dass Innenminister Schily sich eindeutig dafür ausgesprochen hat, für den Personenkreis der Traumatisierten den
gesetzlichen Rahmen voll auszuschöpfen.
So viel Deutschland für die Flüchtlinge getan hat, so
großherzig sollten wir jetzt mit denen umgehen, die dieser schreckliche Krieg am stärksten und wohl auch dauerhaft betroffen und beschädigt hat.
({2})
Wir sollten zur Kenntnis nehmen - der Kollege SchwarzSchilling hat schon darauf hingewiesen -, dass Österreich
65 000, Schweden 53 000 und Dänemark 27 000 Bosnier
und Bosnierinnen dauerhaft aufnimmt. In den USA - auch
das wurde gesagt - haben bereits 140 000 Männer und
Frauen aus Bosnien Aufnahme gefunden. Ich denke, wir
sollten uns davon nicht beschämen lassen.
Wir fordern in unserem Antrag mit den vielen Unterschriften kein neues Gesetz; wir fordern auch keine Gesetzesänderung. Wir bringen darin unsere Erwartung
zum Ausdruck, im Rahmen bestehender Gesetze und unter Berücksichtigung auch der Genfer Konvention alles zu
unternehmen, damit dem betroffenen Personenkreis keine
Ausreiseaufforderung, verbunden mit Abschiebungsdrohung, ausgesprochen wird. Sollte dies schon geschehen
sein, dann sollte sie widerrufen werden.
Ich möchte auch die Hoffnung zum Ausdruck bringen,
dass die ausführenden Ausländerbehörden das Votum des
höchsten Souveräns in unserem Lande - ich gehe davon
aus, dass die Abstimmung heute positiv verlaufen wird zur Kenntnis nehmen, respektieren und danach handeln.
({3})
Wir fordern die Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, dass im Rahmen von Einzelfallprüfungen Minimalkriterien angewendet werden und dass für diesen Personenkreis, von dem wir heute sprechen, Möglichkeiten
auch für einen längerfristigen Aufenthalt mit einem gesicherten Rechtsstatus in Deutschland geschaffen werden.
Ich bin fest davon überzeugt, dass uns das gelingen wird,
und bitte deshalb um Zustimmung. Ich bedanke mich
dafür, dass wir hier heute Abend eine so breite Unterstützung finden.
Danke schön.
({4})
Nun erteile ich der
Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, F.D.P.Fraktion, das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Herr Schwarz-Schilling, Sie haben als Kenner der
Region wirklich treffend, überzeugend und ergreifend die
Entwicklung und auch die Situation der derzeit noch in
Deutschland verbleibenden Flüchtlinge geschildert. Deshalb darf für uns in dieser Debatte nicht der Satz gelten,
der die Ausländerpolitik derzeit mitbestimmt, nämlich:
Wir wollen die Menschen aufnehmen, die uns nützen, und
nicht die Menschen, die uns ausnutzen. - Dieser Satz galt
für uns, die Initiatoren dieses Antrages, nicht, denn wir
wollen gerade, dass es in der Flüchtlingspolitik einen anderen Tenor gibt.
Wir wollen erreichen - niemand besser als Herr
Schwarz-Schilling hat uns das mit zwei Beispielen vor
Augen geführt -, dass die zum Teil völlig perspektivlose
Situation von einer bestimmten Gruppe von Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien ernst
genommen wird. Es handelt sich um Einzelschicksale.
Wir wollen erreichen, dass sich nicht nur Bürgermeister aller Parteien vor Ort an uns als Parlamentarier wenden mit dem Ziel einer Aufschiebung der gesetzten Ausreisefrist, einer Verlängerung der Duldung für eine Familie mit Kindern, sondern dass dies hier, wo es hingehört,
im Bundestag debattiert und auch von der Bundesregierung aufgegriffen wird.
Wir wollen, dass die Möglichkeiten des Ausländerrechtes für die traumatisierten Flüchtlinge, für die Lagerinsassen, für die Kriegsdienstverweigerer und für die Deserteure, für Mütter oder Väter allein mit Kleinkindern
und für unbegleitete Minderjährige ausgeschöpft werden.
So wie es innerhalb kürzester Zeit möglich gewesen
ist, mit der Blue Card in Bayern die Einwanderung von
Facharbeitskräften aus einem bestimmten Bereich ausländerrechtlich großzügig zu regeln, so ist es auch ohne
Problem möglich, diesen Personengruppen, die zudem
zahlenmäßig gar nicht mehr ins Gewicht fallen, einen verfestigten Aufenthaltsstatus nach dem geltenden Ausländerrecht zu geben. Dadurch kann ihnen Sicherheit gegeben werden, sodass sie nicht von einer Fristsetzung zur
nächsten leben müssen und möglicherweise Familien auseinander gerissen werden müssen.
({0})
Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des Gruppenantrages beantragen ausdrücklich keine Änderung des
Ausländergesetzes. Es ist kein Gesetzentwurf. Wir wollen
die politische Entscheidung, dass das Ausländerrecht ausgeschöpft wird, dass nach dem Ausländerrecht nicht nur
eine befristete Duldung erteilt wird, sondern ein verfestigter Aufenthaltsstatus. Dass das möglich ist, zeigt schon
die von uns zu begrüßende Bewegung des Bundesinnenministers, was die traumatisierten Flüchtlinge angeht.
In diesem Zusammenhang erlauben Sie mir ein Wort zu
der speziellen Berliner Situation. Nach der Praxis des
Berliner Innensenates werden fast alle Kriegsflüchtlinge
aus Bosnien, denen anerkannte Fachärzte in Deutschland
eine Traumatisierung bescheinigt haben, seit dem Frühjahr 1999 pauschal aufgrund von Anweisungen von Polizeiärzten noch einmal begutachtet. Diese Gutachten und
auch ärztliche Bewertungen stehen häufig nicht in Übereinstimmung mit internationalen Qualitätsstandards. Dies
ist - so haben es auch Verwaltungsgerichte in Berlin festgestellt - eine rechtswidrige Praxis. Sie traumatisiert
diese Flüchtlinge zusätzlich.
Wir wollen, dass hiervon ein Signal ausgeht, dass diese
Praxis beendet wird. Die Innenministerkonferenz wird
diese Beendigung auf ihrer nächsten Tagung beraten und
hoffentlich beschließen.
({1})
Deshalb - ich habe nur eine sehr kurze Redezeit - bitte
ich Sie, diesen Gruppenantrag zu unterstützen; denn er
enthält nur Selbstverständliches zum geltenden Ausländerrecht.
Vielen Dank.
({2})
Jetzt hat das Wort die
Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Osterappell und der jetzt von 230 Kolleginnen
und Kollegen unterschriebene Gruppenantrag ist für mich
ein ganz außergewöhnliches Ereignis. Dieses Ereignis bewegt mich tief, weil es für die Menschenrechte in unserem Land enorm wichtig ist.
Unsere Debatte heute Abend hat etwas von einer Sternstunde, nicht weil es schon so entsetzlich spät ist.
Gleich ist es wieder
ganz früh.
Vielmehr ist diese politisch parlamentarische Initiative, die, wie ich erwarte, positive Änderungen mit sich
bringen wird, für unsere Glaubwürdigkeit wichtig. Glaubwürdigkeit bemisst sich am Umgang mit denen, die verfolgt, die vertrieben, die Opfer von ganz schrecklichen
Verbrechen geworden sind und die bei uns Hilfe und Zuflucht gesucht und vielerorts gefunden haben. Denen soll
jetzt genau dieser für ihr Leben und für ihre Zukunft
nötige Schutz entzogen oder verweigert werden.
Die 230 Abgeordneten sind vielleicht die bisher größte
überparteiliche parlamentarische Menschenrechtsgruppe
für die Beachtung humanitärer Grundsätze in der Flüchtlingspolitik. 230 Abgeordnete mischen sich im allerbesten
Sinne ein und formulieren mit diesem Antrag deutliche
Kritik an der menschenrechtlichen Realität in unserm
Land. Sie schließen nicht die Augen, sie schauen nicht
weg, sie schweigen nicht, sondern sie leisten damit demokratischen Widerstand gegen die Entrechtung des
Rechts von Flüchtlingen, gegen Ruck-zuck-Abschiebungen in eine völlig unsichere Zukunft. Bayern geht übrigens mit besonders gnadenlosem Beispiel voran. Denn
jetzt werden in Bayern selbst ehemalige Lagerhäftlinge in
einer wahren Abschiebewut von Abschiebungen nicht
ausgenommen. 230 Kolleginnen und Kollegen formulieren ihren Widerspruch gegen rigorose und unzumutbare
Härte und einen unmenschlichen Umgang mit Schutzbedürftigen. Als Beispiel möchte ich nennen, dass in Berlin,
wie Frau Leutheusser-Schnarrenberger ausgeführt hat,
traumatisierte Flüchtlinge in Berlin in Handschellen zu
polizeiärztlichen Gutachtern geführt werden.
Ich bin froh und stolz, dass es gelungen ist, über Parteigrenzen hinweg ein Bündnis für mehr Humanität zu
schließen und als Deutscher Bundestag die Bundesregierung aufzufordern, von den Bundesländern das einzufordern, was seit langem und zu Recht von Kirchen, von
Wohlfahrtsverbänden, von vielen Unternehmen, von
Flüchtlingsorganisationen und von Mitbürgern, die uns in
unzähligen Briefen um Unterstützung in Einzelschicksalen bitten, eingefordert wird.
Wir fordern die politisch Verantwortlichen auf, die Logik der Debatte endlich umzudrehen und die Schutzgewährung wieder in den Vordergrund zu stellen,
({0})
anstatt bürokratische und kalte Erlasse zu exerzieren,
ohne Rücksicht auf die tatsächliche Situation in den
Herkunftsländern oder auf die Realität, die Angst und die
Sorgen der Betroffenen zu nehmen.
Es braucht einen differenzierten Umgang mit spezifischen Gruppen, die nicht oder noch nicht zurückkehren
können. Dabei handelt es sich, wie schon angesprochen
worden ist, um allein stehende, alte, traumatisierte und behinderte Menschen sowie um ethnische Minderheiten wie
Roma und Askali. Es handelt sich um Menschen, deren
Häuser zerstört sind und die beim besten Willen nicht ins
Nichts zurückkehren können.
Wir brauchen eine gewissenhafte Einzelfallprüfung
und wir brauchen die Gewährung von Bleiberecht für zum
Beispiel junge Menschen, die faktisch in unsere Gesellschaft integriert sind. Problemfälle - das sind die etwa
50 000 noch verbliebenen Bosnier - sind kein Problem für
unsere Gesellschaft. Sie haben existenzielle Probleme,
bei deren Lösung wir ihnen helfen müssen.
Würden zum Beispiel traumatisierte Frauen jetzt
zwangsweise abgeschoben werden, würde ihnen eine Retraumatisierung drohen. Ganz abgesehen davon gibt es in
Bosnien keine Möglichkeit, die Behandlung adäquat fortzusetzen. Von einer freiwilligen Rückkehr zu sprechen ist
daher purer Hohn.
({1})
Tatsache ist, dass massiver Ausreisedruck ausgeübt
wird, ohne die Kritik von allen Hilfsorganisationen ernst
zu nehmen. Im Menschenrechtsausschuss haben alle
Hilfsorganisationen auf die Situation im Herkunftsland
hingewiesen. Es wird keine Rücksicht auf die Bitten von
UNMIK und UNHCR genommen, die ernsthaft davor
warnen, dass eine unkoordinierte und überstürzte Rückführung von Menschen zum Beispiel in den Kosovo eine
Destabilisierung mit sich bringen würde.
Ich erwarte, dass unser Beschluss etwas bewirken wird
und nicht einfach zu den Akten gelegt wird. Ich erwarte,
dass die Abgestumpftheit der Politik beendet wird und
dass sich mancher Innenminister darauf besinnt - wie es
unser Kollege Schwarz-Schilling gesagt hat -, was unser
Grundgesetz zum Ausdruck bringt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das ist unser moralischer Imperativ,
das ist unsere historische Verantwortung, die sich im Umgang mit den Menschenrechten zeigen muss.
Es geht nicht nur um das Schicksal von Flüchtlingen
und Vertriebenen, es geht vor allem um die Stärke unserer
Demokratie. Stark ist ein starker Staat nur dann, wenn er
die Schwachen schützt und ihnen das gewährt, was sie
brauchen, nämlich Leben und Zukunft. Unsere Initiative
ist also auch ein Beitrag für eine wehrhafte Demokratie in
Deutschland.
({2})
Jetzt hat das Wort die
Kollegin Ulla Jelpke, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Als mir dieser Antrag von einigen meiner
Kollegen zur Unterschrift vorgelegt wurde, dachte ich,
dieser Antrag hätte etwas Besonderes sein können. Ich
dachte, Abgeordnete aus allen Parteien des Deutschen
Bundestages hätten sich für Menschen eingesetzt, die in
einer Notsituation stehen. Damit wäre der Antrag geradezu ein Lichtblick in der aktuellen Einwanderungsdiskussion geworden. Es geht hier nämlich nicht um die
Frage der Nützlichkeit von Menschen, sondern um die bedrohliche Lage von Menschen.
Herr Schwarz-Schilling, ich habe großen Respekt vor
Ihnen bezüglich der Rede, die Sie heute gehalten haben.
Wenn ich mich hier umschaue, so sehe ich keinen einzigen Kollegen Ihrer Fraktion, der dem Innenausschuss angehört. Denn sie sind diejenigen, die in den letzten Monaten und Jahren immer wieder blockiert haben. Dadurch
ist es zu der Abschiebepolitik gekommen, die Sie heute
kritisiert haben.
({0})
Claudia Roth ({1})
Diese Debatte beschämt mich deshalb, weil ich in den
letzten Wochen und Monaten viele Anträge und Anfragen
zu diesen Problemen gestellt habe. Ich möchte hier deutlich sagen, dass ich es nicht gut finde, dass man bei einer
solchen Frage nicht in der Lage war, PDS-Abgeordnete
bei diesem Antrag einzubeziehen.
({2})
Dies ist ein wichtiger Antrag, der in die richtige Richtung geht. Auch ich bin der Meinung, dass Behinderte,
Kranke, alte Menschen, Traumatisierte und Angehörige
bestimmter Ethnien nicht abgeschoben werden dürfen
und dass eine sorgfältige Einzelfallprüfung stattfinden
muss. Mit diesem Appell würde der Bundestag ein Zeichen setzen, dass die gegenwärtige Abschiebepolitik so
nicht fortgesetzt werden kann.
Auch ich nenne das Beispiel einer kurdischen Familie,
die gerade in das Kirchenasyl gegangen ist. Die Frau
wurde vergewaltigt. Sie war schwanger und verlor ihr
Kind. Die Ausländerbehörde verlangt trotzdem, obwohl
die Frau traumatisiert ist, dass sie das Land verlässt.
Dieser Antrag kann nur ein Appell sein. Wir sind der
Meinung, dass der Schutz von Kranken und Traumatisierten vor Abschiebung nicht im Belieben der Ausländerbehörde liegen darf. Wir müssen - das hat auch Herr
Schwarz-Schilling angesprochen - § 53 Abs. 4 des Ausländergesetzes neu formulieren, und zwar so, dass die Europäische Menschenrechtskonvention entsprechend der
Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bei der Entscheidung über eine Abschiebung
beachtet werden muss. Wir werden einen solchen Antrag
erarbeiten und vorlegen, damit das Abschieben nicht im
Belieben der Ausländerbehörde liegt.
Wir werden diesem Appell zustimmen. Ich wünsche
mir aber einen anderen Umgang mit Abgeordneten, die
sich gerade bei solchen Fragen engagiert eingesetzt haben.
Danke.
({3})
Jetzt hat die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Cornelie SonntagWolgast das Wort.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist ein bisschen
schade, dass am Schluss dieser Debatte noch ein parteipolitisches Gegeneinander aufgekommen ist, die eigentlich so wohltuend ungewöhnlich verlaufen ist.
Ich finde es schon eindrucksvoll, dass so viele Namen
aus den unterschiedlichen politischen Lagern vereint auf
einem Antrag zu finden sind. Fraktionsübergreifende Initiativen sind nach wie vor eine parlamentarische Rarität.
Sie kommen am ehesten zustande, wenn es um Fragen der
Menschenrechte geht. Ich erinnere mich noch - das liegt
schon einige Jahre zurück - an die Große Anfrage von
weiblichen Abgeordneten. Es handelte sich hier um den
internationalen Frauenhandel. Ich erinnere mich auch an
die übergreifende Initiative zu dem Vorstoß, die genitale
Verstümmelung schärfer zu ahnden.
Die Initiative, über die wir heute sprechen, verlangt für
bestimmte Flüchtlingsgruppen aus Bosnien und Herzegowina und aus dem Kosovo bis auf weiteres das Bleiberecht in Deutschland. Das entspricht einer breiten
Stimmung in der Bevölkerung der Bundesrepublik. Ich
weiß aus der täglichen Praxis, wie viele solcher Bitten uns
mündlich und schriftlich erreichen. Gerade Flüchtlinge
aus Bosnien und Herzegowina haben in Deutschland eine
hohe Akzeptanz.
Es wird einige von Ihnen überraschen, wenn ich Ihnen
sage: Die Bundesregierung fühlt sich durch diesen Antrag
keineswegs auf die Armesünderbank gedrängt, sondern
sie fühlt sich in mehreren Punkten bestätigt. Sie ist sich
der Tatsache bewusst, dass bestimmte Personengruppen
besonderen Schutz brauchen.
So sind zum Beispiel ethnische Minderheiten aus dem
Kosovo nach wie vor von dem, was wir „zwangsweise
Rückführung“ nennen, ausgenommen. Das Bundesinnenministerium hat die zuständigen Landesbehörden schon
vor einem halben Jahr ausdrücklich gebeten, die freiwillige Rückkehr dieser Menschen äußerst behutsam anzugehen. Ebenso setzt sich das Bundesinnenministerium
dafür ein, dass Menschen, die als Zeugen vom Internationalen Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien benannt worden sind, mit ihren Familien einen Aufenthaltstitel in Deutschland bekommen.
Minister Schily hat sich auch - das wurde schon erwähnt - für die schwer Traumatisierten, vor allem
Frauen, und für ehemalige Lagerhäftlinge aus BosnienHerzegowina und aus dem Kosovo eingesetzt mit dem
Ziel, dass die Behörden den gesetzlichen Rahmen voll
ausschöpfen und von den auf drei Monate beschränkten
Duldungen absehen, schon um diesen Menschen eine
gründliche medizinische und psychotherapeutische Behandlung zu ermöglichen.
Chronisch Traumatisierte sollen eine Aufenthaltsbefugnis erhalten, so geht es aus dem Schreiben an die Innenminister und Senatoren der Länder hervor. Ich nutze
die Gelegenheit, um die zuständigen Behörden ausdrücklich zu bitten, auch entsprechend zu verfahren. Sensibilität und der Wille, Ermessensspielräume wirklich und
entschieden auszunutzen, sollten auch vor den Türen der
örtlichen Ausländerämter nicht Halt machen.
({0})
Auch wer schon im Rentenalter ist und keine Angehörigen in Bosnien-Herzegowina hat, ist gegenwärtig ebenfalls von der Rückführung ausgenommen.
Schließlich möchte ich darauf hinweisen, dass wir im
Dialog mit dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung über eine Lockerung des Arbeitsverbotes
mit Blick auf Flüchtlinge und Asylbewerber beraten und
dass wir, so hoffe ich, in allernächster Zeit zu einer LöUlla Jelpke
sung kommen werden, die den Gegebenheiten auf dem
Arbeitsmarkt ebenso gerecht wird wie den berechtigten
Interessen der Betroffenen.
Das Prinzip Freiwilligkeit - hier unterscheiden wir
uns vielleicht in Nuancen, Frau Kollegin Roth - hat sich
bei der Rückkehr doch bewährt. Wer hätte schon vor zwei
oder drei Jahren gedacht, dass sich von den fast 350 000
Flüchtlingen der allergrößte Anteil aus freien Stücken
wieder in die Heimat begeben würde? Jetzt sind noch etwas mehr als 38 000 Menschen in Deutschland, die eigentlich ausreisen müssten. Ende des Jahres, so schätzt
der UNHCR, werden es voraussichtlich noch 21 000 sein.
Den entsprechenden politischen Willen der Länder vorausgesetzt, könnte zu diesem Zeitpunkt im Rahmen der
Innenministerkonferenz eine Altfallregelung für diese
Menschen vereinbart werden.
Ich muss genauso deutlich darauf hinweisen, dass wir
nicht generell auf das Mittel der zwangsweisen Rückführung verzichten können. Außerdem haben wir es - das
wissen alle, die den Antrag unterzeichnet haben - mit der
Kompetenz der Länder zu tun.
Ich möchte trotzdem klar unterstreichen: Die Bundesregierung versteht diesen Antrag als eindringlichen Appell vieler, die sich aus großer Verantwortung für das
Schicksal der betroffenen Menschen zu Wort melden.
Dass dieser Aufruf von so vielen Abgeordneten unterschiedlicher politischer Lager getragen wird, stellt unserer parlamentarischen Demokratie, glaube ich, ein gutes
Zeugnis aus.
Ich bedanke mich.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag mit
dem Titel „Humanitäre Grundsätze in der Flüchtlingspolitik beachten“, Drucksache 14/3729. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist
der Antrag einstimmig angenommen.
({0})
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 c auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Zu-
sammenarbeit von Arbeitsämtern und Trägern
der Sozialhilfe
- Drucksache 14/3765 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ich eröffne die Aussprache. Alle Reden zu diesem Ta-
gesordnungspunkt sind zu Protokoll gegeben.1) Deshalb
schließe ich die Aussprache wieder.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf Drucksache 14/3765 an den in der Tagesordnung aufgeführten Ausschuss vorgeschlagen. Gibt es anderweitige
Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf heute, Freitag, den 7. Juli 2000, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.