Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Liebe Kollegin, einen
kleinen Moment! Liebe Kolleginnen und Kollegen dort
hinten, nehmen Sie doch Platz oder verlassen Sie den Plenarsaal!
({0})
Frau Kollegin Kaspereit hat eine sanfte Stimme und
würde sonst rhetorisch behindert werden. Herzlichen
Dank.
Vielen Dank, Herr Präsident.
Erst mit diesem Schritt wurde der Weg für die Vereinigung Deutschlands in einem demokratischen und sozialen
Rechtsstaat frei gemacht. Es hatte sich gezeigt, dass das
Bewusstsein und die Verantwortung für die gemeinsame
Geschichte, persönliche und verwandtschaftliche Beziehungen und das Zusammengehörigkeitsgefühl der
Deutschen stärker waren als eine kommunistische Ideologie und eine die Deutschen in Ost und West separierende Staatsräson.
({0})
Es war deshalb kein Zufall, dass die Deutschen bei der
ersten sich bietenden Gelegenheit die Chance zur Wiedervereinigung nutzten. Das war unseren Nachbarn im
Westen, aber auch im Osten immer selbstverständlich und
immer präsent. Nur dem einen oder anderen im eigenen
Land schien das Gespür dafür abhanden gekommen zu
sein.
({1})
Dabei steht die historische Bedeutung des 1. Juli 1990
außer Frage. Der Schritt zur Wirtschafts-, Währungs- und
Sozialunion war das zentrale Ereignis im Prozess der
Wiedervereinigung Deutschlands. Dieser Schritt war notwendig und ohne Alternative. Heute - zehn Jahre nach
den oft heftigen Debatten über ein Für und Wider - kann
das so bestimmt festgestellt werden.
Doch die historische Bedeutung dieses Datums, die
Gefühle der Betroffenen und ihre Erinnerungen an das Ereignis fallen merkwürdig auseinander. Es scheint: Je weiter sich das Ereignis im zeitlichen Verlauf entfernt, desto
schwerer fällt es, gemeinsame Bilder, Bewertungen und
Erinnerungen zu finden. Zu viele Hoffnungen wurden
seither enttäuscht, zu viele Wünsche blieben unerfüllt, zu
viele Versprechen wurden gebrochen, zu viele Lebensentwürfe über den Haufen geworfen und Biografien entwertet.
Für nicht wenige in den neuen Ländern erscheint der
1. Juli deshalb als der Sündenfall schlechthin. Das ist für
sie der Tag, an dem die Industrielandschaft der DDR platt
gemacht wurde und von dem an Millionen ihren Arbeitsplatz verloren. Das ist für sie der Tag, an dem das Volkseigentum der DDR verschleudert wurde oder in westdeutsche Hände fiel. Das ist für sie der Tag, an dem die
Sicherheit eines umfassenden, fürsorglichen Staates verschwand.
All das ist grundfalsch. Die ehemals blühende ostdeutsche Industrielandschaft wurde während 40 Jahren
Sozialismus platt gemacht und nicht nach dem
1. Juli 1990.
({2})
Millionenfache Arbeitslosigkeit war in den sozialistischen Betrieben und Verwaltungen versteckt worden. Das
Volkseigentum stand zur Disposition einer winzigen Minderheit von Funktionären, die es verkommen ließen. Der
für alles zuständige fürsorgliche Staat hatte die Leistungsbereitschaft der Menschen gelähmt. Die Region, die
vor dem Zweiten Weltkrieg an der vordersten Front des
industriellen Fortschritts stand, wurde an die Peripherie
der wirtschaftlichen Entwicklung gedrängt und fiel immer mehr zurück. Das ist die Wahrheit.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die überwiegende
Mehrheit der Ostdeutschen war und bleibt der 1. Juli 1990
ein Tag der Freude und Erleichterung. Jetzt war klar, dass
die friedliche Revolution endgültig gesiegt hatte. Jetzt
war klar, dass die Wiedervereinigung kommen würde,
schnell kommen würde, und das entsprach den Wünschen
der überwältigenden Mehrheit der Menschen in Ost und
West.
({4})
Sosehr sich Freude und Erleichterung mit dem 1. Juli
1990 verbinden - es gab auch Besorgnis vor dem, was
kommen würde. Wir fühlten, dass sich unser Leben
grundlegend ändern muss.
Seit dem Mauerfall setzte eine Umwertung aller bisher
geltenden Normen und Werte ein, eine Kulturrevolution
im wahrsten Sinne des Wortes. Das, was zuvor des Teufels war, wurde nun hoch gelobt. Individualismus statt
Kollektivismus, Verfolgen eigener Interessen statt Solidarität, Wettbewerb statt Planung, Konkurrenzverhalten,
Selbstverwirklichung, Prestigedenken, ungenierter Gebrauch der Ellenbogen, Egozentrismus - so wurden die
neuen Herausforderungen umschrieben, denen wir uns
stellen mussten und doch nur schlecht stellen konnten.
Ich kann mich noch erinnern: Als Kinderzahnärztin
hatte ich größte Schwierigkeiten, mit den neuen Gegebenheiten im Gesundheitswesen zurechtzukommen. Nun
hieß es nicht mehr allein, den Patienten in den Mund zu
schauen, um zu sehen, ob sie gesunde Zähne hatten und
was zu tun wäre, wenn dies nicht der Fall war. Ich hatte
aber nie gelernt, den Patienten zuerst ins Portemonnaie
und dann in den Mund zu schauen.
Mein Freundeskreis in der DDR, mit relativ homogenen Interessen verbunden, überlebte die Wende nicht und
zerfiel. Wir sprachen nicht mehr dieselbe Sprache und
hatten sehr unterschiedliche Probleme zu lösen. Der eine
gründete eine Firma, der Zweite brauchte eine halbe Million für eine Praxisgründung, der Dritte kam mit den Veränderungen im Schulsystem nicht zurecht. Urlaubsfotos
aus der Karibik verletzten den Stolz meiner arbeitslosen
Nachbarin. Die Entscheidung für eine bestimmte Automarke rief Schulterzucken hervor, früher eher Freude darüber, dass das Auto endlich da war. Schließlich fehlten
die gemeinsamen Gesprächsthemen, über die man prestige- und vorurteilsfrei hätte sprechen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bilder vom
1. Juli 1990 sind haften geblieben und waren geprägt von
Menschenschlangen vor Sparkassen und Banken. Am
2. Juli standen in den Regalen der Konsum-Verkaufsstellen Waren, die wir nur aus der Werbung im Fernsehen
kannten. Doch ebenso wie im Intershop waren diese Waren nur gegen Westgeld zu erhalten. Aber - großes Staunen - wir hatten ja plötzlich die D-Mark. Und wir drehten
jede Mark zweimal um, bevor wir sie ausgaben.
Das war der Schritt zur Wirtschafts-, Währungs- und
Sozialunion; aber es war weit mehr als nur der Tag, an
dem die Mark der DDR in D-Mark eingetauscht wurde.
Entscheidend war: Die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion hat die Grundlagen für den Weg zur sozialen
Marktwirtschaft geschaffen und dieser Weg war bitter
nötig, auch wenn das damals noch nicht von allen so gesehen wurde.
({5})
Über das Ob, das Wie, das Wann einer Währungsunion
wurde 1990 heftig gestritten, nicht nur in beiden Parlamenten, der Volkskammer und dem Bundestag, sondern
auch innerhalb der Parteien, auch und gerade in meiner
Partei. Angesichts der außerordentlichen Bedeutung dieser Entscheidung war das nur allzu verständlich.
Ein bunter Strauß von Meinungen, Ansichten, Thesen
und Antithesen und Analysen wurde täglich feilgeboten.
Gewissheiten von heute waren morgen schon widerlegt,
Unsicherheiten und Befürchtungen wurden bald zu Tatsachen.
Aber es hat doch keinen Sinn, heute den Neunmalklugen zu spielen. Deshalb halte ich die häufig geführte Waswäre-wenn-Diskussion für so unnötig wie einen Kropf.
Das Gesetz des Handelns lag jedoch nicht in den Parlamenten, weder in Berlin noch in Bonn, sondern es lag
bei den Regierungen. Und die brauchten häufig länger als
notwenig, um Entwicklungen angemessen zu beurteilen
und dementsprechend zu handeln.
Es waren Sozialdemokraten, die bereits früh die Notwendigkeit des Schrittes hin zur Währungsunion gefordert und in die politische Debatte eingeführt hatten.
({6})
Ich schaue mit Vergnügen auf die Tribüne dieses Hauses
und begrüße unsere ehemalige Kollegin, das heutige Vorstandsmitglied der Kreditanstalt für Wiederaufbau, Frau
Ingrid Matthäus-Maier.
({7})
Zusammen mit ihrem Kollegen Wolfgang Roth hatte
Ingrid Matthäus-Maier in einer Pressemitteilung - bitte
hören Sie zu - vom 2. Februar 1990 die Bundesregierung
aufgefordert - ich zitiere mit Genehmigung des Präsidenten -:
Die Bundesregierung, insbesondere Finanzminister
Waigel, muss endlich ihren Widerstand gegen eine
deutsch-deutsche Währungsunion aufgeben.
({8})
Wer die Währungsunion auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschiebt und sich, wie Herr Waigel, nur
als Oberbedenkenträger betätigt, der schadet den
Deutschen in Ost und West und behindert den organischen Prozess der deutschen Einigung.
({9})
So weit Wolfgang Roth, damals wirtschaftspolitischer
Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, und Ingrid
Matthäus-Maier, finanzpolitische Sprecherin der SPDBundestagsfraktion, am 2. Februar 1990.
({10})
Es waren im Übrigen auch Sozialdemokraten, die darauf gedrängt hatten, dass die mit der Währungsumstellung verbundenen schmerzlichen Anpassungsschritte sozial und ökologisch begleitet werden müssten. Es ist nicht
zuletzt das Verdienst der SPD gewesen, Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion als gemeinsames Projekt des
Übergangs zur sozialen Marktwirtschaft zu definieren
und in die politische Debatte einzuführen.
({11})
Es ist damals im Vorfeld der Entscheidungen häufig
das Bild eines millionenfachen Exodus von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik bemüht worden, um das
schnelle In-Kraft-Setzen der Wirtschafts-, Währungs- und
Sozialunion zu begründen. Ich halte dieses Bild für zu einseitig und für zu eng. Mit ihm werden falsche Akzente gesetzt; denn es hat auch eine gewisse Suggestionskraft. Der
Slogan „Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu
ihr“ hat zudem etwas Drohendes und wohl auch etwas Bedrohliches.
Die Notwendigkeit einer schnellen Vereinigung war
ganz offensichtlich: Der Sozialismus in der DDR hatte wie auch anderswo - buchstäblich abgewirtschaftet. Im
Übrigen wusste das keiner besser als die SED-Führung
selbst. Ich erinnere an Ehrensperger und Schürer.
Nein, meine Damen und Herren von der PDS, es gab
zur schnellen Vereinigung keine Alternative. Es gab auch
keine Alternative zu einem radikalen Neuanfang in Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wahrheit ist, dass die Wiedervereinigung die ostdeutsche Bevölkerung vor einem
wirtschaftlichen und sozialen Absturz bewahrt hat.
Vielen von uns war damals allerdings nicht klar, dass
die Wiedervereinigung nicht ein einmaliges Ereignis ist,
sondern ein lang anhaltender, schwieriger Prozess sein
würde, den ich heute als eine einzigartige nationale Aufgabe definieren möchte.
({12})
Ich werde nie die Bemerkung meines Mannes vergessen,
als er mich - noch immer berauscht von der Aussicht auf
ein ostdeutsches Wirtschaftswunder, das die damalige
Kohl-Regierung uns täglich suggerierte - auf die Erde
zurückholte mit der Frage: Und was ist, wenn das Geld
ausgegeben ist?
Ja, was ist eigentlich, wenn den Menschen das Geld
ausgeht, wenn die Farbfernseher, die Videorekorder, die
Kameras gekauft, die Autos angeschafft sind und der Urlaub auf den Balearen vorbei ist? Die Wohnungen waren
noch immer eng. Die sanitären Verhältnisse waren erbärmlich. Die Braunkohleöfen und Fernheizungen stanken wie eh und je. Wenn man sich dann auch noch den Zustand der Fabriken und der Verwaltungen anschaute, dann
war klar: Uns trennen nicht Jahre, uns trennen Jahrzehnte
von den Verhältnissen in den Betrieben und Verwaltungen
in der alten Bundesrepublik. Die Verkehrswege, das Telefonnetz, die Wasserversorgung und die Abwasserentsorgung waren nahezu unverändert auf dem Stand von vor
dem Zweiten, zum Teil sogar noch auf dem vor dem Ersten Weltkrieg.
In den vergangenen zehn Jahren ist in Ostdeutschland
unendlich viel geschehen. Wer heute selbst durch abgelegene Regionen reist, kommt häufig aus dem Staunen nicht
mehr heraus. Ich lade gerade unsere westdeutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger ein, sich in den neuen Ländern
umzusehen. Wer die Landschaften noch von Verwandtenbesuchen zu DDR-Zeiten kennt, wird sehen, welche enormen Fortschritte im vergangenen Jahrzehnt gemacht worden sind. Ich möchte das jetzt gar nicht alles aufzählen.
Aber Sie werden dann auch sehen, was noch zu tun übrig
geblieben ist. Sie werden besser verstehen, dass wir noch
immer auf die Solidarität aus dem Westen angewiesen
sind.
({13})
Mit der Entscheidung für einen schnellen Übergang
zur Marktwirtschaft und zur Einheit und damit zur vollen
Integration in die Weltwirtschaft war das Todesurteil über
den ostdeutschen Kapitalstock gesprochen, mit all den
Folgen für Wachstum und Beschäftigung in den neuen
Ländern. Das war übrigens den Experten klar. Sie haben
sich ebenso klar dazu geäußert.
Wenn heute das DIW beklagt, dass das Primat der
Politik über die Ökonomie einen hohen Preis gefordert
hat, so möchte ich dem nicht widersprechen; aber es war
eine richtige und politisch mutige Entscheidung, die der
Ausnahmesituation angemessen war.
({14})
Es gehört allerdings zu den entscheidenden politischen
Fehlern der Kohl-Regierung, die Menschen in Ost und
West auf die Konsequenzen eines schnellen Übergangs
nicht vorbereitet zu haben. Im Gegenteil, mit dem Gerede
über blühende Landschaften und über die Angleichung
der Lebensverhältnisse in wenigen Jahren sind vor allen
Dingen Ostdeutsche fehlorientiert worden - mit fatalen
Folgen für die weitere Entwicklung.
({15})
Die Zeitspanne vom 9. November 1989, dem Zeitpunkt
der Öffnung der Mauer, bis zum 3. Oktober 1990 war für
uns eine Zeit der emotionalen Hochspannung und der
überschwänglichen Hoffnung, ja der illusionären Erwartungen. Es war eine Zeit der Erleichterung, der Erweiterung unseres Horizonts und vor allem des besonderen Geschmacks der Freiheit, wie man ihn nur zu Zeiten von Revolutionen schmeckt. Dies ist eine Erfahrung, die wir
Ostdeutschen unseren Mitbürgern in den alten Ländern
voraushaben und immer voraushaben werden.
Wir wurden wieder Subjekt unserer Geschichte, Handelnde, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen
konnten. Dies ist nichts Abstraktes, sondern eine hautnahe
Erfahrung, die ich als Bürgermeisterin einer Gemeinde
von nur wenigen hundert Einwohnern machen konnte.
Die Gemeinde hatte plötzlich ihre kommunale Selbstverwaltung entdeckt. Dies ist eine Erfahrung, die im Bewusstsein hängen bleibt und die das Leben der überwältigenden Mehrheit der Menschen in den neuen Ländern
verändert hat.
Letztendlich sind es diese alltäglichen Erfahrungen der
Selbstbestimmung und der Verantwortung, die zählen. Sie
sind ein wesentlicher Teil des Fundamentes, auf dem wir
uns seither bewegen und das uns in den kommenden Jahren trotz aller Probleme und Frustrationen immer wieder
tragen wird.
Danke schön.
({16})
Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich darf Ihnen zwischendurch das Ergebnis
der Wahl eines Mitglieds des Parlamentarischen Kon-
trollgremiums bekannt geben. Abgegebene Stimmen 573.
Ungültige Stimmen 1. Mit Ja haben gestimmt 390, mit
Nein haben gestimmt 167, Enthaltungen 15. 1)
({0})
Der Abgeordnete Hermann Bachmaier hat die nach § 4
Abs. 4 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle
nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes erforderliche Mehrheit von 335 Stimmen erreicht. Er ist damit als
Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums gewählt.
({1})
Wir fahren in der Debatte fort. Ich gebe dem Kollegen
Theodor - - Theo Waigel, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine
1) Anlage 2
Damen und Herren! Herr Präsident, Sie dürfen ruhig
Theodor zu mir sagen. Auch Franz Josef Strauß hat das
gesagt. Theodor heißt „Geschenk Gottes“. Nicht alle wissen das.
({0})
Ich bin also durchaus auf den ganzen Vornamen stolz.
Der Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschaftsund Sozialunion war ein entscheidender Meilenstein im
Prozess der Wiedervereinigung zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990. Die politische Bedeutung des Vertrages liegt auf der Hand: Er war der unumkehrbare Schritt zur staatlichen Einheit Deutschlands.
Das wussten wir und das wollten wir.
({1})
Mit der Übertragung der währungspolitischen Souveränität auf die Bundesbank war ein eigenständiger ostdeutscher Staat nicht zu vereinbaren. Es dauerte mehr
als 40 Jahre von der letzten gesamtdeutschen Konferenz
der Ministerpräsidenten in München bis zur ersten
Sitzung des gesamtdeutschen Bundestages. Viele hatten
das Ziel der Wiedervereinigung schon aufgegeben. Frau
Kaspereit, manches von dem, was Sie gesagt haben, war
richtig; nicht alles war ganz richtig. Manchmal waren es
ganze Fraktionen, die den Gedanken an die Wiedervereinigung schon aufgegeben hatten.
({2})
Aber ich will in die heutige Debatte keine zusätzliche
Schärfe hineinbringen.
Die Teilung des deutschen Vaterlandes konnte nicht
das letzte Wort der Geschichte sein.
Jedes Volk hat das Recht auf Selbstbestimmung.
Auch namhafte Persönlichkeiten aus dem Bereich von
Kunst und Kultur erhielten den Willen nach Gemeinsamkeiten aufrecht. Ich erinnere stellvertretend für viele an
Martin Walser, der in den Münchner Kammerspielen ein
Jahr vor der Wiedervereinigung ausführte:
Aus meinem historischen Bewusstsein ist Deutschland nicht zu tilgen. Sie können neue Landkarten
drucken, aber sie können mein Bewusstsein nicht neu
herstellen. Ich weigere mich, an der Liquidierung
von Geschichte teilzunehmen.... Wir müssen die
Wunde namens Deutschland offenhalten.
Respekt, Martin Walser!
({3})
Heute wissen wir: Es war richtig, am Ziel der Einheit
in Freiheit festzuhalten, auch wenn der Zeitpunkt der
Vereinigung nicht voraussehbar war. Es war die große historische Leistung von Helmut Kohl, die damalige Chance
zur Wiedervereinigung mit Mut und mit Augenmaß ergriffen zu haben.
({4})
Otto von Bismarck lag sicherlich richtig mit seinem Hinweis, die Geschichte habe nicht immer das große Los im
Topf. Ob die staatliche Wiedervereinigung Jahre später
noch möglich gewesen wäre, ist mehr als fraglich. Ich bin
überzeugt: Der Preis für die Zustimmung der Nachfolgestaaten der Sowjetunion zur Wiedervereinigung wäre mit
Sicherheit um ein Vielfaches höher gewesen als die
18 Milliarden DM, die wir für den Abzug der letzten Rotarmisten von deutschem Boden bezahlt haben.
Auch die ökonomische Bedeutung des Angebots der
Währungsunion dürfte heute nicht mehr umstritten sein.
Es war für die Ausreisewilligen ein Signal zum Bleiben,
gleichsam der Startschuss für einen ökonomischen
Neuanfang durch endgültige Absage an die sozialistische
Planwirtschaft und Übergang zum Modell der sozialen
Marktwirtschaft.
Das Konzept der Währungsunion steht historisch
ohne Vorbild da. Die handelnden Politiker diesseits wie
jenseits der Elbe konnten weder auf wissenschaftliche
noch auf empirische Untersuchungen zurückgreifen.
Beiträge zur so genannten Transformationstheorie haben
erst in späteren Jahren das Licht der Welt erblickt. Ich
sage das vor allem an die Adresse der Ex-post-Besserwisser, die Jahre später lautstarke Kritik erhoben, von denen
aber in den entscheidenden Wochen und Monaten nichts
zu hören war.
({5})
Außer bedenkens- und dankenswerten Beiträgen von
Kurt Biedenkopf und Karl Schiller sowie des Wissenschaftlichen Beirats beim Wirtschaftsministerium galt damals unbestritten das Primat der Politik.
Wer das Konzept der Währungsunion würdigen will,
der muss sich der politischen Großwetterlage Ende der
80er-Jahre erinnern. Der NATO-Doppelbeschluss hatte
die sicherheitspolitische Entschlossenheit des Westens
unterstrichen. Die Ergebnisse der Helsinki-Konferenz
blieben auch den Menschen in Osteuropa nicht unbekannt. Michail Gorbatschow bemühte sich, mit systemimmanenten Reformen das sozialistische Wirtschafts- und
Gesellschaftsmodell im Osten zu reformieren. Die gravierenden Wirtschaftsprobleme des Ostblocks allerdings
beruhten auf einem Versagen des Systems. Was folgte,
war eine politische Eigendynamik sondergleichen, an deren Ende die friedlichen Revolutionen in Warschau, Prag
und Budapest standen.
Dieser Entwicklung konnte sich der SED-Staat nicht
entziehen. In 40 Jahren war es in Ostdeutschland nicht gelungen, eine eigene nationale Identität zu entwickeln.
Trotz schön gefärbter Bilanzen nahmen die Wirtschaftsprobleme zu. Die Transferleistungen der Bundesrepublik und die Kredite des Westens trugen trotz gegenteiliger Äußerungen keineswegs zur Verlängerung der Lebenszeit der DDR bei. Sie waren schon von ihrem
Volumen her nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen
Stein.
Die Demonstrationen von Ostberlin bis Leipzig verdeutlichten ohne Wenn und Aber den Willen der Ostdeutschen nach Veränderung. Das Streben nach Freiheit,
Selbstbestimmung und Demokratie lässt sich auf Dauer
nicht unterdrücken.
Die Öffnung der Mauer war die Folge. Die Bundesregierung antwortete darauf mit dem Angebot zur politischen und ökonomischen Zusammenarbeit. Die Zeit
drängte. Spielraum für Zwischen- oder Übergangslösungen bestand faktisch nicht. Die politische und ökonomische Entwicklung hatte eine unaufhaltsame Eigendynamik gewonnen.
Beim Angebot der Währungsunion spielten ökonomische Notwendigkeiten eine wichtige Rolle. Es zeigte sich
schnell: Eine eigenständige DDR würde aus eigener Kraft
die Defizite bei der Infrastruktur, im Umweltbereich, bei
der Arbeitsproduktivität, bei der Wettbewerbsfähigkeit
und beim Konsumniveau nicht beseitigen können. Dies
war nur durch Mobilisierung westlichen Kapitals möglich. Entscheidend waren jedoch politische Gesichtspunkte. Bis Ende Dezember 1989 belief sich die Zahl
der Übersiedler auf über 120 000. Nur dadurch, dass ihnen ökonomische Zukunftsperspektiven eröffnet wurden,
konnte eine weitere Abstimmung mit den Füßen verhindert werden. Dies war der politische Aspekt.
({6})
Bereits im Dezember, Frau Kaspereit, wurde im BMF
eine Arbeitsgruppe eingerichtet. Ich erinnere mich noch
gut an die Diskussionen, die wir damals im Rahmen einer
Klausurtagung des Bundesministeriums der Finanzen zur
Konkretisierung des Währungsprojekts führten. Zur gleichen Zeit, am 19. Januar 1990, wies Kurt Biedenkopf auf
die Unmöglichkeit hin, die Währungsfrage behutsam zu
lösen, und die frühere Kollegin Ingrid Matthäus-Maier
forderte in der „Zeit“ einen Währungsverbund mit einer
einheitlichen Währung, also eine Währungsunion. Der
Sprung ins Wasser war unvermeidlich; mit den Worten
von Vaclav Havel ausgedrückt: Man kann einen Abgrund
nicht mit zwei Sprüngen überqueren. Man muss den mutigen Schritt auf einmal tun.
({7})
In der Tat war dies ein revolutionärer Schritt mit weitreichenden, teilweise ungewissen Folgen. Aber gab es damals wirklich Erfolg versprechende Optionen für andere
Lösungen? Entscheidend war für mich die politische Dynamik. Die Menschen im Osten verlangten überzeugende
Signale. Die Stimmen wurden lauter: Kommt die D-Mark,
bleiben wir; kommt sie nicht, gehen wir zu ihr.
Eine Alternative bestand sicherlich in der „ÖsterreichLösung“, das heißt der Aufrechterhaltung einer politisch
und ökonomisch selbstständigen DDR. Ich will heute
nicht die Schlachten von gestern wiederholen. Nur, eine
neue Paragraphenmauer zum Stopp der Zuwanderung war
moralisch nicht mehr vertretbar. Wer heute glaubt, wir
hätten damals noch die Zeit für Stufenlösungen gehabt,
der muss den Menschen gleichzeitig sagen, dass wir eine
neue Mauer aus Paragraphen, eine neue Mauer für den
Handel, eine neue Mauer in Form von Ausreisebeschränkungen aufgerichtet hätten. Das wäre mit unserem Selbstverständnis und mit der Verfassung Deutschlands nicht
vereinbar gewesen.
({8})
Übrigens hätte auch der Verzicht auf die Einheit den
Ostdeutschen einen tief gehenden Strukturwandel mit Rezession und Arbeitslosigkeit nicht erspart.
Es gab damals Stimmen, die sich für einen Wirtschafts- und Währungsverbund aussprachen. Nur wäre
ein Festkurs zwischen Ost-Mark und D-Mark mit entsprechender Interventionsverpflichtung der Bundesbank
ganz sicher politisch nicht durchsetzbar gewesen und auf
den geschlossenen Widerstand aller deutschen Wirtschaftsexperten gestoßen. Auch Kapitaltransfers, die der
westdeutsche Steuerzahler hätte aufbringen müssen, um
ein neues Wirtschaftsexperiment auf deutschem Boden
mit plan- und marktwirtschaftlichen Elementen zu finanzieren, wären im Westen auf wenig Gegenliebe gestoßen.
Es bleibt der wiederholte Hinweis auf Stufenlösungen. Doch auch diese Option hält im Rückblick nicht
stand. Hätten wir gewartet, bis die ostdeutsche Wirtschaft
das westdeutsche Leistungs- und Produktionsniveau
annähernd erreicht hätte, gäbe es noch heute keine
Währungsunion, geschweige denn die Wiedervereinigung.
Meine Damen und Herren, als das Statistische Bundesamt uns bei der Umsetzung der Europäischen Währungsunion mitteilte, dass unser Defizit 2,7 Prozent beträgt,
wollte uns ein bestimmtes Wirtschaftsforschungsinstitut
aufgrund seiner Berechnungen glauben machen - das hat
viel Verwirrung geschaffen -, dass es bei 3,4 Prozent
liege. Später hat sich herausgestellt, dass es bei 2,6 Prozent lag. Ausgerechnet dieses Institut kommt jetzt, nach
zehn Jahren, im Rückblick zu dem Ergebnis, man hätte
den Kurs auf 1:4 oder 1:5 festsetzen sollen. Ich frage Sie:
Was hätten wohl die Menschen in Ostdeutschland gesagt,
wenn wir die Rentner mit 150 bis 200 DM und die Arbeitnehmer mit 350 bis 400 DM zurückgelassen hätten?
Es ist doch geradezu abstrus, welche Vorstellungen zehn
Jahre später entwickelt werden!
({9})
Kollege Waigel, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Meckel?
Herr Kollege
Meckel, ich schätze Sie sehr, aber ich bitte um Verständnis, dass ich hier im Zusammenhang vortragen möchte.
Ich sehe bis heute kein besseres Konzept als die von
uns gewählte Währungsunion. Die DDR-Planwirtschaft
war am Ende. Ohne Marktwirtschaft und Gemeinschaftswährung wäre der dringend erforderliche Zufluss von öffentlichem und privatem Kapital aus Westdeutschland Illusion geblieben.
Sicherlich: Der ökonomische Wiederaufbau dauerte
länger und erfordert mehr Finanzmittel als ursprünglich
geplant. Exakte Daten über das tatsächliche Produktivitätsniveau und den Kapitalstock lagen nicht vor. Was
den erforderlichen Finanzaufwand betraf, gab es ebenfalls nichts als vage Schätzungen. Selbst die Wirtschaftsforschungsinstitute standen weitgehend mit leeren Händen da. So bezifferte das von mir bereits apostrophierte
Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung den jährlichen
Sanierungsbedarf auf 50 Milliarden DM, während nach
Auffassung der Berliner Experten die Sanierung der Betriebe ausschließlich durch privates Kapital erfolgen
sollte.
Noch bei den Verhandlungen über den Staatsvertrag
wurde von einem dreistelligen Milliardengewinn in der
Privatisierungsbilanz ausgegangen, der dann für die Beteiligung der Mitarbeiter zur Verfügung gestellt werden
sollte. Hans Modrow ging von 1 000 Milliarden Ostmark
bzw. 500 Milliarden DM aus. Detlef Rohwedder, der sein
Leben auf tragische Weise verlor und dessen zu gedenken
gerade heute Anlass ist,
({0})
ging von 600 Milliarden DM aus. Es gehört zu der Tragik
in jenen Zeiten, dass Detlef Rohwedder damals um die
Jahreswende seinen Posten verlassen wollte. Wir haben
ihn aber eindringlich gebeten, seine verdienstvolle Arbeit
fortzuführen. Seiner und seiner Familie zu gedenken steht
uns in dieser Stunde gut an.
Sicherlich mussten damals Kompromisse geschlossen
werden. Das gilt vor allem für die Regelung der Vermögensfragen. Ungeachtet unterschiedlicher Rechtsauffassungen über die Enteignungen in der Zeit von 1945 bis
1949 bleibt daran zu erinnern, dass es ohne die damals gefundene Lösung nicht zur Zweidrittelmehrheit der DDRVolkskammer zum Einigungsvertrag gekommen wäre.
({1})
Richard Schröder hat dies hier vor wenigen Wochen, wie
ich meine, eindrucksvoll und sehr ehrlich dargestellt.
({2})
Die Treuhand wurde später zu Unrecht zum Sündenbock gestempelt. Auch wenn es in Einzelfällen zu Fehlern
gekommen sein mag, so hat doch die Treuhand mit über
40 000 Privatisierungen hervorragende Arbeit geleistet.
Es war damals richtig, auf Experimente eines dritten
Weges, auf staatliche und genossenschaftliche Eigentumskonstruktionen sowie auf dirigistische Strukturpolitik und Ähnliches zu verzichten. Unsere Leitlinie, von
Rohwedder geprägt, war: schnelle Privatisierung, entschlossene Sanierung und behutsame Stilllegung.
Die Währungsunion brachte für die ostdeutsche Wirtschaft gewaltige Anpassungslasten mit sich. Der Übergang zur Marktwirtschaft legte die Wettbewerbsschwächen der Ostbetriebe offen. Aber die entscheidenden Probleme resultieren nicht aus dem gewählten
Wechselkurs, der ziemlich genau den Vorstellungen der
Bundesbank entsprach, sondern vor allem aus dem nicht
voraussehbaren Wegbrechen der Ostmärkte und der darin sind sich nahezu alle deutschen Wirtschaftsforscher
einig - zu schnellen Angleichung des Lohnniveaus.
Wer den Erfolg der Währungsunion infrage zu stellen
versucht, der hat den Kontakt mit den Realitäten verloren.
Die Angleichung der Einkommens- und Lebensverhältnisse in Deutschland ist in nur zehn Jahren spürbar
vorankommen. Wer heute den Mangel an blühenden
Landschaften beklagt, der verschweigt bewusst, wie die
Situation vor fünf oder vor zehn Jahren ausgesehen hat.
({3})
Die Umweltverschmutzung hat drastisch ab- und die Produktivität kräftig zugenommen. Die Modernisierung der
Infrastruktur ist für jeden sichtbar. Ein breiter Mittelstand
hat sich etabliert. Viele Betriebe haben Anschluss an das
Weltmarktniveau gefunden.
Wer heute Kosten und vermeintliche Erblasten beklagt,
der hätte vor zehn Jahren, gerade aus dem Bereich der
Bundesländer, durchaus mehr Solidarität unter Beweis
stellen können.
({4})
Innerhalb von zehn Jahren lässt sich jedoch das Desaster einer 40-jährigen Misswirtschaft nicht beseitigen.
Die noch bestehenden Herausforderungen bezüglich des
Kapitalstocks, der Pro-Kopf-Produktion, der Exportschwäche und vor allem der Arbeitslosigkeit und des
nachlassenden Wachstums können nur durch die Fortsetzung des Solidarpaktes bewältigt werden. Es wäre jedoch falsch, einer dauerhaften Subventionsmentalität
Vorschub zu leisten. Deshalb müssen die Hilfen schrittweise zurückgeführt werden.
Die von vielen befürchteten gesamtwirtschaftlichen
Verwerfungen blieben aus. Eine Überforderung der deutschen Volkswirtschaft konnte verhindert werden. Die
Dämme haben gehalten! Sowohl bei der Wachstums- und
Beschäftigungs- als auch bei der Preisentwicklung schnitten wir im Zeitraum 1990 bis 1998 besser ab als unsere
EU-Partner. Der Vorsitzende des Währungsausschusses,
der Brite Sir Nigel Wicks, hat vor ein paar Jahren im Ecofin gesagt: Die deutsche Volkswirtschaft hat im letzten
Jahrzehnt Herausforderungen bewältigt wie keine andere
Volkswirtschaft der Welt und wie sie vielleicht auch keine
andere bewältigt hätte. Vier bis fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes für eine große nationale Herausforderung zur Verfügung zu stellen ist eine große nationale
Leistung.
({5})
Auch bei der Finanzierung der Wiedervereinigung
wurden weitgehend die richtigen Schritte gewählt. Trotz
der einigungsbedingten Sonderlasten haben wir das Defizitkriterium von Maastricht erreicht. Wie das RheinischWestfälische Institut für Wirtschaftsforschung in einer Simulationsrechnung ermittelt hat, war der von uns gewählte Mix von Ausgabenkürzungen, Steuererhöhungen
und Ausweitung der Neuverschuldung unter den gegebenen Umständen und Rahmenbedingungen richtig. Allerdings war die einseitige Lastenverschiebung auf den Bundeshaushalt kein Ruhmesblatt für den deutschen Föderalismus.
Wie haltlos das Gerede von der Erblast ist, hat die Bundesbank in ihrem Monatsbericht April dargelegt. Dort
heißt es,
dass die Finanzpolitik im letzten Jahrzehnt trotz der
überwiegend schwachen Wirtschaftsentwicklung auf
Konsolidierungskurs war. Über den gesamten Zeitraum hinweg wurde das konjunkturbereinigte Defizit
stark reduziert, und zwar von 4 Prozent des BIP im
Jahr 1991 auf ½ Prozent im Jahr 1999.
Verehrter Herr Staatssekretär, veranlassen Sie einmal,
dass sich Ihr Minister das von seinem Freund Welteke zufaxen lässt, damit er das nachlesen kann.
({6})
Zehn Jahre nach dem In-Kraft-Treten der Währungsunion besteht wahrlich kein Anlass zum Lamentieren. Die
größte Solidaraktion in der deutschen Geschichte greift.
Wer sich schon 1990 eine Schweiß-und-Tränen-Rede des
Bundeskanzlers gewünscht hätte, sei daran erinnert, dass
sich in einer konsumorientierten Gesellschaft die Solidaritätsbereitschaft, ausgedrückt als nationale Begeisterung
für Steuererhöhungen, in recht engen Grenzen hält.
({7})
Wer immer noch über die hohen Kosten der Einheit
klagt, der sei an Ernst Jünger erinnert, der in diesem Zusammenhang auf die Frage „Was kostet die deutsche Einheit?“ geantwortet hat: „Wenn dein Bruder vor der Tür
steht, lässt du ihn rein und fragst nicht, was es dich kosten
wird.“
({8})
Ich füge hinzu: Was hätten nicht Adenauer, Schumacher,
Heuss und Strauß gegeben, wenn sich ihnen die Chance
zur Wiedervereinigung eröffnet hätte!
({9})
Meine Damen und Herren, ich darf mit einigen persönlichen Worten schließen. Das waren für mich damals
spannende und aufregende Tage: die Diskussionen in der
Fraktion, im Kabinett, im Bundestag, im Bundesrat,
ebenso die Verhandlungen mit Walter Romberg, Walter
Siegert, Lothar de Maizière und die Pressekonferenz damals am 1. Juli, die Angela Merkel in Ostberlin geleitet
hat. Wir hatten es nicht immer leicht miteinander.
Man kann nicht allen danken, die zum Gelingen der
Währungsunion beigetragen haben. Aber einige wenige
Namen seien genannt: für die CDU/CSU der damalige
Bundeskanzler Kohl, die Bundesminister Seiters und
Schäuble, der Fraktionsvorsitzende Dregger, der Landesgruppenvorsitzende Bötsch und Michael Glos; für die
F.D.P. Bundesminister Genscher, der Vorsitzende Graf
Lambsdorff und der unvergessene Fraktionsvorsitzende
Wolfgang Mischnick; für die SPD der Fraktionsvorsitzende Dr. Vogel, Frau Matthäus-Maier, Wolfgang Roth
und natürlich der große alte Willy Brandt; für die Bundesbank die Herren Pöhl, Schlesinger und Tietmeyer.
Außerdem möchte ich - das sei mir erlaubt - vor allen
Dingen den Frauen und Männern im Bundesministerium
der Finanzen danken, die wirklich über Monate hinweg
rund um die Uhr viel mehr geleistet haben, als man eigentlich normalerweise von jemandem erwarten kann.
({10})
Ich nenne nur die Namen Köhler, Klemm, Haller,
Schmidt-Bleibtreu und Sarrazin und aus dem Kreis der
Staatssekretäre Klaus Kinkel und von Würzen. Das war
eine großartige Zusammenarbeit.
Wir sind stolz, dass wir am Projekt der Währungsunion
mitarbeiten und dadurch einen Beitrag zur Wiedervereinigung leisten durften. Die Wiedervereinigung war, ist
und bleibt der entscheidende Schritt zur Entspannung
auf dem Kontinent, das heißt zur Sicherung des Friedens durch die Beseitigung des größten Spannungsherdes
in Europa. Damit erfolgte ein Paradigmenwechsel der
Weltpolitik.
({11})
Die 90er-Jahre haben all jene widerlegt, die als Folge
der Wiedervereinigung ein Wiederaufflammen des deutschen Nationalismus befürchtet hatten. Das vereinigte
Deutschland hat sich zum berechenbaren und geschätzten
Partner auf der Bühne der internationalen Politik entwickelt. Zusammen mit Frankreich haben wir das Projekt
der Europäischen Union mit einem gemeinsamen Wirtschaftsverbund und einer einheitlichen Währung auf den
Weg gebracht. Wenn wir diesen Weg mit Mut und mit Besonnenheit weiter verfolgen, dann können wir mit Optimismus auf Deutschlands Zukunft blicken.
Die Jahre von 1990 bis 2000 werden einmal als das
beste Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts in die deutsche
Geschichte eingehen.
({12})
Es ist etwas Großartiges und es war uns vergönnt, die
Präambel des Grundgesetzes, das politische Vermächtnis
der Gründungsväter unserer Republik, zu verwirklichen.
Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den
Menschen waren wir von dem Willen beseelt, die nationale und staatliche Einheit zu wahren und in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen. Das
deutsche Volk hat in freier Selbstbestimmung seine Einheit und Freiheit vollendet.
Ich danke Ihnen.
({13})
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, möchte ich die Gelegenheit
nutzen, sehr herzlich den ersten und letzten frei gewählten Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière,
auf der Besuchertribüne zu begrüßen. Seien Sie uns herzlich willkommen!
({0})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Oswald Metzger,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts
dessen, was Kollege Waigel soeben gesagt hat, möchte ich
ein paar Vorbemerkungen machen: Auch ich als Grüner
bin der Auffassung, dass die Wiedervereinigung, die sich
an die Währungsreform anschloss - die war praktisch die
Vorstufe zur Wiedervereinigung -, einen Glücksfall für
die deutsche Geschichte darstellt, vor allem deshalb, weil
unser Volk im letzten Jahrhundert entscheidend dazu
beitrug, dass über diesen Kontinent, ja über die ganze
Welt kriegerische Auseinandersetzungen kamen, und weil
die Teilung als Folge des Zweiten Weltkriegs, den
Deutschland zu verantworten hatte, nach einer friedlichen
Revolution in einer nicht nur für Deutschland guten Weise
überwunden werden konnte. Ein solches Glück haben auf
dieser Welt nicht viele Völker.
({0})
Zum anderen stelle ich gerade deshalb, weil beide Regierungsfraktionen vorhin beim Lob für Helmut Kohl und
seinen Beitrag zur deutschen Einheit nicht geklatscht haben, fest: Ich persönlich bin der Meinung, dass man trotz
politischer Konkurrenz und auch angesichts dessen, was
gestern im Untersuchungsausschuss passierte, nicht verleugnen kann, dass diese historische Leistung in seine
Amtszeit fällt und er einen entscheidenden Anteil daran
hatte, dass es zur Wiedervereinigung kam. Das zu würdigen gehört zum Anstand.
({1})
Wenn wir uns die ökonomischen Konsequenzen anschauen, die, wie Sie, Herr Kollege Waigel, richtig gesagt
haben, jetzt im Nachhinein vom DIW als Fehlkalkulation
demaskiert werden - das ist richtig, wenn man eine rein
ökonomische Betrachtung zum Beispiel im Hinblick auf
die Wechselkursparitäten der Währungsunion anstellt -,
dann muss man feststellen: Es gibt in diesem Bereich,
ökonomisch betrachtet, einige Kernfehler, die man hätte
erkennen können; dann wären die Rentnerinnen und
Rentner sowie die Sparerinnen und Sparer nicht bestraft
worden. Der entscheidende Fehler war, im Rahmen des
Umrechnungskurses von 1:2 aus Buchungsschulden echte
Schulden zu machen, die für viele Unternehmen in Ostdeutschland zu einer drückenden Last wurden.
({2})
Diese Last war eine Hiobsbotschaft für eine Ökonomie,
die nach 40 Jahren sozialistischer Planwirtschaft und was man nicht vergessen darf - nach einer nationalsozialistischen Politik, die unter ökonomischen Aspekten auch
nicht gerade gut war, zu Hinterlassenschaften geführt hat,
die aufzuarbeiten waren.
({3})
Der zweite Kernfehler im Rahmen der Währungsunion
war aus unserer Sicht, dass das Versprechen von blühenden Landschaften auf der Metaebene eine realitätsnahe
Einschätzung der wirtschaftlichen Konsequenzen der
Wiedervereinigung und der Kosten verhindert hat und
dass deshalb die in unserer Gesellschaft durchaus vorhandene Bereitschaft, für den Glücksfall Wiedervereinigung
auch etwas zu zahlen, sträflich vernachlässigt wurde.
({4})
Allein dieses „rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“ im Hinblick auf den Solidaritätszuschlag in den
Anfangsjahren zeigt im Nachhinein deutlich, dass diese
Fehleinschätzung die Kosten der Wiedervereinigung
buchstäblich diskreditiert hat und dass ab einem gewissen
Zeitpunkt die Kosten der Einheit von den politischen Parteien im Westen Deutschlands als Belastung eingestuft
wurden. Wir hätten in den Jahren 1989/90 an die Solidarität der Menschen appellieren sollen und eine entsprechende Weichenstellung vornehmen müssen.
Diese Fehleinschätzung hat zu einem weiteren Problem geführt, das Sie, Herr Waigel, überhaupt nicht beleuchtet haben: Wir haben die Kosten der Einheit nicht
nur in extremer Weise über Verschuldung finanziert, was
angesichts der damals bestehenden Herkulesaufgabe in
Teilen durchaus vertretbar war, sondern wir haben sie
auch auf die Sozialversicherungen abgewälzt. Sie, die
Sie damals in der Regierung waren, haben dafür geradezustehen, dass der in den 90er-Jahren erfolgte Anstieg der
Sozialversicherungsbeiträge um 6,5 Prozent ein deutliches Zeichen dafür ist, dass die Sozialversicherungen und
damit verbunden die Lohnkosten sowie die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer die eigentliche Zahlmasse für die
Transfers in den Osten Deutschlands waren, was zu extremen Bremsspuren in der deutschen Volkswirtschaft
führte.
({5})
Zwar gibt es im Osten Deutschlands - das ist zu besichtigen - eine Vielzahl an Bauinvestitionen, die mit diesen Transfers bezahlt wurden. Keine Frage! Aber die
blühenden Landschaften im Osten wurden damit erkauft,
dass wir, ökonomisch gesehen, auf dem Arbeitsmarkt in
Deutschland mit einem Anstieg der Arbeitskosten ein
absolut falsches Signal gesetzt haben. Dadurch haben wir
in Deutschland in den Jahren 1997/98 zusammen mit Italien das Schlusslicht bei der wirtschaftlichen Entwicklung
in Europa gebildet. Das war in Ihrer Amtszeit.
Gott sei Dank läuft es jetzt - nicht nur aufgrund des Regierungswechsels, sondern auch aufgrund des weltwirtschaftlichen Umfeldes - so gut, dass Deutschland im Monat Mai beim realwirtschaftlichen Wachstum erstmals
wieder in die Spitzengruppe der EU aufschließen konnte.
Das ist dringend nötig, damit unser Land in der Lage ist,
die Transfers in den Osten zu finanzieren, die auch noch
in den nächsten Jahren und Jahrzehnten erfolgen müssen,
wenn sie auch degressiv gestaltet sein müssen, damit
keine Subventionsmentalität gefördert wird.
Ich komme auf ein weiteres Fehlkonstrukt bei der
Währungsunion und vor allem bei dem, was danach kam,
zu sprechen. Hier wundere ich mich über Sie, Kollege
Waigel, dass Sie beklagten, der Bund sei der Hauptlastträger der Wiedervereinigung gewesen. Wer hat denn
1992 das Föderale Konsolidierungsprogramm für den
Bund verhandelt? Das war der damalige Finanzminister
Theodor Waigel.
({6})
Zum gleichen Zeitpunkt wollte er bayerischer Ministerpräsident werden. Dass angesichts dieser Situation die Interessenlage des Bundesfinanzministers länderfreundlich
war, können Sie daran ablesen, dass die Steueranteile der
Bundesländer als Folge des Föderalen Konsolidierungsprogramms inzwischen um etwa 8 bis 10 Prozent höher
sind als die des Bundes.
({7})
Heute beklagt man aus Anlass des 10. Jahrestages, dass
der Bund die Lasten zu schultern habe. Ich erinnere mich
noch daran, dass Ihr damaliger CDU-Kollege MayerVorfelder aus der Verhandlungsrunde nach Stuttgart
zurückkam und verkündete, er habe ab 1995 Steuerausfälle in Höhe von netto 2,5 Milliarden DM eingerechnet,
nun seien es aber nur 1,5 Milliarden DM. Wir wissen zwar
nicht, was den Gesinnungswechsel im Bundesfinanzministerium bewirkt hat; aber das war die Situation. Diese
Lastenverschiebung zuungunsten des Bundes mussten Sie
dann im Laufe der weiteren Entwicklung in den 90er-Jahren büßen, als das Maastricht-Kriterium, nachdem 1996
die Steuereinnahmen eingebrochen waren, im Jahr 1997
fast nicht mehr erreichbar schien. Das dürfen Sie nicht
vergessen; man kann es auch mit den Statistiken des BMF
belegen.
Ein weiteres Problem der Wiedervereinigung war in
ökonomischer Hinsicht, dass die Treuhandanstalt als
Abwicklungsinstrument der alten DDR konzipiert war
und deshalb auch beim BMF angesiedelt war. Ich habe
durchaus großes Verständnis dafür, dass damals zum Beispiel die aufrechte Gruppe der Bündnisgrünen, die zwischen 1990 und 1994 überhaupt das Fähnlein der Grünen
hier im gesamtdeutschen Parlament hochhielt, weil wir
als West-Grüne nach der Wiedervereinigung hinausgewählt wurden - womöglich auch als Folge unseres Umgangs mit der Wiedervereinigung; das möchte ich durchaus selbstkritisch sagen -, ähnlich wie Sozialdemokraten
gefordert hatte, die Treuhandanstalt bei den Ostländern
anzusiedeln und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter viel
stärker an der Abwicklung der alten Betriebe zu beteiligen, um den Ausverkauf aufzuhalten. Statt der erwarteten
600 Milliarden DM, wie sie 1990 Optimisten noch erwarteten, betrugen die Erlöse gerade einmal 75 Milliarden DM.
Möglicherweise hätte Herr Rohwedder - das sage ich
auch, weil Sie zu Recht an seinen Tod sowie an die Dienstvertragsverlängerung, die auf Bitten der Bundesregierung
zustande kam, erinnert haben - einen besseren Job als andere gemacht, die in den Jahren danach in der Treuhandanstalt etwas zu sagen hatten. Auf jeden Fall gehört die
Abwicklung der alten DDR-Wirtschaft durch die Treuhandanstalt nicht zum Ruhmesblatt dieser Republik.
({8})
Betrachtet man jetzt auch die emotionale Situation der
Menschen im Osten im Vergleich zu der von denen im
Westen unseres Landes, dann bedrückt mich als jemanden, der aus dem reichen Süden der Republik kommt, wo
im Mai die Arbeitslosigkeit bei weniger als 3 Prozent lag,
dass viele Menschen aus dem Osten, die mobil genug
sind, im Westen Arbeit suchen müssen. Wir dürfen nicht
vergessen, dass im letzten Jahr 195 000 Menschen aus
dem Osten zu den Arbeitsplätzen in den Westen gegangen
sind; das war die vierthöchste Zahl seit 1989. Diese Binnenwanderung zeigt natürlich, dass die Infrastrukturmaßnahmen, die aus Steuermitteln mit solidarischer
Unterstützung des Bundes und der Westländer ergriffen
wurden, nicht verhindern konnten, dass die Produktivität
im Osten nach wie vor unter Westniveau liegt und die wirtschaftliche Leistung im Osten nicht einmal die Konsumkosten dort deckt. Die Transferleistungen zeigen ebenso
wie die doppelt so hohe Arbeitslosigkeit wie im Westen,
dass diese Landstriche ökonomische Probleme haben.
Angesichts dessen ist es zweifellos unsere Aufgabe das sage ich ganz bewusst als Finanzpolitiker -, die Solidarität mit den fünf neuen Bundesländern mit neuen, angepassten Instrumenten in den nächsten Jahren im Rahmen eines Solidarpaktes 2 weiterzuführen - das ist gar
keine Frage -,
({9})
denn 80 Prozent der Menschen im Osten sagen, sie fühlten sich in diesem Lande als Bürgerinnen und Bürger
zweiter Klasse.
({10})
- Ich glaube, dass dies in der Grundtendenz noch immer
stimmt; denn ich habe dort Verwandtschaft und habe auch
persönliche Gespräche geführt. Ich weiß, dass innerhalb
von zehn Jahren eines nicht ausradiert werden kann, nämlich das Gefühl der Menschen, zwar in einem totalitären
Staat gelebt zu haben, jedoch in einer emotionalen Geborgenheit, in einem Staat, in dem Nachbarschaftshilfe
manches von dem kompensiert hat, was er an Auskommen, an materiellem Einkommen und an Freizügigkeit
nicht gewährleisten konnte. Natürlich stellt deshalb die
Umstellung auf eine Wettbewerbsgesellschaft, von der
wir, wenn es um Ökonomie geht, gerne reden - auch ich
selber -, ein Problem dar. Das sollten wir beachten, die
wir im Westen doch 45 Jahre lang die Konkurrenz mit der
Weltwirtschaft auch auf den Arbeitsmärkten hatten.
Ohne die Menschen, die sich nicht von Ost nach West
bewegen wollen, zu diskreditieren: Dass sich immer die
Jungen, Ungebundenen, Mobilen und gut Ausgebildeten
auf den Weg zu den Arbeitsplätzen begeben, führt schlussendlich dazu, dass sich die Transferleistungen im KonOswald Metzger
sumbereich für Arbeitslosigkeit und Rente strukturell viel
stärker auf die neuen Bundesländer konzentrieren und damit das relative Verhältnis der Transfers den Subventionsanteil der östlichen Bundesländer hoch halten wird.
Das ist gefährlich und deshalb müssen wir etwas tun.
Auch die Tatsache, dass die junge Generation gegenüber allem, was fremd ist, auffällig reagiert, mutet mich
grotesk an. In meiner Gegend mit einer Arbeitslosenquote
von 8 oder 10 Prozent ist die Zahl fremdenfeindlicher
Übergriffe vergleichsweise niedrig. Die sozialen Zuspitzungen in bestimmten Regionen des Ostens sind daher extrem auffällig. Natürlich spielt die über 40 Jahre erfolgte
Verdrängung der Probleme durch das ehemalige sozialistische System eine große Rolle. Eine Rolle spielt aber
auch, dass wir es an der nötigen Aufklärung und auch an
den nötigen Strategien, sich diesen Leuten zu nähern, haben fehlen lassen. Wir müssen gegen die Ausgrenzung,
gegen Übergriffe und gegen das Ermorden von Fremden
angehen. Das muss eine gesellschaftliche Aufgabe sein.
Wir können die Radikalisierung von rechts als Antwort
auf die nach wie vor vorhandene ökonomische Krise in
den neuen Bundesländern nicht stillschweigend zulassen.
({11})
Wenn man sich die Perspektive für die Weiterentwicklung im Osten anschaut, dann stellt man fest - das können
Sie im Ifo-Gutachten von gestern nachlesen -, dass im Bereich des verarbeitenden Gewerbes der Arbeitsmarkt im
Osten sektoral anzieht. Ich freue mich natürlich, dass bestimmte Wachstumsregionen im Osten, vor allem im städtischen Bereich, in Dresden, Leipzig oder Erfurt, hinsichtlich der Einkommen zu den am schwächsten entwickelten Regionen in Westdeutschland aufschließen.
Daran sehen Sie die relative Entwicklung. Diese Entwicklung aber - das sollten wir uns selber eingestehen muss immer in Relation zu den Transformationsländern
gesehen werden, die an Ostdeutschland angrenzen.
Schauen Sie sich doch einmal die Niveaus der Staaten mit
ähnlich kaputter Volkswirtschaft an, beispielsweise in
Tschechien und in Polen! Im Vergleich dazu liegt das Niveau in Ostdeutschland deutlich höher. Insofern müssten
wir als Westdeutsche angesichts des 10. Jahrestages der
Währungsunion darauf hinweisen, dass ein ökonomisches
Wachstum in dieser Republik, das die Nachfrage nach Arbeitskräften auf dem ersten Arbeitsmarkt mobilisiert, die
entscheidende Voraussetzung dafür ist, dass die Menschen im Osten eine Chance haben.
Als Süddeutscher in Berlin kann ich eines beobachten:
Seit das Parlament hier ist, haben wir die Probleme der
fünf ostdeutschen Länder wesentlich stärker im Blick. Sie
liegen uns buchstäblich vor der Nase.
({12})
Das ist für die politische Wahrnehmung Gesamtdeutschlands ein großer Segen.
In diesem Sinne hoffe ich und wünsche ich mir, dass
die Menschen im Osten wahrnehmen, dass sie nicht Menschen zweiter Klasse sind und dass sich diese Republik
bemüht, einen neuen Solidarpakt ab 2005 zu schmieden,
der besonderen Belastungen in den ostdeutschen Bundesländern nach wie vor Rechnung trägt und trotzdem den
Menschen im Westen die Gewissheit gibt, dass der Osten
nicht mit alten Methoden zum Subventionsdschungel dieses Landes wird. Die Menschen im Westen sollen wissen:
Dies ist eine Investition in unsere gemeinsame Zukunft,
damit Ostdeutschland nicht der Mezzogiorno der Bundesrepublik wird.
Vielen Dank.
({13})
Ich erteile nun das
Wort dem Kollegen Dr. Günter Rexrodt, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Nach zehn Jahren Wirtschafts-,
Währungs- und Sozialunion in Deutschland wird die
öffentliche Diskussion überwiegend davon bestimmt, was
in Deutschland alles noch nicht geschafft ist, welche Fehler gemacht wurden, was uns trennt, welche Anpassungsprobleme und welche Konflikte es gibt. Die gibt es zuhauf, und man wird sie in der Tat nur bewältigen können,
wenn man sich mit ihnen auseinander setzt.
Nach zehn Jahren Wirtschaftsunion muss es aber auch
erlaubt sein, darüber nachzudenken, was erreicht wurde
und was die Deutschen miteinander verbindet. Ich halte
im Übrigen die gerade in diesen Tagen wieder aufgeflammte Diskussion für müßig, in der die Wirtschafts- und
Sozialunion als ein ökonomischer Fehlgriff bezeichnet
wird - eine Behauptung, die erhoben wird, obwohl nicht
annähernd eine glaubwürdige und überzeugende Alternative ins Feld geführt werden kann.
({0})
Insbesondere tut sich dabei das Deutsche Institut für
Wirtschaftsforschung hervor. Da werden die frühe Einführung der D-Mark und das von den tatsächlichen
Währungsrelationen abweichende Umtauschverhältnis
als die Ursachen des Kollapses der DDR-Wirtschaft bezeichnet. In rein mechanistischer, ökonometrischer Betrachtung ist das vielleicht richtig. Es vernachlässigt aber
total den Tatbestand, dass eine ökonomisch separierte
DDR - oder wie auch immer man das hätte nennen müssen - niemals aus eigener Kraft die Mittel hätte aufbringen können, die zur Herstellung der Wettbewerbsfähigkeit ihrer Wirtschaft notwendig waren.
({1})
Private Investitionen wären angesichts einer unsteten
währungspolitischen und wirtschaftspolitischen Situation
weitgehend ausgeblieben. Westliche Staatshilfe hätte angesichts andauernder Systemunterschiede noch weniger
Akzeptanz bei den Menschen gefunden. Der Mittelbedarf
wäre unermesslich gewesen. Das Geld wäre in ein Fass
ohne Boden gefallen. Dieses separate Wirtschaftsgebiet
wäre nach kürzester Zeit zusammengebrochen wie ein
Kartenhaus.
Das DIW bemüht sich, diese These vom gemeinsamen
politischen Dach und von unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungen mit dem Hinweis auf das britische
Commonwealth oder das Verhältnis zwischen Hongkong
und China zu untermauern. Ich will niemandem wehtun;
aber es gibt auch eine wissenschaftliche Eitelkeit, wenn
man einmal etwas in die Welt gesetzt hat. Sie unterscheidet sich in nichts von der allgemein menschlichen.
({2})
Mir geht es nicht darum, die aus meiner Sicht prinzipielle Alternativlosigkeit des eingeschlagenen Weges mit
einem durchschlagenden Erfolg dieser Entscheidung
gleichzusetzen. Die Unterschiede zwischen Ost und West
sind auch heute noch für jedermann sichtbar - aber das
Erreichte auch.
Im Übrigen ist eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mehr als nur Ökonomie. Der Name sagt das
schon. Sie war die Voraussetzung für die deutsche Einheit,
und diese ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die Deutschen näher gekommen sind, dass sie eine gemeinsame
Erfahrungswelt haben, dass sie miteinander leben und arbeiten, dass sie miteinander sprechen und miteinander
Sorgen und Freude haben. Den grauen Alltag haben sie
gemein und auch den sonnigen. Das Gemeinsame zeigt
sich im Übrigen auch in der Übereinstimmung von politischen Prioritäten, von Wünschen, Wertvorstellungen, Zuneigungen und Abneigungen.
Ich bin überzeugt, dass die Solidarität der Deutschen
auch im ökonomischen Bereich viel größer ist, als immer
behauptet wird. Es ist auf der einen Seite doch ganz normal, dass jemand im Westen danach fragt, was mit seinem
Geld, das er als Steuerzahler zur Verfügung stellt, gemacht wird. Es ist auf der anderen Seite ganz normal, dass
Menschen in den neuen Bundesländern, die die Misere
nicht persönlich verursacht haben, nicht jeden Tag Danke
sagen wollen und Wohlverhalten zeigen möchten. Das ist
ganz normal. Daraus ableiten zu wollen, die Wirtschaftsund Sozialunion, die Einheit sei den Deutschen zu teuer,
liegt neben der Sache. Für die große Mehrheit der Deutschen ist die deutsche Einheit Anlass zur Freude.
({3})
Wenn wir nach zehn Jahren Bilanz ziehen, können wir
Licht und Schatten feststellen, aber insgesamt positiv in
die Zukunft in einem gemeinsamen Europa schauen. Ich
wüsste nicht, was ernsthaft und nachhaltig einer erfolgreichen Entwicklung im Wege steht.
Das heute Erreichte muss vor dem Hintergrund der
Ausgangssituation bewertet werden. Nun will ich nicht
zum wiederholten Male das Bild von den verrotteten
Straßen, den zerfallenen Städten, den unbeweglichen
Kombinaten und der mangelhaften Technologie bemühen. Das ist aber alles wahr. Das alles kann man allerdings beheben. Es gibt viel Schlimmeres. Dazu möchte
ich von meinen persönlichen Erfahrungen berichten: Ich
war vor wenigen Tagen in einer Kleinstadt in Thüringen,
dort, wo ich vor 40 Jahren Abitur gemacht habe. Dort ist
fast alles schön repariert: die mittelalterlichen Stadtviertel, ein großer Teil der Kirchen und Sehenswürdigkeiten,
die Infrastruktur. Das alles ist eine Pracht. Und doch ist
diese kleine Stadt in einer erbärmlichen Verfassung: Die
Menschen wandern ab, es ist nichts los. Das hat viele Ursachen, wie zum Beispiel den Zusammenbruch der Industrie.
Aber es gibt eine Ursache, die wir in keiner Statistik
finden, die jedoch aus meiner Sicht die entscheidende ist:
Die Ursache liegt im Fehlen einer lebendigen, gewachsenen, selbstbewussten Bürgerkultur. Es gibt zu wenig
Bürger, die willens und in der Lage sind, die Dinge selbst
in die Hand zu nehmen, Bürger, die verwurzelt in ihrem
Gemeinwesen Kräfte mobilisieren, um etwas auf die
Beine zu stellen:
({4})
kulturell, wirtschaftlich und sozial. Diese Bürger sind
nicht da. Dass sie nicht da sind, dass dies in den Köpfen
ausradiert worden ist, haben Sie von der PDS, hat die
DDR verursacht.
({5})
Dies in den Köpfen der Menschen zu heilen dauert
25 Jahre. Dies ist viel schlimmer als die verrotteten
Straßen und die grauen Häuser. Das muss mit aller Deutlichkeit gesagt werden.
({6})
- Sie heulen zu Recht auf, weil Sie betroffen sind. Sie kennen das Sprichwort von den getroffenen Hunden, meine
Damen und Herren.
({7})
Dennoch meine ich, dass dieses Aufbauwerk in den
Köpfen gelingt. Es gibt viele Ansätze.
Dabei müssen wir uns damit abfinden, dass es regionale Unterschiede geben wird. Ich will damit die bestehenden Ost-West-Gefälle nicht beschönigen, aber dass es
Differenzen zwischen Mecklenburg-Vorpommern und
Sachsen sowie zwischen Brandenburg und NordrheinWestfalen geben wird, müssen wir akzeptieren.
Ich sprach von Licht und Schatten. Zum Licht gehört
ohne Zweifel, dass der Privatisierungsprozess in der gewerblichen Wirtschaft abgeschlossen werden konnte. Die
Unternehmen, die heute in den neuen Ländern existieren,
sind in aller Regel modern und leistungsfähig. In den
neuen Ländern gibt es eine halbe Million Selbstständige.
Diese sind quasi aus dem Nichts heraus entstanden.
({8})
Und doch - und das ist das Entscheidende - ist die wirtschaftliche Basis insgesamt zu schmal. Die SelbstständiDr. Günter Rexrodt
gendichte beträgt bei den IHK-Unternehmen nur 20 Prozent der im Westen. Die gesamtwirtschaftliche Produktivität hat sich zwar von 30 auf 60 Prozent der westdeutschen erhöht, aber sie kommt in letzter Zeit nicht
mehr in ausreichendem Maße voran.
Das hat mehrere Ursachen, unter anderem die Überbesetzung des öffentlichen Dienstes und - oft auch unter
Ökonomen sehr wenig beachtet - die Tatsache, dass viele
ostdeutsche Produkte insbesondere auf den Binnenmärkten noch geringere Preise erzielen als andere.
Daraus entsteht ein weiteres Problem. Es ist der weit
verbreitete Eindruck der Menschen in den neuen Ländern,
für gleiche Arbeit weniger Lohn zu erhalten.
({9})
Aus der Sicht der Betroffenen ist das richtig und nachvollziehbar. Aber ich muss hier - leider, sage ich ausdrücklich - als Ökonom antworten. Bei 40 Prozent geringerer Produktivität im Ganzen müsste ein gleiches Lohnniveau dazu führen, dass sich die Wettbewerbsfähigkeit
der Unternehmen in den neuen Ländern weiter verschlechtert, mit der Folge höherer Arbeitslosigkeit. Diese
würde dann allgemein zu Recht wieder als Ungerechtigkeit empfunden. Schnelle Lösungen gibt es nicht. Niemand - weder die Opposition noch die Regierung - kennt
einen Königsweg; und Sie von der PDS schon lange nicht.
({10})
Ich würde mir wünschen, dass wir bei den Flächentarifverträgen, die bei vielen Betrieben in den neuen Ländern ohnehin nur noch auf dem Papier stehen, zu einer
Veränderung kommen. Das würde viel Gutes mit sich
bringen, gerade für die Arbeitnehmer in den Betrieben,
die eine hohe Produktivität aufweisen. Da könnte man
ganz andere Lösungen finden.
Wir sind bei dem Hauptproblem, der hohen Arbeitslosigkeit, meine Damen und Herren. Die Ursachen dafür
sind bekannt. Aber keiner kennt auch hier einen Königsweg. Inzwischen haben die Bundesregierung und die Regierungen der neuen Länder wenigstens erkannt, dass der
Staat keine Arbeitsplätze verordnen kann. ABM und ähnliche Maßnahmen sind geeignet, akute Probleme zu lösen
oder Brücken zum regulären Arbeitsmarkt zu schlagen.
Die Ursachen der Arbeitslosigkeit beseitigen sie nicht.
Meine Damen und Herren, mit der Arbeitslosigkeit in
den neuen Ländern fertig zu werden heißt die wirtschaftliche Basis zu verbreitern, heißt Unternehmensgründungen zu fördern und günstige Bedingungen für mehr wirtschaftliche Aktivität zu schaffen.
Ich warne vor einer anhaltenden Überförderung der
Wirtschaft in den neuen Ländern.
Ich möchte zum Schluss noch auf vier wichtige Punkte
und Positionen hinweisen, die es weiter zu berücksichtigen gilt:
Erstens. Der Ausbau der Infrastruktur muss ohne Abstriche fortgesetzt werden.
Zweitens. Öffentliche Budgets der Gebietskörperschaften müssen in angemessenem Umfang aufgefüllt
werden, solange die Steuerkraft in den neuen Ländern nur
34 Prozent der westdeutschen ausmacht.
Drittens muss die Finanzierung der Sozialleistungen,
wie sie für ganz Deutschland gelten, fortgesetzt werden.
In diesem Zusammenhang von Transferleistungen in die
neuen Länder zu sprechen ist falsch und lässt in den neuen
Ländern Unmut und Unwillen entstehen.
({11})
Vierter Punkt. Wir müssen uns bei der Wirtschaftsförderung in den neuen Ländern auf regionale Investitionszuschüsse und auf Unternehmensgründungen konzentrieren.
Meine Damen und Herren, ich habe mich bemüht, in
meinem Beitrag zum zehnjährigen Bestehen der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion nicht dem Muster
des tagespolitischen Schlagabtauschs zu folgen. Aber eines muss ich doch sagen, und zwar an die Adresse des
Bundeskanzlers - ich verstehe, dass er nicht da ist -:
Wenn man den Aufbau Ost im Wahlkampf zur Chefsache
erklärt, dann muss man das auch ausfüllen.
({12})
Dem Bundeskanzler ist der Aufbau Ost keine Herzenssache. Er vollzieht ihn als eine Pflichtübung. Diese Pflichtübung ist ihm bei jedem Auftritt im Bundestag und in den
neuen Ländern ins Gesicht geschrieben, meine Damen
und Herren.
({13})
Es haben sich mit der Wirtschafts- und Währungsunion
neue Gelegenheiten und Chancen für Deutschland in Europa eröffnet. Nach zehn Jahren lohnt es sich, einmal innezuhalten und die Dinge im Gesamtzusammenhang zu
sehen. Dabei sollte man bei aller Unzulänglichkeit auch
ein Stück Freude aufkommen lassen und, ich meine, auch
ein Stück Dankbarkeit.
Danke schön.
({14})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Dr. Christa Luft, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte
Kolleginnen und Kollegen! Wir debattieren heute anlässlich des 10. Jahrestages der Wirtschafts -, Währungs- und
Sozialunion. In diesem Haus wird aber ebenso wie im
ganzen Land immer nur von der Währungsunion gesprochen. Warum? Das geschieht wohl nicht deshalb, weil wir
gerne mit einem Kürzel arbeiten, sondern weil von der gewollten und versprochenen Dreieinigkeit im Grunde genommen nur die Währungsunion vorhanden ist.
({0})
Die Wirtschafts- und die Sozialunion lassen auf sich warten.
Herr Kollege Rexrodt, diese Tatsache auf den Umstand
zurückzuführen, dass es im Osten zu wenig aktive Bürgerinnen und Bürger gibt, halte ich schon für ein grandioses
Stück, das Sie sich hier geleistet haben.
({1})
Sie sollten einmal zum Brandenburger Tor gehen. Dort
liegen hungerstreikende Handwerkerinnen und Handwerker aus Thüringen. Ich weiß nicht, aus welcher kleinen
thüringischen Stadt Sie kommen. Sie könnten dort vielleicht ehemalige Nachbarinnen und Nachbarn treffen, die
nach der Währungsunion durch Gauner um Hab und Gut
gebracht worden sind.
({2})
Viele, die während der DDR-Zeit als Handwerkerinnen
und Handwerker überlebt haben, haben später als Selbstständige Existenzen gegründet und stehen jetzt vor der
Pleite. Das müssen Sie sich einmal vor Ort anschauen.
({3})
Der 1. Juli ist der Tag, an dem alle Bürgerinnen und
Bürger der DDR den legalen Zugang zur Deutschen
Mark bekommen haben. Sie haben sich seither manch
lang gehegten Wunsch erfüllen können. Nach meinem
Eindruck möchte niemand dieses Symbol des Wohlstandes - die harte Deutsche Mark - mehr missen. Die Sehnsucht nach dem „harten Geld“, wie es damals hieß, haben
die DDR-Oberen selbst erzeugt, indem sie in Genex-Katalogen und Intershop-Läden attraktive Waren angeboten
haben, die für selbst verdientes Geld nicht zu haben waren. Das muss man deutlich sagen.
Dennoch kam, Herr Kollege Waigel, das Signal für den
Blitzstart in die Währungsunion weder aus Leipzig noch
aus Merseburg oder aus Rostock. Das Signal für den
Blitzstart in die Währungsunion kam vielmehr aus Bonn.
Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl hat sehr wohl
gewusst, dass möglicherweise bei den freien Wahlen zur
Volkskammer am 18. März 1990 ein SPD-Sieg ins Haus
stehen würde. Um das zu verhindern, hat er sich ganz
schnell der in SPD-Kreisen bereits diskutierten Idee einer
Währungsunion angenommen und diese verwirklicht.
Sein Machtinstinkt hat ihn dabei nicht getrogen. Das muss
man ihm zugestehen.
Der 1. Juli war nicht nur der Tag, an dem die D-Mark
in den Osten kam. Der 1. Juli war zugleich der Tag, an
dem das Treuhandgesetz der De-Maizière-Regierung mit
dem Gebot einer flächendeckenden und raschen Privatisierung in Kraft trat. Damals ist der Grundstein für ein
Streben nach schneller Lohnerhöhung gelegt worden.
Wenn über einem das Damoklesschwert schwebt, abgewickelt und wegrationalisiert zu werden, kämpft man
natürlich um hohe Löhne. Denn man wusste, wonach sich
das Arbeitslosengeld nach dem neu eingeführten Sozialrecht berechnen würde. Das ist doch eine ganz normale
Reaktion, die verständlich ist.
Der 1. Juli war aber auch das Datum, an dem das Gebiet zwischen Elbe und Oder urplötzlich zur Europäischen Union zugehörig wurde, und zwar ohne irgendwelche Beitrittsverhandlungen und damit auch ohne vereinbarte Anpassungsfristen oder Schutzinstrumente für
die Wirtschaft. Ich stelle fest: So viel Schock auf einmal
war nirgends und niemals zuvor. Mit den Folgen haben
wir noch heute zu kämpfen.
Trotz aller Warnungen von Ökonomen aus Ost und West
verzichteten die damals Verantwortlichen auf Strukturpolitik; das war ein Fremdwort. Auf regionalpolitische Weichenstellungen wurde verzichtet. Das ist die bittere Wahrheit.
Gewiss, dank umfangreicher Finanztransfers ist es gelungen, die Infrastruktur zu modernisieren. Viele Wohnungen sind saniert worden, die Innenstädte sind schöner
geworden und manche industriellen Leuchttürme sind
entstanden. Das ist alles richtig. Doch wahr ist auch: Nach
diesem Schock vom 1. Juli 1990 entstanden in den alten
Bundesländern 2 Millionen Arbeitsplätze neu und 4 Millionen Arbeitsplätze wurden in den neuen Bundesländern
abgebaut, sie gingen verloren. Da muss man sich doch fragen, woran das gelegen hat.
({4})
Geblieben sind im Osten, Frau Kollegin Bergmann-Pohl,
eine ausgedünnte Industrielandschaft - das werden auch
Sie nicht bestreiten -, verödende Regionen und die Abwanderung junger, qualifizierter Menschen.
Notwendig wäre damals gewesen, industrielle Kerne in
Zukunftsbranchen zu erhalten, mit den Altschulden anders umzugehen, als das geschehen ist, und vor allem
Märkte zu stabilisieren. Wer will denn in eine Marktwirtschaft übergehen ohne Märkte? Das ist bisher auch nirgends auf der Welt gelungen. Das übrigens hätte Herr
Rohwedder auch anders gemacht.
({5})
Zu den Hauptfehlern des ersten Staatsvertrages wie
später auch des Einigungsvertrages gehört übrigens, dass
die Weichen gestellt wurden für eine nahezu zwanghafte
Übertragung des westdeutschen Systems in all seinen
Facetten auf die neuen Bundesländer. Die nachholende
Modernisierung war damals die Losung. Für Innovation
bestand überhaupt keine Chance. Im Osten gewonnene
Erfahrungen und gewachsene, überlebensfähige Strukturen hatten keine Chance. Dem Osten wurden das verkrustete Steuersystem und die reformbedürftigen Genehmigungsverfahren übergestülpt. Auch die Arbeitsförderung,
die in den alten Bundesländern gewachsen war und den
dortigen Bedingungen entsprach, wurde auf den Osten
übertragen, ohne eine den dortigen Gegebenheiten angepasste Arbeitsmarktpolitik zu betreiben. Die fehlt im
Übrigen bis heute.
Eine damals gewiss mögliche Einmalabgabe auf große
Vermögen war für die verantwortlichen Politikerinnen
und Politiker ebenfalls kein Thema, um einen Beitrag zur
Finanzierung der Einheit zu gewährleisten. Sie haben
vielmehr die Sozialkassen belastet und Kreditfinanzierung mit Verschuldung vorgenommen.
({6})
Heute behaupten damals auf der Westseite verantwortliche Politiker, sie hätten über den Osten und seine Wirtschaft zu wenig gewusst. Nun ist ja nicht zu bestreiten,
dass Details bestimmt nicht zu wissen waren. Die kannten
wir auch nicht. Aber dass man nicht habe voraussehen
können, was mit diesem Schock ohne Anpassungsfristen
und ohne Schutzinstrumente geschehen würde, das ist
doch arg zu bezweifeln.
Ich will Ihnen jetzt nur die Aussage eines Einzigen, den
Sie immer wieder als Kronzeugen für den Zustand der
DDR-Wirtschaft - auch in diesem Hause - zitieren, vorhalten. Ein Insider der DDR-Wirtschaft und ein Mitautor
dieser so genannten Geheimanalyse für das SED-Politbüro von Ende Oktober 1989 hat ja nachher auch noch etwas geschrieben. Er hat vor kurzem seine „Deutsch-deutschen Erinnerungen“ veröffentlicht. Darin heißt es, dass
er von Mitte Januar bis Mitte März 1990 30 Gespräche mit
dem BND geführt und Auskunft über die DDR-Wirtschaft
gegeben hat. Wörtlich sagt er:
Die Fragen prasselten nur so auf mich ein. Wie steht
es um die Verschuldung der DDR, wie um ihre
Produktivität? Welche Kombinate sind erhaltenswert, welche sollte man stilllegen? Augenscheinlich
bereitete sich die Bundesregierung auf die Wirtschafts- und Währungsunion vor.
Was also passieren würde, wenn man eine Jahrzehnte
vom Weltmarkt abgeschottete Wirtschaft über Nacht mit
300 Prozent Aufwertung auf den offenen Markt entlässt,
war jedem ökonomisch Beschlagenen damals klar. Allein
mit Lohnkostensubventionen und Mehrwertsteuerpräferenzen hätte man manchen Absturz verhindern können.
Hat denn jemals einer von den damals Verantwortlichen in Ost wie in West nach den Stärken der ostdeutschen
Wirtschaft gefragt? Es war immer nur von den Schwächen
die Rede. Daher finde ich es auch etwas seltsam, wenn
zehn Jahre nach der deutschen Einheit die CDU in ihrer
Luckenwalder Erklärung plötzlich sagt, man müsse nun
den Stärken des Ostens nachgehen und diesen Rechnung
tragen. Ich kann dazu nur sagen: Die Hauptstärke des
Ostens waren immer seine qualifizierten Menschen. Denen eine Chance zu geben ist das Gebot der Stunde.
({7})
Wir müssen endlich damit aufhören, nur über die respektablen - ich betone: respektablen - Finanztransfers
von West nach Ost zu reden. Ich habe große Achtung davor, weil es vor allem Gelder sind, die von den abhängig
beschäftigen Lohnsteuerzahlerinnen und Lohnsteuerzahlern aufgebracht werden. Aber wann reden wir endlich
auch darüber, welchen Vermögenstransfer es von Ost
nach West gegeben hat, den es übrigens nach wie vor gibt?
({8})
Wann reden wir endlich darüber, welche Umsatz- und Gewinnexplosionen es bei Unternehmen, Handelsketten sowie bei Banken und Versicherungen gegeben hat? Hätten
sie alle ordentlich ihre Steuern auf die sich explosionsartig entwickelnden Gewinne gezahlt, dann wären die öffentlichen Kassen voller, als sie es heute sind.
Zuletzt noch ein Punkt. Ich finde, es ist überfällig, die
Vergabepraxis von Fördermitteln, also von Steuergeldern,
insbesondere die Vergabepraxis in den Jahren 1990 bis
1993 im Hinblick darauf zu durchleuchten, wo gesetzliche Bestimmungen verletzt wurden, ja wo es sogar zu kriminellen Handlungen gekommen ist. Die PDS-Fraktion
wird in diesem Zusammenhang eine parlamentarische
Initiative ergreifen, um vielen unschuldig in wirtschaftliche und soziale Not geratenen Existenzgründern, Handwerkern und Gewerbetreibenden Gehör und Gerechtigkeit zu verschaffen.
({9})
An der Schwelle zum zweiten Jahrzehnt der deutschen
Einheit muss es endlich darum gehen, den erfahrenen,
überwiegend hoch qualifizierten Menschen im Osten - sie
sind, wie gesagt, die Hauptstärke des Ostens - eine
Chance zu geben, damit sie sich in das einbringen können,
was wir im vereinten Land noch gemeinsam gestalten
müssen. Die Massenarbeitslosigkeit darf nicht länger nur
verbal bekämpft werden, so wie es leider auch unter RotGrün geschieht. Wir brauchen substanzielle neue Vorschläge. Die Haushaltsberatungen werden uns dazu Gelegenheit geben.
Danke schön.
({10})
Jetzt erteile ich das
Wort für die Bundesregierung Herrn Staatsminister Rolf
Schwanitz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir debattieren heute über zehn Jahre Währungs-,
Wirtschafts- und Sozialunion. Ich möchte ausdrücklich
sagen: Es ist gut, dass wir das tun; denn der Staatsvertrag,
den wir damals den ersten Staatsvertrag nannten, war eine
ganz zentrale Weichenstellung auf dem Weg hin zur staatlichen Einheit. Wir können in der Rückschau die Bedeutung dieses Vorgangs für den ökonomischen und den
vereinigungspolitischen Bereich überhaupt nicht unterschätzen. Deswegen ist es richtig, dass wir abermals versuchen, die Dimension und die Vorgänge von damals in
das gesellschaftliche Bewusstsein zu heben. Dazu sage
ich ein klares ein klares Ja.
({0})
Frau Kollegin Luft, ich sage ausdrücklich: Wir sollten
den Dreiklang der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion nicht im Nachhinein diskreditieren. Es ist für
mich - neben den wirtschaftlichen und währungspolitischen Leistungen - eine der ganz zentralen solidarischen
Leistungen gewesen, dass es bereits damals gelungen war,
diesen schwierigen Vorgang sozial zu flankieren und so
die staatliche Einheit zu erzielen.
({1})
Gestatten Sie eine
Zwischenfrage des Kollegen Kolbe?
Herr Kollege Kolbe, ich bitte um Verständnis. Ich möchte
im Zusammenhang fortfahren. Deswegen gestatte ich
keine Zwischenfrage.
({0})
Ich möchte im Folgenden weniger über Leistungen und
Fehler im damaligen Vorgehen reden. Ich stelle ausdrücklich fest: Die großen Leistungen, die in der damaligen Situation erbracht wurden, überwiegen bei weitem. Das,
was mich persönlich umtreibt und was ich deswegen ansprechen möchte, ist die Frage: Wenn wir heute auf die Ereignisse von vor zehn Jahren zurückschauen - wir wissen,
wie es im Osten vor der Vereinigung ausgesehen hat und
was in den letzten zehn Jahren passiert ist -, gibt es dann
so etwas wie ein Fazit, gibt es so etwas wie eine bleibende
Erkenntnis, aus der man Schlussfolgerungen für das ziehen kann, was heute bei uns in Deutschland geschieht und
was auch im engeren Sinne die Politik angeht? Ich bin in
der Tat der Auffassung, dass es ein solches Fazit gibt.
Ich will vier Erkenntnisse, die mich ganz persönlich
berühren, in dieser Debatte ansprechen.
Die erste Erkenntnis, die ich aus dem Vergleich zwischen der heutigen Situation und der vor zehn Jahren gewinne, ist, dass in Zeiten eines Wandels, eines Umbruchs
eines ganz besonders wichtig ist, nämlich der Mut zur
Veränderung und die Fähigkeit der Politik, bei solchen
Umbrüchen voranzugehen. Ich glaube, dass diese Erkenntnis sehr gut in unsere heutige Zeit passt; denn wir
stehen in Deutschland ohne Zweifel vor ganz enormen
Veränderungen, die wir meistern müssen. Die Internationalisierung von Politik, Ökonomie, die technologischen
Veränderungen und der demographische Wandel müssen
geschultert werden. Dies sind Themen, die das politische
Tagesgeschäft und alle Debatten des Deutschen Bundestages durchziehen.
Die Herausforderungen, die daraus für die Politik und
für die Gesellschaft insgesamt erwachsen, sind alt und zugleich neu. Nach meiner Auffassung erwarten die Menschen von der Politik, nicht nur den Kampf um die
Lufthoheit über den Stammtischen zu führen, sondern
auch Entscheidungen zu treffen und Mut zu Veränderungen zu beweisen. Ein Fazit lautet deswegen, dass nicht das
Verdrängen oder das Aussitzen, sondern ein aktives Gestalten solcher Veränderungen wichtig ist. Mit Blick auf
die Ereignisse vor zehn Jahren ist dies ein Auftrag. Ich
bitte um Nachsicht dafür, dass ich die eine oder andere Parallele zu unseren aktuellen Debatten ziehe, beispielsweise im Zusammenhang mit der Steuerreform oder den
schwierigen Entscheidungen beim Rentenrecht.
Ich sage ausdrücklich: Das ehrliche und wahre Bemühen um einen Kompromiss ist richtig und notwendig.
Aber irgendwann kommt die Zeit der Entscheidung.
Jürgen Strube, der Vorstandsvorsitzende eines der weltgrößten Chemieunternehmen, sagte in dieser Woche, wir
in Deutschland seien dabei, den Begriff des Reformstaus
aus dem Sprachgebrauch zu verdrängen. Das ist zwar ein
großes Lob, aber es ist auch ein Auftrag an uns alle in diesem Haus.
({1})
Eine Lehre aus der Zeit vor zehn Jahren besteht für
mich in der Aufforderung, dass wir uns Veränderungen
stellen müssen und dass wir einen Umbruch nicht passiv
erleiden dürfen; vielmehr haben wir Prozesse aktiv zu gestalten und dabei müssen wir auch Wagnisse eingehen.
Daran, dass wir uns dabei über Parteigrenzen hinweg orientieren und springen müssen, hat Herr Kollege Waigel
heute im Zusammenhang mit dem Vorgang vor zehn Jahren erinnert. Ich sage ausdrücklich: Aus den parteipolitischen Schützengräben herauszukommen ist für mich ein
Fazit der Ereignisse vor zehn Jahren. Das Ganze ist hochaktuell.
({2})
Die zweite Erkenntnis, die ich heute ansprechen will,
ist, dass es heute, zehn Jahre danach, die Notwendigkeit
gibt, über einen Perspektivwechsel im ostdeutschen
Selbstverständnis öffentlich zu kommunizieren.
({3})
Keine Frage, damals vor zehn Jahren war unser Blick eindeutig auf die Situation in den alten Bundesländern gerichtet. Das ist überhaupt kein Vorwurf. Wir haben damals
intensiv gefragt, wann es in den neuen Bundesländern so
wie in den alten Bundesländern sein wird. Die damalige
Bundesrepublik Deutschland war der Maßstab, die eigentliche Perspektive. Das konnte nicht anders sein; denn
es gab kein Vergleichsmodell und kein Alternativmodell.
Natürlich bleibt die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse nicht nur Verfassungsgebot, sondern auch ein wichtiges konsensuales Ziel in einer demokratischen und sozial orientierten Gesellschaft.
Meine Damen und Herren, dass Bundestagspräsident
Wolfgang Thierse in dieser Woche in der „Berliner Zeitung“ eine Diskussion über eine neues ostdeutsches Leitbild angestoßen hat, findet meine ausdrückliche Unterstützung. Die Diskussion darüber, wie wir wegkommen
von einem Modell der nachholenden Modernisierung, bei
dem wir das Alte, Traditionelle im Blick haben, und hinkommen zu einem Modell der, wie er sagt, europäischen
Verbindungsregion als Leitmotiv für die Perspektive der
neuen Länder, halte ich für notwendig und sehr wichtig.
In der Tat steht Deutschland vor ganz zentralen Veränderungen. Das sind die technologischen Veränderungen,
die ich beschrieben habe, das ist die Notwendigkeit, weltStaatsminister Rolf Schwanitz
weite Märkte zu erobern, und das ist natürlich auch die
geographische Veränderung. Wir sind ja nicht mehr Randregion, sondern wir sind im Begriff, in Europa eine ganz
zentrale geographische Stellung einzunehmen. Die neuen
Länder haben hierbei ganz enorme Chancen. Wir müssen
darüber reden, welche Konsequenzen das hat, und wir
müssen darum werben mit dem Ziel, dass dies auch ins
Bewusstsein dringt und verarbeitet wird.
Für mich gehören in eine solche Debatte über einen
Perspektivwechsel, in die Diskussion über ein neues ostdeutsches Leitbild verschiedene Dinge. Drei will ich ausdrücklich benennen. Das Erste sind für mich die Erfahrungen, die in den letzten Jahren in Ostdeutschland
gesammelt worden sind, Ostdeutschland als neue Wissensgesellschaft zu begreifen. Das Zweite, worüber nachzudenken und zu diskutieren sich sehr lohnt, sind die Innovationserfahrungen, die in Ostdeutschland gesammelt
werden konnten. Das Dritte, was ich ansprechen will und
was ich sehr interessant finde, ist der Grundsatz, zu aktivieren und zu motivieren, das heißt, Dinge mit den Menschen gemeinsam voranzutreiben.
Auf allen drei Feldern sind in den letzten zehn Jahren
ganz enorme Entwicklungen vonstatten gegangen, sind in
den neuen Ländern Erfahrungen besonderer Art gesammelt worden und hat die Politik diese Entwicklung aktiv
unterstützt und wird das auch in Zukunft tun.
Noch nie, meine Damen und Herren - ich möchte jetzt
etwas zu dem Thema Wissensgesellschaft sagen -, war
die Halbwertszeit beim Wissen so kurz. Neues Wissen
aufzunehmen, zu vermitteln, ist zu einer Zukunftsfrage
für die Gesellschaft insgesamt geworden. Das gilt natürlich für alle in unserem Lande, auch europaweit, aber der
Osten hat dabei hervorragende Erfahrungen gemacht.
Was war der Transformationsprozess denn anderes als
ein gigantischer Wandel von Wissen, der in Ostdeutschland in umfassendster Art geschultert und gemeistert werden musste! Viele ostdeutsche Hochschulen, viele Fachhochschulen haben diese Chancen genutzt. Im nationalen
und internationalen Rating finden sich ostdeutsche Einrichtungen mittlerweile in Spitzenpositionen wieder. In
bemerkenswerter Art und Weise entstehen in diesen
Hochschulen und Fachhochschulen gerade mit Blick auf
die ostdeutsche Situation kooperative Strukturen.
({4})
Deshalb ist es richtig, gerade den Ausbau der ostdeutschen Forschung, den Ausbau der ostdeutschen
Hochschul- und Fachhochschullandschaft zu einem zentralen Thema zu machen.
({5})
Die Ostdeutschen haben hervorragende Chancen, hier
Kompetenzzentren zu entwickeln. Wenn gegenwärtig lassen Sie mich wenigstens eine Zahl nennen - 27 Prozent
der Projektfördermittel des Bundes, die für Biotechnologie insgesamt ausgegeben werden, nach Ostdeutschland fließen, dann ist das ein Signal für diesen wichtigen
Veränderungsprozess, auf den ich hinweisen wollte.
Zu dem Leitbild, das ich ja beschrieben habe, gehört
natürlich auch Ostdeutschland als Innovationsstandort.
Lothar Späth hat in dieser Woche gesagt, nicht Subventionen, sondern Innovationen seien das prägende und das
zentrale neue Bild in Ostdeutschland. Ich kann das nur
ausdrücklich unterstreichen. Deswegen muss sich auch
die Förderpolitik - auf diesem Wege sind wir, wie Sie wissen - dem Innovationsthema in verstärkter Form zuwenden.
Wir finden in Ostdeutschland bemerkenswerte neue
Bedingungen, die auch in der internationalen Perspektive
von hohem Interesse sind: kurze Verwaltungswege, ein
gegenüber der Industrie sehr aufgeschlossenes Klima in
der Bevölkerung und Gesellschaft. Dieses ist in Kombination mit der Innovationsunterstützung der öffentlichen
Hand eine hervorragende Voraussetzung, um gerade auch
ausländisches Investment nach Ostdeutschland zu führen.
Das muss auch einmal ausgesprochen werden.
({6})
Ich möchte auch eine Bemerkung zu dem Themenkomplex Aktivieren und Motivation machen. Ich bin der
festen Überzeugung, dass es in Ostdeutschland enorme
Potenziale gibt, die sich im Ideenreichtum der Menschen
in den Regionen niederschlagen. Wer wollte es mir verdenken, dass ich hier unseren, wie ich finde, in der zweiten Phase sehr erfolgreichen Wettbewerb im Rahmen des
Programms Inno-Regio anspreche.
Wie Sie wissen, wollen wir in den nächsten Jahren
25 Modellregionen fördern. Ich will nicht verhehlen, dass
es mich sehr überrascht hat, mit welcher Energie und Intensität dieses erste, besonders auf Ostdeutschland zugeschnittene Wettbewerbsinstrument in den Regionen aufgenommen worden ist, übrigens auch über Parteigrenzen
hinweg. Ich habe das ja beobachtet. Auch viele Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen gehen den Weg
mit und bringen sich regional ein. Da geht ein Ruck durch
die Regionen. Wir tun gut daran, wenn wir nicht nur innerhalb der Kategorie dieser 25 Projekte denken, sondern
wenn wir - auch da sind wir auf gutem Weg - diese Innovationspotenziale nicht versiegen lassen und die Motivation der Menschen nicht enttäuschen, sondern gemeinsam
mit den Regierungen der neuen Länder befördern und
auch weiter unterstützen.
({7})
Eine dritte Schlussfolgerung möchte ich aus dem Vergleich zu dem ziehen, was vor zehn Jahren war: Wir haben auf dem Weg, den wir seitdem zurückgelegt haben,
die Erfahrung gemacht, dass die Stärke der Bundesrepublik Deutschland nicht nur aus ihrer Vielfalt erwächst,
sondern auch in der Gemeinsamkeit liegt. Das gilt für
Deutschland insgesamt und ist beispielsweise auch aus
unserer Debatte über die Notwendigkeit einer weiteren
Unterstützung des Aufbaus Ost durch einen Solidarpakt 2
nach 2004 abzuleiten. Dies gilt aber auch und gerade
für die Ostdeutschen untereinander. Die Menschen erwarten von uns allen einen ganzheitlichen Politikansatz. Sie
orientieren sich bei dem, was sie wünschen und erwarten,
nicht an Fragen politischer Zuständigkeit, sie konzentrieren sich in erster Linie auf die Problemlösung und erwarten dabei, dass die Politik mit ihnen an einem Strang zieht.
Deshalb ist diese Erfahrung für mich auch eine Herausforderung der Politik auf allen Ebenen. Ich glaube, niemand darf sich davon ausnehmen.
Wenn dies richtig ist, dann stellen sich eine ganze
Reihe unbequemer Fragen auch jenseits von Hierarchien
und jenseits von territorialen Zuständigkeiten, über die
anlässlich einer solchen Debatte offen geredet werden
muss. Gemeinsamkeiten zwischen dem Bund und den
neuen Ländern, aber auch zwischen den neuen Ländern
untereinander zu finden, herauszufiltern und diese aufzunehmen ist deshalb für mich und ein wichtiges Anliegen.
Wir haben in diesem Bereich auch Erfolge zu verzeichnen. Beispielsweise gilt dies für den zwischen dem Bund
und den neuen Ländern nicht ohne Schwierigkeiten zustande gekommenen Beschluss, ausländische Direktinvestitionen im Rahmen des so genannten IIC auch über
den befristeten Auftrag hinaus anzuwerben. Das sind
Dinge, die man sinnvoll gemeinschaftlich tun kann.
Diese Frage stellt sich aber auch bei anderen Themengebieten: im Bereich der Förderpolitik, im Bereich der
Bildungspolitik, beim Baurecht und bei anderen Dingen.
Ich weiß, dass das schwierig ist, aber es muss bei einer
solchen Debatte wie heute auch einmal möglich sein,
quasi gegen den Strich zu denken und diese Themen anzusprechen.
Wenn es richtig ist, meine Damen und Herren, dass die
ostdeutschen Länder nicht nur untereinander im Wettbewerb stehen, sondern ostdeutsche Regionen schon längst
in einem europaweiten Wettbewerb der Regionen stehen,
zum Beispiel mit Irland oder mit Spanien, und sich der
Blickwinkel in Zukunft auch noch auf Osteuropa ausweiten wird, dann ist es in der Tat eine wichtige Erfahrung
von hoher Aktualität, wenn man Gemeinsamkeiten ausmacht und gemeinsame Stärken herausstellt.
Ich will ausdrücklich noch eine weitere Erkenntnis ansprechen. Angesichts der Entwicklungen, die wir erlebt
haben, und angesichts der Entwicklungen, die noch vor
uns liegen, können wir nur in dem Maße erfolgreich sein,
wie es uns gelingt, die Menschen bei diesen Entwicklungen mitzunehmen. Die Menschen in den neuen Bundesländern können sich - ich habe in diesem Punkt
eine etwas andere Auffassung als Sie, Herr Kollege
Rexrodt - auf eine ganze Reihe von Stärken und Fähigkeiten besinnen, die sie aus 40 Jahren Leben in der DDR
mit all den Schwierigkeiten und Bedrückungen, aber auch
aus zehn Jahren Leben in den neuen Verhältnissen gewonnen haben.
Zu diesen Fähigkeiten gehört für mich die Fähigkeit,
mit Veränderungen fertig werden zu können. Dazu gehört
für mich die Stärke, pragmatisch an Probleme herangehen
zu können. Dazu gehört für mich die Fähigkeit, einen undogmatischen Lösungsansatz zu finden. Dazu gehört für
mich die Befähigung, kooperativ und nicht als Einzelkämpfer an Lösungen heranzugehen. Wir müssen diese
Stärken und dieses Potenzial, das in den Menschen steckt,
betonen und ins Bewusstsein rücken.
({8})
Aber auch ein anderer Punkt muss offen angesprochen
werden: Wir müssen uns - das ist keine Frage - ändern.
Wir müssen nämlich die Debatte um die EU-Osterweiterung versachlichen; sie ist in den neuen Ländern noch
nicht tiefgreifend genug geführt worden. Das soll kein
Vorwurf sein. Ich will in diesem Zusammenhang nur die
Besonderheit erwähnen, mit der sich der EU-Beitritt der
neuen Länder 1990 vollzogen hat. Er war gewissermaßen
von den Vorgängen um die deutsch-deutsche Vereinigung
überlagert. Im Windschatten der deutschen Einheit sind
die neuen Länder Mitglieder der Europäischen Union geworden. Dieser Beitrittsprozess vollzog sich also anders
als in den osteuropäischen Ländern, wo es eine mehrjährige Diskussion gibt und wo man um eine entsprechende Bewusstseinshaltung hinsichtlich dieses Prozesses ringt. Aus objektiven Gründen ist dies in den neuen
Bundesländern anders gewesen.
Wir als Politiker haben die Verantwortung, die Veränderungen im Bewusstsein zu berücksichtigen und notwendige Konsequenzen aus diesen Veränderungen abzuleiten. Wir dürfen dieses Thema nicht unter dem Gesichtspunkt des parteipolitischen Klein-Kleins sehen,
sondern wir müssen in den nächsten Monaten und Jahren
diesen Wandel im Bewusstsein fair und aktiv begleiten.
Wir dürfen nicht zulassen, dass dieses Potenzial der neuen
Länder einfach versiegt.
({9})
Zum Schluss. Wir müssen uns jedem Angriff auf eine
offene Gesellschaft, jedem Signal der Intoleranz und
Fremdenfeindlichkeit, die auch zur ostdeutschen Realität gehört, entgegenstellen.
({10})
Niemand sollte die Illusion haben, dass dieses Problem
der Staat alleine mithilfe von Gesetzen lösen kann. Die
Pflicht, gegen Fremdenfeindlichkeit einzutreten, stellt
sich jedem im täglichen Leben. Wir dürfen nicht wegschauen; unser aller Zivilcourage ist in ganz starkem
Maße gefordert.
Ich wollte nicht unterlassen, diese Erfahrungen anzusprechen. Es ist keine Frage, dass zehn Jahre Wirtschaftsund Währungsunion eine historische Dimension haben.
Aber es gibt noch viele Punkte, die uns heute und auch
morgen gedanklich beschäftigen müssen.
Schönen Dank.
({11})
Ich erteile das Wort
dem Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen, Herrn
Professor Biedenkopf.
Ich darf mir die Bemerkung erlauben, dass ich gern an
unsere gemeinsame Zeit vor zehn Jahren zurückdenke.
({0})
Dr. Kurt Biedenkopf, Ministerpräsident ({1}):
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch ich habe diese freundlichen Erinnerungen.
Ich finde es gut, dass sich der Bundestag entschieden
hat, am heutigen Tag der zehnjährigen Wiederkehr des
Eintritts in die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion
zu gedenken, die mit dem 1. Juli 1990 vollzogen wurde.
Der Mauerfall hat den Weg zur Einheit unwiderruflich
geöffnet. Die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion
hat die Einheit Realität werden lassen. Mit dem 3. Oktober 1990, mit dem Einigungsvertrag, mit der Entstehung
der ostdeutschen Länder, mit dem Beitritt der DDR zur
Bundesrepublik Deutschland, beschlossen am 23. August,
war die Einheit vollendet.
Nach zehn Jahren kann man feststellen: Die nationale
Einheit hat sich in der nationalen Solidarität bewährt.
({2})
Bei allen Problemen, die auch heute in der Debatte
wieder angesprochen worden sind, finde ich: Wenn man
nach zehn Jahren einen allgemeinen Rückblick und eine
allgemeine Bewertung vornimmt, ist es wichtig, die Proportionen richtig zu setzen. Kein Mensch - jedenfalls ich
nicht - hätte geglaubt, dass die deutsche Solidarität über
zehn Jahre so selbstverständlich werden würde. Es hat in
den letzten zehn Jahren keinen Versuch gegeben, den
Westen unter Gesichtspunkten der Solidarität gegen den
Osten auszuspielen. Es hat keinen politisch wirksamen
Versuch gegeben - von keiner politischen Partei -, durch
Neid- oder andere Argumente in Westdeutschland gegen
die Solidarität Stimmen zu gewinnen. Die Solidarität war
trotz eines gewissen Maulens - wer mault nicht, wenn er
Steuern zahlen muss? - eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Diejenigen, die uns von außen betrachten, wissen
das sehr viel besser als wir selbst. Sie sind beeindruckt
von dieser Solidarität und von ihrer Kontinuität.
({3})
Deutschland hat den Aufbau und die Erneuerung des
östlichen Teils Deutschlands angepackt. Das Ergebnis
kann sich sehen lassen.
Die zweite Feststellung. Die bundesstaatliche Ordnung hat sich bewährt. Unmittelbar nach dem 3. Oktober - Kollege Waigel hat schon auf das Zusammenkommen der Ministerpräsidenten im Jahre 1947 in München hingewiesen, dem einzigen Versuch, nach dem verlorenen Krieg die Einheit der Deutschen noch einmal zu
demonstrieren; im Übrigen mit zum Teil dramatischen
Konsequenzen auch für ostdeutsche Ministerpräsidenten,
insbesondere für den sächsischen - trat am 9. November
der Bundesrat in Berlin zum ersten Mal mit allen 16 Ländern zusammen. Ich muss gestehen, das war für mich als
Neuankömmling in dieser Runde ein persönlich bewegender Augenblick.
Die bundesstaatliche Ordnung hat sich aber auch in der
Integration der Länder bewährt. Von Anfang an war es
selbstverständlich, dass sie dazugehörten. Im Unterschied
zu Herrn Kollegen Schwanitz haben wir nicht immer von
„Ostdeutschland“ gesprochen, sondern von „Sachsen,
Thüringen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern,
Berlin und Brandenburg“. Ich komme darauf gleich noch
einmal zurück.
({4})
- Ich suche keine Haare in der Suppe. Das überlasse ich
Ihnen, Herr Kollege.
({5})
Außerdem bin ich kein Suppenesser.
Drittens. Die europäische Integration hat sich bewährt. Wir haben den Aufbau Ost so, wie wir ihn in den
letzten zehn Jahren vollziehen konnten, auch mit beachtlicher Unterstützung und Hilfe der Europäischen Union
vollzogen. Ich möchte hier ausdrücklich an Jacques
Delors erinnern, der vier- oder fünfmal in der Zeit seiner
Amtstätigkeit mit den Ministerpräsidenten der ostdeutschen Länder zusammengetroffen ist, um mit ihnen über
die Notwendigkeiten des Aufbaus dieses Teils Deutschlands zu diskutieren, seine Hilfe anzubieten und vor allem
die Probleme zu verstehen. Da gibt es bis heute Verständigungsschwierigkeiten. Das will ich gerne zugeben.
Hier ist schon viel über die Entscheidung gesprochen
worden, die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion
kurzfristig zu verwirklichen. Ich möchte noch einmal daran erinnern, dass der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung am
20. Januar der Bundesregierung empfohlen hatte, die
D-Mark gewissermaßen als Krönung, als Schlusspunkt
der Entwicklung einzuführen, zunächst einmal in der
DDR die Marktwirtschaft zu verwirklichen, dann der
DDR Zeit zu lassen, bis sie dahin kommt, dass sie eine
Konvertibilität zwischen der Ostmark und der D-Mark
herstellen kann, und dann, wenn sich diese Konvertibilität
bewährt haben sollte, die D-Mark einzuführen. Selten
habe ich von Sachverständigen so viel Unverstand gelesen wie in diesem Gutachten.
({6})
Gleichwohl war es dann, wie ich meine, eine mutige Entscheidung der Bundesregierung unter Führung von
Helmut Kohl, wenige Wochen nach der Vorlage dieses
Gutachtens, das - ich empfehle Ihnen die Lektüre in den
Archiven - von weiten Teilen positiv aufgenommen
wurde, genau das Gegenteil zu beschließen. Es ist hier gesagt worden, das sei vorrangig eine politische Entscheidung gewesen. Das ist zweifellos richtig. Zweifellos
haben auch die Wanderbewegungen der Übersiedler von
Ost nach West eine wichtige Rolle gespielt. Aber ich
möchte ausdrücklich feststellen: Die Entscheidung war
auch ökonomisch richtig. Denn unterstellen wir einmal,
es wäre möglich gewesen, die Bürgerinnen und Bürger in
der damaligen DDR dazu zu überreden, dort zu bleiben,
wo sie sind, und zunächst einmal zu versuchen, mit einer
gewissen Hilfe aus dem Westen ihre Probleme selbst zu
lösen - es gibt doch hier in diesem Haus niemand, der
glaubt, dass das funktioniert hätte
({7})
- gut; lassen wir das -: Die Folgen für Westdeutschland
wären ökonomisch viel katastrophaler gewesen. Denn
wenn der Zeitpunkt gekommen wäre, zu dem die wanderungswilligen Teile der Bevölkerung der damaligen DDR,
nämlich diejenigen, die sich Berufschancen in Westdeutschland ausrechnen konnten, also die Facharbeiter,
die Ingenieure, die Techniker und andere, die ja über eine
exzellente Ausbildung und außerdem über die in Westdeutschland völlig abhanden gekommene Fähigkeit zur
Improvisation verfügten,
({8})
gewandert wären und die Summe der zurückbleibenden
Arbeitskräfte unterhalb einer kritischen Masse gelegen
hätte, dann wäre der Aufbau in Ostdeutschland unmöglich
gewesen. Dann, aber nur dann wäre es zu einer dauerhaften Alimentationssituation gekommen. Diese Alimentationssituation wäre nicht nur mit großen politischen, sondern auch mit enormen ökonomischen Kosten verbunden
gewesen, und zwar weitgehend ohne Aussicht auf Veränderung. Deshalb war die Entscheidung richtig.
Es ist schon von Herrn Kollegen Waigel gesagt
worden, dass die Anregung, die sich jetzt beim DIW wiederholt, einen anderen Umrechnungskurs zu wählen,
schlicht an der Wirklichkeit vorbeiging.
({9})
Das Einkommensniveau in der DDR lag zwischen 700
und - das waren Höchsteinkommen, aber nur in ganz
seltenen Fällen - 3 000 Ostmark. Der Industriearbeiter hat
zwischen 900 und 1 100 Ostmark verdient. Eine Umstellung im Verhältnis von nur 1:3 hätte bedeutet, dass er ein
Zehntel dessen verdient hätte, was sein westdeutscher
Kollege verdient hat. Es ist eine völlig abwegige Vorstellung, dass man bei den Einkommen anders als 1:1 hätte
umstellen können.
({10})
Ich möchte daran erinnern, dass die 1:1-Umstellung
dazu geführt hat, dass wir im Herbst 1990 beim Aufbau
des öffentlichen Dienstes mit 35 Prozent der Westgehälter angefangen haben. Es war gar nicht so einfach, gute
Leute für dieses Geld zu halten. Wir mussten Ausnahmeregelungen schaffen, um den unbedingt erforderlichen westdeutschen Sachverstand dazu bewegen zu
können - notwendige Voraussetzung war ohnehin der Idealismus -, nach Osten zu kommen. Wir haben diese Sonderregelungen geschaffen. Dass der öffentliche Dienst
inzwischen, nach zehn Jahren, 86 Prozent verdient - das
ist immer noch mehr als das, was durchschnittlich in der
Wirtschaft verdient wird -, zeigt den relativ langen Weg
des Aufbaus der Einkommen.
Die Entscheidung war richtig. Aber mindestens ebenso
wichtig ist mir die Feststellung, dass die Bundesrepublik
Deutschland diese Entscheidung eindrucksvoll verkraftet
hat.
Ich möchte in diesem Zusammenhang nur zwei Daten
nennen: Es geht zunächst um die Schätzung der Kosten.
Die Schätzung der Kosten, so wird gesagt, sei weitgehend
verkehrt gewesen. Ich darf diejenigen, die sich schon
1990 im Bundestag befunden haben, daran erinnern, dass
wir am 7. Februar 1990 eine Aktuelle Stunde zur Frage der
Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion hatten.
Das ganze Haus hat meiner Feststellung, die Kosten der
Einheit seien kalkulierbar und sie würden nicht höher sein
als der Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts bei angemessenem Wachstum, zugestimmt. Der Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts bei angemessenem Wachstum lag,
nicht inflationsbereinigt, sondern nominal, bei ungefähr
4,5 Prozent. 4,5 Prozent waren damals rund 100 Milliarden DM. Der Einzige, der damals mitgerechnet hatte, hat
einen Zuruf gemacht. Das war Graf Lambsdorff. Er hat
gesagt, das sei ziemlich viel. Aber keiner hat sich daran
gestört.
In den letzten zehn Jahren haben wir pro Jahr eine
durchschnittliche Transferleistung von 4,5 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts gehabt. Wir haben diesen Einbruch in der gesamtdeutschen Leistungsfähigkeit innerhalb von wenigen Jahren überwunden. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung - einschließlich
Ostdeutschland - hat im Jahre 1997 wieder das Niveau
von 1990 erreicht und liegt heute wesentlich höher. Es
entwickelt sich wieder genau parallel und im Übrigen mit
dem gleichen Abstand zum durchschnittlichen Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner der 14 anderen EU-Staaten
und liegt an der Spitze.
Aus Sicht zum Beispiel der Botschafter, die diese Zahlen kennen, heißt das: Deutschland hat, was das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung angeht, innerhalb
von sieben Jahren die Integration von 17 Millionen Menschen, eines Drittel seines Territoriums und einer bankrotten Wirtschaft verkraftet. Das ist das eigentlich Entscheidende.
({11})
Im Zusammenhang mit dem Bruttoinlandsprodukt pro
Erwerbstätigen, also der gesamtwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität, ist die Sache noch eindrucksvoller. Hier hat
die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von fünf Jahren das Niveau von 1990 erreicht und eilt inzwischen im
Durchschnitt mit steil ansteigender Kurve wieder in dem
alten Abstand vor den anderen 14 EU-Staaten nach oben.
Das heißt, wir haben keinerlei Anlass, zu sagen, dass
uns die Kosten der deutschen Einheit dauerhaft beschädigt hätten. Was wir getan haben, ist: Wir haben dreimal
auf den Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts verzichtet.
Aber wir haben keine Nettobeeinträchtigung, jedenfalls
nicht beim Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung. Dass die Zuwächse, soweit sie nach Ostdeutschland
transportiert werden mussten, von der Bevölkerung getragen werden mussten, davon war hier schon die Rede. Genau das macht im Übrigen die solidarische Leistung aus.
Lassen Sie mich zum Schluss auf einige Fehler und
Schwierigkeiten, die uns in Zukunft weiter beschäftigen
Ministerpräsident Dr. Kurt Biedenkopf ({12})
werden, aber auch auf einige wichtige Aussichten hinweisen. Ehe ich das tue, habe ich die Bitte, sich mit der
Begrifflichkeit zu befassen. Herr Kollege Schwanitz hat
so oft von „Ostdeutschland“ und von den „Regionen“ gesprochen, dass ich ihn im Verdacht habe, eine Länderneugliederung zu planen.
({13})
Es gibt dieses Ostdeutschland vielleicht geographisch,
aber nicht politisch. Die Präsidentin der Sächsischen Kirchenleitung hat mir auf dem letzten Treffen erzählt, sie
habe ihren heute 20-jährigen Sohn gefragt, ob er sich als
Ostdeutscher oder als Deutscher empfinde. Die Antwort
dieses jungen Mannes sei gewesen: Er fühle sich als Deutscher und dann, wenn er mit einem Bayern zusammenkomme, als Sachse.
({14})
Ich bin ziemlich sicher, dass die Menschen in Thüringen, in Mecklenburg-Vorpommern, in Brandenburg und
insbesondere natürlich in Berlin
({15})
ein ähnliches Selbstverständnis im Hinblick auf ihre Identität haben, weswegen, Herr Kollege Schwanitz, ich nicht
glaube, dass das Suchen nach einem ostdeutschen Selbstverständnis und einem ostdeutschen Leitbild zu den wichtigsten Aufgaben gehört, die uns gestellt sind.
({16})
Zum Zweiten sollten wir uns irgendwann einmal abgewöhnen, von „den neuen Bundesländern“ zu reden.
({17})
Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker
hat bei seinem ersten Besuch in Sachsen in einer Rede im
Rathaus zum Ausdruck gebracht, Sachsen gehöre zu den
ältesten Bundesländern in Deutschland und sei deshalb eigentlich nicht als „neues Bundesland“ zu bezeichnen. Da
kann ich ihm nur Recht geben. Wir sollten daher anfangen, so wie wir selbstverständlich in Westdeutschland differenzieren, auch in Ostdeutschland zu differenzieren.
Die Dinge sind verschieden, aber nicht notwendigerweise
besser oder schlechter. Diese Verschiedenheit ist für die
Menschen wichtig. Gerade wenn wir ihnen das Gefühl einer eigenen Identität geben wollen, die sie auch in den
letzten zehn Jahren erarbeitet haben, sollten wir diese
nicht immer wieder mit unserer Begrifflichkeit relativieren.
Die wichtigste Aufgabe liegt - das ist keine Frage nach wie vor im Arbeitsmarkt, wobei wir eine zunehmende Diskrepanz zwischen einer hohen und wachsenden Zahl von Langzeitarbeitslosen und einem ebenfalls
wachsenden Mangel an Facharbeitern haben. Wenn es uns
nicht gelingt, diese Entwicklung in den Griff zu bekommen, ist vorhersehbar, dass nicht der Mangel an Geld,
sondern der Mangel an Facharbeitern - an Ingenieuren
und Technikern in allen Bereichen, vor allen Dingen aber
an Facharbeitern - die eigentliche Wachstumsbremse bei
einem weiteren Aufbau der Länder im Osten Deutschlands wird.
Deshalb begrüße ich, dass die Bundesregierung jetzt
auf experimentelle Weise versucht, neue Wege im Bereich
der Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zu finden. Wir beteiligen uns im Freistaat Sachsen an diesen Versuchen.
Wir haben sie 1998 angeregt. Unser Vorschlag war, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenzuführen, weil
wir glauben, dass die Instrumente, so wie sie jetzt gestaltet sind, nicht geeignet sind, die Probleme zu lösen, mit
denen wir es gerade in diesem Bereich zu tun haben.
Die zweite wirklich große Herausforderung wird die
demographische Entwicklung sein. Die nächsten zehn
Jahre müssen vor allem der Frage gewidmet werden, wie
wir mit den Konsequenzen der demographischen Entwicklung in Deutschland fertig werden. Dieses Problem
ergibt sich in der Tat aus den Folgen der deutschen Einheit, insbesondere aus dem Geburtenverhalten der Ostdeutschen. Wir haben im Vergleich zu 1991 heute noch
etwa 50 Prozent der Grundschüler an unseren Schulen.
Dieser Rückgang der Zahl der jungen Menschen wird sich
jetzt durch das ganze Schulsystem ziehen und in zehn, elf
Jahren die Universitäten erreichen. Es ist vorhersehbar,
was es gerade im Blick auf den von Herrn Schwanitz angedeuteten und von uns seit Jahren nachhaltig betriebenen
Aufbau von neuen wissenschaftlichen Kompetenzen bedeutet, wenn wir hier an der Knappheit von geeigneten
Frauen und Männern, die bereit sind, sich in diese Richtung auszubilden, scheitern sollten. Hier liegt in Zukunft
eine der wirklich großen Herausforderungen für die weitere Entwicklung in ganz Deutschland.
In diesen Zusammenhang gehört eine sachgerechte
Anschlussregelung für den Solidarpakt. Alle ostdeutschen Länder haben im letzten Jahr die Sachverhalte zur
Vorbereitung der Verhandlungen zusammengetragen. Wir
haben den Eindruck, dass wir in Bezug auf diese Sachverhalte inzwischen einen weitgehenden Konsens haben
und dass wir aufbauend auf diesen Konsens in fruchtbare
Verhandlungen treten können.
Ich begrüße es ausdrücklich, dass die letzte Zusammenkunft der Ministerpräsidenten mit der Bundesregierung zu der gemeinsamen Feststellung geführt hat, dass
wir diese Anschlussregelung noch in dieser Legislaturperiode verwirklichen wollen.
({18})
Es wäre verhängnisvoll - lassen Sie mich Ihnen dies von
der Länderseite sagen -, wenn wir es nicht schafften, eine
solche Anschlussregelung vor Herbst 2002 in trockene
Tücher zu bringen. Das würde nämlich bedeuten, dass wir
Mitte 2003 erneut mit Verhandlungen beginnen müssten
und dass alle Länder im Osten, die einen Doppelhaushalt
haben, ihre Haushalte nicht beraten und beschließen
könnten, weil sie nicht wüssten, wo sie im Jahr 2005 stehen werden. Wir müssen das also zwei, drei Jahre vorher
wissen; daher brauchen wir einen Beschluss vor der Bundestagswahl. Meine Bitte an dieses Hohe Haus ist, uns gerade in dieser Frage zu unterstützen.
Ministerpräsident Dr. Kurt Biedenkopf ({19})
Da ich heute Morgen aus Breslau, einer Stadt, die heute
auch aus Sicht der Polen eine deutsche Stadt ist, gekommen bin - dort hat Kurt Masur gestern Abend aus Anlass
der 1000-Jahr-Feier ein wunderschönes Konzert gegeben - und hier verschiedentlich die „blühenden Landschaften“ zitiert worden sind, möchte ich mir eine Bemerkung dazu erlauben. Ich habe Helmut Kohl immer anders verstanden, nämlich so, dass es im Vergleich zu
anderen Regionen der Erde, insbesondere Europas,
blühende Landschaften werden.
({20})
Verehrte Frau Kollegin Kaspereit, das habe ich im Freistaat Sachsen von Anfang an gesagt und dafür habe ich
immer Mehrheiten bekommen.
({21})
Vielleicht hätten Sie dies in anderen ostdeutschen Ländern, insbesondere in Sachsen, auch so deutlich sagen sollen.
({22})
Wie gesagt, ich bin auf die blühenden Landschaften gekommen, weil ich gerade aus Breslau komme. Und wenn
man aus Tschechien oder aus Polen nach Sachsen zurückkehrt, dann weiß man, was blühende Landschaften sind.
({23})
Wenn man dagegen davon ausgeht - dies sage ich, um
Ihren Unmut aufzunehmen -, dass man 40 Jahre Rückstand in zwei oder drei Jahren aufholen kann, dann ist dies
eine Illusion. Und dies hat Helmut Kohl den Ostdeutschen
ebenso wenig vorgetragen wie ich.
({24})
Zum Schluss möchte auch ich einen Dank aussprechen. Theo Waigel hat einer ganzen Reihe von Persönlichkeiten gedankt. Ich schließe mich neben dem Dank an
Helmut Kohl, dessen Leistung im Zusammenhang mit der
deutschen Einheit unbestritten ist und unbestritten bleiben
wird, auch dem Dank an Lothar de Maizière an;
({25})
denn er hat mir sehr geholfen hat, die Probleme in Ostdeutschland kennen zu lernen.
Vor allen Dingen aber möchte ich den Menschen danken, die in den letzten zehn Jahren eine unglaubliche Leistung erbracht haben, eine Leistung, die man sich im Westen nicht vorstellen kann. Da liegt in der Tat ein
signifikanter Unterschied. Diese Menschen nämlich haben praktisch all ihre bisherigen Sozialisierungserfahrungen aufgeben müssen. Nichts von dem, was sie gewohnt
waren, ist geblieben. All das, was gekommen ist, war völlig neu. Wenn ein Chemiker im Alter von 55 Jahren aufsteht und fragt: Wofür braucht man Eigentum?, dann spiegelt sich darin diese ganze Dramatik wider. Er konnte dies
nicht lernen, denn es gab kein Eigentum, jedenfalls kein
wirtschaftlich relevantes. Ein Mann, der auf dem Gebiet
der Naturwissenschaften gebildet war, wusste nicht, was
Institutionen leisten müssen, damit eine freie marktwirtschaftliche Ordnung gewährleistet ist. Er musste dies
erst einmal begreifen. Das war ein unglaublicher Lernprozess.
80 Prozent aller Arbeitsplätze haben sich verändert.
Am Anfang betrug die Arbeitslosigkeit 40 Prozent. Trotzdem gab es keine blockierten Autobahnen, keinen Aufstand und keine sozialen Demonstrationen. Es gab den
Willen der Menschen, mit der Hilfe, die ihnen die Westdeutschen gewährt haben, vor allem aber mit dem Glauben an ihre eigene Leistungsfähigkeit mit dieser Situation
fertig zu werden. Und in der großen Mehrheit sind sie damit fertig geworden. Sie werden auch mit den Problemen
fertig werden, die noch vor uns stehen; davon bin ich
überzeugt. Es wird immer einige geben, die verlieren.
Diese Menschen brauchen unsere Hilfe und unsere Unterstützung. Die große Mehrheit aber hat gewonnen und
sie sieht dies auch so. Für diese Leistung möchte ich
heute, nach zehn Jahren, besonders danken.
Vielen Dank.
({26})
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Dr. Mathias Schubert, SPDFraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben in den
letzten zwei Stunden versucht, mit Blick auf einen symbolträchtigen Tag, den 1. Juli 1990, als Beginn der
Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion eine kritische,
partiell auch selbstkritische Zwischenbilanz der Nachwendezeit zu ziehen. Zehn Jahre sind eine historisch
kurze Zeitspanne; im Leben der Menschen im Osten sind
diese zehn Jahre jedoch ein bedeutender Teil.
Weil Herr Ministerpräsident Biedenkopf dies angesprochen hat, will ich doch einmal definieren, was ich unter „Osten“ verstehe. Ich meine also die Länder Brandenburg, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, und zwar in all ihren
historischen und politischen Besonderheiten sowie wirtschaftlichen und regionalen Differenzierungen, die sie
auch innerhalb der letzten zehn Jahre erfahren haben.
Die Bewertung „Erfolg gegen Misserfolg“ hing - so
auch bei dieser Debatte hier - stark von der Perspektive
des jeweiligen Betrachters ab: auf der einen Seite dieses
„Toll, was wir in zehn Jahren geschaffen haben!“ und auf
der anderen Seite dieses „Schade, dass wir nicht mehr erreicht haben!“ Die Wertung all dessen, was schief gelaufen ist oder als großer Wurf gefeiert werden kann, ist
natürlich auch eine Frage des zeitlichen und des qualitativen Maßstabs, sicher auch der eigenen politischen Position. Insofern war die Debatte, die bisher hier zu diesem
Thema geführt worden ist, ausgesprochen konstruktiv.
Ministerpräsident Dr. Kurt Biedenkopf ({0})
Aber eines, Frau Kollegin Luft, möchte ich dann doch
sagen: Sie erwecken - zumindest in dem ersten Teil Ihrer
Rede klang das zwischen den Zeilen an - den Eindruck,
als sei der Osten das Jammertal und der ehemalige Sozialismus der Heilsbringer für Deutschland. Das ist falsch.
({1})
Mir liegt Gelingen mehr als Scheitern. So bin ich froh
über jedes überwundene kleine oder große Problem des
deutschen Transformationsprozesses. Aber ich weigere
mich, an einem Tag wie diesem alte oder neue Probleme
schönzureden wie ein dazu bestellter Sonntagsredner.
Auch wenn im Alltag die Erinnerungen an Geschehnisse
und Stimmungen aus der Wendezeit zu verblassen beginnen, manchmal weit entfernt scheinen durch die Fülle der
Ereignisse, die dazwischengetreten sind, gönne ich mir
zunächst eine ganz persönliche Bemerkung. Dieser 1. Juli
1990 - vielleicht teilen Sie meinen Eindruck -, das war
ein Tag: ein Volk, eine Währung, der sichere Wechsel auf
die gemeinsame Zukunft!
({2})
Ich gebe gerne zu, dass ich an diesem Sonntag ebenso
fröhlich und mit den gleichen feuchten Händen wie meine
Nachbarn im beschaulichen brandenburgischen Markgrafpieske den Geldtransporter vor unserem Dorfpostamt
begrüßte. Ja, diese Stimmung gehörte auch dazu. Dieser
Augenblick hatte natürlich auch etwas Symbolisches: Er
brachte ein Stück Freiheit, sich endlich im Westen bewegen zu können ohne dieses Unbehagen, sich dauernd alimentiert fühlen zu müssen, und gleichzeitig die Gewissheit, sein eigenes Einkommen fortan in D-Mark zu erhalten.
Auch ich habe - zumindest an diesem Tag - der weitverbreiteten Illusion einer schmerzfreien, mindestens
aber einer schmerzarmen Einfügung der DDR in die Bundesrepublik angehangen. Diese Illusion nährte sich aus
zweierlei: einer Unterschätzung der Wirtschaftskrise der
DDR und - das sage ich ganz offen - einer gewissen
Überschätzung der Wirtschaftskraft der Bundesrepublik.
Das hatte - dies erkennt man im Rückblick der Jahre auch damit zu tun, dass die damalige Koalition mit Illusionen erfolgreich Politik machen konnte. Denn unmittelbar wirksam wurden im Sommer 1990 nicht nur der Geldumtausch und die erforderlichen Abschluss- und Eröffnungsbilanzen der Unternehmen, wirksam wurden auch
grundlegende Richtungsentscheidungen im Rahmen der
Wirtschafts- und Sozialunion.
Wirtschaftsunion hieß trotz aller Ungleichheiten der
Chancen und Bedingungen gemeinsamer Markt. Sozialunion hieß ebenso konsequent Übernahme des westdeutschen Sozialgesetzbuches und damit angesichts absehbarer flächendeckender Massenarbeitslosigkeit eine extreme Belastung der öffentlichen Haushalte wie der
Sozialhaushalte über die Jahre hinweg.
Wie konkret dieses Gespenst werden konnte, war spätestens klar, als der Umrechnungskurs auf 1:1 bzw.
1:2 festgelegt worden war. Durch diese schlagartige Aufwertung verloren die gesamten DDR-Betriebe im produzierenden Gewerbe alle Chancen auf neue Märkte und
verloren natürlich auch heftigst auf ihren alten traditionellen Ostmärkten.
Die damalige Bundesregierung war sich der drohenden
Brüche und Schmerzen durchaus bewusst. Kollege
Wolfgang Schäuble beschreibt diese Situation auch ganz
offen in seinem Buch „Der Vertrag“, aus dem ich einige
wenige Sätze zitiere. Er schreibt:
Es war Lothar de Maizière genauso klar wie
Tietmeyer und mir, dass mit der Einführung der
Westwährung DDR-Betriebe nicht mehr konkurrenzfähig sein würden. Wir konnten uns auch ausmalen, in welch dramatischer Weise dieser Eingriff
sichtbar würde. Also ging es darum, wie wir verhindern konnten, dass dieser Teil Deutschlands zusammenbrach.
Einige Seiten weiter:
Tietmeyer und ich wussten, dass auf Finanzminister
Theo Waigel schwere Zeiten zukamen: Wie hoch die
Hilfe ausfallen würde, darüber vermochten wir nur
zu spekulieren.
So weit Wolfgang Schäuble.
({3})
Jeder Wirtschaftspraktiker, jede ökonomische Theorie
musste deshalb 1990 eigentlich anraten, der DDR-Regierung viel Zeit für eine zunächst selbstständige Entwicklung zu geben. Doch in der Praxis - das wissen wir alle gab es diese Alternative in Wirklichkeit nie. Hauptgrund war aber nicht der ostdeutsche Ruf „Kommt die
D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr“, wie es damals auf
den Plakaten häufig zu lesen war. Hauptgrund war ein anderer: Kein verantwortlicher Politiker und natürlich auch
keine verantwortliche Politikerin in Ost wie in West
konnte die Wiedererrichtung von Zoll- und Währungsgrenzen in Deutschland vertreten. Ich glaube, auch kein
Bürger, weder in West noch in Ost, hätte dies geduldet.
Wenn wir heute über den Vereinigungsprozess urteilen,
müssen wir zwei Tatsachen betrachten: Einerseits war die
DDR ungeeignet, in so kurzer Frist integrierter Teil einer
der wettbewerbsfähigsten westlichen Marktdemokratien,
nämlich der alten Bundesrepublik, zu werden. Und doch
war andererseits in der Realität diese sofortige Integration unausweichlich. Die schwerwiegenden Folgen der
schnellen Vereinigung im Rahmen der Wirtschafts-,
Währungs- und Sozialunion waren also ebenso voraussehbar wie unvermeidlich.
Ich will jetzt nicht weiter auf den 10 Jahre danach erneut hochkochenden Streit der Wissenschaftler und der
Finanzpolitiker zu diesem Thema eingehen. Wir sollten
uns auch hüten, über das vereinte Deutschland vorwiegend unter finanziellen Gesichtspunkten zu reden: Was
kostet die Einheit? Wer bezahlt sie? Wer hat sie bezahlt
und wer wird sie weiter bezahlen?
Gleichwohl erleben wir, dass 10 Jahre nach dem
In-Kraft-Treten der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion die Gestaltung der Vereinigung häufig genug zu
einem reinen Belastungsdiskurs gemacht worden ist: zu
wenig Hilfe für die einen, zu viel an Belastungen für die
anderen. Die Verantwortung für diese bedrückende Entwicklung liegt vorwiegend bei Ihnen, liebe Kolleginnen
und Kollegen auf der rechten Seite des Hauses. Das muss
ich schon sagen. Sie haben es damals versäumt, den Menschen in Ost- und Westdeutschland die Wahrheit zu sagen.
Ob Sie die Wahrheit gewusst haben oder ob Sie sich geirrt haben, mag offen bleiben.
({4})
Darüber will ich auch nicht urteilen.
Fest steht, dass Sie den Menschen im Osten ein schnelleres Erreichen der viel beschworenen blühenden Landschaften versprochen haben, und zwar in einer anderen Interpretation und in einem anderen Verständnis, als Sie,
Herr Biedenkopf, es eben gesagt haben.
({5})
Denen im Westen wurde versprochen, dass die Steuern
nicht erhöht werden müssten, um die Kosten der Einheit
zu finanzieren. Es ist erstaunlich, wie schnell Sie vergessen wollen und wahrscheinlich auch müssen. Beide Versprechen waren falsch, konnten nicht eingehalten, mussten gebrochen werden.
({6})
Wenn das DIW bei aller Kritik, die man an diesem Bericht üben muss, in seiner 10-Jahres-Bilanz die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion als ein Musterbeispiel dafür bezeichnet, dass für den Primat der Politik über
die Ökonomie oft ein hoher Preis zu zahlen ist, dann ist
dem zwar uneingeschränkt zuzustimmen, aber es gab
eben keine Alternative zu dem, was gemacht worden ist.
({7})
Ich kann den früheren Bundesbankpräsidenten Karl
Otto Pöhl verstehen, wenn er gestern in der „Süddeutschen Zeitung“ in einem ausführlichen Interview von seiner tiefen Brüskierung spricht und die Einführung der
Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion als eine „Panikreaktion aus der Hüfte geschossen“ beschreibt.
({8})
Aber auch da gilt: Es gab keine Alternative. - Urteilen Sie
doch, nachdem Sie mich haben aussprechen lassen und
nicht vorher!
Ich hätte mir schon gewünscht, dass diese kritischen
Stimmen bereits in der Deutlichkeit 1990 zu hören gewesen wären, und zwar nicht gegen die Wirtschafts-,
Währungs- und Sozialunion, sondern gerade weil sie politisch notwendig und unausweichlich war. Da die
Währungsunion konsequent mit politischer Symbolik
verknüpft wurde, wurden die kritischen Stimmen, die
durchaus Richtiges über die belastenden Folgen dieser
Entscheidung ausgesagt hatten, schnell als Einheitsgegner abgemahnt. Das ist die Hypothek, die Sie zu tragen haben.
({9})
Die Weitsichtigsten auch bei Ihnen - ich habe den Kollegen Schäuble vorhin zitiert - wussten um die Unausweichlichkeit der Notwendigkeit und der Probleme der
Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Aber sie haben
sie öffentlich nicht benannt. Die offizielle Version, die
Portokasse finanziert die Einheit, war aus wahltaktischen,
das heißt aus machttaktischen Gründen selbstverständlich
erfolgreich. Für das Zusammenwachsen aber wurden dadurch Ressentiments begründet, die zwischen Ost und
West bis heute wirken.
Politische Verantwortung darf sich nicht in Illusionen
und Machttaktik erschöpfen. Die Folgen dafür haben alle
zu tragen. Wir werden das Thema noch einmal behandeln,
wenn wir über den Solidarpakt 2 reden, zu dem ich nachher kurz noch ein paar Bemerkungen machen werde.
Zur Beschreibung des ostdeutschen Transformationsprozesses gehört es auch, über die Befindlichkeiten,
über die Erfahrungen und das Selbstverständnis der Ostdeutschen einige Gedanken zu äußern. Der wirklich entscheidende, der substanzielle Wandel musste sich bei den
Menschen vollziehen.
Günter de Bruyn formulierte seine Momentaufnahme,
die vermutlich uns allen oder zumindest vielen bekannt
ist, damals so:
Also hat die Nation schlechte Laune. Sie ist wieder
vereint, aber nicht glücklich.
Richard Schröder, unser erster SPD-Fraktionsvorsitzender in der Volkskammer und früherer Kollege im
Bundestag, hat für dieses Gefühl der Zerknirschtheit eine
scheinbar plausible Erklärung:
Der Maßstab, an dem wir die innere Einheit messen,
ist der Jubel der Nacht der Maueröffnung.
Doch nicht einmal temperamentvollere Menschen als die
Deutschen - Brasilianer oder Spanier vielleicht - können
sich Tag für Tag in den Armen liegen und „Wahnsinn“
schreien.
Ich glaube, die Bilanz der Einheit kann sich zumindest
in einem weiteren, nicht ganz unwichtigen Punkt, auf den
auch hingewiesen werden muss, sehen lassen. Während
zum Beispiel Korsen für ihre Unabhängigkeit kämpfen,
während eine Lega Nord in Italien marschiert, um den armen Süden abzuschütteln - wir könnten noch viele andere
Beispiele aufführen -, käme niemand bei uns, weder in
West- noch in Ostdeutschland, darauf, für die Unabhängigkeit zu kämpfen. Ich hoffe, dass es auch die reichen
Südstaatler in Deutschland nicht so weit treiben werden.
Im Vergleich zu anderen Völkern sind wir Deutschen
uns doch recht einig. Der Vorrat an Gemeinsamkeiten in
Ost und West ist groß genug, um die Unterschiede auszuhalten, zu benennen und wenn nötig, natürlich auch im
Streit miteinander auszutragen.
({10})
Wir sollten ganz im Sinne der fünf bzw. sechs Länder
und im Sinne von deren wachsendem Selbstbewusstsein
versuchen, von der verbliebenen Vielfalt zu profitieren,
und nicht Walter Ulbrichts Ideale von der Menschengemeinschaft - er meinte natürlich eine sozialistische - unter dem Etikett der inneren Einheit neu aufleben lassen.
Wir sollten von der Politik nicht fordern, sie solle ein
Gemeinschaftsgefühl herstellen. Politik, die Gefühle produzieren oder provozieren will, ist mir immer noch unheimlich. Die Politik kann dafür allenfalls Voraussetzungen schaffen.
Ministerpräsident Biedenkopf hat einmal in realistischer Weise formuliert, der Vollzug der deutschen Einheit
stelle ein gesamtdeutsches Reformwerk dar. Dabei haben die Reformerfahrungen, die die Ostdeutschen für den
umfassenden Reformbedarf in Westdeutschland und in
Europa mitbringen, einen Prozess in Richtung auf ein
neues Selbstbewusstsein angestoßen.
Die politischen und ökonomischen Prozesse im Verlauf der Transformation hatten zunächst - wir wissen das
alle - häufig zu biografischen Entwertungserfahrungen
geführt. Alltägliche Verhaltensmuster, berufliche Kenntnisse, soziale Erfahrungen und politische Überzeugungen
hatten ihren Bezug auf ein völlig anderes System mit völlig anderen Werten und Zusammenhängen. Ich bin mir sicher, dass sich diese notwendigen und oft schmerzvollen
Transformationserfahrungen in der Zukunft als ein wichtiger Vorteil erweisen werden.
Die schwierigen neuen Bedingungen haben ein solches
Maß an Flexibilität, Mobilität und Anpassungsbereitschaft abverlangt, wie es kaum eine Generation zuvor erlebt hat. Genau daraus entwickelt sich ein Selbstbewusstsein, das sich aus dem Gefühl eigener Leistung und eines
selbst erarbeiteten Erfahrungsvorsprungs ableitet: Wir
sind gut, wir sind zum Teil besser als manche Westdeutsche, mobiler, flexibler und kreativer.
({11})
Auch soziologische Studien belegen diesen Trend. Gegenwärtig finden deshalb - das ist kein Zufall, sondern
hängt mit dieser Entwicklung zusammen - in vielen Bereichen, etwa der ostdeutschen Wirtschaft, Selbstorganisationsprozesse zur Bündelung der Kräfte, der Innovationsfähigkeit und zur Organisation eines offensiven, globalen Marktzugangs statt. Dabei setzen wir vor allem auf
die zukunftsfähigen Wirtschaftsbranchen, wie etwa die
Werkstoffentwicklung, die Biotechnologie oder die Informationstechnologie. Dieser innovative und konsequente
organisierte Selbstorganisationsprozess findet unter anderem unter dem Stichwort der Regionalisierung statt. Man
könnte daher sagen, dass unter denjenigen, die sich daran
beteiligen ein regelrechter Aufbruch auch des eigenen
Selbstbewusstseins stattfindet. - Das ist der eine Aspekt.
Es gibt aber auch noch einen anderen Aspekt, nämlich
den der neuen Qualität des Transformationsprozesses.
Einer der Kernpunkte dabei wird sein - hierin hat Kollege
Schwanitz Recht -, das Ziel dieses Prozesses neu zu bestimmen. Darüber müssen wir einmal an einer ganz anderen Stelle reden. Bisher hieß eines der Ziele „Anpassung
der Lebensverhältnisse Ost an West“. Anpassung oder
Angleichung sind im Übrigen teilweise irreführende
Begriffe. Angleichung ist nur insofern richtig, als dieser
Begriff in der Verfassung steht und einen Anspruch der
Ostdeutschen legitimiert. Er verlangt zum Beispiel, dass
sich der Staat um annähernd gleiche Lebensverhältnisse
zu bemühen hat. Er legitimiert unter anderem, dass Sozialhilfeansprüche im Osten in gleicher Weise wie im
Westen gelten.
Doch bedeutet Angleichung wirklich den gleichen ProKopf-Verbrauch an Spreewaldgurken in Ost und West?
Heißt Angleichung wirklich, dass neben Hansa Rostock
und Energie Cottbus auch der VfB Leipzig in der Bundesliga spielt? Sind wir dann gleich, wenn die Westdeutschen genauso viel Rotkäppchen-Sekt trinken wie die
Ostdeutschen? Oder ist das etwa dann der Fall, wenn in
Sachsen genau so viele die PDS wählen wie in BadenWürttemberg?
({12})
- Nein, Herr Gysi, Sie werden mir zugestehen müssen,
dass ich den Vergleich selbstverständlich so herum gebracht habe.
Ich meine schon, dass der Begriff Angleichung völlig
falsch gewählt wurde, wenn man darunter die Anwendung
gleicher Instrumente der Politik für ungleiche Verhältnisse versteht. Eine andere Lage verlangt andere Instrumente.
Ich befürchte, dass wir das mit den Mitteln und Methoden, die wir bislang zur Verfügung hatten, nie schaffen
werden. Denn das künftige Ziel der Transformation wird
nicht mehr die Angleichung, sondern die Entwicklung
neuer Formen der Bündelung wirtschaftlicher Kräfte,
neuer Inhalte der aktiven Arbeitsmarktpolitik, insbesondere auf den Feldern der Aus- und Weiterbildung, zukunftsfähiger Formen der sozialen Sicherungssysteme,
nicht nur für den Osten, sondern eben auch für Westdeutschland, sein. Diese gesellschaftlichen und politischen Innovationspotenziale wachsen - das behaupte
ich hier einmal sehr ungeschützt von dieser Stelle aus zurzeit, wenn ich das richtig sehe, im Osten stärker als im
Westen.
Das ist unsere gemeinsame Chance. Deshalb bin ich
mir sicher, dass wir aus ostdeutscher Erfahrung Anstöße
für gesamtdeutsche Reformen geben müssen. Ich habe
mit Freude festgestellt, dass sowohl Kollege Metzger als
auch Kollege Rexrodt gerade im Blick auf die Entwicklung der Wirtschaft sehr klar und sehr konkret darauf hingewiesen haben, dass hier neue Möglichkeiten und Methoden - hoffentlich im Konsens hier im Hause - entwickelt werden müssen.
Insofern wird der Solidarpakt 2 eben auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe für West wie für Ost sein,
eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ohne Ideologien,
ohne Illusionen und natürlich auch ohne Machttaktik. Sie
ist zum einen eine Herausforderung an den Westen, nämlich noch einmal die Bereitschaft zu einem großen solidarischen Werk zu zeigen, und sie ist zum anderen eine
Herausforderung an den Osten, nämlich mit Realitätssinn
und mit flexiblen Reaktionen auf die Situation bei uns bei
den Forderungen und neuen Überlegungen zu diesem
Förderprogramm, insbesondere im Bereich Wissenschaft
und Forschung, Kooperationen, Innovationen usw., zu
reagieren.
({13})
Der Solidarpakt 2 - das ist vielleicht auch eine Möglichkeit, eine solche Rede abzuschließen - ist die Fortführung und vielleicht sogar - das werden wir allerdings
erst in zehn oder noch mehr Jahren wissen - die Vollendung dessen, was mit der Wirtschafts-, Währungs- und
Sozialunion begonnen hat.
({14})
Auch aus diesem politischen Grund scheint er mir so nötig
zu sein, wie die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion
zum 1. Juli 1990 nötig gewesen ist.
({15})
Ich schließe die Aussprache und rufe den Zusatztagesordnungspunkt 14 auf:
Aktuelle Stunde
Auf Verlangen der Fraktion der F.D.P.
Besserer Schutz der Bevölkerung - insbesondere von Kindern - vor Angriffen von Kampfhunden
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die F.D.P.Fraktion hat der Kollege Dr. Guido Westerwelle.
Frau Präsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren Kolleginnen und
Kollegen! Am vergangenen Montag ist in Hamburg ein
kleiner Junge auf eine bestialische Weise ums Leben gekommen. Dieser Vorfall war der bislang schlimmste in einer lange Reihe von Zwischenfällen mit den so genannten
Kampfhunden.
Die Problematik, die mit dem Halten und mit der
Existenz dieser Tiere verbunden ist, ist seit langem bekannt. Es gab regelmäßig auch Ansätze, sich dieser Problematik anzunehmen. Mittlerweile wissen wir nach diesem tragischen Vorfall, dass diese Ansätze bislang nicht
ausgereicht haben.
Deswegen möchten wir als Freie Demokraten mit dieser Aktuellen Stunde auch einen Beitrag dazu leisten, dass
in diesem Hause ein überparteilicher Konsens gegen das
Halten von Kampfhunden gefunden werden kann.
Wir begrüßen ausdrücklich, dass der Bundesinnenminister in dieser Frage tätig geworden ist.
({0})
Wir begrüßen ausdrücklich, dass die Landesinnenminister
mittlerweile tätig geworden sind. Das rechtliche Instrumentarium des Bundesgesetzgebers ist vergleichsweise
geringer, wenn man es mit dem vergleicht, was auf Landesebene möglich ist.
Weil schon seit vielen Jahren über diese Problematik
diskutiert wird, möchte ich mir erlauben, hier zu sagen: Es
ist bedauerlich, dass die Landesinnenminister erst jetzt
gehandelt haben. Es ist bedauerlich, dass der Bundesgesetzgeber überhaupt tätig werden muss. Aber es ist gut,
dass er es jetzt tatsächlich tut.
({1})
Wir alle haben in diesen Tagen zahlreiche Zuschriften
und zahlreiche Anrufe von Mitbürgerinnen und Mitbürgern bekommen, die große Angst haben. Aber es gab auch
Interventionen von denjenigen, die Kampfhunde halten.
Ich möchte Folgendes in großer Klarheit sagen: Es gibt in
jedem freiheitlichen Gemeinwesen Abwägungen, die man
vornehmen muss. Es gibt die Freiheitsrechte der einen.
Aber es gibt auch den Opferschutz und den Schutz vor
Gefährdungen der anderen.
({2})
Für uns hat die Gefährdung durch Kampfhunde eine solche Dimension erreicht, dass der Schutz vor Gefährdungen Vorrang haben muss.
({3})
Das überwiegt alle anderen Gesichtspunkte, auch wenn
sie noch so sehr auf Selbstverwirklichung ausgerichtet
sind. Für die deutsche Politik - ich denke, ich darf das für
alle sagen; ich glaube, alle werden das hier sagen - ist der
Schutz der Bevölkerung wichtiger als die Freiheit einiger
Kampfhundebesitzer, sich weiterhin so verirrt wie bisher
verhalten zu dürfen.
({4})
Es hat überhaupt nichts mit den Freiheitsrechten zu tun,
wenn man sagt, man wolle auch künftig in einem freien
Land eine Art Raubtier durch die Straßen führen dürfen.
Der Begriff Kampfhund hat schon fast eine verharmlosende Bedeutung bekommen. Es handelt sich um Kampfmaschinen, um Tiere, die genetisch auf ein besonders aggressives Verhalten hin gezüchtet werden, die
schmerzunempfindlich gezüchtet werden und die keinerlei Hemmschwellen haben. Menschen, die solche Kampfhunde einsetzen wollen, haben augenscheinlich selber
Persönlichkeitsprobleme.
({5})
Wir lassen nicht zu, dass ein solcher Wunsch auf Kosten
der Kinder, der Schwächeren und der gesamten Bevölkerung geht. Das kann nicht akzeptiert werden. In Deutschland hat auch niemand das Recht, ein Raubtier wie zum
Beispiel einen Löwen oder einen Tiger an der Leine über
die Straße zu führen. Ein Kampfhund ist mit Sicherheit
ähnlich gefährlich wie solche Raubtiere für ein sechsjähriges oder siebenjähriges Kind. Um den Schutz der
Kinder geht es.
({6})
Wenn man heute gelesen und in den Nachrichten verfolgt hat, dass zahlreiche Kampfhunde ausgesetzt werden,
dann kann man nur feststellen: Das ist eine Verirrung, die
kaum noch nachvollzogen werden kann. Wir sind der Auffassung, dass die Behörden mit entsprechenden personellen und sachlichen Mitteln ausgestattet werden müssen,
damit das Verbot der Innenminister auch tatsächlich
durchgesetzt werden kann.
({7})
Es ist gut, dass sie ein solches Verbot durchsetzen wollen, und zwar bundeseinheitlich. Das werden wir parlamentarisch unterstützen. Es ist notwendig, dass die Länder, also diejenigen, die das Verbot durchsetzen müssen,
die entsprechenden Behörden auch so ausstatten, dass sie
die Einhaltung des Verbots überwachen können.
({8})
Ich möchte nur noch einen Schlussappell an Sie, Herr
Bundesinnenminister, richten, nachdem es im Laufe dieser Woche eine erhebliche politische Entwicklung gegeben hat: Wir werden das Problem nicht loswerden, weil
nach einem entsprechenden Verbot Kampfhunde insbesondere aus osteuropäischen Ländern illegal importiert
werden. Das ist eine traurige Erscheinung. Wir wissen,
dass in anderen europäischen Ländern auch anders mit
Kampfhunden umgegangen wird, als wir es künftig in
Deutschland tun werden. Deswegen wäre es sinnvoll,
wenn sich der Bundesinnenminister mit seinen europäischen Kollegen abstimmen würde, damit wir der Gefahr,
die von Kampfhunden ausgeht, im gesamten Europa begegnen können. Europa kümmert sich um vieles. Hier hat
es wirklich Grund, sich gegen Kampfhunde und für den
Schutz der Bevölkerung einzusetzen.
Ich hoffe sehr, dass wir mit der von uns beantragten
Aktuellen Stunde zu einem Konsens in dieser Frage beitragen. Das ist der Sinn dieser Aktuellen Stunde. Wenn
wir einen Konsens erzielen könnten, wären wir in der
Lage, kurzfristig entsprechende gesetzliche Regelungen sofern sie notwendig sein sollten - durchzusetzen.
Vielen Dank.
({9})
Es spricht jetzt der
Innensenator der Freien und Hansestadt Hamburg,
Hartmuth Wrocklage.
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Hamburg hatte die Arbeit an einer neuen Hundeverordnung in Umsetzung des Beschlusses der Innenministerkonferenz von Anfang Mai, Herr Westerwelle, eine Beschlussfassung zum Schutz der Bevölkerung vor gefährlichen Hunden, sehr weit vorangetrieben, als am Montag
dieser Woche der sechsjährige Volkan beim Spielen auf
dem Schulhof vor den Augen seiner Klassenkameraden
von zwei Kampfhunden angegriffen und getötet wurde.
Hamburg trauert um diesen kleinen Jungen.
Aber es gibt auch Zorn, Empörung und Betroffenheit.
Ich habe das am Montag in Wilhelmsburg selber erlebt. Es
ist tragisch, dass die neue Hamburger Hundeverordnung,
vom Senat am vorigen Mittwoch beschlossen, für den
kleinen Volkan zu spät kommt. Es macht ihn auch nicht
lebendig, dass der Hundehalter, der die noch im Mai erteilten Auflagen - Maulkorberlass, Leinenzwang - in verantwortungsloser Weise ignoriert hat und jetzt unter dem
Verdacht fahrlässiger Tötung in Haft sitzt.
Die neue Hamburger Regelung, jetzt wohl die schärfste in Deutschland, enthält folgende Eckpunkte: Als Sofortmaßnahmen gelten für alle in der Verordnung aufgeführten Hunderassen und -kreuzungen ein Maulkorb- und
Leinenzwang. Drei Hunderassen und ihre Kreuzungen
gelten ab sofort und unwiderleglich als gefährliche
Hunde, deren Haltung verboten ist. Die Möglichkeit zum
Nachweis eines so genannten berechtigten Interesses an
der Haltung eines Hundes dieser drei Rassen ist wegen
des Eingriffs in das Eigentum vorgesehen. Ein solches Interesse wird in der Praxis aber kaum festgestellt werden
können.
Bei zehn weiteren Rassen wird die Gefährlichkeit vermutet. Halter dieser Rassen müssen innerhalb von fünf
Monaten bei den Ordnungsbehörden folgende Nachweise
erbringen: ein berechtigtes Interesse an der Haltung von
Kampfhunden, die eigene Sachkunde und die Zuverlässigkeit des Hundehalters, die konkrete Ungefährlichkeit
des Hundes, die erfolgte Sterilisation bzw. Kastration des
Hundes und eine Haftpflichtversicherung für den Hund.
Erst wenn diese Nachweise erbracht sind, wird eine Erlaubnis zur Haltung des Hundes erteilt.
Der Hund wird durch einen implantierten fälschungssicheren Chip gekennzeichnet. Ordnungsbehörden und
Polizei erhalten entsprechende Lesegeräte für den Chip.
Zucht, Ausbildung und Handel mit allen in der Verordnung genannten Rassen sind verboten. Bei Verstoß gegen
diese Regelungen drohen die sofortige Einziehung des
Hundes und gegebenenfalls seine Tötung. Außerdem drohen empfindliche Ordnungsstrafen für den Halter, die wir
künftig bis auf 100 000 DM hinaufsetzen wollen. Wir
werden unsere Steuergesetze erheblich verschärfen. Die
Steuer für den Kampfhund wird spürbar heraufgesetzt und
beträgt künftig 1 200 DM im Jahr.
Trotz dieser landesrechtlichen sehr strengen Regelungen sind wir jetzt auf eine bundesrechtliche Flankierung
angewiesen. Hierbei geht es vor allem um ein strafbewehrtes Zucht- und Importverbot und um Regelungen auf
der europäischen Ebene. Darin stimme ich Ihnen zu, Herr
Dr. Westerwelle. Ich möchte mich ausdrücklich bei meinem Kollegen, dem Bundesinnenminister Schily, bedanken, der diese Initiative mit uns zusammen vorangetrieben und in das Bundeskabinett eingebracht hat.
({0})
- Ich weiß nicht, ob Sie auch gleich noch klatschen.
An dieser Stelle möchte ich aber auch ein Wort an jene
im Bund richten - ich spreche Herrn Dr. Westerwelle direkt an -, die in den letzten Tagen anklagend auf die Landesgesetzgeber verwiesen haben. Wäre der Schuljunge
am Montag in Hamburg nicht von einem Kampfhund,
sondern durch ein Butterflymesser getötet worden, dann
könnte die Freie und Hansestadt auf ihren entsprechenden
Gesetzentwurf zum Verbot gefährlicher Messer verweisen, der seit langem auf Bundesebene anhängig ist und
dessen Beratung immer wieder verschoben wird.
({1})
Hier gibt es einen Beruf des Bundesgesetzgebers zur Gesetzgebung. Eine Vorschaltregelung ist aus meiner Sicht
dringend erforderlich.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Erfolg
der neuen Hundeverordnung wird in allen Ländern an
ihrem Vollzug gemessen werden. Deshalb müssen die
zuständigen Behörden, Ordnungsämter und Polizei, die
neuen Verordnungen jetzt überall konsequent umsetzen
und dabei eng zusammenarbeiten. Eine entsprechende
Verstärkung der Kapazitäten ist erforderlich.
Wir brauchen jetzt auch eine stärkere Kooperation mit
den Tierschutzorganisationen, wir brauchen die Einsicht
und die Mithilfe der Bevölkerung und wir brauchen die
Unterstützung der Medien beim Kampf gegen Kampfhunde.
In diesen Tagen ist die Stimmung in weiten Teilen der
Öffentlichkeit sehr eindeutig: weg mit den Kampfhunden!
Aber wir müssen uns klar machen, dass nicht wenige
Hundehalter den Rechtsweg beschreiten werden. Das bedeutet, dass es in manchen Fällen schnelle Lösungen nicht
geben wird. Eine große Zahl von Hunden wird eingezogen und eingeschläfert werden müssen. Das wird nicht
einfach sein, auch nicht in der öffentlichen Vermittlung.
Wir alle kennen aus der Vergangenheit entsprechende Tränendrüsenkampagnen der einschlägigen Medien.
In dieser Woche ist die Stimmung in Gesellschaft und
Politik eindeutig, aber in den kommenden Wochen kann
diese Stimmung durchaus umschlagen. Wir dürfen uns
aber auch dann, meine Damen und Herren, nicht beirren
lassen.
Vielen Dank.
({2})
Für die Fraktion der
CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Wolfgang Bosbach.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kampfhunde müssen weg, runter von unseren Straßen, Schulhöfen und
Spielplätzen, raus aus den Parks und anderen öffentlichen
Anlagen, raus aus den öffentlichen Verkehrsmitteln. Es
geht nicht darum, ob jeder einzelne Hund einer jeden
Rasse, über die wir heute sprechen, ein besonders gefährliches Tier ist oder nicht, sondern es geht schlicht und ergreifend darum, dass es nun einmal ganz bestimmte Hunderassen gibt, die noch gefährlicher sind als andere. Die
gefährlichsten müssen im wahrsten Sinne des Wortes aus
dem Verkehr gezogen werden, und zwar sofort, flächendeckend und auf Dauer.
({0})
Wir brauchen unter anderem ein Verbot der Züchtung,
der Kreuzung, ein Importverbot, ein Verbot des gewerblichen Handels mit diesen Tieren sowie spürbare Strafen
für Verstöße gegen diese Verbote. Daneben brauchen wir
strengere Kontrollen, ob die Vorschriften, die Auflagen
tatsächlich eingehalten werden. Denn was nützt ein Gebot
oder Verbot, wenn wirksame Kontrollen und Sanktionen
fehlen?! Alle anderen begleitenden Überlegungen wie
Anlein- und Maulkorbzwang, höhere Hundesteuern für
bestimmte Rassen mögen sinnvoll sein, sind jedoch für
sich allein genommen unter keinem Gesichtspunkt eine
wirksame Maßnahme.
Es muss unser gemeinsames Anliegen sein, dass bestimmte Rassen zumindest mittelfristig von der Bildfläche verschwinden, wie es in Frankreich und Dänemark
geschehen ist. Diese Kampfhunde sind ungesicherte Waffen auf vier Pfoten, unberechenbar und in vielen Fällen
von ihrem Halter auch nicht zu beherrschen. Sie sind eine
tödliche Gefahr.
Bitte jetzt kein Mitleid an der falschen Stelle, getreu
dem Motto: Nicht das Tier, sondern der Mensch ist das
Problem! Unser Mitgefühl muss dem toten Jungen und
seinen Eltern gehören und nicht dem Besitzer des Hundes.
Es mag ja durchaus sein, dass sich in vielen Fällen das eigentliche Problem am anderen Ende der Leine auf zwei
Beinen befindet, aber dieser Gedanke hilft uns nicht weiter und löst kein Problem.
Eine derartige Argumentation erinnert an die amerikanische Waffenlobby, die ja auch regelmäßig verkündet,
dass Schusswaffen nicht als solche gefährlich seien, sondern erst dann, wenn sie in die falschen Hände gerieten.
({1})
Aus guten Gründen haben wir uns dieser Argumentation
nie angeschlossen. Bei uns ist das Tragen von Schusswaffen grundsätzlich verboten,
({2})
weil viel zu gefährlich, und nicht etwa deshalb erlaubt,
weil man nicht nur mit diesen Waffen, sondern beispielsweise auch mit einem Messer töten könnte.
Kurzum: Es geht in der heutigen Debatte und im Grundsätzlichen nicht um Tierschutz, sondern um Menschenschutz.
({3})
Es ist nicht länger hinnehmbar, dass Menschen - und hier
vor allem Kinder - in Angst und Schrecken versetzt, verletzt oder gar getötet werden, nur weil einige - ich betone:
einige - Hundehalter nicht mehr alle Latten am Zaun haben. Was muss eigentlich noch passieren, damit sich endlich überall die Erkenntnis durchsetzt, dass es so nicht
weitergehen kann? Spätestens nach dem tragischen VorSenator Hartmuth Wrocklage ({4})
fall in Hamburg muss jeder wissen, dass Umdenken dringend nötig ist. Das Gegenteil ist der Fall. Ich zitiere aus
der „Berliner Zeitung“ von gestern:
Einen Maulkorbzwang für Kampfhunde lehnt
Heike I. ab. „Ein Maulkorb erzeugt bei den Tieren
Frustration und Aggression. Das macht sie gefährlich.“ Ihren eigenen beiden Kampfhunden, einem
Stafford-Mischling und einem American Stafford,
will die Tierheimmitarbeiterin jedenfalls keinen
Maulkorb anlegen. „Wenn ich kontrolliert werde, behaupte ich einfach, dass es sich bei ihnen um einen
Jagdhund und um einen Boxermischling handelt.
Wer will das überprüfen?“
Das, meine Damen und Herren, ist genau die Denke,
die sofortiges und konsequentes Handeln notwendig
macht. Es geht nicht um eine Diskriminierung von Hunderassen - was immer das sein mag - oder um eine Kriminalisierung von Hundehaltern - ein völlig abwegiger
Gedanke -, sondern ausschließlich um einen wirksamen
und dauerhaften Schutz unserer Mitbürger vor Gefahren,
um den Schutz von Rechtsgütern, die wichtiger sind als
der merkwürdige Wunsch eines Hundehalters, sein Leben
mit einem Pitbull, einem Tosa-Inu oder einem Mastiff zu
teilen. Für die Jungs aus dem Rotlichtmilieu mag es ein
Albtraum sein, statt mit einem Bullterrier mit einem Pudel über die Reeperbahn zu laufen. Für mich ist das kein
Albtraum und für die Bevölkerung wäre es ein Segen.
({5})
Wir brauchen jetzt keine langen Debatten und keine
zähen Verhandlungen über die Frage, ob man nicht die
eine oder andere Rasse als „besonders gefährlich“ oder
lieber nur als „normal gefährlich“ einstufen sollte oder
nicht. Wir brauchen jetzt rasche und klare Entscheidungen. Die vielfach geäußerte Kritik, dass die Politik und die
zuständigen Behörden mit den längst überfälligen Entscheidungen zu lange gewartet hätten, dürfen wir nicht
einfach mit einem Schulterzucken, mit dem Hinweis auf
komplizierte Zuständigkeitsregelungen, die es ja in der
Tat gibt, oder mit dem Hinweis auf die einschlägige
Rechtsprechung abtun. Die Kritik ist berechtigt. Die
„Süddeutsche Zeitung“ hat mit der in einem Kommentar
gestellten Frage „Warum erst jetzt?“ völlig Recht.
Treffen wir wenigstens jetzt so schnell wie möglich die
notwendigen Entscheidungen! Die Union wird die Regierung in diesem Vorhaben gerne und aus Überzeugung unterstützen.
({6})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege Cem
Özdemir.
Frau
Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist bedauerlich, dass es so lange gebraucht hat, bis Maßnahmen ergriffen werden können, die überfällig waren. Hätten die
Länder, die Parteien und die Politiker früher reagiert,
wären dem einen oder anderen Verletzungen erspart geblieben, die ihn ein Leben lang entstellen werden, würde
der kleine Volkan vielleicht heute noch leben und anderen
wären Angst und Schrecken, die sie in den letzten Jahren
begleiteten, erspart geblieben. Insofern ist es gut, dass wir
uns heute mit der Problematik Kampfhunde beschäftigen.
Ich glaube aber, dass wir damit früher hätten anfangen
müssen. Diese Selbstkritik steht uns allen gut zu Gesicht.
Ich möchte hier auch noch einmal die Länder ansprechen. Ich finde es gut, dass die Bayern vorangegangen
sind und die Hamburger jetzt mit einem Maßnahmenpaket, bei dem man nichts mehr ergänzen kann, auf dieses
Problem aufmerksam machen. Die anderen Länder sollten aber wenigstens in der Lage sein, bei diesen beiden
Ländern abzuschreiben. Das kann man - bei allem Respekt vor dem Föderalismus - durchaus einfordern. Abschreiben muss möglich sein. Bitte setzen Sie die Regelungen, die die Bayern und Hamburger gefunden haben,
um! Dabei handelt es sich um Regelungen, denen man im
Grunde genommen nichts mehr hinzufügen muss. Insofern sage ich: Guten Morgen, liebe Länder! Jetzt ist es
Zeit, dieses umzusetzen.
Meine Fraktion hat bereits vor zehn Jahren einen Antrag eingebracht, in dem sie ein Kampfhundeverbot gefordert hat. Hätte man diesen Antrag damals angenommen, dann hätten viele Kinder keine psychischen Schäden, die dadurch entstanden sind, dass sie Angst vor
diesen Hunden hatten, wenn sie sie in der Fußgängerzone
sahen, davongetragen und hätten Jogger keine Angst haben müssen, im Tiergarten zu joggen. Das alles wäre uns
erspart geblieben. Ich finde es absurd, dass wir mittlerweile eine Situation haben, in der sich Eltern darüber Gedanken machen müssen, wie sie ihre Kinder auf Kampfhunde vorbereiten. Umgekehrt würde viel eher ein Schuh
daraus: Wir wollen keine Kinder dressieren, sondern wir
wollen, dass diese Hunde aus dem Stadtbild und aus unserem Land verschwinden. Ich sehe keinen Grund - und
mir wurde bisher auch noch kein Grund genannt -, wofür
man Kampfhunde benötigt. Ich bin mir sicher, dass wir
uns alle darüber einig sind, dass diese Tiere der Vergangenheit angehören müssen.
({0})
Ich will aber auch nicht so tun, als ob wir die Einzigen
sind, die sich mit diesem Thema beschäftigt haben. Nein,
meine Damen und Herren, auch die viertgrößte Fraktion
des Hauses, die F.D.P., hat sich nicht erst im Rahmen dieser Aktuellen Stunde mit diesem Thema beschäftigt, Herr
Kollege Westerwelle, sondern auch früher schon einmal.
Ich möchte aus einer sehr bemerkenswerten Erklärung
vom 4. Mai 2000 zitieren. Dort wird beispielsweise gesagt: „Verbot von Kampfhunden wirkungslos - Leinenzwang in der Fußgängerzone“. Angesichts der Forderung
der Umweltministerin von Nordrhein-Westfalen, Frau
Bärbel Höhn, nach einem Verbot von Kampfhunderassen - man sieht, dieses Verbot war auch vorher schon im
Gespräch - erklärte dieselbe Abgeordnete von der F.D.P.:
„keine Ausrottung von Hunderassen“.
Es wäre schon ganz gut gewesen, Herr Westerwelle,
wenn Sie sich auch dazu geäußert hätten. Es wäre gut gewesen, Sie hätten das eine oder andere Wort dazu gefunden, dass es Ihre Fraktion war, die sich vor nicht allzu
langer Zeit genau gegen das ausgesprochen hat, was heute
der Innenminister vorschlägt, was einige der Länder
schon gemacht haben und was überfällig ist. Die Kampfhunde müssen weg. Wir brauchen kein falsches Verständnis für Kampfhunde oder für ihre Halter. Die Kinder und
ihre Eltern müssen sich auf den Spielplätzen sicher
fühlen. Sicherheit ist jetzt angesagt.
Ich möchte noch auf einen anderen Punkt eingehen.
Die Forderung nach hohen Steuern ist nicht sinnvoll, da
sich Zuhälter mit dickem Geldbeutel diese staatlich anerkannten Luxusköter leisten können. Der Charakter eines
Halters hängt nicht von seinem Geldbeutel ab. Das Drehen an der Steuerschraube ist nicht die Lösung des Problems. Wir müssen andere Lösungen finden. Über einen
Maßnahmen-Mix wurde ja schon gesprochen.
Auch die Reaktion der Versicherungswirtschaft hat
mich sehr geärgert. Der Verband hat sich gegen eine Haftpflichtversicherung ausgesprochen. Es handelt sich meiner Meinung nach um ein unterentwickeltes Verantwortungsbewusstsein, das hier deutlich wird. Wenn schon die
schlimmsten Verletzungen, die Menschen davon getragen
haben, nicht rückgängig zu machen sind, dann müssen
wenigstens die Angehörigen einen Anspruch darauf haben, schnell, unkompliziert und unbürokratisch Schmerzensgeld zu erhalten. Daher mein Appell an die Versicherungswirtschaft, ihre Haltung zu überdenken.
Der Streit - Herr Kollege Bosbach hat schon zu Recht
darauf hingewiesen - angesichts der Frage „Was ist gefährlicher: die Hunde oder die Hundebesitzer?“ ist ein
Streit, den wir uns nicht mehr leisten können. Wir müssen
auf beiden Seiten gleichzeitig ansetzen. Neben bestimmten Hunderassen, die wir nicht mehr dulden wollen, müssen wir uns auch die Hundebesitzer anschauen. In diesem
Zusammenhang ist es sinnvoll, eine Art Hundeführerschein einzuführen. Bestimmte Menschen sind nämlich
schlicht und ergreifend charakterlich überfordert, bestimmte Hunde zu halten. Wir müssen durchsetzen, dass
solche Menschen, die offensichtlich eine charakterliche
Symbiose mit ihrem Hund eingehen, solche Hunde zukünftig nicht mehr ihr Eigen nennen dürfen.
({1})
Zum Schluss: Das Waffenrecht regelt bereits heute die
Berechtigung für den Besitz beispielsweise eines Luftgewehrs oder eines Maschinengewehrs. Der Gradmesser ist
eine mögliche Gefährdung, ein möglicher Schaden oder
gar eine Kriegstauglichkeit. Ein „randalierender“ Dackel
kann - auch wenn er will - gar nicht so große Schäden anrichten wie beispielsweise ein Pitbull im Blutrausch. Wir
müssen daher jetzt bei den besonders gefährlichen Tieren
ansetzen. Die Maßnahmen liegen auf dem Tisch. Es wird
Zeit, dass wir handeln.
({2})
Das Wort für die PDSFraktion hat der Kollege Dr. Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gilt zu unterbinden - und zwar
strikt -, dass Kampfhunde verletzen und töten. Natürlich
gibt es Millionen Hundehalter, die sich sehr verantwortungsbewusst verhalten und die das Verhältnis von
Mensch und Hund auf eine, wie ich finde, über Jahrhunderte - und auch in den letzten Jahrzehnten - sehr vernünftige Weise gestaltet haben. Wenn sie wollen, dass dieser Ruf erhalten bleibt, dann sollten sie uns eindeutig unterstützen und sich nicht gegen uns stellen, wenn es darum
geht, das Wirken von Kampfhunden zu unterbinden. Sie
sollten dies tun, gerade um nicht mit denen auf eine Stufe
gestellt zu werden, die sich nicht verantwortungsbewusst
verhalten.
Ich erinnere an einen Vorfall in Berlin, bei dem wir zu
wenig aufgeschrien haben. Als der Berliner Senat und das
Abgeordnetenhaus vorhatten, Maßnahmen gegen Kampfhunde einzuleiten, planten Hundehalter eine Demonstration mit Hunden und einem Judenstern daran. Das war
empörend und skandalös. Dazu hätten wir damals ganz
deutlich Stellung nehmen müssen.
({0})
Ich sage aber auch: Rasseverbot ist zu wenig. Ich
werde dazu noch etwas sagen. Zunächst einmal zu dem
Ruf nach Strafgesetzen.
Im Grunde genommen geht es gar nicht um Strafgesetze. Wir haben schon den Mordparagraphen, den Totschlagparagraphen, die Paragraphen gegen schwere, einfache und fahrlässige Körperverletzung sowie gegen fahrlässige Tötung. All diese Paragraphen können je nach
Einzelfall Anwendung finden.
Worum es allerdings geht, sind das Verbot einer Zucht
von Kampfhunden, einer Abrichtung von Hunden zu
Kampfhunden und einer entsprechenden Haltung sowie
entsprechende Importverbote und Handelsverbote. Wenn
man solche Verbote erlässt, muss die Verletzung eines
solchen Verbotes natürlich auch unter Strafe gestellt werden, damit es überhaupt eine entsprechende Bedeutung
erlangt.
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass
Kampfhunde zunächst einmal keine „Erfindung“ von Privatbesitzern sind, sondern in der Geschichte durchaus
auch vom Staat, von der Polizei häufig auf solche „Mittel“ zurückgegriffen worden ist, sich das Ganze dann irgendwann privatisiert hat
({1})
- völlig richtig, das habe ich doch gar nicht bestritten und daraus jetzt ein völlig unkontrollierter Vorgang geworden ist, den es zu unterbinden gilt. Nur, im Kern müssen wir sehen, dass es schon früher Initiativen gab, auf die
völlig unzureichend zurückgegriffen wurde. Die Tierschutzverbände fordern schon seit zehn Jahren ein Heimtierzuchtgesetz. Aber es ist nichts passiert. Mit dem
Gesetz sollten die Lücken hinsichtlich Zucht, Haltung,
Import und Handel mit Hunden geschlossen werden. Es
sollte auch ein Kastrationsgebot für Hunde geben, deren
Halter über keine Zuchtgenehmigung verfügen. Eine solche Zucht muss ohnehin verboten werden.
Notwendig sind auch eine Registrierungs- und Chippflicht sowie eine Haftpflichtversicherung. Darauf wurde
schon mehrfach hingewiesen.
Über die Gefahr aggressiv gezüchteter Hunde wird
nicht erst seit gestern diskutiert. Immer wieder wurden
Menschen angegriffen. Es geht darum, zu verhindern,
dass jetzt, in dieser aufgeputschten Situation, die Hundehalter ihre Kampfhunde einfach auf der Strasse absetzen,
bei Tierheimen abgeben, die völlig überfordert sind, das
Problem also einfach von sich weg in eine unbekannte Zukunft delegieren. Auch das ist nicht hinnehmbar. Das will
ich ganz deutlich sagen.
Die PDS hat im Berliner Abgeordnetenhaus einen Antrag eingebracht, bei dem es um eine Bundesratsinitiative
ging, schnellstmöglich einen Hundeführerschein für das
Halten und Führen von Hunden bestimmter Kategorien
einzuführen. Wir glauben, dass das wirklich zwingend erforderlich ist. Auch andere Dinge sind mit hoher Verantwortung verbunden. Ich nenne einmal das Auto - wir lassen ja auch nicht jeden einfach so fahren -, das man sehr
verantwortungsbewusst benutzen oder aber auch zu einer
Kampfmaschine machen kann. Das hängt in der Regel
vom Fahrer ab. Das eigentliche Problem ist also nicht der
Hund, sondern der Halter. Welches Statussymbol will er
haben? Wogegen will er sich angeblich verteidigen oder
womit will er versuchen, eigene Schwäche zu korrigieren
und Aggressivität nach außen und eine Stärke auszustrahlen, die er selbst nicht besitzt? Hier geht es um menschliche Verhaltensweisen in negativer Hinsicht, die deutlich
zugenommen haben.
Deshalb genügt es nicht, allein über Hunde zu diskutieren, sondern wir müssen uns auch über die Halter Gedanken machen, über eine bestimmte Gruppe von Haltern, über eine bestimmte Aggressivität, die in unserer
Gesellschaft generell zugenommen hat, die sich jetzt auch
am Umgang mit Hunden zeigt. Wenn wir nicht versuchen, die gesellschaftspolitischen Probleme, die dahinter
stecken, aufzuklären und wirksam zu bekämpfen, werden
wir in dieser Frage nicht weiter kommen. Heute ist es der
Hund, morgen kann es ein anderes Tier oder ein anderes
Instrument sein. Also müssen wir etwas tiefer gehen, als
das in den vergangenen Tagen der Fall war.
({2})
Wir sind übrigens auch für einen Sachkundenachweis.
Das scheint uns dringend erforderlich zu sein, denn häufig werden solche Hunde auch unter Verletzung des Tierschutzrechtes gezüchtet und gehalten. Sie werden ja erst
scharf gemacht, indem sie partiell gequält werden. Auch
das muss man sehen. Auch dagegen muss verstärkt etwas
unternommen werden.
Lassen Sie uns also zügig handeln, konsequent handeln, aber auch mit Besonnenheit handeln. Lassen Sie uns
nicht von vornherein bestimmte Rassen von einer Regelung ausnehmen. Ich sage hier ganz deutlich: Auch der
Deutsche Schäferhund kann ein Kampfhund sein. Wir
sollten nicht aus irgendwelchen nationalen oder historischen oder kulturellen Gefühlen diese Rasse ausnehmen,
sondern sagen: Bei allen Hunderassen, die sich dazu eignen - einschließlich Mischlingen -, muss das Gesetz greifen. Hier muss es Verbote geben, hier muss es bestimmte
Zwänge bei der Haltung und bei der Zucht geben. Es muss
auch Kontrollen geben. Die Stellen, die die Kontrollen
durchführen sollen, wie übrigens auch in Hamburg hinsichtlich des Maulkorbzwanges etc., sind so armselig besetzt, dass sich auch hier etwas ändern muss. Es nützt uns
nämlich nichts, Verbote auszusprechen, wenn wir nachher
überhaupt nicht in der Lage sind, deren Einhaltung auch
nur annähernd zu kontrollieren. Auch das muss neu und
klar geregelt werden.
({3})
Wenn wir in dieser Hinsicht besonnen, aber auch sehr
zügig und sehr konsequent vorgehen, dann könnten wir
dieses Problem lösen. Wir sollten dabei aber nie vergessen: Es geht letztlich um die Aggressivität von Menschen
und deshalb um die Frage, wie wir die Aggressivität in unserer Gesellschaft abbauen können.
Danke schön.
({4})
Nächster Redner ist
der Kollege Rolf Stöckel von der SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Wir haben alle das Bild vom toten Volkan vor
Augen. Dieses Bild hat die gesamte Republik erschüttert,
weil die Medien es vervielfältigt haben. Es hat die Kinder
in dieser Republik traumatisiert. Wie viele Eltern - da
schließe ich mich ausdrücklich ein - haben sich gefragt:
Was wäre, wenn meinen Kindern so etwas Schreckliches
passiert wäre?
Viel schlimmer: Wir wissen alle - es ist auch schon gesagt worden -, dass es in den letzten zehn Jahren zu Tausenden solcher grausamer Unglücksfälle gekommen ist,
mit schwersten Verletzungen, Verstümmelungen und immer wieder mit Todesfolge. Allein in Berlin wurden jährlich circa 1 800 Hundebisse von der Statistik erfasst. Wir
wissen, dass Kinder davon überproportional betroffen
sind; das gilt auch für alte Menschen.
Mit Recht fragen wir uns also alle, warum das nicht
verhindert werden kann, warum die Politik und die Behörden nach zehn Jahren zunehmender Zwischenfälle und
Diskussionen und nach mehrmaligen Verschärfungen der
Bestimmungen es nicht vermocht haben, diese unheilvolle Entwicklung zu unterbinden. Ich meine, die Menschen erwarten seit langer Zeit zu Recht, dass die Politik
auf diesem Feld ihre Handlungsfähigkeit und auch ihre
kurzfristige Durchschlagskraft unter Beweis stellt.
Warum ist es in unserem Land nicht möglich, ein Kampfhundeverbot, wie es etwa in Frankreich seit zehn Jahren
existiert, durchzusetzen?
Natürlich müssen sich alle fragen und fragen lassen, ob
sie ihrer Verantwortung in diesem Punkt gerechtgeworden
sind oder ob die Verantwortung nur nach ganz unten verschoben wurde. Wie lange werden Betroffenheit und Empörung diesmal andauern? Wie lange werden der hektische Aktivismus und der Verdacht rein populistischer Reaktion diesmal anhalten? Oder wird sich wirklich spürbar
etwas ändern?
Was lässt denn das Problem mit aggressiven, bissigen
Hunden spezieller Züchtungen immer unerträglicher werden? Sind es die unterbesetzten, inkonsequenten Ordnungsbehörden vor Ort, die mehr oder weniger ausreichende Länderverordnungen zum Leinen- und Maulkorbzwang nicht durchsetzen und deren Nichteinhaltung nicht
sanktionieren können? Sind es die Interessen der hiesigen
Züchterlobby, ein unkontrollierbarer Schwarzmarkt? Ich
nenne hier besonders die ehemaligen Ostblockländer. Ist
es ein Bedarf, der vom kriminellen Milieu ausgeht, oder
sind es minderwertigkeitskomplexbeladene, aggressive
oder auch sicherheitsfanatische Zeitgenossen in sozialen
Brennpunkten, die über angedrohte Ordnungsstrafen nur
müde lächeln? Das alles ist angesprochen worden.
Aber vielleicht ist es auch die - nicht nur den Deutschen anhängende, das muss man hier sagen - Tierliebe,
die den liebevollen Gefährten Hund, das kinderliebe Familienmitglied nicht von pervers gezüchteten und gehaltenen Bestien unterscheiden kann. - Erinnern wir uns: In
Deutschland gab es immer eine Vorschrift für die Mindestgröße von Schäferhundezwingern, aber leider keine
für die Mindestgröße von Kinderzimmern. - Es ist wohl
eine Mischung aus allem.
Wie krank ist eine Gesellschaft eigentlich, die die Freiheit der Killerhundehaltung, egal, ob durch angeblich zu
autorisierende Villenbesitzer oder labile Machos, über
den Schutz und die körperliche Unversehrtheit von Menschen, insbesondere von Kindern, im öffentlichen Raum
stellt, darüber, sich frei von Angst vor aggressiven Hunden in seiner Stadt bewegen zu können? Es ist richtig: Der
Staat soll und kann nicht jedes Lebensrisiko, auch nicht
für Kinder, im Keim ersticken. Das wäre kein menschenwürdiges Leben, in dem Kinder Erfahrungen machen und sich zu selbstverantwortlichen Persönlichkeiten
entwickeln sollten.
Aber da sagt in diesen Tagen ein Landespolitiker, Kinder sollten sich - und Eltern sollten sie dazu anhalten - bei
Gefahr entsprechend ruhig verhalten, nicht schreien und
weglaufen, wenn ein aggressiver Hund auf sie zukommt;
es sei ja nicht artgerecht, wenn Hunde grundsätzlich an
der Leine oder mit Maulkorb laufen müssten. Ich frage
uns alle: Wo leben wir eigentlich?
({0})
Ist nicht wenigstens der vertretbare und realisierbare Kinderschutz in einer zivilisierten Gesellschaft durch den
Staat zu organisieren? Oder sehe ich das falsch - und die
Haltung von Killerhunden ist unverzichtbarer Teil der
natürlichen Vielfalt, der Lebensqualität, der Freiheit des
Einzelnen, die im Bedarfsfall sogar mit „Hundefutter auf
Sozialhilfe“ gefördert wird? Sind Kinder selbst schuld,
wenn sie lebhaft sind, fangen spielen, laufen, springen
und schreien und deshalb wie ein weglaufendes Kaninchen den Jagdinstinkt und die Blutrünstigkeit der Killerhunde auslösen?
Ich meine, wir müssen den immer wieder beschworenen Auftrag ernst nehmen, Deutschland kinder- und familienfreundlicher zu machen. Als Kinderbeauftragter der
SPD-Fraktion - ich glaube, dass ich hier weitgehend auch
für die Kollegen der Kinderkommission spreche - frage
ich Sie ernsthaft, warum es diese von Menschen gezüchteten und immer wieder unverantwortlich gehaltenen
Bestien überhaupt unter uns geben muss. Wir wissen, dass
alle bisherigen Maßnahmen und Sanktionen, wahrscheinlich auch die jetzt diskutierten, weder konsequent noch
bundesweit durchführbar sind und deshalb auch zukünftig die schlimmsten Angriffe, gerade auf Kinder, nicht
verhindert werden können.
Daher kann es nach meiner Abwägung nur eine Konsequenz geben - ich begrüße, dass Herr Westerwelle und
andere Kollegen um einen Konsens gebeten haben -: das
strafbewehrte bundesgesetzliche Verbot der Einfuhr,
Züchtung und Haltung der als potenziell gefährlich eingestuften Hunderassen und aggressiv gezüchteten Hunde
als zivilisationsfeindliche Produkte menschlicher Verirrung. Wenn wir uns in diesem Hause dazu durchringen
könnten, dann wäre der grausame Tod des kleinen Volkan
Kaya am Montag dieser Woche nicht ganz sinnlos gewesen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Nächster Redner für
die Fraktion der CDU/CSU ist der Kollege Dr. Hans-Peter
Uhl.
Frau Präsidentin!
Meine verehrten Damen und Herren! Jetzt, nachdem etwas passiert ist, haben es alle gewusst und sind sich alle
darin einig, dass etwas geschehen muss. Doch, Herr
Innensenator Wrocklage, noch vor einer Woche wäre es
für einen Menschen problemlos möglich gewesen, mit einem römischen Kampfhund, mit einem Mastino Napoletano, durch die Hamburger Innenstadt zu gehen. Die Polizei wäre nicht eingeschritten. Wäre derselbe Mensch mit
einem Löwen durch die Hamburger Innenstadt gegangen,
wäre die Polizei - mit Recht - natürlich sofort eingeschritten. Das kann nicht richtig sein; auch Kollege
Westerwelle hat das schon festgestellt. Jetzt wollen alle
ganz schnell handeln.
Im Innenausschuss haben der Kollege Wiefelspütz und
Staatssekretär Körper richtiger- und dankenswerterweise
gesagt, man müsse in diesem Zusammenhang von Bayern
lernen. Es hat sich in der Tat leider wieder einmal bewahrheitet, dass in Bayern beim Thema Sicherheit und
Ordnung, also auch in diesem Lebensbereich, die Uhren
anders gehen.
Ich muss einen weiteren Punkt hinzufügen: Eigentlich
müsste es heißen: von München lernen. Denn es war Ihr
Parteifreund, Herr Westerwelle, und mein damaliger
Stadtratskollege Hildebrecht Braun, der Ende der 80erJahre gesagt hat, man müsse etwas gegen Kampfhunde in
der Großstadt München tun. Daraufhin waren sich im
Kreisverwaltungsausschuss alle einig, dass etwas geschehen müsse. Das erfolgte dann auch 1990 und 1991.
Daraus entstand die jetzt von allen gelobte bayerische
Kampfhundeverordnung.
Was lernen die Kommunalpolitiker aus allen Parteien
daraus? In den großen Kommunen tauchen die Probleme
als Erstes auf. Hier werden die erforderlichen Regelungen
geboren. In Bayern gibt es seither das Verbot der Zucht
und Kreuzung solcher Hunderassen und, was noch wichtiger ist, das Scharfmachen und die Aggressionsdressur
bedürfen einer besonderen Erlaubnis. Diese Erlaubnis
wird in aller Regel nicht erteilt. Denn es muss ein berechtigtes Interesse vorliegen, einen solchen Hund zu besitzen. Dazu ist eine Bedürfnisprüfung erforderlich. Das
heißt, wir gehen mit diesem Problem so um, als sei der
Kampfhund eine Waffe. Das ist der einzig richtige Umgang mit diesem Thema.
({0})
Nun liegt ja ein entsprechender Beschluss der Innenministerkonferenz vor und jetzt will man auch in Hamburg, Herr Wrocklage, ganz schnell handeln. Ich finde es
schon empörend, dass Sie hier nichts, aber auch gar nichts
über das sagen, was Sie im Jahre 1993, nachdem Sie vor
dem Verwaltungsgericht Hamburg mit Ihrer ursprünglichen Vorlage gescheitert sind,
({1})
und was Sie in den Jahren 1994, 1995, 1996, 1997, 1998
und 1999 nicht getan haben, aber hätten tun sollen. Was
haben Sie in den letzten sieben Jahren getan? Dass Sie
jetzt, vor allem nach dem Tod des Kindes, ganz schnell etwas tun, das ist selbstverständlich. Sie wären ja töricht,
wenn Sie jetzt nichts täten. Bisher aber hat es am politischen Durchsetzungswillen gefehlt. Man wollte die Hamburger Bevölkerung nicht so schützen, wie es sich gehört
und wie wir das in Bayern tun.
Warum, Herr Özdemir, verschweigen Sie, dass die
Hamburger Grünen es noch im Mai dieses Jahres, also vor
dem Unglück, abgelehnt haben, die bestehende Hamburger Verordnung zu verschärfen?
({2})
Das hätten Sie ehrlichkeitshalber hinzufügen sollen, statt
die F.D.P. anzugreifen. Nein, wir fordern ein bundes- und
europaweites Handels- und Zuchtverbot sowie ein Importverbot von Kampfhunden; das wurde schon angesprochen.
Was mir als Praktiker, nachdem ich elf Jahre für den
Vollzug zuständig war, wichtig ist, ist Folgendes:
Was nützen die besten Gesetze, wenn sie nicht konsequent
vollzogen werden?
({3})
Wenn es stimmt, was in der Presse steht, dann ging es
bei dem Fall in Hamburg um einen 23-jährigen Hundehalter, der wegen mindestens 18 einschlägiger Delikte polizeibekannt war: Raub, Erpressung und Körperverletzung sind Delikte, die man typischerweise mit Waffen begeht, sei es mit einer Schusswaffe, sei es mit einem
Kampfhund. Dieser Hundehalter hat einen Brief von der
Ordnungsbehörde bekommen - welch mächtiges Einschreiten! -, in dem ein Leinen- und Maulkorbzwang verfügt wurde. Man wusste aber, dass er auch dagegen verstieß.
Angesichts dessen, meine Damen und Herren, braucht
man gar keine Kampfhundeverordnung - auch in Hamburg nicht. Das ist eine Frage des unmittelbaren Vollzugs.
Weil da Gefahr im Verzug ist, fährt die Polizei hin und
nimmt dem Kerl die Hunde heute noch weg. So geht man
damit um; dazu braucht man keine zusätzliche Verordnung. Das ist allgemeine Gefahrenabwehr, die auch für
Hamburg gilt.
({4})
Mit einem betrunkenen Autofahrer führen Sie auch keinen Rechtsstreit, sondern nehmen ihm den Führerschein
und den Zündschlüssel weg. Wenn Sie erfahren, dass ein
Waffenbesitzer geisteskrank geworden ist, dann fahren
Sie sofort hin und nehmen ihm die Schusswaffe weg. Da
wird doch nicht lange korrespondiert. Dies weiß jeder
Vollzugsbeamter, dem dieses Thema ernst ist.
In Hamburg hat man die Dinge schleifen lassen. Den
letzten Beweis dafür lieferte die Sozialsenatorin Roth, als
sie noch vor zwei Monaten sagte:
Wir können nicht hinter jeden Hund einen Polizisten
stellen. Aber wir werden mit den Bezirken reden,
dass sie künftig den Bußgeldrahmen besser ausschöpfen.
Mehr fällt der Dame nicht ein! Herr Wrocklage, warum ist
eine Sozialsenatorin bei Ihnen überhaupt für Kampfhunde
zuständig? Daran sieht man doch auch schon, dass man
das Problem in Hamburg in den letzten Jahren nicht richtig behandelt hat.
Ich komme zum Schluss. Wir brauchen zwei Dinge:
erstens schärfere Gesetze. Hier hat Herr Özdemir Recht.
Schreiben Sie das bayerische Gesetz ab! Das wird ja noch
möglich sein. Es wird wohl auch gerichtsfest sein. Noch
wichtiger ist zweitens ein konsequenter Vollzug, damit so
etwas wie das entsetzliche Unglück von Hamburg kein
zweites Mal passiert.
({5})
Nächste Rednerin ist
die Kollegin Ulrike Höfken, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr
geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! In den Reden wurde eben der kleine Volkan erwähnt.
Ich möchte an dieser Stelle seinen Eltern unser Beileid
und unser tiefes Mitgefühl aussprechen. Ich habe ebenfalls drei Kinder und fühle mich sehr betroffen.
Die Bundesregierung tritt für den Schutz von Kindern
vor Unfällen, vor Missbrauch und auch vor gefährlichen
Hunden ein. Wir begrüßen es ganz außerordentlich, dass
sich jetzt bundeseinheitliche Maßnahmen und Vorgehensweisen durchsetzen, wie es die Grünen auch gefordert haben.
Lassen Sie mich auf den neuen Maßnahmenkatalog
weiter eingehen, zunächst auf das Zuchtverbot für
Kampfhunde, das von einigen Rednern bereits erwähnt
wurde. Diese Regelung bedarf einer Konkretisierung, einer Ausweitung auf den Begriff „gefährliche Hunde“,
weil beispielsweise bei Pitbulls oder Mixhunden natürlich
die Gefahr des Unterlaufens besteht. Es wurde ja aus der
„Bild“-Zeitung, glaube ich, vorgelesen, dass ein Hund
schlichtweg als Boxermischling ausgegeben wird; genetisch kann man das nicht nachvollziehen. Man braucht
hier also Kriterien. Den Weg, den Bärbel Höhn in Nordrhein-Westfalen gewählt hat, als sie Kriterien für ein
Zuchtverbot von gefährlichen Hunden aufstellte, kann
man durchaus gehen.
Ich weise im Übrigen nur darauf hin, dass es im Bundestierschutzgesetz ein Verbot für Qual- und Aggressionszucht gibt. Auch hier spielt die Frage des Vollzuges
eine wesentliche Rolle.
Zweitens geht es um ein Verbot des Imports von entsprechenden Hunderassen und gefährlichen Hunden. Damals haben wir gemeinsam mit der SPD im Vermittlungsausschuss gefordert, ein solches Verbot im neuen Tierschutzgesetz zu verankern. Allerdings stellt sich natürlich
auch hier die Frage der Kontrolle und des Vollzuges. Man
benötigt dann an den Grenzen qualifizierte Kontrollbeamte. Des Weiteren ist eine Absicherung durch die EUGesetzgebung notwendig, weil hier wettbewerbsrechtliche Anforderungen entgegenstehen. Auch hier besteht
also die Notwendigkeit der weiteren Ausgestaltung.
({0})
Drittens. Das Halten dieser Tiere soll nur mit Erlaubnisvorbehalt gestattet werden. Auch das ist eine vernünftige Forderung. Allerdings muss ich auf das Problem der
nicht registrierten Tiere verweisen. Dieses Problem gibt
es in allen deutschen Städten. Ich denke, dass in diesem
Zusammenhang auch einmal über den Vorschlag der Grünen in Berlin oder anderen Bundesländern in Richtung
einer Kennzeichnung nachgedacht werden muss. Wir
kennzeichnen inzwischen bei der landwirtschaftlichen
Nutztierhaltung fast jedes Tier. Das dürfte auch bei Hunderassen problemlos möglich sein. So könnte nachgewiesen werden - auch bei ausgesetzten Tieren -, wo diese
Hunde herkommen.
Vierter Punkt: Sachkundenachweis bzw. Hundeführerschein. Als ich diese Forderung vor vier Jahren erhoben
habe, bin ich in der „Bild“-Zeitung noch auf Seite 1 gelandet, so nach dem Motto: Jetzt sind sie völlig übergeschnappt. Ich denke aber, dass sich dieser Weg in der
sachbezogenen Diskussion durchgesetzt hat. Dies dient
nicht nur dem Schutz der Halter, sondern auch dem der
Hunde, insbesondere aber dem Schutz der Menschen, die
mit diesen Tieren konfrontiert werden; denn Menschen,
die mit ihren Tieren nicht umzugehen wissen, können ihrer Verantwortung nicht gerecht werden. Das gilt natürlich nicht nur für die Pittbulls und Staffordshires, sondern
für alle Hunde ab einer gewissen „Kampfkapazität“.
({1})
Dass jetzt in Berlin für das Halten entsprechender
Hunde Unbedenklichkeitsnachweise eingefordert werden, halte ich für sinnvoll. In diesem Zusammenhang
möchte ich auf das von Herrn Gysi erwähnte Heimtierzuchtgesetz zu sprechen kommen. Es ist wichtig, dass dieses Gesetz endlich kommt; daran soll jetzt gearbeitet werden. Die Wesensprüfung, anhand derer man eine Einschätzung über den Hund gewinnen kann, wird
wesentlicher Bestandteil für die Freigabe zur Zucht sein.
Das ist eine Forderung, die von den Hundezüchterverbänden schon lange erhoben wird.
Ich habe es schon angesprochen: Die Kontrollen müssen weiter verstärkt werden. Städte wie zum Beispiel
Leipzig können noch so tolle Verordnungen erlassen - sie
müssen dann aber auch das entsprechende Personal zur
Verfügung stellen.
Zu dem letzten Punkt, der Haftpflicht. Es gibt eine
Haftpflichtversicherung für Hunde. Diese sollte jetzt auch
in Anspruch genommen werden, ungeachtet dessen, was
die Versicherer gesagt haben. Eine obligatorische Haftpflichtversicherung ist eine sinnvolle Angelegenheit. Alle
Maßnahmen müssen so ausgerichtet werden, dass sie mit
Augenmaß angewandt werden.
Lassen Sie mich noch ein Letztes sagen: Die Tierschutzvereine und Tierschutzverbände haben zurzeit in
Bezug auf die Halter größerer Hunde eine unglaublich
schwierige Aufgabe. Gleichzeitig werden sie bei der Finanzierung und der personellen Unterstützung alleine gelassen. Ich möchte daher an die Länder plädieren, in deren Aufgabenbereich dies fällt: Unterstützen Sie die Tierschutzverbände und die Tierheime, damit sie ihren
Aufgaben gerecht werden können und einen Beitrag dann
leisten können, einer Situation zu begegnen, die verständlicherweise ein Stück weit emotionalisiert ist! Sie können
dafür Sorge tragen, dass auch der Tierschutzaspekt zum
Tragen kommt.
Vielen Dank.
({2})
Es spricht jetzt der
Kollege Klaus Haupt, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Özdemir, ich bedauere zutiefst,
dass Sie angesichts der Problematik auf das Ritual der
Parteipolemik nicht verzichten konnten.
({0})
Ich halte Ihre Zitate für aus dem Zusammenhang gerissen
und damit schlicht und einfach für unverschämt.
({1})
Ich zitiere nur einen Satz: Hier muss der illegalen Aggressionszucht ein Riegel vorgeschoben werden, wofür
die Innenminister das notwendige Personal zur Verfügung
zu stellen haben.
({2})
Meine Damen und Herren, die F.D.P. muss sich nicht vorwerfen lassen, dass sie dieses Thema erst jetzt auf die Tagesordnung gesetzt hat; denn wir befassen uns seit zehn
Jahren damit. So haben wir zum Beispiel 1991 gefordert,
die Haltung von Kampfhunden waffenrechtlich zu regeln.
Der sinnlose Tod des Schülers in Hamburg hat, wie
schon viele betont haben, zu einem Aufschrei in diesem
Lande geführt. Was mich persönlich entsetzt hat, war,
dass es vor den Augen der Mitschüler, vieler Kinder, zu
dieser entsetzlichen Tragödie gekommen ist, auf dem
Schulgelände, wo Eltern ihre Kinder eigentlich in Sicherheit wähnen.
Wer sich die Ängste der Eltern, vor allem aber die der
Kinder, und die seelischen Konsequenzen für sie vorstellt,
kann keine Endlosdebatten, keine Verniedlichungen und
Verharmlosungen und keine theoretischen Seminare über
Hunde mehr ertragen.
({3})
Schon mehr als zehn Jahre ist das Problem virulent. Die
Politik hat - das müssen wir ehrlich eingestehen - die Lösung des Problems schlicht verschlafen und ist fahrlässig
unentschlossen geblieben. Dass daraus beim Bürger
Zweifel an der Politik erwachsen, braucht uns eigentlich
nicht zu wundern.
Es darf jetzt keine Debatte darüber geben, ob Kampfhunde bei richtiger Handhabung in unserer verstädterten
Industriegesellschaft Platz haben oder nicht. Kampfhunde
sind gezielt auf höchste Aggressivität gezüchtet. Ja, alle
Hunde können beißen. Aber Kampfhunde sollen sich nach
dem Willen ihrer Züchter in ihre Opfer regelrecht verbeißen. Kampfhunde sind lebende Waffen und damit eine
potenzielle Gefahr.
({4})
Es darf auch nicht mehr darüber diskutiert werden, an
welchem Ende der Leine das Problem zu suchen ist. Wenn
wir das Problem an dem einen Ende der Leine, beim Menschen, kurzfristig nicht lösen können, müssen wir es eben
am anderen Ende der Leine, beim Hund, anpacken. Bürger, insbesondere die besorgten Eltern, erwarten von uns
jetzt schnelles Handeln. Sie erwarten zu Recht null Toleranz gegenüber dem Kampfhundewahn. Es ist schon betont worden: Hier geht es um Opferschutz, um Freiheitsrechte der Bürger, der Kinder, und - wie der grausame
Vorfall in Hamburg leider zeigt - auch um Menschenleben. Als Kinderschutzbeauftragter meiner Fraktion sage
ich im Interesse der Kinder und der besorgten Eltern: Wir
kommen um radikale Maßnahmen nicht herum.
({5})
Es ist doch schizophren, dass man in Deutschland als Vorbestrafter zwar nicht in einen Schützenverein darf, wohl
aber ohne weiteres blutrünstige Kampfhunde durch die
Straßen führen darf.
({6})
Es ist völlig klar - ohne Wenn und Aber -: Kampfhunde sind in Deutschland überflüssig. Sie müssen alle
ohne Ausnahme verschwinden. Alle anderen Regelungen
sind nicht zu kontrollieren, nicht zu überwachen und auch
nicht durchzusetzen, wie es zum Beispiel die Praxis des
allgemeinen Hundeleinenzwangs in Berlin sehr deutlich
zeigt. Eine halbherzige und verwirrende Kampfhundeverordnung wird genauso wenig durchzusetzen sein.
Die Ergebnisse der Telefonkonferenz der Innenminister
sind daher - das ist schon mehrfach betont worden - ein richtiger Schritt in die richtige Richtung - der
Kinderschutzbund hat diese Maßnahmen übrigens schon
seit Jahren gefordert -, aber sie sind eben nur ein Schritt.
Wir können uns jetzt auch keine Kompetenzstreitigkeiten leisten. Den besorgten Eltern ist es gleichgültig,
welche Ebene wofür zuständig ist. Klar ist, dass keine
Ebene allein alle Probleme lösen kann. Zusammenarbeit
ist das Gebot der Stunde.
({7})
Dabei darf der Bund die Verantwortung nicht einfach nach
unten abschieben. Auch der Bund hat Handlungsspielraum und muss diesen konsequent und energisch nutzen.
Die F.D.P. fordert zu Recht, dass Hundehalter
grundsätzlich für alle Schäden voll verantwortlich sind,
die ihre Tiere anrichten. Das betrifft - das ist schon mehrfach betont worden - die strafrechtliche Verantwortung.
Aber auch bei Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhang
mit der Hundehaltung besteht dringender Handlungsbedarf. Die Bußgelder für diesbezügliche Verstöße sind viel
zu niedrig. Hier müsste noch rasch etwas geschehen. Die
im Tierschutzgesetz vorhandene Ermächtigungsgrundlage für Zuchtverordnungen muss sofort konsequent genutzt werden. Die F.D.P. begrüßt, dass Sie, Herr Bundesinnenminister Schily, hier ein Handeln der Bundesregierung in Aussicht gestellt haben. Ich sage aber noch
einmal: Jetzt müssen die Taten rasch und entschlossen folgen.
An Sie gewandt, Herr Özdemir, betone ich: Schon
1991 haben wir die Anwendung des Waffengesetzes auch
auf Hundehaltung, verknüpft mit einer Zuverlässigkeitsprüfung für Hundehalter, als eine Möglichkeit angesehen.
Darüber wäre neu nachzudenken, wenn die Länder ihrer
Schutzverantwortung gegenüber den Bürgern nicht so gerecht werden, wie wir das erwarten.
Meine Damen und Herren, wir dürfen nicht zulassen,
dass Mütter um ihre Kinder zittern müssen, wenn sie im
Park spazieren gehen oder ihre Kinder auf Spielplätzen
umhertollen. Man kann übrigens Kindern nicht beibringen, wie sie sich richtig verhalten sollen, wenn sich
Kampfhunde nähern:
Herr Kollege Haupt,
Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
- ganz ruhig bleiben, keine hektischen Bewegungen. Kinder sind überfordert.
Ich unterstütze die Forderung des Kinderschutzbundes
ausdrücklich: Es kann nicht sein, dass wir Kinder dressieren, damit Hunde zu ihrem Recht kommen. Nein, wir
müssen uns entscheiden; denn gerade die Schwächsten
unserer Gesellschaft, unsere Kinder, brauchen Schutz,
brauchen das Handeln des Staates, und zwar jetzt und
nicht halbherzig, sondern konsequent.
Danke.
({0})
Als Nächster spricht
der Kollege Günter Graf, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin jetzt der zehnte
Redner zu diesem Tagesordnungspunkt. Ich habe von all
meinen Vorrednern und Vorrednerinnen - zumindest im
Grundsatz - vernommen, dass jetzt Handlungsbedarf besteht und dass keine Zeit mehr bleibt, miteinander über
Zuständigkeitsfragen und dergleichen mehr zu diskutieren. Ich unterstreiche dies mit Nachdruck. Herr Uhl, ich
habe keine anderen Ausführungen von Ihnen erwartet,
möchte aber nicht darauf eingehen. Dies hilft uns im Moment auch nicht weiter. Ich denke, hier ist Gemeinsamkeit
angesagt. Diese sollten wir pflegen.
Vor diesem Hintergrund möchte ich dem Bundesinnenminister in aller Deutlichkeit ganz herzlich dafür danken, dass er bereits am 5. Mai 2000 bei der IMK in Düsseldorf gemeinsam mit den Länderkollegen einen Beschluss gefasst hat, der sich mit den zentralen Fragen
beschäftigt: Zuchtverbot, Verbot der Erziehung zur Aggressivität, Importverbote usw. All dies ist angesprochen
worden. Auch Sie, liebe Vorrednerinnen und Vorredner,
haben dies erwähnt. Jetzt geht es darum, dies umzusetzen.
Hier sind in erster Linie die Länder gefordert, die auch dabei sind.
Ich möchte dem Bundesinnenminister noch für etwas
anderes danken, nämlich für die Telefonkonferenz von
vorgestern. Dort hat er zugesagt, die rechtlichen Voraussetzungen für ein Importverbot und dafür zu schaffen,
dass Verstöße mit strafrechtlichen Sanktionen belegt werden. Aufgrund der Kompetenzverteilung ist eine Bundesregelung notwendig.
Ich möchte aber auch das Hohe Haus in Gänze auffordern. Es ist gut, dass jetzt gehandelt wird, wenn auch zu
spät. Diese Diskussion hatten wir auch schon vor zehn
Jahren. Ich will aber nicht darüber reden, wer damals was
hätte tun können. Die farblichen Konstellationen der Regierungen in den Bundesländern und der Bundesregierung waren sehr unterschiedlich; insofern hilft eine Diskussion darüber nicht weiter.
Wir müssen gemeinsam mit den Ländern erreichen,
dass die Regelungen, die jetzt in Ruhe und Sachlichkeit
getroffen werden, zu einer Vereinheitlichung führen. Ich
sage das vor folgendem Hintergrund: Wenn ein deutscher
Urlauber mit seinem Hund von der Nordsee, von der ich
komme, nach Bayern fährt und sich an jeder Grenze zu einem anderen Bundesland schlau machen muss, was er mit
diesem seinem Hund einer besonderen Rasse in diesem
Bundesland tun darf und muss, kann das nicht richtig sein.
({0})
Deshalb muss es unser Bestreben sein, im Nachhinein die
bereits getroffenen Ländervereinbarungen ein Stück weit
einander anzugleichen, damit auch für die Bevölkerung
Rechtsklarheit herrscht.
Ich glaube, Sie, Herr Westerwelle, haben eingangs gesagt: Dies gilt nicht nur für die Länder der Bundesrepublik, sondern auch für das zusammenwachsende Europa.
Wir haben die Grenzen abgeschafft. Es ist heute möglich,
die Grenzen der Mitgliedstaaten innerhalb der Europäischen Union unkontrolliert zu passieren, wann man will.
Nun sind die Regelungen in den Mitgliedstaaten der
EU zur Kampfhundehaltung sehr unterschiedlich. Es gibt
sehr restriktive Regelungen, aber auch solche, die im
Grunde keine sind. In das eine Land darf ich hinein. Aber
Norwegen zum Beispiel lässt mich mit meinem Kampfhund nicht hinein. Andere Länder lassen die Einreise zu,
wenn ich dem Hund einen Maulkorb anlege.
({1})
Diese Beispiele zeigen, dass es uns jetzt darum gehen
muss, auch auf europäischer Ebene entsprechende Regelungen zu treffen, damit die Bevölkerung weiß, worum es
geht.
Dass wir Regelungen brauchen, damit sich solche Vorfälle, wie es sie übrigens immer schon gab, nicht wiederholen, ist klar. Vor einem - weil es immer schnell falsch
aufgefasst werden kann - will ich allerdings warnen: Bei
allen Regelungen, die wir treffen, bei allen Möglichkeiten, die wir den Behörden, die damit umzugehen haben,
einräumen, wird es immer einmal wieder zu solchen Vorfällen kommen. Denn nicht jeder Vorfall kann von Gesetzen gedeckt werden. Das ist wie bei der Kriminalität. Wir
können alles Mögliche überwachen. Wir können den Abstand der Polizei zum Straftäter verringern. Aber die Nase
vorn hat immer der Straftäter. Auch der Kampfhund bzw.
der Hund, welcher Rasse auch immer, hat stets die Nase
vorn. Wir müssen alles in unseren Kräften Stehende tun,
damit Vorfälle wie der in Hamburg mehr oder weniger
ausgeschlossen werden.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Beatrix Philipp, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Vizepräsidentin!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Graf, ich
habe natürlich nichts gegen einen Dank an den Bundesinnenminister.
({0})
Aber es wäre alles schneller gegangen, wenn man einfach
von den Bayern abgeschrieben hätte.
({1})
Ich beziehe mich dabei auf Herrn Wiefelspütz, der vorgestern im Innenausschuss gesagt hat: Wir müssen von
den Bayern lernen.
({2})
Dass die Bayern sich das öfter wünschen als Sie und als
ich, das wissen wir ja. Aber an dieser Stelle haben sie nun
einfach einmal Recht gehabt und es hätte den Vorgang sicherlich sehr beschleunigt.
({3})
Das gilt natürlich auch, Herr Graf, für die europäische
Ebene. Darüber, denke ich, werden wir noch an anderer
Stelle reden müssen. Ich kann nur Dinge empfehlen, die
sich besonders gut bewährt haben.
Es ist deutlich darauf hinzuweisen: Wir sprechen heute
über Kampfhunde, Herr Gysi, nicht über Hunde, die anderen Menschen dienen,
({4})
wie Wachhunde, Blindenhunde oder Rettungshunde. Sie
haben eben den Deutschen Schäferhund gerade noch „am
Schwanz erwischt“. Wir müssen schon über das reden,
was auf der Tagesordnung steht, und das sind Kampfhunde.
Kampfhunde sind, wie in der bayerischen Verordnung
zu lesen ist, durch zwei Kriterien deutlich definiert. Aggressivität ist deren einziges Zuchtkriterium. Das trifft auf
Schäferhunde nicht zu. Anlagebedingte Aggressivität
wird bei Kampfhunden durch Abrichten noch verstärkt.
Die Methoden, die dabei angewandt werden - ich sage das
einmal für alle, die sich für Tierschützer halten -, sind
ganz eindeutig Tierquälerei. Als etwas anders kann man
das nicht bezeichnen.
({5})
Es zeichnet diese Tiere aus, dass sie am Ende dieser
Prozedur gegenüber allen aggressiv sind, außer gegenüber ihrem Halter. Es liegt in der Natur des Hundes - das
weiß jeder -, dass er sich an seinem Halter orientiert. Für
andere Menschen werden diese Hunde aber zur Bedrohung. Die Kampfhunde haben sich - das ist auch schon
mehrfach gesagt worden - zu einer ungesicherten Waffe
entwickelt. Daher ist es nur konsequent, von dem Hundehalter den Nachweis der Eignung und Zuverlässigkeit zu
verlangen. Wie gesagt, die bayerischen Verordnungen
halten uns das deutlich vor Augen.
Da diese Hunde häufig als Statussymbol und zur Kompensation von Minderwertigkeitskomplexen missbraucht
werden, wird dort verlangt, dass der Besitzer ein berechtigtes Interesse am Besitz eines solchen Hundes nachweist.
Wie groß die Tierliebe im Übrigen gerade bei diesen
Besitzern ist, sieht man an den neuesten Tickermeldungen
von heute, die ja darauf hinweisen, dass diese Tiere in
großer Zahl ausgesetzt werden. Es scheint also mit der
Tierliebe bei diesen Besitzern nicht besonders weit her zu
sein.
Alle Appelle in der Vergangenheit, alle fürchterlichen
Vorkommnisse, alle Versuche, das Problem mit einfachen
Mitteln - etwa Maulkorb und Leine - in den Griff zu bekommen, haben nicht den gewünschten Effekt gebracht.
Schließlich war auch der Hamburger Hundehalter verpflichtet, seinen Hund mit Maulkorb an der Leine zu
führen. Darauf ist von Herrn Dr. Uhl eben schon hingewiesen worden.
Mit solch faulen Kompromissen kommen wir nicht
weiter. Es geht um den Schutz von Menschen, die sich bedroht fühlen oder es tatsächlich sind. Das ist eigentlich
egal. Wenn sich jemand subjektiv bedroht fühlt, muss man
etwas dagegen tun, auch wenn er objektiv nicht bedroht
sein mag. Das trifft für andere Bereiche, die wir ja öfter
im Innenausschuss besprechen, ebenfalls zu.
Herr Graf hat darauf aufmerksam gemacht: Ein Blick
nach Europa hilft auch hier. In diesem Punkt sind andere
europäische Länder schon sehr viel weiter als wir. Auch
Herr Bosbach hat bereits darauf hingewiesen. Ich will
nicht so weit wie manche Bürgerinnen und Bürger gehen,
die nun fordern, alle Kampfhunde einzuschläfern. Aber je
nachdem, welche Erfahrungen der eine oder andere gemacht hat, kann ich den Wunsch eigentlich verstehen.
Meine Damen und Herren, als im Zusammenhang mit
BSE 2 Millionen Rinder geschlachtet wurden, also Nutztiere, hat es hier keinen Aufschrei gegeben - 2 Millionen
Tiere, bei denen auch nur zum Teil der Verdacht auf BSE
bestand. Da gab es keinen Aufschrei. Ich habe kein Verständnis dafür, dass bei BSE allein der Verdacht ausreichte, bei Kampfhunden aber nicht einmal der Nachweis
Günter Graf ({6})
der Gefährlichkeit der Tiere für eine solche Maßnahme
ausreichen soll.
({7})
Ich kann das überhaupt nicht verstehen. Das ist eine falsch
verstandene Tierliebe. Schließlich wird ja auch ein harmloser Schoßhund, der Tollwut hat, eingeschläfert. Auch
hierüber gibt es überhaupt keine Debatte.
Wie gesagt: Wir müssen uns auf die Menschen konzentrieren, und zwar auf der einen Seite auf diejenigen,
für deren Schutz wir verantwortlich sind - das sind insbesondere Kinder und alte Menschen - auf der anderen Seite
aber auch auf diejenigen, die diese Hunde als Waffe missbrauchen, die so genannten Halter. Des Weiteren müssen
wir uns auf diejenigen konzentrieren, die mit diesen Hunden ihre Geschäfte machen, indem sie mit diesen handeln,
sie importieren oder züchten. Wir brauchen dringend den
Nachweis der eigenen Zuverlässigkeit bei den Haltern sowie ein Import- und Zuchtverbot. Oberstes Ziel dabei
muss sein, dem Schutzbedürfnis unserer Bürger in hohem
Maße Rechnung zu tragen.
Es wird Zeit und sehr viel Geduld brauchen, bis sich
die Menschen wieder geschützt fühlen, bis sich diejenigen
wieder sicher fühlen, die heute noch die Straßenseite
wechseln, und bis sich die Menschen wieder trauen, Kinder auf Spielplätze zu lassen, das heißt, bis sich die Menschen nicht mehr in ihrer Freizügigkeit eingeschränkt
fühlen, weil sie manche Plätze aus Angst vor diesen Hunden meiden. Wir müssen dafür sorgen, dass eine konsequente Umsetzung und Kontrolle der Vorhaben erfolgt. Es
muss klar sein, dass der Schutz der Bevölkerung vor der
vermeintlichen Freiheit des Einzelnen, der glaubt, zur
Entfaltung seiner Persönlichkeit einen Kampfhund besitzen zu müssen, Vorrang hat.
Lassen Sie mich noch ein Letztes sagen: Wir werden
mehr Personal brauchen und müssen in den Ordnungsämtern dafür sorgen, dass dort Prioritäten gesetzt werden, so
wie das in meiner Heimatstadt Düsseldorf unter dem
neuen Oberbürgermeister Joachim Erwin gestern geschehen ist. Ich sage Ihnen: Lieber eine Fahrzeugkontrolle weniger und dafür eine Kampfhundehalterkontrolle mehr.
Damit würden wir den Wünschen der Bevölkerung sehr
entgegenkommen.
Vielen Dank.
({8})
Es spricht jetzt der
Bundesminister des Innern, Otto Schily.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich möchte
vorweg sagen: Ich bedanke mich sehr herzlich für die Einmütigkeit in der Grundsatzfrage, die hier sichtbar geworden ist. Hinsichtlich der Vergangenheit kann man sicher
das eine oder andere kritische Wort anführen. Da mag jeder vor seiner Türe kehren.
Herr Kollege Uhl, Sie haben den Finger auf Hamburg
gerichtet. Lesen Sie einmal die Liste der Aktivitäten in
den Ländern. Dann werden Sie auch einige CDU-regierte
Länder entdecken, die noch Nachholbedarf haben.
({0})
Ich will darüber jetzt aber nicht reden, weil die gefundene Einmütigkeit nicht infrage gestellt werden soll.
Ich zögere auch nicht, dem Freistaat Bayern sowie
Herrn Uhl selbst und der Stadtverwaltung von München
besondere Anerkennung und besonderes Lob zu zollen.
Wir sollten dieses Lob aber auch dem Land Brandenburg
zuteil werden lassen, das - zwar nicht ganz so früh, aber
immerhin im Jahre 1998 - entsprechende Maßnahmen ergriffen hat. Ich denke, das ist eine richtige und faire Haltung in dieser Frage.
Am 28. Juni dieses Jahres - also vor wenigen Tagen ist in der „Süddeutschen Zeitung“ ein sehr lesenswerter
Artikel zum Thema Kam pfhunde erschienen. Dieser Artikel trug die Überschrift „Probleme an beiden Enden der
Leine“. Genau das ist richtig. Das ist die richtige Beurteilung des Sachverhalts. Aufgrund dieser richtigen Beurteilung des Sachverhalts haben die Länderinnenminister und
der Bundesinnenminister in großem Einvernehmen Anfang Mai ein Maßnahmenpaket beschlossen, das dieser
Beurteilung entspricht.
Ich will nicht alle Maßnahmen hier aufzählen. Ich will
nur einige beispielhaft aufführen: Definition der Gefährlichkeit von Hunden, und zwar individuell sowie anhand
bestimmter sozial inadäquater Verhaltensweisen oder abstrakt durch Rassezugehörigkeit, Zuchtverbot für individuell gefährliche Hunde oder als gefährlich eingestufte
Zuchtlinien, Kastrations- und Sterilisationsgebote unter
Beachtung tierschutzgesetzlicher Grundsätze, Haltung
gefährlicher Hunde nur mit Erlaubnisvorbehalt.
({1})
In der Schaltkonferenz am 28. Juni - also vor wenigen
Tagen - haben wir diese Maßnahmen noch einmal bekräftigt und zu unserer Zufriedenheit feststellen können,
dass alle Länder - ausnahmslos - Initiativen in Gang gesetzt haben. Dafür will ich meinen Länderinnenministerkollegen ausdrücklich danken.
Ich will bekräftigen - das ist hier von vielen Kolleginnen und Kollegen gesagt worden -: Ich halte die denkbar
schärfsten Maßnahmen für geboten. Das Bundeskabinett
hat zusätzliche Maßnahmen beschlossen: ein Importverbot, ein Zuchtverbot im Tierschutzgesetz. Ich darf das
aber mit dem Hinweis verbinden: Es gibt bereits das Verbot der Aggressionszucht im Tierschutzgesetz und bei der
Ausbildung. Sie müssen immer daran denken: Es geht
hier nicht um Tierschutz, sondern in erster Linie um
Menschenschutz. Das sollten wir schon bedenken, damit
die Dinge nicht durcheinander geraten.
({2})
Für den Menschenschutz, für Sicherheit und Ordnung,
sind die Länder im Rahmen der Polizeigesetze zuständig.
Deshalb muss von diesen Zuständigkeiten Gebrauch gemacht werden, zumal auch die entsprechenden Maßnahmen im Wege von Verordnungen dann schneller ihren
Weg nehmen können.
Ich denke, es war auch richtig, dass wir auf meine Anregung hin jetzt beschlossen haben, dass wir, wenn auf
Länderebene Gebote oder Verbote in Kraft gesetzt werden, sie mit einem so genannten Blankettgesetz auch
strafrechtlich bewehren und damit die Sanktionsdrohungen von der Ordnungswidrigkeit auf Vergehenstatbestände aufstocken. Auch das ist notwendig; denn das sind
nicht irgendwelche Lappalien, sondern hier geht es um
eine wirklich schwere Gefährdung von Menschen. Deshalb muss auch eine solche Sanktionsdrohung vorhanden
sein.
({3})
Wir werden das sehr schnell voranbringen. Das Importverbot, für das wir auf Bundesebene zuständig sind, sollte
ergänzt werden durch ein Handelsverbot, für das wiederum die Länder zuständig sind.
Ich teile die Auffassung aller, die hier gesagt haben,
dass natürlich alle diese Gebote und Verbote davon abhängig sind, dass in der Praxis der Vollzug gesichert wird.
Anders kann es nicht funktionieren. Ich nehme aber gerne
die Anregung des Kollegen Westerwelle und des Kollegen
Graf auf, dass wir auch auf europäischer Ebene initiativ
werden müssen.
Eines, meine Damen und Herren, muss kristallklar sein
und ich bin überzeugt, dass wir darüber wirklich eine
großartige Einmütigkeit erzielt haben: Wir lassen nicht zu,
dass das Leben und die Gesundheit von Menschen, insbesondere von Kindern und älteren Menschen, durch das Imponiergehabe, die Aggressionslust, den Kompensationsbedarf bei Ich-Schwäche und die Verantwortungslosigkeit
bestimmter Hundehalter - ich schränke das ein, damit Sie
nicht meinen, das sei ein Pauschalurteil - in Gefahr gebracht werden. Das ist unsere gemeinsame Verantwortung.
({4})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Erwin Marschewski, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundesinnenminister, ich bin Ihnen für die heutigen Ausführungen sehr dankbar. Sie finden die volle
Unterstützung meiner Fraktion, der CDU/CSU.
({0})
Lassen Sie mich als letzten Redner meiner Fraktion gegenüber den Angehörigen des Kindes, das in Hamburg auf
so tragische Weise ums Leben gekommen ist, unser Mitgefühl ausdrücken. Es schmerzt, feststellen zu müssen,
dass für dieses Kind jede Hilfe zu spät kam.
Darüber hinaus aber macht mich betroffen: Selbst nach
diesem Ereignis wurden in den letzten Tagen erneut mehrere Menschen von Kampfhunden angefallen. Gerade
deswegen bin ich doch entsetzt über das Hickhack, wer
denn letzten Endes zuständig war, wer zuständig ist. Ich
bin auch entsetzt, Herr Innensenator, über so manches
Bundesland. Es wurde vieles geplant, es wurde wenig verwirklicht und es wurde ganz wenig durchgesetzt.
Wir haben gebeten, diesen Punkt im Innenausschuss
des Deutschen Bundestages zu behandeln. Sie, Herr Kollege Wiefelspütz, haben dem zögernd zugestimmt. Aber
unser Ergebnis war: Es hat keinen Sinn, nur auf die
Zuständigkeit der Länder zu verweisen. Wenn die Länder
nicht handeln, muss der Bund, soweit er zuständig ist,
selbst die Initiative ergreifen. Wir dürfen nicht warten, bis
die Länder entsprechende Verordnungen oder Gesetze erlassen haben.
({1})
Wir teilen voll Ihre Meinung, Herr Innenminister: Es sind
die schärfsten Maßnahmen geboten. Dies gilt für die
Hunde wie auch für die Hundehalter.
Man fragt sich, warum das Interesse erst dann so groß
wird, wenn etwas Scheußliches passiert ist, obwohl jeder
weiß, dass Kampfhunde wandelnde Waffen sind, dass sie
nicht aus Tierliebe und zum eigenen Schutz gehalten werden, dass sie - das ist schon vorher gesagt worden - Statussymbol sind und dass es darum geht, ein Bedrohungspotenzial mit diesen Hunden aufzubauen, wie es Zuhälter
tun. Das darf nicht akzeptiert werden. Deswegen fordern
die Bürger zu Recht - ich möchte die „Berliner Morgenpost“ zitieren -: Kampfhunde kastrieren, kontrollieren
oder gleich generell verbieten. Recht haben sie, die
Berlinerinnen und Berliner, nach den schrecklichen Geschehnissen von Hamburg!
Das Beispiel Bayern ist genannt worden. Es ist gut,
dass die Innenminister im Rahmen einer Telefonkonferenz nun zu Ergebnissen gekommen sind. Aber Ministerbeschlüsse allein - das lehrt die unmittelbare Vergangenheit - beseitigen keine Gefahren. Es ist schon schlimm, so
schreibt eine Zeitung, „dass ein Pitbull nötig ist“, so das
Zitat, „um Politiker wach zu beißen“. Ein bisschen haben
die Journalisten schon Recht. Deswegen fordere ich: erstens Zuchtverbote und Haltungsverbote für einschlägig
Vorbestrafte; zweitens Verbot der Einfuhr von gefährlichen Hunden; drittens Anlein- und Maulkorbpflicht; viertens eine Wesensprüfung für alle Kampfhunde, die einzuschläfern sind, wenn sie diese Prüfung nicht bestehen;
fünftens eine harte Bestrafung der Halter, die keine ordentlichen Zuchtpapiere vorweisen können. Das sind sicherlich 99 Prozent. Sie sind die eigentlich Schuldigen.
Zum Schluss: Ich gehe davon aus, dass die Länder jetzt
handeln und dass sie den Vollzug des Verbots auch sichern. Aber wenn dies in Zusammenarbeit mit den Ländern nicht geschieht, dann müssen wir, Herr Bundesinnenminister, die Aufgabe übernehmen. Wenn wir das
nicht tun, haben wir uns alle in beträchtlichem Maße mitschuldig gemacht.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat nun der
Kollege Harald Friese, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr
geehrten Kolleginnen und Kollegen! Es hätte eine viel
schönere Debatte werden können; denn im Grunde genommen gibt es ja einen Konsens, nämlich ein Einvernehmen des Hauses, dass etwas gegen Kampfhunde getan
werden muss, und zwar schnell. Trotzdem gab es ein paar
Zwischentöne, die ich kurz ansprechen möchte.
({0})
Natürlich ist Bayern ein Vorbild. Aber das hätte für alle
Bundesländer gegolten, egal, ob A-Länder oder B-Länder.
Wenn jetzt die Frage gestellt wird: „Was hat der Bund gemacht?“, dann kann ich mir die Feststellung - nachdem
das Thema schon vor zehn Jahren hier im Bundestag diskutiert wurde - nicht verkneifen anzumerken, dass in der
Zwischenzeit offensichtlich auch nicht viel geschehen ist.
Ich wollte aber eigentlich gar keine parteipolitische
Differenzierung in diese Debatte hineinbringen;
({1})
vielmehr wollte ich darauf hinweisen, dass die Politik
vielleicht zu Unrecht am Pranger steht. Es gab ja Verordnungen der Länder, zum Beispiel in Baden-Württemberg
und Hamburg, die aber von den Gerichten kassiert wurden. Daran lässt sich die babylonische Gefangenschaft
aufzeigen, in der sich im Augenblick die Politik befindet,
nämlich zwischen einer sehr detaillierten Rechtsprechung
und rechtsstaatlichen Grundsätzen. Wenn man konkret
handeln will, dann sagen die Gerichte plötzlich Nein. Die
Politik hat Angst, zu handeln und zu entscheiden, weil sie
befürchten muss, dass ihre Entscheidungen gerichtlich
kassiert werden.
Wir dürfen bei der ganzen Diskussion nicht vergessen,
dass rechtsstaatliche Grundsätze nicht über die Wupper
gehen dürfen. Aber wir müssen auch sehen: Wenn es einen rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
gibt, dann nützt es überhaupt nichts, einen Anlein- und
Maulkorbzwang zu beschließen, der nachher nicht kontrolliert werden kann. Genau das wird die Praxis sein.
({2})
Weder Länder noch Gemeinden sind in der Lage - wenn
Hundehaltung nur mit Führerschein und Prüfung des
Hundes und des Halters erlaubt wird -, die Einhaltung einer solchen Vorschrift konkret zu kontrollieren.
Die Freiheit des Einzelnen - das ist der zweite rechtsstaatliche Grundsatz neben dem der Verhältnismäßigkeit hat natürlich zwangsläufig dort ihre Grenzen, wo die Freiheit des anderen anfängt und wo der Staat die Aufgabe
hat - das ist eine seiner vornehmsten Aufgaben, die allerdings immer mehr aus dem Blickfeld gerät -, für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen.
({3})
Das heißt, wir müssen, ohne rechtsstaatliche Grundsätze
zu verletzen, ganz klare Regelungen treffen, die geeignet
sind, die Kampfhunde tatsächlich von der Straße zu entfernen.
({4})
Wenn ich die Beschlüsse der Innenministerkonferenz
lese, dann zweifele ich ein bisschen an den unendlichen
Ermessensüberlegungen, mit denen Haltung von Kampfhunden eingeschränkt werden soll. Aber lassen wir dies
dahingestellt.
Ich möchte namens der SPD-Fraktion sagen, dass wir
dem Bundesinnenminister ausdrücklich danken und dass
wir diese Politik - Importverbot, Zuchtverbot - mit Überzeugung fortführen wollen. Ich möchte hinzufügen: Wir
müssen einen Schritt weiter gehen und Überlegungen anstellen, ob es nicht so ist, dass letzten Endes nur ein Haltungsverbot zum Ergebnis führen kann. Mit den differenzierten Regelungen und den differenzierten Prüfungen, ob
ein Hund tatsächlich gefährlich ist und ob ein Halter
tatsächlich geeignet ist, einen solchen Hund zu halten,
kommen wir nicht weiter. Ich bitte einfach darum, zu prüfen, ob man nicht für ein generelles Haltungsverbot sorgen kann.
({5})
Ich möchte einen dringenden Appell an die Länder richten: Die Funktionsfähigkeit des Föderalismus erweist sich
nicht daran, dass wir 16 verschiedene Regelungen bekommen. Die Funktionsfähigkeit des Föderalismus erweist
sich vielmehr daran, dass sich die Länder, wenn die
Notwendigkeit besteht, etwas bundeseinheitlich zu regeln der Kollege Graf hat darauf ausdrücklich hingewiesen -,
im Sinne eines kooperativen Föderalismus zusammenraufen und eine gemeinsame Lösung finden, die dann von
den jeweiligen Landesparlamenten umgesetzt wird.
({6})
Was auf der Ebene des Polizeigesetzes möglich sein
soll - dort gibt es ja einen gemeinsamen Entwurf -, muss
erst recht in der Frage der Haltung von Kampfhunden
möglich sein. Ein Flickenteppich von landesrechtlichen
Regelungen in Deutschland kann mit Blick auf die europäische Dimension nicht angemessen sein.
Pflegen wir das Pflänzchen der Gemeinsamkeit, das in
dieser Debatte sichtbar wurde! Überlegen wir, ob es rechtlich möglich wäre, einen noch weiter gehenden Schritt zu
tun! Nur durch diesen Schritt werden wir das erreichen,
was wir wollen: Sicherheit auf unseren Straßen, Sicherheit für unsere Bürger. Mit dem unsinnigen Gefährdungspotenzial, das in der Haltung von Kampfhunden steckt,
muss Schluss sein; denn dafür gibt es keine Rechtfertigung.
Vielen Dank.
({7})
Ich weise jetzt darauf
hin, dass Herr Innensenator Wrocklage aus Hamburg
noch etwas klarstellen möchte. Er hat noch Redezeit. Das
heißt, dass wir danach in die Fortsetzung der Aktuellen
Stunde eintreten könnten. Aber ich glaube, an diesem
Freitag belassen wir es bei den nächsten beiden Redebeiträgen. Es ist so, dass nachher je ein Sprecher der
Fraktionen das Wort ergreifen könnte. Ich bitte Sie aber
um Nachsicht, dass wir mit der Rede des Herrn Innenministers diese Debatte abschließen.
Ich erteile dem Innensenator der Freien und Hansestadt
Hamburg, Herrn Wrocklage, das Wort.
Frau
Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Ich mache es ganz kurz. Ich nehme aus dieser Debatte den
Konsens darüber mit, dass wir Menschenschutz vor Tierschutz stellen und dass wir einhellig der Auffassung sind:
weg mit den Kampfhunden!
({0})
Ich nehme mit, dass es die Bereitschaft gibt, auch schwierige Entscheidungen - ich habe sie in meiner Rede vorhin
angedeutet - mitzutragen.
Ich möchte nicht auf die Polemik des Kollegen Uhl eingehen.
({1})
Ich möchte nur darauf hinweisen, dass es in den Ländern
unterschiedliche Rechtslagen gegeben hat. In BadenWürttemberg herrscht aufgrund der dortigen Rechtsprechung eine ähnliche Situation vor wie bei uns. Das Land
Hamburg hat deswegen zusammen mit den Innenministerkollegen die Innenministerbeschlusslage vom Mai hergestellt,
({2})
um damit die vorhandenen Möglichkeiten zu nutzen und
die Hundeverordnung zu erlassen, die ich hier vorhin vorgestellt habe. Das möchte ich klarstellen, damit jeder von
den richtigen Voraussetzungen ausgeht, Herr Uhl.
Vielen Dank.
({3})
Zur Sachlage möchte
ich Folgendes erläutern: Wenn der Herr Bundesinnenminister gesprochen hat, dann ist die Aktuelle Stunde eigentlich beendet. Auf Verlangen einer Fraktion kann allerdings erneut je ein Sprecher der Fraktionen das Wort
erhalten. Ich denke, das wollen wir alle nicht. Wenn Sie
einverstanden sind, dann lasse ich jetzt den Herrn Bundesinnenminister und anschließend für zwei Minuten
noch einen Vertreter der CDU/CSU sprechen.
Herr Minister, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich will auch
keine Rede halten, sondern möchte Ihnen nur eine sachliche Information geben; es geht nur um eine sachliche Information.
Ich bin mit den Damen und Herren Kollegen ja völlig
einig darin, dass wir eine möglichst bundeseinheitliche
Regelung brauchen. Aber es geht eben um Gefahren für
die innere Sicherheit und Ordnung. Das ist Polizeirecht,
wofür die Länder zuständig sind.
({0})
Deshalb muss man darauf achten, die Zuständigkeiten
so rasch wie möglich in Anspruch zu nehmen, die bestehen.
({1})
Alles andere würde eine Verfassungsänderung voraussetzen. Das ist das Erste, was ich sagen wollte.
Das Zweite geht an den Kollegen aus meiner Fraktion,
der zuletzt geredet hat. Die Länderinnenminister haben
sich darauf geeinigt, dass nur noch eine Haltemöglichkeit
mit Erlaubnisvorbehalt besteht. In Bayern - dieses Beispiel führe ich an, weil wir des Öfteren über Bayern geredet haben - ist danach de facto nicht eine einzige Erlaubnis mehr erteilt worden. Insofern ist das Halteverbot
durchgesetzt worden.
Ich meine, es ist sinnvoll, dass das zur sachlichen Information am Schluss der Debatte hier noch gesagt worden ist. Vielen Dank.
({2})
Der Kollege Uhl hatte
noch um zwei Minuten Redezeit gebeten. Diese Redezeit
bekommt er jetzt auch und dann ist die Aktuelle Stunde
beendet.
Herr Kollege Uhl, bitte.
Frau Präsidentin!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! In ganz großer Ruhe
und Sachlichkeit, Herr Innensenator Wrocklage, Folgendes: Ich habe Sie nicht bezüglich Ihrer Tätigkeit im Jahre
2000 gescholten, sondern ich habe Sie nur daran erinnert,
dass das Verwaltungsgericht Hamburg im Jahre 1992 Ihre
Hundeverordnung aufgehoben hat, und habe Sie gefragt,
was Sie danach, also zwischen 1993 und 1999, sieben
Jahre lang, in Hamburg gemacht haben. Da fehlte der
wirkliche politische Gestaltungswille.
Ergänzend habe ich erwähnt, dass wir - das heißt, ich
in meiner Zuständigkeit als Kreisverwaltungsreferent in
München - in diesen sieben Jahren keine einzige Kampfhundehaltung erlaubt haben. In ganz München gibt es nur
noch drei Kampfhunde. Das sind Altbestände. Wir wollten diese Tiere nicht töten lassen, sondern haben sie mit
Maulkorb- und Leinenzwang unter Kontrolle. - Das ist
unsere Tätigkeit seit 1992.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Ich werfe Hamburg also vor - das gilt auch für andere
Bundesländer, die ähnlich untätig waren -, dass in den sieben Jahren bis zum Jahre 2000 dort nichts Konkretes passiert ist. Wenn man vor dem Verwaltungsgericht nicht
durchkommt, dann unternimmt man eben einen zweiten
Anlauf, das heißt, man geht entweder zum Oberverwaltungsgericht oder man kommt mit einer neuen Rechtsvorlage. Beides ist nicht geschehen. Das ist mein ganzer Vorwurf.
({0})
Es geht jetzt nicht
nach dem Motto „Wat dem einen sin Uhl, is dem annern
sin Nachtigall“,
({0})
sondern wir beenden hiermit die Aktuelle Stunde.
Ich rufe Punkt 20 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrages der Abgeordneten Dr.-Ing.
Rainer Jork, Katherina Reiche, Günter Nooke,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Lehrstellenmangel Ost mit wirksamen Regelungen angehen
- Drucksache 14/3185 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Dr. Rainer Jork für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wer die innere Einheit Deutschlands will, wer dazu beitragen will, dass aus
„hüben und drüben“ ein „wir“ wird, der muss dafür Sorge
tragen, dass die Chancen der Menschen, vor allem der
Jugendlichen, in Nord und Süd, in Ost und West vergleichbar sind. Dieser Zustand ist noch nicht erreicht. Im
Osten Deutschlands ist die Arbeitslosenquote bei Jugendlichen unter 25 Jahren ziemlich genau doppelt so
groß wie die in den westlichen Bundesländern. Im Wortschatz der jetzt regierenden früheren Opposition wäre
dies als „Notstand“, als „Katastrophe“ durch den Blätterwald gejagt worden. Jetzt wird das von den gleichen Personen mit Durchschnittsangaben für die gesamte Bundesrepublik und mit Steigerungsraten verkleistert.
Ich sage es noch einmal ganz deutlich: Während das
Verhältnis der Zahl der Stellen zu der Zahl der Bewerber
in den alten Bundesländern bei 0,86 liegt, lautet die entsprechende Zahl in den neuen Bundesländern 0,59. Es ist
klar, dass es da im Laufe der Zeit bestimmte Korrekturen
geben wird.
Die Bundesregierung half mit dem Sofortprogramm.
Man muss sehen, was konkret vor Ort passiert ist. Dazu
haben die CDU/CSU-Bundestagsabgeordneten aus den
östlichen Bundesländern am 14. dieses Monats in Dresden mit Kammern, Verbänden, Gewerkschaften, Berufsschulen, Arbeitsämtern und anderen staatlichen Stellen
eine Anhörung durchgeführt. Nahezu einstimmig wurde
formuliert, dass die Einmündung von Teilnehmern am
JUMP-Programm in Lehrstellen und Arbeitsplätze nicht
zufrieden stellend ist, dass keine zusätzlichen betrieblichen Ausbildungsplätze entstanden, dass kaum Dauereffekte festzustellen sind und dass der Start innerhalb des
Ausbildungsjahres zu einer erheblichen Störung des laufenden Betriebs führte. Nicht übersehen möchte ich jedoch den positiven Effekt. Jugendliche erhielten eine
erste Startchance für ihr berufliches Leben. Hiervon profitierten diejenigen, die sich in der von uns in den letzten
Jahren besonders beklagten Bugwelle befanden.
In den neuen Bundesländern liegen besondere Bedingungen vor. Besondere Bedingungen erfordern besondere
Methoden. Alle wissen, dass es dabei vor allem um die
Fähigkeit und die Möglichkeit der Wirtschaft geht. Spezielle, auch befristete Methoden für die Jugendlichen in
den neuen Bundesländern sind unverzichtbar.
Ein Hauptpunkt in der Anhörung war natürlich die
Frage: Was hemmt die Bereitstellung von Lehrstellen in
den neuen Bundesländern? Ich konzentriere mich jetzt auf
die betriebliche Ebene. Als Antworten kamen: schlechte
Auftragslage und fehlende Planungssicherheit, ein zum
Teil schlechtes Abgangsniveau der Schüler von allgemein
bildenden Schulen, die Defizite im sprachlichen, praktischen und naturwissenschaftlichen Bereich aufwiesen,
fehlende materielle und personelle Voraussetzungen in
den Unternehmen, das Fehlen einer grundlegenden Steuerreform bzw. die starke Belastung der kleineren und mittleren Unternehmen durch die so genannte Ökosteuer.
({0})
Es wurden auch die Kosten für die Ausbildung und die an
die Auszubildenden zu zahlende Vergütung genannt; das
steht für mich im Zusammenhang mit meinem ersten
Punkt. Es ist nämlich absurd, wenn die Hälfte der staatlichen Gelder - es sind meist circa 3 000 DM, die die Betriebe als Lehrstellenförderung bekommen - wieder als
Steuern zurückgezahlt werden müssen. Das ist übrigens
ein Problem, um dessen Lösung wir uns schon während
der Amtszeit der alten Bundesregierung bemüht haben.
Das ist uns damals nicht gelungen. Ich sage das ganz offen. Hier bestünde jetzt für Sie die Chance, einmal besser
zu sein.
Das Bündnis für Arbeit wurde in der Anhörung als
eindeutig auf die westlichen Länder gestrickt beschrieben. Es funktioniert in den neuen Bundesländern nicht
oder kaum, weil dort ein Mangel besteht.
Sehr hilfreich sind bzw. waren Lehrstellenentwickler
und Ausbildungsverbünde. Insofern bedaure ich es außerordentlich, dass im Haushalt 2001 im Einzelplan 30 Streichungen vorgenommen werden.
In unserem Antrag, der Ihnen vorliegt, fordern wir im
Interesse der neuen Bundesländer, das Sofortprogramm
den im Osten herrschenden spezifischen Verhältnissen anzupassen, falsche finanzielle Anreize zu beseitigen, vor
allem finanzschwache kleinere und mittlere Unternehmen
zu fördern, an geeigneter Stelle Lohnkostenzuschüsse zu
geben, die Mobilität lehrstellensuchender Jugendlicher zu
fördern, die Lehrlingswohnheime zu unterstützen und
eine mittelstandsfreundliche Finanz-, Wirtschafts- und
Steuerpolitik zu starten. Wohlbemerkt müssen hierbei regionale und lokale Spezifika beachtet werden. Das liegt in
der Natur der Sache dieses Problems und kann im Antrag
nachgelesen werden.
Lassen Sie mich noch einige weitere Ergebnisse der
Anhörung anführen: Im Vordergrund stand und steht noch
heute die Frage, welche Maßnahmen die Ausbildungsfähigkeit und -bereitschaft der kleineren und mittleren
Betriebe erhöhen können. Unmittelbar würden steuerliche Vergünstigungen und Anreize wirken, sodann müssten Verbundausbildung und überbetriebliche Lehrunterweisung gefördert werden; aber auch die schnelle
Verabschiedung neuer Berufsfelder und die direkte Förderung von kleineren und mittleren Betrieben durch eine
Anschubfinanzierung wäre sinnvoll. Wir wurden darauf
hingewiesen, dass es in Österreich ein Modell gibt, das
eine direkte Steuerentlastung der ausbildenden Betriebe
vorsieht.
Wiederholt wurde die Forderung formuliert, die Verantwortung der Berufsschulen zu verdeutlichen und zu
erhöhen. Dazu gehört auch, dass die theoretischen Leistungen in der Schule beim Facharbeiterabschluss ausreichend berücksichtigt werden. Ich entsinne mich: Auf meinem Facharbeiterbrief waren die theoretische und die
praktische Ausbildung gleichwertig enthalten. Ich halte
diese Regelung für richtig und angemessen. Ich empfehle
sehr, grundsätzliche Änderungen herbeizuführen, die die
Akzeptanz und die Wertigkeit der Berufsschulen erhöhen.
Nicht fortführen sollte man Maßnahmen wie die Qualifizierungs-ABM, die auf einen künstlichen zweiten Arbeitsmarkt orientieren. Es wurde immer wieder deutlich
das Ideal beschrieben, dass als Erstes Plätze in der dualen
Ausbildung - also mit einem betrieblichen Teil - ermöglicht werden. Sodann sollte als Zweites, sozusagen als
Kompromiss, eine betriebsnahe Ausbildung organisiert
werden. Drittens sollten notfalls staatliche Maßnahmen
erfolgen. Ich glaube, auch in diesem Punkt sind wir uns
einig. Wir haben über diese Frage im Ausschuss wiederholt diskutiert.
Nachdrücklich wurde gefordert, die Lehrerfortbildung zu fördern und zu fordern. Ich sage bewusst: fordern. Wir haben uns die Frage gestellt, ob man notfalls einen gewissen Zwang ausüben sollte, damit Lehrer aktuell
ausgebildet und entsprechend befähigt sind. Diese Überlegung ist in dem Kreis bestätigt worden. Es geht darum,
dass die Lehrer - gleichermaßen wie die Jugendlichen auf die Realität vorbereitet werden. Ein weiterer wichtiger Forderungspunkt war, die Ausbildungsdauer zu flexibilisieren.
Mit Bezug auf unseren Antrag und die Anhörung
möchte ich eine kurze Zusammenfassung - was ist dabei
herausgekommen? - in acht Punkten formulieren:
Erstens. Das Problem des Lehrstellenmangels Ost ist
nur lösbar, wenn die spezifischen Bedingungen beachtet
werden. Mit Gleichverteilung kann man nichts ausrichten.
Zweitens. Eine Lösung ist dann möglich, wenn Zuständigkeits- und Ressortbarrieren überwunden werden.
Ich erinnere mich an unsere Diskussionen im Ausschuss und freue mich daher, Herr Minister Schwanitz, dass Sie
bei dieser Debatte anwesend sind -, die deutlich gemacht
haben, dass dieser ressortübergreifende Ansatz realisiert
werden sollte.
Drittens. Das duale System muss modernisiert werden.
Es geht um neue Berufe und Ausbildungszeiten, um Modularisierung und Finanzierungsfragen.
Viertens. Ein wichtiger Grund für das Fehlen von betrieblichen Ausbildungsplätzen war für alle Angesprochenen die aktuelle wirtschaftliche Lage in den neuen Bundesländern. Staatliche Hilfen sollten daher direkt in die
Förderung kleiner und mittlerer Betriebe fließen. Bürokratische Hürden sollten abgebaut werden.
Fünftens. Das Sofortprogramm JUMP war zu wenig
effektiv. Dass es auch gute Seiten hatte, haben wir wiederholt gesagt. In Zukunft muss für eine bessere Koordinierung von Bundes- und Länderprogrammen und für
mehr Kontinuität gesorgt werden.
Sechstens. Durchgehende Einigkeit herrschte in der
Ablehnung der Lehrstellenumlage und von Einstellungsverpflichtungen nach Abschluss der Lehre.
Siebtens. Deutlich war die Zustimmung zu einer Berufsausbildung mit Abitur.
Achtens. Es wurde eine stärkere Ausrichtung der allgemein bildenden Schulen auf soziale, praktische und naturwissenschaftliche Bildung gefordert, um so die Jugendlichen besser auf die Anforderungen einer Berufsausbildung vorzubereiten.
Zum Weltingenieurtag am 19. Juni - zeitgleich mit der
EXPO - hörte ich folgenden Satz: Verantwortung zu übernehmen gehört zur Würde des Menschen. - Das gilt besonders für junge Leute, die ihre Chancen sehen und
wahrnehmen wollen und die für sich selbst Verantwortung
übernehmen wollen und müssen. Geben wir den Jugendlichen in den neuen Bundesländern eine seriöse Chance
für ein würdevolles Dasein! Dies ist für mich ein wesentliches Kriterium für die Beantwortung der Frage, ob die
innere Einheit Deutschlands erreicht oder erreichbar ist.
({1})
Gehen Sie den Lehrstellenmangel in den neuen Bundesländern mit wirksamen, ressortübergreifenden Maßnahmen an!
Zum Schluss möchte ich noch bemerken, dass ich
Herrn Schwanitz und der Frau Ministerin das Versprechen
gegeben habe, ihnen die Auswertung der Anhörung zu
überreichen. Ich gehe davon aus, dass wir mit einem gemeinsamen Vorgehen die Situation auf diesem Gebiet verbessern können. Ich erlaube mir, Ihnen jetzt diese Auswertung zu geben.
Danke.
({2})
Wir haben gespannt
beobachtet, wie der Bericht übergeben wurde.
({0})
Nun erteile ich das Wort der Kollegin Ingrid Holzhüter,
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die rot-grüne Koalition fand bekanntlich zu Beginn ihrer Arbeit eine dramatische Situation auf dem Stellenmarkt vor. Diejenigen, die das mit zu
verantworten haben, mäkeln jetzt an JUMP herum. Haben Sie denn eigentlich jemals in einer Bildungseinrichtung mit den betroffenen Jugendlichen gesprochen? Haben Sie ihre persönlichen Hintergründe, die Mut- und
Hoffnungslosigkeit gespürt, ihr Bedürfnis nach Anerkennung und ihren berechtigten Wunsch, ernst genommen zu
werden?
Es ist wirklich eine Schande, wenn der kleine Rest
Hoffnung, den diese Menschen noch haben, durch parteipolitische Spielchen beschädigt wird und ihre Unsicherheit wächst.
({0})
Diese jungen Menschen haben unsere Fürsorge und Sympathie verdient. Jeder Wunsch für sie lohnt.
Wer von Ihnen hat denn Kinder? Wer kennt ihre Zuversicht und ihr Suchen auf dem Weg? Sie allesamt sind
zu schade, um abgeschrieben und vergessen zu sein.
Wer kämpfen will, meine Damen und Herren, kann
verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Wir werden kämpfen! Schade, dass wir es nicht gemeinsam tun.
({1})
Sie hatten Ihre Zeit und haben sie nicht gut genug genutzt. Wir werden es besser machen, auch wenn Sie in der
ersten Reihe schreien.
({2})
Wie das Statistische Bundesamt am 3. April mitteilte,
haben im Jahre 1999 636 600 Jugendliche einen Ausbildungsvertrag abgeschlossen.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Jork?
Sowie ich Luft habe. Im Moment aber nicht.
({0})
- Frau Kollegin, Ihre spitze Zunge nehmen Sie doch bitte,
um Brot zu schneiden. Lassen Sie mich hier in Ruhe meinen Vortrag zu Ende halten. Wenn Sie reden, halte ich
schließlich auch den Mund, obgleich mir das manchmal
schwer fällt.
Das waren gut 24 800 mehr als im Vorjahr. Die Statistiker betonen, das Ende 1998 verabschiedete Sofortprogramm der Bundesregierung JUMP hätte zu dieser Steigerung beigetragen. In den neuen Ländern kletterte die
Zahl der Ausbildungsverträge um 5 900 und im früheren
Bundesgebiet, also in den alten Ländern einschließlich
Berlin, um 18 800. Das sind in der Regel 4 Prozent mehr.
Seit dem Start von JUMP vor eineinhalb Jahren konnte
über 200 000 jungen Menschen eine berufliche und damit
auch eine Lebensperspektive gegeben werden, hier insbesondere auch durch berufsvorbereitende Maßnahmen. Im
Mai 2000 hat die Bundesanstalt für Arbeit zusätzlich
116 Millionen DM für JUMP bereitgestellt, die im Wesentlichen den neuen Ländern zugute kommen. Wir alle
wissen, dass noch ein Unterschied bei den Ausbildungsplätzen besteht. Es ist gut, dass JUMP im Jahre 2001 fortgesetzt wird und dass die Bundesregierung das Sofortprogramm Lehrstellen Ost aufgelegt hat, um in den
neuen Ländern rund 17 000 zusätzliche Lehrstellen mitzufinanzieren.
Die kräftige konjunkturelle Entwicklung und steigende
Beitragseinnahmen bei zurückgehender gesamtdeutscher
Arbeitslosigkeit versetzen die Bundesanstalt für Arbeit in
die Lage, erstmals seit der deutschen Einheit eine aktive
Arbeitsmarktpolitik in dem bisherigen Umfang von
42,4 Milliarden DM, davon 2 Milliarden DM allein für
JUMP, aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Für das Sofortprogramm Lehrstellen Ost werden 224 Millionen DM
aus dem Bundeshaushalt noch dazugetan.
Angesichts der unübersehbar klaren Erfolge dieser Politik ist die Kritik am Sofortprogramm, wie sie hier zum
Ausdruck gebracht wurde, unverständlich. Wo ist sie
denn, die christdemokratische und christlich-soziale Alternative dazu? Wo war sie denn in der vergangenen Ära
Blüm/Kohl? Wie viel Bimbes hatten Sie denn seinerzeit
für Ihre sieben „wirksamen Regeln“ übrig, darunter die
großzügige Förderung von mannigfaltigen Pendlerbeihilfen und Lehrlingswohnheimen, die nun von uns gefordert wird? Auch der Vorwurf, das JUMP-Programm sei
eine kontraproduktive Konkurrenz zu Programmen der
Länder und würde die Klassen der Oberstufenzentren
halbieren, ist nicht nachvollziehbar und nicht realistisch.
Im Übrigen gibt es für JUMP eine wissenschaftliche
Begleitforschung durch das BIBB. Die Ergebnisse sind
bei der Wiedereinführung von JUMP berücksichtigt worden und werden auch ständig auf ihre Wirksamkeit überprüft.
Frau Kollegin, gestatten Sie nun eine Frage des Kollegen Dr. Jork?
Ja, jetzt soll er!
Herr Dr. Jork, bitte.
Liebe Kollegin
Holzhüter, Sie haben gesagt, wir hätten die Chance nicht
genutzt. Ist Ihnen bekannt, dass wir vor vier Jahren eine
ähnliche Anhörung hatten und dass wir die damalige
Bundesregierung in vielen Punkten, übrigens auch den
vorhin genannten, angegangen sind und manches erreicht
haben und dass für uns damit in der Anhörung eine Kontinuität besteht?
Eine zweite Frage, da Sie gesagt haben, ein Miteinander sei nicht vorstellbar: Könnten Sie sich nicht vielleicht
doch vorstellen, dass wir miteinander vorangehen und
dass möglicherweise die Geste am Schluss, das Ergebnis
der Anhörung Ihren Ministern zu übergeben, genau dadurch geprägt ist, dass wir uns dieses Miteinander im
Sinne der jungen Leute wünschen?
Dann haben Sie aber eine
komische Art, das auszudrücken. Bei mir ist das jedenfalls
nicht so angekommen. Bei mir ist die Konfrontation und
leider nicht die Gemeinsamkeit angekommen. Ich will
gerne annehmen, dass Sie nicht unisono vorhaben, gegen
uns zu sein. Aber das Miteinander müsste sich schon deutlicher ausdrücken.
Ich will an dieser Stelle sagen: Natürlich tun auch wir
alles, um unsere Arbeit zu verbessern. So sind zum Beispiel bei der Zinseinsparung im Zusammenhang mit Mobilfunklizenzen die Schwerpunkte bei der Verwendung
der Gelder auf Bildung, Ausbildung und Forschung gelegt
worden. Es wäre ganz schön, wenn Sie auch das bemerken würden und ich Sie nicht in ähnlicher Weise in einer
Zwischenfrage darauf hinweisen müsste.
({0})
Die Eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt wird mit
Lohnkostenzuschüssen oder Prämien gefördert. Etliche
Kritiker stellen die Behauptung auf, dass zu viele Jugendliche gefördert würden, die überhaupt keine Förderung
bräuchten. Richtig ist: 77 Prozent der Teilnehmerinnen
und Teilnehmer waren vor Eintritt in das Sofortprogramm
arbeitslos, davon über 30 Prozent mehr als einmal. Schulabgänger, die keinen Ausbildungsplatz finden, sind
bei den Arbeitsämtern in der Regel als ausbildungsplatzsuchend und nicht als arbeitslos registriert. Mit dem Programm werden demzufolge vor allem die Jugendlichen
erreicht, deren Integration in den Arbeitsmarkt erschwert
ist und die besonderer Hilfe bedürfen. Seit Programmbeginn wurden ungefähr 13 000 zusätzliche betriebliche
Ausbildungsplätze geschaffen. Auch das ist also ein Ausfluss aus diesem arbeitsmarktpolitischen Miteinander.
Statt, wie ursprünglich vorgesehen, für 2002, werden
die vereinbarten 40 000 neuen Ausbildungsplätze bereits
in diesem Jahr geschaffen. Darüber hinaus verpflichtet
sich die Wirtschaft im Rahmen der angestrebten Marktöffnung für ausländische IT-Spitzenkräfte, bis zum Jahr
2003 mindestens 20 000 weitere Ausbildungsplätze im
IT-Bereich bereitzustellen. Die Wirtschaftsinstitute bestätigen die Richtigkeit und Effizienz der Arbeitsmarktpolitik des Bundes.
Dass der positive Trend auf dem Arbeitsmarkt in den
neuen Ländern erst mit Verspätung einsetzt, liegt auch an
den strukturellen Defiziten; das hatten Sie gesagt. Auch
daran ist die Vorgängerregierung nicht ganz unschuldig.
Wir wollen, dass die neuen Länder endlich am insgesamt
zu verzeichnenden Aufwärtstrend teilhaben und die ostdeutschen Jugendlichen endlich Hoffnung schöpfen können. Das wollen Sie ebenfalls, wie Sie hier gesagt haben.
Zum Schluss möchte ich ein Lied von Bettina Wegner
zitieren:
Grade, starke Menschen wär‘n ein schönes Ziel,
Leute ohne Rückgrat hab‘n wir schon zu viel.
Ich will nicht, dass dieses Rückgrat verbogen wird, indem den jungen Menschen ständig eingeredet wird, dass
sie uns egal, ja überflüssig sind. Wir haben in dieser Richtung einiges unternommen. Ich werde verdammt sauer,
wenn dies alles hier zerredet wird, weil die Opposition
sich profilieren will. Wir sind auf einem guten Weg und
diesen werden wir weitergehen.
Vielen Dank.
({1})
Nun hat das Wort die
Kollegin Cornelia Pieper, F.D.P.-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute Vormittag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion
aus Anlass ihres zehnten Jubiläums debattiert. Dem kann
sich die Debatte über die Situation auf dem ostdeutschen
Arbeits- und Lehrstellenmarkt nach zehn Jahren deutscher Einheit nahtlos anschließen.
Insgesamt ist festzustellen, Frau Kollegin Holzhüter:
Die beste Sozialpolitik für einen jungen Menschen ist,
ihm einen Ausbildungsplatz bereitzustellen. Das ist überhaupt nicht strittig.
({0})
Das gilt ganz besonders für den sozial instabilen Osten.
Ich verstehe nicht, warum Sie, wenn Ihnen der Kollege
Jork namens der Unionsfraktion in dieser Frage die Zusammenarbeit anbietet - auch ich würde das gerne namens der Fraktion der F.D.P. tun; denn uns ist die Zukunft
junger Menschen besonders wichtig -, das nicht einfach
annehmen.
({1})
Trotz allem möchte ich noch einmal auf die Fakten
zurückkommen. Zu den Tatsachen nach zehn Jahren Wirtschaftsbilanz gehört auch, dass das Wachstum des Ostens
hartnäckig hinter dem der alten Länder hinterherhinkt.
Frühestens 2002, so optimistische Prognosen, wird die
Konjunktur Ostdeutschlands zum Westen aufschließen.
Ökonomisch kann der Osten bereits seit drei Jahren nicht
mehr mit den alten Ländern Schritt halten. Das gilt insbesondere für die Ausbildungsplatzsituation.
In diesem Zusammenhang möchte ich Sie an die Fakten aus dem zuletzt vorgelegten Berufsbildungsbericht
erinnern. Denn der Zuwachs von 18 500 Ausbildungsverträgen, der in diesem Bericht ausgewiesen wurde, kann
nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zahl der von den
Betrieben abgeschlossenen Ausbildungsverträge in den
alten Ländern um 0,5 Prozent und in den neuen Ländern
um 5 bis 10 Prozent zurückgegangen ist. Ich möchte zudem in Erinnerung rufen, dass 70 Prozent der betrieblich
abgeschlossenen Ausbildungsverträge im Osten öffentlich subventioniert sind. Das sind alarmierende Zahlen,
die wir nicht einfach nur so zur Kenntnis nehmen können.
Ich glaube, da muss man handeln.
({2})
Fakt ist auch, dass nach Informationen der Bundesanstalt für Arbeit vom Mai dieses Jahres insgesamt 29 700
junge Menschen im Rahmen des JUMP-Programms
eine Ausbildungsplatzmaßnahme erhalten haben. Das ist
angesichts von Investitionen in Höhe von 2 Milliarden
DM einfach zu wenig.
({3})
Angesichts dessen muss man nach der dauerhaften Effizienz dieses Programms fragen.
({4})
Deshalb können wir die einseitige Betrachtung der rotgrünen Bundesregierung in Bezug auf die Ausbildungsplatzsituation nicht akzeptieren. Lieber Kollege Tauss,
diese einseitige Betrachtung führt nämlich bei Ihnen angesichts der Schieflage bei der betrieblichen Ausbildung
zu Schönfärberei.
({5})
Deshalb bleiben wir dabei: Die beste Ausbildungsplatzpolitik ist eine offensive Mittelstandspolitik. Der
Mittelstand schafft zwei Drittel aller Ausbildungsplätze in
Deutschland. Welche Bedingungen finden die Kleinstund Kleinunternehmen in Ostdeutschland, die zumeist
nur fünf bis zehn Beschäftigte und eine schwindende Eigenkapitaldecke haben, denn vor? Seit Rot-Grün regiert,
explodieren die Kosten.
({6})
Die Auftragslage für mittelständische Unternehmen, ist
aufgrund der zu geringen Investitionsquote in öffentlichen Haushalten rückläufig.
({7})
Deswegen ist die Verbesserung der Ausbildungsplatzsituation nicht alleinige Aufgabe der Bundesbildungsministerin, sondern auch eine gesamtgesellschaftliche. Es ist
also ebenso Aufgabe des Wirtschaftsministers, sich mit
diesem Thema auseinander zu setzen.
({8})
Ihre Ökosteuer - das kann ich nicht oft genug wiederholen - treibt die Handwerksmeister in den Ruin.
({9})
Ich finde es absurd, dass ausgerechnet die kleinen und
mittelständischen Unternehmen nicht in die derzeit debattierte Unternehmensteuerreform mit einbezogen werden, dass Sie die großen Konzerne bzw. die Kapitalgesellschaften bevorteilen wollen und die kleinen Unternehmen im Hinblick auf eine Steuerentlastung außen vor
lassen. Das ist meiner Meinung nach ein Skandal.
({10})
Als Letztes möchte ich Ihnen noch sagen, dass die
F.D.P.-Fraktion aufgrund der steigenden Zahlen der Ausbildungsabbrecher und des bevorstehenden Fachkräftemangels auf eine Reform der beruflichen Bildung
drängt. Die Frage ist doch: Stolpert der Osten zukünftig in
eine demographische Falle? Ich möchte an dieser Stelle
mit Genehmigung der Präsidentin den Jenaer Soziologen
Behr zitieren, der sagte, die Konsequenzen aus dem demographischen Wandel könne sich in Westdeutschland
wahrscheinlich kaum jemand vorstellen. Der Fachkräftemangel werde in wenigen Jahren aufgrund der Radikalität
des Umbruchs eine besonders dramatische und sehr spezifische ostdeutsche Ausprägung gewinnen.
Das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle hat bei
einer Befragung in ostdeutschen Unternehmen festgestellt, dass schon jetzt 30 Prozent dieser Unternehmen in
spezialisierten Bereichen unbesetzte Arbeitsplätze haben.
Ich glaube, hier müssen wir handeln. Wir wollen, dass
eher praktisch orientierte junge Menschen bereits nach
zwei Jahren einen Berufsabschluss haben können, der von
der Wirtschaft akzeptiert wird, und dass auf diesem Basisberuf zukünftig mit Qualifizierungsbausteinen aufgebaut werden kann. Gerade bei innovativen Berufsbildern,
etwa den IT-Berufen, kommt es auf eine flexible Ausbildung an, die die Menschen auf lebenslanges Lernen orientiert.
Frau Kollegin, Sie
müssen bitte zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss,
Frau Präsidentin.
Es kommt darauf an, dass moderne Berufsbilder weiterentwickelt werden. Auch hier sehen wir in dem Antrag
der Union einen konstruktiven Ansatz. Wir unterstützen
diesen Antrag.
Namens meiner Fraktion sage ich abschließend, dass
wir im Osten eine gemeinsame Initiative für mehr beCornelia Pieper
triebliche Ausbildungsplätze brauchen. Das erfordert eine
Mittelstandsoffensive. Hier hat die Bundesregierung bisher allerdings mit ihrer mittelstandsfeindlichen und damit
ausbildungsplatzfeindlichen Politik auf ganzer Linie versagt.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat jetzt die
Kollegin Antje Hermenau.
({0})
Vielleicht könnten Sie Ihre Gespräche nachher draußen
fortsetzen. - Danke schön.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Eigentlich ist der Antrag, der heute von der CDU/CSU-Fraktion
vorgelegt wurde, in fast allen Punkten erledigt. Darauf
komme ich gleich noch zurück. Lassen Sie mich zunächst
aber auf den Punkt eingehen, der hier bisher eine so große
Rolle gespielt hat: Offensichtlich ist der Kern der Debatte,
die wir hier führen, die Frage, wer wie lange in welchem
Graben sitzt. Wir können uns gern gegenseitig vorhalten,
was uns allen in den letzten sechs Jahren nicht eingefallen
ist. Aber eines ist sicher: Die Anzahl der Betriebe in Ostdeutschland entscheidet darüber, wie viele Leute einen
Arbeitsplatz bzw. eine Lehrstelle finden. Ende der Durchsage!
({0})
- Ja, so einfach ist das.
Wenn man das weiß, dann muss man - dazu fehlt Ihnen aber die passende Ideologie - verlangen, dass der
Staat einspringt und das ergänzt, was die Wirtschaft allein
noch nicht schafft. Wir können uns diese Forderung leisten, weil wir ideologisch in der linken Ecke verortet sind.
Wir dürfen dann auch einmal ein staatliches Programm
machen; das geht dann in Ordnung.
({1})
Deshalb hatten wir auch immer einen Vorschlag anzubieten, was Ihnen verwehrt war,
({2})
und deshalb kommen Sie jetzt wieder mit der Leier der
letzten sechs Jahre an und meinen, Sie hätten einen neuen
Antrag vorgelegt. Das ist eigentlich schade.
Beispielsweise haben Sie, Herr Jork, immer gegen die
Umlagefinanzierung gekämpft. Aber wenn Sie eine direkte Steuerentlastung für ausbildende mittelständische
Betriebe fordern, dann bedeutet das eine indirekte Umlage. Das kann man natürlich auch so herum machen; aber
es bleibt dasselbe.
({3})
Lassen Sie mich nun auf das zu sprechen kommen, was
wir machen. Wir haben einen Konsens darüber - an dieser Stelle komme ich auf Ihr Kooperationsangebot
zurück -, dass die regionalen Aktivitäten eindeutig verstärkt werden müssen. Auch sind wir alle - vielleicht mit
Ausnahme der PDS; das werden wir gleich noch hören der Auffassung, dass es notwendig ist, aus diesen staatlichen Zwischenprogrammen auszusteigen und wieder
mehr und mehr in die Ausbildung durch Wirtschaftsbetriebe einzusteigen.
({4})
Ich will hier nicht noch einmal alle Zahlen vortragen.
Interessant ist aber, dass in Ländern wie Bremen und dem
Saarland die Ausbildungsquote ebenso wie in Thüringen
und Sachsen explosionsartig hoch gegangen ist - die Steigerung betrug zwischen 6 und 7 Prozent -, während andere Länder wie Bayern oder Brandenburg rückläufige
Zahlen aufweisen. Bayern war heute ja schon als Vorbild
in Sachen Kampfhunde erwähnt worden; bei den Lehrstellen hat es diesmal nicht geklappt.
Wir sind also alle der Meinung, dass es notwendig ist,
aus diesen Programmen langsam auszusteigen. Auf der
anderen Seite ist jedoch die spezifische Situation des
Ostens zu berücksichtigen. Wenn über beides hier im
Raum Konsens besteht, dann ist es logisch, dass unser
Vorgehen genau richtig ist.
({5})
Wir haben einen Politikmix erarbeitet, in dem verschiedene Maßnahmen zielgerichtet dafür sorgen sollen,
der spezifischen Situation im Osten, soweit es geht, Herr
zu werden. Sie wissen, wir werden noch ungefähr fünf
Jahre lang diese Verzerrung haben. Wir haben im Bündnis für Arbeit nicht nur den Ausbildungskonsens, sondern auch die Ausbildungskonferenzen beschlossen, die
zum Teil schon sehr aktiv sind. Wir haben Nachvermittlungsaktionen durchgeführt, die von September bis April
eine große Entschärfung auf dem Ausbildungsstellenmarkt gebracht haben. Das wissen alle, die sich damit beschäftigt haben. Es gibt auch wieder ein Sonderprogramm
für Lehrstellen im Osten und eine Reihe von regionalen
Initiativen.
Auf eine Initiative möchte ich noch zu sprechen kommen. Bitte lachen Sie nicht, diese Initiative von den Berufsbildungsfunktionären des DGB im Osten heißt
„Trabi plus“. Nun kann man ja sagen, Gewerkschaften
seien unbeweglich. Ich muss auch sagen: Ich habe viele
so kennen gelernt. Aber dieser Vorschlag ist wirklich flexibel.
({6})
Die Überlegung ist, bis zum Wendeknick im Jahr 2005
ungefähr 15 000 Arbeitsplätze im Osten zu stabilisieren.
Zudem soll eine Chance geboten werden, von der
Pro-Kopf-Förderung wegzukommen; denn wenn die
mittelständischen Betriebe, die gefördert werden sollen,
immer in den Startlöchern sitzen und darauf warten, dass
sie vom Staat wieder 3 000 bis 8 000 DM pro Jahr bekommen, wenn sie einen Lehrling aufnehmen, entspricht
dies noch lange keiner vernünftigen Ausbildungsförderung. Um es einmal klar zu sagen: Hier geht es nur um
Mitnahmeeffekte.
Den Vorschlag „Trabi plus“ finde ich deshalb so interessant, weil er zum einen kostengünstiger ist: Statt
26 000 DM für eine außerbetriebliche Maßnahme auszugeben, verbrauchen wir nur noch 9 000 bis 12 000 DM pro
Lehrstelle und darin sind bereits Sachmittelkostenzuschüsse enthalten. Außerdem werden nur zusätzliche Ausbildungsstellen finanziert. Die Feststellung, ob es sich um
eine zusätzliche Ausbildungsstelle handelt oder nicht, erfolgt anhand eines Querschnitts der letzten drei Jahre. Das
finde ich auch sehr wichtig; denn so kann sich keiner
durchmogeln. Zudem stellt dies auch für kleinere Unternehmen, die in der Ausbildung vielleicht noch nicht so erfahren sind oder noch nicht die Ausbildungsfähigkeit erlangt haben, eine große Hilfestellung dar. Ich glaube also,
dass dies eine gezielte Mittelstandsförderung im Bereich
der beruflichen Ausbildung ist.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Für die PDS-Fraktion
spricht jetzt der Kollege Gerhard Jüttemann.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Die Bundesregierung hat im jüngsten
Berufsbildungsbericht eingestanden, dass die Zahl der
angebotenen Lehrstellen im Osten erneut drastisch zurückgegangen ist, und zwar um 5 bis 10 Prozent.
({0})
Die Katastrophe des sich seit Jahren verschärfenden
Lehrstellenmangels im Osten hat vor allem zwei Ursachen. Die erste Ursache sind die Liquidierung fast der
gesamten wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Potenziale in den ersten Jahren nach der Vereinigung sowie die Beseitigung eines Großteils der Arbeitsplätze. Zudem gibt es auch im zehnten Jahr der Einheit
kein tragfähiges Konzept eines nachhaltigen wirtschaftlichen Aufschwungs der neuen Bundesländer, der dazu
führen würde, dass der Osten vom Tropf des Westens genommen werden könnte.
Die zweite Ursache ist der in der gesamten Bundesrepublik zu beobachtende Trend, dass sich die Betriebe aus
Wettbewerbs- und daher aus Kostengründen von der Berufsausbildung verabschieden. Der Staat fördert diesen
Trend, indem er bei Fachleuteengpässen Green Cards ausstellt und die überfällige Umlagefinanzierung der Ausbildung verhindert.
Es ist doch schon ein unglaublicher Skandal, dass in
der gesamten Bundesrepublik circa 50 Prozent der ausbildungsgeeigneten Betriebe - darunter sind vor allem die
großen - keine Lehrlinge mehr ausbilden. 50 Prozent,
Tendenz fallend - wann wollen Sie denn endlich etwas
dagegen tun?
In Ostdeutschland wurden 1999 5 000 betriebliche
Lehrstellen weniger bereitgestellt als im Jahr davor. Damit schrumpfte das Angebot unter das von 1991; es
reichte kaum noch für die Hälfte der Bewerber. Aber alles, was der Bundesregierung dazu einfällt, ist das Sofortprogramm einer Schmalspurausbildung, mit dem die Statistiken vorübergehend geschönt werden. Von 133 000 zu
Beginn dieses Jahres in das Programm integrierten Jugendlichen hatten nicht einmal 25 000 die Chance auf ein
reguläres Beschäftigungsverhältnis. Das heißt, nicht einmal jedem Fünften der Geförderten ist wirklich nachhaltig geholfen worden. Mehr als vier von fünf waren nach
der Förderung wieder arbeitslos.
Aber der Propagandaeffekt ist der Regierung schon
einmal 2 Milliarden DM pro Jahr wert.
({1})
Warum wohl? Weil sie damit von ihren eigentlichen
Wahlversprechen in Sachen Ausbildung ablenken kann.
Im SPD-Wahlprogramm heißt es nämlich:
Wirtschaft und öffentlicher Dienst müssen in eigener
Verantwortung für ein ausreichendes Lehrstellenangebot sorgen. Anderenfalls wird auf gesetzlicher
Grundlage ein fairer, bundesweiter Leistungsausgleich zwischen ausbildenden und nicht ausbildenden Betrieben notwendig.
Wir befinden uns in der Mitte der Legislaturperiode
und dass das zitierte „anderenfalls“ eingetreten ist, steht
schwarz auf weiß im Berufsbildungsbericht:
Ein von der Wirtschaft getragenes ausreichendes
Ausbildungsplatzangebot konnte noch nicht erreicht
werden. Dies gilt insbesondere für die neuen Länder.
Es besteht also dringender Handlungsbedarf; denn dem
Vorwurf, Ihre Wahlversprechen nicht einzuhalten, werden
Sie sich doch nicht auch noch auf diesem Gebiet aussetzen wollen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und hoffe nur, dass
Sie die duale Ausbildung nicht ganz aus den Augen verlieren.
({2})
Das Wort hat nun die
Bundesministerin Edelgard Bulmahn.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Herren und Damen! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe vorhin gedacht: Das ist ja mal eine Debatte, bei
der wir in vielen Punkten übereinstimmen. Nach Ihrem
Beitrag, Herr Jüttemann, stelle ich fest, dass es doch eine
Reihe von Punkten gibt, bei denen wir in diesem Parlament im Dissens sind.
Wenn wir über die Situation der Ausbildung in den
neuen Bundesländern debattieren, reden wir über die Lebens- und Berufschancen von 140 000 jungen Menschen.
Deshalb muss man zur Kenntnis nehmen - das erwarte ich
von einem Parlamentarier auch, Herr Jüttemann -, was
gemacht worden ist, welche Initiativen gestartet worden
sind. Wenn man eine solche solide Sachevaluierung nicht
durchführt, wird man weder den Anforderungen an eine
politische Arbeit noch den Erwartungen der Jugendlichen
gerecht. Ich werde in meinem Redebeitrag noch auf die
einzelnen Punkte eingehen.
Es geht, liebe Kolleginnen und Kollegen, um die Zukunft der jungen Generation. Auf der politischen Tagesordnung gehört diese ganz nach oben. Das ist bei dieser
Bundesregierung der Fall.
({0})
Das sehen Sie, wenn Sie einen Blick in den Haushalt dieses Jahres werfen. Die Bundesregierung hat sehr bewusst weil sie will, dass die Zukunftschancen für unsere Jugendlichen besser werden - die Ausgaben für Bildung
und Forschung um 5,3 Prozent gegenüber dem letzten
Haushaltsjahr erhöht. Obwohl andere Ressorts Kürzungen hinnehmen mussten, haben wir einen klaren Schwerpunkt auf die Ausgaben für Bildung und Forschung gesetzt.
Wir haben darüber hinaus durch unsere Steuerpolitik
dem Rechnung getragen, was Sie einfordern, Frau Pieper.
({1})
Wir haben mit der Steuerreform, die wir jetzt vorlegen ich hoffe, dass Sie diese Steuerreform im Bundesrat unterstützen, damit sie umgesetzt werden kann -,
({2})
erhebliche Verbesserungen für kleine und mittelständische Unternehmen vorgesehen,
({3})
die ihnen Erleichterungen bringen werden.
Auch bei der Ökosteuer haben wir Erleichterungen für
die kleinen und mittleren Unternehmen berücksichtigt.
Denn im Gegensatz zu Ihnen, die Sie immer nur über die
Belastung der kleinen und mittleren Unternehmen durch
die Sozialversicherungsbeiträge geredet haben, haben wir
den ersten Schritt zur Begrenzung der Sozialversicherungsbeiträge gemacht.
({4})
Sie wissen, dass gerade kleine und mittelständische Unternehmen zu einem großen Teil personalintensive Unternehmen sind. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu den
großen Unternehmen. Wir nutzen die Mittel aus der Ökosteuer,
({5})
um durch eine Reduzierung der Sozialversicherungsbeiträge den personalintensiven Unternehmen zur Seite
zu stehen.
({6})
Frau Ministerin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegen Pieper?
Nach diesem Gedanken.
Last, not least leisten wir - auch das fordern Sie ein ressortübergreifende Zusammenarbeit, die richtig und
notwendig ist. Dies gilt sowohl für Programme der Forschungspolitik, die in meinem Haus entwickelt worden
sind - zum Beispiel das Programm Inno-Regio -, als auch
für Programme des Bundeswirtschaftsministeriums. Wir
wollen in den neuen Bundesländern industrielle Kerne
ausbauen. Sie alle wissen - das bestreitet von Ihnen auch
niemand -, dass das Programm Inno-Regio hervorragend
läuft und genau diese Funktion erfüllt.
Wir machen also keine einseitige Politik, sondern haben die gesamte Bandbreite dessen, was notwendig ist, im
Blick. Denn eines kann ich nur nachhaltig unterstreichen:
In den neuen Bundesländern sind mehr moderne Betriebe
notwendig, insbesondere aus dem Bereich der Hochtechnologie. Ich würde mich freuen, wenn man in dieser Hinsicht gemeinsam an einem Strang zieht.
({0})
Jetzt kommt die Zwischenfrage. - Bitte sehr, Frau Kollegin Pieper.
Frau Ministerin, nach Ihren
Ausführungen zur Unternehmensteuerreform und zur
Ökosteuer möchte ich Sie fragen: Mit welchen Punkten
Ihrer Reformkonzepte haben Sie denn die kleinen und
mittelständischen Unternehmen in den neuen Bundesländern entlastet? Denn gerade bei der Ökosteuer wurden ja
Entlastungen für die energieintensiven Großunternehmen
geschaffen, während die Kleinen davon ausgeschlossen
wurden.
({0})
Ist Ihnen bewusst, dass die Mehrheit der Kleinstunternehmen im Osten Betriebe mit fünf bis zehn Beschäftigten
sind, also keinesfalls mit dem Mittelstand in den alten
Bundesländern verglichen werden können?
({1})
Ich denke, ich habe das vorhin schon ausführlich dargestellt.
({0})
Wir leiten die Einkünfte aus der Ökosteuer nicht in den
allgemeinen Steuertopf,
({1})
- auch das unterscheidet uns im Übrigen von anderen Regierungen -, sondern wir setzen die Mittel aus der Ökosteuer ganz gezielt ein, um die Sozialversicherungsbeiträge zu senken. Das haben wir auch bereits gemacht.
Dies ist eine erhebliche Erleichterung gerade für die personalintensiven Betriebe.
({2})
Ich kann nur wiederholen: Sie wissen, dass kleine und
mittelständische Unternehmen personalintensiv sind. Das
unterscheidet sie von den großen Betrieben, die in einem
wesentlich stärkeren Maße kapital- und geräteintensiv
sind.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe vorhin gesagt, es kommt darauf an, dass wir Vorsorge treffen, damit
die Jugendlichen eine gute Ausbildung erhalten. Wir haben dies getan, weil wir gerade in den neuen Bundesländern leider eine Situation vorgefunden haben, die dadurch
gekennzeichnet war, dass es über Jahre hinweg keinen
Zuwachs bei der Zahl der betrieblichen Ausbildungsstätten gab. Über Jahre hinweg haben unter Ihrer Regierung,
meine Damen und Herren von der Opposition, viele Jugendliche keinen Ausbildungsplatz gefunden. Deshalb
haben wir gesagt: Wir brauchen ein Bündel an Maßnahmen, einen Mix - wie das auch meine Kolleginnen dargestellt haben - aus staatlicher Vorsorge und gleichzeitig zu
treffenden Vereinbarungen, um die Zahl der betrieblichen
Ausbildungsplätze zu erhöhen. Beides muss geschehen.
Ich halte es für völlig falsch und deplatziert, das eine gegen das andere zu stellen. Im Augenblick brauchen wir
beides.
({3})
Deshalb sollte man vorwärts schauen: Erstens. Das Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit hat eine wichtige Funktion erfüllt und wird sie
auch weiterhin erfüllen. Wir haben im Rahmen dieses
Programms vielen Jugendlichen gerade in den neuen
Bundesländern ein Ausbildungsplatzangebot machen
können. Herr Jüttemann, ich verstehe Ihren Kommentar
überhaupt nicht. Denn die Jugendlichen, die ihre Ausbildung im Rahmen dieses Sofortprogramms begonnen haben, befinden sich noch in der Ausbildung. Diese haben
ihre Ausbildung noch gar nicht abgeschlossen. Das ist
auch logisch, denn diese dauert drei bis dreieinhalb Jahre.
Dazu kann ich nur sagen: Adam Riese. Wenn man rechnet, weiß man, dass diese Jugendlichen ihre Ausbildung
noch nicht beendet haben. Aussagen über den Erfolg können wir erst nach Beendigung der Ausbildung treffen.
Zweitens. Ich habe gemeinsam mit der Bundesanstalt
für Arbeit, mit den Ländern und den Sozialpartnern Verbesserungsvorschläge für die zweite Phase des Sofortprogramms, die in diesem Jahr läuft, gemacht. Wir haben eine
sehr sorgfältige regionale Analyse durchgeführt. Die Mittel des Sofortprogramms - das zeigt diese regionale Analyse - werden dort eingesetzt, wo betriebliche Ausbildungsplätze nicht in ausreichender Zahl vorhanden sind,
weil wir keine Konkurrenzsituation wollen.
Drittens. Ich habe mit den neuen Bundesländern das
Ausbildungsprogramm Ost 2000 beschlossen. Wir haben die Zahl der Ausbildungsplätze noch einmal aufgestockt, weil dies notwendig war und ich die Jugendlichen
nicht im Regen stehen lassen will, sondern sie ein Ausbildungsangebot haben sollen.
({4})
Wir haben es mit diesen und den betrieblichen Maßnahmen, auf die ich gleich noch eingehen werde, erreicht,
dass von den knapp 10 000 Jugendlichen, die am 30. September des letzten Jahres noch ohne Ausbildungsplatz
waren, nur noch 2 000 übrig sind. Auch diese 2 000 Jugendlichen haben mehrere Ausbildungsplatzangebote erhalten. Ich kann aber keinen Jugendlichen zwingen, einen
Ausbildungsplatz anzunehmen. Allein schon diese erhebliche Verringerung, die uns gelungen ist, macht deutlich,
dass diese unterschiedlichen Angebote, diese Initiativen,
die wir auf den Weg gebracht haben, Wirkung zeigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, entscheidend ist das
Engagement der Wirtschaft - das sage ich immer wieder, an jeder Stelle und auch hier in diesem Hause -, eine
ausreichende Zahl von Ausbildungsplätzen anzubieten,
um damit den Jugendlichen Lernmöglichkeiten im Betrieb zu bieten. Dies wollen wir, dies ist unsere Zielsetzung.
({5})
Gerade in den neuen Bundesländern müssen dafür
noch mehr Betriebe gewonnen werden. Ich sage den Betrieben auch immer sehr klar, dass die Ausbildung in
ihrem eigenen Interesse liegt, weil sie dann auch über
Fachkräfte verfügen, die die entsprechende qualitativ gute
Ausbildung erhalten haben. Denn wir wissen, dass ab dem
Jahre 2005 die Zahl der Jugendlichen erheblich zurückgehen wird, sodass praktisch schon jetzt eine Fachkräftelücke, ein Fachkräftemangel erkennbar ist. Deswegen
ist das, was die Betriebe leisten müssen, auch Zukunftsvorsorge.
Ich habe den Eindruck, dass die Betriebe dies auch
langsam begreifen. Denn in diesem Jahr - ich finde, auch
das muss man zur Kenntnis nehmen - gibt es eine äußerst
erfreuliche Entwicklung. Wir haben bei einem überproportionalen Anstieg der Ausbildungsplätze in den neuen
Bundesländern eine Zunahme der betrieblichen Ausbildungsplätze um rund 9 Prozent. Das ist zum ersten Mal
ein wirklich spürbarer Zuwachs. Es ist ein Ergebnis der
Vereinbarung des Bündnisses für Arbeit, die wir im Sommer des letzten Jahres beschlossen haben. Sie konnte
natürlich nicht schon im letzten Jahr zu einer deutlichen
Verbesserung der Ausbildungsplatzsituation beitragen,
wird jetzt aber spürbar. Deshalb bitte ich darum, das
Ganze nicht herunterzureden. Damit demotivieren wir die
Leute nämlich wieder. Vielmehr müssen wir den Anstieg
der Zahl der Ausbildungsplätze entsprechend honorieren
und gleichzeitig sagen: Das ist noch nicht genug, wir müssen noch mehr tun.
({6})
Wir brauchen noch mehr Betriebe, damit wir allen Jugendlichen einen betrieblichen Ausbildungsplatz anbieten
können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was vonseiten der
CDU/CSU-Fraktion vorgelegt worden ist, entspricht in
vielen Punkten dem, was wir bereits in Angriff genommen
haben. Wir haben das Programm „Ausbildungsplatzentwickler“. Wir unterstützen damit die Menschen vor
Ort, in die Betriebe zu gehen und sie während der gesamten Ausbildung zu informieren, zu beraten, zu begleiten
und zu unterstützen. Wir haben dieses Programm vonseiten der Bundesregierung noch aufgestockt; denn die
Stärke dieses unmittelbaren Kontaktes hat ein ganz großes
Gewicht.
({7})
Wir haben den Ausbau der Verbundausbildung fortgesetzt, um auch die kleinen und mittleren Betriebe, die
sagen, ich kann mir Ausbildung in meinem Betrieb alleine
nicht leisten, zur Ausbildung zu motivieren. Wir haben
praktisch die Hilfe leistungsstarker Unternehmen als regionale „lead companies“ gewonnen, um damit kleine
und mittlere Unternehmen noch stärker für die Ausbildung zugewinnen.
Frau Ministerin, ich
muss Sie an Ihre Redezeit erinnern.
Herr Jork, Sie haben eine falsche Aussage
gemacht. Die Mittel für diese Programme werden im
Haushalt für das Jahr 2001 nicht gekürzt, sondern sie bleiben auf dem gleichen Niveau. Schauen Sie bitte noch einmal in den Haushaltsentwurf! Dann werden Sie es feststellen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir legen ein großes
Gewicht auf die gezielte Regionalberatung, weil es sich
zur Sicherung und Weiterentwicklung des Ausbildungsplatzangebotes als das A und O erwiesen hat. Wir arbeiten
mit Hochdruck an der Modernisierung von Berufen.
13 neue sind bereits gesetzlich fixiert, vier neue Berufe
haben wir in diesem Jahr beschlossen, 30 Berufe sind noch
in der Flotte, wie wir in Nord-deutschland sagen. Das
heißt, wir arbeiten mit Hochdruck daran.
Wir haben die modernen Technologien und die neuen
Medien nicht nur als Mittel genutzt. Vielmehr haben wir
der Ausbildung gerade in diesem Bereich eine zentrale
Bedeutung beigemessen. Deshalb auch die Verabredung
mit den Unternehmen - die ja die Ausbildung leisten müssen - die Zahl der ausbildenden Betriebe noch einmal von
40 000 auf 60 000 zu erhöhen. Die Ergebnisse, die uns
jetzt vorliegen, zeigen deutlich, dass das kein überhöhtes
Ziel ist. Wir werden dieses Ziel erreichen.
Frau Ministerin, ich
muss Sie leider an Ihre Redezeit erinnern, weil wir sonst
eine neue Runde eröffnen.
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, sage ich kurz: Wir arbeiten dafür und werden weiter
dafür arbeiten, diese positive Trendwende fortzusetzen.
Das sollten alle anderen in diesem Parlament auch tun.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage
auf Drucksache 14/3185 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 22 sowie Zusatzpunkte 12 und 13 auf:
22. Beratung des Antrags der Fraktion der PDS
Erleichterte und erweiterte Rehabilitierung
und Entschädigung für Opfer der politischen
Verfolgung in der DDR
- Drucksache 14/2928 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder ({0})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
ZP 12 Erste Beratung des von den Abgeordneten Günter
Nooke, Ulrich Adam, Hartmut Büttner ({1}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Bereinigung von SED-Unrecht
({2})
- Drucksache 14/3665 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder ({3})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
ZP 13 Beratung des Antrags der Abgeordneten Günter
Nooke, Ulrich Adam, Hartmut Büttner ({4}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU
Den jenseits von Oder und Neiße Verschleppten
wirksam und dauerhaft helfen
- Drucksache 14/3670 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder ({5})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die PDS
fünf Minuten erhalten soll. - Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Petra Pau, PDS-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass wir uns binnen eines halben Jahres erneut mit der Rehabilitierung und Entschädigung politisch Verfolgter der DDR befassen müssen, war vorhersehbar. Der Grund liegt darin, dass die Verbesserungen,
die im Dezember 1999 beschlossen wurden, zum Teil
halbherzig und vor allem bürokratisch waren. Ich wiederhole das auch deshalb, weil wir seinerzeit schon weiter gehende Anträge gestellt haben.
Vielleicht erinnert sich auch Herr Staatsminister
Schwanitz noch daran. Ich hoffe, dass ich künftig in Veranstaltungen mit Betroffenen nicht mehr damit konfrontiert werde, dass mit Bezug auf ihn behauptet wird, die
PDS blockiere die erweiterten Entschädigungszahlungen
sowie die unbürokratische Lösung dieses Problems. Es ist
zum einen zu viel der Ehre, dass Sie meinen, wir könnten
das blockieren; zum anderen entspricht es aber auch nicht
den Tatsachen. Sie erinnern sich: Wir haben im Dezember
weiter gehende Vorschläge gemacht.
Die PDS-Fraktion hat drei Anträge gestellt. Wir wollen, dass erstens die entschädigungsberechtigten Opfer
ihre Nachzahlungen von Amts wegen erhalten - die Praxis seit In-Kraft-Treten des Gesetzes am 1. Januar 2000
zeigt, dass viele Betroffene trotz aller Öffentlichkeitsarbeit nicht erreicht wurden und somit nicht in der Lage waren, ihre Anträge zu stellen -, zweitens verfolgte Schülerinnen und Schüler, denen Berufs- und Studienmöglichkeiten verwehrt wurden, in den rentenrechtlichen
Nachteilsausgleich einbezogen werden, drittens Haftfolgegesundheitsschäden dort anerkannt werden, wo sie zu
vermuten sind.
Sie wissen alle - wir haben noch die Schilderungen der
Betroffenen im Ohr -, wie schwierig es heute ist, Nachweise für diese Schäden zu erbringen. Dazu gehört, Herr
Schwanitz, auch die Einlösung Ihres Versprechens, dass
abgelehnte Anträge auf Anerkennung haftbedingter Gesundheitsschäden nochmals von qualifizierten Gutachtern
überprüft werden sollen. Kurzum: Wir wollen gleiches
Recht für bislang benachteiligte Opfergruppen und wir
wollen im Interesse der Betroffenen bürokratische Hürden abbauen.
({0})
Alle drei Vorschläge haben bereits im Dezember eine
Rolle gespielt und wurden auch in der Anhörung des Ausschusses für Angelegenheiten der neuen Länder am
19. November 1999 von Betroffenen und den Sprechern
ihrer Verbände formuliert und begründet. Wir beantragen,
dass diese notwendigen Nachbesserungen so in Gesetzesform gegossen werden, dass diese per 3. Oktober 2000 - also zum zehnten Jahrestag der staatlichen Einheit - in Kraft treten können.
Es liegt uns ein weiterer Antrag der CDU/CSU-Fraktion vor, nämlich der Entwurf eines Dritten Gesetzes zur
Bereinigung von SED-Unrecht. Mit diesem werden ebenfalls Forderungen aus den Opferverbänden aufgegriffen,
vor allem die nach einer Ehrenpension für die Opfer politischer Verfolgung im Beitrittsgebiet. Beide Anträge - der
der PDS und der der CDU/CSU - korrespondieren miteinander, gehen aber auch jeweils weiter als der andere.
So hat die CDU/CSU mit ihrem Entwurf die Betroffenen
im Blick, die bereits Entschädigungen erhalten, das heißt,
diese Anerkennung besitzen, während die PDS weitere Betroffene einbeziehen will. Umgekehrt will die
CDU/CSU die Höhe der Entschädigung anheben, und
zwar auf eine nicht anrechnungsfähige Pension von
1 000 DM monatlich.
Ich denke, wir sollten diese beiden Anträge in den Ausschüssen gemeinsam prüfen und die zum Teil vorhandenen Fragezeichen in der konkreten Umsetzung gemeinsam auflösen. Auch das vorgeschlagene Finanzierungsmodell, mit dem der Bund zu 60 Prozent und die Länder - also wohl vorwiegend die neuen Bundesländer - zu
40 Prozent zuständig würden, gehört aus meiner Sicht auf
den Prüfstand.
Danke schön.
({1})
Jetzt hat der Kollege
Günter Nooke von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Sehr
geehrte Damen und Herren! Ich möchte die Zeit nutzen,
um unseren Gesetzentwurf noch einmal zu begründen, da
es - Frau Pau, Sie müssen das einfach akzeptieren - für
viele Opfer schwierig ist, wenn Sie sich als ehemalige
Pionierleiterin und Privilegierte des Systems dieses Themas allzu stark annehmen.
({0})
Ich will aber deutlich sagen: Wenn wir in der Sache gemeinsam vorankommen, ist das mit Ihnen auch zu machen. Die Hauptsache ist, dass wir am Ende materiell zugunsten der Opfer etwas erreichen.
Vor knapp zwei Wochen, am 17. Juni, nahm ich an einer Gedenkfeier ehemaliger Häftlinge in Berlin-Charlottenburg teil. An diesem Jahrestag des Volksaufstandes gegen die SED-Diktatur in der DDR, der lange Zeit auch
bundesdeutscher Feiertag war, nahmen nur wenige Menschen teil. In absehbarer Zeit wird es kaum noch Zeugen
des Aufstandes von 1953 geben.
Vizepräsidentin Anke Fuchs
Vor fast genau einem Jahr, am 17. Juni 1999, habe ich
in diesem Hohen Hause ebenfalls zu diesem Thema gesprochen. Die damalige Rede stand noch ganz unter dem
Eindruck des Urteils des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Sonderrenten für diejenigen, deren Versorgung der SED besonders am Herzen lag. Seither leben
ehemals Privilegierte des SED-Regimes im Rechtsfrieden. Angeblich hat dieses Urteil, wie eine Pressemitteilung des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung damals mit Bezug auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts lautete, die notwendige Klärung herbeigeführt und eben zu jenem Rechtsfrieden geführt.
Nun kann man sich gewiss gut vorstellen, dass allein
aufgrund der Nachzahlungen, die der betroffene Personenkreis erhält, ein friedliches Leben im Rechtsstaat mehr
als nur gesichert ist. Aber dieser Rechtsfrieden hat eine totale Schieflage. Ich will an diesem Ort und zu diesem
Zeitpunkt nicht wiederholen, was ich damals zu diesem
Urteil gesagt habe, und mein Unbehagen nicht noch einmal zum Ausdruck bringen. Mir geht es vor allem um diejenigen, die ich eingangs genannt hatte. Es geht um eine
schnelle und unbürokratische Lösung für die in der DDR
politisch Verfolgten. Sie ist dringlicher denn je.
({1})
Meine Damen und Herren, wir müssen genau hinhören
und hinschauen, wie unser Umgang mit 40 Jahren SEDDiktatur im Deutschen Bundestag bei den Opfern wahrgenommen wird. Sie können nicht so laut schreien, wie es
mit vielfältiger Unterstützung den Privilegierten des
SED-Regimes möglich war.
Wir haben heute Vormittag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion gesprochen. Wir haben damit
über die Erfolgsgeschichte dieses Landes debattiert; darüber kann überhaupt kein Zweifel bestehen. Für die
meisten Menschen in unserem Land war das ein politischer Erfolg, und für die Menschen in der damaligen DDR
war es ein politischer und wirtschaftlicher Erfolg.
Die Hoffnungen derjenigen, die bis 1989 dem politischen System der DDR Opposition und Widerstand entgegengesetzt hatten, haben sich allerdings nur zum Teil
erfüllt. Ich sage hier ganz bewusst als Mitglied der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion: In diesem Hohen Hause
ist in den vergangenen Jahren, nicht nur im letzten Jahr,
zu wenig für die Opfer der SED-Diktatur getan worden.
({2})
- Ja, da können wir klatschen.
({3})
Gerade an der Debatte über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion ist doch heute Vormittag eines
klar geworden: dass dringende politische Entscheidungen
notwendig sind und nicht nur von der Kassenlage abhängig gemacht werden dürfen. Ich halte die Frage nach einer angemessenen und gerechten Entschädigung für die
Opfer der SED-Diktatur in erster Linie für eine Frage des
politischen Willens. Wir hier im Deutschen Bundestag
sollten diesen politischen Willen demonstrieren und eine
solche angemessene Entschädigung durchsetzen, und
zwar jetzt.
Ich hatte vor einem Jahr bei der Begründung des damals von der CDU/CSU-Fraktion eingebrachten Gesetzentwurfes zum Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz ausdrücklich darauf hingewiesen, dass dieses nur einen ersten, viel zu bescheidenen Beitrag zur Verbesserung
der Lage der Opfer des SED-Regimes zu leisten vermag.
Ich hatte weiterhin zu Protokoll gegeben, dass sich künftige Regelungen in dieser Frage in stärkerem Maße an den
von den Opferverbänden geforderten 1 400 DM monatliche Rente orientieren müssten.
Eine Orientierung an den Renten für Opfer des Nationalsozialismus - das ist ja die Grundlage für die Forderung der Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft ist aus unserer Sicht durchaus verständlich. Es kann kein
Zweifel daran bestehen, dass es beim Rückblick auf die
beiden deutschen Diktaturen im vergangenen Jahrhundert
keine Opfer zweiter Klasse geben darf.
Eine Behandlung des Themas ausschließlich nach Kassenlage halte ich in diesem Falle auch deshalb für schädlich und unaufrichtig, weil eben diese Nachzahlungen aus
den Zusatz- und Sonderversorgungssystemen, die vielen
ehemaligen SED-Kadern - Professoren für MarxismusLeninismus und sozialistisches Recht - zuteil werden,
letztlich mehr Geld erfordern als die berechtigten Vorstellungen der SED-Opfer.
({4})
Herr Staatsminister Schwanitz, Sie sagten in der Debatte über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion
heute Morgen, man müsse sich gegen den Angriff auf die
offene Gesellschaft wehren und sich diesem entschlossen
entgegenstellen. Was meinen Sie denn damit? Sollen etwa
unter Einschluss der alten SED-Kader Bündnisse gegen
Rechtsextremismus geschmiedet werden? Sollen ehemalige Staatsbürgerkundelehrer der DDR den Schülern mit
antikapitalistischem, ideologischem Unterton die notwendige Toleranz gegenüber Ausländern beibringen?
({5})
Auf der anderen Seite werden diejenigen, die sich zu Zeiten der SED-Diktatur gegen diese SED-Kader, MLProfessoren und Staatsbürgerkundelehrer oft mit nicht
mehr als einem mutigen Wort wehren konnten, weiter mit
Füßen getreten. Schafft das wirklich Bewusstsein? Trägt
das zur politischen Bildung bei?
Ich glaube, die Bundesregierung will mit dem, was sie
an Billigregelungen beim Thema Opfer der SED-Diktatur
anbietet, dies sogar abschließend regeln. Ich sage deutlich
für meine Fraktion: Wir werden dies nicht zulassen.
({6})
Die CDU/CSU-Fraktion möchte mit dem vorliegenden
Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Bereinigung von
SED-Unrecht einen wirklichen Rechtsfrieden im Lande
herstellen. Wir halten die derzeitigen Rentenregelungen
für politische Opfer des SED-Regimes für nicht ausreichend und demzufolge für ungerecht. Von einem Rechtsfrieden kann keine Rede sein. Mit dem vorgelegten
Gesetzentwurf würde man aus unserer Sicht nicht nur der
Situation der Opfer politischer Verfolgung in der DDR gerecht werden und diese weiter verbessern; vielmehr wäre
die von meiner Fraktion vorgeschlagene Ehrenpension
von 1 000 DM monatlich auch ein deutliches politisches
Signal.
Wir haben außerdem klargestellt, dass die Kapitalentschädigung - 1 000 DM pro Haftmonat - auch ein
Signal für die Andersartigkeit der Haft in Bautzen im Vergleich zur Haft im heutigen Moabit wäre. Ich glaube, auch
die Verschleppten jenseits von Oder und Neiße brauchen
eine unbürokratische Regelung.
Aber ich sage ganz deutlich: Der besondere Stellenwert und die Bedeutung von Opposition und Widerstand
werden mit diesem Gesetz hervorgehoben. Die Menschen, denen mit diesem Gesetz geholfen werden soll, haben zu Zeiten der Diktatur für eine offene Gesellschaft
gekämpft. Auf diese Menschen, Herr Schwanitz, müssten
Sie zugehen, wenn Sie ein Zeichen setzen wollen.
({7})
Opposition und Widerstand gegen die SED-Diktatur,
die diese schließlich beseitigt haben, gehören zu den historischen Leistungen, auf die alle Deutschen mit Recht
stolz sein können. Fast 150 Jahre deutscher Geschichte
ohne erfolgreichen Kampf für Freiheit wurden mit dem
Zusammenbruch der DDR beendet. Aber dies war mit vielen persönlichen Opfern verbunden. Solange sich die Opfer des SED-Regimes wie politische Opfer zweiter Klasse
fühlen müssen, solange ist nach meiner Auffassung der
Rechtstaat in der Pflicht. Der materielle Wert der Ehrenpension wird die verlorenen Jahre der Haft und die Zeit
der intensiven Verfolgung durch die Staatssicherheit der
DDR auch diesmal nicht wiederbringen können. Aber
eine Ehrenpension kann in sozialer und ökonomischer
Hinsicht die fortwirkenden Probleme, unter denen gerade
die Opfer der SED-Diktatur zu leiden haben, lindern helfen.
Unser Ziel ist es, mit unserem Gesetzentwurf, den Sie
gut und gern auch als einen Neuanfang bei uns verstehen
können, jetzt eine endgültige Regelung für die Opfer
durchzusetzen. Auch dies ist eine grundsätzliche Voraussetzung zur Erlangung wirklichen Rechtsfriedens. Wir
sollten nicht wie in anderen Fällen 50 oder 60 Jahre warten.
({8})
Die Vokabeln „sozialer Frieden“ und „soziale Gerechtigkeit“ benutzen gerade die Sozialdemokraten sehr häufig. Ich möchte Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen
von der SPD-Fraktion, ganz besonders darum bitten, den
vorliegenden Gesetzentwurf auf Brauchbarkeit zu prüfen
und gemeinsam mit uns schnell und erfolgreich über ihn
zu verhandeln. Herr Staatsminister Schwanitz, das ist
auch ein Angebot an die Bundesregierung, ihre bisherige
Politik zu diesem Thema zu überdenken.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat nun die
Kollegin Barbara Wittig, SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst ein Wort zu Herrn Nooke. Herr
Nooke, ich weiß, dass Sie gerne polarisieren; insofern
habe ich mich über manche Passagen Ihrer Rede nicht
gewundert. Das möchte ich als Vorbemerkung sagen.
({0})
- Darauf komme ich nachher gerne zurück.
Als wir am 26. November des vergangenen Jahres den
Gesetzentwurf zur Verbesserung rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für die Opfer der politischen Verfolgung
in der ehemaligen DDR verabschiedet haben, waren wir
uns einig, dass wesentliche Verbesserungen für die Betroffenen erreicht werden konnten. Die Rehabilitierung
und die Entschädigung der Menschen, die in der DDR und
zuvor in der Sowjetischen Besatzungszone Opfer der politischen Verfolgung geworden sind, sind eine Anerkennung des Leids der Verfolgten und ihrer Widerstandsleistung. Die Leistungen nach den Rehabilitierungsgesetzen
können jedoch nur Nachteile ausgleichen. Mit Geld aufzuwiegen ist das erlittene Schicksal, das den Menschen
zugefügte Leid jedoch nicht.
Diese Sicht entspricht auch dem Geist der Ehrenerklärung des Deutschen Bundestages vom 17. Juni 1992,
in der all jenen tiefer Respekt und Dank bezeugt wird, die
durch ihr persönliches Opfer dazu beigetragen haben,
nach über 40 Jahren das geteilte Deutschland in Freiheit
wieder zu einen.
Die gesetzlichen Regelungen zur Rehabilitierung und
Entschädigung haben die Situation der Opfer der politischen Verfolgung nachhaltig erleichtert und verbessert.
Zu nennen sind zum Beispiel die nun einheitliche
Haftentschädigung von 600 DM pro Haftmonat, die bessere Unterstützung der Hinterbliebenen von Todesopfern,
die Verlängerung der Antragsfristen aller drei Rehabilitierungsgesetze um zwei Jahre. Dies sind wirklich wesentliche Verbesserungen.
({1})
Auch die PDS kommt mit ihrem Antrag auf Drucksache 14/2928 nicht umhin, dies anzuerkennen. In Nr. 1 ihres Antrags fordern Sie, dass die bereits anerkannten Opfer entsprechende Nachzahlungen von Amts wegen erhalten. Bisher ist ein formloser Antrag erforderlich. Das
von der PDS geforderte Verfahren führt zu einem unvertretbaren hohen Verwaltungsaufwand und mindert ihn
nicht etwa, wie die PDS behauptet.
Erinnern Sie sich doch bitte an die Berichterstattergespräche im vergangenen Herbst! Wir haben über diese
Probleme diskutiert und erkannt, dass beispielsweise die
für die Auszahlung der Kapitalentschädigungen zuständigen Landesbehörden feststellen müssten, ob die Berechtigten noch am Leben sind, ob sie am gleichen Ort wohnen, ob sie im Falle des Wegzugs eine Feststellung des
neuen Wohnortes betreiben müssten, ob sie die Abgabe an
die neue zuständige Behörde veranlassen müssten und anderes mehr. Im Erbfall müssten sie die Erben ermitteln,
was teilweise sehr schwierig ist.
Dagegen ist die gegenwärtige Praxis über einen formlosen Antrag zumutbar und durch die Opfer und ihre Angehörigen leicht zu erledigen. Die Bearbeitung kann ohne
Verzug beginnen und zügig zu Ende geführt werden. Von
den Verfolgtenverbänden wird dieses Verfahren übrigens
mitgetragen.
Zur Einbeziehung verfolgter Schüler, wie in Nr. 2 des
Antrags gefordert, ist Folgendes zu sagen: Der Nachteilsausgleich in der Rentenversicherung ist strikt berufsbezogen und deswegen muss der Verfolgte bestimmten Berufsgruppen und bestimmten Qualifizierungsbereichen zugeordnet werden.
({2})
Dies setzt voraus, dass das Berufsbild bereits zum Zeitpunkt des Eingriffes, also zum Zeitpunkt der Verfolgungsmaßnahme, hinreichend konkretisiert ist. Genau
diese notwendige Konkretisierung des Berufsbildes fehlt
bei dem Eingriff in die vorberufliche Ausbildung. Es
müssten hypothetische Lebensläufe über lange Zeiträume
nachvollzogen werden.
({3})
Dies dürfte fast unmöglich sein. Darüber haben wir in den
Ausschüssen bereits in der Vergangenheit diskutiert.
({4})
- Herr Nooke, ich zum Beispiel durfte aufgrund meiner
sozialen Herkunft nicht zur Oberschule gehen und es war
nicht damit zu rechnen, dass ich einmal im Bundestag
lande.
Demgegenüber haben die am schwersten Betroffenen,
die sofort in Haft genommenen Schüler, ihren Nachteilsausgleich in der Rentenversicherung geltend machen können; denn Haftzeiten sind nach allgemeinrechtlichen
Regelungen als Ersatzzeiten in der Rentenversicherung
anzurechnen.
Zur Anerkennung haftbedingter Gesundheitsschäden ist zu sagen: Richtig ist, dass es in der Vergangenheit
bei der Anerkennung haft- bzw. verfolgungsbedingter Gesundheitsschäden Probleme gegeben hat, und zwar auch
nach dem Häftlingshilfegesetz. Dies wurde von den Opferverbänden zu Recht beklagt. Zur Beseitigung dieses
Missstandes schlägt die PDS nun die vorhin schon angeführte Vermutungsregelung vor. Nach meiner Auffassung
würde die Einführung eines solchen Vermutungstatbestandes immer auch dessen Widerlegbarkeit implizieren
und die Verwaltungsbehörden gegebenenfalls sogar darauf orientieren, die in dem Antrag aufgestellten Behauptungen zu überprüfen und zu widerlegen, statt die positiven Tatsachen zu ermitteln und sämtliche Beweiserleichterungen anzuwenden. Im Übrigen dürfte bekannt sein,
dass ein Vermutungstatbestand dem System des sozialen
Entschädigungsrechts völlig fremd ist und unter dem
Aspekt der Gleichbehandlung aller dann generell einführbar wäre. So erfolgt die Anerkennung von verfolgungsbedingten Gesundheitsschäden gegenwärtig nach
den Kausalitätsgrundsätzen des sozialen Entschädigungsrechts mit wesentlichen Beweiserleichterungen wie
Glaubhaftmachen, Annahme der Wahrscheinlichkeit des
ursächlichen Zusammenhangs und anderes mehr.
Die korrekte und konsequente Anwendung des geltenden Rechts sichert den Betroffenen ihre Rechte. Eine Tagung vom 30. November bis zum 2. Dezember 1999 mit
den Versorgungsverwaltungen der Länder in Magdeburg
unter Federführung des Bundesministeriums für Arbeit
und Sozialordnung hat unterstrichen, dass die bestehenden Regelungen des sozialen Entschädigungsrechts mit
der dort geltenden Kausalitätsnorm der wesentlichen Bedingungen in jedem Fall eine sachgerechte Entscheidung
garantieren, wenn alle gesetzlich vorgesehenen Beweiserleichterungen genutzt werden.
Um mögliche Härtefälle auszugleichen, ist auch eine
Überprüfung der seit 1991 durch Ablehnung abgeschlossenen Fälle vorgesehen. Neue medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse, vor allem solche zu psychischen Folgen politischer Haft, lassen sicherlich auch neue Entscheidungen in abgelehnten Fällen zu. Diese werden dann
von Amts wegen bei einer zentrale Stelle durch besonders
geschulte und erfahrene Sachbearbeiter und Gutachter
überprüft und gegebenenfalls neu entschieden.
Durch diese Maßnahmen wird aufgrund bestehender
Gesetzeslage durch entsprechende Verwaltungsanwendung auch garantiert, dass die legitimen Rechte der
Opfer in Übereinstimmung mit ihren Verbänden gewahrt
werden.
Im Übrigen möchte ich daran erinnern, dass im Verlaufe der Ausschussberatungen die Bundesregierung gebeten wurde, einen Bericht vorzulegen. Sie hat dies für
Herbst dieses Jahres zugesagt.
Die CDU/CSU-Fraktion bringt nun einen Entwurf für
ein Drittes Gesetz zur Bereinigung von SED-Unrecht ein.
Schon im Herbst des vergangenen Jahres, als wir über die
Verbesserung der rehabilitierungsrechtlichen Vorschriften
diskutiert haben, spielte die Einführung einer Ehrenpension eine Rolle. Die konkreten Fakten hat Herr Nooke genannt. Ich muss Sie an dieser Stelle fragen, meine Damen
und Herren von der CDU/CSU: Warum wecken Sie jetzt
mit Ihren Vorstellungen bei den Betroffenen unerfüllbare
Hoffnungen? Schließlich hatten Sie acht Jahre Zeit, um
Ihre Vorstellungen umzusetzen.
({5})
Um auf einen Teil Ihrer Rede einzugehen, Herr Nooke Sie haben eben selbst zu Recht gesagt, es sei immer eine
Frage des politischen Willens -, sage ich Ihnen, dass es Ihnen hier am politischen Willen gefehlt hat.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang an Folgendes erinnern: Im Jahre 1992 legte die CDU/CSU-F.D.P.Regierung einen Entwurf eines strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes vor. Dieser sah eine Kapitalentschädigung in Höhe von „300 DM“ vor. Am 17. Juni 1992
haben 42 Abgeordnete Ihrer Fraktion in einer Erklärung
betont, dass es
Aufgabe der Bundesregierung gewesen wäre, einer
Ehrenschuld des Staates von solchem Rang durch
entsprechende finanzielle Umschichtungen im Haushalt zur gerechten Erfüllung zu verhelfen. Dieser
Aufgabe ist sie nicht gerecht geworden. Ein finanzwirksames Gesetz kann jedoch nicht gegen den Bundesfinanzminister finanziell aufgestockt werden.
So weit das Zitat aus der 12. Wahlperiode.
Interessant ist übrigens - das werden Sie feststellen,
wenn Sie das einmal nachlesen -, dass zu den Unterzeichnern auch Abgeordnete gehören, die nun in der Opposition ganz andere Forderungen aufmachen, wie zum
Beispiel Frau Merkel. Sie verlangen wider besseres Wissen von uns, was sie selber nicht gemacht haben. Erst im
Vermittlungsausschuss wurde auf Druck der SPD-Seite
der Betrag für diejenigen, die nach der Haft in der ehemaligen DDR verbleiben mussten, auf 550 DM angehoben. Die neue Regierung hat diese Ungerechtigkeit beseitigt und die Kapitalentschädigung einheitlich auf 600 DM
angehoben. Haben Sie das alles vergessen?
Vergessen zu haben scheinen Sie auch, dass die Verbesserungen der rehabilitierungsrechtlichen Leistungen Ende des vergangenen Jahres im federführenden Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder einstimmig
angenommen wurden. Herr Nooke sprach vorhin wider
besseres Wissen von „Billiglösungen“. Übrigens waren
Ihnen die Urteile des Bundesverfassungsgerichts vom
28. April 1999 zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt. Deshalb muss ich noch einmal auf einen Teil der Begründung
Ihres Gesetzentwurfs eingehen. Dort heißt es:
Die bisherigen fiskalpolitisch motivierten Überlegungen, die einer solchen angemessenen Würdigung
bislang entgegengestanden haben, lassen sich angesichts der vom Bundesverfassungsgericht getroffenen Entscheidungen vom 28. April 1999 zu Fragen
der Überleitung von Ansprüchen und Anwartschaften aus Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der
DDR in die gesetzliche Rentenversicherung des wiedervereinigten Deutschlands und der Umsetzung
dieser Entscheidungen durch die Bundesregierung
nicht länger aufrechterhalten.
({6})
Anzumerken ist hierzu, dass das Bundesverfassungsgericht in seinen Urteilen deutlich gemacht hat, dass die
teilweise drastischen Entgeltbegrenzungen im Rahmen
der Rentenüberleitung kein rentenrechtlich taugliches
Element zur Vergangenheitsbewältigung sind. Klarzustellen ist außerdem, dass Sie es waren, die die Entgeltbegrenzungen der ersten frei gewählten Volkskammer nicht
akzeptiert haben. Sie sind mit den von Ihnen vorgenommenen weiteren Verschärfungen bewusst ein hohes verfassungsrechtliches Risiko eingegangen. Das Gericht hat
in diesem besonders kontrovers diskutierten Bereich des
deutschen Einigungsprozesses nun eine notwendige
Klärung herbeigeführt - insofern haben Sie mit dem, was
Sie in Ihrer Begründung gesagt haben, vollkommen Recht und logischerweise die Bundesregierung zur Umsetzung
dieser Gerichtsurteile aufgefordert. So weit zu diesem
Thema.
Ausführlich werden wir in den Ausschüssen auch Ihre
Drucksache 14/3670 diskutieren. Ich bitte Sie, meine Damen und Herren von beiden Seiten der Opposition, sich
wirklich noch einmal über die von mir genannten Fakten
Gedanken zu machen. Die weitere Diskussion sollte dann
natürlich intensiv in den Ausschüssen erfolgen.
Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
({7})
Jetzt hat das Wort der
Kollege Jürgen Türk, F.D.P.-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Schon Ende letzten
Jahres, als wir das zweite Rehabilitierungsgesetz diskutierten, habe ich deutlich gemacht, dass wir, weil es einen
Fortschritt in der Sache darstellt, ihm zustimmen, habe
aber auch deutlich gemacht, dass es keineswegs ausreicht,
({0})
denn eine entsprechende Wiedergutmachung darf tatsächlich nicht an der Finanzlage scheitern. Die F.D.P.-Fraktion
hat deshalb damals bei der Beratung des Gesetzentwurfes
einen Entschließungsantrag eingebracht. Er sah vor, den
Opfern eine Opferpension zu gewähren und Beweiserleichterungen für die Anerkennung von Gesundheitsschäden von Verfolgten einzuführen.
Die eine Forderung findet sich im Gesetzentwurf der
CDU/CSU wieder, die andere ist im PDS-Antrag enthalten. Die Zuerkennung einer Opferrente für politisch
Verfolgte ist eine der Hauptforderungen auch der Opferverbände und wohl auch eine berechtigte. Die Betroffenen klagen seit Jahren darüber, dass eine solche Rente den
Verfolgten des Nazi-Regimes in der ehemaligen DDR von
Anfang an - richtigerweise - anstandslos gewährt wurde,
sie selber aber aus Finanzierungsgründen, wie immer wieder betont wurde, leer ausgingen. Dabei hätte man beispielsweise die aus natürlichen Gründen frei werdenden
Mittel des Nazi-Opfer-Fonds umwidmen können - das
haben wir damals vorgeschlagen; ich glaube, das geht
auch heute noch - für die Opfer der SED-Diktatur, ganz
davon abgesehen, dass Finanzminister Eichel jetzt unvermutet viele zusätzliche Milliarden DM zusätzlich in die
Kasse bekommt. Die Situation ist also eine andere.
Die Betroffenen erfüllt mit zusätzlicher Verbitterung,
dass aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Dezember 1999 zu Fragen der Überleitung
von Zusatz- und Sonderversorgungssystemen der DDR
ihre einstigen Peiniger und Verfolger materiell jetzt oft
deutlich besser gestellt sind als sie selbst. Das ist in der Tat
fatal. Über diesen Punkt müssen wir gemeinsam nachdenken.
Wenig befriedigend ist auch, dass Opfer, die aufgrund
der Verfolgung dauerhafte Gesundheitsschäden erlitten
haben - auch das ist in Ihrem Antrag erwähnt -, kaum eine
Chance haben, dass diese anerkannt werden. 95 Prozent
dieser Anträge werden abgeschmettert, weil der Nachweis
haftbedingter Krankheit natürlich äußerst schwierig ist.
Welcher DDR-Haftarzt hat schon als Grund für eine
Krankheit „Misshandlung“ angegeben? Deshalb sind wir,
so meine ich, den Opfern Beweiserleichterungen schuldig.
Ich plädiere dafür, den Gesetzentwurf der CDU/CSU
um diesen Punkt zu ergänzen. Er würde dann unsere uneingeschränkte Zustimmung finden. Zustimmen könnten
wir auch dem PDS-Vorschlag, dass die Gewährung der
Entschädigung von Amts wegen vorzunehmen ist.
Aber vielleicht schaffen wir es - das würde eine große
Ausnahme darstellen -, im Ausschuss einen gemeinsamen Antrag zu formulieren. Darüber würden wir uns sehr
freuen.
Vielen Dank.
({1})
Jetzt hat der Kollege
Hans-Christian Ströbele vom Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Kollege Nooke, Sie wollen den Opfern der DDRDiktatur eine monatliche Rente von 1 000 DM geben,
längstens zehn Jahre. Sie wollen außerdem Nachzahlungen für Kapitalentschädigungen in Höhe von insgesamt
800 Millionen DM zahlen. Sie haben in Ihrem Gesetzentwurf ehrlicherweise die Zahlen genannt: 1,5 Milliarden
DM würden die Renten kosten. Auf zehn Jahre gesehen
sind das Kosten in Höhe von 15 Milliarden DM. Vielleicht
liegt der Betrag ein wenig niedriger, weil der eine oder die
andere Betroffene inzwischen gestorben ist.
Entsprechende Überlegungen sind schon häufiger im
Bundestag und in den Ausschüssen angestellt worden.
Diese sind vom Grundansatz her auch richtig. Das geschehene Unrecht kann man zwar nicht wieder gutmachen, aber man kann den Opfern für die erlittenen Leiden
Geld zahlen. Das ist grundsätzlich richtig. Als die Damen
und Herren von der CDU/CSU diese Überlegungen unterschrieben haben: Was haben Ihre Kollegen Ihnen gesagt, warum in den acht Jahren, in denen das Geld
vorhanden war und in denen sie die Macht im Parlament
hatten, entsprechende Regelungen zu verabschieden,
diese Überlegungen nicht umgesetzt wurden? Die Idee
war ja nicht neu; sie gab es schon damals.
Warum sind entsprechende Maßnahmen damals nicht
eingeleitet worden? Es gibt auf diese Frage nur eine einzige Antwort: Sie wollten das damals nicht, weil die Prioritätensetzung, die Sie jetzt anmahnen - jetzt sagen Sie,
man müsse andere Vorhaben im Augenblick sein lassen,
damit man diese 15 Milliarden DM plus 800 Millionen DM zur Verfügung stellen kann -, damals eine andere
war. Warum wollen Sie sie jetzt? - Weil Sie genau wissen,
dass Sie dafür keine Verantwortung tragen. Sie können
entsprechende Vorschläge machen, aber nicht beschließen. Damit können Sie in der Öffentlichkeit für sich
Reklame machen.
Was aber nicht in Ordnung ist: Damit wecken Sie Hoffnungen bei Menschen, die möglicherweise Anspruch auf
eine solche Ehrenrente hätten.
({0})
Auf diese Weise kann man mit dem Thema nicht umgehen. Sie wissen ja auch aus Ihrer eigenen Regierungszeit,
dass das entsprechende Geld nicht vorhanden ist. Es geht
nicht nur um die 1 000 DM, sondern es geht in der Summe ich habe es zusammengerechnet - um Milliardenbeträge,
die angesichts der ungeheuren anderen Lasten und Zahlungen, die schon geleistet werden, nicht zur Verfügung
stehen.
Wir waren bestrebt - wir haben das schon damals angemahnt; seinerzeit gehörten Sie noch den Bündnisgrünen an -,
({1})
dass wenigstens Gerechtigkeit geschaffen wird, dass Gerechtigkeit für die Opfer in West und Ost geschaffen
wird. Das haben wir gemacht. Das haben wir Ende des
letzten Jahres auf den Weg gebracht. Wir haben verabschiedet, dass der Tag Untersuchungshaft oder Strafhaft
im Westen genauso viel gilt und mindestens genauso viel
an Entschädigung bringt wie im Osten. Nicht einmal das
haben Sie damals hinbekommen. Deshalb können Sie
jetzt unmöglich einen solchen Vorschlag unterbreiten.
Es gibt auch noch einen inhaltlichen Grund. Sie können doch nicht jemanden, der berufliche Nachteile hatte,
mit jemandem gleichsetzen, der vielleicht fünf Jahre im
Gefängnis gewesen ist. Das tun Sie aber in Ihrem Gesetzentwurf. Sie können doch nicht demjenigen, der fünf
Jahre im Gefängnis gewesen ist, 1 000 DM pro Monat gewähren und demjenigen, der zwei Wochen im Gefängnis
gewesen ist oder berufliche Nachteile hatte, ebenfalls.
Das wäre doch für diejenigen, denen gegenüber Sie das
rechtfertigen müssten, eine ungeheuer ungerechte Lösung. Deshalb ist auch immanent gedacht die Vorstellung,
die Sie hier entwickelt haben, nicht richtig. Wir wehren
uns dagegen, weil damit nicht erfüllbare Ansprüche geweckt werden. Diese Attitüde sollten Sie als ehemaliger
Bündnisgrüner - wir mussten das auch tun - endlich einmal ablegen.
({2})
Ich komme nun zu den Vorstellungen der PDS. Ich
verstehe - ich finde es auch grundsätzlich richtig -, dass
man zum Jahrestag am 3. Oktober, - so haben Sie das
auch gemeint - ein auch materielles Zeichen setzen will.
Die Zeichen, die Sie setzen wollen, sind dafür aber ungeeignet. Wir können uns gern überlegen, ob uns noch etwas
anderes einfällt. Das ist ja noch ein paar Monate hin. Aber
sozusagen aufgedrängte Nachzahlungen zu fordern, zu
fordern, die Leute erst noch zu suchen, um ihnen Nachzahlungen zu gewähren, obwohl sie gar keinen Antrag
stellen, halte ich für den falschen Weg. Es ist schon darauf
hingewiesen worden, dass das einen ganz erheblichen
bürokratischen Aufwand verursacht, der viel Geld kostet.
Dieses Geld sollte man lieber den Opfern direkt zukommen lassen. Das heißt, man könnte sich überlegen, eine
Kampagne zu machen, öffentliche Hinweise zu geben,
damit diejenigen, die anspruchsberechtigt sind, Anträge
stellen. Man könnte vielleicht auch die Vertreterverbände
finanziell in die Lage versetzen, wirksamer zu verbreiten,
dass Anträge gestellt werden können. Das fände ich richtig und vernünftig.
Hinsichtlich der Leute, die aufgrund einer abgebrochenen schulischen Ausbildung Nachteile haben, halte ich
das für problematisch, weil ein hypothetischer Lebenslauf
berechnet werden müsste. Das ist mit zu vielen Unwägbarkeiten verbunden.
Für die Opfer, die für gesundheitliche Haftschäden
eine Entschädigung haben wollen, müssen nachweisen,
dass aufgrund der Haft eine Gesundheitsschädigung entstanden ist. Das ist ungeheuer schwierig, darin gebe ich
Ihnen Recht. Dieses Problem sind wir aber angegangen.
Es ist zugesagt, dass - das halte ich für wesentlich wirksamer - alle alten Entscheidungen noch einmal nach den
neuen Vorschriften überprüft werden. Das wird auch getan. Der Deutsche Bundestag sollte aufpassen, dass das
auch tatsächlich umgesetzt wird. Er sollte seine Kontrollfunktion ausüben. Dann ist diesen Opfern mehr geholfen.
Für das Setzen von Signalen bin ich immer gern zu
haben. Das wären aber nicht die richtigen, praktikablen
Zeichen, die man zum 3. Oktober zu setzen hat.
Seien wir realistisch! Versuchen wir nicht, ungerechtfertigte Forderungen zu erheben! In den Beratungen sollten Sie von diesen Vorschlägen Abstand nehmen.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
Drucksachen 14/2928, 14/3665 und 14/3670 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Rainer Funke, Jörg
van Essen, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Reform der Juristenausbildung
({0})
- Drucksache 14/2666 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Die Aussprache gestaltet sich dadurch, dass die Reden
zu Protokoll gegeben worden sind - ein Jammer; es steht
so viel Schönes drin.1) Aber ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/2666 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 5. Juli 2000, 13 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen allen ein schönes Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.