Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Nacht
zum 15. Juni hat sich die Bundesregierung mit der Energiewirtschaft darauf geeinigt, die Nutzung der Kernenergie geordnet zu beenden. Gleichzeitig wird für die verbleibende Laufzeit der sichere und ungestörte Betrieb der
existierenden Anlagen gewährleistet.
Die breite Zustimmung, welche die Einigung bei den
Koalitionsparteien, aber auch in der öffentlichen Meinung
und in der Energiewirtschaft gefunden hat, zeigt, dass wir
einen fairen Kompromiss gefunden haben. Nur die
Opposition malt wegen des Ausstiegs aus einer angeblichen Zukunftsenergie gleichsam den Untergang des
Abendlandes an die Wand.
({0})
Warum, so frage ich mich, wollen Sie die Realität nicht
nur in Deutschland nicht zur Kenntnis nehmen? Kein Unternehmen der Energiewirtschaft denkt auch nur im
Traum daran, in absehbarer Zeit in Deutschland irgendeinen Antrag für den Neubau eines Kernkraftwerkes zu stellen. Kein Energieunternehmen dachte und denkt im
Traum daran, ein solches Kraftwerk zu errichten.
Der Investitionsbedarf je Kilowattstunde liegt bei der
Kernenergie mindestens doppelt so hoch wie bei anderen
Energieträgern. Den Energiestandort Deutschland werden wir mit der Kernenergie nicht sichern oder gar entwickeln können. Dieses Problem ist auf der Seite der Opposition immer noch nicht erkannt worden.
({1})
Gleichzeitig - das mussten wir insbesondere bei einigen CSU- und CDU-geführten Länderregierungen feststellen - verweigern Sie sich der Lösung der schwierigen
Probleme, die die Nutzung der Kernenergie vor allen Dingen auf dem Entsorgungssektor mit sich bringt.
({2})
- Das ist keine üble Nachrede. Schauen Sie sich doch mal
die Erklärungen Ihres Herrn Stoiber an! Was passiert denn
beständig in Bayern? Da predigt man den Ausbau der
Kernenergie, glaubt aber, dass andere Bundesländer wie
Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen die Entsorgungsfragen für Bayern lösen.
({3})
Das ist klassische Politik nach dem Sankt-Florians-Prinzip: Man hält die Fahne hoch, aber die Arbeit sollen die
Präsident Wolfgang Thierse
anderen machen. Das ist Verantwortung, wie sie Bayern
versteht. So geht das nicht.
({4})
Wer sich wie der eine oder andere Ministerpräsident es ist übrigens nicht nur Herr Stoiber; auch bei Herrn
Teufel ist Ähnliches festzustellen - für die Nutzung der
Kernenergie stark macht, aber ausschließlich den anderen
Bundesländern die Entsorgungslasten, also die Entsorgung der radioaktiven Abfälle, überlassen will, der macht
sich wirklich total unglaubwürdig.
({5})
Eine solche Politik zulasten anderer darf es nicht geben.
Wir haben damit Schluss gemacht. Wir werden diese Politik auch in Zukunft nicht durchgehen lassen.
Über viele Jahre hinweg hat die Nutzung der Kernenergie zu heftigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in unserem Land geführt. Die Bilder von massiven, teilweise auch gewaltsamen Protestaktionen haben
sich in unser aller Gedächtnis eingeprägt. Von Wyhl über
Wackersdorf bis hin nach Brokdorf und Gorleben reichen
die Spuren dieses gesellschaftlichen Konfliktes. Das politische Bewusstsein einer ganzen Generation wurde durch
die Auseinandersetzungen um die Kernenergie mitbestimmt. Anhänger und Gegner standen einander jahrzehntelang fast unversöhnlich gegenüber.
Als in jener Nacht zum 15. Juni 2000 die Einigung erzielt war und ein grüner Umweltminister
({6})
- das ist so und Sie können sicher sein, dass das noch
lange so bleiben wird ({7})
und die Chefs der wichtigsten Unternehmen der deutschen Energiewirtschaft zugestimmt hatten - ich verstehe
ja, dass Ihnen das sehr Leid tut; aber sie hatten Gründe, so
zu handeln -,
({8})
wurden diese Konflikte beendet.
Ein kurzer Blick zurück hilft, das Ergebnis richtig einzuordnen. Fast über ein Jahrzehnt hinweg wurde in insgesamt drei Anläufen versucht, einen solchen Konsens zu
vereinbaren. Ich weiß wirklich, wovon ich rede. Ich habe
selbst viel Zeit investiert, um den unfruchtbaren Grundsatzstreit über die Kernenergie zu beenden und - das ist
genauso wichtig - die drängenden praktischen Probleme,
die damit zusammenhängen, wirklich zu lösen. Mehrmals
hätte es fast geklappt. Jetzt ist es so weit.
({9})
Dass es im dritten Anlauf gelungen ist, ist ein Erfolg
der Bundesregierung, aber auch ein Zeichen für die politische Kultur in unserem Land. Gerade den Menschen, die
in Wackersdorf und Gorleben friedlich gegen Kernkraft
demonstriert haben,
({10})
sage ich: Ich weiß, dass es vielen nicht schnell genug gegangen ist. Aber bei aller Kritik im Einzelnen muss man
sehen, dass es nicht anders möglich war. Wir haben kontroverse Positionen zusammenbringen müssen. Daher ist
es kein Wunder, dass Kompromisse gemacht werden
mussten.
Im Mittelpunkt der Vereinbarung steht ein Kompromiss über die Regellaufzeit der Anlagen. Ursprünglich
hatten die Kraftwerksbetreiber 40 Volllastjahre gefordert.
Selbst in der Schlussrunde hatten sie 35 Kalenderjahre als
Mindestlaufzeit verlangt. Die Bundesregierung - Sie wissen das - ging nach gewiss schwierigen Einigungsgesprächen auch innerhalb der Koalition - das soll überhaupt nicht bestritten werden - mit der Forderung nach
30 Kalenderjahren in die Verhandlungen. Die vereinbarte
Regellaufzeit von 32 Kalenderjahren stellt einen fairen
und auch für die Gegner der Kernenergie vertretbaren
Kompromiss dar.
({11})
Ich weiß, wie schwer dieser Kompromiss auch den
Chefs der Versorgungsunternehmen gefallen ist. Sie müssen ihre Entscheidungen - sie können das jetzt auch - vor
ihren Aktionären, aber auch vor den Beschäftigten rechtfertigen. Ihre Zustimmung wurde sicher durch die vereinbarte Flexibilisierung der Laufzeiten erleichtert. Sie erlaubt den Unternehmen, moderne und wirtschaftliche Anlagen länger zu betreiben, wenn sie dafür ältere und
weniger wirtschaftliche Anlagen früher stilllegen.
Ich will aber eines sehr klar machen: Flexibilisierung
bedeutet nicht, dass die Betriebsdauer der Anlagen in das
Belieben der Unternehmen gestellt worden sei. Vielmehr
wurde für jedes Atomkraftwerk auf der Basis der
Regellaufzeiten eine feste Strommenge vereinbart, welche das Kraftwerk in der verbleibenden Restlaufzeit noch
produzieren darf. Nur wenn ein Kraftwerk früher als vereinbart vom Netz geht, darf ein anderes länger laufen.
Wenn ältere Anlagen abgeschaltet werden, erhöht dies
insgesamt betrachtet auch das Sicherheitsniveau der noch
bestehenden, der laufenden Anlagen. Die älteren sind in
der Regel schlechter als moderne Kraftwerke gegen Störfälle geschützt. Es gibt Ausnahmen. Das ist bekannt. Auch
darauf kann reagiert werden.
Somit war die Flexibilisierung der Laufzeiten der
Schlüssel, um das Interesse der Betreiber an einem wirtschaftlichen Betrieb der Anlagen, um das es uns entgegen
dem, was so geredet worden ist, immer auch ging, mit unserem gemeinsamen Interesse an einer verbesserten Sicherheit vereinbaren zu können.
Im Übrigen gibt es beim Thema Sicherheit keinen Rabatt. Ich will hier ganz klar hinzufügen, dass von den Gesprächspartnern auch nie ein Rabatt in puncto Sicherheit
gefordert worden ist. Kernkraftwerke müssen in DeutschBundeskanzler Gerhard Schröder
land weiterhin auf einem auch international gesehen sehr
hohen Sicherheitsniveau betrieben werden.
({12})
Darüber hinaus haben wir uns darauf verständigt, dass
erstmals die Pflicht zur periodischen Sicherheitsüberprüfung gesetzlich verankert wird.
Ganz entscheidend kommt es mir darauf an, dass bei
der Entsorgung der radioaktiven Abfälle der nun wirklich
vorhandene Problemstau aufgelöst wird. Schließlich war
es die neue CSU-Vorsitzende, Frau Merkel, die 1998 - ({13})
- Das war wirklich keine Absicht, obwohl man das hätte
vermuten können. Entschuldigung.
({14})
Es war die CDU-Vorsitzende, Frau Merkel, die 1998
wegen der Überschreitung von Grenzwerten den Transportstopp verhängt hatte.
Heute sind wir uns mit den Ländern und den Unternehmen über das Sicherheitspaket für die Transporte einig. Ebenso haben wir uns mit der Energiewirtschaft über
die Beendigung der Wiederaufarbeitung verständigt. Dabei werden die bestehenden internationalen Vereinbarungen eingehalten. Auch hier geht es nicht nur um sichere
Entsorgung, sondern die Beendigung der Wiederaufarbeitung liegt auch im wirtschaftlichen Interesse der versorgenden Unternehmen.
Die fast an Hysterie grenzende Erregung wegen der Errichtung standortnaher Zwischenlager kann ich nun
wirklich nicht nachvollziehen.
({15})
Tatsächlich haben sich die Regierungschefs von Bund und
Ländern schon 1979 in diesen viel zitierten Vereinbarungen darauf verständigt, dass weitere Zwischenlager notwendig sind. Der bayerische Ministerpräsident, der sich
so gern auf diese Verständigung beruft, lässt diesen Teil
allerdings unter den Tisch fallen.
({16})
So etwas nennt man wohl selektive Wahrnehmung.
({17})
Im Übrigen sind die standortnahen Zwischenlager vernünftig. Wir wollen und wir werden damit erreichen, dass
unnötige Transporte in die regionalen Zwischenlager, also
nach Ahaus und Gorleben, unterbleiben. Auch das,
denke ich, liegt in unser aller Interesse. Darüber hinaus ist
es auch wirtschaftlich vernünftig.
Vor allen Dingen bedeutet die neue Regelung auch eine
faire Lastenverteilung zwischen den Bundesländern. Damit wird deutlich, dass die Entsorgung der radioaktiven
Abfälle wirklich alle Bundesländer betrifft und nur in gemeinsamer Verantwortung aller Bundesländer getragen
werden kann. Jene Drohungen, die wir da hören, wer alles was nicht genehmigen werde, zeugen wirklich von totaler Verantwortungslosigkeit, was diese Frage angeht.
({18})
Im Übrigen handelt es sich hier um Zwischenlager und
nicht um Endlager. Das betone ich ausdrücklich, weil es
gelegentlich Erklärungen gibt, die da Missverständnisse
aufkommen lassen sollen.
In der Vereinbarung mit der Energiewirtschaft bekennt
sich der Bund ausdrücklich zu seiner gesetzlichen Pflicht,
ein Endlager für radioaktive Stoffe einzurichten. Die Erkundung des Salzstocks in Gorleben wird für mindestens
drei, längstens jedoch zehn Jahre unterbrochen. In diesem
Zeitraum sollen die bestehenden Zweifel an der Eignung
des Salzstocks überprüft werden. Bereits jetzt arbeitet
eine Expertengruppe daran, Eignungskriterien für ein
Endlager festzulegen - damit auch klar wird, dass die
Eignungskriterien abstrakt festgelegt werden müssen und
dann geprüft werden muss, ob ein bestimmtes Endlager
geeignet ist oder nicht.
Ich fordere die Länder nachdrücklich auf, bei der Umsetzung der Vereinbarung konstruktiv mitzuarbeiten. Ich
denke, dies liegt im Interesse der Entsorgung und damit
im Interesse der Unternehmen und der Beschäftigten. Wer
auch auf diesem Feld, wie ich habe lesen müssen, Erklärungen abgibt, was er alles nicht mit verantworten will,
der macht sich selbst verantwortlich, wenn Entsorgung
nicht funktioniert, und hat dann auch die wirtschaftlichen
Folgen dessen zu verantworten.
Nachdem wir den Grundsatzstreit um die Kernenergie
politisch beendet haben, kommt es jetzt darauf an, den
Blick nach vorn zu richten. Wir stellen fest, dass sich die
europäische Energiewirtschaft in einem dramatischen
Umbruch befindet. Die Liberalisierung der Märkte hat
den Druck auf Kosten und Preise enorm verschärft. Im
harten europäischen Wettbewerb sind die Unternehmen
auf langfristig kalkulierbare Rahmenbedingungen angewiesen. Die gemeinsam erzielte Vereinbarung gibt ihnen
die notwendige Planungssicherheit. Gemeinsam werden
Bundesregierung und Energiewirtschaft daran arbeiten,
eine umweltverträgliche und wettbewerbsfähige Energieversorgung zu erhalten und weiterzuentwickeln. Der gefundene Konsens ermöglicht den Unternehmen die wirtschaftliche Optimierung ihrer Anlagen, die Sicherung der
Arbeitsplätze und einen gleitenden Übergang in einen
neuen Mix der Energieträger.
Vor allem stehen wir vor der Herausforderung, die Erfordernisse des Klimaschutzes und einer wettbewerbsfähigen Energiewirtschaft miteinander vereinbar zu machen. Auf dem Weg zu einer umweltverträglichen und
wettbewerbsfähigen Energiepolitik hat die Bundesregierung auch nach dem internationalen Urteil bereits wichtige Marksteine gesetzt: Wir unterstützen massiv die Photovoltaik. Unser Programm vor allen Dingen für die
Kraft-Wärme-Kopplung im Bereich der öffentlichen
Energieversorgung wird nicht nur in Deutschland als
vorbildlich begriffen. Weiterhin - das ist mir wichtig setzen wir auf die heimischen Energieträger, also auf
Steinkohle und Braunkohle gleichermaßen. Moderne
Kraftwerke mit niedrigen Umweltbelastungen und hohen
Wirkungsgraden weisen da den Weg. Vergangene Woche
habe ich in Lippendorf das modernste Braunkohlekraftwerk der Welt mit eröffnen dürfen.
Für die Zukunft wird es aber entscheidend sein, dass
wir hier in unserem Land etwas tun, was man im Bereich
der Energiewirtschaft „Effizienzrevolution“ nennt. Mit
dem Einsatz moderner Technik können wir in 20 Jahren
die Nachfrage nach Energieträgern um ein Drittel vermindern. Dazu gehört übrigens das Dreiliterauto ebenso
wie das Strom sparende Fernsehgerät und das hoch effiziente Kraftwerk. Bei einer weltweit steigenden Nachfrage
nach Energieträgern machen wir damit unsere Volkswirtschaft unabhängiger und damit fit für die Zukunft. Gleichzeitig entlasten wir durch einen sinkenden Energieverbrauch die Umwelt.
({19})
Meine Damen und Herren, ich will die Hoffnung nicht
aufgeben, dass auch noch einige Ministerpräsidenten der
deutschen Länder zu der Einsicht kommen, dass es sich
auch aus wirtschaftlichen Gründen nicht lohnt - von Gesellschaftspolitik will ich in diesem Zusammenhang und
in Bezug auf sie erst gar nicht sprechen -, gleichsam in die
strahlende Rüstung des Atomritters zu schlüpfen, um ein
letztes Mal die Schlachten der Vergangenheit zu schlagen.
({20})
Ich hoffe, dass begriffen wird, dass diese Konsensvereinbarung den Weg für eine neue und wirklich zukunftsfähige Energiepolitik freimacht. Diesen Weg wird die Koalition auch in Zukunft entschlossen gehen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({21})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! Herr Bundeskanzler, als Sie soeben versuchten,
uns in die Nacht vom 14. auf den 15. Juni 2000 zu entführen, da habe ich zwei Dinge Revue passieren lassen:
Zum einen habe ich mich an die Castortransporte und an
die vielen Gespräche mit Menschen erinnert, die große
Angst vor diesen Transporten und vor der friedlichen Nutzung der Kernenergie hatten und haben. Ich brauche nicht
zu betonen, dass ich immer anderer Meinung war und die
friedliche Nutzung der Kernenergie für vertretbar halte.
Aber diese Menschen haben meinen Beteuerungen im
Hinblick auf die Sicherheit der deutschen Kernkraftwerke
und der Castortransporte nicht glauben wollen.
Ich bin damals zur Bürgerinitiative nach LüchowDannenberg gefahren, habe mit den Menschen dort gesprochen und mir ihre Sicht der Dinge schildern lassen.
Ich weiß, dass diese Menschen gefordert haben, sofort
auszusteigen, und zwar deshalb, weil sie jeden Energiekonsens, der den Ausstieg aus der Kernenergie in bestimmten Zeiträumen vorsieht, ablehnten, weil sie die
Verantwortung für die Kernenergie auch vorübergehend
für nicht tragbar hielten. Diese Menschen hatten an den
Regierungswechsel, an Rot-Grün, große Erwartungen.
Sie haben deshalb gefordert: Dieser Ausstieg muss sofort
erfolgen.
({0})
- Herr Präsident, darf ich um Ruhe bitten.
({1})
Je mehr Sie schreien, umso wahrer wird es. Sie wissen das
doch; falls nicht, sollten Sie wieder mal nach LüchowDannenberg fahren.
({2})
Wenn ich mir die von Ihnen getroffene Vereinbarung
anschaue, dann muss ich feststellen, dass die von Ihnen
über Jahre vorgebrachte Argumentation, dass die Sicherheit der bestehenden Kernkraftwerke, die Sicherheit der
Transporte und die Sicherheit der Zwischenlager nicht gewährleistet seien, offensichtlich falsch war.
({3})
Denn Ihre Vereinbarung mit der deutschen Atomenergiewirtschaft lautet, dass der Betrieb von Kernkraftwerken,
die Lagerung von Atommüll und alles, was dazugehört, in
den nächsten 32 Jahren vertretbar bzw. verantwortbar
sind. Das ist aus dem Blickwinkel vieler Menschen, die
sich täglich Sorgen gemacht haben, ein langer Zeitraum.
({4})
Herr Bundeskanzler, es geht offensichtlich nicht um
das, was Sie viele Jahre gesagt haben, und schon gar nicht
um das, was die Herrschaften von den Grünen gesagt haben. Sie haben nicht wegen des Umweltschutzes, nicht
wegen der Energieversorgung und nicht wegen der Wirtschaftlichkeit eine Vereinbarung getroffen, sondern um
taktische, ideologische Vorhaben auf gerade noch vertretbare Art und Weise umzusetzen.
({5})
Wenn Sie in dieser Vereinbarung jetzt davon sprechen,
dass die periodische Sicherheitsüberprüfung, wie wir sie
mit den Betreibern auf freiwilliger Basis festgelegt hatten,
ins Gesetz übernommen werden soll, dann sagen Sie implizit, dass die Sicherheit immer gewährleistet war. Das
möchte ich hier einfach einmal festhalten: Die Sicherheitsphilosophie wird in dieser Vereinbarung in keinem
einzigen Punkt angetastet. Sie hat sich bewährt und deshalb wird sie auch noch 30 Jahre reichen.
({6})
Ich kann mich noch sehr gut an die Behauptung erinnern - ich weiß nicht, ob Frau Griefahn im Raume ist, die
das immer besonders klar ausgesprochen hat -, dass es
sich bei den Hallen in Gorleben und Ahaus sozusagen um
völlig unsichere „Tennishallen“ handle. Dies alles haben
Sie inzwischen akzeptiert, weil es richtig und vernünftig
war. Nach Ihrer Meinung soll nun an jedem Kernkraftwerk ein solches Zwischenlager errichtet werden.
Worum geht es eigentlich? Herr Bundeskanzler, Sie sagen, Sie hätten in der Entsorgungsfrage, die in der Tat die
entscheidende Frage im Hinblick auf die Verantwortbarkeit der Nutzung der Kernenergie ist, Fortschritte erzielt.
Ich kann dies nicht erkennen. Die Erkundungen von
Gorleben sind weit fortgeschritten. Sie trauen sich nicht
zu sagen, dass Gorleben nicht geeignet ist. Sie trauen sich
auch nicht, ein langjähriges Moratorium zu beschließen,
weil Sie Angst haben, dann mit dem Rechtsstaat in Konflikt zu geraten.
({7})
Aber Sie sagen, Sie werden den Entsorgungsvorsorgenachweis dahin gehend ändern, dass der Betrieb von
Kernkraftwerken nicht mehr an Fortschritte im Endlagerbereich gebunden ist. Damit machen Sie implizit die Zwischenlager für lange Zeit zu Quasiendlagern. Sie tun das,
was Sie selbst als Teufel an die Wand gemalt haben: Das
Flugzeug, das in der Luft ist und nicht landen kann, erheben Sie nun zum eigenen Maßstab, indem Sie sich weigern, weitere Erkundungen für Endlager durchzuführen.
Das ist die Wahrheit.
({8})
Der zweite Punkt. Herr Bundeskanzler, Sie haben im
Zuge dieser Gespräche nicht einen einzigen Versuch unternommen, mit den Ministerpräsidenten über eine Weiterentwicklung des Bund-Länder-Abkommens von 1979
zu verhandeln.
({9})
Sie waren selber lange Jahre Ministerpräsident. Sie müssten wissen, dass sich diese Art des Umgangs einer Bundesregierung mit den Bundesländern auf Dauer rächt,
dass man so nicht vorgehen kann. Sie haben nicht einmal
den Versuch unternommen, mit denen zu sprechen, mit
denen Sie hätten sprechen können. Sie haben das einfach
ignoriert, ein Abkommen mit der Wirtschaft gemacht und
gedacht, damit sei die Sache vom Tisch.
Ich sage Ihnen voraus: Die Sache ist damit nicht vom
Tisch, weil wasserrechtliche und baurechtliche Genehmigungsverfahren in die Kompetenz der Länder fallen. Deshalb werden Sie Schwierigkeiten bei der Umsetzung
Ihres Lagerkonzeptes bekommen, die Sie persönlich
herbeigeführt haben, indem Sie nicht mit den Ministerpräsidenten gesprochen haben, wie es sich kollegialerweise gehört hätte.
({10})
Herr Bundeskanzler, Sie haben immer gesagt: Wer aussteigt, muss auch wissen, wo er einsteigt. Nun habe ich in
dieser Vereinbarung den wegweisenden Satz gefunden,
dass die Bundesregierung und die Elektrizitätsversorgungsunternehmen darüber sprechen werden, wie umweltverträgliche und wettbewerbsfähige Energieversorgung in Deutschland gestaltet werden kann. Ich finde
nicht, dass dies eine Bemerkung zu dem Thema „Wer aussteigt, muss auch wissen, wo er einsteigt“ ist. Ich sehe in
all Ihren Vereinbarungen nicht einen einzigen Hinweis darauf, wo Sie einsteigen wollen und wie Sie die Defizite
beheben wollen, die Sie durch diese Vereinbarung hervorrufen.
({11})
Herr Bundeskanzler, an einer Stelle haben Sie die
Katze etwas aus dem Sack gelassen. Als nämlich in Nordrhein-Westfalen Wahlkampf war, haben Sie gesagt: Für
die Kohlekumpel ist der Ausstieg aus der Kernenergie gut.
Das heißt aber für mich: Für das Klimaschutzziel ist er
mit Sicherheit nicht gut.
({12})
Für mich bleibt ein Rätsel, wie nach dem Ausstieg aus der
Kernenergie ein klimaverträglicher, CO2-freier Ersatz für
den 30-prozentigen Anteil der Kernenergie an der Grundlast unserer Energieerzeugung geschaffen werden könnte.
Sie wollen - das hatten auch wir festgeschrieben - den
Anteil der erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2010 auf
10 Prozent steigern. Das ist ein ehrgeiziges Ziel.
Aber selbst wenn Sie annehmen, dass die gesamte erzeugte erneuerbare Energie für den Grundlastbereich eingesetzt wird, was schon nicht wahr ist, bliebe noch immer
eine Differenz von 20 Prozent, über die Sie in dieser
Vereinbarung kein einziges Wort verloren haben.
Im Übrigen: Die Wirtschaft hatte gar keine andere
Wahl, als dieser Übereinkunft zuzustimmen. Sie haben
hier viel von Gesellschaftspolitik gesprochen. Die Art von
Gesellschaftspolitik, die diese Vereinbarung möglich gemacht hat und die über Jahrzehnte versucht wurde zu betreiben, halte ich für einen Rechtsstaat für außerordentlich
kritisch, nämlich zu versuchen, mit einem ausstiegsorientierten Vollzug von Gesetzen die einmal von der Mehrheit
beschlossenen Gesetze außer Kraft zu setzen.
Wenn es aber so wäre, Herr Bundeskanzler, dass in
Deutschland niemand daran denkt, ein neues Kernkraftwerk zu bauen, dann müssten Sie doch nicht in ein
Atomgesetz schreiben, dass der Neubau verboten ist.
({13})
Es ist doch gerade nicht so, dass Sie sicher sein können,
dass auf absehbare Zeit niemand mehr eine solche Entscheidung trifft. Wenn es nämlich so wäre, bräuchten wir
uns alle gemeinsam gar nicht aufzuregen. Sie müssen den
Neubau verbieten, weil Ihnen das ein ideologisches
Grundanliegen ist. Meines Wissens ist es in der deutschen
Geschichte zum ersten Mal der Fall, dass der Bau eines
ganz bestimmten Typs von Anlagen grundsätzlich und per
Gesetz verboten wird, ohne dass Sicherheitsaspekte,
Schadstoffaspekte oder genehmigungsrechtliche Vorbehalte der Grund dafür sind. Deshalb halte ich diese Vereinbarung schon vom Prinzip her für schlecht.
({14})
Was die politische Kultur in unserem Lande anbelangt,
so kann ich nur sagen, dass mich diese Abmachung mit
äußerster Skepsis erfüllt. Es ist nämlich eine Abmachung,
die die betreffende Branche relativ gut stellt, die aber seitens der Bundesregierung zulasten Dritter durchgeführt
wird.
({15})
Sie geht erstens - ich will Ihnen dies aufzählen - zulasten der internationalen Sicherheitsstandards. Ich finde,
man muss schon relativ ruhig schlafen können, wenn man
akzeptiert, dass in Russland 15 Reaktoren vom Typ
Tschernobyl stehen und Deutschland mutwillig und wissentlich aus dem technologischen Know-how und aus
der Verbesserung von Sicherheitsvorschriften aussteigt.
Meine Damen und Herren, durch diese Vereinbarung mit
der deutschen Wirtschaft lassen natürlich die Reputation
und das Gewicht Deutschlands zur Verbesserung von
Sicherheitsbestimmungen beim Betrieb von Kernkraftwerken im internationalen Maßstab massiv nach.
({16})
Damit überlassen Sie Frankreich und Amerika das Feld.
Die Internationale Atomenergiebehörde war auf dem
Wege, international gemeinsame Sicherheitsstandards zu
entwickeln. Deutschland wird sich dort nicht mehr einbringen können. Sie werden damit leben müssen, dass unser Einfluss gerade hinsichtlich der Verbesserung der Sicherheit russischer Kernkraftwerke nachlässt.
Herr Bundeskanzler, bei Ihnen ist jetzt ein Wettrennen
ausgebrochen, darauf zu achten, dass bloß kein Hermeskredit mehr zur Verbesserung der Sicherheit irgendeines
Kraftwerks auf dieser Welt gegeben wird. Ich kann nur sagen: Dies hat für mich mit verantwortbarer Politik nichts
zu tun.
({17})
Diese Vereinbarung geht zulasten des Klimaschutzes,
zulasten der Ausbildungskapazitäten und ganzer Berufszweige sowie zulasten des technologischen Fortschritts in
der Bundesrepublik Deutschland.
({18})
Kollegin Merkel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Griefahn?
Nein, ich gestatte
keine Zwischenfragen.
({0})
- Ich möchte fortfahren.
Herr Bundeskanzler, Ihre Bundesregierung fühlt sich
angeblich dem Prinzip der Nachhaltigkeit verpflichtet.
Sie haben eine politische Drucksituation herbeigeführt:
Sie haben eine Branche dazu gezwungen, mit Ihnen ein
Abkommen zu schließen.
({1})
- Aber Herr Struck, das ist doch ganz klar.
({2})
Sie haben gesagt, dass Sie dies ansonsten durch gesetzliche Maßnahmen erreichen werden. - Damit haben Sie der
Nachhaltigkeit keinen Dienst erwiesen.
({3})
Meine Damen und Herren, Sie haben keine politische
Alternative aufgezeigt. Ich persönlich sehe nicht, wie die
Bundesrepublik Deutschland als Energiestandort erhalten bleiben kann. Ich habe aber auch noch nicht gehört,
dass Sie sich wirklich dazu bekannt haben. Sie haben sich
weder dazu bekannt, aus eigener Kraft die Versorgungssicherheit in Deutschland gewährleisten zu wollen, noch
haben Sie sich dazu bekannt, dass Sie die Wettbewerbsfähigkeit erhalten wollen. Ich glaube, dass wir in diesem
Hause - CDU und CSU werden dazu Vorschläge unterbreiten - einmal darüber diskutieren sollten, was das
Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland als eines hoch entwickelten Industrielandes ist und wie es gelingen kann, in der Energieversorgung aus eigener Kraft
vorne zu sein.
({4})
Sonst, so sage ich Ihnen voraus, wird es dazu kommen,
dass in unserem Land keine Energie mehr produziert
wird, dass aus unserem Land alle energieintensiven Branchen flüchten, weil sie keine sicheren Investitionsbedingungen vorfinden.
({5})
Denn Sie wissen ganz genau, dass durch die Einführung
der Ökosteuer und die Tatsache, dass Sie bei den Verhandlungen über eine europaeinheitliche Ökosteuer nachgelassen haben, für die deutsche Wirtschaft völlig unkalkulierbare Investitionsbedingungen entstanden sind.
({6})
Der Wettbewerbskommissar der EU hat den Ausnahmebestimmungen für die energieintensive Industrie bis
zum Ende des Jahres 2003 zugestimmt. Aber Sie haben
keine Antwort auf die Frage, wie es nach 2003 weitergeht.
({7})
Nach allen Regeln der Europäischen Union werden diese
Subventionen dann auch als solche gewertet werden, werden die Ausnahmeregelungen bezüglich der Beihilfen
wegfallen und muss die deutsche Wirtschaft anschließend
die Ökosteuer voll zahlen. Sie sind dieses Risiko eingegangen, wieder aus rein ideologischen Gründen. Damit
haben Sie, Herr Bundeskanzler, Ihr Wort gebrochen.
Denn Sie haben versprochen: Erhöhung der Mineralölsteuer um höchstens sechs Pfennig, danach nur noch im
Rahmen einer europaeinheitlichen Ökosteuer. Daran haben Sie sich nicht gehalten.
({8})
Diese Vereinbarung zwischen der Bundesregierung
und den Energieversorgungsunternehmen denkt nicht an
morgen. Diese Vereinbarung ist nicht zu Ende gedacht.
Sie ist alles andere als ein Konsens über die Energieproduktion und die Energieversorgung in der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist ein Übereinkommen zulasten
Dritter. Deshalb ist diese Vereinbarung ein Teil dessen,
was wir an Ihrer Politik grundsätzlich kritisieren: Es geht
nicht, dass Sie - wie diese Vereinbarung zeigt - in einer
Zeit der Globalisierung und Internationalisierung eine
nationale und kleinkarierte Politik betreiben.
({9})
Es geht vielmehr darum, im internationalen Rahmen die
soziale Marktwirtschaft weiterzuentwickeln.
({10})
Es geht darum, führend bei der Bestimmung von Sicherheitsstandards zu sein. Es geht darum, Forschungs- und
Entwicklungspotenziale zu stärken, anstatt sie einzudämmen. Es geht darum, internationale Sicherheitsstandards
weiterzuentwickeln. Und es geht darum, als Hochindustrieland selber Energie zu erzeugen, anstatt sie zu importieren.
Deshalb, Herr Bundeskanzler, steht diese Vereinbarung für mich in einer langen Liste von Dingen, die Sie
nicht zu Ende gedacht haben: Noch vor wenigen Jahren
haben Sie einen Studiengang für IT-Fachleute in Hildesheim geschlossen.
({11})
Heute müssen Sie in einer Ad-hoc-Aktion die Green Card
einführen. Ich sage Ihnen voraus, dass Ihnen bei der Kernenergie Ähnliches passieren wird.
({12})
Heute machen Sie eine Vereinbarung zum Ausstieg aus einer ganzen Hochtechnologiebranche und morgen, in wenigen Jahren, werden Sie ad hoc Spezialisten aus dem
Ausland holen müssen, weil wir Know-how im Bereich
der Kerntechnik brauchen.
({13})
Dies nennen wir eine Politik, die nicht zu Ende gedacht
ist, die nicht generationenübergreifendes Denken einbezieht, die sich eben nicht auf die internationalen Rahmenbedingungen einstellt und die dem Gebot der Nachhaltigkeit gerade nicht gerecht wird.
({14})
Deshalb, Herr Bundeskanzler, werden wir - dafür haben Sie alle Voraussetzungen geschaffen - bei einem Regierungswechsel 2002
({15})
diese Vereinbarung rückgängig machen und der Kernenergie in Deutschland wieder eine Perspektive geben.
({16})
Ich erteile dem Bundesminister Jürgen Trittin das Wort.
Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass
sich die Bundesregierung mit den Energieversorgungsunternehmen politisch darauf verständigt hat, die Nutzung
der Atomkraftwerke in diesem Lande geordnet zu beenden, scheint bei Ihnen, in den Reihen der Opposition, ein
großes Maß an Verwirrung ausgelöst zu haben.
({1})
Wer soll Ihnen denn eigentlich die Atomkraftwerke das heißt die Zukunftstechnologie, von der Sie hier die
ganze Zeit reden - überhaupt noch bauen? Während
Sie - Herr Huber hat das gesagt - von dem 14. Juni als
schwarzen Tag für die Bundesrepublik sprechen, scheint
es mir eher so zu sein, dass dies ein schwarzer Tag für
schwarze Ideologen und atomare Glaubenskrieger gewesen ist, denen die Orientierung abhanden gekommen ist.
({2})
Verehrte Frau Merkel, Sie sind der Versuchung des
Bundeskanzlers, sich hier in die atomare Strahlenrüstung
zu werfen, erst im zweiten Teil Ihrer Rede nachgegangen.
Im ersten Teil haben Sie versucht, sich als Sofortaussteigerin darzustellen.
({3})
Gnädige Frau, weder die schimmernde Rüstung des
Atomstreiters noch die schwarze Jacke des Sofortaussteigers passt Ihnen. Beides steht Ihnen nicht. Sie sollten es
lassen.
({4})
Meine Damen und Herren, mit der Befristung der
Laufzeiten der 19 Atomkraftwerke hier in Deutschland
auf 32 Jahre ab Produktionsbeginn sorgen wir dafür, dass
hier die bestehenden Atomkraftwerke im Schnitt nach
13 Jahren vom Netz gehen. Und wir sorgen durch die
exakte Bestimmung der Strommengen dafür, dass es
sich dabei um einen selbstvollziehenden Ausstieg handelt.
Wir wollen eben bei diesem Ausstieg keine quälenden gerichtlichen, insbesondere verwaltungsgerichtlichen Auseinandersetzungen.
Der Eindruck, den Sie hier erwecken, Deutschland mache diesen Ausstieg im Alleingang, ist falsch. Es ist nicht
nur so, dass sich eine Befristung auf 32 Jahre nach Inbetriebnahme international durchaus sehen lassen kann. Es
gibt kein Land, in dem dies schneller geht. Nein, die Behauptung, dass überall um uns herum Atomkraftwerke gebaut und betrieben werden, die dann anschließend den
Strom hier nach Deutschland liefern - man muss es an
dieser Stelle noch einmal mit Nachdruck sagen -, stammt
eher aus der Märchenküche des Deutschen Atomforums.
Mit dem Ausstieg Deutschlands aus der Atomenergie
ist nunmehr die Mehrheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union atomkraftwerksfrei oder hat entsprechende Ausstiegsbeschlüsse gefasst. Und - um auch das
anzufügen - selbst im atomar so hoch entwickelten Frankreich herrscht mittlerweile ein Planungsstopp.
Meine Damen und Herren, wir achten gerade bei dem
Beitritt neuer Länder in die EU wie etwa Litauen oder
Bulgarien darauf, dass die Stilllegung von unsicheren Reaktoren erfolgt. Diese Stilllegung von unsicheren Reaktoren wie Ignalina und andere ist für diese Länder Beitrittsvoraussetzung. Die Behauptung, uns wäre die Sicherheit
in diesen Ländern egal, sollten Sie, meine Damen und
Herren, vor diesem Hintergrund besser nicht länger aufrecht erhalten.
({5})
Wenn hier von der Verantwortung in der Entsorgungsfrage die Rede ist, dann muss ich allerdings sagen, Frau
Merkel: Es ist schon ein starkes Stück, was Sie uns vorhalten. Wer war dafür verantwortlich, dass über Jahre hinweg in diesem Lande der einfache Transport von
Atommüll nach Frankreich und nach Großbritannien sowie die Wiederaufarbeitung genannte Umwandlung dieses Mülls in noch giftigeren Müll, nämlich in Plutonium,
als Entsorgungsnachweis gegolten haben? Sie waren
dafür verantwortlich! Und Sie predigen uns etwas von
Verantwortung?
({6})
Wir beenden die Produktion von Plutonium durch ein
Verbot der Wiederaufarbeitung. Wir haben mit den Unternehmen vereinbart, dass künftig der Nachweis der
tatsächlichen Verwertung und nicht die Ablieferung ins
Ausland Voraussetzung dafür ist, dass wiederaufgearbeitet werden kann. Das bedeutet: Verantwortung ernst nehmen.
({7})
Ich füge eins hinzu: Aus dieser Verantwortung heraus
reduzieren wir die Zahl der Atomtransporte drastisch.
Die Energieversorgungsunternehmen tun auch dieses im
Konsens mit uns. Wir wollen die drei Transporte des
Atommülls aus dem Atomkraftwerk in die Wiederaufarbeitung, von der Wiederaufarbeitung in ein Zwischenlager und vom Zwischenlager dann irgendwann in ein Endlager auf einen einzigen Transport reduzieren.
({8})
Wir wollen die Zahl der Transporte nach Ahaus und
Gorleben tunlichst auf ein Minimum reduzieren. Ich füge
auch hinzu: Wir tun dies ohne Abstriche der Sicherheit.
Für die Anwohner der Zwischenlager zum Beispiel in
Gundremmingen oder Philippsburg gelten künftig die
gleichen Sicherheitsstandards, meine Damen und Herren
von CDU/CSU, wie Sie sie in Ahaus und Gorleben für
ausreichend halten, wo der Müll, der in Philippsburg und
Gundremmingen produziert wurde, bisher angeliefert
wurde. Da gibt es keine Abstriche.
({9})
Ich füge ein Weiteres hinzu, wenn ich von Sicherheit
spreche: Es gibt nicht nur keinen Rabatt bei der Sicherheit. Was bedeuten denn der geltende Sicherheitsstandard
und die zugrunde liegende Sicherheitsphilosophie, von
denen in dieser Vereinbarung die Rede ist? Nach den Vorschriften des Atomgesetzes ist der jeweilige Stand von
Wissenschaft und Technik Grundlage für die Bestimmung
von Sicherheit. Wir haben es hier mit einem dynamischen
und sich weiterentwickelnden Sicherheitsprozess zu tun
und nicht einfach mit dem Festschreiben eines heutigen
technischen Standards. Dieses sage ich mit Nachdruck in
Richtung Diskussion um Zwischenlager.
Ich habe mit Freude gelesen, meine Damen und Herren, dass sich inzwischen auch der hessische Ministerpräsident Roland Koch unsere Auffassung von einem sicherheitsorientierten Vollzug des Atomgesetzes zu Eigen gemacht hat.
({10})
Ich habe mit gewissem Interesse zur Kenntnis genommen, dass hier gesagt worden ist, wir würden mit der Unterbrechung der Erkundung des Salzstocks in Gorleben
die Frage der Entsorgung auf kommende Generationen
verschieben. Nein, das tun wir nicht. Aber Sie haben sich
damit, liebe Frau Merkel, selber ins Bein geschossen. Jahrelang haben Sie den Bürgerinnen und Bürgern in Gorleben, in Lüchow-Dannenberg erzählt, es ginge hier lediglich um eine standort- und entscheidungsoffene Erkundung. In Wirklichkeit - dafür bin ich Ihnen dankbar Bundesminister Jürgen Trittin
haben Sie mit Ihrer heutigen Rede nachdrücklich unterstrichen, dass die Vorwürfe der Lüchow-Dannenberger
Stimmen gerechtfertigt waren. Es ging in Gorleben nie
um eine Erkundung. Es ging um den Bau eines Zwischenlagers, nein, eines Endlagers, um das Schaffen von
Tatsachen. Dieses ungeprüfte Schaffen von Tatsachen
stoppen wir mit dieser Vereinbarung. Das ist der Weg, den
wir gehen.
({11})
Wir werden all die Zweifel an der Geeignetheit von
Salz als Wirtsgestein, an der Frage, ob es nicht vernünftiger ist, Atommüll rückholbar zu lagern, an der Frage des
Ein-Endlager-Konzepts in dem Zeitraum des Moratoriums entsprechend prüfen und in ein verantwortbares Konzept umsetzen.
({12})
Daher ist es auch vernünftig, dass wir das Endlager
Schacht Konrad in Salzgitter vorerst nicht in Betrieb nehmen. Wir wollen offene Entscheidungen und keine Fakten
durch Vorabentscheidungen schaffen.
Ich füge hinzu: Ich freue mich, dass es an dieser Stelle
endlich gelungen ist, diese entscheidungsoffene Diskussion eines verantwortbaren Endlagerkonzepts in Übereinstimmung mit den Energieversorgungsunternehmen zu
einem Abschluss zu bringen. Wir werden in dieser Frage
noch eine Reihe von Diskussionen, Gesprächen und Verhandlungen - auch mit den Ländern - zu führen haben.
Liebe Frau Merkel, Ihre Rede war - mit Verlaub rückwärts gewandt. Sie sagen uns, wir müssten zu einem
kollegialeren Verhältnis mit den Ministerpräsidenten der
Länder kommen. Ich bin einmal Föderalismusminister
gewesen, und weil ich aufgrund dieser Tatsache weiß, wovon ich rede, sage ich Ihnen: Wer jahrelang mit den Ländern nur in Form von bundesaufsichtlichen Gesprächen
verkehrt hat, ist der Letzte, der sich hierher stellen und uns
zu einem kollegialen Umgang mit den Ländern ermahnen
darf.
({13})
Wenn es eine Verantwortung gibt, dann ist diese Verantwortung an einem Faktum am besten zu illustrieren:
Unsere Kinder können es sich nicht aussuchen, ob sie
noch in einer Welt mit oder ohne Atommüll leben können.
Kein demokratischer Vorgang in Form von Abstimmung
oder Wahl kann den durch die damalige Entscheidung
verursachten Müll wieder aus der Welt schaffen. Der Einstieg in die Atomenergie war in der Tat unumkehrbar. Die
Verantwortung dafür müssen diejenigen tragen, die damals diesen Beschluss gefasst haben.
({14})
Es geht heute darum, den Ausstieg aus dieser so belastenden und eben gerade nicht nachhaltigen Energieerzeugung - es ist das Gegenteil einer nachhaltigen Energiegewinnung - tatsächlich unumkehrbar zu machen.
Ich habe wenige Tage nach den Verhandlungen in
Klettwitz auf einer alten Braunkohlehalde den größten
Windenergiepark Europas eröffnet. In unmittelbarer
Nähe dieses Projekts werden zwei neue Anlagen ähnlicher Größenordnung installiert. Photovoltaikanlagen
sind in Deutschland mittlerweile derart nachgefragt, dass
die entsprechenden Anlagen auf dem deutschen Markt
nicht mehr zu beschaffen sind. Wir erleben es - Sie wissen das sehr genau -, dass fast in jedem Dorf dieser
Republik Biomasseanlagen geplant werden. Die Bundesrepublik ist heute schon Spitzenreiter in der Energieerzeugung durch Windkraft und erlebt einen Boom erneuerbarer Energien wie noch nie in der Geschichte.
({15})
Das ist die Wirklichkeit und Sie reden davon, wie wir
den Einstieg in eine andere Energie schaffen. Dieser Einstieg läuft von selbst, findet jeden Tag statt und wir haben
dafür die Rahmenbedingungen durch Energieeinsparung
und Verbesserung der Energieeffizienz geschaffen. Dazu
gehört auch die Ökosteuer. Frau Merkel, wenn Sie sich
hier noch einmal als Hintze kostümiert hinstellen, holen
wir Ihr altes Ökosteuerkonzept aus den Schubladen meines Ministeriums.
({16})
Wir wollen die Verdoppelung der Stromerzeugung aus
erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2010. Wir haben davon nicht nur geredet, sondern dies in einem Gesetz umgesetzt. Wir wollen mögliche weitere Ersatzkapazitäten
zum Beispiel durch Gaskraftwerke und eine entsprechende Erweiterung der Kraft-Wärme-Kopplung über
den kommunalen Bereich hinaus mit dem Ziel einer Verdoppelung schaffen.
Damit machen wir klar, dass Klimaschutz und
Atomausstieg nicht in Widerspruch zueinander stehen.
Nur wenn wir die atomaren Überkapazitäten abbauen, haben erneuerbare Energien und intelligente sowie effiziente Technologien am Markt eine Chance. Wenn zum Beispiel RWE heute plant, anstatt künftig Strom zu vertreiben Brennstoffzellen in die Häuser zu liefern, die dann
überschüssigen Strom einspeisen, hat diese Bundesregierung für diese Strategie die Rahmenbedingungen geschaffen.
({17})
Frau Merkel, Herr Stoiber, Herr Koch, Sie können
natürlich ankündigen, dass Sie das Atomgesetz, wenn Sie
irgendwann einmal wieder eine Mehrheit haben - Sie waren so verwegen, von 2002 zu sprechen -, wieder ändern.
Das können Sie, das ist wohlfeil, das kostet nichts, das
können Sie ankündigen. Sie geben damit auch ein Stück
zu, dass Sie die Verabschiedung des Gesetzes wohl nicht
verhindern können. Aber Sie werden sich daran verheben,
die Windparks, die Biomasseanlagen, die Gas- und
Dampfkraftwerke, die kommunalen und industriellen
Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen zugunsten der Atomenergie wieder aus der Welt zu schaffen.
({18})
Und deswegen ist es richtig: Der Einstieg in eine andere
Energiepolitik macht den Ausstieg aus der Atomenergie
tatsächlich unumkehrbar.
({19})
Wie kräftig Sie bei diesen Versuchen sind, haben Sie
beim Erneuerbare-Energien-Gesetz gesehen. Sie haben
im Bundesrat gesagt: Wir werden das blockieren. Und
was ist dabei herausgekommen? Gar nichts ist dabei herausgekommen. Nicht einmal der Bauernverband - entschuldigen Sie, dass ich den Bauernverband hier in einem
Atemzug nenne, aber der Präsident ist nun einmal CSUMitglied - mochte bei Ihrem Kurs mitfahren, weil er
wusste, dass erneuerbare Energien eine Chance gerade für
den ländlichen Raum in diesem Lande sind.
({20})
Meine Damen und Herren, deswegen ist der Ausstieg
aus der Atomenergie eine Zäsur. Er hat das Tor aufgemacht hin zu einer Energiezukunft, die auf Erneuerbarkeit
und Effizienz setzt.
({21})
Ich erteile dem Kollegen Klaus Lippold, CDU/CSU-Fraktion, das Wort zu einer Kurzintervention.
Herr
Minister Trittin, wenn ich Sie gerade richtig verstanden
habe, haben Sie gesagt, der hessische Ministerpräsident
habe sich jetzt Ihren Auffassungen von einem sicherheitsorientierten Vollzug angeschlossen. Ich sage ganz deutlich in der mir eigenen Art: Ich habe selten eine unverschämtere Fehldarstellung erlebt als diese.
({0})
Die hessische Landesregierung unter Ministerpräsident Wallmann hat eine Reihe von Sicherheitsanforderungen für Biblis aufgestellt. Diese sind dann nicht umgesetzt worden infolge des Sachverhalts, dass die hessische Landesregierung zu Rot-Grün wechselte. Rot-Grün
hat nichts getan, um diese Sicherheitsanforderungen zu
realisieren. Nachdem Sie dann, Gott sei Dank, aus der
hessischen Landesregierung wieder herausgeflogen sind,
bedauerlicherweise hier in Berlin Platz nahmen, haben
wir erleben müssen, dass die erneut vorgetragenen
Nachrüstungsforderungen der hessischen Landesregierung von Ihnen blockiert wurden. Das ist der Sachverhalt.
Es ist eine Unverschämtheit, Herr Trittin, jetzt hier zu
sagen, Herr Koch schließe sich Ihnen an. Sachverhalt ist,
dass wir Sie zum Jagen treiben müssen und dass jetzt in
dieser Vereinbarung hoffentlich etwas realisiert wird, was
schon seit langem hessische Unionspolitik gewesen ist.
({1})
Herr Minister Trittin,
Sie haben Gelegenheit zu einer Antwort.
({0})
Der Hinweis mag ja richtig
sein, dass es nichts bringt, aber da außer dem Kollegen
Lippold hier noch ein paar andere Kolleginnen und Kollegen im Raum sind, will ich dennoch antworten.
({0})
Lieber Herr Kollege Lippold, wir haben in der Tat den
Versuch einer scheibchenweisen Nachrüstung, die nicht
die Grundlagen berücksichtigt, zum Beispiel Erdbebensicherheit und anderes, aufgehalten. Diese Billignachrüstung des Landes Hessen hat die Bundesaufsicht
verhindert. Und jetzt lese ich in der Zeitung, dass Herr
Koch erklärt, es werde keine Billignachrüstung des Reaktors Biblis A mit ihm geben. Das empfinde ich als nachdrückliche Bestätigung dessen, was die Bundesregierung
gemacht hat,
({1})
und deswegen freue ich mich, dass auch Roland Koch
nunmehr zum sicherheitsorientierten Vollzug des Atomgesetzes steht.
({2})
Ich erteile das Wort
nunmehr dem Kollegen Walter Hirche, F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Was Worte so alles bedeuten können. Da hört
man heute den Bundeskanzler und den Bundesumweltminister hier sagen, es gebe einen umfassenden Konsens mit
der Energiewirtschaft darüber, dass mit der Kernenergie
Schluss gemacht werden müsse. Ich empfehle die Lektüre
der Pressemitteilung der Elektrizitätsunternehmen, in der
das Gegenteil steht. In dieser Erklärung heißt es:
Die Unternehmen sind weiterhin überzeugt, dass die
Kernenergie aus ökonomischen und ökologischen
Gründen Bestandteil des Energiemixes bleiben
sollte.
Dort heißt es auch:
Die Vereinbarung ... kann einen umfassenden
Energiekonsens nicht ersetzen.
Hier im Parlament wird der Öffentlichkeit etwas vorgegaukelt, was überhaupt nicht vorhanden ist.
({0})
Der Kern der Vereinbarung ist die Garantie der Bundesregierung, dass der Betrieb der Kernkraftwerke und
die Entsorgung des nuklearen Materials in Zukunft nicht
mehr durch politisch motivierte Störungen behindert werden. Aus Sicht der Betreiber ging es darum, sich Rechtssicherheit zu kaufen und sich durch Verzicht auf unbeschränkte Betriebsgenehmigungen von Manipulationen
des bestehenden Rechts durch rot-grüne Regierungen
freizukaufen. Die Betreiber zahlen für Rechtsfrieden in
Deutschland. Sie können das, weil sie notfalls ihren verminderten Gewinn in Preisen - zulasten Dritter - überwälzen können.
Bei dem so genannten Atomkonsens stellt sich damit
meines Erachtens zuallererst die Frage nach den Folgen
für unseren Rechtsstaat. Muss denn künftig jeder, der
nach bestehendem Recht handelt, Sorge haben, dass er zusätzlich an den Staat zahlen bzw. auf Gewinnansprüche
verzichten muss, weil eine rot-grüne Obrigkeit mit Nadelstichen oder mit einem ausstiegsorientierten Vollzug
seine Tätigkeit behindert? Die jetzige Vereinbarung erinnert an die Methode der Schutzgeldzahlung, wie sie in anderen Bereichen der Welt üblich ist.
({1})
Es ist ein Stück aus dem Tollhaus, wie es der frühere
Chefredakteur der Zeitung „Einheit“ der damaligen
IG Bergbau und langjährige SPD-Bundestagsabgeordnete Niggemeier überdeutlich formuliert hat.
({2})
- Sie wollen das nicht hören, aber es ist so. - Die Unternehmen stellen in ihrer Presseerklärung fest:
Eine Alternative, mit der sich ein vergleichbarer
Schutz ihrer Investitionen erzielen ließe, sehen die
Unternehmen nicht.
Deutlicher kann man die Einschätzung von rot-grünen
Regierungen durch die Wirtschaft und damit die Bedrohung von Arbeitsplätzen nicht formulieren. Ich hoffe allerdings, dass dieser Bundestag genauso wie wir Liberale
unter Rechtsstaatlichkeit etwas anderes versteht.
({3})
Auch wenn man eine Sachlage politisch verändern
möchte - das ist Ihr gutes Recht -, muss man sich an
Recht und Gesetz halten. Herr Bundeskanzler, können Sie
die gegebenen Garantien denn überhaupt durchsetzen?
Der niedersächsische Umweltminister, Genosse Jüttner,
erklärt: „Wir wollen nachbessern.“ Das ist geradezu eine
kindische Aussage, wenn der Genosse Kanzler doch die
Vereinbarung geschlossen hat. Die Fraktionsvorsitzende
der Grünen im Niedersächsischen Landtag äußert, diese
Entsorgungspolitik könne nicht zum Maßstab der Dinge
werden. Man könne von ihr nicht erwarten, dass sie den
Atomkonsens nutzt, um für Ruhe in Gorleben zu sorgen.
Sie werde weiter Druck machen.
Festzustellen ist: Die Zauberlehrlinge zündeln weiter.
Ich wünsche den Unternehmen, dass sie wirklich den
Rechtsfrieden bekommen, den sie teuer bezahlen.
Mit dem so genannten Konsens - das möchte ich in
aller Klarheit feststellen, obwohl die Presse davon voll
ist - hat Rot-Grün alle moralisch hochtourig aufgedrehten
Positionen der Vergangenheit über Bord geworfen.
({4})
Die SPD hatte 1986 einen Ausstieg in zehn Jahren beschlossen. Heute, 14 Jahre nach 1986, sagt sie, dass vielleicht in 30 Jahren das Ende kommen werde - immerhin
ein gewaltiger Wandel! Die Grünen haben vom Sofortausstieg gesprochen, und zwar angeblich aus Sicherheitsgründen. Jetzt wird von einer Garantie der Laufzeit von
32 Jahren - so steht es in der Vereinbarung - bzw. von faktisch - 35 Jahren gesprochen.
Frau Merkel hat es schon ausgeführt: Die Vorwürfe
hinsichtlich angeblicher Sicherheitsrisiken bei Kernkraftwerken waren immer eine politische Lüge von
Rot-Grün. Das will ich hier noch einmal in aller Klarheit
feststellen.
({5})
Wer der Meinung ist, dass es solche Sicherheitsrisiken
gibt, der müsste, wie von den Grünen beschlossen, einen
Sofortausstieg vornehmen. Aber indem Sie eine Laufzeit
von faktisch 35 Jahren festschreiben, beweisen Sie selber,
dass Sie in der Öffentlichkeit immer nur Panikmache betrieben und Angst erzeugt haben. Es gibt keine Sicherheitsgründe gegen den weiteren Betrieb von Kernkraftwerken in Deutschland.
Man höre und staune, was zur Entsorgung gesagt wird!
Schacht Konrad soll planfestgestellt werden. Das ist gut
so. Ich finde es nicht gut, dass Sie den Sofortvollzug nicht
beantragen. Denn was ist die Folge? Der Nuklearmüll,
zum Beispiel aus der Nuklearmedizin, wird weiterhin in
der Republik, oberirdisch in Sammellagern, gelagert. Für
Sie besteht darin offenbar eine größere Sicherheit als bei
einem unterirdischen Verbringen. Wenn das alles so sicher
ist, dann schlage ich Ihnen vor: Nehmen Sie doch die
Parkplätze von Krankenhäusern und sammeln Sie dort
den Nuklearmüll! Wenn Sie das tun, dann sparen Sie sich
den Transport in die Sammellager.
({6})
- Herr Müller, Sie müssen doch feststellen, dass Sie in allen von Ihnen in der Vergangenheit vertretenen Punkten
gescheitert sind.
({7})
Was Gorleben betrifft, will ich deutlich sagen, dass der
Kanzler heute aus der Anlage zu der Vereinbarung nicht
richtig berichtet hat. In dieser Anlage zur Vereinbarung
wird festgestellt, dass die Eignungshöffigkeit von Gorleben nicht infrage gestellt ist. Im Gegenteil, die positiven
Befunde der bisherigen Erkundungen geben zu der Annahme Anlass, dass die Geeignetheit gegeben ist. TrotzWalter Hirche
dem will man die Erkundung des Salzstockes unterbrechen. Sie wollen zusätzliche Kriterien untersuchen. Das
kann man machen; aber es ist gegen die Sicherheit. Sie
tragen damit nicht zu mehr Sicherheit bei.
Sofortausstieg: Pustekuchen. Es gibt Laufzeitgarantien, also gibt es sichere Kraftwerke. Das Aus für Gorleben und Konrad: völlig falsch. Zu welchen Verbiegungen
die Grünen in der Lage sind, kann man eigentlich nur
noch mit Mitleid konstatieren.
Ich komme zu Wirtschaftsminister Müller und seiner
Interpretation - das ist vielleicht das Interessanteste - der
Vereinbarung. Nach einer Pressemitteilung der dpa von
gestern äußerte sich Herr Müller skeptisch zu den Möglichkeiten, den vermehrten Import ausländischen Nuklearstroms zu verhindern. Es könne sein, dass wir sehenden Auges mit diesem unerfreulichen Zustand leben
müssten.
Was ist die Folge? Diese Bundesregierung will in der
Bundesrepublik Strom aus Kernspaltung unterbinden;
aber sie weiß zum gleichen Zeitpunkt, dass er durch Nuklearstrom aus Frankreich oder Russland ersetzt wird.
Soll das verantwortlich sein? Das ist das Gegenteil von
Verantwortung!
({8})
Der Bundeswirtschaftsminister setzte in aller Deutlichkeit noch eins oben drauf, indem er einen späteren
Wiedereinstieg in die CO2-freie Kernenergie nicht ausschloss. Diese Frage könne sich in einigen Jahren tatsächlich stellen. Wenn sie sich in drei Jahrzehnten stellt, dann
ist das genau der Zeitpunkt, da man alte Anlagen sowieso
durch neue ersetzen muss. Das heißt, in dieser Bundesregierung gibt es mindestens einen, der der Meinung ist,
dass zumindest das, was öffentlich von dieser Vereinbarung verkauft wird, Nonsens, reiner Wortmüll ist. Auch
nachfolgende Beiträge werden uns das nicht ausreden
können.
Insbesondere ist es versäumt worden - es hätte sich gelohnt, darüber mit den Elektrizitätsversorgungsunternehmen zu sprechen -, eine Vereinbarung über die Verstärkung der Sicherheitsforschung zu treffen. Bei Sicherheitsforschung denke ich an das Trennen von nuklearem
Müll, an Transmutation, an Sicherheitsforschung im Bereich schmelzsicherer Hochtemperaturreaktoren oder an
die Sicherheitszusammenarbeit mit osteuropäischen und
asiatischen Sicherheitskommissionen. All das will diese
Bundesregierung aufgeben. Das ist ein Verzicht auf Sicherheit für die Bevölkerung in Deutschland, und es ist im
Übrigen ein Schlag gegen jede Klimapolitik auf der Erde.
({9})
Wir haben doch hoffentlich noch das gemeinsame Ziel,
Energie auch künftig preiswürdig, sicher und umweltverträglich zur Verfügung zu stellen. Meine Damen und Herren, wer das will, der darf nicht erst einen Ausstieg organisieren und hinterher erforschen, wie denn Einstiege in
neue Technologien erreicht werden können. Umgekehrt
muss es sein: Erst Einstiege und dann kann man über Ausstiege und Veränderungen im Einzelnen reden.
Da die Zahlen in den letzten Tagen auf den Tisch gekommen sind, sage ich hier noch einmal: Im Jahre 1999
hat der Strom aus Kernenergie insgesamt 31 Prozent und
der Strom aus Kernenergie in der Grundlast mehr als
60 Prozent ausgemacht. Wer glaubt, dass man das ohne
weiteres beiseite schieben kann, der ist schlicht und einfach falsch gewickelt.
({10})
Ich will noch einen Punkt aufgreifen, weil ich meine,
dass wir dann, wenn wir über Energiepolitik allgemein reden, auch schauen müssen, wo Brücken der Verständigung sind. Herr Müller, wir haben das im Rahmen dessen,
was Sie als Energiedialog organisiert haben, gemeinsam
versucht. Ich finde diesen Teil der Energiepolitik auch
richtig und bedauere, dass zum einen die CDU/CSU und
zum anderen die Umweltverbände da ausgestiegen sind.
Aber es fehlen in dem Zusammenhang natürlich die entscheidenden Dinge. Es fehlt eine Vereinbarung über die
Energiefragen im Verkehr, und es fehlt der Teil Kernenergie. Deswegen wäre es wichtig, dass sich diese Bundesregierung nun einmal dazu äußerte, wie das Thema Energieeffizienz, von dem auch Sie gestern gesprochen haben,
aufgegriffen werden soll.
Ich glaube schon - diesen Punkt will ich hier ausdrücklich bestätigen -, dass uns die Anregungen, die unter anderem von Ernst Ulrich von Weizsäcker unter dem
Stichwort „Faktor 4“ in die Debatte gebracht worden sind,
beim Thema Energiepolitik weiter bringen als manche anderen Gefechte. Ich persönlich bin auch davon überzeugt,
dass dieses Thema wahrscheinlich mehr Bedeutung hat
als das Thema alternative Energien. Jedenfalls muss beides zusammengebracht werden. Warum wird das nicht gemacht, Herr Müller?
({11})
- Nein. - Das ist ganz einfach: weil Sie Energieeinsparung - so hat mir ein Kollege Ihrer Fraktion etwas resigniert gesagt - nicht fotografieren können. Bei Photovoltaik und bei Windanlagen ist das anders. Davon kann
man mehr hermachen.
Deswegen, meine Damen und Herren, ist es erforderlich, dass wir an dieser Stelle weiterhin über das Thema
Energieeffizienz reden und dass wir insbesondere auch im
Zusammenhang mit den Klimafragen überlegen, wie weit
die Themen Umwelt und Entwicklung und Energie zusammengebracht werden können. Ich beziehe mich damit
auf die Anregungen von Professor Schellnhuber, dem
Potsdamer Klimaforscher, der im Übrigen gesagt hat, es
wäre ein Fehler, jetzt die Kernenergie aus dem Netz zu
nehmen, weil sie uns helfen kann, den Umstieg in alternative Energien besser und sicherer zu betreiben. Weiter
hat er gesagt - ich finde, dass wir in den Ausschüssen des
Bundestags darüber diskutieren müssen -, richtig wäre
eine Solarallianz mit den Ländern in den Wüstenregionen,
in den arabischen Ländern, die heute noch vom Öl leben
und die morgen vielleicht andere Energieformen herstellen können und von denen wir profitieren können.
Aber das alles bedeutet, dass wir in sorgfältiger Weise
Einstiege in neue Techniken, in Innovationen organisieren
müssen und nicht nur Subventionen verteilen dürfen. Vor
allem müssen wir die Kernenergie als CO2-freie Energie
und damit als eine Energieform, die den Treibhauseffekt
mindern kann, auch in Zukunft nutzen. Wer in Deutschland aus der Kernenergie aussteigt, der wird dafür sorgen - diese Erkenntnis bleibt auch nach der Vereinbarung,
die Sie so loben -, dass anderswo in der Welt weiterhin
Kernkraftwerke gebaut werden, und zwar ohne deutsche
Sicherheitsphilosophie. Das, meine Damen und Herren,
ist das Gegenteil von dem, was verantwortlich ist. Moralisch verantwortlich sind das Festhalten am Beitrag der
Kernenergie für eine sichere Zukunft, der Ausbau alternativer Energien und das Nutzen von mehr Energieeffizienz.
Nur mit diesen drei Maßnahmen zusammen werden wir
weiterkommen. Was Sie hier als Vereinbarung vorlegen,
ist ein Schritt in die falsche Richtung, nützt niemandem
und dient einzig und allein der Demütigung und Domestizierung der Grünen.
({12})
- Wenn das ein Erfolg sein soll, Herr Schmidt, dann gratuliere ich Ihnen dazu. Aber ich finde, das ist ein bisschen
zu billig. Dieser Weg trägt nichts zur Lösung der Energieprobleme in Deutschland bei.
Vielen Dank.
({13})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Michael Müller, SPD-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Das Wichtigste an dieser Vereinbarung zum Atomkompromiss ist, dass es sich um eine
Richtungsentscheidung zugunsten von Zukunftstechnologien handelt. Das ist der Kern. Wir überwinden und beenden endlich eine lähmende Debatte, die die Neuordnung
der Energieversorgung über Jahre blockiert hat. Das ist
der entscheidende Punkt.
Erstens. Wir machen den Weg frei für die vorhandenen,
aber viel zu wenig genutzten Zukunftstechnologien, für
eine Effizienzrevolution, für die Solartechnik und für
Einsparungen. Das ist der richtige Weg.
({0})
Insofern geht es nicht nur darum, dass wir eine riskante
Technologie kritisieren und möglichst schnell aus ihr aussteigen, sondern es geht auch um einen Paradigmawechsel, nämlich die Hinwendung zu einer Energiepolitik, deren oberstes Ziel lautet, mit möglichst wenig
Energie auszukommen, statt an den verschwenderischen
und ineffizienten Strukturen festzuhalten. Das ist der entscheidende Punkt, den man sehen muss.
({1})
Insofern ist es gut, dass wir diese lähmende Debatte der
letzten Jahre beenden.
Zweitens. Die Zukunftsvorsorge gebietet, jetzt an
eine Neuordnung der Energieversorgung zu denken. Machen wir uns nichts vor: Es wird in der Bundesrepublik
wie auch in den meisten anderen Ländern kein neues
Atomkraftwerk mehr gebaut werden können.
({2})
Im Übrigen, Frau Merkel, wenn Sie ehrlich sind, braucht
man zur Bestätigung dieser Aussage nur das während Ihrer Amtszeit geänderte Atomgesetz zu zitieren. Nach § 7
Abs. 2 heißen die Anforderungen für ein neues Atomkraftwerk in der Bundesrepublik, dass die Folgen eines
Schadens auf die Anlage begrenzt bleiben müssen. Das
schafft keine Technologie und es ist keine Atomtechnologie absehbar, die dies schaffen würde. Sie selbst haben sozusagen den Schlussstrich unter die Nutzung der Atomenergie gezogen. Nur, das erzählen Sie öffentlich nicht.
({3})
Nach dem heute geltenden Atomgesetz ist faktisch kein
Neubau möglich.
({4})
Das ist der eigentliche Schluss aus § 7 Abs. 2. Oder kennen Sie Ihr eigenes Gesetz nicht? Wo gibt es eine Atomtechnologie, die im Falle eines Unfalls den Schaden auf
die Anlage begrenzt? - Es gibt sie nicht. Sie reden immer
abstrakt vom EPR, der bisher weitgehend nur auf dem Papier steht. Auch er kann all dies, soweit wir wissen, nicht
erfüllen.
({5})
- Ja, ist klar, das kennen wir seit 30 Jahren.
Drittens. Wir können endlich Akzeptanz in der Bevölkerung für die Energiepolitik schaffen. Mit einem Festhalten an der Atomenergie wäre es nicht möglich, Akzeptanz zu schaffen. Akzeptanz ist aber gerade für die Energieversorgung - sie ist ein Kernbereich jeder
Industriegesellschaft - wichtig. Wir schaffen mit einer
Veränderung der Grundlagen der Energieversorgung Akzeptanz und Konsens und öffnen den Weg für Zukunftstechnologien. Das ist wichtig.
({6})
Im Übrigen - lassen Sie mich auch darauf hinweisen ist es nicht so, dass wir beim Ausstieg alleine dastehen.
Österreich ist ausgestiegen, Dänemark hat per Parlamentsbeschluss den Nichteinstieg beschlossen, in
Belgien gibt es jetzt einen Rahmenbeschluss für den
Ausstieg, Italien hat per Parlamentsbeschluss den Ausstieg festgelegt, die Schweiz hat ein Moratorium beschlossen, Schweden hat den Ausstieg beschlossen. Zur
Situation in England kann ich nur die „Financial Times“
zitieren: „Als die Atomenergie privatisiert wurde, wurde
klar: Es war der kostspieligste Fehler der Industriegeschichte.“ In den USA haben Bundesstaaten den Ausstieg
aufgrund von Entscheiden der Bevölkerung beschlossen.
Auch in Japan gibt es in der Zwischenzeit erhebliche Kritik am Atomprogramm. Man kann die Vorfälle in Tokaimura nicht so herunterspielen, dass man sagt, das seien
Fehler eines Entwicklungslandes. Japan ist ein Hochtechnologieland. Dort sind solche Unfälle passiert.
({7})
Viertens. Als weiteren Punkt sehen wir - das möchte
ich hier festhalten -, dass wir das mit der Atomenergie
verbundene Risiko nicht verantworten können. Dabei
geht es primär nicht um die Eintrittswahrscheinlichkeit,
sondern um den möglichen Schadensumfang. Jede Risikoberechnung hat zwei Komponenten: Die eine ist die
Eintrittswahrscheinlichkeit; sie liegt bei der Atomkraft
zweifellos nicht so hoch wie die eines Autounfalls. Die
andere aber ist der mögliche Schadensumfang. Der Schadensumfang eines Unfalls in einem Atomkraftwerk ist mit
dem anderer Technologien, auch mit dem der chemischen
Industrie, nicht vergleichbar. Das hat eine andere Qualität.
Deshalb muss man auch zu einer entsprechenden Schlussfolgerung kommen.
({8})
Dasselbe gilt auch für die Entsorgung. Frau Merkel, ich
habe mich sehr über Ihre Kritik an den Zwischenlagern
gewundert. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Debatten über den Energiekonsens seit 1992, wo Sie 1995 öffentlich Herrn Stoiber kritisiert haben, weil er kein regionales Zwischenlager zulassen wolle. Was gilt denn nun?
Die damalige Einsicht kann auch heute nicht falsch sein.
Deshalb sollten Sie heute nicht so tun, als ob Sie nicht
selbst diese Forderung geteilt hätten. Da Sie uns parteipolitische Ideologie vorwerfen, sollten Sie bedenken, was
Sie selbst zu diesem Thema geäußert haben.
Der Ausstieg ist vor allem eine Chance für den Umstieg. Das ist wichtig und der Kern, der beachtet werden
muss. Herr Hirche, Sie haben Recht - ich sehe das auch
so -: Es gibt natürlich riesige Gefahren, die auf uns zukommen, insbesondere die Gefahr durch ausländischen
Atomstrom. Allerdings müssen Sie fairerweise zugeben:
Dieses Problem stellt sich unabhängig vom Ausstieg
({9})
angesichts der im Ausland angebotenen Dumpingpreise
für Atomstrom.
({10})
In Wahrheit liegt hierin eine grundsätzliche Herausforderung an die Energiepolitik nach der Liberalisierung der
europäischen Strommärkte. Sie sollten nicht die Auswirkung mit der Ursache verwechseln, was Sie mit Ihrer unsauberen Argumentation tun.
Tatsächlich haben wir durch die Veränderung der
Energiemärkte gewaltige Probleme auch in Bezug auf die
nationale Gestaltung des Umweltschutzes. Wir haben
große Probleme in Bezug auf einen Strom, den wir nicht
wollen, weil er aus unsicheren Kraftwerken stammt. Insofern stellt sich durch die Liberalisierung prinzipiell die
Frage, was Politik heute zur Neuordnung und Neustrukturierung der Energieversorgung leisten kann. Dies ist
keine Frage des Ausstiegs. Sie stellt sich jetzt nur schneller und deutlicher. Das ist richtig. Aber das Grundproblem
geht sehr viel tiefer. Es stellt sich die Frage, ob die Politik
ihren Primat bezüglich einer effizienten und umweltverträglichen Energieversorgung überhaupt durchsetzen
kann. Genau das versuchen wir.
({11})
Wir haben heute das Risiko, dass wir auf der Basis der
vorhandenen Großstrukturen mit ihren hohen Reservemargen in Gefahr geraten, dass die Energiepolitik in der
Zukunft nur noch durch einen hohen Stromabsatz bestimmt wird. Wir wissen aber - zum einen vor dem Hintergrund der langfristig sehr viel dringender werdenden
Ressourcenprobleme, zum anderen wegen der fatalen
Folgen einer ineffizienten Nutzung für die Ökologie und
insbesondere für den Klimaschutz -, dass so keine zukunftsfähige und nachhaltige Energieversorgung erreicht
werden kann.
Es geht also um die Frage, ob die Politik eine Energieversorgung durchsetzen kann, die verbrauchsnah, dezentral und solar ausgerichtet ist und die möglichst hohe Effizienzsprünge in Nutzung und Wandlung machen kann.
Dies ist die Schlüsselfrage. In dem Ausstieg aus der
Atomenergie liegt die Chance, diese Frage positiv zu entscheiden. Im Übrigen: Die Atomenergie ist die uneffizienteste Energieversorgung mit einem Wirkungsgrad von
gerade einmal 34 Prozent. Unter den wichtigen Energieträgern gibt es keine ineffizientere Energie als die Atomenergie, was die Auslastung in der Umwandlungstechnik
angeht.
({12})
Die Neuordnung ist dringend erforderlich, um die Stagnation und den Status quo, der viel mit den gegebenen
Energieversorgungsstrukturen zu tun hat, zu überwinden.
Wir machen uns Sorgen um die Beschäftigung, um die
Energieerzeugung in der Bundesrepublik und den Umweltschutz. Deshalb liegt in der Neuordnung und nicht im
Festhalten an alten Strukturen die Chance, diese Zukunftsherausforderungen zu bestehen. Das ist für uns ein
entscheidender Punkt, für Ausstieg und Umstieg.
({13})
Wir wollen diesen Weg in Richtung Energiedienstleistung, Effizienzrevolution und Nutzung der regenerativen
Energien gehen, die eine Einheit bilden. Wir wollen bei
diesen Zukunftstechnologien Vorreiter werden; wir wollen auf diesem Feld die Nummer eins werden. Das ist unser Ziel. Wenn wir das erreichen, dann schaffen wir etwas,
was unter dem Gesichtspunkt globaler Verantwortung
überfällig ist und womit wir uns sehen lassen können.
Michael Müller ({14})
Wir haben die große Chance, dieses Ziel zu erreichen.
In der Bundesrepublik gibt es ein Einsparpotenzial von
über 40 Prozent des heutigen Energieumsatzes. Die regenerativen Energien haben immer noch nur einen bescheidenen Anteil von 2,3 Prozent an der Endenergie. Wir können diese Potenziale sehr viel besser nutzen und damit
einen wichtigen Beitrag für eine nachhaltige Energieversorgung leisten. Wir werden das tun.
({15})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich drei abschließende Bemerkungen machen.
Erstens. Wir werden - so interpretieren wir die Vereinbarung nicht; sie lautet so auch nicht - keine Einschränkungen bei der Sicherheit hinnehmen. Das ist mit uns
nicht zu machen.
({16})
Im Gegenteil! Das wäre rechtlich auch gar nicht möglich,
Herr Hirche - das wissen auch Sie -, weil das sozusagen
der wesentliche Grund für den Ausstieg ist. Wir können ja
nicht selbst den wesentlichen Grund für den Ausstieg
konterkarieren. Wir machen das nicht. Es gibt keine Einschränkungen bei der Sicherheit.
Zweitens. Es gibt kein Stillhalten in Bezug auf die Entwicklung der neuen Energiemärkte. Im Gegenteil! Weil
Ausstieg und Umstieg zusammengehören, muss die Dynamik für die neuen Energiemärkte umso stärker entfaltet
werden.
Drittens. Wir werden durch die Neustrukturierung der
Energieversorgung alles tun, um die Auslandsgefahren,
die durchaus gegeben sind, abzuwehren. Zumindest werden wir die Gesetze so ändern, dass sie kaum eintreten
werden. Dies ist aber nur durch den Umbau möglich.
Dafür ist heute, auch wenn ich mir weiter gehende Konzepte vorstellen könnte, wenigstens der Weg vorgegeben.
Es ist einfach unfair, wenn sich jemand, der diese Richtung überhaupt nicht will, hier hinstellt und fragt: Warum
tut ihr nicht mehr? Das ist scheinheilig. Das machen wir
nicht mit.
({17})
Ich erteile das Wort
der Kollegin Eva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion.
Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es gleich vorweg
zu sagen: Die PDS-Fraktion lehnt die Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Energieversorgern ab.
({0})
SPD und Bündnis 90 ignorieren die Gefahren, die von
Atomkraftwerken ausgehen. Es schert sie nicht, dass die
Entsorgung ungelöst bleibt. Sie verspüren keine Verantwortung für die Folgen des Uranabbaus in vielen Teilen
der Welt. Es kümmert sie nicht, dass Wiederaufbereitungsanlagen in Frankreich und Großbritannien Mensch
und Umwelt mit radioaktiven Emissionen belasten. Der
Umweltminister will Transporte mit hochradioaktiven
Abfällen noch in diesem Jahr wieder zulassen.
Die Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und
den EVUs ist kein Ausstieg. Sie ist ein Geschenk des
Kanzlers zum Bergfest der Atomindustrie; denn es soll
mindestens noch einmal so viel Atomstrom und -müll produziert werden, wie bisher insgesamt in Deutschland hergestellt wurde.
Die Bundesregierung hatte angenommen, dass der
Ausstieg aus der Atomkraft im Konsens mit der Atomindustrie vereinbart werden könne. Das war ein Fehler.
({1})
Statt von Beginn an auf vertrauliche Gespräche mit der Industrie zu setzen, hätten Sie ein breites Bündnis mit ausstiegswilligen Kräften in der Gesellschaft suchen müssen.
({2})
Die Bundesregierung verkündet nun, der Weg für den
Einstieg in eine neue Energieversorgung sei jetzt frei, wie
dies Herr Müller gerade wieder getan hat. Ich frage mich:
Warum eigentlich? Schließlich beabsichtigt die Bundesregierung, den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke zu
garantieren. Keines der beiden strittigen Endlagerprojekte
Gorleben und Konrad wird beendet. Die Urananreicherungsanlage in Gronau wird zur Versorgung des Weltmarktes mit Uran erheblich ausgebaut. Neue Zwischenlager sollen genehmigt werden. Die Konditionierungsanlage in Gorleben erhält eine Genehmigung. Die geplante
Novelle zur Strahlenschutzverordnung ermöglicht eine
kostengünstige Deponierung von schwach kontaminierten Abfällen im Straßenbau. Also noch einmal die Frage:
Warum?
Viele Jahre lang haben auch SPD und Grüne Sicherheitsmängel in deutschen Atomkraftwerken erkannt und
die mangelnden politischen Konsequenzen aus den Sicherheitsmängeln beklagt. Und jetzt soll alles im grünen
Bereich sein?
Ein Zitat aus der Vereinbarung beweist das:
... die Bundesregierung wird keine Initiative ergreifen, um diesen Sicherheitsstandard und die diesem
zugrunde liegende Sicherheitsphilosophie zu ändern.
Bei Einhaltung der atomrechtlichen Anforderungen
gewährleistet die Bundesregierung den ungestörten
Betrieb der Anlagen.
Im Klartext: Die Bundesregierung behauptet, dass die
Vorsorge gegen Schäden, die sie bei ihrem Amtsantritt
vorgefunden hat, dem Stand von Wissenschaft und Technik entspricht. Das ist aber Unsinn.
Sie müssen wohl eingestehen, dass bei einer Kernschmelze kein Betonmantel hält. Das wollen Sie jetzt einfach so hinnehmen. Wir werden es erleben, wie Sie in politischer Verantwortung die Risiken kleinreden, vertuschen und verharmlosen werden.
Michael Müller ({3})
Die Vereinbarung zwischen Bundesregierung und
Energieversorgern wird die Konflikte um die Nutzung
der Atomenergie nicht beilegen können. Die Erfahrung
lehrt, dass auch künftig mit Störfällen in Atomanlagen gerechnet werden muss. Und auch künftig werden Atomskandale Schlaglichter auf den parteipolitisch-industriellen Filz werfen.
Obgleich die mit den technischen Risiken verbundenen
politischen Risiken als bedrohlich eingeschätzt werden
müssen, hat sich eine große Mehrheit der Partei der Grünen für einen Weg entschieden, der die Antiatombewegung spalten, isolieren und kriminalisieren wird. Dazu ist
nichts anderes zu sagen als: Verrat!
({4})
Kollegin BullingSchröter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dreßen?
Ja.
Frau Kollegin, sind Sie mit mir
einer Meinung, dass es besser ist, den Spatz in der Hand
zu haben, als die Taube auf dem Dach, der Sie vielleicht
noch nachfliegen müssen? Wenn Sie einmal berücksichtigen, dass die Antiatomkraftbewegung am Kaiserstuhl begonnen hat und die Leute dort heute froh über den
Ausstieg sind, da sie feststellen, dass nun ein Ende abzusehen ist: Meinen Sie dann nicht, dass dieser Weg der
richtigere ist als Ihr Weg, der Ihnen unter Umständen von
den Gerichten untersagt worden wäre, sodass Sie dann
überhaupt nichts in der Hand gehabt hätten? Meinen Sie
nicht, dass durch den gemeinsam gefundenen Ausstiegskonsens jetzt eher ein Fortschritt erzielt worden ist als
durch den Weg, dem Sie jetzt nachweinen und von dem
Sie meinen, Sie hätten ihn mit brachialer Gewalt durchsetzen können, ohne zu bedenken, dass das vermutlich anschließend vom Gericht wieder einkassiert worden wäre?
Die Frage des
Fortschritts und des Kompromisses sieht natürlich jeder
anders. Ich sehe das anders als Sie. Erstens glaube ich
nicht, dass die Menschen vor Ort mit Ihrem Kompromiss
zufrieden sind. Ich weiß nicht, ob Sie im Fernsehen den
Parteitag der Grünen beobachtet haben. Ich habe das sehr
wohl getan. Ich habe die Fraktionsvorsitzende der Grünen
im Landtag von Niedersachsen gehört, die dazu eine ganz
andere Meinung hat. Tatsache ist, dass in einer ganzen
Reihe von Standorten bis zur Hälfte der Mitglieder der
Grünen ausgetreten sind. Das spricht für sich.
Zweitens meine ich: Klar kann man über die Gerichte
etwas erreichen; aber Sie haben das erst gar nicht probiert.
Dieser Konsens ist dadurch entstanden, dass Sie immer
weiter zurückgegangen sind. Was war denn mit dem
Atomgesetz? Es wurde von Trittin zurückgezogen. Dann
gab es das Versprechen, zum 1. Januar 2000 würde die
Wiederaufbereitung beendet. Auch dieses Versprechen
wurde nicht eingehalten. Ich meine, dieser Konsens ist
Nonsens und es hätte andere Möglichkeiten gegeben.
({0})
Die Energieversorger bestätigen das inzwischen. Sie
verstehen unter „sicherem Betrieb“ offenkundig etwas
anderes als der grüne Koalitionspartner. Die Chefs von
Preussen-Elektra und Bayernwerk, Harig und Majewski,
schrieben an ihre „lieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“, dass der Atomkonsens kein Ausstieg sei. Wörtlich:
„Die Vereinbarung bedeutet nicht das Ende der Kernenergie in Deutschland.“ Im Gegenteil, der Vertrag biete
ein „Maximum an politischer Betriebssicherheit“.
In der Gewissheit, dass durch einen zukünftig nicht
auszuschließenden Wechsel der Mehrheiten im Bund anderes bestimmt wird - sie warten ja nur darauf -, konnte
die Atomindustrie den geplanten Verzicht auf die Genehmigung neuer AKWs beruhigt und lapidar zur Kenntnis
nehmen. Aber sie werden es wieder versuchen. Die Sicherheitsforschung bleibt laut Vereinbarung ohnehin frei,
sodass die technische Fortentwicklung von Atomreaktoren gesichert ist. Das war in „Kennzeichen D“ vor zwei
Wochen zu sehen.
Strom aus abgeschriebenen Atomkraftwerken wird für
mindestens die kommenden 20 Jahre sehr wettbewerbsfähig sein, sodass sich eine tatsächlich sozial-ökologische
Energiewende für Umwelt und Beschäftigung nicht wird
entfalten können. Kollege Müller hat über das Preisdumping gesprochen. Diese Dinge sind absehbar.
Sie haben wörtlich vereinbart:
Die Bundesregierung wird keine Initiative ergreifen,
mit der die Nutzung der Kernenergie durch einseitige
Maßnahmen diskriminiert wird. Dies gilt auch für
das Steuerrecht.
Im Klartext: Es erfolgt also keine Besteuerung von Kernbrennstoffen. Die Subventionierung über steuerfreie Entsorgungsrückstellungen läuft weiter.
({1})
Die vereinbarten Regelungen zur Entsorgung des
Atommülls stehen im krassen Widerspruch zu den Wahlversprechen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Sie
hatten das Aus für die Endlager Gorleben und Schacht
Konrad angekündigt. Nun jedoch soll das Endlager
Schacht Konrad genehmigt werden, obwohl ein separates
Endlager für so genannte schwach wärmeentwickelnde
Abfälle überflüssig ist und in Übereinstimmung mit dem
Koalitionsvertrag ein zentrales Endlager für alle Arten radioaktiver Abfälle eingerichtet werden sollte.
Erstmals trifft die Bundesregierung im Anhang des
Konsenses eine positive Eignungsaussage für das Endlager Gorleben. Es gibt zwar ein drei- bis siebenjähriges
Moratorium; aber alle Voraussetzungen werden geschaffen, um danach mit der Erkundung und Genehmigung
weiterzumachen.
Ein weiteres Zitat aus der Vereinbarung:
Es wird gemeinsam nach Möglichkeiten gesucht,
vorläufige Lagermöglichkeiten an den Standorten
vor Inbetriebnahme der Zwischenlager zu schaffen.
Als Interimslösung sollen Castorbehälter also auch an
Plätzen gelagert werden dürfen, die dafür bisher nicht vorgesehen sind.
Meine Damen und Herren, auch das ist ein Ausfluss der
Hilflosigkeit. Hier hangelt sich die Bundesregierung von
einer Zwischenlösung zu einer Zwischenzwischenlösung.
Ihr bleibt auch nichts anderes übrig; denn die Endlagerfrage ist technisch eben nicht lösbar und Transporte enthalten ein zusätzliches Risiko.
Aufzulösen wäre das nur durch einen sofortigen Ausstieg, wenngleich das nicht im Hinblick auf den schon
produzierten Abfall möglich ist. Aber dieser Ausstieg
wird ja nun um eine Generation verschoben und damit
wird dieses Problem für unsere Kinder und Enkel nachhaltig verschärft.
({2})
Die Wiederaufarbeitung wird nicht verboten. Die
Bundesregierung vereinbarte, dass angelieferte Brennelemente verarbeitet werden dürfen. Schon heute liegen
deutsche Brennelemente in französischen und britischen
Anlagen auf Halde. Bis Mitte 2005 sollen weitere Transporte erlaubt sein. Die Cogema stört das überhaupt nicht.
Sie rechnet damit, dass sie etwa noch bis zum Jahr 2015
den in deutschen Kraftwerken vorhandenen Berg an
Brennelementen wieder aufarbeiten kann. So lange reicht
nämlich der Vorrat.
Einige Kommentatoren meinen, mit dieser Vereinbarung sei der SPD und den Grünen ein Befreiungsschlag
geglückt und es sei nun genügend Raum entstanden, der
es der Regierung erlaube, sich den regenerativen und rationellen Energietechnologien stärker zuzuwenden. Deshalb noch ein gut gemeinter Hinweis zur taktischen Lage:
Wenn Sie hier Ihre Atompläne durchpeitschen und damit
die Energieversorger ihre Bestandsgarantien erhalten haben, dürfte Rot-Grün auf energiepolitischem Gebiet vorerst ausgespielt haben, da der Reformbedarf der mächtigen Energieversorger fürs Erste wirklich gedeckt ist.
Ich appelliere daher an Ihren taktischen Instinkt, wenigstens mit dem angekündigten Gesetz zur Einführung
einer Quote bei der Kraft-Wärme-Kopplung nicht allzu
lange zu warten. Die PDS-Fraktion hat hierzu bereits einen Gesetzentwurf eingebracht. Auch Vorschläge der Koalition zur Regulierung des Strommarktes und des Netzzugangs sowie zur Anrechnung der Netzkosten stehen bis
heute aus und sollten noch vor der parlamentarischen
Auseinandersetzung über Ihre Atompläne verabschiedet
werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Ergebnis der
Konsensverhandlungen stellt eine geldwerte Sicherung
von Marktanteilen für die Atomkraftbetreiber für die
Dauer von noch mindestens 25 bis 30 Jahren dar. Nicht
einmal vergleichbare Regelungen zur Finanzierung des
Steinkohlenbergbaus haben eine so lange Laufzeit. Dies
ist somit kein Ausstieg zum Nulltarif. In Geldwert ausgedrückt, übersteigen die vereinbarten Strommengen alles,
worüber bisher als Gründe für drohende Klagen auf Schadensersatz oder Ausgleich diskutiert wurde. 2,62 Terawattstunden Atomstrom stellen einen Geldwert dar, der
im Streitfall Forderungen der Energieversorger begründen könnte, die um ein Vielfaches höher sind als der Zeitwert der Anlagen, wie er im Atomgesetz als maximale
Höhe bei Entschädigungen geregelt wurde.
Kollegin BullingSchröter, Sie müssen zum Ende kommen.
Zudem wird die
Monopolmacht der Energiekonzerne mit dieser Vereinbarung weiter ausgebaut werden.
({0})
Ich erteile das Wort
dem Kollegen Christoph Matschie, SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Werte
Kolleginnen und Kollegen! Nach dem bisherigen Verlauf
der Debatte habe ich den Eindruck, dass die Tatsache, dass
es gelungen ist, einen Konsens zwischen Bundesregierung und Energieversorgern zu erreichen, die Opposition
völlig verwirrt. Sie wissen überhaupt nicht mehr, was Sie
uns eigentlich vorwerfen wollen. Frau Merkel hat uns auf
der einen Seite vorgeworfen, die Atomwirtschaft sei zu
gut weggekommen; auf der anderen Seite hat sie uns vorgeworfen, wir richteten riesigen wirtschaftlichen Schaden
an. Sie hat uns auf der einen Seite vorgeworfen, wir stiegen nicht schnell genug aus; auf der anderen Seite hat sie
uns vorgeworfen, wir würgten eine Technologie ab, die
weiterhin zukunftsweisend sei. Ich glaube, Sie müssen
sich noch einmal zusammensetzen und entscheiden, welchen Vorwurf Sie uns eigentlich machen wollen.
({0})
Sind jetzt die Konzerne zu gut weggekommen oder richten wir großen wirtschaftlichen Schaden an? Steigen wir
zu schnell oder zu langsam aus? Darüber müssen Sie sich
zunächst einmal einig werden.
({1})
Man sollte versuchen, zu einer sachlichen Debatte
zurückzufinden und keine ideologisch aufgeladene Auseinandersetzung zu führen. „Wer aussteigt, muss auch
wissen, wo er einsteigt“ - völlig richtig. Aber daraus ein
Panikszenario zu machen - wenn die ersten Atomkraftwerke vom Netz gehen, geht das Licht aus oder kommt
massenweise Strom aus dem Ausland -, ist sachlich überhaupt nicht zu rechtfertigen.
({2})
Wir reden im Moment über enorme Überkapazitäten auf
den Strommärkten sowohl in der Bundesrepublik als auch
in Europa insgesamt. Wir sind im Moment nicht in einer
Situation, wo abgeschaltete Anlagen unverzüglich durch
andere Anlagen ersetzt werden müssten.
Wir haben vor diesem Hintergrund ein Ausstiegsszenario, das uns die Zeit einräumt, wirklich die Weichen für
eine neue Energiepolitik zu stellen. Die ersten Schritte
dazu haben diese Bundesregierung und diese Koalition
getan. Wir haben ein Gesetz zur Förderung erneuerbarer
Energien beschlossen, das wirklich Bewegung in diesen
Markt gebracht hat, gegen das Sie sich aber gewehrt haben und das wir gegen Ihren Widerstand hier im Parlament durchsetzen mussten.
({3})
Wir haben ein erstes Gesetz zur Förderung der KraftWärme-Kopplung auf den Weg gebracht. Auch dieses Gesetz wird dazu beitragen, umweltfreundliche Energieerzeugung in diesem Land zu sichern und weiter zu fördern.
Manche werfen uns vor, dass der Ausstieg nicht schnell
genug komme. Ich glaube, dass es angesichts jahrelanger
Auseinandersetzungen notwendig war, einen Weg zu suchen, der praktisch tatsächlich umsetzbar ist, der dem
Rechtsrahmen unseres Landes entspricht und der versucht, die Interessen in dieser Gesellschaft auszugleichen.
Ich glaube, dass es mit dieser Vereinbarung gelungen ist,
einen geordneten Ausstieg aus der Kernenergie im Konsens zu ermöglichen. Das ist ein hohes Gut und wird
dazu beitragen, dass dieser gesellschaftliche Konflikt an
Schärfe verliert.
({4})
Herr Hirche, Sie haben versucht, Umweltsachverständige für Ihre Argumentation heranzuziehen, die Atomenergie sei für die Lösung des Klimaproblems unverzichtbar. Nun sind Sie nicht mehr so häufig im Umweltausschuss anzutreffen und haben die Debatten vielleicht
nicht ganz mitgekriegt. Wir haben gerade vor einigen Wochen die Vertreter des Sachverständigenrates für Umweltfragen bei uns im Ausschuss gehabt und haben diese
Frage diskutiert. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hält die Nutzung der Atomenergie für nicht verantwortbar. Ich zitiere:
Der Umweltrat hält aufgrund der Charakteristiken
bestrahlter Brennelemente und der darin begründeten, in weiten Teilen ungelösten Entsorgungsprobleme eine weitere Nutzung der Atomenergie für
nicht verantwortbar.
Wir haben die Frage diskutiert, ob man angesichts des
Klimaproblems trotzdem Ja sagen müsse. Der Umweltrat
sagt: Nein, das ist nicht verantwortbar.
Die Atomenergie leistet weltweit einen Beitrag zur
Primärenergieversorgung von 7 Prozent.
({5})
- Herr Hirche, da geht es nicht nur um den Strom; denn
auch andere Energieerzeugung trägt zum Treibhauseffekt
bei. - Das entspricht 436 Kernkraftwerken. Wie viele
Kernkraftwerke wollen Sie denn weltweit bauen, um das
Klimaproblem zu lösen? Schon die Enquete-Kommission, die sich mit den Klimafragen auseinander gesetzt
hat, hat es eindeutig formuliert: Die Atomenergie ist kein
Beitrag zur Lösung des Klimaproblems.
({6})
Dann beschwören Sie hier den Verlust von Arbeitsplätzen in diesem Bereich der Energieversorgung.
Ich glaube, dass durch die Energiepolitik, die wir betreiben, genau das Gegenteil eintreten wird: Wir werden mehr
Arbeitsplätze bekommen, weil im Bereich der regenerativen Energien und im Bereich der Energieeinsparung die
Arbeitsintensität wesentlich höher ist als in den Großkraftwerken. Wir werden auch ein neues Know-how bekommen, ein Know-how, das es jetzt zu entwickeln gilt,
weil der Markt dafür in der Zukunft vorhanden ist. Es geht
um die Konversion der Atomtechnologie. In vielen Teilen
der Welt stehen alte Atomkraftwerke, die stillgelegt worden sind oder in nächster Zeit stillgelegt werden. Wir sind
jetzt gut beraten, Technologien zu entwickeln, die es ermöglichen, diese Standorte zu konvertieren, und dazu beitragen, die Atomenergienutzung sicher zu beenden.
({7})
Wir als wichtiges Industrieland haben ein Zeichen gesetzt. Dies haben wir nicht allein getan - das wurde schon
gesagt -; es gibt auch andere Länder, die den Ausstieg beschlossen haben. Auch die Länder, die einen solchen Beschluss nicht gefasst haben, gehen mit der Nutzung der
Atomenergie sehr pragmatisch um. In den Vereinigten
Staaten beispielsweise ist seit 1979 kein Kernkraftwerk
mehr ans Netz gegangen. Und wenn man die Verantwortlichen fragt, wie die Zukunft der Atomenergie in ihrem
Land diskutiert wird, antworten sie: Welche Zukunft meinen Sie denn? Diese Technologie hat keine langfristige
Zukunft. - Das liegt nicht an einer rot-grünen Ideologie,
sondern schlicht und einfach daran, dass diese Großtechnologie keine Chance hat, auf den liberalisierten Energiemärkten effizient zu agieren und sich durchzusetzen.
Das kann Ihnen passen oder nicht, meine Damen und Herren, es ist aber so.
({8})
- Doch, wir brauchen eine Vereinbarung, Herr Hirche,
weil wir nicht darauf warten wollen, dass sich diese Entwicklung peu à peu mit all den Problemen und weiteren gesellschaftlichen Auseinandersetzungen von allein
durchsetzt, sondern weil wir politisch dafür sorgen wollen, dass der Ausstiegspfad geordnet gegangen wird und
parallel dazu eine neue Energiepolitik aufgebaut wird,
eine Energiepolitik, die in das 21. Jahrhundert gehört und
nicht die Kämpfe des letzten Jahrhunderts ausficht.
({9})
Dann wird hier immer das Gespenst der großen Stromimporte an die Wand gemalt:
({10})
Wenn wir die Kernkraftwerke abschalten, wird der Strom
von den Kernkraftwerken aus den Nachbarländern importiert. Was die osteuropäischen Nachbarn anbetrifft, so
hat der Umweltminister dazu schon einiges gesagt. Wir
haben als Beitrittsvoraussetzung die Stilllegung der Anlagen festgeschrieben, die den Sicherheitskriterien der Europäischen Union nicht genügen. Es wird also nicht der
Fall sein, dass Strom aus solchen Anlagen von uns importiert wird. Im Übrigen existieren in den Nachbarländern
überhaupt nicht die Kapazitäten, um die Strommengen zu
liefern, die wir in Deutschland als Ersatz für die Energie
der jetzt am Netz befindlichen Atomkraftwerke brauchen.
Sie bauen also Gefahrenszenarien auf, die in der Realität
überhaupt nicht sachlich begründet werden können.
Auf der anderen Seite ist es richtig, dass wir schon jetzt
Strom importieren. Das wird auch in Zukunft so sein. Niemand kann bei einem liberalisierten Strommarkt ausschließen, dass Strom importiert bzw. exportiert wird. Das
ist ein normaler Vorgang. Ihn gibt es jetzt und ihn wird es
auch in Zukunft geben.
({11})
Kollege Matschie, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grill?
Aber selbstverständlich.
Herr Kollege
Matschie, wenn Ihre These richtig ist, dass ein solcher Import nicht zu befürchten ist, sind Sie dann mit mir der Meinung, dass Herr Michael Müller vollkommen falsch liegt,
wenn er ein Verbot des Imports von Atomstrom fordert?
({0})
Ich kenne eine solche
Forderung des Kollegen Müller nicht.
({0})
Ich glaube, dass man sich bei einem liberalisierten Markt
Gedanken darüber machen muss, ob der Wettbewerb auf
fairen Bedingungen beruht, das heißt, ob die Standards in
etwa vergleichbar sind und ob die Länder gleiche
Öffnungsbedingungen - das ist ja das Problem zwischen
der Bundesrepublik und Frankreich - haben. Darum geht
es, nicht darum, ob grundsätzlich ein Import oder Export
stattfindet.
({1})
Ich glaube, solche ideologischen Debatten brauchen wir
an dieser Stelle nicht zu führen.
({2})
Wir haben eine Energiepolitik begonnen, die auf den
effizienten Umgang mit Ressourcen setzt, auf eine Effizienzrevolution beim Energieverbrauch und auf den Ausbau regenerativer Energien. Das sind die Potenziale, die
es im 21. Jahrhundert zu nutzen gilt. Nach technischen
Abschätzungen haben wir in der Bundesrepublik ein Energieeinsparpotenzial von 40 Prozent. Das ist im Moment
unsere größte Energiereserve. Diese gilt es zu nutzen. Dadurch werden wir viele Arbeitsplätze schaffen.
Langfristprognosen gehen davon aus - das Deutsche
Zentrum für Luft- und Raumfahrt hat dazu Studien vorgelegt -, dass wir etwa im Jahre 2050 in der Lage sein
werden, 60 Prozent der Energieversorgung über regenerative Energien abzudecken. Effizienz und regenerative
Energien - das ist erfolgversprechend für das 21. Jahrhundert, nicht das Festhalten an einer veralteten Großtechnologie, die sich am Markt nicht mehr durchsetzen
kann.
Deshalb kann ich Ihnen nur raten: Geben Sie Ihre ideologisch begründete Blockadehaltung auf - auch Frau
Merkel wird es nicht gelingen, der Atomenergie noch einmal eine Perspektive zu geben ({3})
und gestalten Sie mit uns eine zukunftsorientierte Energiepolitik, die auf Einsparung, auf Effizienz und auf regenerative Energien setzt!
({4})
Ich erteile das Wort
dem bayerischen Staatsminister Otto Wiesheu.
Dr. Otto Wiesheu, Staatsminister ({0}): Herr Präsident! Hohes Haus! Der Bundeskanzler spricht vom
„Konsens zum Ausstieg“. Ich kann nur feststellen: Den
hat es nicht gegeben und den gibt es nicht. Das, was als
„Konsens“ bezeichnet wird, hat die Energiewirtschaft
hingenommen unter dem Zwang der Verhältnisse. Man
hat ihr rechtzeitig die Folterwerkzeuge gezeigt. Man hat
Zwang ausgeübt. Man hat, wenn man so will, die Energiewirtschaft erpresst.
({1})
Die Energiewirtschaft bringt das in dem Papier auch
zum Ausdruck. Dort heißt es, man nehme die Zielsetzung
der Bundesregierung zur Kenntnis. Dabei von Konsens
oder Zustimmung zu reden - das, Herr Trittin, wissen Sie
angesichts der Verhandlungen auch -, ist Verbalrabulistik;
es ist falsch.
Es hat auch keinen Konsens mit den Ländern gegeben.
Man hat ihn auch gar nicht gesucht. Im Gegensatz zu
1979, als Bundeskanzler Schmidt die Länder seinerzeit zu
den Verhandlungen eingeladen hat, um zu einem Konsens
zu kommen, war hier ein Konsens nicht einmal angestrebt. Gleiches gilt für die Gemeinden. Sie werden vielleicht sagen: „Die brauchen wir auch nicht.“ Sie werden
sie brauchen.
Das ist auch der Punkt bei den Vorwürfen, die der Herr
Bundeskanzler gegenüber Bayern erhoben hat. Im Jahre
1979 hat es ein Konzept gegeben: mit der Wiederaufarbeitung in Wackersdorf, der Zwischenlagerung in Ahaus
und Gorleben sowie der Endlagerung in Gorleben. Wir in
Bayern haben uns - das möchte ich hier feststellen - von
der Wiederaufarbeitung nicht verabschiedet. Wir hätten
unsere Lasten getragen.
({2})
Der Ausstieg erfolgte nicht durch die bayerische Politik,
sondern durch die Energiewirtschaft. Deshalb lasse ich
uns das nicht vorhalten.
Darüber hinaus gab es seinerzeit eine geschlossene
Entsorgungskette, mit Wiederaufarbeitung, Zwischenlagerung und Endlagerung. Heute das Endlager Gorleben
infrage zu stellen - wie Sie es tun -, Zweifel zu äußern,
die in keiner Weise wissenschaftlich begründet sind,
heißt, die Entsorgungskette zu unterbrechen.
({3})
Ihr Bestreben, Zwischenlager bei den Standorten einzurichten, bedeutet, aus den Zwischenlagern quasi Endlager zu machen, weil Sie sich in Sachen Endlager nicht in
die Pflicht nehmen lassen wollen. Sie sagen, Sie wollen
damit Transporte einsparen. Was für ein Problem aber lösen Sie bei der Vermeidung der Transporte? Sie lösen ein
Problem, das Rot-Grün durch die Demagogie der letzten
20 Jahre selbst geschaffen hat.
({4})
Die Transporte sind kein Problem, kein technisches und
kein ökologisches.
Sie sagen, wenn Zwischenlager nicht sofort realisierbar seien, könne man „Zwischenzwischenlager“ schaffen,
dann stehen die Castoren halt einfach so herum. Angesichts dessen müssen Sie sich fragen lassen, welche technischen Anforderungen Sie hier stellen. Aber es geht ja
weiter: Die Zwischenlager werden de facto Endlager. Sie
sagen, mit der Errichtung von Zwischenlagern und weiteren Untersuchungen garantierten Sie die Entsorgungskette. Das tun Sie gerade nicht. Sie als Bundesregierung
können die Errichtung der Zwischenlager nicht gewährleisten, weil Sie die Mitwirkung der Kommunen nicht garantieren können. Denn dort gibt es ja Gott sei Dank oder auch nicht - auch Rote und Grüne. Wenn die
Gemeinden die baurechtliche Zustimmung für Zwischenlager verweigern oder wenn Bürgerinitiativen diese
im Wege von Bürgerentscheiden verhindern, dann sind
die Gemeinden daran über Jahre gebunden. Das bedeutet,
dass Sie den Energieversorgern vorgaukeln, der Entsorgungsweg werde eingehalten, obwohl Sie das nicht gewährleisten können.
({5})
Das ist leichtfertig und das kritisieren wir. Deswegen sagen wir: An einem derartigen Konsens hätten Länder und
betroffene Gemeinden beteiligt werden müssen. Sie können das, was Sie hier versprechen, nicht einhalten. Möglicherweise ist das Ihre Strategie.
({6})
Auf alle Fälle ist es nicht haltbar.
Es hieß immer: Wer aussteigt, muss sagen, wo er einsteigt. Die Ziele waren immer klar: eine sichere, eine
wettbewerbsfähige, eine umweltverträgliche Energieversorgung. Jeder weiß heute, dass mit den regenerativen
Energien die Grundlastversorgung oder die Grundlastausstattung bei Strom, die jetzt weitgehend durch die
Kernenergie erfolgt, nie und nimmer hergestellt werden
kann. Das wird nicht möglich sein. Ihr 100 000-DächerProgramm, das Sie aufgelegt haben, ist Blendwerk. Mit
dem schaffen Sie nicht einmal 1 Prozent der Energieversorgung. Mit dem leisten Sie überhaupt keinen Beitrag.
Kraft-Wärme-Kopplung, Windenergie und Biomasse
können Sie auf bis zu 10 Prozent ausbauen. Damit schaffen Sie die für einen Industriestandort notwendige Grundversorgung beim Strom in keiner Weise. Ich warne Sie vor
Ihren Illusionen.
({7})
- Mit solchen Einwürfen, ich würde alles mies machen,
kann ich relativ wenig anfangen. Der Industriestandort
Deutschland braucht eine gesicherte Energieversorgung.
Wir können uns bei der Energieversorgung nicht auf ein
Lotteriespiel verlassen.
({8})
Am Schluss bleibt der verstärkte Einsatz von Kohle,
Gas und Öl. Dies führt zu einem Anstieg der CO2-Mengen, die ausgestoßen werden. Es ist zweifelsohne so, dass
die 150 bis 170 Millionen Tonnen an CO2-Ausstoß, die
jetzt durch die Kernenergie eingespart werden, dann auf
andere Weise auftreten.
({9})
15 Jahre lang erklärt uns Rot-Grün: CO2 ist das Problem dieses Jahrhunderts und des nächsten auch noch.
Plötzlich ist es kein Problem mehr.
({10})
Plötzlich ist es egal. Wenn man mit Ihren Leuten diskutiert, sagen die: Wir wissen, dass der CO2-Ausstoß vorübergehend ansteigt. Aber wie lange steigt er an und was ist
bei Ihnen „vorübergehend“? Dies wird die nächsten JahrStaatsminister Dr. Otto Wiesheu
zehnte der Fall sein, wenn Sie das realisieren können, was
Sie realisieren wollen. Ich glaube, dass die Entwicklung
Ihnen dabei noch einen Strich durch die Rechnung machen wird.
Sie leisten damit auch keinen Beitrag zur Sicherheit in
der Kernenergie. Darauf will ich gar nicht weiter eingehen, aber auf einen Punkt, der von Rot und Grün immer
bestritten wird: Der Strommarkt ist nicht mehr national
zu regeln. Der Strommarkt ist europäisch geregelt, ob es
Ihnen passt oder nicht. Wer heute meint, dass er den
Strommarkt noch national regeln kann, gehört zu den letzten Nationalisten, die wir in diesem Lande haben. Wir
können den Strommarkt nicht mehr national regeln.
({11})
- Herr Trittin, der ist europäisch bestimmt. - Sie werden
dies auch nicht verhindern können. Fragen Sie doch bei
den Energieversorgern in Baden-Württemberg nach, woher die Stromangebote kommen!
({12})
Fragen Sie doch bei Yello-Strom nach! Fragen Sie doch
einmal bei den Vertretern der Energiewirtschaft aus Russland, Tschechien oder anderen Ländern nach, die zu uns
kommen und Strom zu einem Preis von 2 Pfennig pro Kilowattstunde anbieten! Ich möchte sehen, wie wir bei der
Stromverteuerung über das EEG und die anderen Themen, die Sie auflegen, diesen Angeboten begegnen sollen.
Dann haben Sie keine sichere, keine preiswerte und auch
keine ökologische Energieversorgung mehr.
({13})
Machen Sie sich keine Illusionen: Die Aussage, dass
die Kraftwerke europäischen Standards entsprechen müssen, ist natürlich richtig, aber tun sie das nicht? Mohovce,
Bohunice und das KKW in Tschechien lassen sich die Sicherheitstechnik von Siemens und den amerikanischen
Firmen liefern. Glauben Sie denn, dass Sie denen gegenüber behaupten können, Sie würden die Sicherheitsstandards nicht einhalten? Diese produzieren aber zu anderen
Kosten. Sie können im Rahmen des europäischen Energiemarktes Energielieferungen aus diesen Ländern nicht
aufhalten. Bei uns kann jeder der Energiebezieher selber
entscheiden, welches Angebot er annimmt. Dann werden
wir die Kernkraftwerke bei uns stilllegen und Kernenergiestrom aus anderen Ländern zwangsläufig beziehen.
({14})
Herr
Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Matschie von der SPD-Fraktion?
Dr. Otto Wiesheu, Staatsminister ({0}): Nur
dann, wenn es nicht zulasten meiner Redezeit geht.
({1})
- Es geht nicht zulasten von ihr. Dann bitte gern.
Herr Minister, Sie haben
eben das Problem beschrieben, dass Strom in die Bundesrepublik importiert wird, und dies als Argument gegen unser Ausstiegskonzept verwandt. Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass Deutschland auch Strom exportiert und dass
der Saldo zwischen Export und Import im Moment positiv für die Bundesrepublik ist?
({0})
Dr. Otto Wiesheu, Staatsminister ({1}): Das ist
mir sehr wohl bekannt, weil wir von Bayern aus auch
Strom Richtung Österreich liefern, und zwar im Winter,
wenn es dort weniger Wasserstrom gibt. Im Sommer beziehen wir diesen von dort mit. Das machen die Österreicher, die sonst sehr gegen die Kernenergie sind, im Übrigen auch mit der Ukraine.
Sie beziehen auch von dort im Austausch Kernenergiestrom.
({2})
- Das geht technisch sehr wohl, weil die Gleichrichterkopplungen vorhanden sind. Die Stromnetze sind geschlossen. Vielleicht sind Sie nicht auf dem aktuellsten
technischen Stand. Das geht sehr wohl und wird auch
praktiziert.
Meine Damen und Herren, es kommt noch etwas
hinzu; vielleicht hat man sich das nicht überlegt: Die
Kommunen müssen den Strom dort einkaufen, wo sie ihn
am billigsten bekommen. Wenn Herr Müller sagt, man
muss dafür sorgen, dass man Kernenergiestrom nicht aus
anderen Ländern nach Deutschland liefern kann, dann
muss ich Ihnen sagen, die Kommunen müssen ab einer
gewissen Einkaufsmenge ihre Bezüge europaweit ausschreiben. Wir müssen sie rechtsaufsichtlich veranlassen,
den Strom dort zu beziehen, wo er am günstigsten ist. Das
wird lustig. Da werden sich Ihre rot-grün regierten Kommunen arg freuen.
({3})
Was Sie machen, ist die Vernichtung einer vernünftigen und guten Technologie, einer sicheren, preiswerten
und umweltfreundlichen Energieerzeugung, ist die Vernichtung von Tausenden von Arbeitsplätzen, ohne dass
gleichwertige geschaffen werden. Das ist keine Energiepolitik. Das bedeutet für einen Energiestandort die Verteuerung der Produktion und die Gefährdung von Arbeitsplätzen im Stahl-, Chemie-, Papier-, Glas-, Porzellan-, Zement-, Zellstoff-, Aluminiumbereich und in vielen
anderen Bereichen. Reden Sie doch einmal mit den Vertretern der IG Chemie, Bergbau und Energie, was die zu
dem Thema sagen! Reden Sie doch einmal mit den Betriebsräten in diesen Betrieben! Reden Sie doch einmal
mit den Leuten, die konkret mit den Themen konfrontiert
sind!
Ich freue mich immer, wenn Vertreter der SPD zur Porzellanindustrie gehen und sagen, der Strom muss billiger
Staatsminister Dr. Otto Wiesheu
werden, und dann dafür stimmen, dass der Strom permanent teurer wird. Meine Damen und Herren, Sie geraten
hier in einen Widerspruch und Zwiespalt, den Sie auf
Dauer nicht aushalten werden.
({4})
Sie sorgen dafür, dass sich Deutschland aus einer
wichtigen, weltweit relevanten Hochtechnologie abmeldet. Bei über 400 Kernkraftwerken, die es weltweit gibt,
wird die Abschaltung der 19 in Deutschland keinen Beitrag zur Erhöhung der Sicherheit leisten. Im Gegenteil.
Sie wird einen Beitrag dazu leisten, dass wir uns aus der
weltweiten sicherheitspolitischen Diskussion ausblenden,
obwohl wir bisher die höchsten technischen Anforderungen gestellt haben.
({5})
Was das für diese Technologie bedeuten soll, ist mir
nicht klar. Ich kann nur eine Bilanz ziehen. Die Bundesregierung handelt hier leichtfertig. Das ist kein Beitrag zur
sicheren, preiswerten und umweltfreundlichen Energieversorgung. Das ist auch kein Beitrag zur Innovation. Das
ist nicht zu verantworten angesichts eines Industriestandortes, wie wir ihn in Deutschland haben, der auf eine sichere und preiswerte Energieversorgung angewiesen ist.
Das ist nicht solide und seriös. Es trägt auch nicht lang.
({6})
Es fällt zunächst noch gar nicht auf - das ist das Problem -, und zwar deswegen nicht, weil sichere und stabile
Grundlagen der Energieversorgung vorhanden sind.
Sie fragen: Wer will schon in den nächsten zehn Jahren
ein Kernkraftwerk bauen? Genau genommen will in den
nächsten zehn Jahren fast niemand ein großes Kraftwerk
bauen, weil der Park ausreicht. Deswegen glauben Sie,
sündigen zu können. Nur, das wird nicht lange halten.
Das, was hier gemacht wird, ist nichts anderes als Scharlatanerie, weil man auf der Basis einer stabilen Grundlage
sündigt, aber keine Konzeption für die Zukunft hat.
Was Sie hier praktizieren, ist Genugtuung für politische Ideologie, aber keine Antwort auf die Fragen, die die
Praxis stellt. Deswegen sagen wir Nein zu diesem Kurs.
({7})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Michaele Hustedt vom
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass Sie der
Konsens umtreibt, kann ich ja verstehen. Dass Sie für
Atomkraft sind, ist ehrlich. So ist das nun einmal. Aber es
ist verlogen, wenn Sie hier so tun, als ob Sie die Interessen der Stromkonzerne vertreten.
({0})
- Sie tun hier so, als ob Sie aufseiten der Stromkonzerne
stehen.
({1})
Der selbst ernannte Freund ist in der Politik häufig der
größte Feind.
Herr Wiesheu, gerade Sie haben das heute wiederum
ziemlich deutlich gemacht. Ich freue mich schon darauf,
wie Sie an der Seite von Herrn Stoiber
({2})
organisiert in einer Bezugsgruppe vor dem Zwischenlager
XY in Bayern gegen die Zwischenlager demonstrieren.
Damit finden Sie sich vollständig auf der Seite der so genannten Verstopfer wieder - Seite an Seite mit der AntiAKW-Bewegung -, was Jürgen Trittin immer vorgeworfen wurde.
Herr Wiesheu, ich glaube nicht, dass Sie die Position,
in Bayern die meisten Atomkraftwerke in Deutschland zu
betreiben und gleichzeitig zu sagen, die Zwischenlagerung von Atommüll komme in diesem Land nicht in
Frage, sondern solle gefälligst in Niedersachsen oder in
Ahaus in Nordrhein-Westfalen passieren, politisch durchhalten können. Das ist eine Position, die moralisch nicht
vertretbar und politisch nicht durchhaltbar ist.
({3})
Ich möchte Ihnen die Tatsache, dass Sie hier nur im eigenen Interesse und nicht im Sinne der wirtschaftlichen
Interessen der Stromkonzerne sprechen, mit einem kleinen Rückblick auf die Geschichte deutlich machen. Wer
hat denn die Idee des Energiekonsenses überhaupt erst
auf die Tagesordnung gebracht? Das war in den Jahren
1991/1992 - Herr Müller weiß das besser als ich - die
VEBA, die damals die Regierung Kohl aufgefordert hat,
einen Konsens zum geordneten Auslaufen der Atomenergie in Deutschland zu organisieren, und zwar mit der Begründung, ein Betreiben einer Technologie, die nicht auf
Akzeptanz in der Bevölkerung stoße, sei auf Dauer auch
für die Stromkonzerne in Deutschland nicht akzeptabel.
Herr Kuhnt von RWE hat in den damaligen Gesprächen
deutlich gemacht, man setze auf ein geordnetes Auslaufen, solange diese Akzeptanz nicht gegeben sei.
Die Regierung Kohl hat damals diesen Konsens verhindert. Es ist viel Zeit verschwendet worden, um diesen
Kompromiss in der Gesellschaft hinzubekommen. Es hat
jahrelange Grabenkämpfe bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen gegeben. Jetzt haben wir diesen Kompromiss, der in den Jahren 1991/1992 von den Stromkonzernen selbst angestoßen worden ist.
Die Stromkonzerne haben aus wohlverstandenen wirtschaftlichen Interessen diesem Konsens zugestimmt. Sie
könnten ihr Geld auch anders als mit Atomkraft verdienen. Andere Technologien, wie zum Beispiel moderne
Gaskraftwerke, rechnen sich im Wettbewerb wesentlich
besser, da sie wesentlich kürzere Amortisationszeiten und
eine größere Akzeptanz haben.
Staatsminister Dr. Otto Wiesheu
Die Einzigen, die mit diesem Kompromiss nicht leben
können, sind anscheinend Sie. Sie stellen sich damit jenseits eines gemeinsamen Konsenses in der Gesellschaft.
({4})
Deutlich wurde das auch dadurch, wie Sie sich im
Energiedialog verhalten haben. Da hat der Kollege Grill
verkündet, die CDU steige aus, am nächsten Tag saßen Sie
wieder in der Steuerungsgruppe. Da hat der Fraktionsvorsitzende Merz gesagt, die CDU sei ausgestiegen, am
nächsten Tag hat Frau Merkel verkündet, die CDU sei
weiter am Energiedialog beteiligt. Ich glaube, Sie sollten
sich einmal fragen, ob Ihre Pro-Atom-Haltung ohne Wenn
und Aber und Ihr Festhalten an der Atomenergie als Zukunftstechnologie richtig sind, obwohl jeder weiß, dass
das eine Sackgassentechnologie des letzten Jahrhunderts
ist.
Ihre Haltung ist die Ursache dafür, dass Sie völlig am
Rande der Gesellschaft stehen und sich außerhalb jeglicher vernünftigen Debatte über die Zukunft der Energieversorgung befinden.
({5})
Sie behaupten, die Bundesregierung habe kein Konzept. Ich muss Ihnen sagen: Von allen Vorrednern der Opposition, vor allem von Frau Merkel, habe ich außer
einem Bekenntnis zur Atomenergie kein einziges Wort
darüber gehört, wie denn aus Ihrer Sicht das Klimaschutzziel zu erreichen ist.
Aus Ihrer Sicht wäre es logisch gewesen, den Bau von
neuen Atomkraftwerken vorzuschlagen. Ich habe auch
das nicht gehört. Sie wissen sehr wohl, warum Sie dieses
nicht vorschlagen: Sie würden weit und breit keinen Investor finden, der sich in diesem Bereich betätigen würde.
({6})
Von Ihnen liegen auch keine anderen Vorschläge auf
dem Tisch. Das ist ein Oppositionsverständnis, welches
wir in der Tat so niemals vertreten würden. Ich glaube, die
Ursache dafür liegt darin, dass Sie Ihren Frieden mit dem
Atomkonsens nicht machen können. Diesen Konflikt mit Ihrer Pro-Atom-Haltung außerhalb der Gesellschaft
zu stehen oder mit uns zusammen in der Gesellschaft an
einem zukunftsfähigen Energieversorgungskonzept mitzuarbeiten - müssen Sie erst einmal klären und sich entscheiden.
Die rot-grüne Regierung dagegen geht ihren Weg. Wir
haben nicht nur den Ausstieg beschlossen, wir haben auch
begonnen mit dem Einstieg in eine umweltverträgliche
Energieversorgung.
Das Gesetz für die erneuerbaren Energien, das weltweit ambitionierteste Förderprogramm für die erneuerbaren Energien, wurde hier schon mehrmals genannt.
Selbstverständlich ist es nicht so, dass damit in fünf Jahren 30 Prozent der Stromerzeugung erreicht werden können. Aber gerade in der Industrie muss man mit Investitionszeiträumen von 30 bis 40 Jahren rechnen. Das sind die
Planungshorizonte. Ich sage Ihnen: In 30, 40 oder 50 Jahren werden wir auch in Deutschland 50 Prozent der Energieerzeugung aus erneuerbaren Energien, aus Wind, aus
Biomasse, aus Photovoltaik, aus Erdwärme haben.
({7})
Selbstverständlich kann man nur mit regenerativen
Energien, durch einen geschickten Mix aus Biomasse, aus
Wind, aus Photovoltaik, dann auch aus Speicherstoffen
wie zum Beispiel Wasserstoff, auch die Grundlast sicherstellen. Es ist eine völlig irre Vorstellung, dass man ohne
Atomkraft die Grundlast nicht betreiben kann; das funktioniert auch in dem Übergangszeitraum. Es gibt viele
hoch industrialisierte Länder, die ohne Atomkraft eine florierende Wirtschaft haben.
({8})
Malen Sie doch hier nicht den Beelzebub an die Wand!
({9})
Es geht auch ohne Atomenergie, es geht sogar besser als
mit Atomenergie.
Bevor wir das Solarzeitalter richtig eröffnen und damit
einen Anteil von 50 bis 100 Prozent erreichen, werden wir
eine Übergangsphase haben, in der wir auf die Energieeinsparung setzen werden.
({10})
Es wird eine Energieeinsparverordnung geben. Wir werden außerdem ein Altbausanierungsprogramm auf den
Weg bringen, wo wir große Einsparpotenziale sehen, und
wir werden auch die hocheffiziente Nutzung fossiler
Energieträger vorantreiben, damit sie nicht verschwendet
werden, sondern damit mit ihnen sparsam umgegangen
wird. Das ist - es wurde bekanntlich schon mehrmals gesagt - das Konzept der rot-grünen Bundesregierung.
({11})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Peter
Paziorek von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Herr Matschie fragte uns als
Opposition: Was werfen Sie uns eigentlich vor? Unsere
Kritik an Ihrem Ausstiegskurs kann in einem Satz zusammengefasst werden: Die Atomausstiegspolitik der rotgrünen Bundesregierung ist politisch unverantwortlich
und bezogen auf die bisherigen Positionen von Rot und
Grün auch in höchstem Maße unglaubwürdig.
({0})
Wie unglaubwürdig Ihre jetzige Haltung ist, ergibt sich
schon daraus, dass seit der Gründung der Partei der Grünen immer wieder die Sicherheit der deutschen Atomkraftwerke angezweifelt wurde. Die massiven Sicherheitsdefizite waren, wie Sie damals ja behaupteten, auch
Anlass für gewaltsame Auseinandersetzungen auf der
Straße.
({1})
Nun aber sind die Kernkraftwerke laut Trittin so sicher,
dass sie noch 32 Jahre laufen können. Wenn sie so unsicher wären, wie Sie es in der Vergangenheit immer behauptet haben, dann hätten Sie sie sofort abstellen müssen. Dass Sie das nicht getan haben, belegt doch, wie unglaubwürdig Ihre bisherigen Positionen waren.
({2})
Herr Kollege Paziorek, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hustedt?
Gerne.
Herr Paziorek, Sie wollen sich ja hier mit Qualität an der
Debatte beteiligen.
({0})
Ist Ihnen entgangen, dass es einen Unterschied zwischen
Gesamtlaufzeiten und Restlaufzeiten gibt? Ist Ihnen
vielleicht auch entgangen, dass die durchschnittlichen
Restlaufzeiten 13 Jahre betragen und die Gesamtlaufzeiten 32 Jahre sind? Das heißt, da das letzte AKW vor ungefähr elf Jahren ans Netz gegangen ist, dass Sie diese elf
Jahre auch für das letzte AKW abziehen müssen. Ist Ihnen
entgangen - noch einmal die Wiederholung der Frage -,
dass es einen Unterschied gibt zwischen den Gesamt- und
den Restlaufzeiten? Das ist das kleine Einmaleins.
Frau Hustedt, gehen
Sie davon aus, dass mir das nicht entgangen ist. Aber die
Kompliziertheit Ihrer Rechnung und die Kompliziertheit
Ihrer Darlegung zeigt doch, welche Schwierigkeiten Sie
haben, von Ihrer bisherigen Position abzurücken.
({0})
Frau Hustedt, Sie haben doch gerade in Ihrer Rede
auch gefordert, die Union solle sich entscheiden. Deshalb
sage ich Ihnen noch einmal für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ganz deutlich: Unsere Fraktion steht für die
friedliche Nutzung der Kernenergie und hält den von der
rot-grünen Bundesregierung ausgehandelten Ausstieg aus
der Kernenergie aus gesamtpolitischen, aus ökologischen
und aus wirtschaftlichen Gründen für einen Irrweg.
Die friedliche Nutzung der Kernenergie leistet nämlich ganz im Sinne des Leitbildes der nachhaltigen Entwicklung einen bedeutsamen Beitrag für die Energieversorgung. Dieser Beitrag ist mittel- und längerfristig
notwendig, um eines der Ziele der Agenda 21 von Rio
umzusetzen. Eines dieser Ziele ist, die benötigte Energie unter größtmöglicher Schonung fossiler Energiequellen bei geringer Belastung der Erdatmosphäre zu erzeugen und zu nutzen. Von diesem Ziel rücken Sie in
unserem Lande - leider - ab, wenn Sie jetzt immer
mehr der stärkeren Nutzung der Steinkohle das Wort reden.
Der vereinbarte Atomkonsens ist eine schwere Niederlage - das ist auch ganz wichtig - für den Forschungs- und
Entwicklungsstandort Deutschland. Durch den Atomausstieg wird Deutschland international auf sicherheitstechnische Einflussnahme verzichten müssen. Dies wird
langfristig die deutsche Wettbewerbsfähigkeit auf diesem
speziellen Technologiegebiet beschädigen; denn die Wirtschaft eines Landes, das seine Kernkraftwerke abschaltet,
wird im Ausland Schwierigkeiten haben, zu erklären,
warum man gerade deren Sicherheitstechnik kaufen soll.
({1})
Es ist in erster Linie auch ein großes ethisches Problem. Ich stelle nur die Frage: Ist es vertretbar, dass sich
gerade Deutschland mit seiner Sicherheitsphilosophie aus
der internationalen Diskussion verabschiedet? Ich meine
- kurz gesagt -: Nein, das ist ethisch unverantwortlich.
({2})
Der Bundeskanzler hat in seinen Ausführungen davon
gesprochen, der Union ginge es bei der Frage des Atomausstiegs vielleicht um den Untergang des Abendlandes.
Darum geht es gar nicht. Aber bei dem Atomausstieg geht
es höchstwahrscheinlich um die Aufgabe der sicherheitstechnischen Führungsrolle Deutschlands in Europa. Dies
halte ich insgesamt für unverantwortlich.
({3})
Der jetzige Kurs bedeutet in Wahrheit den Verlust von
Forschungs- und Entwicklungskompetenz in einer naturwissenschaftlichen Kerndisziplin. Wenn Sie den Mut gehabt hätten, dies Ihren Anhängern zu sagen, dann hätten
Sie einen verantwortungsvollen Weg eingeschlagen. Aber
bei allen Politikfeldern, die Sie im Augenblick beschreiten, stellt man immer wieder fest: Der rote Faden Ihrer Politik ist der Populismus.
({4})
Sie versuchen, mit geringstmöglichem Widerstand durchzukommen. Sie haben manchmal nicht den Mut, eine
schwierige Diskussion mit Ihrer Klientel zu führen. Das
muss ich Ihnen in aller Deutlichkeit vorwerfen.
({5})
Wir werden durch den Atomausstieg langfristig von einem Exporteur zu einem Importeur von technischem
Know-how. Das wird uns langfristig international in die
Isolation führen.
Ein Wort zu den äußerst polemischen Aussagen von
Herrn Trittin, die er im Sinne einer Parteitagsrede gemacht hat, als er das Bild an die Wand malte, mit den
erneuerbaren Energien ließe sich die Atomenergie jetzt ersetzen. Deutschland wird erhebliche Schwierigkeiten haben, Herr Bundesumweltminister, seinen Klimaschutzverpflichtungen nachzukommen. Die Eindämmung der
weltweiten CO2-Emissionen zur Stabilisierung des Weltklimas ist die größte umweltpolitische Herausforderung
unserer Generation. In diesem Zusammenhang darf man
nicht nur auf das nationale Ziel 2005 verweisen. Schließlich müssen wir auch noch das Ziel von Kioto - minus
12 Prozent - erfüllen. Die Reduktionspolitik muss nach
2005 weitergehen.
({6})
Deshalb frage ich: Meinen Sie wirklich, dass wir durch
den notwendigen Mix aus Energieeinsparung und rationaler Energieanwendung tatsächlich den Wegfall der
Kernenergie - auch bezogen auf das Ziel 2012 - ausgleichen können?
({7})
Wenn ich die Äußerungen des ehemaligen Umweltsenators von Hamburg, Herrn Vahrenholt, als Beispiel
nehme, der ausdrücklich davor warnt, zu glauben, dass
sich mit den erneuerbaren Energien 2005, 2010 oder
2015 die Kernenergie ersetzen ließe, und der damit zu
Recht die Frage aufwirft: „Wie realistisch ist das Erreichen des Reduktionsziels?“, dann finde ich es sehr traurig, dass solche kritischen Stimmen in Ihrer Partei einfach
weggebügelt werden. Wenn Sie auf solche Stimmen gehört hätten, dann hätten Sie auch mit einer Atompolitik eine verantwortungsbewusste CO2-Reduktionspolitik
machen können. Aber Sie hören nicht auf solche Stimmen
und führen deshalb Deutschland auch in der internationalen Klimaschutzpolitik in eine Sackgasse.
({8})
Eines wird auch in Ihrem Papier zum Energiedialog,
Frau Ganseforth, ganz deutlich: Es gibt keinen belastbaren Energiekonsens. Es gibt keine aussagekräftigen
Zahlen und Rechnungen - es gibt nur allgemeine Aussagen -, die belegen sollen, wie Sie mittelfristig die Kernenergie durch erneuerbare Energien ersetzen wollen.
Auch das Papier zum Energiedialog gibt darauf keine
Antwort. Wenn Sie das Papier lesen, dann müssen Sie zugeben, dass Sie an diesem Punkt eine große inhaltliche
Schwachstelle haben.
({9})
Natürlich wird die Atomenergie jetzt im internationalen Bereich - wir haben den liberalisierten Strommarkt einen Kostenfaktor darstellen. Es wird eine spannende
Frage werden, wie Sie Atomstromtransporte vor dem
Hintergrund des EU-Rechts verhindern wollen. Herr
Matschie, wir haben Ihre Aussage hier gehört. Auch Herr
Müller hat gerade gesagt, er habe kein Interesse daran. Sie
sagen, es werde mit Ihnen keine rechtliche Regelung geben, die beinhaltet, dass zum Beispiel der EU-weite Import von Atomstrom nach Deutschland verhindert wird.
Wenn Sie das so sagen, dann ist das der neueste Stand,
auch wenn wir andere Papiere aus Ihrer Umgebung kennen. Ich bin einmal gespannt, wie Sie in den nächsten Jahren verhindern wollen, dass deutscher Atomstrom durch
ausländischen Atomstrom tatsächlich ersetzt wird und
wie Sie das als einen Erfolg Ihrer Ausstiegspolitik verkaufen wollen. Das wird nicht möglich sein und wir werden es Ihnen nicht durchgehen lassen.
({10})
Der Bundeskanzler hat davon gesprochen, uns gehe es
in Sachen des Endlager- und Entsorgungskonzeptes um
die Anwendung des Sankt-Florians-Prinzips. Ich will in
aller Deutlichkeit sagen: 1979, 1980 und 1990 haben
Bund und Länder vereinbart, gemeinsam ein Entsorgungskonzept über die verschiedensten Ebenen zu tragen. Zwei Eckpunkte dieses Konzepts will ich nennen:
zum einen die Zwischenlagerung - dabei ist Ahaus genannt worden; das liegt im Münsterland, ganz in der Nähe
meines Wohnortes - und zum anderen langfristig die Fortsetzung der Erkundung in Gorleben.
Sie müssen den Menschen hinsichtlich der Zwischenlagerstandorte, egal ob es sich um Ahaus oder um
die neuen Standorte der dezentralen Konzepte handelt,
eine Antwort darauf geben, ob sie zu Recht befürchten,
dass aus den in ihrer Nähe liegenden Zwischenlagerstandorten langfristig doch verkappte Endlager werden, weil
Sie nicht den Mut haben, die Erkundungen in Gorleben
fortzusetzen.
Was bedeutet das Moratorium? Wenn Sie in diesem Papier an anderer Stelle sagen, Sie seien der Ansicht, dass
Gorleben zum heutigen Zeitpunkt tatsächlich nicht als sicher bezeichnet werden kann, dann frage ich Sie: Warum
erkunden Sie in Gorleben dann nicht weiter? Ich kann Ihnen die Antwort geben: Sie erkunden in Gorleben nur deshalb nicht weiter, weil Sie dann Schwierigkeiten mit Ihrer
Anhängerschaft bekämen. Sie erkunden nicht deswegen
nicht weiter, weil Sie der Ansicht sind, Gorleben sei unsicher. Sie erkunden nur deshalb nicht weiter, weil Sie nicht
den Mut haben, diese Frage mit Ihrer Anhängerschaft zu
diskutieren. Daran kann man erkennen, wie verantwortungslos Sie in diesem Bereich Politik betreiben.
({11})
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Danke schön, Herr
Präsident.
Abschließend sage ich: Kernenergie ist für uns keine
Auslaufveranstaltung. Die Union wird die friedliche Nutzung in jedem Fall weiterhin propagieren. Dies ist für uns
nämlich eine selbstverständliche Verpflichtung gegenüber nachfolgenden Generationen; denn die Kernkraftoption muss für sie offen gehalten werden.
Vielen Dank.
({0})
Als
nächster Redner hat der Kollege Volker Jung von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine Damen und Herren! Dass der Ausstieg aus der
Kernenergie nach diesem Energiekonsens kontrovers
bleiben wird, war absehbar und irritiert uns nicht besonders. Allerdings ist die Situation neu, dass Drohungen von
unionsregierten Ländern im Raum stehen, bei der Errichtung von standortnahen Zwischenlagern nicht zu kooperieren. Nach meiner Auffassung ist das genau das Gleiche,
was Sie rot-grünen Landesregierungen jahrelang vorgeworfen haben: Sie betrieben einen ausstiegsorientierten
Gesetzesvollzug. Wir werden in der Zukunft wahrscheinlich darüber reden müssen, dass ein ausstiegsbehindernder Gesetzesvollzug betrieben wird, den wir nicht akzeptieren werden.
Wir werden das insbesondere deswegen nicht tun, weil
sich die Vereinbarung über den Ausstieg nach meiner
festen Überzeugung als unumkehrbar erweisen wird;
denn - der Bundeskanzler hat es hier gesagt und ich wiederhole es - seit über zehn Jahren denkt kein einziges
Energieversorgungsunternehmen in unserem Land mehr
daran, ein neues Kernkraftwerk zu bauen, nicht nur wegen der bekannten Akzeptanzprobleme, sondern insbesondere auch wegen wirtschaftlicher Erwägungen. Man
befürchtet, dass neue Kernkraftwerke nicht wirtschaftlich
eingesetzt werden können. Diese Problematik wird auf
Dauer so bleiben, weil der liberalisierte europäische Binnenmarkt das nicht zulassen wird.
({0})
Darum betrachten wir es als einen großen Erfolg der
Bundesregierung, dass es jetzt gelungen ist, einen Konsens über den Ausstieg aus der Kernenergie zu finden. Damit ist ein klarer Auftrag der Wähler aus der Bundestagswahl 1998 eingelöst worden; denn unsere Bevölkerung
vertraut der Beherrschbarkeit dieser Technologie seit dem
Super-GAU in Tschernobyl und dem Beinahe-GAU in
Harrisburg nicht mehr.
({1})
Es ist ein großer Erfolg, meine Damen und Herren,
dass die Elektrizitätsversorgungsunternehmen auf Entschädigungsansprüche verzichten. Das gilt für die Laufzeitbegrenzung der Kernkraftwerke, das gilt aber auch für
mögliche Pönalen aus der Wiederaufarbeitung - die
EVUs haben sich verpflichtet, alle zumutbaren Möglichkeiten zu nutzen, um eine frühestmögliche Beendigung
der Wiederaufarbeitung sicherzustellen -, und das gilt
schließlich auch für die Investitionen in die Exploration
von Gorleben und Schacht Konrad.
Es ist auch ein Erfolg, dass mit der Definition von Reststrommengen, die übertragbar sind, der Einsatz von Kernkraftwerken optimiert werden kann, und zwar in die Richtung „Neu für Alt“. Damit wird ein wesentlicher Beitrag
zur Sicherheit geleistet.
({2})
Dieses Modell hat es dem RWE auch ermöglicht, die Inbetriebnahme von Mülheim-Kärlich jetzt zu den Akten zu
legen. Es ist in das Kontingent einbezogen, und damit
werden alle Schadenersatzansprüche obsolet.
Meine Damen und Herren, es ist auch ein Erfolg, dass
es jetzt regelmäßig Sicherheitsüberprüfungen geben
wird. Das ist einvernehmlich so festgelegt worden.
Es ist schließlich ein Erfolg, dass durch die Errichtung
standortnaher Zwischenlager die Zahl der Castortransporte in der Zukunft ganz erheblich reduziert wird. Damit
haben wir Zeit gewonnen, und damit können wir ein tragfähiges Endlagerkonzept entwickeln, das der einzige Entsorgungsweg werden soll.
Meine Damen und Herren, ich nehme die Hinweise
schon ernst, dass wir in der Zukunft ein schlüssiges Energiekonzept brauchen. Ich habe verschiedentlich von einer
belastbaren Substitutionsstrategie gesprochen, damit wir
den Verzicht auf die Kernenergie ermöglichen und gleichzeitig unsere Klimaschutzziele weiter verfolgen können
und damit Arbeitsplätze am Standort Deutschland sichern.
Es geht um nicht mehr und nicht weniger als darum darin stimme ich durchaus mit Herrn Hirche überein -,
dass wir einen Anteil von mehr als 30 Prozent der Kernenergie an der Stromerzeugung substituieren müssen, und
ich stimme mit Herrn Hirche auch darin überein, dass es
um einen Anteil der Kernenergie von mehr als 50 Prozent
an der Grundlaststromerzeugung geht. Das ist ein Problem, das wir hier nicht wegreden dürfen.
Ich finde aber, dass die Strategie gut vorgezeichnet ist.
Dazu hat der Energiedialog 2000, in dem eine ganze
Reihe von bemerkenswerten Übereinstimmungen gefunden worden ist, wesentliche Beiträge geleistet. Auf dieser
Grundlage soll nach Aussage des Bundeswirtschaftsministers im Herbst ja auch ein Energiekonzept entwickelt
werden.
Ich meine, dass eine solche Substitutionsstrategie vier,
fünf Elemente beinhalten sollte. In der Diskussion wird
immer vergessen, dass mit der Kernenergie Überkapazitäten abgebaut werden können. Das steht zwar nicht in
dem Papier über den Energiedialog 2000, weil das Kapitel Kernenergie als kontrovers ausgeklammert worden ist,
aber es wird von den EVUs heute so gesagt, dass es notwendig ist, in der Zukunft Kapazitäten stillzulegen. Das
ist ein Baustein.
Zweitens. Wir müssen die erneuerbaren Energiequellen wirksamer fördern. Dazu haben wir das Gesetz über erneuerbare Energien verabschiedet und das
100 000-Dächer-Solarprogramm auf den Weg gebracht.
Ich bin mir durchaus bewusst, dass diese erneuerbaren
Energieträger nur begrenzt im Grundlastbereich eingesetzt werden können - bei der Wasserkraft sieht das etwas
anders aus -, aber das ist ein sehr wesentlicher additiver
Beitrag. Darum müssen wir vor allem Energie einsparen.
In diesem Sinne arbeiten wir mit Hochdruck an einer Energieeinsparverordnung.
Ein wesentlicher Punkt ist meiner Meinung nach des
Weiteren, dass in der Zukunft die Kraft-Wärme-Kopplung ausgebaut wird.
({3})
Ich verweise da auf einschlägige Studien, die im letzten
halben Jahr vorgelegt worden sind und in denen die KraftWärme-Koppelung als kostengünstigste Möglichkeit bezeichnet wird, gleichzeitig Energie zu erzeugen und die
CO2-Emissionen zu reduzieren. Ganz wichtig ist dabei,
dass dieser Energieträger vorwiegend im Grundlastbereich eingesetzt wird. Hier kommt tatsächlich eine Substitution zum Zuge.
({4})
Wir haben in diesem Zusammenhang das Soforthilfegesetz verabschiedet, weil es ja keinen Sinn macht, meine
Damen und Herren, erhebliche Kapazitäten einer Energieform vom Netz gehen zu lassen, die wir in Zukunft
ausbauen wollen. Nach meiner Auffassung müsste diese
Regelung aber durch eine dauerhafte Ausbauregelung abgelöst werden.
Wenn all diese Bausteine nicht ausreichend sein sollten, um den entsprechenden Substitutionsbeitrag zu erbringen, dann werden wir konsequenterweise auch daran
denken müssen, hoch effiziente konventionelle Kraftwerke neu zu bauen. Meine feste Überzeugung ist aber,
dass sich das nicht als notwendig erweisen wird.
Meine Damen und Herren, wenn wir alle diese Bausteine intelligent und flexibel kombinieren und daraus
eine Konzeption entwickeln, dann wird es uns gelingen davon bin ich fest überzeugt -, Kapazitäten zu verringern,
Arbeitsplätze am Standort Deutschland zu sichern und in
der Zuliefererindustrie zu vermehren und am Ende auch
unsere Klimaschutzziele zu erreichen.
Schönen Dank.
({5})
Als
nächster Redner hat der Kollege Kurt-Dieter Grill von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte schon noch
einmal deutlich machen, dass es in der jetzigen Zeit nicht
die Hauptaufgabe ist, darüber zu diskutieren, welche
neuen Kapazitäten wir brauchen. Vielmehr müssen wir in
den nächsten fünf bis acht Jahren des ersten Jahrzehnts
dieses Jahrhunderts mit marktwirtschaftlichen Instrumenten den Abbau der sonst immer so gescholtenen
Überkapazitäten vollziehen; auch Sie haben sie ja immer beredt beklagt. In Wahrheit muss in Deutschland
nicht ein einziges Megawatt neuer Leistung installiert
werden, weil wir in Deutschland selbst genug Strom produzieren. Das ist das Entscheidende.
({0})
- Vor diesem Hintergrund können Sie sich aber nicht hier
hinstellen und sagen, Sie hätten zum einen ein Konzept das stimmt nicht, da Sie auf den Ausstieg nicht vorbereitet sind - und zum anderen sei es die wichtigste Aufgabe,
Neubauten zu errichten.
({1})
Herr Trittin selber hat als Vertreter der Bundesregierung Ende März, Anfang April dieses Jahres auf die Frage,
ob die erneuerbaren Energien die Kernenergie ersetzen
können - das vertreten Sie ja hier -, geantwortet, dass das
abwegig sei. Mit den von Herrn Trittin geschalteten Anzeigen, in denen es heißt, nach der Kernenergie kommen
Wind, Wasser und was auch immer, zum Beispiel Solar,
versagen Sie schon wieder in der Sache und täuschen die
Bevölkerung ein weiteres Mal.
({2})
Herr Müller wird ja nicht müde, hier vorzutragen, wie
es sich in Dänemark und Österreich verhält. Herr Müller,
ich will dazu nur sagen: Die dänischen Werte beim CO2Ausstoß liegen an der Spitze Europas, nämlich 14 Tonnen
CO2 pro Kopf und Jahr; das liegt insbesondere daran, dass
die Dänen mit Strom aus KWK für das stillgelegte Kernkraftwerk Barsebäck in Schweden Ersatz leisten. Das
schlägt sich in ihrer CO2-Bilanz mit 4 Millionen Tonnen
CO2 mehr jährlich nieder. Auch in der heutigen Debatte
haben Sie keine Antwort darauf gegeben, welche Mengen
an CO2 durch Ihre Energiepolitik freigesetzt werden und
was das klimapolitisch bedeutet.
({3})
Noch etwas ist Ihnen vorzuwerfen: Sie stellen sich hier
hin und sagen: Dass keiner baut, hat etwas mit den Überkapazitäten zu tun. Ihr Bundeswirtschaftsminister hat
aber heute in der „Zeit“ ein Interview gegeben. Schon
letztes Jahr auf der kerntechnischen Tagung im Mai hat er
gesagt: Die deutschen Unternehmen können sich gerne
am EPR in Frankreich beteiligen. Heute lese ich in der
„Zeit“, dass er natürlich nicht ausschließe, dass wieder
Kernkraftwerke gebaut werden. Aus Ihren Äußerungen
zugunsten erneuerbarer Energien, für einen Wiedereinstieg in die Kerntechnik und der Tatsache, dass der
Bundeskanzler an Stelle von Kernkraftwerken Kohlekraftwerke bauen will, ist kein schlüssiges Konzept zu erkennen. Sie veranstalten hier vielmehr einen Marsch in
die Sackgasse der Klimapolitik.
({4})
Ich will mich noch mit einem zweiten Punkt auseinander setzen. Sie suggerieren - auch in der Antwort auf Frau
Merkel und mit dem, was der Bundeskanzler und Herr
Volker Jung ({5})
Trittin gesagt haben -, dass Gorleben und das gesamte
Entsorgungskonzept eine Angelegenheit der CDU/CSU,
von Helmut Kohl und von Angela Merkel, sei. Hören Sie
auf, die Menschen im Lande zu verdummen! Ernst
Albrecht musste die Zusagen von Alfred Kubel 1977 einlösen, dass in Niedersachsen ein nukleares Entsorgungszentrum gebaut wird. Das ist die Wahrheit. Was in Gorleben steht, ist nicht die Folge der Politik von CDU/CSU,
sondern die Folge der Politik der Regierung Schmidt in
den 70er-Jahren. Das ist die Realität.
({6})
Es ist ganz interessant, dass heute in diesem Haus zwei
Parteien die Mehrheit bilden, von denen die eine, nämlich
die Sozialdemokraten, durch ihre totale Technikgläubigkeit in den 70er-Jahren die Basis für die Entstehung der
anderen Partei, der Grünen, als einer Protestbewegung gegen die Politik der Sozialdemokraten in den 60er- und
70er-Jahren gelegt hat. Insofern beteiligen Sie sich an der
Bewältigung dessen, was die Sozialdemokraten in ihrer
Technik- und Machbarkeitsgläubigkeit in den 70er-Jahren
als Erbe hinterlassen haben.
({7})
Dazu eine weitere Bemerkung. Wenn der Bundeskanzler heute sagt, die CDU/CSU verweigere sich in der Entsorgungsfrage, dann ist das so unglaublich verlogen, weil
Ernst Albrecht nicht danach gefragt hat, wer in jener Zeit
in Bonn regiert hat. Er hat vielmehr danach gefragt, wer
die Aufgaben wahrnehmen muss und wie man die Aufgaben wahrnehmen muss. Insofern müssen wir über die Vergangenheit der SPD reden.
Wir müssen konstatieren: Sie malen das Bild eines
Konsenses an die Wand. In Wahrheit schaffen Sie neue
Konfrontationen. Sie schaffen zum Beispiel eine Konfrontation mit den Ländern, weil Sie wider den Geist der
Verfassung den Konsens mit den Ländern aufgeben und
den Dialog bewusst abgebrochen haben, ohne deutlich zu
machen, wie es ohne einen solchen Konsens weitergehen
soll.
({8})
Sie haben auch in grob fahrlässiger Weise die Kommunen aus der Willensbildung ausgenommen. Sie haben
diejenigen, die von Ihrer Politik betroffen sind - Sie sind
doch basisdemokratisch -,
({9})
vollkommen aus der Diskussion gehalten. Hinter verschlossenen Türen ist etwas ausgehandelt worden, was
nicht gesellschaftlicher Konsens sein kann, weil vier Unternehmen der Strombranche und zwei Parteien miteinander verhandelt haben. Aber das Volk, die Gesellschaft, die
Betroffenen und die Verantwortlichen an den Standorten
sind nicht an diesen Gesprächen beteiligt gewesen.
({10})
Aus einer solchen Politik kann kein Vertrauen erwachsen.
({11})
- Frau Ganseforth, ich glaube, es wäre besser, wenn Sie
schweigen würden.
({12})
In den letzten 20 Jahren haben Sie an allen Kernkraftwerkstandorten sozusagen die Auseinandersetzung geschürt. Weil meine Redezeit dafür nicht reicht, will ich
jetzt nicht aufzählen, was alles in diesem Zusammenhang
gelaufen ist. Aber einen Punkt will ich herausgreifen. Von
Griefahn bis Jüttner haben alle gesagt, dass CastorenBehälter unsicher seien und dass das Zwischenlager in
Gorleben unsicher sei. Wenn Sie jetzt sagen, diese Behälter seien sicher, können auf die grüne Wiese gestellt werden und brauchen nur eine Betonhaube, dann handelt es
sich, schlicht und einfach gesagt, um eine verlogene Politik gegenüber den Bürgern, denen Sie gestern noch erzählt
haben, das sei die Politik der Union.
({13})
Ich möchte dazu noch einen Hinweis geben. Das Konzept der Betonhauben haben wir schon 1980 in Gorleben
diskutiert. Ernst Albrecht hat es wegen mangelnder Sicherheitsvorsorge abgelehnt. Ich finde es nett, dass Sie
Konzepte akzeptieren, die Albrecht schon 1980 wegen
mangelnder Sicherheitsvorsorge abgelehnt hat. Diesen
Hinweis kann ich Ihnen nicht ersparen.
({14})
Ich will Ihnen sagen, worin für mich die Verlogenheit
Ihrer Politik liegt. Gerhard Schröder hat 1989 - damals
wollte er Ministerpräsident in Niedersachsen werden versprochen, dass in Gorleben eines Tages nur noch Kartoffeln gebuddelt werden. Sie haben die Ängste der Menschen für das Ziel instrumentalisiert, politische Macht zu
erringen, und nicht für das Ziel, die Sorgen der Menschen
abzubauen. Das ist das Entscheidende.
({15})
Sie haben Krieg inszeniert und gerieren sich jetzt als
Friedensstifter. Sie sorgen dafür, dass Ihre eigene Kriegsführung zu Ende geht. Aber Sie werden zum Schluss erklären müssen, warum das, was gestern falsch war, heute
richtig ist.
Ich könnte Ihnen das am Beispiel Schacht Konrad
nachweisen.
({16})
- Herr Matschie, Sie haben keine Ahnung von der Sache.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja, ich komme zum
Schluss. - Gerhard Schröder hat im Juni 1990 als Ministerpräsident erklärt, Schacht Konrad könne wegen mangelnder Sicherheit nie in Betrieb gehen. Am 13. Oktober 1990 hat er Herrn Rau geschrieben: SelbstverständKurt-Dieter Grill
lich stimmen wir dem schnellstmöglichen Bau eines Endlagers für nicht wärmeentwickelnde Abfälle in Konrad
zu. - Nur ein halbes Jahr lag zwischen der Aussage „nicht
sicher“ und der Zustimmung zum Bau eines Endlagers.
Der entscheidende Unterschied zwischen Ihnen und
uns ist nicht das Ja oder Nein zur Kernenergie, sondern
der entscheidende Unterschied ist, dass wir gegenüber
den Menschen wahrhaftig waren, Sie aber nicht!
({0})
Das Wort
hat jetzt der Bundeswirtschaftsminister Werner Müller.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Grill, wenn ich Ihnen so zuhöre, wenn
ich das, was Sie sagen, mit den Dingen vergleiche, die im
Lande zu sehen sind, so ist das Einzige, was ich unterstreichen kann, das Wort „wahrhaftig“. Sie haben wahrhaftig eine energiepolitisch insgesamt desolate Lage hinterlassen.
({0})
Ich hoffe, dass es mir gelingt, Ihnen das deutlich zu machen, denn Energiepolitik ist etwas, was sich auf die lange
Frist richtet. Insofern würden wir insgesamt als Nation
besser fahren, wenn wir sie in den Grundzügen überparteilich formulieren könnten. Wenn Sie sich dieser überparteilichen Formulierung entziehen, dann müssen wir
das eben allein machen. Aber Sie sind unverändert
eingeladen, sich in die Energiepolitik dieser Bundesregierung mit einzuklinken, denn sie ist nicht unvernünftig.
({1})
Wenn ich allerdings von Herrn Paziorek höre, dass das
Überdenken von energiepolitischen Positionen, das Aufeinanderzugehen dazu führe, dass man völlig unglaubwürdig werde, wenn also beispielsweise jemand, der eigentlich sofort aus der Kernenergie aussteigen will, aber,
um einen Konsens zu erzielen, um energiepolitisch vorwärts zu kommen, sagt: „Gut, dann steigen wir einen Moment später aus“,
({2})
von Ihnen mit der Behauptung angeprangert wird, er
werde völlig unglaubwürdig, dann ist mir völlig klar,
warum Sie bewegungslos auf einer Position verharren
und jedwede Konsensüberlegung von vornherein ablehnen,
({3})
in der völlig falschen Hoffnung, Sie würden dadurch
glaubwürdig.
Wer in diesem Lande eine Energiepolitik betrieben hat,
die, wenn ich das einmal in aller Nüchternheit sagen darf,
20 Jahre lang den Ausstieg aus der Kernenergie systematisch vorbereitet hat, kann sich doch nicht hier hinstellen
und sagen: Erstens sind wir 2002 wieder dran - diese Hypothese lassen wir einmal weg -, und zweitens machen
wir im Jahre 2002 die große Kernenergiezukunft. - Ich
will Sie einmal daran erinnern, dass in der Amtszeit der
Regierung Kohl kein einziges Kernkraftwerk bestellt
wurde,
({4})
mit dem Ergebnis - Sie reden immer über die Exportfähigkeit -, dass zum Ende der Amtszeit Kohl die Firma
Siemens ihre Nukleartechnik nach Frankreich eingebracht hat.
({5})
- Warum? Weil in der Amtszeit der Regierung Kohl eine
Energiepolitik betrieben wurde, die in jeder Beziehung
nicht sachgerecht war.
({6})
Wenn Sie wirklich an der Zukunft der Kernenergie Interesse gehabt hätten - wider die große Mehrheit des Volkes -, dann hätten Sie nicht den Brüter stillgelegt, dann
hätten Sie nicht den Hochtemperaturreaktor stillgelegt,
sondern dann hätten Sie für Neubauten von Kernkraftwerken gesorgt, dann hätten Sie für ein anständiges Entsorgungskonzept gesorgt, und schlussendlich hätten Sie
auch Wackersdorf nicht stillgelegt.
({7})
Wackersdorf, lieber Herr Wiesheu, ist nicht von der Wirtschaft stillgelegt worden.
({8})
Ich war bei den Verhandlungen dabei. Wackersdorf ist
stillgelegt worden, weil der bayerische Ministerpräsident
die Erteilung von Baugenehmigungen verweigert hat.
({9})
- Es ist vieles Geschichtsklitterung, was Sie hier betreiben. Ich will Ihnen sagen: Das Thema Kernenergie ist in
den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit für das vorbereitet
worden, was jetzt zu Papier gebracht worden ist, nämlich
für einen geordneten Ausstieg. Ich halte es für sehr bemerkenswert, dass Sie die Stromwirtschaft vorher dahin
gehend beeinflussen wollten, dass sie sich nicht in autonomer Entscheidung mit der Bundesregierung auf einen
geordneten Ausstieg verständigt. Der Stromwirtschaft
vorzuwerfen, sie wäre erpresst worden, ist also geradezu
aberwitzig.
({10})
- Die Stromwirtschaft hat nie gesagt, sie sei erpresst worden. Die Stromwirtschaft hat Sie, die CDU/CSU, aufgefordert, diesen Vereinbarungen zuzustimmen.
({11})
Ich kann mich dieser Aufforderung nur anschließen, will
allerdings hinzufügen: Sie müssen sich nicht erpresst
fühlen, dieser Aufforderung nachzukommen; es geht in
diesem Punkt tatsächlich auch ohne Sie.
({12})
Ich habe gesagt, Sie haben eine energiepolitische Baustelle hinterlassen, weshalb wir zunächst einmal einiges
begradigen müssen.
({13})
- Warten Sie doch ab; ich will Ihnen gerade die Trümmer
auf der Baustelle vorführen.
Sie beschweren sich darüber, dass man nicht genau
weiß, was man mit Stromimporten nach Deutschland,
namentlich mit Kernenergiestrom aus Frankreich und aus
Osteuropa, macht. Die damalige Opposition hat das
Energiewirtschaftsgesetz nicht gemacht; das haben Sie
gemacht! Sie haben zugelassen, dass es möglich ist, dass
kein deutsches Unternehmen Strom nach Frankreich, aber
Frankreich beliebig Strom nach Deutschland exportieren
kann.
({14})
- Das ist nicht die Unwahrheit, sondern das ist der heutige
Zustand und der ist in Ihrem Gesetz verankert. Das ist einer der Trümmer in diesem Gesetz.
({15})
Ich will Ihnen einen zweiten Trümmer nennen. Wie
kann man eigentlich ernsthaft ein Gesetz machen, mit
dem der deutsche Strommarkt in den Wettbewerb entlassen wird, aber um Ostdeutschland ein Schutzzaun gelegt
wird, damit Ostdeutschland jahrelang um etliche Pfennige
höhere Strompreise zu zahlen hat und den Stromwettbewerb nur im Fernsehen verfolgen kann?
({16})
Was ist denn das für ein Gesetz?
({17})
Herr Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grill?
Ja.
Bitte
schön, Herr Grill.
Herr Bundeswirtschaftsminister, ist Ihnen erstens bekannt, dass RWE
kürzlich einen Stromliefervertrag über 100 Gigawattstunden mit einer Papierfabrik in Frankreich, sinnigerweise
im Wahlkreis des Energiestaatssekretärs im französischen
Wirtschafts- und Finanzministerium, abgeschlossen hat?
Zweitens. Warum sind Sie eigentlich der Meinung,
dass die Schutzklausel für die VEAG so falsch ist? Das
war doch die einzige Möglichkeit, die VEAG in diesem
Wettbewerb am Leben zu erhalten!
({0})
Ich denke, Sie sollten uns in Anbetracht dessen, was Sie
selber verkündet haben, einmal darlegen, wie die VEAG
in dem Wettbewerb, den Sie jetzt hier anmahnen, hätte erhalten werden können.
({1})
Was das Thema Stromexport nach
Frankreich anbelangt: Den einen angesprochenen Vertrag kenne ich. Ich war selbst am Zustandekommen beteiligt und habe EDF gebeten, in diesem Falle ein Auge zuzudrücken.
({0})
Denn nach den Regeln der EDF ist das noch immer nicht
möglich. Aber das hat mit dem Thema nichts zu tun.
Ich will Ihnen sagen, welchen Fehler Sie im Energiewirtschaftsgesetz gemacht haben. Die Frage der Reziprozität ist eine überaus wichtige Frage. Sie haben für die
Reziprozität die falsche Institution eingesetzt, die darüber
entscheiden soll.
({1})
Deswegen haben wir den Zustand, dass wir in etliche Länder nicht exportieren können, dass aber nach Deutschland
beliebig importiert werden kann. Das ist der erste Punkt
und den nenne ich einen Trümmer auf der Baustelle.
({2})
Sie sprachen von der VEAG. Es ist gut, dass Sie dieses
Thema erwähnen. Denn wir haben, um die VEAG zu stabilisieren, unendlich viel Arbeit zu leisten, weil Sie beispielsweise die in diesem Bereich vorgenommene Privatisierung so gestaltet haben, dass Sie für die Bergarbeiter
und die Stromwerker Ostdeutschlands in keiner Weise
eine gesicherte Perspektive in den Kaufvertrag hineingeBundesminister Dr. Werner Müller
schrieben haben. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass in
Ostdeutschland irgendwie ein Mindestniveau an Verstromung festgeschrieben wird.
({3})
Wenn man die Verträge so exekutierte, wie Sie sie gestaltet haben, dann könnte die VEAG morgen nur noch als
Netzbetrieb agieren. All das müssen wir begradigen. Auch
das ist eine Baustelle, Herr Grill, die von Ihrer Partei hinterlassen worden ist.
Ich will Ihnen die nächste nennen: Sie haben im Bereich der Steinkohle mit den Vertretern des Bergbaus einen öffentlichkeitswirksamen Vertrag abgeschlossen, haben aber die Mittel, die Sie dem Bergbau zugesagt haben,
nicht einmal richtig in die Haushalte eingestellt - da begann das Problem -, wissend, dass diese Regelungen auf
europäischer Ebene nur noch kurzfristig abgesichert sind.
Sie haben nichts dazu getan, um irgendeine Nachfolgeregelung für den EGKS-Vertrag auf die Reihe zu bekommen.
Eine weitere echte Baustelle, die wir vorgefunden haben, war, dass Sie zwar ein bestimmtes CO2-Einsparziel
formuliert haben - das war grundsätzlich richtig -, aber
keine Maßnahmen dahin gehend getroffen haben, dass die
Strukturen der Energiewirtschaft so verändert werden,
dass dieses Einsparziel bis zum Jahre 2005 auch wirklich
erreicht werden kann.
Die einzige Einsparung, die in Ihrer Amtszeit erzielt
wurde, war durch den Rückgang der Zahl der großen
Kombinate und die Restrukturierung der Energieversorgung in Ostdeutschland zustande gekommen. Bei den
westdeutschen Energieversorgungsstrukturen ist nichts
dafür getan worden, dass eine wirkliche CO2-Einsparung
in Richtung des bis zum Jahre 2005 versprochenen Zieles
erreicht wird. Ich möchte hinzufügen, dass das bis zum
Jahre 2005 angestrebte Ziel nur eine Durchgangsstation
ist. Wir werden bis zum Jahre 2020 weitaus größere Einsparziele erreicht haben müssen. Das ist, so glaube ich,
parteiübergreifend in den Klima-Enqueten früherer Regierungen festgestellt worden.
Angesichts dessen, dass bis 2020 etwa 40 Prozent der
CO2-Emissionen eingespart werden sollen, will ich darauf
hinweisen, dass das weit mehr ist, als dazu die Kernenergie einen Beitrag leistet. Die Kernenergie leistet einen
Beitrag in Höhe von 10 Prozent zur deutschen Energieversorgung. Wenn Sie 40 Prozent der CO2-Emissionen
einsparen wollen, müssen Sie eine richtige Effizienzrevolution hinbekommen.
({4})
Sie müssen ein zunehmendes Wirtschaftswachstum mit
einem sinkenden, nicht mit einem konstanten Energieverbrauch erreichen. Dafür müssen wir die erforderlichen
Strukturen festlegen.
({5})
Dies ist während Ihrer Amtszeit nicht erfolgt.
({6})
Wir müssen jetzt beispielsweise eine Energieeinsparverordnung vorlegen. Denn ein Problem habe ich: Sie
können nicht immer alles dem Strom anlasten. 70 Prozent
der Primärenergie dienen nicht der Stromerzeugung. Dort
also liegen die großen Einsparpotenziale. Deswegen müssen wir uns namentlich um die Themen Verkehr und
Raumwärmebereitstellung kümmern.
({7})
Dort brauchen wir - ich sage das noch einmal - eine Effizienzrevolution. Das Thema Kernenergie erledigt sich
en passant.
({8})
Eines will ich noch betonen: Wir stehen unter keinem
hohen Zeitdruck, weil sich das Thema Kernenergie, betriebswirtschaftlich gesehen, in einem im Hinblick auf die
Unternehmen schadensfreien Prozess erledigen wird.
Übrigens, Herr Paziorek, es ist nicht sehr schwer nachzurechnen: Wir sprechen von 32 Jahren Gesamtlaufzeit.
Sie dürfen nicht immer von 32 Jahren Restlaufzeit sprechen.
({9})
Wenn Sie von dieser Gesamtlaufzeit 20 Jahre abziehen,
kommen Sie auf das richtige Ergebnis; nur damit sich niemand erschreckt angesichts dessen, was Herr Paziorek soeben festgestellt hat.
({10})
Während dieses Prozesses wird die Kernenergie auslaufen. In den nächsten zwei, drei oder vier Jahren wird
Kernenergieleistung nicht nennenswert vom Netz gehen.
Das heißt, wir haben jetzt die Chance, das, was wir im
Energiedialog versucht haben zu verwirklichen, nämlich
uns eine Energieversorgungsstruktur des Jahres 2020 vorzustellen - diese ist in ihren Konturen vorgegeben, weil
sie enorm CO2-sparend sein muss -, umzusetzen und gemeinsam Schritte festzulegen, wie wir uns Jahr für Jahr zu
diesem Ziel hin entwickeln.
Den Versuch eines Energiedialoges habe keineswegs
nur ich, sondern hat auch der Vorsitzende des Forums Zukunftsenergien, Herr Breuer von der Deutschen Bank, gemeinsam mit mir veranstaltet. An diesem Energiedialog
haben mehrere Gewerkschaftsvorsitzende, etliche Unternehmer, die alle Arten der Energie vertraten, nämlich
Kohle, Öl und Gas, und die Kraftwerke und Windräder
bauen, Umweltverbände und Vertreter der Parteien teilgenommen. Ich halte es schon für bemerkenswert, dass Sie
bis zur Formulierung des Abschlussberichtes sehr konstruktiv mitgearbeitet haben. Ich beklage mich darüber
nicht, sondern bedanke mich ausdrücklich dafür. Nur,
nachdem Sie den Abschlussbericht mit formuliert haben Herr Hirche weiß das; er hat zusammen mit Herrn Grill einige kritische Punkte eingebracht -, zum Schluss, als dieser Bericht veröffentlicht werden sollte, zu sagen: „Wir
steigen jetzt aus“, das ist ein etwas komisches Verhalten.
Das zeugt nicht davon, dass man wirklich gemeinsam an
diesen großen Zukunftsaufgaben arbeiten will. Deswegen
appelliere ich noch einmal an Sie: Arbeiten Sie an diesen
großen Aufgaben mit! Die Aufgaben sind weit größer als
etwa die Diskussion des Themas Kernenergie.
({11})
Zum Thema Kernenergie will ich deutlich sagen: Es
geschieht niemandem irgendein Schaden. Auch die Kommunen sind nicht ausgeschlossen worden. Vielmehr haben wir von den kommunalen Eigentümern von Kernkraftwerken den klaren Satz gehört, man wolle durch die
Miteigentümer vertreten werden. Was Sie vielleicht stört,
ist, dass außer Ihnen mit Ihrer parteipolitischen Denke alle
mit dieser Regelung zufrieden sind. Deswegen werden
wir an dieser Regelung festhalten und sie auch umsetzen.
Wir werden entsprechende gesetzliche Regelungen vereinbaren.
Herr Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hirche?
Ja.
Bitte
schön, Herr Hirche.
({0})
Haben Sie keinen Strom?
({0})
Mit dem roten Saft ist es bei
mir so ein Problem.
Herr Müller, Sie haben eben gesagt, es seien alle zufrieden. Was sagen Sie denn zu der Presseerklärung der
Stromkonzerne, die sagen, sie hätten die Vereinbarung
getroffen, weil nur so der störungsfreie Betrieb der Kraftwerke und die Entsorgung zu gewährleisten seien?
Bedeutet nicht diese Pressemitteilung, dass hier eine
Nötigungssituation vorgelegen hat und sich die Kraftwerksbetreiber dann in dieser Nötigungssituation rational verhalten haben?
({0})
Von einer Nötigungssituation, die Sie
hier unterstellen, habe ich - das habe ich schon einmal gesagt - auch durch Inaugenscheinnahme der Verhandlungen über zwei Jahre nichts beobachten können. Die Herren haben dort in keiner Weise bedroht gesessen. Sie haben nach einer halbstündigen Klausur gesagt, sie machen
diesen vorbereiteten Text gerne mit.
({0})
Sie haben ihn paraphiert und in der Presse den Wunsch
geäußert, dass CDU und CSU - vielleicht haben sie sogar
auch die F.D.P. erwähnt - dieser Vereinbarung zustimmen
und sie als Opposition mittragen. Das würde ich von
jemandem, der erpresst worden ist, nicht erwarten.
({1})
Ich habe schon einmal gesagt: Wenn hier Druck ausgeübt wurde, dann durch die briefliche Warnung an die
Stromwirtschaft, sich mit der SPD und den Grünen nicht
auf irgendetwas zu verständigen. Allerdings war der Hinweis, sonst werde man sich in zwei Jahren, wenn man
wieder am Ruder sei, rächen,
({2})
nicht so furchtbar wirkungsvoll. Das werden wir alles
Ende 2002 sehen.
({3})
Insgesamt ist energiepolitisch in den letzten zwei Jahren viel erreicht worden. Ich will mit einem Thema beginnen, das Ihnen auch nicht sehr lieb ist. Aber Sie haben
es mit erfunden. Wir müssen, wenn wir Energie einsparen
wollen, peu à peu eine pretiale Lenkung einführen. Das
Thema Ökosteuer ist auch unter diesem Gesichtspunkt
zu sehen. Es geht nicht nur um die Finanzierung der Renten, sondern auch um eine ökologische Steuerung.
({4})
Wir haben beim Strom in Bezug auf den Wettbewerb
das erledigt, was Sie noch nicht gemacht hatten, nämlich
eine Marktzugangsverordnung, und zwar nicht auf der
Basis staatlicher Regulierung, sondern auf der Basis einer
freiwilligen Verbändevereinbarung. Erst danach ist
Wettbewerb möglich geworden. Sie könnten sich vielleicht sogar freundlicherweise dem Satz anschließen: Gelben Strom gibt es erst seit Rot-Grün.
({5})
- Ich beklage die Liberalisierung nicht. Ich beklage, dass
man Liberalisierung ins Gesetz schreibt und im Umfeld
nichts regelt, beispielsweise nicht, wie das Stromeinspeisungsgesetz weiterlaufen soll, wenn der Strompreis sinkt.
({6})
Deswegen war dies das Nächste, was wir novellieren
mussten. Ich beklage, dass man die Finanzierung der
Kommunen nicht geregelt hat. Deswegen mussten wir
eine Änderung der Konzessionsabgabenverordnung vornehmen. Hätten wir dies nicht getan, müssten die
Kommunen heute einen Einnahmeausfall von 5 Milliarden DM hinnehmen. All das sind die mehr oder weniger
großen Trümmer, die Sie hinterlassen haben.
({7})
Wir haben die Förderung der erneuerbaren Energien auf völlig neue Füße gestellt. Wir haben die Mittel
dafür insgesamt pro Jahr verzehnfacht. Wir haben auch
ein Gesetz zur Energieeinspeisung erneuerbarer Energien
verabschiedet, das es ermöglicht, die Einspeisung prozentual zu verdoppeln. Vorher wurden lediglich Windmühlen gebaut; das war auch gut. Jetzt aber haben wir den
Bereich der Förderung so ausgeweitet, dass die Nutzung
aller regenerativen Energien, von der Photovoltaik bis zur
Biomasse, angereizt wird. Und nach unseren Beobachtungen zeitigt dies auch Erfolge.
Des Weiteren haben wir in dem bereits zitierten Energiedialog einige Grundsätze festgelegt, auf denen wir im
Herbst unser Energieprogramm aufbauen werden. Ich
würde mich freuen, Herr Hirche, wenn die Zustimmung
seitens der F.D.P. bestehen bliebe. Die CDU ist dazu unverändert aufgerufen.
Wir haben auch für den Gasmarkt Vorbereitungen getroffen. Wir werden in absehbarer Zeit eine Vereinbarung
seitens der Verbände haben, damit auch der Zutritt zum
Gasmarkt geregelt ist und auch in diesem Bereich der
Wettbewerb eingeführt werden kann. Allerdings bleibt
abzuwarten, in welcher Größenordnung wir die EURichtlinie umsetzen. Nach den letzten Recherchen habe
ich nämlich festgestellt, dass niemand rund um Deutschland den Gasmarkt zu 100 Prozent liberalisieren will. Wir
hatten dies bisher vor. Wir müssen also prüfen, ob wir bei
unserem Vorhaben bleiben oder ob wir uns den übrigen
Ländern in Europa anschließen wollen.
Ich kann verstehen - das darf ich abschließend sagen -,
dass Ihnen die heutige Debatte über die Kernenergie
nicht so richtig passt. Es ist nämlich etwas gelungen,
woran Sie jahrzehntelang vergeblich gearbeitet haben,
nämlich einen Streit in der Bevölkerung so zu befrieden,
dass die Industrie feststellt: „Uns entsteht kein Schaden“,
dass der kernenergiekritische Teil der Bevölkerung sagt:
„Damit können wir leben“ und der sonstige energiewirtschaftliche Sachverstand im Lande zu dem Schluss
kommt: „Das ist nicht unvernünftig“. Auf dieser Basis
werden wir weitermachen.
({8})
Es gilt unverändert meine Bitte an die CDU zu überlegen, ob sie bei den Grundlinien der Energiepolitik nicht
doch zu einer konstruktiven Haltung zurückkehren
möchte, etwa in dem Sinne, wie es im Energiedialog angelegt war, und nicht zu kneifen, wenn sie gemeinsam mit
der jetzigen Regierung ein Papier unterschreiben soll. Sie
sind aus dem Energiedialog doch nur deshalb ausgestiegen, weil Sie zurzeit in vielen Bereichen Opposition
nur um der Opposition willen betreiben, koste es, was es
wolle.
Vielen Dank.
({9})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 14/3507 und 14/3667 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie die Zusatzpunkte 4 bis 6 auf:
4. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung
zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in
Feira am 19./20. Juni 2000
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula
Lötzer, Rolf Kutzmutz, Angela Marquardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
E-Europe: die europäische Informationsgesellschaft sozial und demokratisch gestalten
- Drucksache 14/3623 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0})
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Europäische Lebensmittelbehörde nach
Deutschland
- Drucksache 14/3669 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Guido
Westerwelle, Detlef Parr, Hildebrecht Braun
({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Europäische Lebensmittelbehörde nach Bonn
holen
- Drucksache 14/3300 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({3})
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch.
Dann ist so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Europäische Rat in Feira hat letzte Woche die europäische
Einigung vorangebracht. Das gemeinsame europäische
Haus wächst. In Feira haben wir einen weiteren Bauabschnitt fertig gestellt und uns neue Ausbaupläne vorgenommen.
Die Bundesregierung hat im Ecofin-Rat dem Beitritt
Griechenlands zur Euro-Zone zum 1. Januar 2001 zugestimmt. Aus der Euro-11-Gruppe wird dann die Euro12-Gruppe. Der griechische Finanzminister wird bereits
am nächsten Treffen der Gruppe teilnehmen. Griechenland hat auf einem langen und schwierigen Weg einen erfolgreichen Konvergenzprozess hinter sich. Dazu kann
man Griechenland nur gratulieren. Ich freue mich, dass
Griechenland mit seiner langen Geschichte und seinem
großen Beitrag, den es zur europäischen Kultur geleistet
hat, Mitglied der Euro-Zone wird.
({0})
Sie sehen daran übrigens, welche Stabilitätsgemeinschaft die Euro-Zone inzwischen ist. Vor zehn Jahren
hätte sich niemand vorstellen können, dass Griechenland
und viele andere Länder in so kurzer Zeit von hohen Inflationsraten und hohen Zinsen herunterkommen und das
Staatsdefizit ganz konsequent begrenzen. Deswegen sage
ich: Wir haben allen Grund, Griechenland zu diesem Erfolg zu gratulieren. Aber natürlich darf es in seinen Anstrengungen nicht nachlassen. Das erwarten wir gerade
jetzt, da es nun der Gemeinschaft der Euro-Länder angehören wird. Großes Kompliment an Griechenland,
verbunden mit der nachdrücklichen Aufforderung: Wer
dazugehört, muss sich auch zukünftig so verhalten, wie er
sich verhalten hat, um dazugehören zu können.
Möglicherweise wird dieser Schritt die Beitrittsdiskussion in Dänemark und Schweden positiv beeinflussen.
Das können wir uns, so denke ich, alle nur wünschen.
({1})
- Nein, dieser Schritt ganz gewiss nicht, Herr Thiele, im
Gegenteil!
Der Europäische Rat hatte sich in Lissabon zu einem
ehrgeizigen Ziel bekannt: Innerhalb von zehn Jahren soll
aus Europa der dynamischste und wettbewerbsfähigste
Wirtschaftsraum weltweit werden. In Feira wurden dazu
jetzt weitere konkrete Schritte eingeleitet. So wurde ein
Aktionsplan gebilligt, der die bessere Nutzung des Internets fördern soll. Der Zugang zum Internet soll billiger,
schneller und sicherer werden. Für die Menschen in Europa soll der Umgang mit dem Internet einfacher, ja
schlicht selbstverständlich werden - und zwar für alle
Menschen. Eine „digitale Kluft“ zwischen denen, die Zugang zum Internet haben und es nutzen, und denen, die
keinen Zugang haben oder die Möglichkeiten des Internets nicht nutzen können, darf es nicht geben.
({2})
- Es geht doch nicht um eine Internetsteuer. Das ist wieder einer der, vorsichtig ausgedrückt, falschen Zwischenrufe.
({3})
Es geht darum, dass die Steuern, die heute zu Recht erhoben werden, auch dann erhoben werden können, wenn die
entsprechenden Aktionen über das Internet stattfinden.
Darum und um nichts anderes geht es.
({4})
Unbestritten ist die große Bedeutung der Forschung
für wirtschaftliche Dynamik. In Feira haben sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union geeinigt, einen gemeinsamen europäischen Forschungsraum zu entwickeln.
Einzelstaatliche und europäische Forschungsprogramme
sollen vernetzt werden.
In die gleiche Richtung zielt die neue Initiative „Innovation 2000“ der Europäischen Investitionsbank. Durch
die Europäische Investitionsbank werden rund 1 Milliarde Euro an Risikokapital für kleine und mittlere Unternehmen bereitgestellt. Ein zusätzliches Darlehensprogramm mit einem Volumen von 12 bis 15 Milliarden Euro
soll Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung
sowie die Informations- und Kommunikationsnetze fördern. Die Chancen, die in neuen Techniken liegen, müssen von Europa verwirklicht werden. Verzichtet Europa
darauf, wird es an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Andere Länder werden die Vorteile der Informations- und
Kommunikationstechnik zu nutzen wissen.
Europa stellt die Weichen, um die Möglichkeiten der
New Economy und einer wissensbasierten Gesellschaft
ausschöpfen zu können. Dabei helfen auch die „Grundzüge der Wirtschaftspolitik“. Diese Empfehlungen enthalten auch in diesem Jahr wieder ein solides Stück wirtschaftspolitischer Koordinierung. Diese wird im zusammenwachsenden Europa immer wichtiger. - Sie erinnern
sich an das, was der französische Staatspräsident vorgestern hier dazu gesagt hat. - Die Umsetzung der Empfehlungen bleibt selbstverständlich eine nationale Aufgabe.
Wir wollen Innovation und Beschäftigung. Unsere
Politik muss aber durch eine Dimension der sozialen Absicherung auch auf europäischer Ebene ergänzt werden.
Diese Aufgabe muss von Staat und Sozialpartnern gemeinsam bewältigt werden. Wenn wir beispielsweise über
lebenslanges Lernen reden, ist das einerseits eine Sache
der Unternehmen, verlangt andererseits aber auch, dass
man die Sozialpartner auf europäischer Ebene in die Gespräche einbindet.
Unter französischer Präsidentschaft soll ein europäisches sozialpolitisches Aktionsprogramm verabschiedet
werden. Das europäische Sozialmodell wird dadurch
noch konkretere Formen annehmen. Auch dies ist ein Beitrag dazu, dass Europa zueinander findet.
Meine Damen und Herren, die Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der kommunalen Ver- und
Entsorger und der Sparkassen wird von europäischer
Warte anders beurteilt als aus deutscher Sicht. Wie Sie
wissen, befinden wir uns in dieser Frage in intensiver Diskussion mit der Europäischen Kommission.
Die Bundesregierung hat ihre Haltung zu den verschiedenen Bereichen der Daseinsvorsorge in Feira noch
einmal deutlich gemacht. Wir brauchen hier RechtssiBundesminister Hans Eichel
cherheit und wir kämpfen für unsere Institutionen. Die
Kommission wurde vom Europäischen Rat aufgefordert,
ihm im Oktober in Biarritz eine aktualisierte Mitteilung
zur Daseinsvorsorge vorzulegen. Die deutsche Haltung ist
der Kommission bekannt. Wir entwickeln sie in Abstimmung mit den Ländern.
Meine Damen und Herren, die institutionellen Rahmenbedingungen der Europäischen Union haben sich in
der Vergangenheit bewährt, aber sie waren für eine wesentlich kleinere Staatengruppe gemacht. Mit wachsender
Mitgliederzahl zeigen sich die Nachteile - beispielsweise
der Einstimmigkeitsregel - deutlicher. Die Bundesregierung plädiert dafür, das Vetorecht zunehmend durch qualifizierte Mehrheitsentscheidungen zu ersetzen. Mit Blick
auf die kommende Osterweiterung sind keine Alternativen dazu denkbar. Deshalb muss die Regierungskonferenz zu den institutionellen Reformen ein Erfolg werden.
Deutschland wird in dieser Frage eng mit Frankreich zusammenarbeiten. Auch das haben Sie hier aus dem Munde
des französischen Staatspräsidenten im Einzelnen hören
können. Bis Ende dieses Jahres lässt sich die Frage der
Mehrheitsentscheidungen hoffentlich klären.
Hätten wir die Weiterentwicklung der Entscheidungsstrukturen bereits erreicht, wäre eine Lösung bei der Zinsbesteuerung kurz danach möglich gewesen. Noch gilt
aber die Einstimmigkeitsregel. Deshalb musste eine Lösung gesucht werden, der alle Mitgliedstaaten zustimmen
konnten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei der Besteuerung von Zinserträgen ist in Feira ein Durchbruch
gelungen.
({5})
Wer die Verhandlungen kennt - Sie wissen doch genau,
wie viele Jahre Sie daran ohne jeden Erfolg gearbeitet haben -,
({6})
weiß: Dass wir jetzt Luxemburg und Großbritannien, also
die beiden Länder mit Extrempositionen, in einer Zielsetzung vereint haben, ist in der Tat ein Durchbruch. Dass
wir noch nicht alle Schritte gemacht haben, ist völlig richtig. Aber dass wir jetzt den ersten Schritt geschafft haben,
um den Sie selber - ich kritisiere das übrigens gar nicht lange Zeit gerungen haben, ohne ihn je geschafft zu haben, ist ganz offenkundig. Ich sage ausdrücklich: Uns ist
der Durchbruch gelungen.
({7})
Schon viele Jahre ärgern wir uns, weil das unkoordinierte Nebeneinander verschiedener Steuersysteme zur
Hinterziehung von Steuern auf Zinserträge genutzt wird.
Nicht nur für uns Deutsche ist das ein Problem. Andere
europäische Staaten sehen das genauso. Das untergräbt
die Zustimmung zu einem Steuersystem überhaupt. Deswegen sage ich mit Nachdruck: Den Kommentar, den ich
heute in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zu diesem Thema gelesen habe, kann ich überhaupt nicht akzeptieren.
({8})
- Ich sage das nur. Wenn Sie Europa so gestalten, dass Europa und auch die einzelnen Länder ein Hort für Steuerhinterziehung sind, werden Sie keine Zustimmung zu Europa bekommen. Schlimmer noch: Sie werden auch die
Zustimmung zu den nationalen Steuersystemen verlieren.
Das ist die gemeinsame Überzeugung aller 15 Finanzminister.
({9})
Schon sehr lange wird das Problem im europäischen
Rahmen diskutiert. Zwischenzeitlich hatten einige Stimmen schon an einer Lösung und damit an der Handlungsfähigkeit Europas in strittigen Fragen gezweifelt. Diese
Zweifler müssen nun verstummen. Europa hat sich hier
nach harten, quälenden Debatten - das ist wohl wahr - als
handlungsfähig erwiesen. Die Gemeinsamkeiten sind
größer und wichtiger als nationale Einzelinteressen. Im
Diskussionsprozess haben sich letztlich alle bewegt. So
ist ein guter Kompromiss erzielt worden.
Alle Mitgliedstaaten streben als Ziel einen Informationsaustausch über Zinserträge von Ausländern in ihrem
Land an. Grenzüberschreitend gezahlte Zinsen werden ab
2003 in den meisten Mitgliedstaaten von einer Information an das jeweils heimische Finanzamt begleitet. Ab
2010 wird das bei allen Mitgliedstaaten der Fall sein.
Diese gemeinsame Zielvereinbarung ist der entscheidende Durchbruch in den Verhandlungen. Unterschiedliche nationale Systeme werden auf ein Ziel zustreben.
Auch das gehört für mich zu einer wirksamen Koordinierung der nationalen Wirtschafts- und Finanzpolitiken.
Wie erfolgreich dieses Vorgehen sein kann, hat der wirtschaftliche Konvergenzprozess der letzten Jahre innerhalb der Europäischen Union belegt.
Für einen Übergangszeitraum - zwischen 2003 und
2009 - können fünf Mitgliedsländer - Luxemburg, Belgien, Griechenland, Österreich und Portugal - eine Quellensteuer auf Zinsen von Ausländern erheben. Einen Teil
der so erzielten Einnahmen müssen sie an die Wohnsitzstaaten der Ausländer abführen. Diese Verpflichtung, einen Teil der Einnahmen aus Zinserträgen von Ausländern
an den Wohnsitzstaat abzugeben, wird die Neigung zur
Einführung einer Quellensteuer sicherlich eher dämpfen.
Bis Ende dieses Jahres werden wir uns innerhalb der
Europäischen Union auf die Höhe der Quellensteuer einigen. Ich erwarte einen Steuersatz zwischen 20 und 25 Prozent als Mindesthöhe. Auch über weitere Details der Zinsrichtlinie müssen wir uns bis zum Ende des Jahres verständigen.
Die Länder, die berechtigt sind, im Übergangszeitraum
eine Quellensteuer einzuführen, werden sich dies vielleicht noch überlegen. Es macht nämlich keinen Sinn,
eine Quellensteuer für Steuerausländer einzuführen, die
schon bald durch einen Informationsaustausch abgelöst
werden soll. Vielleicht kommt der Informationsaustausch
schneller, als Skeptiker das jetzt glauben.
({10})
Meine Damen und Herren, die Einigung auf den Informationsaustausch ist einer Reihe von Ländern sehr
schwer gefallen. Aber auch diese Länder haben europäischen Interessen Vorrang vor nationalen eingeräumt; so
auch wir. Allein das ist schon ein Erfolg. Hervorheben
möchte ich, dass sich Großbritannien, Luxemburg und
Österreich bewegt haben.
({11})
Die österreichische Regierung ist inzwischen bereit zu
prüfen, ob für die Aufhebung des Bankgeheimnisses für
Steuerausländer eine Verfassungsänderung nötig ist. Gegebenenfalls will die österreichische Regierung die nötigen Schritte einleiten.
In Deutschland wird sich für Steuerinländer am Bankgeheimnis nichts ändern. Aber natürlich wird Deutschland für Steuerausländer auch eine Informationspflicht an
den Wohnsitzstaat einführen. Das Bankgeheimnis ist wie in den anderen europäischen Ländern - auf Inländer
beschränkt. Alles andere wäre in der Tat kaum zu vertreten und würde jedes Land, das es anders definiert, vertrags- und gemeinschaftsunfähig machen.
Weder verfassungsrechtlich noch europarechtlich ist
das zu kritisieren. Der Quellensteuerabzug sichert eine
Besteuerung von deutschen Steuerpflichtigen. Eine zusätzliche Informationspflicht ist deshalb nicht mehr nötig.
Die Entscheidung von Feira zeigt aber wieder einmal
deutlich: Die europäische Dimension gewinnt zunehmend
an Bedeutung für die nationale Politik.
Meine Damen und Herren, wenn die Einigung über die
Einzelheiten der Zinsrechtlinie Ende des Jahres steht,
können Verhandlungen mit Drittstaaten beginnen, um
die Wirksamkeit der Zinsrichtlinie nicht nur auf die Europäische Union zu beschränken. Es kann keine Rede davon
sein, dass Nicht-EU-Staaten die Zinsrichtlinie übernehmen sollen. Es kann aber auch keine Rede davon sein,
dass wir uns mit unserer Entscheidung in der Europäischen Union von den Entscheidungen von Nicht-Mitgliedern abhängig machen - was natürlich nicht ausschließt, dass einzelne Länder bei ihrer Entscheidung,
wenn es um die endgültige Einführung der Zinsrichtlinie
geht, schon hinsehen, wie sich Nicht-EU-Länder verhalten. Wir streben aber vergleichbare Regelungen an. Es ist
zum Beispiel sichtbar, dass in der Schweiz Bewegung in
die Diskussion gekommen ist.
Verhandlungen werden von der Europäischen Union
mit den Vereinigten Staaten, der Schweiz, Liechtenstein,
Monaco, Andorra und San Marino geführt. Außerdem
müssen die abhängigen Gebiete von EU-Staaten in die
Verhandlungen einbezogen werden. Dabei ist klar, dass in
erster Linie die Länder, von denen sie abhängig sind, die
Verantwortung dafür tragen, dass dort genau die gleichen
Regime eingeführt werden, wie sie in der Europäischen
Union gelten. Wir wollen sicherstellen, das Steuerbetrüger nicht in diese Länder ausweichen.
Das Signal, das von dieser Einigung in Feira ausgeht,
ist eindeutig: Die Tage der leichten Steuerhinterziehung
sind in Europa gezählt. Jeder muss wissen: Steuerhinterziehung hat auf unserem Kontinent keine Zukunft mehr.
({12})
Ich freue mich sehr, dass jetzt auch die OECD massiv gegen Steueroasen vorgeht. In Steueroasen wird nun die
Luft dünn.
Auch andere Institutionen gehen dagegen vor: das Forum für Finanzmarktstabilität, das noch der frühere Bundesbankpräsident Tietmeyer geführt hat, sowie die G7.
Man muss wissen: Weltweit - angesichts der technischen
Entwicklung ist dies auch hohe Zeit - geht es darum, die
Steuerregime der Länder auch wirklich durchzusetzen
und nicht zuzulassen, dass sich einzelne Länder zu Fluchtburgen für Steuerhinterzieher und Steuerhinterziehung
entwickeln.
({13})
Zum verhandelten Steuerpaket gehört nicht nur die
Zinsrichtlinie, sondern auch der Verhaltenskodex zur
Bekämpfung von schädlichem und unfairem Steuerwettbewerb. Die Mitgliedstaaten sind sich darin einig,
dass die Rücknahme schädlicher Maßnahmen in der Verantwortung der Mitgliedstaaten bleibt. Der Rücknahmeprozess soll bis zum Ende des Jahres 2002 abgeschlossen
sein. Auch in Deutschland gibt es eine - weniger gewichtige - Regelung, die wir zurücknehmen sollen. Die Bundesregierung wird dies dem Deutschen Bundestag und
dem Bundesrat vorschlagen.
Feira war ein Durchbruch. Die Ergebnisse dürfen nicht
unterschätzt werden. Wer für die Besteuerung von Zinserträgen mehr erwartet hatte, hat für die Positionen unserer Nachbarn zu wenig Verständnis aufgebracht. Tragbare
Kompromisse können Sie aber nicht erzielen, wenn Sie
nicht verstehen, warum Ihre Partner so handeln, wie sie
handeln. Die Einigung in der Zinsbesteuerung ist ein
wichtiger Baustein des gemeinsamen europäischen Hauses. Ohne Zweifel braucht Europa Visionen. Aber erst das
Zusammenfügen einzelner Bausteine bringt das wirtschaftliche und politische Zusammenwachsen voran.
Ohne harte Arbeit bleiben Visionen nur Visionen.
Alle Mitgliedstaaten tragen diesen Kompromiss. Ein
Ende des Problems unversteuerter Zinserträge und hinterzogener Steuern ist jetzt abzusehen. Es wird zwar noch einige Jahre dauern, aber wir haben viel geschafft. Mit Ungeduld wären wir gescheitert, mit Zähigkeit haben wir
dieses Ziel erreicht. Deshalb war Feira ein Erfolg für ganz
Europa. Herr Kollege Waigel, ich vermute, auch Sie
freuen sich ein Stück weit mit, dass wir so weit gekommen sind, nachdem auch Sie um diesen Teil schon
gekämpft haben.
({14})
Ich eröffne jetzt die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Peter Hintze von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Der französische Staatspräsident hat hier vor dem Plenum des Deutschen Bundestages eine große europapolitische Rede gehalten. Diese
Rede war Ausdruck eines guten deutsch-französischen
Verhältnisses, das über Jahrzehnte von französischen und
deutschen Politikern aufgebaut und entwickelt wurde. Es
gehört zu den europapolitischen Grundüberzeugungen
der demokratischen Fraktionen dieses Hauses, dass vom
guten Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich
Europa insgesamt profitiert.
({0})
Präsident Chirac hat deutlich gemacht, dass wir in
wichtigen Bereichen mehr Europa brauchen und dass zugleich die Europa tragenden Nationalstaaten eine unverbrüchliche Bestandsgarantie bekommen. Die von Chirac
skizzierte historische Synthese zwischen einer stärker
werdenden Europäischen Union und selbstbewussten Nationalstaaten bezeichnet unseren Handlungsauftrag:
stark in der Wirtschaftspolitik, stark gegen Gefahren von
innen und außen, aber dennoch die nationalen Eigenständigkeiten und Bedürfnisse achtend und bewahrend. Ein
solches Europa - die Vereinigten Nationalstaaten von Europa - wollen wir für zukünftige Generationen errichten.
({1})
Wir in der CDU/CSU-Fraktion haben uns darüber gefreut, dass der französische Präsident wichtige Kernelemente in seiner Rede aufgegriffen hat, die auch wir seit
Jahren vertreten. So trifft sich die vorgeschlagene „Pioniergruppe“ als europäisches Integrationszentrum mit der
von Wolfgang Schäuble und Karl Lamers entwickelten
Idee von Kerneuropa. Ein großer Fortschritt - das haben
wir erreicht - ist auch die Betonung der notwendigen
Kompetenzabgrenzung in einer europäischen Verfassung.
Das ist eine zentrale Kernforderung von Angela Merkel,
Edmund Stoiber und Friedrich Merz an das europäische
Reformprojekt.
Wir haben uns hier im Bundestag oft anhören müssen,
das interessiere außerhalb Deutschlands niemanden, und
nun hat uns der französische Staatspräsident vor dem Plenum des Deutschen Bundestages gesagt, das sei ein wichtiges Anliegen der Völker Europas. Ein großer Erfolg!
({2})
- Hier kommt gerade der Zwischenruf des Kollegen
Gloser: „Aber wie schaut die Praxis aus?“
Meine sehr geehrten Damen und Herren, werfen wir einen Blick auf die Regierungsbank. Heute steht eine Regierungserklärung zum europäischen Gipfel von Feira auf
der Tagesordnung. Anwesenheit des Bundeskanzlers Fehlanzeige. Anwesenheit des Bundesaußenministers Fehlanzeige.
({3})
Der Bundesfinanzminister war da; darauf werde ich
gleich noch zu sprechen kommen.
Ich halte es - gelinde gesagt - für einen ziemlichen
Skandal, dass in einer zentralen Situation der europäischen Reformdiskussion der deutsche Bundeskanzler vor
dem Gipfel und nach dem Gipfel einfach wegtaucht und
dem Parlament die Debatte über die zentralen Fragen Europas verweigert.
({4})
Wenn man die Berichte liest, die die portugiesische Präsidentschaft erstellen musste, weil insbesondere von
Deutschland so wenig gekommen ist,
({5})
dann wissen wir auch, warum der Bundeskanzler heute
wieder nicht gekommen ist. Der Bundeskanzler spricht
heute nicht zu uns, weil er in der Sache nichts zu sagen
hat. Das ist der Punkt!
({6})
Es ist schon schade - und das ist ein Bruch mit der europapolitischen Tradition dieses Hauses -, dass uns vor so
wesentlichen Ereignissen wie einem europäischen Gipfel
die Aussprache hier im Plenum verweigert wird oder die
Regierung so tut, als müsse man sich nur über Ergebnisse
des Ecofin-Rates austauschen.
({7})
- Das ist auch wichtig, auch richtig - darauf komme ich
gleich noch -, aber doch viel zu kurz gesprungen.
Wir stehen in einer historischen Situation: Es geht um
die Wiedervereinigung Europas. Es geht um die großen
Reformkonzepte. Es geht um mehr Effizienz, mehr Transparenz, mehr Kraft in der Europäischen Union - und die
Regierungsbank ist wie leer gefegt. Der Finanzminister
müht sich schiedlich und redlich, seine Sachen vorzutragen - die Ergebnisse werde ich gleich noch kommentieren -, aber ansonsten ist bei der Regierung auf breiter
Front Fehlanzeige. Das ist trostlos, meine Damen und
Herren!
({8})
Nun wollen wir nicht den Anwesenden zu sehr kritisieren. Der Bundesfinanzminister hat sich ja hier bemüht,
die kleinen Ergebnisse des Gipfels doch noch in ein
großes Licht zu tauchen.
({9})
Wenn man Ihr Beifallsverhalten eben verfolgte, konnte
man feststellen: Er hat sich viel Mühe geben müssen, um
dafür wenigstens die Zustimmung der Regierungsfraktionen zu bekommen. Man kann dazu nur sagen: Das war
auch nicht beifallwürdig. Was ist denn in Wahrheit herausgekommen? Es ist in Wahrheit eine mit vielen Wenn
und Aber gespickte Vereinbarung herausgekommen,
({10})
die im allerbesten Falle zu einer riesigen Bürokratie und
zu einer Durchlöcherung des Bankgeheimnisses in Europa führt.
({11})
Wenn etwas mehr Kraft darauf verwendet worden
wäre, beispielsweise europaweit eine Quellensteuer
durchzusetzen, dann könnten Sie sich Ihren Zwischenruf
ersparen; wir hätten den Datenschutz gesichert und wir
hätten auch in der Sache etwas Vernünftiges gemacht, so
wie es unser Bundesfinanzminister Waigel in seiner Regierungszeit angestrebt hat.
({12})
Vielleicht wären die Staats- und Regierungschefs ja
erfolgreicher gewesen, wenn sie nicht ihre ganze Energie
auf die Drangsalierung eines kleinen Mitgliedstaates,
Österreichs, gerichtet
({13})
und sich hier nicht vertragswidrig aufgeführt hätten,
({14})
sondern ihre Energie darauf gerichtet hätten, den europäischen Geist zu entdecken, zu stärken und ihrer historischen Aufgabe gerecht zu werden.
Ich sage nur eines ganz ruhig: Besonders traurig finde
ich, dass Deutschland als Nachbar Österreichs, als guter
Freund, der weiß, wie europafreundlich Herr Schüssel,
die jetzige österreichische Regierung und die Vorgängerregierung jeweils operiert haben, keinen einzigen Beitrag
dazu leistet, vernünftig aus dieser verfahrenen Situation
herauszukommen. Deswegen fordern wir die Bundesregierung auf, endlich etwas zu unternehmen, damit mit Österreich wieder fair umgegangen wird, liebe Freunde.
({15})
Die größte Fehlanzeige von Feira war allerdings der
Zwischenbericht über den Stand der Regierungskonferenz. Über diesem Bericht steht zwar „Fortschrittsbericht“. Aber eigentlich müsste Stillstandsbericht heißen, weil die Regierungskonferenz ein hohes Maß an
Stillstand signalisiert. Nach monatelanger Diskussion ist
keine einzige der wesentlichen Fragen beantwortet und
kein einziges Problem vom Tisch geräumt worden.
Wir erwarten vom Europäischen Rat Perspektiven. Wir
erwarten von der deutschen Bundesregierung, dass sie im
Europäischen Rat dazu Beiträge leistet, dass sie sie mit
dem Parlament und der Öffentlichkeit diskutiert und dass
sie die Dinge voranbringt. Dies hat die deutsche Bundesregierung nicht getan. Deswegen ist es vielleicht gut, dass
der Bundeskanzler in dieser Debatte abgetaucht ist, damit
die Peinlichkeit nicht gar so deutlich wird.
({16})
Ein Zusammenhang ist besonders wichtig: Äußere
Stärke können wir nur gewinnen, wenn wir auch die innere Stärke weiterentwickeln. Dies werden wir nicht
erreichen, wenn wir die notwendige Vertiefung der Europäischen Union allein als Angelegenheit der vielen Regierungen in Europa verstehen. Ein Europa der Hauptstädte würde den Herausforderungen der Globalisierung
allein nicht gerecht.
({17})
Nein, wir müssen auf dem großen europapolitischen Weg
fortschreiten, den wir in den letzten Jahrzehnten eingeschlagen haben, der uns stark gemacht hat und der uns in
Zukunft noch stärker machen wird.
({18})
Die wichtigste historische Aufgabe ist die Überwindung der Teilung und die Wiedervereinigung Europas.
({19})
Hierbei hat auch Deutschland eine wichtige Aufgabe. Wir
waren Anwälte der Wiedervereinigung Europas. Wir müssen das auch bleiben und zusammenstehen. Wir müssen
bei der jetzigen Regierungskonferenz die Grundlagen
dafür schaffen, dass auch ein größeres Europa weiterhin
stark ist und gut funktioniert.
Das Europa der 15, das wir heute haben, wird im Prinzip nach den gleichen Regeln geführt, wie sie ursprünglich für die sechs Gründerstaaten galten. Seitdem haben
sich die Zeiten, die Bedingungen und die Aufgaben geändert. Mit der Osterweiterung der Europäischen Union,
mit diesem großen Projekt, wird sich die Mitgliederzahl
nahezu verdoppeln. Wir wollen, dass Europa stärker
wird und dass es besser wird. Deshalb muss die
Handlungsfähigkeit Europas vor seiner Erweiterung gesteigert werden. Wir brauchen einen weit gehenden
Übergang zum Prinzip der Mehrheitsentscheidungen,
eine Konzentration der exekutiven Aufgaben und eine
größere Transparenz bei der europäischen Gesetzgebung.
Ich möchte einen Aspekt der Diskussion der letzten
Wochen aufgreifen - wir haben ja einiges eingebracht,
was zu Widerspruch führte, worüber aber mittlerweile
Konsens herrscht -: Wir wissen, dass nicht alles auf der
laufenden Regierungskonferenz zu lösen ist. Neben dem
erfreulicherweise aufgegriffenen Thema der verstärkten
Zusammenarbeit sind vorrangig die drei offenen Fragen
von Amsterdam zu klären, insbesondere der Übergang
zum Prinzip der Mehrheitsentscheidung. Darin stimmen
wir überein. Diese Themen müssen noch vor Jahresende,
also unter französischer Präsidentschaft, vollständig und
weitblickend gelöst werden. Es darf keine „leftovers“ der
„leftovers“ geben. Die offenen Fragen müssen jetzt beantwortet werden.
({20})
Es muss aber weitergehen: Unmittelbar nach Abschluss der Reformkonferenz müssen wir uns auf die
Ziele und die Grenzen der europäischen Integration verständigen. Die EU muss schlanker, unbürokratischer,
demokratischer und konsequenter subsidiär aufgebaut
werden. Die grundlegende Weiterentwicklung der Architektur Europas muss in den nächsten zwei Jahren abgeschlossen werden. Wir wollen, dass die Erweiterung
schnell vorangeht. Wir wollen mit der Weiterentwicklung
der Architektur vor der Erweiterung fertig sein. Wir schlagen vor, an dem Prozess der europäischen Verfassungsgebung auch die Kandidatenstaaten zu beteiligen, die
später zur Europäischen Union gehören werden und für
die eine solche Verfassung die gemeinsame Grundlage für
politisches Handeln und Wirken in Europa sein wird.
({21})
Kernelement dieser zu entwickelnden europäischen
Architektur ist eine klare Aufgabenteilung zwischen
Europa, Nationalstaaten und Regionen. Dabei geht es immer um die Frage: Wer macht was? Unsere Antwort lautet: so viel Bürgernähe wie irgend möglich und so wenig
Zentralismus wie nötig. Die CDU/CSU-Fraktion hat seit
langem die große Bedeutung dieser Frage für die Zustimmung der Bürger zur Europäischen Union unterstrichen,
oft gegen kritischen Widerstand aus diesem Hause. Aber
wir müssen das jetzt machen. Alle werden davon profitieren: Die Union wird stärker; die Nationalstaaten erhalten
eine Bestandsgarantie. Hier liegt die Chance eines klug
ausgearbeiteten Verfassungsvertrages, so wie wir ihn vorgeschlagen haben.
Wenn es um Europa geht, dann geht es immer auch um
Beschwernisse. Das wird in einigen Anträgen aufgegriffen. Es geht um die Frage, wie man auf einem so großen
Markt Lebensmittelsicherheit schaffen kann. Salmonellen
im Huhn, Östrogene im Kalb, BSE im Rind - es macht die
Leute schon nervös, wenn sie das lesen oder wenn sie davon betroffen sind. Deswegen ist es richtig, dass ein europäisches Amt für Lebensmittelsicherheit auf diesem
großen Markt dafür sorgt, dass die Menschen mit Freude
französische Hühnchen, deutsche Rinder und österreichische Kälber verspeisen können, sofern sie nicht Vegetarier sind.
Wir schlagen vor, dass ein solches europäisches Amt
für Lebensmittelsicherheit, das nach den Überlegungen in
der Nähe von Brüssel angesiedelt sein soll, in Deutschland errichtet wird. Wir haben eine Reihe von Vorschlägen für Standorte entlang der Rheinschiene gemacht:
Frankfurt, Bonn und Düsseldorf sind ins Spiel gebracht
worden. Man könnte auch an Wuppertal denken. Es gibt
viele gute Standorte. Wir sind der Auffassung: Es gibt in
Deutschland ein hohes Maß an Sensibilität für die Fragen
des Gesundheitsschutzes und für den Verbraucherschutz.
Ein solches Amt hätte in Deutschland einen guten Platz.
({22})
Zum Schluss möchte ich einen Wunsch ausdrücken.
Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sich der
Bundeskanzler vor Eintritt in die entscheidende Phase der
Verhandlungen der Regierungskonferenz im Plenum des
Deutschen Bundestages der Debatte mit dem Parlament
stellt.
({23})
Wir müssen hier die Grundlinien diskutieren. Wir müssen
hier darüber diskutieren, wie das europäische Projekt von
Deutschland aus betrachtet wird. Die Tradition, die bisher
alle Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewahrt haben, muss endlich auch von dem amtierenden Bundeskanzler aufgegriffen werden.
Wir in der CDU/CSU-Fraktion sind bereit, einen vernünftigen europapolitischen Weg mitzugehen, der Europa
stärker macht, die Souveränität der Nationalstaaten
achtet und das Gute an der europäischen Idee weiter fördert. Wir sind bereit, die Regierung bei einem solchen
Weg zu unterstützen. Das Mindeste ist, dass wir Gelegenheit haben, uns im Parlament über die zentralen Fragen
Europas auszutauschen.
Ich danke Ihnen.
({24})
Als
nächster Redner hat der Kollege Joachim Poß von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Lieber Kollege Hintze, wenn Sie sich hier so
aufplustern und die Regierung so scharf angehen, wie Sie
es getan haben, dann dient das offenkundig nur einem
einzigen Zweck: Sie wollen von Ihren internen Schwierigkeiten ablenken.
({0})
Sie wissen nämlich nicht, wo es langgehen soll. Auch Sie
werden mit Interesse den Artikel des Europakollegen
Elmar Brok gelesen haben: „Union am Scheideweg“. Genau da befinden Sie sich. Sie wissen nicht, wo es mit Ihnen europapolitisch langgehen soll. Dies - nicht die Bundesregierung - ist das aktuelle Problem in der Bundesrepublik Deutschland.
({1})
Herr Merz hat noch vor wenigen Wochen von gestörten deutsch-französischen Beziehungen gesprochen. Ich
will Ihnen nicht die ganze Latte von Zitaten vorhalten, die
deutlich machen, wie orientierungslos Sie sich auch auf
dem Felde der Europapolitik - aber bekanntermaßen nicht
nur dort - bewegen.
Die Bundesregierung ist auf einem guten Wege. Feira
hat das unterstrichen. Die Richtlinien für die weitere Diskussion wurden entwickelt und die Voraussetzungen für
einen erfolgreichen Abschluss der Regierungskonferenz
unter französischer Präsidentschaft wurden geschaffen.
Dafür gebührt der portugiesischen Ratspräsidentschaft
Dank.
({2})
Die verstärkte Zusammenarbeit ist nun offiziell Gegenstand der europäischen Agenda. Die Bundesrepublik
wird unsere französischen Partner nachhaltig in dem Bestreben unterstützen, dieses Instrument zur Vertiefung der
Integration und zur Vorbereitung der EU auf die Osterweiterung auszubauen.
In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag hat sich
der französische Präsident Chirac für eine europäische
Verfassung stark gemacht. Diese soll es nicht heute oder
morgen geben; er hat das in einer zeitlichen Perspektive
gesehen. Er wünschte sich dieses Vorhaben nicht nur als
einen Akt von Staatslenkern, sondern auch und gerade als
verfassunggebenden Prozess der europäischen Bürger.
Ich denke, Chirac hat Recht: Die breite Beteiligung der
europäischen Bürgerinnen und Bürger kann europäische
Identität schaffen.
Wir sind uns darüber einig, dass ein solch konstitutives
Einigungswerk auch eine Kompetenzabgrenzung zwischen den verschiedenen Ebenen in der EU beinhalten
sollte. Dieses Vorhaben wird bisher nur von zwei Mitgliedstaaten der EU, wenn auch von zwei großen, unterstützt. Es muss also noch eine Mehrheit von dieser Idee
überzeugt werden.
Da ist es mehr als störend, ja kontraproduktiv, wenn
Herr Merz, wenn Frau Merkel mit der Ablehnung der Ratifizierung des Vertrages von Nizza drohen, falls die Frage
der Kompetenzabgrenzung bis dahin noch nicht geregelt
ist. Diese Frage darf doch nicht Gegenstand von Oppositionstaktiken werden.
({3})
Wenn Sie so weitermachen, dann wird der bewährte europapolitische Konsens zwischen den großen politischen
Kräften in unserem Lande bald wirklich der Vergangenheit angehören.
Wir begrüßen daher ausdrücklich, dass Volker Rühe,
Elmar Brok und andere die Haltung der Bundesregierung
unterstützen. Wir fordern die CDU/CSU auf, dem Kompromissvorschlag der Bundesregierung und des niedersächsischen Ministerpräsidenten Sigmar Gabriel zu
folgen, die Frage der Kompetenzabgrenzung auf einer
neuen Regierungskonferenz bis zum Jahre 2004 zu regeln.
Der Europäische Rat von Feira hat sich auch mit vielen wirtschafts-, finanz- und steuerpolitischen Themen
befasst. Herr Eichel hat darüber berichtet. So wurden die
ersten Schritte zur Umsetzung der vom Europäischen Rat
in Lissabon beschlossenen Strategien gebilligt, die Europa binnen zehn Jahren zum weltweit wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum machen sollen. Die Beispiele
sind Ihnen bekannt: der E-Europe-Aktionsplan mit dem
Schwerpunkt eines kostengünstigen Internet-Zugangs
und die Charta für Kleinunternehmen, die die Bedeutung
dieser Unternehmen für Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung hervorhebt. An all diesen Vorhaben war die Bundesregierung maßgeblich beteiligt.
Bei der Zinsbesteuerung konnte ein wichtiger Einstieg erreicht und damit ein Erfolg in einer Frage erzielt
werden, die seit vielen Jahren ungelöst war. Der anwesende Kollege Waigel hatte bereits im Jahre 1989 die
Chance, im Grunde genommen zu einem vergleichbaren
Einstieg zu kommen. Da ging es um die Vereinbarung eines Informationssystems. CDU/CSU und F.D.P. haben
das damals abgelehnt.
({4})
Wir hatten zugegebenermaßen das Problem Luxemburg. Wir hatten in den letzten Jahren übrigens noch
größere Probleme als nur Luxemburg.
({5})
Wir als größte Wirtschaftsmacht in Europa hätten dieses
Problem damals schultern können. Deshalb schelten Sie
doch bitte jetzt nicht Bundesfinanzminister Eichel, der es
mit unglaublicher Zähigkeit erreicht hat, dass wir den Einstieg geschafft haben.
({6})
Bundesfinanzminister Hans Eichel gebührt Dank für
seine Hartnäckigkeit, durch die es überhaupt zu einem Ergebnis gekommen ist.
Das Ergebnis hätte besser sein können.
({7})
Erst wer bedenkt, wie unterschiedlich die Interessen der
Mitgliedstaaten bei der gleichmäßigen Besteuerung der
Zinseinkünfte sind, wer in Betracht zieht, welche Sensibilität diesem Thema innewohnt, und wer sich daran erinnert, wie viele Anläufe für eine Einigung schon gemacht
worden sind, der kann ermessen, welch großer Schritt in
Feira gelungen ist. Auch Sie wissen das, jedenfalls die
Sachkundigen unter Ihnen. Herr Michelbach, Sie wissen
das vielleicht nicht; aber die Sachkundigen wissen, wie
schwierig es ist, zu solchen internationalen Fortschritten
zu kommen.
({8})
Die jetzt gelungene Einigung ist auch ein deutliches
Signal an diejenigen, die ihre Zinserträge bislang nicht
oder nicht vollständig versteuert haben. Steuerhinterziehung ist nämlich kein Kavaliersdelikt, sondern eine
Straftat.
({9})
Offensichtlich sehen Sie das anders. Frau Merkel hat
den Kompromiss von Feira in der „Bild am Sonntag“
nämlich so bewertet, dass er das Bankgeheimnis aushöhle. Herr Hintze hat sich ähnlich geäußert. Damit suchten Frau Merkel oder Herr Hintze für die Union wohl die
Rolle als Schutzpatronin bzw. Schutzpatron der Steuerhinterzieher.
({10})
Diese Position, die Sie da einnehmen, finde ich schon toll.
Wer das so genannte Bankgeheimnis in Deutschland,
konkret: § 30 a Abs. 3 der Abgabenordnung, dahin gehend
versteht, dass es verhindern soll, Steuerhinterziehung aufJoachim Poß
zudecken, der kann sich über das Ergebnis von Feira
tatsächlich nicht freuen. Die große Mehrheit der Steuerpflichtigen in Deutschland wird aber froh darüber sein,
dass auch bei den Zinsen eine gleichmäßige und gerechte
Besteuerung herbeigeführt werden soll.
({11})
Der Ehrliche darf nicht länger der Dumme sein.
Deutschland wird nach der Richtlinie, die nach dem
Beschluss bis Ende 2002 verabschiedet werden soll, Informationen über in Deutschland erzielte Kapitalerträge
von Steuerausländern erteilen müssen. Hinsichtlich der in
Deutschland erzielten Kapitalerträge von Steuerinländern
gilt das nicht. Das heißt, dass die schützenswerten Belange von in Deutschland ansässigen Steuerpflichtigen im
Verhältnis zu ihren Banken voll gewahrt werden. Panikmache ist also total unbegründet. Der jetzt gefundene
Kompromiss nimmt schließlich den Druck, ohne Abstimmung mit unseren Partnern eine rein nationale Regelung
finden zu müssen.
Dieses Beispiel zeigt aber: Wir brauchen eine globalisierungstaugliche Zinsbesteuerung genauso, wie wir ein
globalisierungstaugliches Unternehmensteuerrecht brauchen.
({12})
Deswegen sollte das Signal von Feira auch ein Aufruf an
die Mitglieder von CDU und CSU sein, im Vermittlungsverfahren zum Steuersenkungsgesetz ihre nicht nachvollziehbare Fundamentalopposition gegen den Systemwechsel bei der Körperschaftsteuer aufzugeben.
({13})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Bundesregierung war aber auch noch in einem anderen Vorhaben
erfolgreich: Das deutsche Anliegen zur Daseinsvorsorge
wurde aufgegriffen. Auf Initiative der Bundesregierung
forderte der Europäische Rat die Kommission auf, ihre
Mitteilung über gemeinwohlorientierte öffentliche Leistungen bis zum nächsten Gipfel zu aktualisieren.
Sie können sehen: Europa ist bei uns, bei dieser Koalition in guten Händen.
({14})
Als
nächster Redner hat der Kollege Carl-Ludwig Thiele von
der F.D.P.-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!
Der Formelkompromiss zur Zinsbesteuerung, der auf dem
Europäischen Gipfel in Feira gefunden wurde, enthält alle
Merkmale, die Entscheidungen der Europäischen Union
bei den Bürgern in Verruf gebracht haben:
Erstens. Er ist halbherzig. Die Übergangsfrist von neun
Jahren ist viel zu lang.
Zweitens. Wegen der zusätzlichen Meldepflicht wird
eine Unmenge an zusätzlicher Arbeit bei Banken, Finanzämtern, Steuerberatern und Steuerpflichtigen anfallen.
({0})
Die Bürokratie wird ausufern. Es werden so zwar Arbeitsplätze geschaffen, aber andere Arbeitsplätze, als wir uns
das in Deutschland und in Europa vorstellen.
({1})
Der Kompromiss hat ferner nichts mit Steuerharmonisierung zu tun. Es wird lediglich festgeschrieben, dass jeder Staat weiterhin seine eigene Zinsbesteuerung vornehmen kann. Das Ergebnis wird sein: Gleichmacherei statt
Wettbewerb, Schnüffelei statt Vertrauen.
({2})
Dieser Beschluss kann keine Begeisterung auslösen.
Ich verstehe, Herr Finanzminister, dass Ihnen der
Kommentar aus der „FAZ“ von heute nicht gefällt. Dort
heißt es: „Die Fehlgeburt von Feira“. Auch die „Frankfurter Rundschau“, die ja eigentlich den Sozialdemokraten näher stehen sollte, kommentierte am 21. Juni:
An der Grenze des Absurden.
Die EU hat eine neue Fortbewegungsart entwickelt:
Kein Stillstand mehr, aber auch noch kein Fortschreiten.
({3})
So wird das Ergebnis, das Sie erreicht haben, beurteilt.
Der Austausch wechselseitiger Dankadressen dafür, dass
man verhandelt hat, darf nicht darüber hinwegtäuschen,
dass Ergebnisse an dieser Stelle nicht erreicht wurden.
({4})
Fast zehn Jahre soll es dauern, bis alle EU-Staaten diesen Informationsaustausch eingeführt haben. Dieses muss
erst einmal erreicht werden. Da haben Sie noch mehrere
schwierige Abstimmungsprozesse vor sich.
Auch die Auffassung dieser rot-grünen Regierung, sie
würde entschlossen handeln, kann nicht richtig sein; denn
in diesem Bereich geht es um eine Frist von zehn Jahren
und in dem Bereich der Atomkraft, über den wir vorher
diskutiert haben, geht es um eine Frist von 32 Jahren.
Wenn Sie entschlossen handeln, dann handeln Sie doch
hier und heute! Dazu haben Sie die Möglichkeit; das müssen Sie nicht immer verschieben. Wir haben sogar gleich
die Möglichkeit weiterzuverhandeln, Herr Finanzminister.
Ich plädiere an dieser Stelle für die Position, die die
F.D.P. schon seit Jahren einnimmt. Führen wir doch in
Deutschland endlich eine Abgeltungsteuer mit Anrechnungsmöglichkeit ein. Dieses ist die beste und unbürokratischste Lösung.
({5})
Sie schafft Klarheit für den Bürger, erspart den Banken
ein Mitteilungssystem und stärkt den Finanzplatz
Deutschland. Damit haben wir die Möglichkeit, wieder
Kapital nach Deutschland zu holen, weil es dann attraktiv
ist, in Deutschland zu investieren. Der letzte Punkt ist: Sie
sichert dem Fiskus das Steueraufkommen. Von der derzeitigen Regelung waren erhebliche Steuermehreinnahmen erwartet worden; die Wirklichkeit sah anders aus.
Wir müssen Deutschland angesichts des Wettbewerbs mit
anderen Staaten attraktiv für Kapital und für Investitionen
machen.
({6})
Das System der Abgeltungsteuer bedeutet - um das
noch einmal zu erklären -, dass mit Ausschüttung der Erträge diese endgültig besteuert werden und damit die
Steuerpflicht abgegolten ist. Die Anrechnungsmöglichkeit bedeutet, dass ein Steuerpflichtiger die Möglichkeit
hat, die einbehaltene Steuer im Rahmen seiner Steuererklärung anzugeben und verrechnen zu lassen. Das führt zu
dem Ergebnis, dass ein Steuerpflichtiger mit niedrigerem
Steuersatz hier entsprechend seiner Leistungsfähigkeit
besteuert wird.
({7})
Das ist ein Grundsatz, über den wir nachher weiter verhandeln werden, Herr Finanzminister.
Weil Österreich gerade in der Diskussion ist, will ich
bemerken: Das ist das Modell, welches in Österreich in
den vergangenen Jahren unter einer SPÖ-Regierung, also
unter einer sozialdemokratisch geführten Regierung, beschlossen wurde. Daher muss niemand behaupten, dass
dieses Modell unsozial wäre. Ich glaube auch nicht, dass
jemand die SPÖ aus der Sozialistischen Internationale
ausschließen will, weil sie unsoziale Maßnahmen durchgeführt hätte. Das wird nicht der Fall sein.
Vor allem muss niemand die Sorge haben, dass diese
Regelung erst in neun, 15 oder 32 Jahren greift. Sie kann
heute beraten werden. Im Vermittlungsausschuss liegen
entsprechende Anträge von uns vor. Wir haben die Möglichkeit, im Rahmen dieser Verhandlungen wirklich einen
Schritt weiterzukommen und nicht das Ganze immer weiter ausufern zu lassen und fortzuschreiben.
Eine weitere Enttäuschung des Gipfels von Feira, die
ich in diesem Zusammenhang nicht verschweigen kann,
ist es, dass es keinen entscheidenden Schritt in Richtung
auf Aufhebung der Sanktionen gegen Österreich gibt.
({8})
Es ist geradezu absurd: Diese Sanktionen waren und sind
stillos. Die Front der Befürworter der Sanktionen bröckelt
weiter ab. Diese Sanktionen sind eine Frechheit gegenüber den österreichischen Bürgern, die das Parlament gewählt haben. Die 14 Mitgliedstaaten betonen unentwegt,
es handele sich um bilaterale Maßnahmen und nicht um
Sanktionen der EU. Bei Fototerminen wird gehampelt
und gestrampelt, damit man ja nicht ins Bild kommt,
wenn man einem Österreicher die Hand schüttelt. Das
darf doch nicht wahr sein! Dieses Verständnis von Europa
leuchtet keinem vernünftigen Menschen in diesem Lande
ein.
({9})
Einer versteckt sich hinter dem anderen und nichts bewegt
sich.
Österreich hat auch in Feira wieder seine Europatreue
zum Ausdruck gebracht. Die Vorschläge - das ist sozusagen das Schärfste, was sich die Regierung leistet -, eine
Beobachtermission oder „Drei Weise“ nach Österreich zu
entsenden, um zu schauen, ob sich Österreich vertragskonform verhält, sind Lachnummern und reine Ausflüchte.
({10})
In Wien befinden sich mehr als 300 ausländische Diplomaten, die nichts anderes zu tun haben, als täglich zu
beurteilen, wie sich Österreich im nationalen und internationalen Maßstab verhält. Sie aber wollen die „Drei Weisen“ nach Österreich schicken, um so zu neuen Erkenntnissen zu kommen. Ich kann Ihnen dazu nur sagen - das
ist die Auffassung der F.D.P. -: Beziehen Sie hier klar Position! Hören Sie mit der unwürdigen Diskriminierung
Österreichs und der Österreicher auf! Sorgen Sie dafür,
dass Europa sich einig ist! Akzeptieren Sie endlich, dass
die Österreicher in freier und geheimer Wahl ein Parlament gewählt haben und sich für eine Mehrheit der jetzigen Regierungskoalition entschieden haben! Das mag jeder für richtig oder falsch halten.
Auch die F.D.P. ist gegen die Beteiligung der FPÖ an
der Regierung.
({11})
Aber das ist doch kein Grund für uns, Österreich in dieser
Form zu isolieren. Auch in Deutschland ist nicht jeder mit
der rot-grünen Regierung einverstanden.
({12})
Aber sie ist gewählt und die Mehrheit des Bundestages
trägt derzeit noch diese Regierung.
Ich fordere Sie auch im Zusammenhang mit den anstehenden Verhandlungen in Europa auf: Hören Sie mit den
Sanktionen gegen Österreich so schnell wie möglich auf!
Treten Sie den Rückweg zur Normalität an!
Herzlichen Dank.
({13})
Als
nächste Rednerin hat die Kollegin Christine Scheel von
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Herr Thiele,
gerade die F.D.P. hat in 16 Jahren Regierungsverantwortung mit der CDU und der CSU
({0})
keinen Fortschritt im Zusammenhang mit der Steuerharmonisierung,
({1})
über die wir heute reden, erreicht. Im Gegenteil: Die Steuerhinterziehung ist unter Ihrer Regierungsverantwortung
quantitativ gestiegen. Diesen Punkt muss man vorab festhalten.
({2})
Boshaft könnte ich die F.D.P. als Schutzpatronin der Steuerhinterzieher titulieren. Ich glaube, das wäre passend für
diese Partei.
({3})
In der jetzigen Debatte geht es um das, was in Feira
ernsthaft verhandelt und auch nach vorn gebracht worden
ist. Das kann man auch aus unserer Sicht als einen sehr
zähen und langsamen Prozess werten, was er real ja auch
ist. Wir haben früher schon gesagt: Der Fortschritt auf europäischer Ebene ist eine Schnecke, weil es sehr problematisch und schwierig ist, innerhalb der Gemeinschaft
Veränderungen voranzutreiben, die von allen gemeinsam
getragen werden. Der Erfolg, der an dieser Stelle entscheidend ist, besteht darin, dass man sich einstimmig zu
einem Ziel durchgerungen hat, und zwar mit einer sehr,
sehr großen Sensibilität, vor allem was die deutsche Seite
betrifft. Das müssen Sie in diesem Zusammenhang einfach einmal zur Kenntnis nehmen.
Europäische Politik kann man gerade im Zusammenhang mit dem Steuerrecht und im Zusammenhang mit der
Harmonisierung in Steuerfragen nicht mit der Brechstange betreiben. In steuerpolitischen Zusammenhängen
gibt es nationale Interessen, die sehr viel stärker ausgeprägt sind, als dies in vielen anderen Themenbereichen
der Fall ist. Daher muss man hier sehr sensibel vorgehen.
Angesichts des vorliegenden Ergebnisses kann man mit
gutem Recht sagen, dass endlich der Weg zu einer einheitlichen EU-Zinsbesteuerung geebnet wurde und wir
gute Fortschritte darstellen können, was wir auch tun.
Natürlich bereitet es angesichts der Entwicklung und
angesichts der Interessen der einzelnen EU-Länder
Schwierigkeiten, dass das Einstimmigkeitsprinzip in
Steuerfragen, über das ich gerade gesprochen habe, für die
nächsten Jahre auch für den gestuften Weg zur Realisierung der EU-Zinsbesteuerung festgeschrieben wurde. Danach bedarf es mindestens zweier einstimmiger EU-Ministerratsentscheidungen, um die Richtlinie für eine einheitliche Zinsbesteuerung Wirklichkeit werden zu lassen.
Das ist der richtige und auch Erfolg versprechende Weg.
Aber selbst wenn sich die EU-Regierungen im Dezember 2000 auf eine Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen im Rahmen des EU-Vertrages verständigen sollten,
bleibt diese Richtlinie auf jeden Fall dem Einstimmigkeitsprinzip der 15 EU-Länder unterworfen.
Generell geht es darum, dass wir Wettbewerbsverzerrungen zwischen den EU-Ländern vermeiden und
dass wir zugleich - das ist ein sehr wichtiger Punkt - ein
investitions- und beschäftigungsfreundliches Klima im
europäischen Binnenmarkt gewährleisten. Dabei stehen
natürlich grenzüberschreitende Sachverhalte, wie die
grenzüberschreitenden Zinszahlungen, im Mittelpunkt.
Gerade bei Letzteren spielt das Problem der Steuerhinterziehung eine sehr wesentliche Rolle, da sich grenzüberschreitende Zinszahlungen viel leichter der Besteuerung
entziehen können als Zinsen, die nur national gezahlt werden. Für nationale Zinsen gibt es die Quellensteuer und
Kontrollmitteilungen. Von daher ist Ihr Hinweis auf die
Abgeltungsteuer, Herr Thiele, in diesem Punkt an der
falschen Stelle angebracht. In diesem Zusammenhang
geht es um Steuerausländer. Es geht nicht darum, wie wir
auf nationaler Ebene mit der Erfassung von Kapitalerträgen umgehen.
({4})
Das ist eine Diskussion, die auf einer anderen Baustelle
stattzufinden hat.
({5})
Hier geht es darum, wie wir international operieren. In
den USA beispielsweise sind schon vor Jahren Kontrollmitteilungen eingeführt worden, wie es sie auch in anderen EU-Ländern bereits gibt. Das heißt, wenn Sie Ihr Geld
in Amerika anlegen und beim Finanzamt die Erträge daraus nicht angeben, dann kann es Ihnen durchaus passieren, dass eine Kontrollmitteilung bei Ihrem Finanzamt
eingeht. Dies sollte weltweit einheitlich gehandhabt werden. Zumindest sollten einander ähnliche Regelungen gefunden werden, mit denen zum Beispiel auch die Schweiz
oder andere so genannte Steueroasen - ich meine damit
nicht nur die Schweiz, sondern es gibt noch ganz andere
Steueroasen, wie Sie wissen - in die Verantwortung gezogen werden können.
Bei den grenzüberschreitenden Zinszahlungen, die
sich der Steuerpflicht des jeweiligen Inlandes entziehen,
geht es nicht um Peanuts, sondern um Milliardensummen.
Nach einer UNO-Studie sind in den Steueroasen weltweit
5 000 Milliarden US-Dollar angelegt. Ich muss sagen: Es
ist ausdrücklich zu begrüßen, dass die OECD in ihrem
jüngsten Bericht - der Minister hat darauf hingewiesen 35 Steuerparadiese benennt und zur Zusammenarbeit bei
der Bekämpfung der Steuerflucht von Unternehmen
und Privatleuten auffordert.
({6})
Das ist der richtige Weg, den wir auch von deutscher Seite
massiv unterstützen.
({7})
Wir begrüßen auch, dass es auf mehreren Ebenen, auf
der Ebene der EU, der OECD, bei den G7, verstärkt Anstrengungen gibt, Vereinbarungen für funktionsfähige
und tragbare Kapitalmärkte zu finden, die der Steuerflucht entgegenwirken sollen. Wir sind deshalb sehr froh
und begrüßen die Anstrengungen und die Initiativen, die
zu einem System der Auskunftserteilung für nicht Ansässige, also Steuerausländer, beitragen sollen.
Dieser Schritt ist realisierbar und wird greifen, wenn
sich die 15 EU-Länder über den Inhalt der Richtlinie geeinigt haben. Die Vereinbarung von Feira sieht eine Frist
bis zum 31. Dezember 2002 vor.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Michelbach?
Bitte, Herr Michelbach.
Frau Kollegin
Scheel, es ist richtig, dass wir eine Vereinheitlichung der
Kapitalbesteuerung vornehmen sollten, um die Steuerflucht einzudämmen. Aber warum sind Sie denn dann gegen eine Abgeltungsteuer in Deutschland, wie die Union
sie in ihrem Alternativkonzept vorschlägt?
Derzeit sind auf der europäischen Ebene alle Länder miteinander im Gespräch darüber, wer in der Zukunft welchen Weg gehen will. Bislang haben beispielsweise
Österreich und Luxemburg klipp und klar gesagt, was sie
wollen. Belgien, Griechenland und Portugal werden im
Laufe des Jahres 2000 dem Europäischen Rat mitteilen,
welchen Standpunkt sie vertreten. Es wird über einen
Quellensteuersatz von 15 bis 25 Prozent diskutiert. Österreich und Luxemburg vertreten die Position, dass dieses
Niveau zu hoch sei, wollen also niedrigere Steuersätze
aufgrund der Wettbewerbsvorteile auf den Kapitalmärkten für sich in Anspruch nehmen.
({0})
Wir sollten uns hier genau überlegen, was wir wollen.
({1})
Wir haben, was die Zinsbesteuerung betrifft, in Deutschland im Prinzip ein sehr gutes System, Herr Michelbach.
Wir haben die Möglichkeit der Anrechnung bei der Einkommensteuer.
({2})
- Ich rede hier von Deutschland. Sie können das nur für
Deutschland diskutieren. Das ist genau der Fehler, den
auch Herr Thiele gemacht hat. Wir reden hier über Regelungen für Steuerausländer und Sie kommen immer wieder mit Regelungen, die für die Besteuerung im Inland
gelten sollen.
({3})
Wenn wir von Leistungsgerechtigkeit bei der Besteuerung reden, Herr Thiele, und wenn wir darüber reden, dass
wir in der Steuerpolitik hier zu einer Regelung kommen
müssen, mit der man die Einkünfte gleich behandelt und
die Leistungsgerechtigkeit in den Vordergrund stellt,
muss man sehen, dass die 15 Prozent Abgeltungsteuer, die
Sie vorschlagen, nicht leistungsgerecht sind.
({4})
- 25 Prozent; das wäre genau das gleiche Problem. Wenn
man die Steuerprogression kennt, wenn man weiß, wo
diese Steuer positiv und wo sie negativ greift, stellt man
fest, dass man wieder bei den kleineren Einkünften die
Probleme hat.
({5})
Das wollen wir nicht. Entweder Sie erheben eine Abgeltungsteuer oder Sie lassen das System mit der Anrechnungsmöglichkeit, wie es ist. Wir sind dafür, dass wir jetzt
in aller Ruhe darüber beraten. Das System ist mit der
Anrechenbarkeit derzeit gut geregelt. Jetzt müssen wir sehen, wie wir das Problem in den Griff bekommen, dass die
Deutschen ihr Geld im Ausland anlegen, ohne dass der
deutsche Fiskus etwas von den Erträgen sieht, die steuerlich geltend gemacht werden müssten. Unsere Aufgabe
ist, Steuerhinterziehung zu vermeiden. Diese Diskussion
führen wir heute. Wir diskutieren nicht darüber, wie in Zukunft die Zinsbesteuerung in Deutschland aussieht. Darüber diskutieren wir an anderer Stelle, gerne auch mit Ihnen. Da befinden wir uns im Wettbewerb der Ideen und
sind sehr aufgeschlossen. Man muss an dieser Stelle abwägen, was für die Zukunft das Beste ist. Das sage ich
auch an Ihre Adresse gewandt, Herr Thiele.
Gestatten Sie
eine Zwischenfrage des Kollegen Thiele?
Bitte, Herr Thiele.
Herzlichen Dank. - Die
Frage ist: Wie stellen sich die Grünen das vor? Sie haben
gerade vier, fünf Minuten darüber geredet, wie es sein
könnte. Aber Sie haben nicht gesagt, was Sie wollen. Sie
haben uns vorgeworfen, wir wollten, gerade die Bezieher
niedriger Einkommen, nicht nach der Leistungsfähigkeit
besteuern. Das stimmt nicht. Ich habe vorhin ausdrücklich
auf die Abgeltungsteuer mit Anrechnungsmöglichkeit
hingewiesen. Das stellt sicher, dass jeder Steuerpflichtige,
der einen niedrigeren Steuersatz hat als die ZinsabgelChristine Scheel
tungsteuer, niedriger besteuert wird als ohne Anrechnungsmöglichkeit.
Aber die Hauptfrage lautet: Was wollen Sie von den
Grünen denn, Nebelkerzen werfen oder ein klares Konzept?
({0})
Herr Thiele, ich habe darauf hingewiesen, dass wir uns
darüber gerne im Rahmen des Themas nationale Besteuerung unterhalten können. In meiner Fraktion besteht ein
sehr breiter Konsens dahin gehend, dass man hier etwas
tun muss. Darüber sind wir uns einig.
({0})
Das Einführen von Kontrollmitteilungen führt zu Vorteilen, die auch in sehr vielen anderen Ländern so formuliert worden sind. In zahlreichen EU-Ländern wurden bereits auf nationaler Ebene Kontrollmitteilungen eingesetzt. In einigen europäischen Ländern wurde eine
Abgeltungsteuer eingeführt, und zwar mit unterschiedlichen Kriterien im Hinblick auf Anrechenbarkeit und
Nichtanrechenbarkeit. Wir haben uns jetzt darauf verständigt, die Frage der Zins- bzw. Kapitalertragsbesteuerung
insgesamt auf den Prüfstand zu stellen und zu schauen,
welche unterschiedlichen Situationen bestehen. Denn je
nach Kapitalanlage gibt es unterschiedlichste Besteuerungen. Auch das ist nicht zeitgemäß. Deswegen kann man
nicht isoliert eine Maßnahme herausgreifen und so tun, als
sei das die Lösung aller Dinge. Vielmehr brauchen wir
insgesamt ein Konzept zur Kapitalertragsbesteuerung.
Daran arbeiten wir. Bekanntermaßen sind unsere Konzepte immer etwas substanzieller als das, was die F.D.P.
auf den Tisch legt.
({1})
Wir sind der Meinung, dass im Rahmen des EU-Vertrages das Einstimmigkeitsprinzip für weitere Bereiche
aufgehoben und zum Prinzip der qualifizierten Mehrheit übergegangen werden sollte. Ich habe vorhin bereits
darauf hingewiesen, dass für viele Länder die Steuerpolitik ein nationales Heiligtum ist. Es ist daher sehr schwierig, in diesem Bereich vom Einstimmigkeitsprinzip abzuweichen. Aber wir sollten auch vor Augen haben, dass bei
der Harmonisierung der Energiebesteuerung nichts vorangegangen ist, obwohl gemäß EU-Vertrag ein direkter
Harmonisierungsauftrag vorliegt. Dies gilt übrigens
ebenso für die Kerosinbesteuerung. Daher sollte man
überlegen, wie man angesichts dessen, dass andere Länder in diesem Zusammenhang ihr Vetorecht in Anspruch
genommen haben, in Zukunft verfahren sollte.
Abschließend eine Bemerkung zur qualifizierten
Mehrheit: Die qualifizierte Mehrheit ist etwas anderes das wird immer wieder durcheinander gebracht - als die
einfache Mehrheit, sodass sehr wohl weiterhin Kompromisse gesucht werden müssen. Mit der Einführung der
qualifizierten Mehrheit soll jedoch eine Blockade per Vetorecht ausgeschlossen werden.
Ich denke, dass im Hinblick auf die weitere Entwicklung dieser Fragen auf die im nächsten halben Jahr bestehende französische Präsidentschaft eine Schlüsselfunktion zukommt. Wir setzen darauf, dass sich die EU-Länder auch in diesem Punkt aufeinander zu bewegen, und
zwar im Interesse eines gemeinsamen Europas und auch
mit Blick auf die Erweiterung der Europäischen Union
durch osteuropäische Länder.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich habe den Eindruck, dass
die zum Thema Europa gehaltenen Reden derzeit immer
bombastischer werden, die Visionen immer größer, die
realen Ergebnisse jedoch im gleichen Tempo abnehmen.
Das gilt meiner Meinung nach auch für Feira.
({0})
Dieses Missverhältnis zwischen großen Visionen und
praktischer Politik wird auch bei den Bürgerinnen und
Bürgern in den Mitgliedsländern der Europäischen Union
wahrgenommen und stärkt die Vorbehalte gegen Europa.
Damit ich nicht missverstanden werde: Ich bin kein
Gegner von europäischen Visionen und einer streitbaren
Debatte darüber. Ich achte die notwendige Kleinarbeit,
die zu leisten ist, das zähe Dicke-Bretter-Bohren, außerordentlich hoch. Aber ich verlange, dass mit den Menschen in unserem Land und in den anderen europäischen
Ländern über die bestehenden Probleme gesprochen wird.
({1})
Die Erfolgspropaganda, die hier immer betrieben wird,
führt nicht dazu, zu überzeugen, täuscht über die eigentlichen Probleme hinweg und ist kontraproduktiv.
Auch ich habe heute Morgen in der Presse gelesen,
dass der Kanzler seine Abgeordneten aufgefordert hat, die
Arbeit der Regierung ordentlich zu loben. Dass das so
schnell umgesetzt werden würde, habe ich allerdings
nicht gedacht. Aber Sie täuschen sich darüber, wie so etwas funktioniert: Nur mit Loben überzeugt man nicht.
Wenn man aufrichtig über Probleme redet und Widersprüche deutlich macht, kann man überzeugen, nicht aber
auf diese Art und Weise.
({2})
Ich verstehe, dass der Finanzminister in seiner Regierungserklärung den Schwerpunkt selbstverständlich auf
die Fragen der Zinsbesteuerung und der monetären
Aspekte gelegt hat. Er selbst sprach davon, dass ein
Durchbruch erreicht worden sei; Kollege Poß war sehr
viel vorsichtiger und sagte, es sei ein Einstieg erreicht
worden. Aber auch hier muss ich betonen, dass die eigentlichen Probleme von der einstimmigen Entscheidung
des Ministerrates über die Richtlinien bis hin zu den Fragen, was wann konkret verabredet wird, noch offen sind.
Es ist nicht absehbar, in welchem Zeitraum Europas Steuerschlupflöcher, die unbedingt geschlossen werden müssen, geschlossen werden.
Vielleicht war nicht mehr drin - das kann schon sein -;
aber dann bin ich dafür, dass man das hier offen sagt und
begründet, warum nicht mehr drin war, anstatt zu sagen,
man habe einen Durchbruch erreicht, die Dinge seien geregelt und alles gehe seinen Gang.
({3})
Glauben Sie mir - ich habe damit sehr viel Erfahrung -,
diese Art von Politik wird auf Dauer nicht fruchten.
Ich möchte auch darauf aufmerksam machen, dass eigentlich andere Fragen im Zentrum der Tagesordnung von
Feira gestanden haben, zum Beispiel die Frage der europäischen Grundrechtecharta, die in das Vertragswerk
der Europäischen Union aufgenommen werden und damit
Rechtsverbindlichkeit erhalten muss. Auf der Tagesordnung war die Unteilbarkeit der Menschenrechte. Dies bedingt, dass auch soziale Rechte in diese europäische
Grundrechtecharta aufgenommen werden. Von der Bundesregierung erwarte ich - bisher ist wenig dazu gesagt
worden -, dass sie dafür noch konsequenter eintritt.
Ich halte es auch für falsch, dass man in Feira die Beitrittsländer nicht in die Ausarbeitung der europäischen
Grundrechtecharta einbezogen hat. Wer die Beitrittsländer nicht an der Erarbeitung einer Grundrechtecharta beteiligt, wird sie sehr schwer an der Erarbeitung der Verfassung beteiligen können. Das ist ein Fehler. Niemand
hätte den Europäischen Rat daran gehindert, die Beitrittsländer einzubeziehen.
({4})
Auch die in Feira gefassten Beschlüsse zur Erweiterung der Union sind aus meiner Sicht zwiespältig. Einerseits werden Fortschritte der Kandidaten gelobt; andererseits wird festgestellt, dass noch viel zu tun bleibe. Das
ist das übliche Gerede. Ich bin in vielen Gesprächen in
den osteuropäischen Beitrittsländern immer mehr zu der
Auffassung gekommen, dass diese Unverbindlichkeit bei
den Menschen dort die Sorge stärkt, dass ihr Weg in die
Europäische Union nicht gesichert ist. Es wäre sinnvoller,
einen zeitlich klareren Rahmen zu setzen und deutlichere
Aussagen in diese Richtung zu machen. Das bedeutet
auch, die Beitrittsländer heute an allem zu beteiligen, was
überhaupt nur möglich ist.
Abschließend möchte ich Sie auf einen großen Widerspruch aufmerksam machen. In Feira ist auch beschlossen
worden, Länder am militärischen Teil der Europäischen
Union zu beteiligen, während sie aus dem anderen Teil
noch immer ausgegrenzt sind. Die Beitrittsschwelle zum
militärischen Teil ist also deutlich niedriger. Zu den Ländern, die sich an der militärischen Integration beteiligen
sollen, gehört übrigens auch die Türkei. Wenn man aber
einem Land attestieren muss, dass in ihm die Grund- und
Menschenrechte nicht gewahrt sind, dann darf man es
auch nicht am militärischen Teil beteiligen, wobei ich
nicht verhehlen will, dass ich überhaupt gegen den militärischen Teil bin.
In Feira ist klar entschieden worden - ich bedaure es
außerordentlich -, dass man an der Militarisierung der Europäischen Union und an der Schaffung von Kriseneinsatzkräften festhalten wird. Das ist aus meiner Sicht genau der falsche Weg. Wir brauchen die Sozialunion, die
Umweltunion, eine Beschäftigungsunion. Der militärische Teil der Europäischen Union wird kein Problem lösen, sondern viele neue Probleme in Europa aufhäufen.
Herzlichen Dank.
({5})
Jetzt hat der
Kollege Markus Meckel das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin!
Kolleginnen und Kollegen! Mit den letzten Stichworten
wurden die Themen angesprochen, denen ich mich zuwenden möchte, nämlich die Gemeinsame Außen- und
Sicherheitspolitik und die europäische Sicherheits- und
Verteidigungspolitik. Allerdings ist der letzte Begriff
nicht ganz korrekt - das sollten wir immer wieder deutlich machen -; denn von Verteidigungspolitik soll an dieser Stelle eigentlich nicht die Rede sein. Die Verteidigung
der Staaten, die der NATO angehören, wird Sache der
NATO bleiben. Es geht vielmehr um Krisenmanagement und Krisenbewältigung.
Wir alle haben die 90er-Jahre in Erinnerung. Wir alle
haben die Unfähigkeit Europas erlebt, zu gemeinsamen
Positionen und zu gemeinsamem Handeln zu kommen. In
Bosnien und vor allem im Kosovo hat sich die Schwäche
der Europäer deutlich herausgestellt. Obwohl dies alles
noch nicht so lange her ist, wurden bereits, so glaube ich,
sichtbare Erkenntnisfortschritte erzielt. Und dabei ist es
nicht geblieben, die Erkenntnisse wurden auch in Handeln
umgesetzt. Angesichts dessen, dass die Beschlüsse von
Köln und Helsinki gerade einmal vor einem bzw. vor einem halben Jahr gefasst wurden, sind wir ungeheuer weiter vorangekommen. Auch in Feira hat es wieder große
Fortschritte gegeben.
Diese Fortschritte muss es auch geben, weil es um die
gemeinsame Handlungsfähigkeit der Europäer in Krisen
geht. Sie, Herr Gehrcke, werden es wahrscheinlich begrüßen - Sie haben nicht davon gesprochen -, dass die
Komplementarität von zivilem und militärischem Handeln deutlich ausgebaut worden ist. Gerade die Einrichtung eines zivilen, also nicht militärischen Ausschusses
für Krisenmanagement und Konfliktprävention zeigt, was
die Stärke der Europäischen Union ausmacht.
({0})
Gerade bei der Koordinierung dieser beiden Dimensionen haben wir ein großes Defizit. Schauen wir uns die
anderen Institutionen an, die hier eine wichtige Rolle spielen, sei es die NATO, sei es die OSZE, seien es die Vereinten Nationen. Die ungenügende Koordinierung war immer wieder das zentrale Problem des gemeinsamen interWolfgang Gehrcke
nationalen Handelns. Die Europäische Union entwickelt
jetzt beide Fähigkeiten. Zum einen bündelt sie ihre zivilen, ihre politischen Fähigkeiten. Zum anderen koordiniert sie sie mit den militärischen Fähigkeiten, die jetzt
aufgebaut werden. Ich glaube, darin liegt eine ganz zentrale Dimension des gemeinsamen Handelns der Europäischen Union, des gemeinsamen Handelns, das wir in der
Vergangenheit immer wieder allzu schmerzlich vermissen
mussten.
Diese Fähigkeit wird sich deutlich erhöhen, unter anderem dadurch, dass man sich in Feira vorgenommen hat,
kurzfristig gemeinsam Polizeitruppen bereitzustellen.
Hier gab es in der Vergangenheit ungeheure Defizite. Es
ist ja richtig, wenn gesagt wird, dass in militärischen Fragen die NATO sehr viel schneller handlungsfähig ist, weil
sie über eine eingespielte Organisation verfügt. Dies müssen wir auf der militärischen Ebene lernen. Wir müssen
aber nicht nur auf der militärischen Ebene lernen, sondern
auch hinsichtlich ziviler Fragen. Hier haben wir uns als internationale Staatengemeinschaft in der Vergangenheit
nun wahrhaftig nicht mit Ruhm bekleckert. Das zeigt sich
daran, wie lange es im Laufe der verschiedenen Einsätze
gedauert hat, die entsprechenden Polizeikräfte vor Ort zu
bringen. Hier gibt es sehr große Defizite.
Hier sind wir in Feira deutlich vorangekommen mit
dem Vorhaben, für künftige Einsätze 5 000 Polizeibeamte
bereitstellen zu können. Zudem soll ein kurzfristiger Einsatz, also ein Einsatz innerhalb von 30 Tagen, von bis zu
1 000 Polizeikräften möglich sein. Ich denke, dies sind
große Erfolge.
Außerdem ist mit den europäischen NATO-Staaten
gesprochen worden, die nicht EU-Mitglied sind. Diese
Staaten wollen beteiligt werden. Vorredner haben gesagt,
wir wollten sie hinzuziehen. Aber genau das ist falsch. Sie
sagen selber: Wir wollen beteiligt werden, brauchen dafür
aber klare Strukturen und Vereinbarungen. Auch in dieser
Hinsicht sind wir in Feira einen großen Schritt vorangekommen. Die Notwendigkeit regelmäßiger Konsultationen ist aufgezeigt worden. Ebenso muss es gemeinsame
Arbeitsgruppen mit der NATO geben, die ein Abkommen
vorbereiten, das fertig sein soll, wenn die europäischen
Krisenreaktionskräfte in drei Jahren zur Verfügung stehen. Darin sollen Fragen der Sicherheitsbestimmungen
und der konkreten Verfahren zur Bereitstellung von
NATO-Ressourcen für europäische Einsätze geklärt werden. Dies ist ein wichtiges Stück Arbeit. Wichtig ist auch,
dass die Widerstände, die es insbesondere in der Türkei,
aber auch in Norwegen gibt, überwunden werden. Deshalb muss die Transparenz dieser Verfahren deutlich werden.
Es ist gut, dass es im Herbst eine Beitragskonferenz geben wird, sodass bis Nizza im Dezember klar ist, welche
Staaten welche Beiträge - auch militärisch - einbringen
können.
Ich möchte auf einen weiteren Punkt eingehen, und
zwar die gemeinsame Strategie gegenüber den Mittelmeerstaaten. Es ist ganz wesentlich, dass wir nach der
gemeinsamen Strategie gegenüber Russland und der
Ukraine nun auch eine gemeinsame Strategie gegenüber
den Mittelmeerstaaten entwickeln. Dieser Region, die für
die nachbarschaftlichen Beziehungen der Europäischen
Union ganz zentral ist, müssen wir uns in besonderem
Maße widmen. Dies darf Deutschland nicht den südlichen
Mitgliedstaaten überlassen; wir als Deutsche sollten uns
daran intensiv beteiligen.
Zum Schluss möchte ich noch einen Punkt ansprechen,
der noch nicht geklärt ist, nämlich die parlamentarische
Begleitung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitsund der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Es wird hier noch einiger Anstrengungen und Gespräche bedürfen. Die Parlamentarische Versammlung
der WEU - ihr Präsident ist ja Mitglied unseres Hauses hat beschlossen, sich entsprechend zu verändern, weil sie
der Meinung ist, dass es auch künftig einer solchen interparlamentarischen Versammlung bedarf. Das Europäische Parlament sieht dies anders und will ihre Aufgaben
voll übernehmen. Es sagt, wenn die WEU in die EU integriert werde, sei auch die Parlamentarische Versammlung
nicht mehr nötig. Eines jedenfalls muss klar sein: Es muss
eine parlamentarische Begleitung der Außen- und Sicherheitspolitik geben. - Diese Diskussion müssen wir auch
intern weiterführen, um hier zu klaren Regelungen zu
kommen.
Europa ist langsam nicht nur ein großer Wirtschaftsfaktor, sondern wird auch zu einem wesentlichen politischen Faktor in der Welt. Die internationale Staatengemeinschaft sieht dies durchaus mit großen Hoffnungen.
Unsere Aufgabe wird es sein, diesen Hoffnungen gerecht
zu werden. Gerade wir Deutschen tragen dafür eine große
Verantwortung.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gerd Müller.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Wir haben es wieder einmal
geschafft: Ich glaube, dass uns - so ein Fernsehsender
diese Europadebatte überträgt - kaum noch einer freiwillig zuhört. Auch das Plenum haben wir wieder einmal leer
geredet. Ist das Europa?
({0})
Europa hat so spannende Themen zu bieten. Aber wie
wir das präsentieren - parteiübergreifend! -, macht mir
Sorge. In Feira wurden 80 Punkte beschlossen, darunter
so spannende Themen wie die Aufstellung einer 5 000
Mann starken europäischen Polizei. Auch das Problem einer einheitlichen Zinsbesteuerung wurde angesprochen.
Was die europäische Entwicklung anbetrifft, sind wir in
einer der spannendsten Phasen der letzten 20 Jahre.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Sie
zuhören, wir sind in der Endphase der Diskussion über
eine Grundrechtscharta, was den Einstieg in eine europäische Verfassung bedeutet. Die Mitgliedstaaten führen
Beitrittsverhandlungen mit zwölf mittelosteuropäischen
Staaten. Die Bundesregierung will die Aufnahme der
Türkei in die Europäische Union; die ersten Gespräche
dazu laufen.
Aber bei all diesen wichtigen Themen verweigern sich
der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister dem
Plenum, der Öffentlichkeit. Dies können wir nicht akzeptieren, dies können wir nicht hinnehmen.
({1})
Wir stehen vor der größten institutionellen Reform in Europa der letzten 20 Jahre: Stimmenwägung im Ministerrat, qualifizierte Mehrheit, Zusammensetzung des Europäischen Parlaments. Dennoch ist die Bundesregierung
nicht bereit, diese zentralen Fragen mit dem Deutschen
Bundestag zu diskutieren.
({2})
Dies ist ein autoritärer Regierungsstil - Geheimdiplomatie! Bundeskanzler Schröder sitzt öfter und länger am
Gendarmenmarkt als hier im deutschen Parlament.
({3})
Das können wir uns nicht bieten lassen.
Deshalb werden wir in den nächsten Wochen eine Initiative ergreifen. Die Mitwirkungsrechte des Deutschen
Bundestags in zentralen Fragen der Europapolitik müssen gestärkt werden.
({4})
Wir werden einen Vorstoß zur Ergänzung des
Art. 23 Grundgesetz unternehmen, ein maßgebliches Mitentscheidungsrecht des Bundestages bei zentralen europäischen Themen, die unsere Bürger im Staat interessieren und berühren, einzuführen.
({5})
Die Rede des französischen Staatspräsidenten Chirac
war hochinteressant. Wir wissen jetzt, was die Franzosen
wollen. Das Kolloquium des Privatmannes Joseph
Fischer an der Humboldt-Universität war hochinteressant. Aber wir wissen nicht, was der frühere Straßenkämpfer und Basisdemokrat, der heutige deutsche Außenminister, als Außenminister in die Regierungskonferenz
einbringt. Das ist nicht hinnehmbar, das ist skandalös.
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Regierung hätte - und dazu fordern wir sie auf - in Anknüpfung
an die Rede von Präsident Chirac die große Chance, die
zentrale Aussage von Chirac aufzugreifen und eine
deutsch-französische Initiative zur Kompetenzabgrenzung in diese Regierungskonferenz - so wie es gute Tradition der Regierung Kohl/Waigel war, ich erinnere an die
Subsidiaritätsinitiative ({7})
einzubringen.
({8})
Chirac, Prodi, die deutschen Bundesländer, der Privatmann Fischer, alle bezeichnen das Thema Kompetenzabgrenzung als das jetzt drängendste zentrale Thema. Ich
möchte einen Grund von Bundeskanzler Schröder erfahren, warum er auf diesen Zug nicht aufspringt.
({9})
Dies ist der Schlüssel. Jeder stellt visionäre Reden in den
Raum. Es ist interessant, darüber zu schwadronieren und
zu visionieren, was in 50, in 100 Jahren in Europa sein soll
oder muss. Es ist interessant, notwendig, wichtig. Aber es
lenkt natürlich davon ab, dass die Bundesregierung dazu,
was konkret jetzt, heute, morgen, in zwei Jahren passieren
muss, nichts zu bieten hat.
({10})
Wir brauchen nicht nur eine neue Ordnung in Europa Herr Finanzminister Eichel, nachdem Sie die Regierungserklärung abgegeben haben, halten Sie Hof auf der Regierungsbank -, sondern wir brauchen natürlich auch eine
innere Reform der Bundesrepublik Deutschland, was
den Staat, den Verwaltungsapparat, die Finanzverfassung - Theo Waigel hat dazu wichtige Anstöße gegeben und die Gesetzgebung, die Rechtsprechung anbetrifft.
Das wäre Substanz in der Politik. Nehmen Sie diese
Chance wahr und diese Anregung auf, wir als Opposition
würden Sie unterstützen. Es kann nicht sein, dass wir oben
eine neue Ebene, die europäische Ebene, draufsetzen,
aber heute in Deutschland die Situation haben, dass wir
für die Genehmigung von 20 Kilometern Autobahn wie
zum Beispiel bei der A 7 bei mir zu Hause in Füssen ein
35 Jahre dauerndes Genehmigungsverfahren brauchen.
({11})
Deshalb müssen wir Deutschland auch nach innen europafähig machen. Das ist eine ganz wichtige Standortfrage.
({12})
Herr Eichel, die Aufnahme Griechenlands in den Eurokreis zum jetzigen Zeitpunkt war ein schwerer Fehler.
({13})
Die Staatsverschuldung betrug 104 Prozent. Bei der Inflationsbekämpfung wurde manipuliert. Sie haben die
Kriterien einfach einmal mit links hinweggeschoben und
das Vertrauen in den Euro beschädigt.
Sehr geehrter Herr Finanzminister, zur Zinsbesteuerung wurde vom Kollegen der F.D.P. Wesentliches und
Wichtiges gesagt. Ich kürze dies ab - ich stimme den Argumenten zu - denn ich möchte Ihnen, nachdem Sie heute
der Ersatzkanzler sind, noch einige andere Fragen stellen.
Im Zusammenhang mit der Regierungskonferenz und der
Osterweiterung stehen natürlich weitere zentrale Fragen
zur Debatte, die gerade den Finanzminister berühren.
Sagen Sie dem deutschen Volk: Wie wollen Sie die Osterweiterung finanzieren? Das interessiert unsere Bürgerinnen und Bürger.
({14})
Sagen Sie dem deutschen Volk, wie Sie das Finanzsystem der EU korrigieren wollen. Deutschland zahlt
60 Prozent der Nettotransfers.
({15})
Herr Finanzminister, beim Berliner Gipfel haben Sie
bewusst für den Beitritt in den nächsten Jahren Finanzbeschlüsse gefasst, die bis zum Jahre 2006 keine finanzielle
Grundlage für eine Erweiterung der Union schaffen. Wie
wollen Sie darauf reagieren? Kommen Sie ans Mikrofon.
Das sind die zentralen Themen.
Die Erweiterung der Europäischen Union ist auf der
Basis der Agenda-2000-Beschlüsse nicht möglich.
({16})
Das ist auch die Aussage von Staatsminister Zöpel im Europaausschuss, von Kommissar Fischler und dem Präsidenten der EU-Kommission Prodi.
({17})
Jeder Finanzmann weiß genau, die Finanzplanung bis
2006 beruht auf der Annahme von Verhandlungen mit
sechs und nicht mit zwölf Beitrittsstaaten. Dieser Finanzrahmen ist unter der Maßgabe beschlossen worden, dass
die beitretenden osteuropäischen Staaten von den Direktbeihilfen im Agrarbereich ausgeschlossen werden. Dies
wurde bisher alles über Bord geworfen. Das sind die Fragen an den Finanzminister.
Herr Finanzminister, der ehemalige Bundeskanzler
Kohl und der ehemalige Finanzminister Waigel haben Ihnen ein Instrument an die Hand gegeben, das Instrument
der Kofinanzierung.
({18})
Wir haben präzise Vorschläge zur Reform der Strukturund Kohäsionsfonds unterbreitet. Seit Sie im Amt sind, in
den vergangenen eineinhalb Jahren, haben Sie sich nicht
mehr mit diesem Thema beschäftigt. Sie haben kein Konzept, keinen Vorschlag und keine Lösungsansätze.
Herr Kollege,
denken Sie bitte daran, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist.
Frau Präsidentin, ich
komme zum Schluss. Wo ist Ihr Konzept? Wo ist Ihr Bundeskanzler?
({0})
Wir sehen mit großer Sorge, dass die Bundesregierung, allen voran der Bundeskanzler - ich komme zum Schluss -,
Europapolitik nur noch als willkommenen Event betrachtet: Bilder stellen, mit Staatsmännern spazieren gehen.
Herr Kollege,
bitte.
Politik verkommt bei
Ihnen zum Infotainment, meine sehr verehrten Damen
und Herren.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Dietmar Nietan.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es erfreut mich immer wieder zu
sehen, welch große Sehnsucht in den Reihen der
CDU/CSU besteht, den Worten unseres Kanzlers zu lauschen. Ich kann das nachvollziehen. Ich werde Ihre Bitte
unterstützen, dass Sie ihn noch möglichst oft und möglichst lange hören werden.
({0})
Lassen Sie uns zu dem Thema zurückkommen, das Anlass dieser Debatte sein sollte, nämlich der Europäische
Rat in Feira. Ich kann natürlich verstehen, dass aus Sicht
der Opposition die Ergebnisse einer solchen Veranstaltung immer unter dem Motto gesehen werden: Wir sehen
uns nicht an, ob das Glas halb voll ist, sondern bei uns ist
es grundsätzlich halb leer. Das ist legitim. Aber es wäre
sehr unredlich, wenn man wie Sie in diesen Rat hineininterpretieren würde: Das hätte der Europäische Rat mit
weitreichenden historischen und abschließenden Entscheidungen sein müssen. Sie alle wissen, dass es bei dieser Tagung darum ging, historische und weitreichende
Entscheidungen vorzubereiten. Ich glaube, diese Aufgabe
hat der Europäische Rat mit Bravour erfüllt.
({1})
Ich will nur noch einmal kurz sagen, - es ist schon angedeutet worden -: Wir haben uns als aufstrebende, dynamische, wirtschaftliche Macht positioniert, auch im Bereich E-Commerce und im Bereich der Informationsgesellschaft. Wir haben das Ganze mit einer sozialen
Dimension verbunden - auch das ist ein Novum im Vergleich zu dem, was EU-Politik darstellte, als noch jemand
anders die Regierungsverantwortung trug. An der sozialen Dimension wird unter französischer Präsidentschaft
weitergearbeitet. Auch da sind wir weitergekommen.
Es muss noch einmal deutlich gesagt werden: Es sind
die Weichen gestellt worden, Europa institutionell erweiterungsfähig zu machen. Ich betone an dieser Stelle ausdrücklich: Es war richtig, dass auf dem Rat in Feira beschlossen wurde, sich auf die drei „leftovers“ von Amsterdam zu konzentrieren und sie mit einer weiteren
Erarbeitung der verstärkten Zusammenarbeit zu ergänzen.
Jeder, der im Sinn gehabt hat, die Themen für die Regierungskonferenz in Nizza auszuweiten, hätte deren
Scheitern oder zumindest die Verwässerung der Ergebnisse in Kauf genommen und damit letztlich die Erweiterungsfähigkeit infrage gestellt. Genau das galt es zu
verhindern. Deshalb war der Beschluss, sich zu konzentrieren, richtig.
({2})
Er war deshalb richtig, weil wir vor einer historischen
Herausforderung stehen, jetzt die EU-Erweiterung in
eine konkrete Phase zu bringen. Ich glaube, dass es nach
der Vollendung der deutschen Einheit gerade für uns eine
große Aufgabe ist, als Bundesrepublik Deutschland aktiv
an der Vollendung der Einheit Europas mitzuwirken. Wir
sind auf einem richtigen Weg und es ist falsch, es so darzustellen, als wäre nicht gerade die deutsche Regierung
immer noch ein Motor der EU-Osterweiterung. Das werden wir auch bleiben.
({3})
Vor diesem Hintergrund gilt es noch einmal deutlich zu
sagen - das gebietet die Ehrlichkeit - : Es ist richtig, dass
solch ein historischer Prozess nicht nur Chancen, sondern
auch Risiken birgt. Darüber muss man mit den betroffenen Menschen reden, darf aber nicht mit der Angst der
Menschen spielen, wie das einige Protagonisten der
CDU/CSU tun. Wir haben in der SPD klar Stellung bezogen und gestern in der Fraktion einstimmig ein Papier mit
konkreten, konstruktiven Vorschlägen verabschiedet, mit
welchem wir uns in der EU-Osterweiterung positionieren.
Wir haben schon seit einiger Zeit mit unserem europapolitischen Sprecher, Günter Gloser, an der Spitze die
Grenzregionen besucht und dort mit den Menschen gesprochen, um konstruktiv deren Sorgen und Bedenken
aufzunehmen und nicht etwa um Ängste zu schüren. Ich
glaube, das ist der richtige Weg.
({4})
Wir setzen uns auch dafür ein, dass es auf Regierungsebene eine ressortübergreifende Strategie zur Flankierung
dieses Erweiterungsprozesses - gerade auch für die
Grenzgebiete - gibt. Für all diejenigen, die immer noch
auf Angst setzen, sei die Information hinzugefügt, die wir
gestern von Herrn Verheugen erhalten haben, nämlich
dass auch die EU-Kommission an einem Aktionsplan für
die Grenzregionen arbeitet. Gemeinsam werden wir es
auch schaffen, die dort vorhandenen Probleme, die man
nicht wegreden soll, anzugehen. Man kann sie aber nur
dann angehen, wenn man konkrete Handlungsschritte entwickelt, und nicht, wenn man mit der großen Angstwelle
arbeitet.
({5})
Ich will nicht noch einmal betonen, dass die EUOsterweiterung ein historischer Prozess ist, bei dem die
Chancen überwiegen. Wir können diesem historischen
Prozess nicht mit formalem Klein-Klein begegnen, sondern müssen jetzt vom Reden zum Handeln kommen. Es
müssen die Voraussetzungen für eine zügige Realisierung
der EU-Erweiterung geschaffen werden. Dazu gehört die
Schaffung eines angemessenen finanziellen Rahmens.
Ich will an die Adresse der CDU/CSU-Fraktion sagen:
Wenn ich mich an die Diskussionen im Rahmen der
Agenda 2000 erinnere, bin ich gespannt, welche Beiträge
wir von Ihnen erleben werden, wenn wir im Jahr 2003 die
Debatte über eine notwendige Reform der gemeinsamen
Agrarpolitik führen werden, um erweiterungsfähig zu
werden.
Diejenigen, die auf der einen Seite überall erzählen,
wir bräuchten ein möglichst frühes und schnelles Beitrittsdatum für die Länder in Mittel- und Osteuropa, die
sich aber auf der anderen Seite im Bereich der Agrarreformen zum Besitzstandswahrer aufschwingen und die
Ängste bei den deutschen Bauern schüren - so wie Sie das
tun, indem Sie ihnen erzählen, man brauche an der Agrarpolitik nichts zu ändern und könne trotzdem die Erweiterung erreichen -, handeln unverantwortlich. Ich bin wirklich gespannt, wie Sie das in Zukunft angehen werden.
({6})
Ich sehe an dieser Stelle gewisse Parallelen zur deutschen
Einheit. Da ist von einigen Leuten erzählt worden, man
könne diese nebenbei aus der Portokasse bezahlen. Wir
brauchen nicht mehr weiter darüber zu reden, wozu dies
geführt hat.
Es ist auch wichtig - ich habe das schon gesagt -, jetzt
endlich den institutionellen Rahmen für die Erweiterung
zu schaffen und einen Fahrplan dafür vorzulegen. Kommissar Verheugen hat gestern im Europaausschuss deutlich gemacht, dass jetzt ein konkreter Fahrplan erarbeitet
wird. Darum geht es auch. Es wäre unredlich, sich schon
jetzt auf ein Datum zu fixieren. Viel redlicher ist es, gemeinsam - ich fordere Sie in diesem Zusammenhang auf,
konstruktiv daran mitzuwirken - an einem Fahrplan zu arbeiten. Ein solcher soll vorgelegt werden, um dann im
Jahre 2001 mit der konkreten Endphase der Beitrittsverhandlungen beginnen zu können. Wir wollen die institutionellen Reformen schaffen, um im Jahre 2003 beitrittsfähig zu sein. Auf diese Weise haben wir auch einen Zielkorridor, den wir den Menschen in den mittel- und
osteuropäischen Staaten konkret nennen müssen, weil sie
diese Perspektive des Beitritts brauchen. Dies darf nicht
auf den Sankt-Nimmerleins-Tag vertagt werden.
({7})
Ich glaube, dass an dieser Stelle sehr viele Staaten in
Europa auf Deutschland schauen werden. Sie werden
nicht nur darauf schauen, ob die deutsche Regierung weiter ein Motor bei der EU-Erweiterung bleibt, sie werden
auch darauf schauen, wie die größte Oppositionspartei damit umgeht. Ich sage einmal: Wenn die Experten der
Konrad-Adenauer-Stiftung den Fraktionsvorsitzenden
zurechtrücken müssen,
({8})
indem sie in einem Papier deutlich machen, dass ein Hereinnehmen der Diskussion über die Kompetenzabgrenzung in die Konferenz von Nizza zu einer Belastung dieser Konferenz führen würde und deshalb nicht sachdienlich ist, dann frage ich mich in der Tat: Wer hat in der
CDU/CSU-Fraktion das Sagen? Wer wird sich in der
CDU/CSU-Fraktion durchsetzen?
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Müller?
Selbstverständlich.
Herr Kollege, können
Sie zur Kenntnis nehmen, dass die Forderung nach Aufnahme der Kompetenzabgrenzung in die laufenden Verhandlungen der Regierungskonferenz eine Forderung des
Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Herrn Merz, ist
und diese Forderung präzise am Sonntag im Interview des
ZDF und am Montag vom französischen Staatspräsidenten in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag übernommen wurde? Wie bewerten Sie dies?
({0})
Ich bewerte das als sehr positiv. Das sehe ich auch im Zusammenhang mit der Initiative der Bundesregierung, die ja auch gesagt hat, dass sie
auf einer weiteren Regierungskonferenz zur Kompetenzabgrenzung zu Beschlüssen kommen will. Aber im Gegensatz zu Herrn Merz und zum Ministerpräsidenten von
Bayern
({0})
haben wir nicht - und auch nicht der Herr Chirac - eine
Perspektive eröffnet für die Kompetenzabgrenzung, die
erstens unrealistisch ist und zweitens die Regierungskonferenz belasten würde. Das ist der Unterschied; den müssen Sie zur Kenntnis nehmen.
({1})
Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal sagen, weil
es mir wirklich sehr wichtig ist: Wir müssen an dieser
Stelle auch als Parlament das Signal der Einmütigkeit setzen, dass wir alle die EU-Osterweiterung wollen. Ich sage
sehr deutlich: Wer - wie das hier angedeutet wird - sagt,
er sei bereit - wie zum Beispiel Herr Merz -, die Beschlüsse und die Ratifizierung der Regierungskonferenz
zu blockieren, wenn nicht genügend im Bereich der
Kompetenzabgrenzung geschehen sei, der setzt die zügige EU-Osterweiterung aufs Spiel
({2})
und der wird - auch das sage ich an dieser Stelle sehr deutlich - zum Sicherheitsrisiko für Europa.
({3})
Für mich ist die entscheidende Frage: Wird sich die
Blockiererfraktion durchsetzen? Wir sehen das bei der
Rentenreform, wir sehen das beim Energiekonsens, wir
sehen das bei der Steuerdebatte. Sie können ja im Moment
nur noch blockieren, weil Ihnen die Inhalte fehlen. Aber
es wäre fatal, wenn Sie das auch in Europa machen würden.
Ich rufe den konstruktiven Europapolitikern, von denen es eine ganze Reihe gibt, die ich auch hier im Saal
sehe, zu: Sagen Sie das, was Sie uns immer unter vier Augen sagen, auch öffentlich, dass wir eigentlich nicht weit
auseinander sind, dass wir an einem Strang ziehen,
({4})
und sorgen Sie dafür, dass die Blockierer in Ihren Reihen
endlich wieder in die Schranken gewiesen werden. Ich
glaube, von diesem Parlament muss das Signal ausgehen,
dass wir gemeinsam die EU-Osterweiterung wollen und
dass wir uns nicht im Klein-Klein ergehen, sondern diese
historische Aufgabe mit Tatkraft anpacken und nicht zerreden.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe da-
mit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung
der Vorlagen auf den Drucksachen 14/3623, 14/3669 und
14/3300 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis o auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Anpassungsprotokollen zu den Europa-Abkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits,
der Republik Ungarn, der Tschechischen
Republik, der Slowakischen Republik, der
Republik Polen, der Republik Bulgarien und
Rumänien andererseits
- Drucksache 14/3464 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({0})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-
kommen vom 7. September 1999 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Repu-
blik Usbekistan zur Vermeidung der Doppel-
besteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom
Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 14/3465 -
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 21. Mai 1999 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und der Regierung der Republik Moldau
über den Luftverkehr
- Drucksache 14/3475 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1})
Finanzausschuss
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 28. Juli 1995 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und
der Regierung der Aserbaidschanischen Republik über den Luftverkehr und zu dem Protokoll vom 29. Juni 1998 zur Berichtigung
und Ergänzung des Abkommens vom 28. Juli
1995 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der
Aserbaidschanischen Republik über den
Luftverkehr
- Drucksache 14/3476 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2})
Finanzausschuss
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Übereinkommen vom 6. März 1997 zwischen
den Parteien des Nordatlantikvertrags über
den Geheimschutz
- Drucksache 14/3457 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes
- Drucksache 14/3553 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umrechnung und Glättung steuerrechtlicher EuroBeträge ({5})
- Drucksache 14/3554 Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss ({6})
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung verkehrswegerechtlicher Vorschriften
- Drucksache 14/3646 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({7})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter ({8})
- Drucksache 14/3645 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({9})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
j) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Bundesfernstraßengesetzes ({10})
- Drucksache 14/2994 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({11})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
k) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Schornsteinfegergesetzes und anderer schornsteinfegerrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 14/3650 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({12})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung
l) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Lohmann ({13}), Dr. Wolf
Bauer, Dr. Sabine Bergmann-Pohl, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Abgabe von Hilfsmitteln durch Gesundheitshandwerker sichern
- Drucksache 14/3184 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({14})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef
Parr, Dr. Dieter Thomae, Dr. Irmgard Schwaetzer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
F.D.P.
Hochwertige Hilfsmittelversorgung durch
Gesundheitshandwerker sichern
- Drucksache 14/2787 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({15})
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus
Grehn, Petra Bläss, Dr. Ruth Fuchs, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes
- Drucksache 14/3381 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({16})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Haushaltsausschuss
o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Heidi Lippmann, Carsten Hübner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Einstufung des irakischen Giftgasangriffs am
16. März 1988 auf Halabja als Völkermord Humanitäre Hilfe für die Opfer des Angriffs
- Drucksache 14/2916 Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({17})
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Einverstanden? - Das ist
der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 27, den ich gleich aufrufen werde, um die Beratung von zwei Beschlussempfehlungen des Rechtsausschusses zu Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht, Drucksachen 14/3703 und 14/3704, zu erweitern.
Die Beschlussempfehlungen sollen am Ende dieses Tagesordnungspunktes als Zusatzpunkte 15 und 16 beraten
werden. Einverstanden? - Dann ist so beschlossen.
Wir kommen also zum Tagesordnungspunkt 27 a bis j
sowie zu den Zusatzpunkten 15 und 16. Es handelt sich
um Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist,
sodass wir jetzt eine Reihe von Abstimmungen haben.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 a auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 14. Dezember 1998
zur Änderung des am 3. Dezember 1980 in
Bonn unterzeichneten Abkommens zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und den
Vereinigten Staaten von Amerika zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet
der Nachlass-, Erbschaft- und Schenkungsteuern
- Drucksache 14/3248 ({18})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({19})
- Drucksache 14/3678 Berichterstattung:
Abgeordnete Hansgeorg Hauser ({20})
Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache
14/3678, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen worden.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 27 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Innenausschusses ({21}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra
Pau und der Fraktion der PDS
Anerkennung eines Asylanspruchs für jugoslawische Deserteure und Kriegsdienstverweigerer
- Drucksachen 14/1183, 14/3540 Berichterstattung:
Abgeordnete Rüdiger Veit
Dietmar Schlee
Marieluise Beck ({22})
Dr. Max Stadler
Ulla Jelpke
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1183 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit
den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 27 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({23}) zu
der Unterrichtung durch das Europäische Parlament gemäß § 93 Abs. 1 GO
Beschluss des Europäischen Parlaments über
die Prüfung der Mandate zur 5. Direktwahl
zum Europäischen Parlament vom 10. bis
13. Juni 1999
- EuB-EP 575 - Drucksachen 14/2817 Nr. 1.5, 14/3437 Berichterstattung:
Abgeordnete Erika Simm
Der Ausschuss empfiehlt, zu dieser Unterrichtung dem
Europäischen Parlament durch den Präsidenten des Deutschen Bundestages eine Stellungnahme zu übermitteln.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmig angenommen
worden.
Wir kommen jetzt zu einer Reihe von Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Tagesordnungspunkt 27 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24})
Sammelübersicht 167 zu Petitionen
- Drucksache 14/3529 Wer stimmt dafür? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 167 ist einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 27 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25})
Sammelübersicht 168 zu Petitionen
- Drucksache 14/3530 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Auch Sammelübersicht 168 ist mit den Stimmen des
ganzen Hauses angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 27 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26})
Sammelübersicht 169 zu Petitionen
- Drucksache 14/3531 Wer stimmt dafür? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 169 ist einstimmig angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 27 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27})
Sammelübersicht 170 zu Petitionen
- Drucksache 14/3532 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 170 ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 27 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28})
Sammelübersicht 171 zu Petitionen
- Drucksache 14/3533 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 171 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 27 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29})
Sammelübersicht 172 zu Petitionen
- Drucksache 14/3534 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 172 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der PDS, der F.D.P. gegen die Stimmen
von CDU/CSU angenommen worden.
Tagesordnungspunkt 27 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30})
Sammelübersicht 173 zu Petitionen
- Drucksache 14/3536 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 173 ist mit den Stimmen des ganzen
Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen worden.
Zusatzpunkt 15:
Beschlussempfehlung des Rechtssausschusses
zu den dem Bundestag zugeleiteten Streitsachen
vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 14/3703 Das ist die Übersicht 5.
Der Ausschuss empfiehlt, von einer Äußerung oder einem Verfahrensbeitritt abzusehen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist
einstimmig angenommen worden.
Zusatzpunkt 16:
Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu
den dem Bundestag zugeleiteten Streitsachen
vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 14/3704 Der Ausschuss empfiehlt, Stellungnahmen abzugeben
und den Präsidenten zu bitten, einen Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt dem zu? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 und den Zusatzpunkt 7 auf:
6. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD,
CDU/CSU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
25 Jahre KSZE/OSZE
- Drucksache 14/3666 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Günther
Friedrich Nolting, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der F.D.P.
OSZE stärken
- Drucksache 14/3674 Ich gehe davon aus, dass über den Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/3399, der inhaltsgleich ist mit dem Antrag unter
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Tagesordnungspunkt 6, nicht weiter beraten wird. - Es
gibt keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Sie sind einverstanden. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst für
die SPD-Fraktion die Abgeordnete Uta Zapf.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die Debatte, die wir heute führen, findet
aus Anlass des 25-jährigen Bestehens der KSZE/OSZE
statt. Ich freue mich ganz besonders, dass dieser Debatte
Jan Kubis, der Generalsekretär der OSZE - er hat auf der
Tribüne Platz genommen -, zuhört.
({0})
Herr Kubis, es ist von Ihnen sehr freundlich, dass Sie
diese Debatte verfolgen.
Gerade für uns in der Bundesrepublik Deutschland hat
die KSZE bzw. die OSZE eine überragende Bedeutung.
Sie wurde als Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa am 1. August 1975 mit der
Schlussakte von Helsinki ins Leben gerufen. Vorher gab
es „talks about talks“, die die Modalitäten festlegen sollten. Die Konferenz tagte zwei Jahre und dann wurde die
Schlussakte verabschiedet.
Diese Konferenz war ein Kind des Kalten Krieges und
der neuen Ostpolitik, der Entspannung, die maßgeblich
von Willy Brandt geprägt wurde. Sie hat trotz mancher
Rückschläge wesentlich zur Überwindung der Ost-WestKonfrontation beigetragen und damit letztendlich auch
die Wiedervereinigung Deutschlands möglich gemacht.
Der Helsinki-Prozess führte zum friedlichen Wandel und
zum Fall des Eisernen Vorhangs.
35 Staaten verabredeten - ich zitierte im Interesse der Völker ihre Beziehungen zu verbessern und zu verstärken, in Europa zum Frieden, zur
Sicherheit, zur Gerechtigkeit und zur Zusammenarbeit sowie zur Annäherung zwischen ihnen und den
anderen Staaten der Welt beizutragen.
Der Prozess der Entspannung sollte erweitert, vertieft und
dauerhaft gemacht werden.
Die 35 Staaten legten zehn Grundprinzipien, den so genannten Dekalog, fest, die vornehmlich auf den Bereich
der zwischenstaatlichen Beziehungen ausgerichtet waren,
jedoch in der Praxis eine bedeutsame Berufungsgrundlage für die innergesellschaftliche Entwicklung darstellten. Es waren Gewaltverzicht, Unverletzlichkeit der
Grenzen, friedliche Regelung von Streitfällen und - das
ist ganz besonders wichtig - die Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten einschließlich Gedanken,
Gewissens-, Religions- und Überzeugungsfreiheit.
Diese Verpflichtung auf die universelle Bedeutung der
Menschenrechte und Grundfreiheiten wird in der Schlussakte als wesentlicher Faktor für Frieden, Gerechtigkeit
und Wohlergehen bezeichnet. Die Menschen hinter dem
Eisernen Vorhang, die Bürger- und Menschenrechtler
werden sich von da an auf diesen Punkt berufen. Die Einforderung dieser Rechte stärkt und stützt alle, die für Menschenrechte, Demokratie und Freiheit in Diktaturen
kämpfen.
Die Teilnehmerstaaten anerkannten damals ein - ich
zitiere nochmals gemeinsames Interesse an Bemühungen zur Verminderung der militärischen Konfrontation und zur
Förderung der Abrüstung, die darauf gerichtet sind,
die politische Entspannung zu ergänzen und ihre
Sicherheit zu stärken.
Es ist bemerkenswert, dass schon an dieser Stelle der Begriff der gemeinsamen Sicherheit angesprochen worden
ist. Er war noch lange Zeit ein Stück weit umstritten, obwohl sich die Staaten schon damals darauf verständigt
hatten. Vertrauensbildende Maßnahmen wie Ankündigung von Manövern, Austausch von Beobachtern wurden
erstmals vereinbart.
Zwei für Europa bedeutsame Abrüstungsverträge
sind im Rahmen der KSZE geschlossen worden: 1990 der
erste Vertrag über konventionelle Streitkräfte - dieser
führte zu dramatischen Abrüstungsschritten; 50 000
Waffensysteme wurden abgerüstet - und 1999 der KSEFolgevertrag, mit dem der noch von den Bedingungen und
den Strukturen der Blockkonfrontation gezeichnete erste
KSE-Vertrag abgelöst wurde. Ich meine, es ist bemerkenswert, dass dieser Vertrag, der trotz einer damals durch
die NATO-Osterweiterung und durch den Kosovokonflikt
zwischen den größeren Parteien noch herrschenden Irritation geschlossen wurde, eine im Konsens erreichte sehr
gute Lösung darstellt, die tatsächlich zur Stabilität in Europa beitragen kann.
({1})
- Das sollte man ruhig einmal beklatschen; das ist wahr.
Heute betrachten wir die OSZE als ein wichtiges sicherheitspolitisches Instrument, weil sie die einzige Organisation ist, die alle europäischen Staaten, die USA, Kanada sowie die Staaten des Kaukasus und Zentralasiens
umfasst. Ich glaube, das ist für uns in der augenblicklichen Situation erkennbar ein ganz wichtiger Vorteil.
({2})
Diese geopolitische Reichweite ist keine Schwäche, sondern ist wegen des gesamteuropäischen Charakters eine
Stärke. Das ist, wie ich meine, auch ein Teil des Erfolgs
der OSZE.
Die breite Anlage des Aufgabenspektrums von sicherheitspolitischen Prinzipien - Korb I - bis hin zu wirtschaftspolitischen Prinzipien - Korb II - und die humanitäre Dimension sowie der prozesshafte Charakter auch das ist ein wichtiger Punkt - haben dazu beigetragen,
dass die KSZE die dramatischen Veränderungen von der
bipolaren hin zur multipolaren Welt vollziehen und die
Herausforderungen aufgrund der neuen geopolitischen
und geostrategischen Bedingungen bewältigen konnte.
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
Dies konnte deshalb gelingen, weil der Prozess der sicherheitspolitischen Vertrauensbildung und die Verständigung auf gemeinsame Werte Grundlage waren.
Mit der Charta von Paris im Jahre 1990 begann die Institutionalisierung der KSZE. Dies weist darauf hin,
dass ein Prozess der Identitätsfindung einsetzte, der die jeweilige Rolle von KSZE, Europäischer Union, NATO,
WEU und Europarat zu definieren suchte und voneinander abgrenzte. „Interlocking institutions“ - nicht „interblocking“, wie manchmal gesagt wird - sollten entstehen.
An diesem Prozess arbeiten wir noch immer, weil sich all
diese Organisationen in ihrer Aufgabenstellung ja ein
Stück weit verändern.
Zweijährliche Folgetreffen, der Rat, das Sekretariat,
der Ausschuss Hoher Beamter waren zunächst die Organe
zur Institutionalisierung. Besonders wichtig aber sind die
Einrichtung des Konfliktverhütungszentrums in Wien und
das Büro für freie Wahlen in Warschau. All diese Institutionen weisen darauf hin, dass Konfliktprävention, Förderung von Demokratie und Menschenrechten und Stärkung der militärischen Ordnung in Europa Kernpunkte
der Aufgaben sein sollten.
In der Folge hat sich die OSZE auch in ihren Institutionen weiter verbessert und weiterentwickelt. Dieser
Prozess dauert immer noch an. Nach dem Gipfel von Istanbul sind wir jetzt aber an einem Punkt, an dem dieser
Prozess sehr deutliche Konturen angenommen hat und
den heutigen Risiken, der heutigen Situation in Europa
eine Antwort mit einem breiten Spektrum von im weitesten Sinne sicherheitspolitischen Möglichkeiten entgegenzusetzen hat.
Aufgrund der Erfahrungen der KSZE in den Bereichen
Rüstungskontrolle, Abrüstung und Vertrauens- und Sicherheitsbildung sowie Verifikation wurde die OSZE die
lnstitution, die im Dayton-Vertrag, also nach dem Bosnien-Krieg, mit der Ausarbeitung und Überwachung der
Abrüstungsverpflichtungen beauftragt wurde. Die erfolgreiche Implementierung des Ergebnisses der Abrüstungsverhandlungen aus Artikel IV des Dayton-Vertrages ist
ein herausragender Beitrag zu Frieden und Stabilität auf
dem Balkan. Ich meine, dies ist wieder einmal ein Beispiel dafür, dass wir gar nicht immer wahrnehmen, welche ganz wichtige sicherheitspolitische Funktion diese
Organisation im Rahmen der Erfüllung ihrer Aufgaben
hat; denn dies sind keine dramatischen Aufgaben, sondern
eher solche, über die in der Presse nicht in breiter Form
berichtet wird. Mit der Erklärung zur Regionalorganisation setzte sich die KSZE wiederum Schwerpunkte bei
Frühwarnung, Konfliktverhütung und Krisenbewältigung
einschließlich der Maßnahmen zum Einsatz von Streitkräften, allerdings ohne den Gebrauch von Zwangsmaßnahmen. In dieser Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen,
nimmt auch die OSZE ihre erste Mission zur friedlichen
Regelung von Regionalkonflikten auf. Dies ist ein ganz
wichtiger Wendepunkt in der Tätigkeit dieser Organisation gewesen.
Ich glaube, dass der Budapester Gipfel, als die KSZE
beschloss, sich nicht mehr „Konferenz“, sondern „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“
zu nennen, ein deutliches Zeichen dafür war, dass die
OSZE ihren Platz im Spektrum der Institutionen in Europa gefunden hat. Zu diesem Zeitpunkt gab sie sich auch
endgültige Entscheidungsstrukturen.
Es ist bemerkenswert, dass die Schlussakte von Helsinki schon 1975 dem erweiterten Sicherheitsbegriff verpflichtet war, auf den wir heute unsere Sicherheitspolitik
gründen.
Korb III, die menschliche Dimension, hat zweifellos
gegenüber den anderen Körben die größte Sprengkraft
entfaltet. Die Einhaltung von Menschenrechten, Meinungs- und Pressefreiheit, menschliche Kontakte über die
Blockgrenzen hinweg sowie die Zusammenarbeit bei
Kultur, Bildung und Wissenschaft war das, was die Menschen in Europa berührte und sie zu Handelnden in diesem Prozess werden ließ. Auch heute noch stellt Korb III
mit seiner Weiterentwicklung eine wichtige Dimension in
den Transformationsstaaten dar. Das sollten wir nicht vergessen.
Das Gipfeltreffen von Lissabon baute die Schlüsselrolle der OSZE für die Förderung von Sicherheit und Stabilität in allen Dimensionen aus. Es gab auch den entscheidenden Anstoß zur Entwicklung der OSZE-Charta
für europäische Sicherheit, die im November 1999 auf
dem Gipfel von Istanbul verabschiedet wurde. Ich denke,
wir haben noch gar nicht ganz begriffen, welche Bedeutung dem Gipfel von Istanbul in der Tat zukommt. Vielleicht wäre es gut, wenn wir einmal ein bisschen mehr Debattenzeit bekämen, um das zu vertiefen.
({3})
Frühwarnung, Konfliktverhütung und Krisenbewältigung gehören heute zweifellos zu den wichtigsten Aufgaben der OSZE. 20 Missionen - ich habe sie vorhin schon
erwähnt - hat die OSZE bisher durchgeführt und die meisten dieser Missionen dauern an. Man kann den Wert dieser Missionen nicht hoch genug einschätzen, auch wenn
nicht alle Missionen so erfolgreich gewesen sind, wie wir
uns das wünschen.
Frau Kollegin,
denken Sie bitte an die abgelaufene Zeit.
Ja. - Die Erfolge sind nicht öffentlichkeitswirksam, denn wo kein Blut fließt, ist auch kein
CNN. Ich plädiere wirklich dafür, dass wir die Erfolge,
die dort bei der Konfliktprävention erreicht worden sind,
herausstellen.
Die Fortentwicklung - mein letzter Gedanke -,
Letzter Satz,
bitte.
- die die OSZE auf dem Istanbuler
Gipfel erfahren hat, und die Institutionen, die wir dort eingerichtet haben, wie die schnellen Eingreiftruppen ziviler
Art, werden wichtige Elemente zukünftiger Politik sein.
Ich sage noch ein letztes Wort: Wer Krisenprävention
will, muss diese auch finanziell ausreichend unterstützen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Willy Wimmer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gibt zum
Glück in dieser Welt Erfolgsgeschichten. Die Geschichte
von KSZE bzw. OSZE ist eine ganz unglaubliche Erfolgsgeschichte. Wenn es diese Organisation nicht gegeben
hätte, würden wir hier nicht sitzen. Weil das eine Veranstaltung der Macht, des Geistes, der Moral und des Rechts
gewesen ist und bleiben soll, ist es gut, dass wir Vorstellungen dazu entwickeln und uns nicht nur am heutigen
Tag daran erinnern, dass vor 25 Jahren wesentliche Entscheidungen getroffen worden sind.
Meine Damen und Herren, hier liegen uns jetzt zwei
Anträge vor. Das könnte auf den ersten Blick die Annahme begründet erscheinen lassen, dass auch unterschiedliche Auffassungen damit verbunden sind. Wenn
man sich die Anträge durchliest, kann man feststellen,
dass es nicht so ist. Ich kann zugunsten der F.D.P. sagen:
Wir sind eigentlich alle einer Meinung.
({0})
Ich bedauere ein wenig, dass die F.D.P. einen eigenen
Antrag vorgelegt hat. Dies zeigt aber, dass es bei allem
Konsens auch Differenzen gibt. Sie zeigen sich darin,
dass die alten Bundesregierungen Schmidt/Genscher,
Kohl/Genscher und Kohl/Kinkel der KSZE/OSZE wesentlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt haben, als es
die derzeitige Bundesregierung Schmidt/Fischer tut.
({1})
Herr Kollege,
„Schmidt“ ist nicht ganz richtig.
Ich meine die
Regierung Schröder/Fischer.
Eines ist ganz offenkundig: Die Vorgängerregierungen haben hinsichtlich der Weiterentwicklung der
KSZE/OSZE wesentlich mehr Initiativkraft entwickelt.
Sie haben konstruktiv diese Weiterentwicklung vorangetrieben. Wenn man angesichts des letzten Gipfeltreffens
der OSZE in Istanbul - Frau Kollegin Zapf hat zu Recht
darauf aufmerksam gemacht - die eigentlichen Fragestellungen der vor uns liegenden Zeit betrachtet, dann kann
man nur feststellen, dass die jetzige Bundesregierung
nicht mehr das leistet, was die früheren Bundesregierungen geleistet haben.
Was ist in Istanbul gesagt worden? In Istanbul ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass wegen der
schwierigen Entwicklung im Kosovo und in Tschetschenien - ich erinnere in diesem Zusammenhang an die bemerkenswerte Rede des UN-Generalsekretärs Kofi
Annan - die Staaten wesentlich mehr Initiative zeigen
müssten, um das von ihm kritisierte Auseinanderfallen
von internationalem Recht und dem praktischen Tun in
der Zukunft zu verhindern. Wenn diese Aufforderung der
Vereinten Nationen früher an die jeweilige Bundesregierung gerichtet worden ist - Herr Kinkel ist als Vertreter einer früheren Bundesregierung heute anwesend -, ist ihr
immer entsprochen worden.
Ich kann aufgrund der Aktivitäten des Bundesaußenministers und aufgrund der Zusammenarbeit mit dem Parlament nicht sehen, dass das Außenministerium angesichts des dringenden Appells des UN-Generalsekretärs
aktiv geworden ist. Ich empfinde dies als Manko; denn es
ist gerade unsere Aufgabe, aus der Wiedervereinigung unseres Landes und aus dem Prozess, der zu dem wieder geeinten Europa geführt hat, Perspektiven zu entwickeln,
die diesen Prozess auf Dauer unumkehrbar machen. Bei
allem Konsens in der Sache muss ich feststellen, dass
dazu eine größere Anstrengung der Bundesregierung
gehört. Angesichts des Appells von Kofi Annan will ich
diese sehr bewusst einfordern.
Vieles innerhalb der OSZE läuft sehr professionell. Ich
darf hinsichtlich der Leistung unserer Offiziere, hohen
Beamten und Experten in den Missionen der OSZE dieses Urteil abgeben. Ich will aber in diesem Zusammenhang eine Anmerkung machen. Es ist dankenswerterweise
heute so, dass das Außenministerium ehemalige Botschafter und hohe Beamte des ehemaligen DDR-Außenministeriums in internationalen Missionen einsetzt. Diese
Persönlichkeiten gereichen unserem Lande - das muss
man mit allem Nachdruck sagen - zwischen Tadschikistan und dem Kaukasus zur Ehre.
({0})
Das ist ein wesentlicher Beitrag dafür, dass wir auch in
Deutschland in diesem Bereich zur Normalität zurückkehren können.
({1})
- Ich bin sehr froh, dass Sie den Fall Loquai ansprechen,
Herr Kollege Gehrcke. In diesem Punkt mangelt es dem
Außenminister und auch dem Verteidigungsminister an
jeder Souveränität. Das muss man wirklich sagen.
({2})
Ich will im Zusammenhang mit der aktuellen Entwicklung noch auf zwei Gesichtspunkte aufmerksam machen:
Der erste Gesichtspunkt. Die heutige Entwicklung zwischen Nordkorea und Südkorea wäre ohne die KSZE
bzw. OSZE so nicht denkbar gewesen. Wenn wir Konflikte nicht austragen, sondern verhindern wollen, sollten
wir viel dafür tun, unser Handeln an den tragenden Prinzipien der OSZE auf Dauer auszurichten.
Der zweite Gesichtspunkt. Wir haben in den Staaten
des östlichen Teils des asiatischen Kontinents, den
ASEAN-Staaten, schon vor Jahren eine Entwicklung
beobachten können, die auf drei Prinzipien der
KSZE/OSZE beruht: präventive Diplomatie, Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie übergreifende Sicherheit.
Ich begrüße es außerordentlich, dass uns der damalige
österreichische Außenminister Schüssel in seiner Eigenschaft als Ratspräsident der OSZE - er hatte dieses Amt
für einige Wochen - darauf aufmerksam gemacht hat,
dass noch in diesem Jahr ein Dialog zwischen der OSZE
und den ASEAN-Staaten aufgenommen werden muss.
Meine Damen und Herren, wenn wir etwas aus der Entwicklung lernen wollen - ich finde, wir sollten das -, dann
müssen wir einer Überlegung Rechnung tragen, die der
Sicherheit des ganzen Kontinentes zugute kommen wird,
dass nämlich die tragenden Prinzipien der transkontinentalen Sicherheit und Zusammenarbeit eine Grundlage unserer künftigen Sicherheit sein werden.
Wir haben vor wenigen Wochen noch über Überlegungen zur Raketenabwehr gesprochen und das mit den
berühmten „Schurkenstaaten“ verbunden. Meine Damen
und Herren, wenn wir das auf Dauer machen wollen, was
wir in der Vergangenheit mit Erfolg betrieben haben und
was wir offensichtlich machen können, dann, so finde ich,
sollte diese Bundesregierung das Feuer in den Argumenten nachliefern, was die Vorgängerregierungen zu unser
aller Nutzen gemacht haben.
Dies ist nicht nur eine Zeit der Erinnerung, sondern
auch eine Zeit der Hoffnung. Im Zusammenhang mit der
KSZE und der OSZE ist dies mehr als begründet.
Ich bedanke mich.
({3})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Rita Grießhaber.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der „Geburtstag“ der OSZE bietet mehr als genug Anlass, noch
einmal dankbar Revue passieren zu lassen, welche Entwicklungen ohne sie wahrscheinlich so nicht möglich
gewesen wären. Die wichtige Rolle der OSZE in den
Fragen der europäischen Sicherheitsarchitektur ist uns
allen sehr gut im Bewusstsein. Wenn der Kollege Willy
Wimmer das Feuer in den Argumenten der Regierung vermisst, dann müssen wir doch einmal ganz ehrlich sagen,
wie schwierig die Situation vor Istanbul war und mit
welch großer, enormer Anstrengung nicht nur die Bundesregierung, aber auch sie, alles daran gesetzt hat, Istanbul zu einem Erfolg werden zu lassen. Der Kollege
Wimmer weiß sehr gut, dass die Erfolge, die man in der
OSZE erzielt, schwierig zu erzielen sind, dass sie langfristig wirken und dass ein kurzes Strohfeuer, das Sie hier
einfordern, alles andere als angezeigt ist.
({0})
Wir würdigen genauso die Rolle der OSZE bei der Verwirklichung der deutschen Einheit. Nicht zu vergessen:
Mit der Charta von Paris wurde ein ganz bedeutsamer
Beitrag zu einer gerechten und dauerhaften Friedensordnung für ein geeintes, demokratisches Europa geleistet.
Diese Erklärung ist uns heute noch Verpflichtung.
({1})
Die Kollegin Zapf hat schon darauf hingewiesen, dass
ein Teil der Schlussakte von Helsinki, der so genannte
Korb III, nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Er
hat dazu geführt, dass das Ostregime destabilisiert wurde
und die Öffnung stattgefunden hat. Er war doch im
Grunde die Initialzündung für viele Initiativen in den damaligen Ostblockländern. Er hat die Charta 77 ermöglicht. Helsinki hat im Osten die zivilgesellschaftliche
Perspektive eröffnet. Ich glaube, das können wir gar nicht
hoch genug einschätzen.
Allerdings ist der große Transformationsprozess im
Osten noch längst nicht abgeschlossen. Vielerorts hat sich
angesichts der schleppenden Entwicklung auch Ernüchterung breit gemacht und die anfängliche Begeisterung
wurde abgelöst.
Wir alle, so denke ich, mussten lernen, dass man die
OSZE nicht überfordern darf. Es geht darum, ihre ganz eigenen Stärken im weltweiten Geflecht der internationalen
Organisationen zu nutzen und zu unterstützen. Ich glaube,
da tun sich auch neue Aufgaben auf. Angesichts der Tatsache, dass wir dabei sind, die EU nach Osten zu erweitern, heißt dies, dass wir die Dialogprozesse der Osterweiterung mit der OSZE intensivieren und fortführen
müssen.
Die OSZE hat den Vorteil und die Besonderheit, dass
in ihre Diskussionen sowohl unsere transatlantischen
Partner als auch Russland und die zentralasiatischen Staaten mit eingebunden sind. Sie wird oft als das „Dach für
das gemeinsame Haus Europa“ bezeichnet. Damit sie dies
sein kann und die Dachbalken immer wieder auf Stabilität
überprüft werden können, muss einiges nachgebessert
werden. Das gilt auch für die Stärkung der Rolle des Generalsekretärs und nicht zuletzt für die OSZE-Missionen
in Krisengebieten.
Ich denke, hier gibt es viele Verbesserungsmöglichkeiten. Wir mussten gerade in Tschetschenien sehr schmerzhaft erfahren, dass erfolgreiche Missionen den Kooperationswillen der betroffenen Länder erfordern.
Die Umsetzung des wichtigsten Ziels, nämlich über die
Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu einer wirklichen Friedenssicherung beizutragen, ist eine
Mammutaufgabe, die wir nicht hoch genug einschätzen
können und die unser aller Anstrengung bedarf, damit sie
zum Erfolg führt. Wahrscheinlich bietet sie genug Arbeit
für mehr als 25 Jahre. Für diese Arbeit wünsche ich allen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der OSZE, dem für die
Medien Zuständigen bei der OSZE, Freimut Duve, und
stellvertretend für sie alle dem hier anwesenden Generalsekretär die erforderliche Geduld und Zähigkeit, um diese
Arbeit fortzusetzen. Ich glaube, wir haben alles, bloß keinen Grund zum Jammern.
Vielen Dank.
({2})
Willy Wimmer ({3})
Wenn der Generalsekretär der OSZE von allen Rednern begrüßt wird,
möchte auch ich das von hier oben im Namen des ganzen
Hauses tun. Schön, dass Sie da sind!
({0})
Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Irmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Wenn ein Mitglied der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen, wie Frau Grießhaber, hier sagt, wir hätten
keinen Grund zum Jammern, dann ist das eine Premiere
und ich freue mich sehr darüber. Herzlichen Glückwunsch, Frau Kollegin Grießhaber!
({0})
Im Übrigen ändern sich die Zeiten doch gewaltig. Der
Kollege Wimmer hat in seiner Weisheit eben nicht darauf
hingewiesen, dass seine Fraktion vor 25 Jahren dem gesamten KSZE-Prozess erheblichen Widerstand entgegengesetzt hat.
({1})
Ihr seid klüger geworden; ich finde das sehr schön. Noch
vor zwei Jahren, glaube ich, konnte man von Bündnis 90/
Die Grünen hören, die NATO müsse abgeschafft werden
und ihre Aufgaben müsse die OSZE übernehmen. Das war
eine sehr kühne Vorstellung. Von dieser haben Sie inzwischen Abstand genommen. Auch Sie sind inzwischen weiser geworden. Herzlichen Glückwunsch auch hierzu!
Als vor 25 Jahren die Schlussakte von Helsinki verabschiedet wurde, hat wohl kaum einer geahnt, welcher
Sprengsatz sie werden würde und dass durch diesen
Sprengsatz eigentlich die gesamte Nachkriegsordnung
in Europa aus den Angeln gehoben werden würde. Die
Bürgerrechtsbewegungen in den kommunistischen Ländern bekamen dadurch einen ganz klaren Bezugspunkt
und konnten sich gegenüber ihren eigenen Regierungen
darauf berufen, dass diese bestimmte Punkte in Bezug auf
Menschenrechtsfragen - Pressefreiheit, Reisefreiheit akzeptiert hatten.
Bei Reisefreiheit fällt mir ein, dass es genau die
Schlussakte von Helsinki war, auf die sich die Ungarn vor
nunmehr fast elf Jahren berufen konnten, als sie die
Grenze öffneten und den DDR-Flüchtlingen die Ausreise
ermöglichten. Die Ungarn waren damals bilateral verpflichtet, Menschen aus der DDR, die sich zu lange bei ihnen aufgehalten hatten, zurückzuschicken. Die Ungarn
hatten, clever wie sie sind, dann natürlich eine Interpretation zur Hand, die es nicht einmal nötig machte, sich auf
die Schlussakte von Helsinki zu berufen. Sie haben nämlich zu ihren Kollegen aus der DDR gesagt: In dem bilateralen Vertrag mit der DDR steht nur, dass wir Touristen
zurückschicken müssen, die sich länger bei uns aufhalten.
Schaut einmal, das sind doch offensichtlich keine Touristen; die sind doch zu einem ganz anderen Zweck hier! Aber letzten Endes hätten sie sich möglicherweise doch
nicht getraut, die Grenze zu öffnen, hätten sie nicht die
Möglichkeit gehabt zu sagen: In der Schlussakte von Helsinki, die alle unterzeichnet haben, steht, dass jeder reisen
darf, wohin er will.
({2})
Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich heute, da wir
25 Jahre Schlussakte feiern, als Liberaler einen Namen
nennen möchte, ohne den dieser Prozess nicht so erfolgreich gewesen wäre: Ich meine Hans-Dietrich Genscher,
den damaligen Außenminister, dem wir dieses in hohem
Maße zu verdanken haben.
({3})
Zum Unterschied zwischen NATO und OSZE: Die
NATO ist ein System kollektiver Verteidigung. Sie hat
ihre fest umrissenen Aufgaben. Die OSZE ist etwas qualitativ ganz anderes. Sie ist ein System kollektiver Sicherheit. Sie hat keine direkt militärischen Aufgaben. Sie kann
Aufgaben erfüllen, zu denen die NATO nicht berufen ist.
Dies muss sie tun.
Der Verteidigungsfall, für den die NATO in erster Linie vorgesehen ist, ist sehr unwahrscheinlich geworden.
Was wir heute erleben, sind im Wesentlichen keine Kriege
zwischen Staaten, sondern Kriege innerhalb von Staaten,
sind Auseinandersetzungen, die sich daran entzünden,
dass Menschenrechte mit Füßen getreten, dass Minderheitenrechte missachtet werden und dass sich die betroffenen Menschen das irgendwann nicht mehr gefallen lassen. Das führt dann zu kriegerischen Auseinandersetzungen, zu Brutalität der Regierenden gegenüber diesen
Menschen und Minderheiten. Dafür sieht das Völkerrecht
bisher leider keine ausreichenden Regeln vor.
Verletzungen von Menschenrechten und Minderheitenrechten sind immer, wenn Sie dies einmal analysieren, die Quelle der Kriege, die wir in den letzten
Jahren erlebt haben. Deshalb kommt es darauf an, zu versuchen, überall präventiv dafür zu sorgen, dass demokratische und rechtsstaatliche Strukturen eingeführt werden
und sich stabilisieren können.
Hier leistet die OSZE natürlich einen unglaublich
wichtigen Beitrag. Ihr Generalsekretär Kubis, den auch
ich jetzt noch einmal begrüße, hat uns vorhin gesagt, dass
die OSZE auch bei dem Annäherungsprozess der mittelund osteuropäischen Staaten an die Europäische Union
eine große Rolle spielt, indem sie sich nämlich vor Ort darum kümmert, dass das Prinzip des Rechtsstaats und dass
Demokratie und Pressefreiheit geachtet werden und dass
demokratische Wahlen vorbereitet werden. All dies sind
unerlässliche Voraussetzungen dafür, dass ein Land für
die Mitgliedschaft in der Europäischen Union fit werden
kann. Die OSZE leistet hier also Pionierarbeit und ist für
das Erreichen von Sicherheit im umfassenden Sinne, also
gemäß dem erweiterten Sicherheitsbegriff, genau das Instrument, das wir brauchen.
Noch ein Gesichtspunkt: Es wurde schon gesagt, dass
die OSZE die Organisation ist, die einen weiten geographischen Bogen von den Vereinigten Staaten über die
Mitglieder der Europäischen Union bis hin zu Russland
spannt. Wir wissen ja, dass es für die europäische Sicherheitsarchitektur insgesamt fast das Wichtigste ist,
zu versuchen, Russland in diese Bemühungen einzubinden. Gegen Russland zu operieren wäre mit Sicherheit das
Ende aller Sicherheitsbemühungen. In der OSZE arbeitet
Russland mit. Wir müssen deshalb versuchen, es dort
ganz stark zu halten. Das bedeutet nicht, dass man nicht
immer wieder auf Menschenrechtsverletzungen, wie sie
in Tschetschenien in massivster Weise geschehen sind,
hinweist und dass man nicht immer wieder betont, welche
Position man selber hat. Vielleicht wäre es eine Lösung,
nicht zu sagen: „Wir erheben den Zeigefinger und legen
denselben in eure Wunden“, sondern zu sagen: „Vielleicht
braucht ihr Russen unsere Hilfe; denn ihr habt da ein echtes Problem. Der Terrorismus in der Kaukasusregion, in
Afghanistan bzw. in der gesamten weiteren geographischen Gegend ist eine Gefahr erster Ordnung.“ Die Russen versuchen, mit den falschen Mitteln, wie wir wissen,
etwas dagegen zu tun. Aber sie versuchen es zumindest.
Wäre es nicht im Rahmen der OSZE eine gute Idee, den
Russen zu sagen: „Lasst uns euch bei der Bekämpfung
dieser Geißel der Menschheit, die der Terrorismus ist, helfen“?
({4})
Es gibt ja weitere kriminelle Aktivitäten, deren sich die
OSZE annehmen will, indem sie versucht, dagegen anzugehen. Ich meine Menschenhandel, Waffenhandel, Drogenhandel bzw. Schmuggel mit Dingen jeglicher Art. Die
OSZE hat das dafür erforderliche Instrumentarium. Wir
sollten sie dabei materiell, aber auch moralisch unterstützen. Insofern begrüße ich, dass sich alle Fraktionen dahin
gehend geäußert haben, auf die Zukunft der OSZE zu setzen.
Ich bedanke mich.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Von den zahlreichen Jahrestagen, die wir hier im Bundestag zum Ausgangspunkt aktueller Erörterungen gemacht haben, ist mir persönlich der
25. Jahrestag der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Helsinki einer der interessantesten und auch
einer der wichtigsten. Mit dem Helsinki-Prozess ist die
Überwindung der Spaltung Europas in zwei Blöcke eingeleitet worden; damit hat er mehr als viele andere Vorgänge das Gesicht Europas verändert.
Wenn man über den Helsinki-Prozess redet, dürften
Stichworte wie die Verträge von Moskau und Warschau,
der Grundlagenvertrag zwischen BRD und DDR, die
große Auseinandersetzung über die Stationierung von
Mittelstreckenraketen und die Nachrüstungsdebatte nicht
fehlen. Damals hat die Außenpolitik - darauf weise ich in
aller Deutlichkeit hin - die Menschen erreicht und erregt,
damals hat in unserem Volk wie in anderen Völkern über
Außenpolitik eine wirkliche Auseinandersetzung stattgefunden. Ich bin ehrlich genug, zu sagen, dass ich mir eine
solche Art der Auseinandersetzung, die die Menschen erreicht, für heute zurückwünsche.
Helsinki hat ungeheuer viel verändert. In diesem Zusammenhang spreche ich direkt die Kollegen der Fraktion
der SPD an: Ich habe es nie verstanden, warum Sie die
Entspannungspolitik und auch die Entspannungspolitiker
jener Zeit in den nachfolgenden Jahren so distanziert behandelt haben und warum Sie mit der Entspannungspolitik so defensiv umgegangen sind. Manchmal hatte ich den
Eindruck, dass Sie Entspannungspolitik ebenso wie die
Entspannungspolitiker unter den Angriffen der Konservativen wie heiße Kartoffeln haben fallen lassen.
({0})
- Ich glaube, da ist viel dran, und die entsprechenden
Leute empfinden das auch so.
Helsinki hat Ergebnisse gezeitigt, die bleibende Wirkungen hätten erzielen können. Ich will dafür nur einige
Beispiele nennen: das Verständnis von Sicherheit als gegenseitige Sicherheit, Gewaltverzicht und damit gekoppelt die Souveränität von Staaten und Grenzen. Helsinki
hat als Botschaft die Bereitschaft beinhaltet, militärische
Paktsysteme abzubauen und Systeme gegenseitiger Sicherheit aufzubauen. Man kann auch die interessanten
Menschenrechtsdebatten in Helsinki nachzeichnen, wo,
vereinfacht gesagt, zwei unterschiedliche Positionen in
Form des Ost-West-Konfliktes aufeinander getroffen
sind: die Betonung von individuellen und von kollektiven
Menschenrechten, von sozialen Rechten und Freiheitsrechten. Ich halte es für eine der großen Leistungen von
Helsinki, dass daraus ein gemeinsamer Korb, ein gemeinsames Verständnis sozialer wie auch individueller Freiheitsrechte geworden ist und eine staatliche Garantie solcher Rechtsauffassungen erreicht worden ist.
({1})
Ich erinnere an die Bemühungen in Helsinki, Rüstungskontrolle und Abrüstung gemeinsam voranzutreiben.
Vieles von dieser gemeinsamen Grundlage ist verlassen worden, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, zu dem
wir in Europa mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus zu tun hatten. Das wirft bei mir immer wieder den
Verdacht auf, dass vieles von dem, was in Helsinki verabredet worden ist, eigentlich funktional gemeint war.
Nachdem man den Hauptzweck erledigt hatte, war die
Umsetzung der Ziele von Helsinki offensichtlich nicht
mehr so bedeutend gewesen, wie es vorher gesagt worden
war.
Lassen Sie mich Sie mit wenigen Aussagen konfrontieren: Der Direktor des Internationalen Konversionszentrums Bonn, Herbert Wulf, stellte bei der Vorstellung des
neuen Jahrbuchs über Abrüstung und Konversion fest,
dass sich der Abrüstungstrend stark verlangsamt hat. Sein
Institut befürchtet „für das Jahr 2000 eine Trendwende zur
erneuten Aufrüstung“. Mit Blick auf die Versuche der
USA, das angebliche Raketenabwehrsystem zu stationieren, wird prognostiziert, dass Länder wie Russland, Indien und China nicht ohne Gegenreaktion damit umgingen. Dieser Trend führt vom Helsinki-Prozess weg, da das
ein Prozess der Abrüstung war.
Man muss auch zur Kenntnis nehmen - das sage ich
mit einer gewissen Bitterkeit; die Zahlen können Sie alle
nachlesen -, dass Deutschland bei den Militärausgaben
Platz vier nach den USA, Japan und Frankreich, in
der Statistik der Weltgesundheitsorganisation aber nur
Platz 25 einnimmt. Mir wäre es umgekehrt lieber: Platz 25
bei den Rüstungsausgaben und Platz vier bei den Gesundheitsausgaben.
({2})
Das erfordert eine andere Politik. Ich kann Ihnen auch
in diesem Zusammenhang folgenden Hinweis nicht ersparen: Wenn in Helsinki jemand gesagt hätte, dass in Europa wieder unter deutscher Beteiligung Krieg geführt
würde, hätte es diesen Helsinki-Prozess nicht gegeben.
Auch das muss man hier aussprechen, wenn man über
Helsinki redet. Wir können nicht nur über das Gemeinsame reden.
Die Botschaft von Helsinki war „OSZE first“. Herausgekommen ist in der praktischen Politik: „NATO first“.
Das gehört ebenfalls dazu, wenn man den Helsinki-Prozess bilanziert.
Ich bin der Auffassung, dass wir vor der Aufgabe stehen, Politik neu zu gestalten, neu zu fassen, wieder geistig, politisch und inhaltlich am Helsinki-Prozess anzuknüpfen, tatsächlich Abrüstung voranzubringen, das Völkerrecht zu stärken und nicht weiter zu demontieren und
Menschenrechte sowohl im sozialen wie auch im individuellen Bereich - beides ist notwendig - umzusetzen.
Wenn wir in diesem Sinne mit dem Helsinki-Prozess umgehen, werden wir nicht alte Kontroversen neu führen
müssen, sondern können neue Politik gestalten.
Danke sehr.
({3})
Das Wort hat
jetzt der Herr Bundesaußenminister Joschka Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon
von allen Rednern und Rednerinnen betont worden, dass
die Schlussakte von Helsinki zweifellos eines der
weitsichtigsten und wirkungsvollsten politischen Dokumente der Nachkriegszeit gewesen ist und dass der gesamte Prozess wie auch die Schlussakte selbst entscheidend zur friedlichen Überwindung der Spaltung Europas, auch Deutschlands und Berlins beigetragen haben
und deshalb mit Recht das Etikett „historisch“ verdienen.
Bei all den festlich gestimmten Reden möchte ich doch
zumindest zu der des letzten Redners einige kritische Anmerkungen machen. Es wurden nämlich Dinge ausgeblendet, die für den Helsinki-Prozess damals offensichtlich konstitutiv waren. Eine Entgegensetzung von Helsinki-Prozess und NATO hat historisch überhaupt keinen
Bestand. Ohne die NATO hätte es den Helsinki-Prozess
nicht gegeben. Das muss man einmal konstatieren.
({0})
- Ich muss jetzt gar nichts zu meiner persönlichen Meinung sagen; ich spreche nur von der Historie. Ohne die
Tatsache, dass es einen europäischen Integrationsprozess
gegeben hat, und ohne den Transatlantismus hätte es den
Helsinki-Prozess nicht gegeben. Andererseits wäre der
Helsinki-Prozess ohne die Unterdrückung der Ost- und
Mitteleuropäer, ohne die Unterdrückung der Menschenrechte durch die damalige Sowjetunion gar nicht
notwendig gewesen. Dies muss man ebenfalls hinzufügen.
({1})
Insofern halte ich überhaupt nichts davon, entscheidende Fakten auszublenden. Wenn man dies tut, kann man
sich meines Erachtens die Zustimmung zur OSZE schenken; denn dann hat man den historischen Prozess nicht begriffen. Dann ist es eine weihevolle Rede, die aber den politischen Prozess - es handelt sich schließlich um eine politische Organisation mit einer Wirkung, die man zu Recht
historisch nennen kann - entwertet, weil man die für die
Fortentwicklung dieses Prozesses notwendigen Konsequenzen nicht zieht.
Damit spreche ich auch Herrn Wimmer an. Sie haben
hier Kofi Annan zitiert. Ich möchte Ihnen nur sagen, dass
Kofi Annan sehr deutlich darauf hingewiesen hat - dies ist
für mich eine der Verpflichtungen für die zukünftige
Gestaltung -, dass das Prinzip der Souveränität, so wichtig es auch als Grundlage des Regelns des Zusammenlebens der Staaten in der Welt ist, in der Welt von morgen
keinen Absolutheitsanspruch dergestalt mehr haben kann,
dass es menschenmörderische oder gar völkermörderische Handlungen von Regierungen bzw. Diktatoren und
vor allen Dingen die Tatenlosigkeit, das Zusehen der
internationalen Staatengemeinschaft rechtfertigen würde.
({2})
Ich bin der Meinung, dass man Kofi Annan vollständig zitieren sollte.
Insofern sehe ich eine enge, übrigens auch organisationelle Verbindung zwischen dem Geist des Helsinki-Prozesses und der Entwicklung auf dem Balkan. Damit Sie
mich nicht missverstehen: Die KVM ist für mich keine
gescheiterte Mission. Hätte Milosevic wirklich die Zeichen der Zeit erkannt und hätte er seine Politik geändert,
wäre er kompromissbereit gewesen, dann wäre die KVM
sogar eine sehr erfolgreiche Mission geworden.
Ich denke, dass gerade die OSZE gezeigt hat, dass sie
eben nicht nur ein traditionelles Sicherheitssystem ist, so
wichtig dies ist, sondern dass sie auch fortentwicklungsfähig ist. Dies wird an vielen Punkten im Bereich der
ehemaligen Staaten der GUS deutlich, wo die OSZE eine
erfolgreiche, konfliktpräventive Arbeit geleistet hat. Wir
haben es auch auf dem Balkan gesehen und sehen es im
Kaukasus.
Das alles gründet auf eine der großen Traditionen, deren es im Grunde drei gibt, auf die Tradition der Abrüstung. Herr Wimmer, wenn Sie uns mangelndes Engagement vorwerfen, dann kann ich Ihnen nur sagen, dass es
unter den Bedingungen des Tschetschenien-Krieges und
auch der Bereitschaft einzelner sehr wichtiger Bündnispartner, eher auf Konfrontation zu gehen, einer sehr
großen Anstrengung bedurfte, nicht nur im Vorfeld von
Istanbul, sondern auch in Istanbul selbst, diese Fortentwicklung hinzubekommen.
({3})
Die Bundesregierung hat sich mit allem Nachdruck dafür
eingesetzt.
Aber ebenso wichtig wie der Abrüstungsprozess ist das
System kollektiver Sicherheit. In diesem Zusammenhang
möchte ich Ihnen sagen: Meines Erachtens war der Ansatz
zum Stabilitätspakt vom Helsinki-Prozess inspiriert.
Wenn wir jetzt über den finalen Status des Kosovo reden,
dann sollten wir die Instrumente und den Geist von Helsinki wieder aufnehmen. Wir können das nicht heute entscheiden, schon gar nicht entlang des Interesses nur einer
Bevölkerungsgruppe. Vielmehr müssen die Interessen
aller Nachbarn berücksichtigt werden, wenn Frieden, Stabilität und demokratische Entwicklung eine Chance haben sollen.
({4})
Das ist für mich ein direkter Nutzen aus der Anwendung
des Helsinki-Prozesses.
Vielleicht war der große historische Fehler - damit ich
nicht missverstanden werde: im Rückblick; ich werfe das
niemandem vor, sondern schließe mich da selbstkritisch
mit ein -, dass wir beim Auseinanderbrechen Jugoslawiens zu sehr auf die Substanz der Entscheidung und zu wenig auf das Verfahren geachtet haben. Der Kern des Verfahrens von Helsinki war, bei sich im Grunde absolut
widersprechenden politischen Positionen die Gemeinsamkeit in den Vordergrund zu stellen. Deswegen bin ich
der festen Überzeugung: So wichtig die innere Aussöhnung im Kosovo heute ist, so wichtig wird es sein, dass
wir einen Prozess der regionalen Stabilität und Sicherheit
entwickeln, in dessen Zuge sich alle Beteiligten auf bestimmte Verfahren einigen, die einzuhalten sind.
({5})
Das ist für mich der entscheidende Punkt.
({6})
- Selbstverständlich. Ein demokratisches Serbien hat legitime nationale Interessen.
({7})
Genauso wie die Albaner im Kosovo legitime Interessen
haben, so gilt das für Mazedonien, so gilt das für Griechenland, so gilt das für Bulgarien - für alle Beteiligten!
Regionale Stabilität und Sicherheit durchzusetzen heißt:
Anerkenntnis der legitimen Interessen - und zwar von
Gleich zu Gleich -, Anerkenntnis der Grenzen, Anerkenntnis des Prinzips der Gewaltfreiheit und Anerkenntnis der Lösung dieser Probleme auf der Grundlage von
Vertrag und Recht.
({8})
Nur, das werden Sie mit Herrn Milosevic - damit Sie
mich nicht missverstehen: leider! - nicht bekommen. Das
wissen Sie so gut wie ich.
({9})
- Anders als bei Herrn Breschnew heißt das Prinzip von
Milosevic Krieg. Breschnew war sicher ein Diktator. Das
Prinzip, auf dem die Macht der Sowjetunion gründete,
war innere Unterdrückung - nicht aber Krieg, nicht aber
„ethnische Säuberung“. Das ist ein wichtiger Unterschied.
({10})
- Ich möchte den Unterschied herausarbeiten. CDU-Bundeskanzler saßen mit ihm an einem Tisch - zu Recht; ich
habe das nicht zu kritisieren. Ich möchte nichts von der
Sowjetunion schönmalen, sondern den klaren Unterschied zu Herrn Milosevic herausarbeiten: Bei Milosevic
hat das Prinzip Krieg, das Prinzip „ethnische Säuberung“,
das Prinzip Massenvergewaltigung, das Prinzip Vertreibung gegolten, und zwar nicht einmal, sondern insgesamt
viermal - und Weiteres wäre gefolgt. Man hat doch beim
besten Willen alles versucht, mit ihm zu einem Vertrag zu
kommen. Es war nicht möglich, weil er jeden Vertrag gebrochen hat. Damit ist ein Prozess analog zu Helsinki
nicht möglich, weil ein solcher ein Minimum an Vertrauen
und Vertragstreue voraussetzt, damit er überhaupt ins
Laufen kommen kann.
({11})
Wir sehen in der Konfliktprävention und zivilen Krisenbewältigung eine große Herausforderung. Dies gilt
insbesondere für die Fortentwicklung des Korbs III, wo
sich Freimut Duve mit seiner wirklich bewundernswerten
Arbeit für unabhängige Medien einsetzt. Die Frage der regionalen Sicherheitsstrukturen habe ich bereits angesprochen. Dies wird im Kaukasus sehr große Bedeutung haben.
Die OSZE bietet auch für Konfliktmonitoring und all
diese Aspekte eine hervorragende Grundlage. Schließlich
bindet sie als kollektives Sicherheitssystem eine Vielzahl
von Staaten ein, zwingt sie auch und bietet Instrumente selbst wenn sie nicht immer einen direkten Durchgriff
ermöglichen - damit diese Staaten eingebunden werden
können, was wir gerade auch im Zusammenhang mit
Tschetschenien gesehen haben.
Es ist ein Ansatz, der mehr Frieden, mehr Zivilität bei
der Überwindung von Spaltung, Teilung und Unterdrückung in der Welt von gestern möglich gemacht hat. Es
ist ein sehr moderner Ansatz, den wir im 21. Jahrhundert
weiter verfolgen und fortentwickeln wollen.
Ich bedanke mich.
({12})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Friedbert Pflüger.
Frau Präsidentin!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bitte erlauben
Sie mir zunächst, dem Generalsekretär der OSZE und
auch dem deutschen Botschafter Bettzüge, der hier ebenfalls anwesend ist, im Namen der CDU/CSU, ich glaube
aber, auch im Namen aller ganz herzlich für den großartigen Einsatz zu danken, den sehr viele OSZE-Mitarbeiter
in inzwischen über 20 Kurz- und Langzeitmissionen überall auf der Welt, die oft sehr gefährlich sind, leisten. Hier
ist eine großartige Arbeit geleistet worden. Die OSZE hat
inzwischen eine einmalige Kompetenz, was Krisenbewältigung, Durchführung von Wahlen, Aufbau ziviler
Strukturen und Friedensschaffung im eigentlichen Sinne
angeht. Wir brauchen die OSZE in der Zukunft. Sie ist ein
unverzichtbarer Bestandteil. Herzlichen Dank und alles
Gute für die weitere Arbeit.
({0})
Meine Damen und Herren, ich möchte am Anfang etwas zu dem sagen, was der Kollege Gehrcke und auch der
Bundesaußenminister eben über die Historie gesagt haben. In der Tat ist es etwas schwierig nachzuvollziehen,
Herr Kollege Gehrcke, dass Sie sich hier hinstellen und
die KSZE als die große Friedensweichenstellung feiern,
wenn man sich vor Augen hält - das darf ich doch
sagen -, woher Sie kommen und was Sie damals gemacht
haben.
({1})
1968 waren Sie Gründungsmitglied der DKP. 1968 war
das Jahr, in dem die Warschauer-Pakt-Truppen in Prag
einmarschierten und den Prager Frühling niederschlugen.
Damals ist die KSZE-Idee in Moskau geboren worden,
aber doch nicht mit dem Ziel, Frieden und Freiheit oder
auch nur Dialog in Europa zu schaffen, sondern mit dem
Ziel, die Breschnew-Doktrin international abzusichern,
die Systemgrenzen abzusichern, die Menschen zu unterdrücken, eine klare Trennungslinie zu schaffen, jenseits
derer der Westen kein Recht zur Intervention hat. Das war
damals der Moskauer Ansatz, der frevelhaft ist. Deswegen können die guten Worte, die Sie jetzt hier gesagt haben, nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Lager in
der ganzen Phase dieser Auseinandersetzung total versagt
hat.
({2})
- Es ist gut, dass Sie aus Ihren Fehlern lernen, aber man
wird sie auch noch benennen können. Denn das hilft für
die Zukunft.
Es war ein weiterer Fehler, jahrelang OSZE und NATO
gegeneinander auszuspielen. Hier gucke ich ein wenig in
Richtung der SPD.
({3})
Ich habe sehr oft gehört: Vertraut nicht so sehr der NATO!
Macht keine NATO-Erweiterung! Viel wichtiger ist das
Instrument der OSZE. Immer, wenn es irgendwo Krisen
gab und sich der Westen entschied einzugreifen, kam die
Forderung: Lasst es die OSZE zuerst machen!
({4})
Ich glaube, beides zusammen ist wichtig. Das ist die
Lehre, die aus den Ereignissen der letzten Jahre zu ziehen
ist. Wir brauchen die NATO auch in Zukunft, wenn es um
manifeste Konflikte geht. Nur die NATO ist ein militärisches Bündnis und das werden wir leider Gottes auch in
der Welt von morgen ab und zu benötigen, weil sich die
Menschen nicht wesentlich verbessern.
Gleichzeitig kommt die OSZE mit ihren großartigen
Mechanismen der Krisenbewältigung und der Prävention
dazu. Aber beides zu seiner Zeit.
({5})
Deswegen ist diese Debatte darüber, ob OSZE first oder
NATO first, völlig unsinnig und sollte nach der heutigen
Debatte wirklich ein für alle Mal der Vergangenheit angehören.
Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist ganz wichtig, dass wir uns noch einmal für eine Sekunde vergegenwärtigen, was mit der KSZE eigentlich in Gang gesetzt
worden ist. Wie gesagt, Moskau wollte sie benutzen, um
die Systemgrenzen zu zementieren. Der Westen war
zunächst sehr ablehnend. Er hatte den Verdacht, dass für
alle Zeiten ein Nachkriegs-Status-quo anerkannt wird.
Dann erst haben manche erkannt - ich gebe zu, meine
eigene Partei ein bisschen spät -, was für eine große
Chance gerade in der Idee der Unverletzlichkeit der Grenzen liegt.
({6})
Wir haben die Unverletzlichkeit der Grenzen anerkannt und damit die Voraussetzung geschaffen, dass die
Grenzen überwunden werden können. Erst die Idee der
Unverletzlichkeit der Grenzen, der Anerkennung des Status quo hat es möglich gemacht, Formen des Dialogs, der
Zusammenarbeit zu entwickeln und die Freiheit von Menschen, Informationen und Meinungen durchzusetzen.
Das war der entscheidende Punkt der KSZE. Man hat
die Ideen, die Meinungen, die Informationen an der
Grenze nicht mehr aufhalten können. Die Bürgerrechtler
jenseits der Grenze hatten plötzlich eine Berufungsinstanz. Die Charta-77-Leute, die KOR-Leute in Polen, die
Solidarnosc sind mit dem KSZE-Dokument, mit der
Schlussakte von Helsinki zu ihren jeweiligen Regierungen gegangen und haben gesagt: Ihr selbst habt unterzeichnet, dass es Menschenrechte und Freizügigkeit gibt,
dass wir verreisen können müssen.
Damit hatten sie plötzlich eine Sprengkraft entfaltet.
Überall wuchsen die Helsinki-Watch-Komitees aus dem
Boden. Es war die große Leistung der KSZE, die Einheit
Europas vorzubereiten. Es war der erste wirkliche Sargnagel des Systems des real existierenden Sozialismus.
Den Dank an all diejenigen, die damals an der KSZE mitgewirkt haben, sollten wir heute in der Tat aussprechen.
Er ist wirklich wichtig.
Meine Damen und Herren, Jalta ist überwunden und
Europa ist durch die KSZE wieder europäisiert worden.
Wir waren nach dem Ende des Krieges als Europäer nicht
nur materiell am Boden. Vielmehr waren die Machtzentren an die Peripherie oder sogar aus Europa herausgerückt: Moskau und Washington. Das eigentliche Europa, die alte Welt, war entmachtet. Mit der KSZE haben
wir Europa das erste Mal wieder zum Akteur gemacht,
ohne uns von Amerika oder Russland zu distanzieren. Das
Gute an der KSZE/OSZE ist, dass sie alle drei Gravitationszentren der internationalen Politik - Europa, Amerika
und Russland - zusammenbindet, aber in Europa den Fokus hat. Das ist die große Leistung.
Wir haben Europa mit der KSZE europäisiert, es den
Europäern wieder zurückgegeben. Wir haben die europäischen Staaten zu handelnden Objekten gemacht. Das haben auch Staaten wie Rumänien genutzt. Die Rumänen
haben zum Beispiel in Verhandlungen so etwas wie die
Unverletzlichkeit von Grenzen, keine militärische Intervention durchgesetzt. Großer Dank an die rumänische Diplomatie bei allem, was man sonst zur Diktatur des rumänischen Systems sagen kann!
({7})
Hier sind plötzlich Bewegungsspielräume entstanden.
Die Idee Mitteleuropa etwa hat sich aus dieser KSZE entwickelt, zum Beispiel aus der Nachfolgekonferenz in
Budapest. Aus der Mitteleuropaidee ist dann die Gesamteuropaidee gewachsen. Das ist eine große Leistung. Die
KSZE ist der erste Schritt auf dem Weg zur Wiedervereinigung Europas.
Mit der EU-Erweiterung werden wir jetzt einen weiteren wesentlichen Schritt in diese Richtung gehen. Das ist
die große zentrale Aufgabe der Zukunft: EU, OSZE und
NATO zusammen müssen die Sicherheitsarchitektur der
Zukunft bestimmen, mit Russland und Amerika, aber bestimmt von uns selbst, von diesem Kontinent, von diesem
großartigen Europa.
({8})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Gert Weisskirchen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es lässt sich
jetzt leider nicht verhindern - ich hatte das gar nicht gewollt, lieber Kollege Pflüger - auf Folgendes hinzuweisen: Natürlich kann man andere kritisieren, aber dann
muss man auch fair sein und dem Plenum deutlich
sagen - Sie haben das indirekt getan -: Die CDU/CSU
war es, die mit den albanischen Kommunisten die
Schlussakte von Helsinki abgelehnt hatte.
({0})
Das ist nun einmal leider eine historische Realität.
Ich freue mich, dass wir heute darüber debattieren. Ich
fand es sehr ermutigend und erfrischend, dass der Außenminister hier über Selbstkritik gesprochen hat. Zur Selbstkritik gehört aber auch Folgendes - das sage ich an unsere
eigene Adresse, an die der Sozialdemokratie - :
Die erste Phase - Sie haben sie beschrieben - war die
Annäherung und Anerkennung des Status quo. Daraus ergab sich die Möglichkeit der Schaffung von Berufungsfällen für die Opposition, für die Dissidenz. Dadurch sind
die inneren Kräfte zur Veränderung ermutigt worden. Wir
haben dazu beigetragen.
Als es dann von der Phase der Annäherung zur Auflehnung kam, haben viele bei uns berechtigte und verständliche Angst gehabt. Ich verweise auf die Vorkommnisse auf dem Tiananmen-Platz in Peking. Es hätte sein
können, dass diese ungeheuere Dynamik, dass die Menschen ihre Sache in die eigene Hand nehmen, sich auf die
Freiheit selbst berufen, diese erkämpfen, die Angst hinter
sich lassen und gegen die diktatorischen Regimes auftreten, die Gefahr hervorruft, dass alles in gefährliche Situationen, Krieg und Auseinandersetzung mündet, wie dies
1968 in Prag der Fall war.
In diesem Moment haben bei uns viele gezögert und
nicht das getan, worauf einige in den osteuropäischen
Ländern gewartet haben, nämlich die unverbrüchliche Solidarität deutlich und öffentlich zu hören. Das ist ein Moment der Selbstkritik, das wir ernst nehmen müssen.
Der wichtigste Punkt ist: Die dritte Phase von der Auflehnung zur Selbstbestimmung, die mit der Pariser Charta
zusammenhängt, hat mit Milosevic - dass muss man, Herr
Gehrcke, einfach hinzufügen - einen Endpunkt gesetzt.
Nachdem Jugoslawien bereit war, sich an der KSZE und
OSZE zu beteiligen, kam es zu einem Wechsel hin zur
Selbstbestimmung in einer anderen Form als wir in Westeuropa und auch viele andere Länder in Ost- und Mitteleuropa es gewohnt waren: Selbstbestimmung wurde von
Milosevic als Nationalismusrückfall in faschistische
Strukturen missbraucht. Um an den Werten der KSZE und
der OSZE festhalten zu können, mussten wir etwas dagegen unternehmen und mussten sozusagen die Mauer der
Werte verteidigen, mit der Folge, dass die Sache letztlich
so schrecklich ausgegangen ist, wie wir das alle mitempfunden haben.
Wenn der Außenminister heute davon spricht, dass wir
nicht nur über Substanzfragen, sondern auch über Verfahrensfragen reden müssen, ist das eine gewisse Form der
Selbstkritik. Ich würde doch darum bitten, dass wir alle an
diesem Punkt die richtigen Schlußfolgerungen ziehen.
Die wichtigste Schlußfolgerung gegenüber Jugoslawien
ist, den Stabilitätspakt in die Realität umzusetzen. Das ist
die wirkliche Aufforderung, die von Helsinki ausgeht und
die dazu führen kann, dass der Südosten Europas den Anschluss an das findet, was die KSZE ausgelöst hat, nämlich die Selbstbestimmung zur Demokratie. Das fehlt jetzt
in der Republik Jugoslawien.
({1})
Dazu können wir alle etwas beitragen.
Die wichtigsten Prinzipien der KSZE standen ganz am
Anfang, nämlich erstens Menschenrechte und zweitens
Demokratie. Das ist die wichtigste Grundmelodie der
Werte.
({2})
- Das wurde operativ in die Regime der Abrüstung umgesetzt, Herr Gehrcke. Es wurde umgesetzt in staatliche
Anerkennung. Dahinter lag doch etwas ganz anderes.
Schauen Sie sich doch einmal an, was Willy Brandt im
Oktober 1962 gesagt hat:
Herr Kollege,
gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?
Gerne, bitte
schön.
Lieber Herr Kollege, können
Sie uns nicht zumindest noch sagen, dass zu den allerwichtigsten Prinzipien von Helsinki „nicht Krieg“, also
Frieden gehörte und dann Menschenrechte? Denn die
Menschenrechte nutzen nichts, wenn Bomben fallen.
Lieber Herr
Kollege, seien Sie doch mal ehrlich zu sich selbst, wenn
Sie diese Frage stellen! Wer war es denn, der in Jugoslawien drei Kriege geführt hat, bis die internationale
Staatengemeinschaft gesagt hat, jetzt müsse Schluss sein?
Der vierte Krieg war vorbereitet. Das war doch Milosevic.
Oder sehe ich das ganz falsch?
({0})
Bitte denken Sie noch einmal darüber nach, ob die Substanz Ihrer Frage in eine andere Richtung führt!
Willy Brandt hat im Oktober 1962 gesagt:
Wir haben die Formen zu suchen, die die Blöcke von
heute überlagern und durchdringen. Wir brauchen so
viel reale Berührungspunkte und so viel sinnvolle
Kommunikation wie möglich. Wir brauchen uns vor
dem Austausch von Wissenschaftlern und Studenten,
von Informationen, Ideen und Leistungen nicht zu
fürchten.
Das hat die Grundlage für den KSZE-Prozess gelegt.
Die Mauer, die hier stand, aber keinen Bestand haben
konnte, war die Stein gewordene Ohnmacht der damaligen Regimes gegenüber dem Willen der Menschen, etwas
aufzubauen, etwas festzuhalten. Dass die Mauer gefallen
ist und die Regimes gestürzt worden sind, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Menschen begriffen und
gewollt haben, dass die KSZE etwas mit ihrer individuellen Freiheit zu tun hat. Das hat den Bann gebrochen und
schließlich dazu geführt, dass dieses Europa nun endlich
zur Demokratie und zur Rechtsstaatlichkeit in allen unterschiedlichen Regionen kommen kann. Das ist der Auftrag
der OSZE und der KSZE und den werden wir fortsetzen.
({1})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Hans Raidel.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Nach so vielen Ausflügen in die Geschichte - wir sind sehr dankbar für alles,
was hier geschehen ist - darf ich mich einigen praktischen
Fragen der Gegenwart zuwenden.
Wir sind uns alle darüber einig, dass die OSZE einen
entscheidenden Beitrag zum Aufbau einer europäischen
Sicherheitsarchitektur leistet. Der Unterschied zu früher
ist: Die KSZE hat sich von einer Konferenz zu einer Organisation gemausert. Sie hat als Organisation jetzt ganz
bestimmte Aufgaben zugewiesen erhalten, die Sie ja alle
in Ihren Beiträgen bereits beschrieben haben.
Im November 1999 wurde in Istanbul die europäische
Sicherheitscharta unterschrieben. Sie regelt viele Organisationsfragen und stellt diese neuen Instrumente zur
Verfügung, die nun weiter gehen, als das früher bei der
KSZE denkbar und üblich war. Künftig sollen also in diesem Rahmen die Koordination der verschiedenen sicherheitspolitischen Aktivitäten vorgenommen und die jeweils geeigneten Mittel dazu entwickelt werden.
Neu ist seit Istanbul natürlich auch, dass zur Verhütung
und zur Beilegung von Konflikten die OSZE zu eigenen
friedenserhaltenden Maßnahmen berechtigt ist, weil sie
mittlerweile als regionale Organisation im Sinne der UNCharta deklariert worden ist. Das war früher bei der KSZE
nicht der Fall.
Die früheren Aufgaben sind geblieben, also Abrüstung,
Rüstungskontrolle, militärische Vertrauensbildung, Konfliktvorbeugung, Demokratisierung, Überwachungsaufgaben bei Wahlen. Neu sind zusätzliche Instrumente, eben
diese React-Gruppen, die in Konfliktsituationen schnell
und frühzeitig vor Ort sein sollen und als zivile Komponente von Friedensoperationen dienen.
Ein wichtiges Instrument ist der erweiterte Polizeieinsatz, der die Durchsetzung von Menschenrechten und
Grundfreiheiten unterstützen soll, zum Beispiel durch
Überwachungs- und Beobachtungsaufgaben, und der vor
allem die lokalen Polizeiorganisationen zu unterstützen
hat.
Gert Weisskirchen ({0})
Um dieses alles organisatorisch zu bewältigen, wird im
Sekretariat in Wien ein neues Operationszentrum aufgebaut, das den schnellen Einsatz dieser Missionen vorzubereiten hat.
Zusammengefasst heißt das: Der Organisationscharakter der OSZE und ihre Rolle als praktisches Instrument
der präventiven Diplomatie werden weiter ausgebaut. Damit wächst die Bedeutung der OSZE. Die Unterzeichnung
des KSE-Änderungsvertrages während des Istanbul-Gipfels unterstreicht auch die unveränderte Rolle der OSZE
als Dach der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa. Es steht also künftig ein breites Spektrum von Optionen zur Konfliktregelung zur Verfügung. Damit hat die
Charta von Istanbul eines geschafft: Sie hat der gesamteuropäischen Sicherheit erstmals klarere Konturen verliehen. Die OSZE steht jetzt gleichberechtigt - das war
früher auch nicht der Fall - neben NATO, EU und WEU.
Nun geht es darum, in Absprache miteinander jeweils das
richtige Instrument zu entwickeln.
Die deutsche Rolle ist mitentscheidend bei all den Prozessen gewesen. Wir haben immer hervorragende Schrittmacherdienste geleistet. Dies wird natürlich von unseren
Partnern anerkannt. Aber es werden auch weiterhin hohe
Erwartungen an uns gerichtet. Ich glaube, wir werden
diese Erwartungen erfüllen. Wir stellen uns der Verantwortung und leisten Beiträge durch qualifiziertes Personal, durch entsprechendes Gerät und vor allem durch den
nicht zu unterschätzenden finanziellen Beitrag.
Ich möchte an dieser Stelle, Herr Minister, auch einmal
alle Damen und Herren Ihres Hauses loben, die bei der
OSZE arbeiten. Es gibt viele Konzepte und gut durchdachte Instrumentarien, die im Auswärtigen Amt entwickelt worden sind, die bereits auf den Weg gebracht
worden sind und mit denen entscheidende Organisationshilfe geleistet wird. Aber - das möchte ich kritisch anmerken - wenn wir von hier aus alle diese Dinge unterstützen und die entsprechenden Aktivitäten positiv sehen,
so muss ich doch feststellen, dass das ganze System einen
entscheidenden Mangel hat, nämlich den, dass die
Parlamentarische Versammlung der OSZE noch immer keine formellen Kompetenzen im Entscheidungsprozess der OSZE hat und dass viele wichtige Entscheidungen weiterhin ohne die Einbeziehung der Parlamentarier
getroffen werden. Das ist in meinen Augen nicht in Ordnung, in einer Zeit, in der wir darüber reden, wie beispielsweise die Mechanismen in Europa verändert werden können, und wie das, was national zu entscheiden ist,
nun auch auf der nationalen Ebene verbleiben kann. Wie
soll denn für die OSZE Akzeptanz geschaffen werden,
wenn das Parlament in Wirklichkeit nicht an den Entscheidungen beteiligt ist? Insoweit hat auch die heutige
Debatte einen entsprechenden Mangel: Wir können Bitten
äußern, aber wir können die Regierung in entscheidenden
Punkten nicht beauftragen, gemäß der Meinung des Parlamentes zu handeln. Ich selber bin der Meinung, dass in
weiteren Reformschritten diese Defizite beseitigt werden
sollten, damit Distanzen zur OSZE abgebaut werden.
({1})
In der Öffentlichkeit gilt: die OSZE, das unbekannte
Wesen.
Wir führen hier eine Insiderdebatte. Häufig wird die
OSZE auch unter Wert dargestellt. Draußen begreift die
Bevölkerung nicht, wie wichtig dieses Instrument auf allen Ebenen geworden ist. Ich meine, es müsste allmählich
auch in Deutschland wieder mehr über Sicherheit öffentlich diskutiert werden, um ein besonderes Gefühl für die
Sicherheit und auch das notwendige Gefühl für die Finanzierung zu entwickeln; denn es muss heuer noch über
die Finanzierung der OSZE gesprochen werden. Der
Beteiligungsschlüssel ist neu festzulegen. Im Klartext:
Die OSZE braucht mehr Geld. Der Haushalt für OSZEEinsätze muss wesentlich angehoben werden, wenn all
das, was Sie positiv formuliert haben, auch in die Wirklichkeit umgesetzt werden soll.
Diese Nagelprobe wird zeigen, wie ernst die gefassten
Beschlüsse und ihre Umsetzung genommen werden, vor
allem bei uns in Deutschland. Jetzt kommt es darauf an,
dass alle Mitgliedstaaten die OSZE fördern und entsprechend ausstatten, damit sie die ihr zugedachten Aufgaben
wirklich erfüllen kann.
Für uns alle gilt: Sicherheit kostet etwas. Herr Minister, an Sie ist die Bitte gerichtet, dass Sie bei den jetzt anstehenden Haushaltsberatungen dafür sorgen, dass das
notwendige Geld wirklich zur Verfügung gestellt wird,
weil sonst - Sie haben das ein bisschen kritisiert - auch
dieser Tag nur eine festliche Veranstaltung mit Festtagsreden bleibt, bei der alle immer in der ersten Reihe sitzen.
Wenn es darauf ankommt, hinsichtlich der Handlungsfähigkeit Entscheidendes sicherzustellen, dann kommt
dem Geld die wichtigste Rolle zu.
Herr Kollege, kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.
In dieser Frage ziehen wir
gerne an einem Strang. Wir unterstützen Sie zwar; aber
die Vorreiterrolle liegt natürlich bei Ihnen.
Vielen Dank.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Antrag der Fraktionen von SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „25 Jahre KSZE/OSZE“
auf Drucksache 14/3666? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von
SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung von F.D.P. und PDS angenommen.
Wer stimmt für den Antrag der Fraktion der F.D.P. mit
dem Titel „OSZE stärken“ auf Drucksache 14/3674? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist
mit den Stimmen von F.D.P. und CDU/CSU bei Enthaltung der übrigen Fraktionen angenommen.
({0})
- Es gibt doch immer wieder Überraschungen mit dem
Sprechzettel.
Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der PDS
Haltung der Bundesregierung zur jüngsten
Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation, wonach Deutschland im internationalen
Vergleich der Gesundheitssysteme Platz 25
einnimmt
Für die Fraktion der PDS, den Antragsteller, gebe ich
der Kollegin Dr. Ruth Fuchs das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Vorige Woche hat die WHO in London die
Ergebnisse eines internationalen Vergleichs der Gesundheitssysteme vorgestellt. Die Länder wurden daraufhin
untersucht, was sie mit den zur Verfügung stehenden finanziellen und personellen Ressourcen an medizinischer
Versorgungsqualität und an Gesundheitsgewinn für ihre
Bevölkerung tatsächlich erreichen können.
Nun haben wir es amtlich: Unser Gesundheitswesen
erhält keine so gute Bewertung, wie manche immer wieder glauben machen wollen. Auch wenn beim ersten Versuch einer solchen Rang- und Reihenfolge methodisch
vieles zu hinterfragen ist, hat Gro Harlem Brundtland, die
international angesehene Generaldirektorin der WHO,
doch völlig Recht: Diese Studie ist für die Verantwortlichen vieler Länder eine unangenehme Lektüre.
Auch bei uns sollte die Einstufung des deutschen Gesundheitswesens auf Platz 25 zumindest Anlass für tiefere
Nachdenklichkeit sein.
({0})
Denn diese Einstufung ist umso alarmierender, als das
deutsche Gesundheitswesen auch unbestreitbare Stärken
hat, die durchaus eine entsprechende Berücksichtigung
gefunden haben. So erreicht unser im Wesentlichen noch
immer auf Solidarität beruhendes System beim Vergleich
hinsichtlich einer gerechten Verteilung der finanziellen
Lasten immerhin einen weit vorne liegenden sechsten
Platz. Ähnlich positiv ist die Einordnung bei der Patientenorientierung. Auch Infrastruktur und wissenschaftlichtechnische Leistungsfähigkeit erhielten mit Recht sehr
gute Noten.
Offensichtlich hat die WHO die gravierenden
Schwächen des deutschen Gesundheitswesens aber nicht
übersehen. Zu ihnen gehören beispielsweise die vielfältige Zersplitterung aufseiten der Leistungserbringer, insbesondere die Trennung zwischen dem ambulanten Sektor und dem Krankenhaus. Es gehört dazu die mangelnde
Kooperation innerhalb der ambulanten Versorgung mit
vielen unnötigen Doppel- und Mehrfachuntersuchungen.
Hinzu kommt eine Steuerung durch Vergütungssysteme,
die ärztliches Handeln tendenziell in eine medizinisch
nicht begründete Mengendynamik drängen. Außerdem
führt das verständliche Streben nach einzelbetrieblicher
Rentabilität vielfach zu unrationellem Mitteleinsatz und
erheblichen Effizienzverlusten im Gesamtgefüge. Ja,
mehr noch, insgesamt gilt leider: Je anreizkonformer sich
die einzelnen Leistungserbringer verhalten, desto unwirtschaftlicher arbeitet das Gesamtsystem.
({1})
Dies hat zusammen mit mangelnder Bedarfsplanung
und dem Fehlen übergreifender Gesundheitsziele neben
kostspieliger Überversorgung eben auch weite Bereiche
mit Unter- bzw. Fehlversorgung geschaffen. Gerade die
zunehmend wichtige Prävention ist für Letzteres ein trauriges Beispiel.
Im Ergebnis - darauf kam es der WHO besonders an wurden mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht
das Versorgungsniveau und jener Gesundheitsfortschritt
erreicht, die real möglich gewesen wären. Genau deshalb
haben wir den Ansatz der Gesundheitsreform 2000, bestehende Unwirtschaftlichkeiten durch Strukturreformen
abzubauen, als richtig empfunden und ausdrücklich begrüßt. Unseres Erachtens war es allerdings grundfalsch,
dieses ohnehin nur begrenzte Streben mit einem rigorosen
Sparkurs zu verbinden und darauf zu setzen, dass Rationalisierungsreserven unter dem Druck des knappen Geldes quasi automatisch erschlossen würden.
Heute ist unübersehbar, dass die Grundprobleme des
Gesundheitswesens ungelöst geblieben, dafür aber Unzufriedenheit und Verärgerung auf allen Seiten weiter gewachsen sind. Überall, bei Versicherten bzw. Patienten
wie bei Leistungserbringern, verstärkt sich das Gefühl,
dass es so nicht weitergehen kann.
({2})
Vor diesem Hintergrund muss sogar befürchtet werden,
dass die Gesundheitsreform 2000 objektiv den Boden für
eine weitere Aushöhlung des Solidargedankens bereitet.
Schon hat mit Kanzler Schröder ein führender oder, besser gesagt, der führende SPD-Politiker erstmals öffentlich
die Auffassung vertreten, dass es im Gesundheitswesen
ohne zusätzliche finanzielle Selbstbeteiligung der Versicherten nicht mehr gehen wird.
({3})
Das ist ein klarer Bruch mit bisherigen sozialdemokratischen Grundpositionen.
({4})
Wenn das Praxis würde, dann wäre das nichts anderes als
die Fortsetzung des Marsches in die Zwei-KlassenMedizin, wie er zu Zeiten der Kohl-Regierung bereits
angetreten wurde. Dem werden wir uns entschieden entgegenstellen; denn für uns gilt nach wie vor: Eine allen
Menschen gleichermaßen zugängliche und humane Gesundheitsversorgung bleibt nicht nur sozial gerecht, sondern sie ist bei entsprechendem politischen Willen und
vor allem bei entsprechendem politischen Handeln auch
machbar, und zwar auch unter den sich verändernden
Rahmenbedingungen in dieser Gesellschaft.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Professor Dr. Martin Pfaff.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS hat eine Aktuelle Stunde
zum Weltgesundheitsbericht 2000 durchgesetzt und es ist
auch ihr gutes Recht, das zu tun. Ich frage mich allerdings,
Frau Kollegin, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, wenn
wir das im Ausschuss ordentlich vorbereitet hätten,
({0})
weil ein so komplexes Thema mit so vielen Facetten dies
erfordert.
({1})
Ich will nicht die Frage an Sie und auch nicht an mich
selbst richten, ob wir wirklich jedes Wort in diesem Bericht so gründlich gelesen haben, wie er es verdient hätte.
({2})
Ist das heute vielleicht auch ein bisschen Show oder geht
es wirklich nur um die Substanz oder schwingt bei einigen gar ein bisschen Schadenfreude mit?
({3})
Das wäre natürlich ein ganz großer Hammer. Denn, so
frage ich, soll, nachdem die deutsche Fußballmannschaft
entzaubert worden ist, dies nun auch mit unserem soliden
Gesundheitswesen geschehen, das heißt, soll es einen
Nackenschlag nach dem anderen geben?
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie in anderen Bereichen des Lebens wird natürlich auch hier - deshalb
auch meine etwas frivole Zuspitzung - nicht so heiß gegessen wie gekocht; denn erstens sind die Befunde zum
Verhältnis von Gesundheitskosten und -ertrag nicht so
neu, wie viele vielleicht glauben. Zweitens - vielleicht ist
auch das wichtig - sind die Befunde selbst, die Verfahren,
die Methoden zu hinterfragen. Drittens - das ist der ernste Teil - enthalten diese Befunde auch eine Botschaft.
Wenn sie richtig aufgegriffen wird, können wir daraus
Gewinn ziehen.
Ich beginne mit dem ersten Punkt. Schon in den 80erJahren gab es eine Studie englischer Gesundheitsökonomen, die aufzeigten, dass, wenn man die Ressourcen im
Gesundheitswesen mit dem gesundheitlichen Ertrag, gemessen an der Lebenserwartung, vergleicht, Deutschland
im Vergleich zu anderen Industrienationen so gut nicht
aussehen würde. Also nichts Neues. Die WHO-Studie
geht ein bisschen weiter, aber im Grundsatz misst sie den
Erfolg des Gesundheitswesens in ähnlicher Art. Man
könnte natürlich fragen, was diese Studie, wenn wir bei
einigen Indikatoren schlecht, bei anderen mittelmäßig
und bei wiederum anderen relativ gut abschneiden, über
das System insgesamt sagt.
Die erste Botschaft könnte beispielsweise lauten:
Deutschland hat das zweitteuerste Gesundheitswesen.
Wir brauchen also nicht mehr Geld im System, sondern
mehr Qualität. Das ist eine Forderung, die auch ohne die
Schlussfolgerungen dieses Berichts erwägenswert ist.
Zum Zweiten könnte man natürlich fragen, ob hier
nicht teilweise ein rein statistisches Produkt vorliegt,
nachdem sich im Zuge der deutschen Einigung die Lebenserwartung in den neuen Ländern leider nicht überall
an die des Westens angeglichen hat, die Kosten aber gestiegen sind.
Ich meine, der Bericht sagt mehr über die Gesundheit
der Menschen in Deutschland aus als über die Gesundheitsversorgung. Die Gründe hierfür möchte ich jetzt
gleich ansprechen:
Erster Grund: Wir wissen, dass die Gesundheit der
Menschen von vielen Faktoren, dem Lebensumfeld, der
Lebensführung, dem Ernährungsverhalten, dem Bewegungsverhalten, dem Wohnumfeld, den Arbeitsbedingungen und vielem mehr, abhängt. Die gesundheitliche Versorgung, das ist anerkannter Stand der Sozialmedizin, ist
nur ein Faktor von vielen. Das Ergebnis der Gesundheitsversorgung an einem Indikator zu messen, nämlich der
Lebenserwartung minus Jahre der Krankheit, ist zumindest zu hinterfragen.
Zweiter Grund: Selbst die WHO ist sehr vorsichtig. Sie
macht nur Intervallaussagen. Wenn man nun den obersten
Wert des Intervalls für Deutschland zum Beispiel bei der
Zielerreichung nimmt und nicht nur den angegebenen
Mittelwert, dann liegen wir zusammen mit der Schweiz
auf Platz 2. Man sieht also, wie fragwürdig die Ergebnisse
sind.
Dritter Grund ist die Frage der Vergleichbarkeit. Die
Länder, die Invalidität und Krankheit exakt und präzise
messen, bekommen einen höheren Abzug qualitativ wertvoller Lebensjahre als die anderen. Wir sind ja im Allgemeinen dafür bekannt, dass wir die Sachen sehr viel akribischer angehen.
Lassen Sie mich deshalb etwas freimütig einen
berühmten Satz des ersten Trägers des Nobelpreises für
Ökonomie, Pauls Samuelson, zitieren. Er sagte: Wenn Sie
mir die Wahl der Annahmen überlassen, kann ich Ihnen
alles beweisen, was Sie sehen wollen.
({5})
Ich sage dazu: Wenn Sie uns die Annahmen, die Methoden und die Verfahren, übrigens auch bei der Gewichtung
der Teilindikatoren und bei der Aggregation, wählen lassen - wer sagt denn, dass man Indikatoren einfach zusammenzählen und dann dividieren darf? -, dann beweise
ich Ihnen alles.
Dennoch bleibt ein ernster Kern übrig, liebe Genossinnen und Genossen.
({6})
- Entschuldigung, ich wollte sagen, liebe Kolleginnen
und Kollegen. Aber auch die anderen, die noch Genossinnen oder Genossen werden wollen, dürfen sich angesprochen fühlen. Es tut mir Leid.
Erstens. Der Zielerreichungsgrad unseres Gesundheitswesens muss ernsthafter hinterfragt werden. Wir
müssen uns nämlich auch fragen, ob wir überhaupt die Instrumente haben, um gesundheitliche Ziele in Einzelbereichen zu verfolgen. Ich meine, wir haben sie nur teilweise. Das ist der erste Kernpunkt.
Der zweite Kernpunkt ist die Frage, wo wir ansetzen
müssen, um die Unterschiede beim Gesundheitsstatus zu
beseitigen.
Es muss ja irgendetwas an dem Urteil von Fachleuten
dran sein, die auch in Kenntnis der Realität sagen, das von
Bismarck geschaffene deutsche Gesundheitswesen zählt
zu den besten der Welt.
({7})
Ich sage, das liegt an den genialen Grundprinzipien dieses
Systems, was auch von diesem Bericht nicht bestritten
wird.
Ich erwarte, dass diese Wertschätzung des deutschen
Gesundheitswesens auch international noch gegenwärtig
sein wird, wenn dieser Bericht, zumindest in Teilen, schon
vergessen ist.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({8})
Für die CDU/CSUFraktion gebe ich nunmehr das Wort dem Genossen
Dr. Wolf Bauer.
({0})
Herr Präsident! Meine
Damen! Meine Herren! Diese Bemerkung hat mich hart
getroffen, das muss ich ehrlich sagen.
({0})
Ich meine aber, dass jedem einmal ein Versprecher passieren kann. Es hat mich nur verwundert, Herr Kollege,
dass Sie ausgerechnet in dem Moment in unsere Richtung
geschaut haben. Hätten Sie dabei nach links geschaut,
hätte ich ja dafür Verständnis gehabt.
Ich möchte jetzt auf das eingehen, was Sie gesagt haben, Herr Kollege Pfaff. Es ist in der Tat nicht ganz einzusehen, warum wir heute diese Aktuelle Stunde durchführen. Besser wäre es gewesen, dieses Thema im Ausschuss vernünftig zu beraten, zumal wir heute bestimmte
Aspekte nur mehr oder weniger wahllos herausgreifen
und entsprechende Anmerkungen machen können.
Es ist mit Sicherheit eine große Fleißarbeit geleistet
worden, um diese Daten zusammenzutragen. Ich muss allerdings sagen: Quantität der zusammengetragenen Daten
und Qualität der daraus gezogenen Schlussfolgerungen
klaffen in vielen Bereichen sehr stark auseinander.
Da wir weltweit nicht über die gleichen Rahmenbedingungen verfügen, führt die Datenerhebung und damit die
Grundlage für eine derartige Expertise schon deshalb nahezu zwangsläufig zu Problemen. Denn Hunger und
Krieg auf der einen und Wohlstand und soziale Sicherung
auf der anderen Seite markieren deutlich die unterschiedlichen Verhältnisse, in denen - ich muss sagen: leider Menschen leben müssen.
Es drängt sich daher die Frage auf: Kann man überhaupt in allen Mitgliedstaaten vergleichbare Daten abfragen? Noch schwieriger wird es, einen einheitlichen Maßstab zu finden, mit dem sich die Qualität zum Beispiel des
amerikanischen Gesundheitswesens genauso gut messen
lässt wie die Qualität des Gesundheitswesens im krisengeschüttelten Afghanistan.
Gleichwohl meint die WHO, anhand von fünf Kriterien
die Qualität der Gesundheitssysteme in 191 WHO-Mitgliedstaaten beurteilen zu können. Nach der Gesamtauswertung liegen Frankreich und Italien ganz vorn; Sierra
Leone bildet auf Platz 191 das Schlusslicht; die Schweiz
liegt an 20., Deutschland an 25. und die USA an 37. Stelle.
Angesichts dieses Ergebnisses geraten viele, die hierzulande mit unserem Gesundheitssystem zu tun haben,
schon kräftig ins Staunen. Sollte unser Gesundheitswesen
mit all seinem Know-how, einem Höchstmaß an medizinisch-technischen Leistungen, mit zahlreichen ambulanten und stationären Gesundheitsangeboten und mit den
vielfältigen erfolgreichen Forschungsaktivitäten, vor allem auf dem Gebiet der Krebsbekämpfung, wirklich
schlechter sein als das Gesundheitssystem Frankreichs
und Italiens?
Hat nicht manch einer von uns aus dem Urlaub den
Eindruck mitgenommen, dass unser Gesundheitswesen in
vieler Hinsicht nachahmenswert ist? Festzuhalten ist
auch, dass Deutschland bei der Leistungsfähigkeit des
Gesundheitssystems einen beachtlichen 5. Platz einnimmt auch darauf ist schon hingewiesen worden - und ebenso
bei der Zufriedenheit mit der medizinischen Versorgung.
Ein interessantes Detail betrifft die Selbstbeteiligungsquote. In den Industrieländern zahlen die Patienten durchschnittlich 25 Prozent der Arzt- und Medikamentenkosten
aus eigener Tasche. In den USA muss der Patient 56 Prozent selbst bezahlen, in Indien 80 Prozent und in den
meisten Entwicklungsländern sogar alles. Die Selbstbeteiligungsquote in Deutschland liegt um einiges unter den
durchschnittlichen Selbstbeteiligungsleistungen der Industrienationen in Höhe von 25 Prozent. Darauf haben wir
seitens der Union in der Vergangenheit immer wieder hingewiesen und mit der Einführung von sozialverträglich
ausgestalteten Zuzahlungsregelungen entsprechend verantwortungsvoll gehandelt.
Wir sind von Rot-Grün für diese sozialverträglich gestalteten Zuzahlungen permanent kritisiert worden.
({1})
Noch im Bundestagswahlkampf 1998 hat die SPD angekündigt, sich besonders der Zuzahlungen anzunehmen
bzw. angeblich überhöhte Zuzahlungen ganz abzuschaffen. Wenn Sie diese Ankündigung ernst genommen hätten, Frau Kollegin, hätten Sie das auch machen müssen
({2})
und hätten nicht ganz moderat auf lediglich acht, neun und
zehn DM absenken dürfen. Das entspricht doch gar nicht
dem, was Sie vor der Wahl versprochen haben.
({3})
Es scheint in der Koalition - das ist vielleicht ein Lichtblick - mittlerweile die Einsicht gereift zu sein, dass es
notwendig ist, eine sozialverträglich ausgestaltete Selbstbeteiligung wieder verstärkt in die Diskussion zu bringen.
Ich möchte noch eine letzte Bemerkung zu dem WHOGesundheitsreport machen.
({4})
- Vielleicht doch, Herr Thomae. - Sollte Rot-Grün weiterhin völlig konzeptlos an unserem Gesundheitssystem
herumexperimentieren, ist es fraglich, ob wir zukünftig
selbst den 25. Platz in der WHO-Liste halten können. Mit
Budgetierung, die automatisch zur Rationierung führt, ist
das in der Tat mehr als fraglich.
({5})
Ich gebe das Wort der
Parlamentarischen Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Gesundheit, Christa Nickels.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Frage, wie das deutsche Gesundheitssystem im internationalen Vergleich zu bewerten ist, war schon immer Gegenstand von Spekulationen
und auch von Wunschdenken; denn die vorhandenen Daten und Informationsgrundlagen reichen in aller Regel
nicht aus, um solche komplexen Leistungsvergleiche anzustellen.
Richtig ist, dass in den vergangenen Jahrzehnten die internationalen Organisationen zahlreiche Anstrengungen
unternommen haben, um die Qualität der Informationen
zur Beschreibung der unterschiedlichen Systeme zu
verbessern, und dass dabei auch Fortschritte erzielt wurden. Aber es gibt immer noch keine solide Datengrundlage, die einen internationalen Leistungsvergleich von
Kosten und Qualität wirklich zulässt.
Nun hat die Weltgesundheitsorganisation mit ihrem
Bericht „Health Systems: Improving Performance“ für
das Jahr 2000 einen Versuch in diesem schwierigen Feld
auf der Grundlage der ihr verfügbaren Daten unternommen und eine Hitliste der Gesundheitssysteme erstellt.
Dieser Versuch ist interessant und er ist diskussionswürdig. Die Absicht der WHO, ihren Mitgliedstaaten damit Hinweise zur Verbesserung der Systeme und der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung zu liefern, ist
lobens- und unterstützenswert. Doch dies ist schwierig,
solange die Daten und Informationen, die dieser Erhebung zugrunde liegen, viele Mängel aufweisen. So werden zum Beispiel Expertenurteile einbezogen, die kaum
repräsentativ sein dürften, und Schätzverfahren angewendet, die äußerst zweifelhaft erscheinen. Auch werden Daten aus den Jahren 1997 und 1999 vermischt.
Was der WHO-Vergleich aber unterstreicht, ist, dass
die Höhe der Mittel, die in einem Land für das Gesundheitssystem aufgewandt werden, alleine noch kein Beweis für die Qualität der Versorgung ist. Die USA zum
Beispiel, die nach wie vor am meisten Geld für Gesundheit ausgeben, landen in keinem anderen Feld auf einem
vorderen Platz.
Unabhängig von der Qualität der Studie geht auch unser Haus davon aus, dass die Frage des allgemeinen
Gesundheitszustandes der Bevölkerung ein wichtiges
Kriterium für die Qualität der Versorgung ist und dass
außerdem Indikatoren, wie das Ausmaß der Gesundheitsunterschiede in der Bevölkerung und die Patientenorientierung des Systems, von großer Bedeutung sind.
Der Ansatz der Weltgesundheitsorganisation bestärkt
uns deshalb in unseren Leitzielen: stärkere Patientenorientierung, mehr Qualität und Effizienz, bessere Zugangschancen für sozial Benachteiligte, mehr Gewicht für
Prävention und Gesundheitsförderung. Viele dieser Themen haben wir mit der Gesundheitsreform 2000 aufgegriffen. Ich möchte hier nur einige Stichworte anführen:
Wir haben die hausärztliche Versorgung verbessert. Die
Verzahnung zwischen ambulantem und stationärem Sektor wurde vorangetrieben. Wir sorgen für eine Stärkung
der Patientenrechte. Qualität wird zum zentralen Steuerungsparameter. Selbsthilfe und Gesundheitsförderung
werden ausgebaut.
All dies sind Bestandteile unserer Reform, die jetzt
Schritt für Schritt in die Praxis umgesetzt werden. Sie
werden die Effizienz und Effektivität unseres Gesundheitssystems weiter verbessern.
Deshalb will ich gar nicht darüber spekulieren, ob Platz 25
von 191 nun ein Platz ist, der uns bei einer Gesundheitseuropameisterschaft die Teilnahme am Viertelfinale
sichern würde oder nicht. Denn auch für das Gesundheitswesen gilt: Nichts ist so gut, als dass es nicht
noch besser werden könnte. Dabei kann uns der Blick
über die Landesgrenzen, zum Beispiel zu unseren Nachbarn in Europa, sicher helfen. Vor allem aber müssen wir
unser eigenes System immer wieder kritisch durchleuchten und auf Fehlentwicklungen hin untersuchen. Es ist
und bleibt also Aufgabe der Politik, das Gesundheitssystem auch in Zukunft zu verbessern und weiterzuentwickeln. - Vielen Dank.
({0})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Dr. Dieter Thomae.
Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Auch bei diesem Bericht der WHO zeigt sich, dass man der Arbeit der Weltgesundheitsorganisation sehr skeptisch gegenüberstehen
sollte. Ich bedaure es sehr, dass ein solcher Bericht abgefasst wurde und dass die einzelnen Länder untersucht und
analysiert wurden, ohne dass die Kriterien mit ihnen festgelegt worden wären. Das, so meine ich, ist Anlass für
uns, diese Thematik im Gesundheitsausschuss mit der
Bundesregierung zu besprechen. Denn es kann nicht sein,
dass Kriterien auf den Weg gebracht werden, die nicht genau definiert werden können und die sehr, sehr viel Spielraum lassen. Von daher wäre dies eine Angelegenheit, die
im Gesundheitsausschuss zu erörtern ist.
Sie sehen, wie problematisch dieser Fall ist, wenn Sie
zum Beispiel wissen, dass in Italien die Bettwäsche mitgebracht werden soll und das Essen ebenfalls mit ins
Krankenhaus gebracht wird. Vor diesem Hintergrund fragen Sie sich, wie die Kriterien wirklich fundiert aufbereitet werden sollen. Von daher sage ich Ihnen: Bei dem Anteil, den wir jährlich an die WHO zahlen, möchte ich in
die Lage versetzt werden, diese Kriterien mit zu bestimmen. Das ist Aufgabe der Bundesregierung.
({0})
Wir wissen alle, dass jedes System in der Welt Vorteile
und Nachteile hat. Wir wissen, dass unser System eine
Menge Vorteile hat. Es gibt jedoch auch Nachteile. Die
jetzige Bundesregierung hat die Budgetierung in den Mittelpunkt Ihrer Gesundheitspolitik gestellt.
({1})
Das ist für mich einer der größten Nachteile, die wir seit
1998 erkennen müssen.
({2})
Es zeigt sich, dass die Budgetierung dazu führt, dass chronisch Kranke in diesem System massiv benachteiligt werden.
Ich glaube, es kommt nicht von ungefähr, dass wir jetzt
feststellen, dass Untersuchungen beweisen, dass chronisch Kranke nicht mehr die hoch innovativen Arzneimittel bekommen. Ich sage Ihnen: Das ist unverantwortbar!
({3})
Ich bitte Sie wirklich, diese Politik zu ändern. Denn es
nützt nichts, wenn Sie den Bürgern sagen, sie bekämen alles, ihnen dann aber über die Budgetierung Leistungen abgeschnitten werden. Dann ist mir - das sage ich so deutlich - eine sozialverträgliche Zuzahlung erheblich lieber.
Denn dadurch erhält derjenige, der finanziell benachteiligt ist, über die Härtefallregelung, über die Überforderungsregelung immer die notwendige medizinische
Leistung.
({4})
Wir hatten in der alten Koalition in diesem Bereich einen vernünftigen Weg eingeschlagen. Beginnen Sie, Ihre
Entscheidung für die Budgetierung zu überdenken; es ist
dringend Zeit. Dann könnten wir mit Ihnen weiter über
den richtigen Weg diskutieren.
({5})
Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Eike Hovermann.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn die WHO eine
Studie vorlegt, derzufolge das deutsche Gesundheitssystem im internationalen Vergleich nur an 25. Stelle liegt,
also weit hinter Spanien, Italien und Portugal, so freut das
sicherlich zunächst niemanden von uns.
({0})
Aber, der Weltgesundheitsreport, um den es hier geht und den sicherlich alle gelesen haben, Frau Dr. Fuchs,
über 200 Seiten in Englisch -, verdient es, eingehend betrachtet und analysiert zu werden. Wie Sie wissen, basiert
die Studie auf Daten aus den Jahren 1997 und
1999 - vermischt, wie die Frau Staatssekretärin zu Recht
erklärt hat. Aber vergessen hat sie, dass die Daten
zunächst einmal ein Spiegel sind für 16 Jahre Gesundheitspolitik von Herrn Kohl, Herrn Seehofer und von Ihnen, Herr Dr. Thomae.
Kolleginnen und Kollegen, ich möchte aber nicht so
weit gehen wie die „Ärzte-Zeitung“, die das WHO-Ranking als „Statistik der Absurditäten“ bezeichnet hat. Doch
es ist sicher zulässig zu behaupten, dass sowohl die erhobenen Daten als auch die Indikatoren dieser Studie nicht
tragfähig sind, um die Leistung von Gesundheitssystemen
insgesamt angemessen zu bewerten - ein Umstand, der
Ihnen, verehrte Frau Dr. Fuchs, bei genauerem Lesen der
Studie eigentlich nicht entgangen sein dürfte.
Ich frage mich deshalb wie mein Vorredner ernsthaft
nach dem Sinn dieser Aktuellen Stunde. Wollen Sie
tatsächlich ein Gesundheitssystem wie in Frankreich, das
zwar auf Platz eins der Gesamtwertung liegt, aber in der
Frage der gerechten Verteilung der Kosten nur auf
Platz 28? Oder möchten Sie von der PDS vielleicht ein
Gesundheitssystem wie in den USA? Denn dort sind die
Patienten laut Studie am zufriedensten - erstaunlich,
wenn man bedenkt, dass gerade dort die Kosten besonders
hoch sind, die Verteilung der Kosten fragwürdig und ein
großer Teil der Bevölkerung überhaupt nicht krankenversichert ist.
Obwohl es für eine abschließende Bewertung sicher
noch zu früh ist, möchte ich doch sagen, dass ich den Aussagewert eines solchen Rankings für begrenzt halte. Ich
vermute aber, dass diese Studie für Sie von der PDS als
willkommener Anlass genommen worden ist, um die rotgrüne Gesundheitspolitik zu attackieren.
Ich möchte Sie von der PDS fragen, ob es wirklich verantwortlich ist, in einer Zeit knapper werdender finanzieller Ressourcen - auch bedingt durch den Aufbau des
Gesundheitssystems Ost, durch Milliardentransfers von
den West- zu den Ostkassen - schlecht über unser Gesundheitssystem zu reden. Das ist es insbesondere dann
nicht, wenn man bedenkt, dass seit dem Regierungswechsel durch die Gesundheitsreform 2000 erhebliche Schritte
für eine bessere gesundheitliche Versorgung eingeleitet
worden sind, deren Wirkungen in der WHO-Studie überhaupt noch nicht erfasst worden sind.
Natürlich ist es immer wieder wichtig, die Frage nach
der Qualität unseres Gesundheitssystems neu zu stellen
und dabei auch den internationalen Vergleich nicht zu
scheuen. Deshalb frage ich Sie: In welchen anderen Ländern gibt es so umfangreiche Ansprüche auf Prävention
und Rehabilitationsleistungen - wenn auch für uns immer
noch zu wenig - wie in Deutschland?
({1})
In wie vielen europäischen Ländern ist die Zuzahlung zu
Arzneimitteln ähnlich niedrig?
({2})
Und nicht zuletzt frage ich: Wo wird so viel Wert auf gute
Ausbildung und Qualitätssicherung gelegt wie bei uns?
Trotzdem gibt es keinen Grund zur Selbstzufriedenheit. Denn die Kosten - das hat diese Studie eindrucksvoll
belegt - sind im Vergleich zu den erbrachten Leistungen
immer noch zu hoch. Wer meint, es müsse nun noch mehr
Geld in das Gesundheitssystem gepumpt werden, hat aus
unserer Sicht nicht die richtige Vorstellung von der Gesundheitspolitik der Zukunft. Wir müssen nämlich dafür
sorgen, dass unser System der gesundheitlichen Versorgung zukunftsfähig bleibt. Die Bundesregierung hat mit
der Reform 2000 die ersten Schritte getan.
Dazu einige Beispiele: Mit der Gesundheitsreform 2000 haben wir erstmalig für sämtliche Versorgungsbereiche eine Verpflichtung zum umfassenden Qualitätsmanagement gesetzlich fixiert. Mit der integrierten
Versorgung - Sie haben die Situation von 1997/98 skizziert; nun ist ja inzwischen etwas passiert ({3})
wird die Abschottung einzelner Versorgungsstufen beendet.
Damit ist der Weg für ein verstärkt patientenorientiertes Gesundheitssystem geebnet. Auf der Grundlage von
auf „evidence based medicine“ basierenden Leitlinien
werden erstmalig in der Geschichte des deutschen Gesundheitswesens Kriterien definiert, um auch in Zukunft
eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung zu
gewährleisten. Wir werden dabei in Zukunft noch mehr
als bisher darauf achten müssen, dass wir im Rahmen der
solidarischen Krankenversicherung die vorhandenen Mittel sinnvoll und effektiv einsetzen und nicht sofort nach
einer Trennung von Pflichtleistungen und Wahlleistungen
oder gar nach Beitragserhöhungen rufen oder über die
Budgetierung lamentieren, bevor wir die Einsparpotenziale, die in bestimmten Bereichen noch in Milliardenhöhe vorhanden sind, ausgeschöpft haben.
({4})
Derzeit arbeitet die Bundesregierung - das ist ein Anliegen von mir und wird sehr entscheidend sein - an den
rechtlichen Grundlagen für die Zusammenführung und
Auswertung von Gesundheitsdaten, die eine vernünftige
und qualitätsorientierte Steuerung der Mittel überhaupt
erst möglich machen. Über all diese Aufgaben - da
stimme ich mit der überwiegenden Zahl meiner Vorredner
überein - hätte man im Gesundheitsausschuss lange und
ausgiebig diskutieren müssen, anstatt dieses Thema hier
in fünfminütigen Reden - gezwungenermaßen nur oberflächlich - anzugehen. Das heißt, Sie haben uns dazu verleitet, etwas zu tun, was wir eigentlich nicht tun sollten.
Frau Dr. Fuchs, Herr Dr. Thomae und alle anderen lieben Kolleginnen und Kollegen und Genossen, ich bin sicher, dass wir, wenn die von der Regierung eingeleiteten
Schritte langsam greifen, den internationalen Vergleich
weder jetzt noch in Zukunft scheuen müssen und dass wir
Deutschland im zukünftigen Wettbewerb auf EU-Ebene
zum Gesundheitsstandort Nummer eins machen können.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({5})
Für die CDU/CSUFraktion spricht die Kollegin Annette Widmann-Mauz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege
Hovermann, dass Sie zum jetzigen Zeitpunkt noch von
milliardenschweren Einsparpotenzialen in der GKV sprechen, ist natürlich vor dem Hintergrund verständlich, dass
Sie im Zuge der Haushaltsplanberatungen 2001 milliardenschwere Steinbruchpotenziale, zum Beispiel die beabsichtigten Einsparungen bei den Beiträgen der Arbeitslosenhilfebezieher, brauchen, was aber in Zukunft nicht zu
einem wirklich guten und fundierten Gesundheitssystem
beitragen wird. Das, was Sie hier dargestellt haben, ist
sehr verräterisch.
({0})
Ist Deutschland zweitklassig? Als ob es nicht schon
schlimm genug wäre: Nicht nur im Fußball sind wir grottenschlecht. Nein, laut WHO-Bericht sind wir auch noch
im Gesundheitswesen weit abgeschlagen. Anders unser
Nachbar Frankreich: Er ist der aktuelle Fußballweltmeister, spielt um die Europameisterschaft und hat gemäß dem
Gesundheitsbericht der WHO das beste Gesundheitssystem der Welt. Italien liegt an zweiter und Spanien an dritter Stelle. - Auch die haben übrigens gute Fußballmannschaften. - Deutschland liegt hinter Zypern auf Platz 25.
Da müssen wir uns schon fragen: Was ist denn da eigentlich passiert?
Sicher, über die Methode dieser Studie lässt sich im
Einzelnen streiten. Da wird so mancher Apfel mit einer
Birne verglichen. Dennoch liegt unterm Strich erstmals
ein internationaler Vergleichsmaßstab vor, den wir durchaus ernst nehmen sollten; denn darin steckt eine ganze
Menge an politischer Brisanz.
Ich möchte einen Punkt hervorheben: Wenn die Regierungsfraktionen hier sagen, dies sei entweder das Ergebnis einer langfristig verfehlten Politik der heutigen Opposition oder wissenschaftlicher Unfug, dann haben sie den
Bericht aus meiner Sicht nicht aufmerksam gelesen. Der
Bericht betont nämlich, Deutschland sei im Bereich FairEike Maria Hovermann
ness of Financial Contribution mit führend. Das heißt, wir
haben eines der sozial gerechtesten Gesundheitssysteme
der Welt. Genau das wird von Gro Harlem Brundtland
ausdrücklich gewürdigt.
Noch nach dem Bundestagswahlkampf haben Sie Gift
und Galle gespuckt und von Sozialabbau, sozialer Kälte,
Unanständigkeit in der Politik usw. geredet. Natürlich war
das, was Sie damals geredet haben, alles Unsinn. Dennoch
haben Sie ohne Not eine „Kehrwende“ in der Gesundheitspolitik verkünden müssen und ein gesundheitliches
Chaos geschaffen. Die Reduzierung von Zuzahlungen
und die Rücknahme von angeblichen Leistungsausgrenzungen sollten - so war Ihr Anspruch - den Solidargedanken in der gesetzlichen Krankenversicherung stärken,
ohne die Beitragssätze zu erhöhen.
Doch heute ist das Gegenteil festzustellen: Jetzt fehlt
das Geld und Sie flickschustern mit Finanzsteuerung und
Budgets herum. Die Vergangenheit hat doch gezeigt auch die Gegenwart macht es wieder deutlich -, dass Budgets zu Rationierung und zur Kürzung medizinischer
Leistungen führen. Ihr Festhalten an Budgets führt in unserem Land in die Zwei-Klassen-Medizin.
({1})
Teure Behandlungen werden zum Privileg derer, die sich
diese Behandlungen finanziell leisten können.
({2})
- Kollegin Schmidt-Zadel, ich werde das gleich noch weiter ausführen.
Budgets sind keine adäquate Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft: auf die demographische
Entwicklung, den medizinischen Fortschritt und die
steigende Erwartungshaltung der Menschen. Dort, wo
Deutschland laut WHO richtig gut ist, bei der sozialen Gerechtigkeit, vermurksen Sie die Dinge. Dort aber, wo objektiv Reformbedarf besteht, kommen Sie nicht zu Potte
bzw. verschärfen die Probleme. Ihre dirigistische Budgetierungspolitik vermindert die Effizienz unseres Gesundheitssystems. Genau das beklagt der WHO-Bericht.
In der Praxis sieht das dann folgendermaßen aus - es
wäre schon gut, wenn Sie mir zuhörten, Frau SchmidtZadel, zumal Sie vorhin deutlich gemacht haben, dass Sie
diesen Bericht noch nicht ganz verstanden haben -:
({3})
Bei der Therapie der multiplen Sklerose, bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder bei Antirheumatika gibt es ganz
neue, hoch innovative Präparate, die zugleich effizient
und schonend sind. Leider werden diese Arzneimittel nur
sehr selten verschrieben, weil sie teuer und die Budgets
ausgeschöpft sind. Diese Bundesregierung verlagert mit
ihrer Politik, ob sie es will oder nicht, das Morbiditätsrisiko auf den Arzt und der Patient ist am Ende der Dumme.
({4})
In letzter Konsequenz werden ihm diese Mittel vorenthalten. Was die WHO am deutschen System bemängelt, wird
von Rot-Grün geradezu kultiviert. Wenn Sie so weitermachen, werden wir beim nächsten Ranking auf Platz 87 stehen.
Wir brauchen leistungsfähige Strukturen, um die Fairness in unserem Gesundheitswesen zu erhalten. Die Teilhabe aller am medizinischen Fortschritt darf keine Frage
des Geldbeutels werden.
({5})
Die Beitragseinnahmen der Krankenversicherung werden mit den durch die steigende Nachfrage verursachten
Kosten nicht Schritt halten. Bei begrenztem Finanzbudget
kann es keine unbegrenzten Leistungen geben. Wir brauchen mehr Flexibilität und Wahlfreiheit. Kernleistungen
müssen solidarisch finanziert werden, Wahlleistungen
durch gestärkte Eigenverantwortung subsidiarisiert werden.
({6})
Wir brauchen Wettbewerb und Solidarität. Wir brauchen einen fairen Sozialstaat. Wir brauchen eine neue Politik für eine neue Zeit. Unsere Diskussionspunkte, liebe
Kolleginnen und Kollegen, liegen seit letzter Woche auf
dem Tisch. Wir haben vorgelegt. Jetzt ist es an Ihnen
nachzulegen.
({7})
Für Bündnis 90/Die
Grünen spricht nun die Kollegin Katrin Göring-Eckhardt.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sollten aufhören, von Fußball zu reden. Das
Ausscheiden der deutschen Mannschaft hat uns alle ins
Mark getroffen; es ist sicherlich sehr schmerzhaft für uns.
({0})
Wir sollten diese Debatte auf die Gesundheit beschränken
und allenfalls über die Prävention diskutieren, die durch
den Breitensport erreicht wird.
Wenn wir heute über den WHO-Bericht sprechen, gibt
uns das zumindest Gelegenheit, von der alltäglichen Diskussion über Detailfragen abzugehen und einmal einen
globalen Blick auf das Gesundheitssystem im Kontext zu
richten. Dieser Report bewirkt, dass wir uns Gedanken
darüber machen, wo wir mit unserem Gesundheitssystem
im internationalen Vergleich stehen, woran wir uns zu
messen haben. Er gibt uns natürlich auch Gelegenheit, darüber nachzudenken, welche Kriterien zugrunde gelegt
wurden. Dass wir darauf künftig Einfluss nehmen, halte
ich für selbstverständlich.
Bei der Bewertung des Gesundheitssystems insgesamt
erreicht Deutschland nur Platz 25. Das kann uns eigentlich nur anspornen, das System in Deutschland weiter zu
verbessern. Ich glaube, da sind wir auf dem richtigen
Weg.
Sehen wir uns einmal die Werte im Einzelnen an: Bezüglich des allgemeinen Gesundheitszustandes steht
Deutschland mit Platz 41 auf dem ungünstigsten Platz.
Bei dem Maß, das die Gleichheit der Überlebenswahrscheinlichkeit von Kindern misst, wird uns nur Platz 22
zugewiesen. - An dieser Stelle nur ein Beispiel dafür, wo
diese Bundesregierung Maßnahmen ergriffen hat - dieser
Bericht bezieht sich ja auf Ihre Regierungszeit -: Mit dem
Programm „Umwelt und Gesundheit“ setzen wir bei dem
Gesundheitszustand von Kindern an. Ich nenne als Stichwort nur die Messung der Grenzwerte im Umweltbereich
in Kindernasenhöhe. Wir haben Maßnahmen ergriffen,
die zu einer deutlichen Verbesserung des Gesundheitszustandes führen. - Bei der Bewertung der Erreichung von
Gesundheitszielen liegt Deutschland sehr viel weiter
vorne, nämlich auf Platz 14. Für mich ist es sehr erfreulich - da stimme ich Ihnen zu, Frau Widmann-Mauz -,
dass wir bei der Bewertung der Gerechtigkeit der finanziellen Lastenverteilung mit Platz 6 bis 7 ganz gut abschneiden.
Auch bezüglich der Akzeptanz des Systems in
Deutschland haben wir einen guten Platz. Das kann nur
Indiz dafür sein, dass von dem, was insbesondere Sie,
Herr Thomae, hier gerade vorgetragen haben, also von einer Rationierung der Leistungen, keine Rede sein kann.
Für uns ist die Akzeptanz des Systems ein wichtiger Wert,
den wir erhalten wollen. Das heißt aber auch, dass es Veränderungen im System geben muss, damit die damit verbundenen Werte der Solidarität und der Gerechtigkeit erhalten bleiben können.
({1})
Fazit kann also nur sein: Im deutschen Gesundheitssystem besteht weiterhin Handlungsbedarf, was die Verbesserung der medizinischen Leistungen, der Transparenz
und der Selbstbestimmung angeht. Es war und bleibt richtig, das System zu reformieren.
({2})
Weiterhin wird deutlich, dass wir trotz hoher Ausgaben
für Gesundheit nicht diejenigen sind, die im internationalen Vergleich am längsten leben oder am gesündesten
sind.
Ich möchte noch auf die Ziele und Schlussfolgerungen
des Reports näher eingehen. Der Report hat sich ein hohes Ziel gesetzt, nämlich weltweit alle Gesundheitssysteme anhand bestimmter Indikatoren zu vergleichen.
Viele haben gesagt, dass die Erhebung der Daten möglicherweise unzureichend und die Methoden der Datenerfassung verbesserungswürdig seien. Trotzdem will ich Ihnen kurz sagen, welche Intentionen des Reports ich für
richtig halte.
Der Report hat zum Ziel, die gesundheitliche Versorgung in der ganzen Welt zu verbessern; die Ziele eines Gesundheitssystems sollen klarer erkennbar werden. Im
Rahmen der Verbesserung der Gesundheit geht es eben
nicht nur um die Bewahrung der individuellen Gesundheit, sondern wird auch danach gefragt, wie viel die Menschen dafür zahlen und was sie dafür bekommen. Nach
Ansicht der WHO betrifft das nicht nur das Niveau und
die Menge der Versorgung. Innerhalb des Systems sollen
auch Ungleichheiten reduziert werden: Diejenigen, denen
es am schlechtesten geht, dürfen nicht von Armut bedroht
sein, wenn sie krank werden.
Obwohl weltweit viel Geld für das Gesundheitssystem
ausgegeben wird, werden die Potenziale, so auch in
Deutschland, nicht genutzt. Auch darf ein Gesundheitssystem nicht allein die Gesundheit der Bürger im Blick
haben. Es muss im Fall der Krankheit ebenso vor Armut
schützen. Gerade in den armen Ländern stellt das ein besonderes Problem dar.
Die Verwaltung des Gesundheitssystems - auch das ist
eine Frage, über die wir weiter nachdenken sollten - muss
mit Augenmaß betrieben werden, ohne auf einem Auge
blind oder zu engstirnig zu sein.
All diesen Zielen kann ich nur zustimmen. Wir sind uns
der Verantwortung bewusst, ein Gesundheitssystem auf
hohem Niveau festschreiben und es trotzdem finanzierbar
halten zu müssen. Ich glaube, dass die Politik dieser
Regierung in einigem mit den Zielen dieses Reports übereinstimmt, wenn auch nur auf nationaler Ebene. Wie in
dem Bericht angesprochen, geht es nicht allein um den
technischen und medizinischen Fortschritt, sondern auch
um die Zufriedenheit und das Gefühl der Aufgehobenheit
der Bürgerinnen und Bürger. Ich glaube, dass wir da auf
einem guten Weg sind.
Wir hoffen und gehen davon aus, dass wir in dem
nächsten Bericht der WHO weiter nach vorne rücken,
dass wir die Qualität des Systems in Deutschland verbessern, dass wir Solidarität mit Eigenverantwortung verbinden, Belastungen und Leistungen in ein vernünftiges Verhältnis setzen und dass das große Vertrauen, das das Gesundheitssystem in Deutschland genießt, weiter Maßstab
für Politik bleibt, so wie das seit Übernahme dieser Regierung der Fall ist.
Vielen Dank.
({3})
Für die Fraktion der
PDS spricht der Kollege Dr. Ilja Seifert.
Herr Präsident! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf
der Tribüne! Ich bin schon ein bisschen verwundert: Da
legt eine angesehene internationale Organisation einen
Bericht vor, in dem das Gesundheitssystem der Bundesrepublik Deutschland nicht besonders gut abschneidet;
aber anstatt in sich zu gehen und ein bisschen selbstkritisch zu sein, zeigt man - mit Ausnahme der Kollegin
Göring-Eckardt; da klang das wenigstens etwas an - mit
dem Finger auf das Bewertungssystem der WHO, als
wenn diese der Bundesrepublik Böses wollte.
Das Gesundheitswesen ist doch - das sollte man sich
immer mal wieder vor Augen halten - einer der Bereiche,
in denen betriebswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Rechnungen auf jeden Fall in die Irre führen. Leider kann man
sich aber des Eindruckes nicht erwehren, dass auch die
jetzige Regierung ihr Handeln in diesem Bereich regelKatrin Dagmar Göring-Eckardt
mäßig an diesem Maßstab ausrichtet. Und es gibt noch
mehr Bereiche, in denen betriebswirtschaftliche Rechnungen nicht funktionieren: Kultur, Bildung, Wissenschaft, Wohnen, Sport usw.
Wenn man schon über Kosten redet, muss zumindest
die gesamtgesellschaftliche Sichtweise in den Blick genommen, muss eine volkswirtschaftliche Rechnung aufgemacht werden. Dabei geht es um die Frage: Was kostet
es, wenn so viele Menschen krank werden - weil sie keine
Arbeit haben oder weil sie, wenn sie Arbeit haben, unter
einem übermäßigen physischen oder psychischen Druck
stehen?
Ich habe immer noch die Illusion, dass es im Gesundheitswesen eigentlich um Menschen geht, die sich nicht
wohl fühlen: die krank sind, die ärztlicher oder pflegerischer Hilfe bedürfen. Geredet wird aber ständig nur über
Geld, bestenfalls über Versicherungen. Wo bleiben denn
da die kranken Menschen?
Dann ein Wort zu den Ärztinnen und Ärzten: Sie können sich - das bringt unser System mit sich; deswegen ist
es kritikwürdig - nicht ausschließlich oder wenigstens
vorrangig ihren Patientinnen und Patienten widmen. Sie
sind in erster Linie freie Unternehmer, wobei die Betonung nicht auf „frei“, sondern auf „Unternehmer“ liegt.
({0})
Statt sich darum kümmern zu können, wie sie kranke
Menschen gesund machen können, müssen sie, um des eigenen Überlebens willen, sehen, wie sie Geld hereinbekommen. Wenn das nicht kritikwürdig ist!
Es ist schon mehrfach gesagt worden: Unser Gesundheitssystem ist - bei all dem Positiven, das zu erbringen
es in der Lage ist - nicht nur für die Akutbehandlung da.
Bei der Vor- und Nachsorge ist noch allerhand zu tun. In
diesem Bereich könnte man durchaus auf Erfahrungen
zurückgreifen, die man zum Beispiel in der DDR gesammelt hat. Ich erinnere nur an die Dispensairebetreuung
und den Bereich der Vorsorge.
Dann haben wir zum Beispiel die unglaubliche Spaltung in ganz viele Kranken- und Pflegekassen, die auch
noch unterschiedliche Angebote haben. Dies bringt jede
Menge Probleme für diejenigen mit sich, die die Leistungen brauchen; denn die Kassen können sich nicht darüber
einigen, wer denn nun zahlt. Wenn das nicht kritikwürdig
ist!
Für ausländische Menschen ist es wirklich völlig egal,
ob bei uns die Pflege- und die Gesundheitskassen getrennt
sind oder nicht. Für diese ist das Gesamtsystem wichtig.
Hier sieht man, dass Probleme einfach erfunden worden
sind - hausgemacht -, die wir nicht haben müssten und
die wir auch nicht brauchen.
Dann haben wir ein „wunderbares“ System, das unheimlich viel Geld kostet, nämlich das Gutachter-System.
Ich nenne es immer Schlechtachter-System; aber wer
möchte das schon akzeptieren? Angeblich ist es dafür geschaffen worden, Leistungsmissbrauch zu verhindern. Ich
kann mich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass es
häufig dazu da ist, Patientinnen und Patienten zu drangsalieren. Ich sage auch, wie ich das meine: Es kann nicht
sein, dass eine Gynäkologin zu einem querschnittsgelähmten jungen Mann kommt und beurteilt, in welche
Pflegestufe er einzuordnen ist. Wenn dies ein Gutachten
sein soll, ist das in meinen Augen eine Fehlentwicklung.
Letzte Bemerkung: Ich habe am Anfang gesagt, dass
ich mich darüber wundere, dass Sie die WHO wegen ihrer Kriterien kritisieren. Es gibt in Genf eine deutsche
Vertretung bei der WHO mit hoch motivierten, sehr engagierten Menschen. Der Ausschuss für Gesundheit, zumindest ein Teil davon, war dort. Was haben uns die Menschen dort gesagt? Sie fühlen sich im Stich gelassen, sie
fühlen sich nicht in Anspruch genommen. Sie möchten
gerne ihre großen und weltweit gewonnenen Erfahrungen
auch für das deutsche Gesundheitswesen nutzen. Leider
greift auch die neue Regierung viel zu wenig darauf
zurück. Ich bitte Sie, das zu ändern.
Wenn wir mit diesem Bericht selbstkritisch umgehen,
kann vielleicht das eintreten, was sich hier verschiedene
Kolleginnen und Kollegen gewünscht haben, nämlich
dass wir beim nächsten Mal besser dastehen. Wir sollten
aber nicht nur besser dastehen, sondern es sollte auch
wirklich besser sein. Darum geht es doch!
Ich danke Ihnen.
({1})
Für die SPD-Fraktion gebe ich dem Kollegen Götz-Peter Lohmann das
Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr
geehrte Damen und Herren! Ich möchte zu Beginn auf
die Eingangsäußerungen des geschätzten Kollegen
Dr. Seifert reagieren. Ich persönlich empfinde es nicht als
Widerspruch, wenn man auf der einen Seite die Kriterien
kritisiert - ich persönlich tue das auch mit dem einen oder
anderen Kriterium, so bei dem Kriterium, über welches
ich reden werde -, und auf der anderen Seite für diese Untersuchung, für diesen Report dankbar ist. Ich sehe jedenfalls keinen Widerspruch darin, wie es bei Ihnen jetzt anklang. Vielleicht habe ich Sie auch falsch verstanden, aber
ich bitte Sie, meine Meinung zu akzeptieren.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden es sicher
verstehen, dass ich, der ich gleichzeitig Mitglied im Gesundheits- und im Sportausschuss bin, mir in diesem Report zuallererst den Bereich der Prävention und Rehabilitation herausgesucht habe. Ich habe in der Leistungsziffer
„Performance on Health Level“ den Bereich gefunden,
den man in etwa als direkten Beitrag des Gesundheitswesens zur gesunden, beschwerdefreien Lebenserwartung
bezeichnen könnte. Genau bei dieser ja nicht unwesentlichen medizinischen Leistungsziffer erhält Deutschland die Kollegin Göring-Eckardt hat schon darauf hingewiesen - den schlechtesten Platz, den Platz 41.
Über diese Beurteilung bin ich dennoch nicht erschrocken; vielmehr bin ich für die Zukunft zuversichtlich und
optimistisch. Warum? Wir haben damit begonnen, in
§ 20 SGB V - im Gesetz zur GKV-Gesundheitsreform einige Änderungen und Neuerungen gerade auf dem Gebiet der Prävention und Selbsthilfe einzubringen. Es
macht Sinn, die beiden entscheidenden Absätze zu zitieren, wenngleich hier bis auf wenige Ausnahmen weitgehend Fachleute sitzen. In Absatz 1 heißt es:
Leistungen zur Primärprävention sollen den allgemeinen Gesundheitszustand verbessern und insbesondere einen Beitrag zur Verhinderung sozial
bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen
erbringen.
Es soll genug sein. Übrigens gibt es auch Kritiker und
Spötter des Gesundheitswesens ganz allgemein. Sie finden diese generelle Bezeichnung etwas irreführend; denn
eigentlich beschäftigt sich dieser Bereich ja erst mit den
Menschen, wenn sie krank sind.
Mir ist der Bereich der Prävention, Selbsthilfe und Rehabilitation ungeheuer wichtig. Ich, der ich selbst in den
90er-Jahren auf dem Gebiet der Prävention gearbeitet
habe, denke immer noch daran zurück, wie deprimierend
es für mich war, als - ich glaube, es war 1995 oder
1996 - im Gesundheitswesen mit der Prävention Schluss
war, als die Kassen aufgehört haben, dafür zu bezahlen.
Ich konnte das schwer nachvollziehen. Aber es war so; das
ist nicht zu leugnen. Dennoch stimmt es mich für die Zukunft optimistisch. Warum?
Leider ist es zur Zeit in der Praxis noch nicht so, dass
die Leistungen der Prävention so, wie es im Gesetz steht,
gehandhabt oder angewendet werden. Das liegt zum
großen Teil daran, dass die Krankenkassen zum Beispiel
zurzeit mit dem Deutschen Sportbund verhandeln. Die
spezifischen Maßnahmen müssen von den Spitzenverbänden der Krankenkassen hinsichtlich Qualität und
Wirksamkeit anerkannt werden.
({1})
Ich kenne die Kritik meines hochgeschätzten Namensvetters aus der CDU/CSU-Fraktion gegenüber der Prävention. Ich stimme darin sogar mit ihm überein. Es muss
alles durch Kriterien abgesichert sein.
({2})
Da gab es in der Vergangenheit auch Missbrauch. Wir hoffen, dass diesem Missbrauch durch die Forderungen nach
ganz konkreten Kriterien und Leistungskatalogen ein Riegel vorgeschoben wird. Ich weiß zum Beispiel vom Deutschen Sportbund, dass er von den Krankenkassen mit harten Leistungsanforderungen und einem Katalog in die
Mangel genommen wird, weil dieser Missbrauch verhindert werden soll.
Unstrittig ist - Sie werden mir diesen Vorwurf nachsehen -, dass gerade Sportvereine und Sportverbände aufgrund ihrer Erfahrungen und ihrer Strukturen geeignete Anbieter von qualifizierten primärpräventiven Bewegungsangeboten sein können. Wir wollen mit einem
Gesundheitssiegel arbeiten. Ich finde, der organisierte
Sport ist nicht ausschließlich, aber doch in besonderer
Weise dazu geeignet, für die Gesundheitsförderung, für
die Prävention etwas zu tun.
({3})
Mein Wunsch ist, dass sich die Krankenkassen und die
Anbieter möglichst schnell einigen, wenn es geht, noch in
diesem Jahr. Es gibt da einige Probleme.
({4})
- Gut, nicht mit allen Krankenkassen. Es gibt Unterschiede. Ich weiß, dass es zum Beispiel zwischen der IKK und
dem DSB Probleme gibt. In einigen Bundesländern läuft
die Sache aber schon ganz gut.
Es ist unser Ziel, auf diesem Gebiet mit den Selbsthilfeorganisationen Rehabilitation und Prävention zu erreichen.
Wenn uns das gelingt, wenn die im Gesetz fixierten
Vorhaben hinsichtlich Prävention und Rehabilitation in
Zukunft in der Praxis realisiert werden, wird unser Gesundheitswesen - davon bin ich fest überzeugt - vom
Rang 41 im eingangs erwähnten Bereich herunterkommen bzw. einen vorderen Platz einnehmen.
Das war eigentlich
ein guter Schlusssatz, Herr Kollege.
({0})
Ja,
gut. Vielen Dank.
Ich gebe nun für die
CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Dr. Hans Georg Faust
das Wort.
Herr Präsident!
Werte Kolleginnen und Kollegen! Als Arzt, der in den
letzten 25 Jahren in einem deutschen Krankenhaus gearbeitet hat, bin ich davon überzeugt: Wir haben in Deutschland ein gutes Gesundheitssystem.
({0})
Die WHO-Studie kann zu einem objektiven internationalen Vergleich trotz des Umfangs und vieler Details nur
teilweise etwas beitragen. Die Fragen an die Methodik,
die gestellt wurden, sollten uns aus meiner Sicht aber
nicht dazu verleiten, den gesamten Bericht in einer Art nationalem Beleidigtsein als komplett unbrauchbar abzutun.
Ich hatte auch nicht den Eindruck, dass das heute so passiert ist.
Ich denke, wir sollten noch einmal nachschauen, was
für eine hohe Qualität im deutschen Gesundheitssystem
spricht. Dazu gibt es in der Tat schon Untersuchungen.
Götz-Peter Lohmann ({1})
Nach Professor Schwarz sind es der hohe und umfassende
Versicherungsgrad der Bevölkerung - das kommt teilweise auch in dem WHO-Bericht zum Tragen -, der weitgehend einkommensunabhängige Zugang zu Leistungen,
die hohen Dichteziffern von Ärzten, Krankenhausbetten,
Geräten, Arznei- und Heilmittelverfügbarkeit, die auch
Kritik auslösen, die hohen Forschungsausgaben für Gesundheitstechnologien und ein sehr günstiger Platz bei der
Sterblichkeit unter der Geburt, die diese hohe Qualität
ausmachen.
Unsere Patienten sind nach den Umfragen mit unserem
System zufrieden. Das System der gesetzlichen Krankenversicherung, der frei wählbaren Haus- und Fachärzte, der
gut erreichbaren Krankenhäuser und der funktionierenden
Rettungsdienste hat ihr Vertrauen und gibt ihnen Sicherheit. Wenn man die Aussagen der Studie der WHO näher
betrachtet - behutsam und offen für einzelne Ergebnisse -, wird man feststellen, dass sie sich mit den Untersuchungen anderer Wissenschaftler decken. Es gibt Hinweise darauf, dass die Qualität im bundesdeutschen Gesundheitswesen in der Tat optimiert werden kann;
Indikatoren dafür sind ein mittlerer Platz in der Lebenserwartung der Bevölkerung in den OECD-Staaten und ein
mittlerer internationaler Platz bei der versorgungsbedingten Frühsterblichkeit an der Volkskrankheit Herzinfarkt.
Die Fachleute kennen zum Beispiel die MONICA-Studie.
Ich spreche bewusst von einer Optimierung; denn unser austariertes und zerbrechliches Gesundheitssystem
verträgt keine Erschütterung und keine Rosskuren, schon
gar nicht solche, denen es mit dem GVK-Solidaritätsstärkungsgesetz und dem Gesundheitsreformgesetz 2000 ausgesetzt war. Die dort festgeschriebenen Maßnahmen, die
Budgetierung und der Feldzug gegen die Krankenhäuser
mit monistischer Krankenhausfinanzierung sowie Planung der Krankenhausversorgung in Kassenhand verschlechtern die Versorgung im ambulanten und stationären Bereich und das können und dürfen wir unseren Patienten nicht zumuten.
Maßnahmen wie die integrierte, sektorenübergreifende
Versorgung und die Regelungen zum Qualitätsmanagement sind zwar gut gemeint; sie sind aber überreguliert,
kompliziert und in der jetzigen Form nicht umsetzbar.
Neue Ausschüsse, neue Rahmenvereinbarungen sowie
neue Berechnungen von Risiken und Morbiditäten machen das System zunehmend komplizierter und schnüren
es immer weiter in seinen Paragraphenfesseln ein, sodass
es bald nicht mehr atmen kann.
Im ambulanten Bereich - das ist angesprochen worden - führt die Budgetierung zu erheblichen Versorgungsdefiziten von chronisch kranken Patienten mit hohem Arzneimittelbedarf. Im Bereich der Krankenhäuser
zeigt sich die nächste gefährliche - ich möchte fast sagen:
katastrophale - Entwicklung: die Art und Weise, wie das
pauschalierende Entgeltsystem eingeführt wird. Frau
Staatssekretärin, ich spreche hier nicht gegen ein neues
Entgeltsystem an sich. Ich spreche dagegen, dass dieses
Entgeltsystem als scharfes Preissystem von Anfang an
eingeführt werden soll und dass zumindest im Gesetzestext über das budgetneutrale Jahr 2003 hinaus keine Übergangsfristen vorgesehen sind. Wenn man weiß, dass nach
Expertenschätzungen die Verschiebungen von der Verlierer- auf die Gewinnerseite 10 bis 15 Milliarden DM verursachen, wobei auf das deutsche Krankenhaussystem
insgesamt als Kostenblock 100 Milliarden DM entfallen,
dann wird einem die Tragweite dieser radikalen Operation
deutlich.
Ich möchte es an einem Bild veranschaulichen: Die
Bombe ist scharf gemacht, die Zeituhr ist eingestellt und
tickt. Kein anderes Land in der Welt hat ein derart scharfes Preissystem in dieser Art und Weise eingeführt und wir
wissen nicht einmal, wie unsere vielfältige bundesdeutsche Krankenhauslandschaft mit ihren eigenen individuellen Fallmischungen mit Zu- und Abschlägen, mit ihren
unterschiedlichen Trägerschaften, mit unterschiedlichen
Versorgungsaufträgen bei der weiteren Ausgestaltung
Berücksichtigung finden soll. Das soll in diesen kurzen
Zeiträumen erst noch verhandelt werden. Ich sehe voraus,
dass die Entwicklung zumindest in den Flächenländern
zulasten der kleinen Akutkrankenhäuser in kommunaler
und frei-gemeinnütziger Trägerschaft gehen wird. Frau
Staatssekretärin, das ist keine Optimierung der Qualität,
das ist aus meiner Sicht der Versuch des Abbaus von
Krankenhausbetten auf kaltem ökonomischen Weg, nachdem der Monistikfeldzug gescheitert ist.
({2})
Kein Gesundheitssystem ist so gut, dass es sich nicht
noch optimieren ließe; kein System kann aber auch so gut
sein, dass es ohne Schaden für die Patienten politische
Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen verträgt. Die Politik der Budgetierung, der verdeckten Rationierung, der
Regulierung und des Dirigismus darf nicht fortgesetzt
werden. Das deutsche Gesundheitssystem muss vielmehr
behutsam auf den Weg von Flexiblisierung und Vertragsfreiheit gebracht werden. Wenn das nicht bald geschieht,
landen wir vielleicht wirklich mit unserem Gesundheitssystem im Weltvergleich auf einem objektiven Platz 25.
Dafür zahlen unsere Versicherten die hohen Beiträge
nicht.
({3})
Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort der Kollegin Helga Kühn-Mengel.
Herr Präsident! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Weitere Anreden verkneife
ich mir. Dass Herr Dr. Bauer uns mit „liebe Genossinnen
und Genossen“ angesprochen hat, führt dazu, dass einer
von uns beiden aus seiner Partei austreten wird.
Frau Widmann-Mauz, Sie möchte ich ansprechen, weil
Sie diese Debatte ja auch genutzt haben, um hier einen
Rundumschlag gegen die Gesundheitspolitik der Regierung zu beginnen.
({0})
Ich möchte Ihnen noch einmal sagen, dass sich dieser Bericht der WHO auf die Zahlen von 1997 und 1999 bezieht.
In Ihrer Kritik findet eine Vermischung der Zahlen aus
den beiden Jahren statt. Sie sollten aber so ehrlich sein zu
sagen, dass mit dieser Studie eben auch Ihre Gesundheitspolitik bewertet wurde. Ich kann mich gut an die Studie der OECD zu Ihrer Regierungszeit von CDU/CSU
und F.D.P. erinnern. In der damaligen Studie wurde ganz
deutlich darauf hingewiesen, dass es in unserem Gesundheitssystem erhebliche Wirtschaftlichkeitsreserven gab
und sich demgegenüber auch ein Mangel an Effizienz
zeigte.
Ich möchte auch daran erinnern, dass wir mit unserem
Vorschaltgesetz viele falsche Faktoren Ihrer Politik korrigiert haben. Wir haben die Zuzahlung zurückgenommen,
wir haben die chronisch Kranken deutlich entlastet,
({1})
wir haben die Kostenübernahme für den Zahnersatz für
Jugendliche, die nach 1978 geboren sind, wieder eingeführt, und wir haben in der Folgezeit nicht nur ganz wichtige Akzente gesetzt, sondern Weichenstellungen vorgenommen,
({2})
nämlich die Qualitätssicherung, die evidenzbasierte Medizin betont, die Prävention, die Selbsthilfe gestärkt und
die Gesundheitsförderung als wichtiges Ziel eingeführt.
({3})
Die Kriterien der vorliegenden Studie bestärken uns eigentlich darin, dass der Weg, den wir beschritten haben,
richtig ist.
Wenn ich das Bild vom Fußball, das der Kollege Pfaff
und auch andere bemüht haben, aufgreife, kann ich sagen,
dass unser Gesundheitssystem in der Tat einiges mit unserer Nationalelf gemeinsam hat.
({4})
Wir können nämlich sagen, dass die teuersten Trainer, die
meisten Therapeuten und die längste Reservebank noch
nicht dazu führen, dass man einen Pokal holt.
({5})
Das heißt, die Forderung nach immer mehr Geld, nach
weiteren Budgeterhöhungen, nach Öffnung und nach Abschaffung der Budgets ist ganz ausdrücklich nicht der
richtige Weg. Das zeigen auch Beispiele etwa aus den
USA. Einige Kollegen waren gemeinsam mit mir in den
USA und haben die Einrichtungen dort gesehen. Wir alle
haben doch hinterher gesagt: Das möchten wir nicht: das
teuerste Gesundheitssystem, die Aushebelung des Solidargedankens, unglaubliche Kosten bei gleichzeitigem
Ausschluss von mindestens 40 Millionen Menschen.
({6})
Wenn Amerikaner und Amerikanerinnen sich in dieser
Studie zufrieden mit ihrem System äußern, dann - das ist
meine Hypothese - hat man bestimmte Gruppen nicht
oder nicht ausreichend befragt. Grund für Ausgrenzung
und Verschuldung ist dort ganz häufig eine chronische
Krankheit in der Familie. Das wollen wir ganz sicher
nicht.
Neben all der methodischen und fachlichen Kritik, die
an dieser Studie angebracht werden kann, ist es richtig,
dass wir uns dennoch mit den dort angesprochenen Punkten in differenzierter Weise auseinander setzen.
Es gibt in unserem Gesundheitssystem bei aller Betonung der Stärken eben auch Schwächen. Die hat die rotgrüne Politik aufgegriffen und verändert. Die Probleme
sind bekannt. Ich sage aber noch einmal: Die Probleme
haben auch etwas mit der Misswirtschaft in 16 Jahren davor zu tun. Deshalb haben wir einiges politisch korrigiert,
und wir wollen dies noch weiter tun.
Natürlich ist unser Gesundheitssystem teilweise zu einem medizinisch-bürokratischen Apparat geworden, der
auch einseitig Leistungserbringer und Kostenträger im
Fokus hat. Natürlich ist auch das Gespür für die Bedürfnisse der Patienten und Patientinnen verloren gegangen.
Deswegen haben wir im Rahmen unserer Gesundheitsreform auch die Patientenrechte gestärkt. Das ist doch ein
ganz wichtiger Punkt.
Natürlich ist es richtig, dass chronisch Kranke nicht
immer optimal behandelt werden. Aber es ist genauso
richtig, festzustellen, dass es in unserem System Fehlversorgung und auch Überversorgung gibt. Die Beispiele
sind doch hinreichend bekannt: So werden bei uns Linksherzkatheter zweieinhalbmal so oft eingesetzt. Das wissen wir doch aus den USA. Die Amerikaner fragen uns
beispielsweise: Warum habt ihr eigentlich Angst vor
Atomkraftwerken? Ihr werdet bei Röntgenuntersuchungen doch noch und nöcher bestrahlt. Es gibt viele andere
Beispiele, die hier schon oft dargestellt worden sind.
Die WHO-Studie - wir können es auch positiv sehen gibt Hinweise darauf, dass das Preis-Leistungs-Verhältnis
in unserem System nicht stimmt und verbessert werden
muss.
({7})
Damit setzen wir uns auseinander. Jedenfalls garantiert
das Nachschießen von Geldern noch nicht die Verbesserung der Qualität. Auf diese Aussage müssten wir uns
doch einigen können.
Wir haben mit der Gesundheitsreform den Weg - ich
sage es noch einmal - für mehr Qualität, für mehr Prävention, für eine auf Evidenz basierende Medizin und für die
Datenzusammenführung, an der wir noch arbeiten, frei
gemacht. Wir haben einen Koordinierungsausschuss eingesetzt, der in Zukunft festlegen wird, um welche Inhalte
und um welche Standards es in Bezug auf die Qualität
geht. Dieser Ausschuss wird alle zwei Jahre einen Bericht
vorlegen, auf dessen Grundlage wir erkennen können, wo
in der Bundesrepublik Deutschland vor allem in der Gesundheitspolitik noch gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht.
Vielen Dank.
({8})
Für die CDU/CSUFraktion gebe ich das Wort dem Kollegen Aribert Wolf.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Natürlich kann man über
die Aussagekraft jeder Studie streiten, auch über die des
Ranking der WHO-Studie. Aber so einfach, wie Sie es
sich machen - für das Unangenehme in der Studie ist die
Union verantwortlich; für das Angenehme sind Sie verantwortlich -, darf man es sich auch nicht machen. Das
entspricht wohl auch nicht der Wirklichkeit.
({0})
Fest steht ebenfalls, dass es in unserem bundesdeutschen
Gesundheitswesen sehr wohl Probleme gibt und dass
dringender politischer Handlungsbedarf besteht.
Wenn wir im Deutschen Bundestag nicht einfach nur
nett über eine Studie plaudern, sondern uns ernsthaft mit
politischen Fragen beschäftigen wollen, dann müssen wir
fragen: Wo ist eigentlich das Konzept der Bundesregierung, in dem dargelegt wird, wie das deutsche Gesundheitswesen wieder fit für die neuen Herausforderungen
gemacht werden kann? Darüber würden wir hier liebend
gern debattieren.
({1})
Aber leider gibt es keine Konzepte aus dem Hause
Fischer. Über nichts kann man schlecht reden. Statt Antworten auf die großen Fragen des Gesundheitswesens zu
geben, verstrickt sich die Ministerin in Kleinigkeiten
oder - um im Bild zu bleiben -: Im Haus frisst der
Schwamm an den Grundmauern und Rot-Grün streicht
die Fenster.
Diese rot-grüne Konzeptlosigkeit fällt auch der Öffentlichkeit auf. So möchte ich aus der Ausgabe der
„Rheinischen Post“ von vor fünf Tagen zitieren:
Zugleich erweckt die auf der ganzen Linie gescheiterte Bundesministerin Andrea Fischer ({2}) den
Eindruck, als könne es unter dem Zwangsdeckel begrenzter Budgets unbegrenzte Leistungen geben.
Sie wollen uns doch nicht weismachen, dass das bisschen
Herumgemurkse mit dem GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz und mit dem GKV-2000-Gesetz alles gewesen sein
soll, was Sie in der Gesundheitspolitik bis zum Ende der
Legislaturperiode bieten wollen.
Viele Leistungserbringer sind frustriert und demotiviert. Sie sind durch den täglichen Kampf mit den rot-grünen Budgets und mit der überbordenden Abrechungsbürokratie zermürbt. Wer heute wirtschaftlich einigermaßen über die Runden kommen will, der hat immer
weniger Zeit für den Patienten. Erst heute Vormittag gab
es hier in Berlin eine Veranstaltung des Bündnisses für
Gesundheit, auf der es wieder überdeutlich geworden ist.
Sie müssen die Anreize eigentlich genau andersherum setzen: mehr Zeit für den Patienten, weniger Zeit für abrechnungstechnische Pirouetten.
({3})
Nicht nur die Leistungserbringer sind frustriert. In Gesprächen mit Patienten und Versicherten häufen sich die
Aussagen, dass es Untersuchungen, Medikamente, ärztliche und zahnärztliche Leistungen immer öfter nur noch
gegen Barzahlung gebe.
Das Schlimmste ist, dass inzwischen auch schon die
Versicherten resigniert haben und sich kaum mehr beschweren oder protestieren; vielmehr fügen sich viele in
dieses System der heimlichen Zuzahlungen, bei dem es
weder Härtefallregelungen noch eine Sozialklausel gibt.
Auch das ist die traurige Wirklichkeit nach eineinhalb
Jahren rot-grüner Gesundheitspolitik.
({4})
Da wundert sich der Kanzler noch, dass SPD und
Grüne bei Umfragen immer weiter an Boden verlieren.
Mich wundert auch nicht, dass die gesetzlichen Krankenkassen, in denen fast 90 Prozent unserer Bundesbürger
versichert sind, seit dem Amtsantritt dieser Bundesregierung einen massiven Ansehensverlust hinnehmen müssen
und von vielen nur noch als etwas Dritt- und Viertklassiges empfunden werden. Das müsste uns alle in der
Seele schmerzen; dem können wir doch nicht tatenlos zusehen.
Die Ministerin müsste jetzt eigentlich lange genug im
Amt sein, um die Denkphase abgeschlossen zu haben; sie
müsste nun endlich handeln. Auch die Krankenkassen
rennen uns die Bude ein und fragen: Wo bleibt die
versprochene Organisationsreform? Ist Frau Fischer im
Kabinett wirklich so schwach, dass sie nicht verhindern
kann, dass andere rot-grüne Minister, wie Herr Eichel und
Herr Riester, die gesetzliche Krankenversicherung ganz
ungeniert als Steinbruch für ihre Haushaltslöcher nutzen.
Warum lässt sie es zu, dass ab dem nächsten Jahr der
Krankenversicherung und damit der Krankenbehandlung - jährlich wiederkehrend - 1,2 Milliarden DM Finanzmittel durch die Absenkung der Beitragsbemessungsgrundlage bei der Arbeitslosenversicherung entzogen werden?
({5})
Einem Herrn Seehofer wäre das unter Garantie nicht passiert.
({6})
Was muss eigentlich noch geschehen, bis diese Ministerin einsieht, dass sie mit dem Aufgabenfeld Gesundheit
restlos überfordert ist? Man kann ihr eigentlich nur raten,
es nicht so zu machen wie Erich Ribbeck, nämlich zu warten, bis auch noch der letzte Zuschauer auf der Tribüne
pfeift, um erst dann die Konsequenzen zu ziehen. Die Ministerin sollte sich und uns dieses Pfeifkonzert und diesem
Land eine hilflos dahinstolpernde Gesundheitspolitik ersparen.
Im Gegensatz zu Rot-Grün haben wir von der Union
unsere Rezepte auf den Tisch gelegt:
({7})
weniger Budgetierung und staatliche Reglementierung,
dafür mehr Transparenz für die Patienten, mehr Eigenverantwortung für die Versicherten bzw. für die Selbstverwaltung und mehr Wahlmöglichkeiten für alle. Das
sind die Mittel, mit denen unser Gesundheitswesen wieder an die Weltspitze kommt. Das - nicht dieses stümperhafte Dahinstolpern - ist es, was die Gesundheitspolitik in
den nächsten Jahren braucht.
Vielen Dank.
({8})
Als letzte Rednerin in
dieser Aktuellen Stunde spricht nun für Bündnis 90/Die
Grünen Monika Knoche.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen!
Das eigentliche Thema war ja die WHO-Studie. Herr
Wolf, gestatten Sie mir folgende Bemerkung - Sie haben
aus Ihren Reihen so viel Beifall bekommen -: Ich habe
den Eindruck gehabt, dass bei Ihnen in den vergangenen
anderthalb Jahren ein bisschen Teilamnesie im Spiel ist.
({0})
Ich weiß noch sehr gut, wie viel Raubbau bei den gesetzlichen Kassen durch Verschiebebahnhöfe betrieben worden ist. In der Tat kann es keine dauerhafte Lösung sein,
die Einnahmebasis vor dem Hintergrund der zu lösenden
Probleme zu schmälern.
({1})
Ich habe es immer gern, dass man sich auf die Sache
bezieht, wegen der die Aktuelle Stunde einberufen worden ist. Wir haben in vielen Beiträgen gehört, dass es Bereiche gibt, die von der WHO sehr positiv bewertet worden sind. Ein herausragender Bereich, der in seiner Bedeutung bitte nicht unterschätzt werden soll, besteht
darin, dass wir ein hohes Maß an Verteilungsgerechtigkeit, an allgemeiner Zugänglichkeit haben. Die Bevölkerung fühlt sich von diesem Solidarsystem angesprochen.
Das, meine sehr geehrten Kollegen und Kolleginnen von
der CDU/CSU, haben wir in der Tat einem Prinzip zu verdanken, mit dem die rot-grüne Regierung nicht brechen
will und nicht brechen wird, nämlich dem der solidarischen, paritätisch finanzierten Krankenversorgung.
({2})
Wenn Sie jetzt in die moderne Attitüde verfallen und
permanent von Wahl- und Regelleistungen sprechen,
dann werden Sie in die Ungleichheit der Zugänglichkeit
einsteigen, dann werden Sie genau diese wirklich sehr
wertvollen Errungenschaften, die wir in diesem Land haben, zur Disposition stellen. Diese Bewertung wird nicht
einmal die WHO, selbst wenn sie nach anderen Kriterien
entscheiden wird, einer Gesundheitspolitik noch aussprechen können. Dessen bin ich mir ganz sicher. Wenn wir
uns der Modernität bewusst sind, das heißt, wenn wir uns
der hohen Garantie für Zugänglichkeit, für Freiheit, für
Gerechtigkeit unseres Gesundheitswesens bewusst sind,
({3})
dann werden wir es auf der stabilen Basis, auf der es seit
100 Jahren besteht, erhalten und fortführen können.
Dass wir uns, wie hier angeregt worden ist, über die
Aktuelle Stunde hinaus im Gesundheitsausschuss mit der
Studie näher befassen, wobei diese aber erst übersetzt
werden muss, damit wir sie auch in den Details bewerten
können, scheint mir interessant zu werden. Auch ich halte
es für gerechtfertigt, dass wir uns das, wie es die WHO getan hat, mit einem Helikopterblick anschauen, um genau
zu erkennen, welche Lösungen andere Industriestaaten
oder auch sonstige andere Staaten mit vergleichbaren Systemen gefunden haben. Dabei dürfen wir natürlich nicht
vergessen, dass es schon in Europa, aber vor allem weltweit kulturell bedingt ein sehr unterschiedliches Verständnis von Krankheiten und einen unterschiedlichen
Umgang mit Befindlichkeitsstörungen gibt. Von daher ist
es sicherlich ein sehr, sehr anspruchsvolles Unterfangen,
die Systeme und die Versorgungszufriedenheit der Bevölkerung in den einzelnen Ländern miteinander zu vergleichen.
Nichtsdestotrotz sollten wir dies versuchen und die
Einrichtungen der WHO für unsere Arbeit nutzen. Dabei
denke ich an Fragestellungen, die wir als rot-grüne Bundesregierung übrigens jetzt gerade angehen. Wir wissen
beispielsweise um das Defizit im Zusammenhang mit der
Frage, wie Männer und Frauen im System behandelt werden. In einer Großen Anfrage, die wir gerade erarbeiten,
geht es darum, wie wissenschaftlich geklärt werden kann,
in welcher Weise die gesundheitliche Versorgung von
Frauen auf dem bestehenden sehr hohen Gesamtniveau
der Vorsorgung im Geschlechtervergleich gerechter gestaltet werden kann.
({4})
Wir haben ein Programm zum Thema „Umwelt und
Gesundheit“ auf den Weg gebracht, in dem wir insbesondere die Gesundheitsbelastung von Kindern durch die
Ausflüsse der Industriestaaten hervorheben. Das ist eine
Herausforderung, der wir uns stellen müssen. Dabei geht
es aber auch darum zu klären, was in diesem Rahmen
präventiv getan werden kann, das heißt, was getan werden
kann, um den Schutz vor Krankheiten und die Sorge für
die Gesundheit künftiger Generationen sicherzustellen.
Das erschöpft sich nicht nur in Messwerten.
Auch andere Politikerinnen und Politiker neben mir
wissen, dass wir uns die Sterblichkeitsrate bei Kindern
näher anschauen müssen. Dazu habe ich einen Gedanken,
der in diesem Zusammenhang von Bedeutung sein kann.
Wir wissen, dass wir mit der Perinatologie hervorragende
Leistungen anbieten können. Wir können frühestgeborene
Kinder wirklich in einem hohen Maße gesund am Leben
erhalten; aber wir haben die höchste Rate von tödlichen
Verkehrsunfällen mit Kindern in Europa. Das verweist daAribert Wolf
rauf, dass wir hinsichtlich der Anforderungen, die durch
die WHO formuliert worden sind, interdisziplinär beraten
und handeln müssen und das wollen wir als rot-grüne
Bundesregierung tun.
Ich meine also, dass wir gut beraten sind, wenn wir uns
den Fragestellungen, die die WHO aufgeworfen hat, auch
im Gesundheitsausschuss widmen, das heißt, wenn wir
diese Fragestellungen in unsere weitere Arbeit aufnehmen.
({5})
Die Aktuelle Stunde
ist beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b sowie
den Zusatzpunkt 9 auf:
7. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Börnsen ({0}), Gunnar Uldall,
Dr. Bernd Protzner, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
Initiative zur Stärkung der Ostseeregion
- Drucksache 14/3293 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die Chancen der Ostseekooperation nutzen
- Drucksache 14/3587 Beschlussfassung
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Jürgen
Koppelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Für eine kohärente Ostseepolitik
- Drucksache 14/3675 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst dem
Kollegen Franz Thönnes für die SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr
geehrten Damen und Herren! Aus der Historie ist Folgendes überliefert: Bereits im Jahre 1261 räumte Birger Jarl,
Reichskanzler des Königs Eric Ericson und angeblicher
Gründer Stockholms, den „fürsichtigen und besonderen
Männern Vogt, Rat und Gemeinde zu Hamburg“ auf deren Bitte hin vertraglich das Recht ein, dass
… wir eure Bürger, die mit ihren Waren in unser
Land kommen, an dem gleichen Vorrecht des Friedens und der Zollfreiheit teilhaben lassen mochten,
wie ihr sie unseren Leuten in euren Mauern verstattet ... Darüber hinaus sollt ihr wissen: Wenn jemand
von den Eurigen bei uns durch Schiffbruch Schaden
läuft, so darf jeder bei dem Schiffbruch Beteiligte
ohne Beschwerde das wieder in Besitz nehmen, was
er von seinen Sachen herausholen und retten kann.
Mag aus heutiger Sicht diese Geste vielleicht etwas
sarkastisch klingen, so ist sie jedoch - weit vor der Blütezeit der Hanse - Ausdruck der handels- und sicherheitspolitischen Bedeutung guter Beziehungen an den Ufern
des Mare Balticum. In den letzten Jahren findet rund um
dieses Meer ein nahezu beispielloser Prozess in der Geschichte Europas statt. In keiner anderen Region unseres
Kontinents wird so erfolgreich demonstriert, wie unabhängige Nationen, wie Staaten in unterschiedlichen
Bündnissen, wie Länder mit unterschiedlichem Entwicklungsstand friedlich miteinander kooperieren, ja, wie Europa zusammenwächst.
({0})
Für uns alle ist es von daher eine Verpflichtung, diesen
Prozess fortzusetzen. Das Gipfeltreffen der Regierungschefs aus den nördlichen EU-Ländern Dänemark, Finnland und Schweden auf Einladung von Gerhard Schröder
Anfang dieses Jahres in Kiel, der erste Antrittsbesuch des
norwegischen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg im
April in Deutschland, der Besuch des Bundeskanzlers zur
Eröffnung der Willy-Brandt-Ausstellung und zur Gründung der norwegisch-deutschen Willy-Brandt-Stiftung im
Mai in Oslo, der erstmalige Staatsbesuch eines deutschen
Regierungschefs in diesem Monat in den Ländern des
Baltikums, in Estland, Lettland und Litauen, all das zeigt:
Es ist gut für Europa, es ist gut für den Norden, es ist gut
für Deutschland, dass es nun einen Bundeskanzler gibt,
der so eindrucksvoll deutlich macht,
({1})
dass die jetzige Bundesregierung die Ostseeregion und
die mit ihr verbundenen Chancen der Zusammenarbeit für
Deutschland ganz weit oben auf der politischen Tagesordnung angesiedelt hat.
({2})
Die Philosophie ist und bleibt richtig. Ostseekooperation war und ist das richtige Konzept in der neuen Zeit.
Will man sich das Tempo und die Bedeutung der Entwicklung für Deutschland vor Augen führen, bedarf es nur
der Nennung zweier Daten: Als die EWG gegründet
wurde, gehörte gerade einmal die Küste Schleswig-Holsteins zu ihren Grenzen. In wenigen Jahren werden die politische Union und der EU-Binnenmarkt knapp 95 Prozent
der Küstenlinie der Ostsee umfassen. Die Ostsee wird
zum EU-Binnenmeer. Sie trennt nicht mehr. Die Ostsee
verbindet.
Heute bereits exportiert Deutschland mehr Güter und
Dienstleistungen in die Ostseeregion als in die Vereinigten Staaten und Japan zusammen. Im Rahmen der Neuorientierung des Außenhandels gehen heute bereits von
Estland 80 Prozent, von Lettland 75 Prozent und von
Litauen 60 Prozent des Exports in die Ostseeregion. Die
neuen Bauwerke über das Meer im Norden sind Ausdruck
sich festigender Verbindungen. Die Öresund-Region wird
sich nicht mit Oslo, Stockholm oder Helsinki, sondern mit
Warschau und Berlin messen - eine Herausforderung, der
wir uns stellen sollten.
Ostseepolitik ist auch immer Friedenspolitik gewesen.
Noch nie hatte die EU wie jetzt mit der 1 300 Kilometer
langen Grenze Finnlands solch eine direkte Nachbarschaft zu Russland. Die Initiative Finnlands aus dem Jahr
1997 zur „Entwicklung der nördlichen Dimension der
EU“ beschreibt den Gestaltungsraum der Union im Norden und sie macht ebenso deutlich: Ohne Russland kann
es keine stabile Neuordnung Europas geben.
({3})
Deutschland übernimmt nun erstmals am 1. Juli dieses
Jahres den Vorsitz im Ostseerat. Wir sind stolz darauf,
dass nun ein deutscher Kanzler gemeinsam mit dem
Außenminister den Vorsitz hat, der daran arbeitet, dass
eine Vision Realität wird: Die Vision von der Ostsee als
Region einer blühenden, friedlichen und freundschaftlichen Zusammenarbeit der Länder im Norden Europas.
Wir alle spüren, wie uns dazu die Länder des Nordens die
Hände reichen: Schweden hat einen „Advisory Council
for Baltic Sea Cooperation“ eingesetzt und investiert umfangreich in die Ostseearbeit. Norwegen hat seine „Tysklandstrategi“ entwickelt, um die Beziehungen zwischen
unseren Ländern zu vertiefen. Finnlands „Nordic Dimension“ hatte ich bereits erwähnt. Die Länder im Baltikum
und in Polen haben ihre Anstrengungen, um den Erweiterungsprozess der EU zügig voranzubringen, verstärkt.
Der Ostseerat ist das wirksame Forum von EU-Mitgliedsländern, EU-Beitrittskandidaten und Nichtmitgliedstaaten; in ihm finden sich Nationen unterschiedlicher Sicherheits- und Bündnissysteme wieder.
Deutschland hat die Möglichkeit, zu einer treibenden
Kraft im Ostseeraum zu werden und mit dazu beizutragen,
dass der friedliche Prozess und das Konzept der Regionsbildung im Norden vorangebracht werden kann und dass
der Erweiterungs- und Vertiefungsprozess in der Europäischen Union zügiger vorangeht.
Die Ostsee verbindet. Verbindungen benötigen Stützpfeiler. Der wichtigste Pfeiler sind die Menschen. Deswegen kommt es darauf an, Bedingungen für die Beschäftigung und für das lebenslange Lernen sowie die Lebensbedingungen zu verbessern und die Nachhaltigkeit in
einer lebenswerten Region weiterzuentwickeln. Stabilität
durch Kooperation bleibt der zweitwichtigste Pfeiler.
Ohne eine stabile Ostseeregion, ohne die Einbeziehung
Russlands gibt es kein stabiles Gesamteuropa. Dazu
gehört auch die Einbeziehung Kaliningrads.
Ein wesentlicher weiterer Pfeiler sind Kultur und Wissenschaft. Beides sind Angebote und Gelegenheiten für
vertrauensbildende Maßnahmen. Bestehende Netzwerke
sind hier weiterzuentwickeln. In diesem Sinne rege ich im
Rahmen der Jugendbegegnung und ihrer Stärkung die
Gründung eines Ostseejugendwerkes an. Fundament
hierfür könnte das bereits gemeinsam von Finnland und
Schweden getragene Ostseejugendsekretariat in Kiel sein.
Unsere Zukunft im Norden ist die Jugend. Geben wir ihr
noch mehr die Möglichkeit der Begegnung und der Zusammenarbeit! Geben wir ihr die Gelegenheit, mit gegenseitiger Toleranz ihre eigene Zukunft in der Ostseeregion
zu gestalten!
({4})
Der estnische Dichter Uku Masing hat einmal formuliert:
Kleine Völker haben schon deshalb einen weiten Horizont, weil sie an der Existenz der anderen nicht vorbeikommen.
Diesen Satz kann man auch umkehren: Große Völker haben schon deshalb einen engeren Horizont, weil sie die
Existenz der anderen manchmal leichtfertig übersehen.
Vor diesem Risiko sollten wir uns bewahren und daher
die Chancen der Ostseekooperation offensiv nutzen!
({5})
Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Wolfgang Börnsen.
Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Franz, das war eine sehr sachbezogene
Regierungsrede. Ich finde, dass es der Aspekt der Jugendförderung im Ostseeraum verdient, herausgehoben
zu werden. Aber trotzdem möchte ich ein wenig Wasser in
den Wein gießen, weil nicht alle Blütenträume so reifen.
Die deutsche Bundesregierung hat bisher verpasst,
klare und sachbezogene Positionen für eine Ostseepolitik
im 21. Jahrhundert zu formulieren.
({0})
Während man vor 1998 noch von einer offensiven Ostseepolitik sprechen konnte, sind derzeit nationale Ansätze nicht mehr erkennbar. Weder im Koalitionsvertrag
noch in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers hat
die Wachstumsregion Ostsee ihren Niederschlag gefunden. Bis heute liegt kein Zukunftskonzept „Ostsee“ vor.
Aufgrund der Erfordernisse von Sicherheit, Einheit, Arbeit und Wohlstand ist die bisher praktizierte passive Ostseepolitik eine verpasste Chance. Die Bundesregierung
hätte gut daran getan, an die aktive Ostseepolitik der 90erJahre anzuknüpfen. Sollte dies konzeptionell, klar und
konsequent geschehen, wird sie auch durch die Union
darin unterstützt.
Trotz meiner grundsätzlichen Kritik anerkenne ich den
kürzlich erfolgten Besuch von Bundeskanzler Schröder in
den drei baltischen Staaten. Auch wenn man dort bitter
enttäuscht gewesen ist, weil kein Zeitpunkt für den EUBeitritt genannt wurde, so kann man doch sagen, dass eine
Kanzlervisite überfällig war. Ich hätte mir gewünscht,
dass Helmut Kohl trotz der Drohvorbehalte Russlands
ebenso verfahren wäre.
({1})
Mit unserer Großen Anfrage zur Zukunft des Wirtschaftsraums Ostsee, eingebracht am 1. Dezember 1999,
und mit unserem Antrag zur Stärkung der Ostseeregion
vom 9. Mai stellen CDU und CSU klar, dass es uns darum
geht, den Norden wieder nach Berlin zu holen. Als Parlamentarier beklage und kritisiere ich, dass nach sieben
Monaten die Bundesregierung immer noch nicht in der
Lage ist, eine Antwort auf unsere Große Anfrage bezüglich der Ostsee zu geben. Über ein halbes Jahr ist bereits
vergangen. Verantwortlich dafür ist der Bundesaußenminister. Dies ist ein unglaublicher Vorgang.
({2})
Jetzt unmittelbar vor Beginn des deutschen Vorsitzes
im Ostseerat am 1. Juli gibt es ein erstes, zweieinhalb
Seiten starkes Papier aus Berlin. Dieser Fünf-Punkte-Katalog wurde von Außenminister Fischer im norwegischen
Bergen beim Treffen der Fachminister in der vergangenen
Woche lieblos vorgelesen. Im Schnelldurchgang wurden
die zehn Außenminister der Ostseeanrainer von Fischer
unterrichtet. Dann hat er sich - wie meine skandinavischen Freunde und die Freunde von Franz mitteilten - lässig in den Sessel gesetzt und gelangweilt geschwiegen.
Zwischen Frühstück und Mittag war er dort. Dann verabschiedete sich der Berliner Repräsentant bereits und
ließ nach diesem Kurzauftritt die erstaunten Kollegen mit
der Aufarbeitung der Ostseezukunftsprobleme allein.
Eine Herzensangelegenheit scheint dem Hessen der Ostseerat nicht gewesen zu sein. Seine Abwesenheit heute bei
einem außenpolitischen Thema ist ein deutliches Zeichen
für die Nichtbeachtung dieser Problematik.
({3})
Dabei enthält die Aktionsstudie durchaus Brisanz. Wie
soll der Energieverbund um die Ostsee aussehen? Mit
oder ohne Russland? Haben der Autoverkehr oder der
Seeverkehr bei der vorgesehenen Verkehrsplanung Vorrang? Welchen Stellenwert nimmt die Fehmarnbelt-Querung ein? Macht sie weitere Verkehrsinvestitionen in Jütland und dem Norden Schleswig-Holsteins überflüssig,
oder gibt es eine neue Projektierung? Nach welchen Kriterien wird die neue Liste „Regionale Projekte“ erstellt?
Trifft es zu, dass Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein darin keine Berücksichtigung mehr finden?
Mit heißer Nadel, so Beobachter der Bergen-Konferenz, ist am Ostseenetz genäht worden. Deutschland
muss mit mehr Seriosität nachlegen, damit es nicht zu einem Flickenteppich kommt. Dabei kann dieser Wachstumsraum in Europa weltweit zu einem Motor für neue
Entwicklungen und Wohlstand werden. Er ist ein einzigartiger wirtschaftlicher, kultureller und politischer
Modellraum, der einer kraftvollen und konzeptionellen
Politikbeachtung durch Deutschland bedarf.
Doch auch zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges ist die Großregion in Lebenserwartung, Wirtschaftskraft, Kapitalausstattung und Umweltstandards zwischen
West und Ost geteilt. Gemessen am europäischen Bruttoinlandsprodukt sind die östlichen Staaten arme Länder.
Im Mittel der Jahre 1995 bis 1997 betrug in Lettland der
Anteil je Einwohner 25 Prozent des durchschnittlichen
europäischen Wohlstands und in Polen 35 Prozent. Insgesamt haben die EU-Bewerber 75 Prozent weniger als der
Durchschnitt der westeuropäischen Staaten, also nur ein
Viertel unseres Wohlstandes, und dies bei einem sozialen
Standard, der noch weit entfernt von dem des Westens ist.
Doch trotz aller Schwächen werden bereits jetzt in der
Ostseeregion gut 6 Prozent des Welthandels erwirtschaftet, rund 100 Milliarden Dollar jährlich. Experten schätzen die regionalen Wachstumschancen in der nächsten
Dekade auf bis zu 250 Prozent.
Entscheidend für diese positive Entwicklung ist jedoch, ob und wie die gezielten und erfolgreichen Initiativen der 90er-Jahre mit Beginn des neuen Jahrhunderts
fortgesetzt werden. Dabei liegt Deutschlands Zukunftsmarkt direkt vor unserer Haustür. Unsere Exporte nach
Dänemark betrugen 1999 16,5 Milliarden DM, nach
Schweden 22 Milliarden DM, nach Norwegen 7,6 Milliarden DM, nach Finnland 11 Milliarden DM, nach Polen
24 Milliarden DM. Auch für die baltischen Staaten sind
wir der Haupthandelspartner. Damit gehen 9,6 Prozent
des deutschen Exportes oder - anders gesagt - jede zehnte
Mark in den Ostseeraum. Nur gegenüber den USA gibt es
eine vergleichbare Exportleistung mit knapp 100 Milliarden DM.
Wir profitieren von den Ostseeanrainern, diese aber
auch von uns. Durchschnittlich 10 Milliarden DM beträgt
deren Ausfuhr in die Bundesrepublik. Wir sind deren
größter Exportmarkt. Als gemessen an der Einwohnerzahl
größtes, als wirtschaftlich stärkstes Land, als Brückenland zu Mitteleuropa haben wir für diese Region eine besondere Verantwortung.
Ein florierender Handel festigt den Ostseeraum und
stabilisiert gleichzeitig bei uns Wirtschaft, Gewerbe und
Arbeitsplätze. Doch das Regierungsdefizit an Ostsee-Engagement nimmt eher zu als ab. Das zweieinhalbseitige
Positionspapier zum deutschen Ratsvorsitz geht punktuell
die Ostseeproblematik an, ist aber kein Signal für ein ökonomisches, ökologisches, soziales und kulturelles Ostseeregion-Netzwerk. Die englische Fassung enthält keine
Aussage zur militärischen Sicherheitslage, weder Hinweis noch Unterstützung zu der nachdrücklich geäußerten
Absicht der baltischen Staaten, endlich Mitglied der
NATO zu werden. Auch fehlt im Ansatz jede Zeitkonkretisierung eines sehnlich erwünschten EU-Beitritts von
Estland, Lettland, Litauen und Polen. Eine Osterweiterung hier ist ein echter Baustein für den Frieden.
({4})
Wolfgang Börnsen ({5})
Schließlich wird die Finanzierung von gemeinsamen Ostseevorhaben ganz ausgeklammert, auch die Problematik,
dass keines der bisher praktizierten sechs Brüsseler Förderprogramme ostseeumspannende Aktivitäten möglich
macht.
Brisant wird dieser in Bergen vorgebrachte Beleg bundesdeutscher Nordpolitik durch seine Auslegung, die
Joschka Fischer im Ansatz und die Sie, Frau Simonis, in
einem Namensartikel im „Flensburger Tageblatt“ sehr
viel deutlicher formulierten. Ich zitiere:
Hat zu Beginn der Arbeit des Ostseerates die Außenpolitik das Geschehen bestimmt, wird Ostseekooperation inzwischen mehr zur Gesellschaftspolitik.
Und zur Regionalpolitik.
Nein, da sind die anderen Ostseeanrainer anderer Auffassung. Eine Degradierung der Anliegen von elf Staaten
auf die Ebene der Regionalpolitik - nach der Devise: Berlin raus, Kiel rein - nimmt dieser Großregion ihre Bedeutung.
({6})
Besonders der elfte Ostseepartner, Russland, macht
die politische Dimension dieses Raumes offensichtlich.
Die Ostseekooperation bedeutet für den Nordwesten
Russlands die Möglichkeit, durch grenzüberschreitende
Zusammenarbeit das Entstehen neuer Trennungslinien in
Europa zu verhindern. Kaliningrad, Königsberg, bietet
sich dafür an. Doch Brückenbauer müssen die Außenminister bleiben. Alles andere würde dem Ansehen Deutschlands schaden.
({7})
Die Gründung des Ostseerates vor zehn Jahren, an der
der damalige dänische Außenminister Ellemann-Jensen,
Hans-Dietrich Genscher und Helmut Kohl ebenso besonderen Anteil haben wie Carl Bildt aus Schweden, war die
Schlüsselentscheidung für die umfassende Entwicklung
dieser Großregion. Ministerpräsident Björn Engholm hat
damals eine Renaissance des Hansegedankens propagiert.
Dieser Gedanke war Ausgangspunkt für die Bildung des
Rates.
Die in diesem Raum geleistete zehnjährige Aufbauarbeit ist grandios. Die Ostsee als Meer ist nachweisbar sauberer und gesünder geworden, neue Transportbrücken wie
die über den Großen Belt und den Öresund haben Entfernungen radikal verringert, der Handel hat sich mehr als
verdoppelt.
Den Nichtregierungsorganisationen - vom Ostseeverbund der Handelskammern unter Kieler Präsidentschaft
über Städtepartnerschaften bis zur Schaffung des „Baltic
Sea Trade Union Network“ durch die Gewerkschaften gilt es für diesen Einsatz zu danken. Über 70 die Ostseeanrainer erfassende Organisationen gehören dazu, getragen von Idealen, daran orientiert, hier ein beispielhaftes
Friedens- und Kooperationsmodell zu schaffen.
Aber solange Armut und Arbeitslosigkeit als sozialer
Sprengstoff im östlichen Teil der Ostseeregion nicht ausgeräumt sind, solange das Monatseinkommen in Litauen
450 DM und nicht 4 500 DM wie in den Westländern beträgt, solange Schleuser und Schmuggler zur Steigerung
der Kriminalität beitragen, solange NATO-Sicherheit und
EU-Mitgliedschaft nicht für alle gelten, herrscht Handlungszwang.
Wir brauchen ein Ostseekonzept für dieses Jahrhundert. Hier hat die deutsche Politik anzusetzen. Die großen
historischen Herausforderungen des Ostseeraums sind jedoch nicht allein durch Direktiven „von oben“ zu meistern. Städte, Regionen, Wirtschaftsverbände und private
Initiativen sind zu fördern, der Prozess des Zusammenwachsens ist „von unten“ dauerhaft zu stärken. Hier hat
die Landesregierung von Schleswig-Holstein, besonders
durch Minister a. D. Gerd Walter, hilfreiche Anstöße gegeben. Auch die Anregung der Kieler CDU-Landtagsfraktion, ein alle Ostseeländer umspannendes Schul- und
Jugendwerk einzurichten, die ähnlich der Idee meines
Vorredners ist, ist anzuerkennen und aufzugreifen.
In der Ostseeregion ist ein weltweit bedeutender Motor für Wachstum und Wohlstand angesprungen. Jetzt gilt
es, seine Taktfrequenz zu verfestigen und die Drehzahl zu
erhöhen. Dazu bedarf es eines übergreifenden politischen
Leitbildes, einer Ostseeoffensive auf allen Ebenen.
({8})
Pfeiler müssen sein, dazu beizutragen, dass die politische Stabilität in den jungen Demokratien gesichert wird,
dass die EU sich stärker in dieser Region engagiert und
umfassende Programme vorstellt und dass der deutsche
Beitrag für die Ostseeregion sich auch an dem orientieren
sollte, was die Schweden praktizieren. Die Schweden haben extra 1 Milliarde Schwedenkronen für die Ostsee gesichert. Wie hier ein neuer Akzent gesetzt und eine Ausweitung gestaltet wird, sollte auch der Bundesrepublik ein
Beispiel sein.
({9})
Wir haben in diesem Raum 300 verschiedene Universitäten und Hochschulen konzentriert. Das ist mit die
größte Konzentration kultureller, wissenschaftlicher und
bildungsorientierter Art. Es gilt, ein Netzwerk zu schaffen, um diese Konzentration für ganz Europa und für die
ganze Welt nutzbar zu machen.
Ein letzter Punkt. Ich glaube sehr wohl, dass gerade im
Umweltschutz im Rahmen der Helcom-Liste und im Rahmen von Baltic 21 eine Vielzahl an fördernden Aktivitäten in Gang gesetzt worden sind, die zu Ende geführt werden müssen. Doch ich glaube, dass dafür die Voraussetzung sein muss, eine seriöse Ostseepolitik zu betreiben,
und zwar auch durch den Herrn Außenminister, der heute
wieder fehlt.
Frau Simonis, Sie haben wohl die missglückte BergenMaßnahme des Außenministers vorausgesehen, als Sie
vor dem Treffen in Norwegen veröffentlichten, dass Sie
von der Bundesregierung einen kraftvollen Ratsvorsitz
erwarten. Einem politischen Luftikus, verehrte Frau Ministerpräsidentin, kann man nicht mehr auf die Sprünge
helfen.
Danke schön.
({10})
Wolfgang Börnsen ({11})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Angelika
Beer.
Herr
Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr
Börnsen, Sie selber haben es soeben zugegeben: Jahrelang war die Bundesrepublik Deutschland politisch sehr
weit weg von der Ostsee. Die rot-grüne Regierung unter
Federführung des Kanzlers aber hat die Ostseekooperation auf ihre Agenda gesetzt. Sie wissen sehr gut, dass
heute mehrere Staatsbesuche stattfinden und der Außenminister nicht bei jeder Debatte anwesend sein kann. Ich
freue mich auf den nicht minder wichtigen Beitrag von
Staatsminister Zöpel, der die Position der Bundesregierung darstellen wird.
Die rot-grüne Regierung in Schleswig-Holstein unter
Heide Simonis hat - auch das ist Ihnen bekannt; das freut
mich natürlich als schleswig-holsteinische Bundestagsabgeordnete ganz besonders - sich von Anfang an für die
Ostseekooperation eingesetzt und neue Initiativen, politisches Engagement und Bewegung in die Kooperation hineingetragen.
Die Europäische Union ist ein wichtiger Akteur in der
Ostseepolitik geworden. Wir begrüßen, dass sie im letzten
Jahr die finnische Initiative der „Nördlichen Dimension“
aufgegriffen und die Erarbeitung eines „Aktionsplanes
Nördliche Dimension“ der EU beschlossen hat.
Die Übernahme des Vorsitzes im Ostseerat durch
Deutschland bietet uns Chancen:
Erstens. Wir wollen der Arbeit des Ostseerates mehr
Gewicht verleihen und unterstützen das Vorhaben, den
Ostseerat als Schirm der gesamten Regierungszusammenarbeit seiner Mitglieder zu konstruieren.
Zweitens. Wir wollen den Vorsitz nutzen, um eine weitere Verzahnung der Ostseepolitik mit der Europäischen
Union zu erreichen und weitere Synergieeffekte zu erzielen. Dabei ist aus meiner Sicht insbesondere die Einbindung von Nichtregierungsorganisationen ein wichtiges
politisches Anliegen.
Drittens. Wir wollen eine größere Einbeziehung der
EU-Kommission in die Ostseekooperation erreichen und
die Kompetenzen für den Ostseeraum übersichtlicher gestalten. Deshalb schlagen wir die Einrichtung eines „Baltic Sea Desk“ vor.
Viertens. Im Rahmen dieser Präsidentschaft möchten
wir eine besondere Verantwortung wahrnehmen: Die Ostsee war - das haben, so glaube ich, wir alle konstatiert in der Zeit des Ost-West-Gegensatzes räumlich und politisch marginalisiert und die Kooperation zwischen den
Anrainerstaaten war durch diesen Konflikt eingeengt. Inzwischen eröffnen sich ganz neue Chancen, da die Ostsee
eine Klammer zwischen verschiedenen europäischen Regionen bildet. So kann sie zu einer Region mit eigener
Identität werden und dies soll sie auch. Diese Klammerfunktion bekommt dadurch eine besondere Bedeutung,
dass nur in der Ostseeregion die beiden Hauptpole der europäischen Entwicklung, nämlich das Europa der Europäischen Union und Russland, aneinander grenzen. Dadurch
erhält der ehemalige Gegner und jetzige Partner Russland
die Rolle eines wichtigen Akteurs im Rahmen der Ostseekooperation.
Deswegen, Herr Kollege Börnsen, ist Ihr nationaler
Ansatz, der in Ihrem Antrag deutlich wird, meines Erachtens viel zu kurz gegriffen. Daher werden wir Ihren Antrag ablehnen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in der Ostseeregion sind wir natürlich auch mit Risiken und Problemen konfrontiert; einige von ihnen möchte ich ansprechen. Zwischen den verschiedenen Staaten um die Ostsee
herum gibt es ein starkes Wohlstandsgefälle und in einigen Staaten eine sehr hohe Arbeitslosigkeit. Die Differenzen zwischen den politischen Kulturen, der Entwicklung
der Zivilgesellschaften und den Möglichkeiten der politischen Mitsprache durch die Bürgerinnen und Bürger erschweren den Dialog und machen ihn zu einer Herausforderung, die sicherlich nicht leicht zu meistern ist.
Zum Glück leben in der Region nach wie vor Minderheiten; auch sind neue wie zum Beispiel die russische
Minderheit in den baltischen Ländern hinzugekommen.
Ferner stehen dringende Fragen des Umweltschutzes auf
der Tagesordnung. Die Fragen einer umweltfreundlichen
Energieversorgung besonders in den baltischen Ländern
und in Nordwestrussland müssen erörtert werden. Als
Stichwort nenne ich nur den Bellona-Report und verweise
auf die in ihm nachlesbaren Risiken.
Aber es gibt auch Chancen in dieser Region, zum Beispiel die Chance, die Instrumente der Prävention weiterzuentwickeln. Gerade nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes haben wir doch die Chance, dass der ehemalige
Gegner die Zukunft der Region kooperativ mitgestaltet.
Eine besondere Herausforderung ist dabei die Frage der
Integration der baltischen Länder sowie Russlands und
dessen Exklave Kaliningrad, da zwischen diesen Staaten
immer noch Spannungen bestehen. Es wäre fahrlässig, sie
zu negieren. Aufgabe der Ostseekooperation ist es, diese
Lage ins Konstruktive zu wenden. Das kann nicht mit einer Formel geschehen - das wissen Sie genau, Herr
Börnsen -, sondern das bedarf einer politischen Anstrengung über Parteigrenzen hinweg.
Dazu kann gerade die EU-Erweiterung beitragen, da
sie nicht als Bedrohung wahrgenommen werden kann und
darf und sie der wirtschaftlichen Stabilisierung der Region dient.
Wir unterstützen die Idee eines „region building“, das
ungeachtet des EU-Mitgliedsstatus auf Integration statt
auf Ausgrenzung innerhalb der Ostseekooperation setzt.
Ziel dieses „region building“ soll es sein, die Ostsee zu einem Modellprojekt des friedlichen Zusammenlebens unter Beachtung zukunftsfähiger ökologischer und ökonomischer gemeinschaftlicher Entwicklung auszubauen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in diesem Zusammenhang müssen wir auch menschenrechtliche Aspekte
berücksichtigen. Im Ostseeraum müssen alle Minderheiten respektiert werden und sich frei entfalten können. Ich
unterstreiche, dass die organisierte Kriminalität, insbesondere Frauenhandel und Prostitution, bekämpft werden
muss. Die Ursachen hierfür liegen oft in sozialen Missständen. Deswegen ist der langfristige Weg, das Wohlstandsgefälle zu beseitigen und zukunftsfähige Arbeitsplätze zu schaffen, sicherlich der richtige Ansatz. Grenzkontrollen allein können diese Probleme nicht lösen. Im
Gegenteil: Eine Abschottung nach außen kriminalisiert
oft doch gerade diejenigen, die Unterstützung am nötigsten bräuchten, und unterläuft das Bestreben, eine Modellregion aufzubauen, die sich gerade über nationalstaatliche
Interessen hinaus definiert.
Ganz kurz weise ich auf die Notwendigkeit zukunftsgerichteter Energie- und Verkehrskonzepte hin. In diesem
Zusammenhang wird die Abschaltung des Atomkraftwerkes Ignalia in Litauen ein ganz wichtiges Signal sein.
Die Bundesregierung hat die Chancen für die Region
und die Bedeutung der Region für Europa und für
Deutschland erkannt; wir Schleswig-Holsteiner haben
diese Bedeutung auch für unser Land erkannt und handeln
dementsprechend. Wir werden uns deshalb aktiv am Projekt „Modellregion“ beteiligen.
Lassen Sie mich noch die „Nordeuropäische Initiative“
ansprechen. Sie belegt, dass die Amerikaner - dies geht
über die europäische Dimension hinaus - eine dauerhafte
Stabilität in der Region, die im Rahmen der Ostseekooperation erreicht werden soll, als wichtigen Bestandteil
der euroatlantischen Sicherheit ansehen. Wir haben die
Chance, dass sich die Ostsee zu einem Meer des Friedens
weiterentwickelt. Das Programm der „Nordeuropäischen
Initiative“ wird dazu in den nächsten Jahren einen wesentlichen Beitrag leisten; hier ist explizit auch eine Zusammenarbeit mit den NROs vorgesehen.
Eine Reduzierung auf den Standort Ostsee und auf
Wirtschaftsaspekte, wie sie die CDU/CSU zum Teil - ich
sage: zum Teil - vornimmt, ist meines Erachtens viel zu
kurz gegriffen, denn zu dieser Region gehört viel mehr.
Zu ihr gehören gleichwertig auch die Fortentwicklung
von Demokratie und Grundrechten, von Umweltschutz
sowie von Frieden und Sicherheit. Diese Elemente sind
die Basis für Kooperation, nicht allein der wirtschaftliche
Aspekt.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die deutsche Ostseepolitik muss europäische Ostseepolitik sein, sowohl
im Handeln als auch im Denken. Ich glaube, hier ist es die
Aufgabe der Nationalstaaten, sich an Projekten zu beteiligen und konkrete Politik umzusetzen sowie zivilgesellschaftliche und auf Freiwilligkeit bauende Ansätze zu fördern wie zum Beispiel den Ausbau von Freiwilligendiensten
im Rahmen des ökologischen Jahres.
({0})
Noch ganz kurz zu den Kernpunkten unserer Präsidentschaft im Ostseerat im kommenden Jahr: Erstens ist
mit dem multilateralen Ansatz des Ostseerates die Kooperation mit der Europäischen Union im Ostseeraum zu
ergänzen und dadurch die Umsetzung des Aktionsplanes
„Nördliche Dimension“ zu unterstützen. Zweitens ist die
Zusammenarbeit der Subregionen und der Zivilgesellschaften zu stärken. Drittens ist bei der Stärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, insbesondere im Rahmen
des technologischen Wandels, die hoch entwickelte Informationstechnologie zu nutzen und weiterzuentwickeln.
Viertens sind kooperative Ansätze zwischen den baltischen Staaten und Russland mit aller Kraft nach vorn zu
bringen und die Ostsee so als Meer des Friedens zu stabilisieren.
Dafür treten wir auf Bundes- und auf Landesebene ein.
Ihren Anträgen werden wir wegen der Kürze der Formulierung nicht zustimmen können. Wir werden für unseren
Antrag stimmen.
Vielen Dank.
({1})
Als
nächster Redner hat der Kollege Jürgen Koppelin von der
F.D.P.-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn in einigen Jahren auch die
baltischen Staaten Mitglieder der EU werden, gehören
95 Prozent der Küstenlinie der Ostsee zur Europäischen
Union. Die Ostsee ist zu einem EU-Binnenmeer geworden.
In der Ostseeregion leben über 50 Millionen Menschen. Sie erwirtschaften mehr als ein Viertel der Wirtschaftskraft Europas und etwa ein Drittel aller europäischen Exporte. Deutschland ist wie kaum ein anderer
Staat auf die Entwicklung im Ostseeraum unmittelbar angewiesen und von ihr stark betroffen.
Mit der Gründung des Ostseerates im Jahr 1992 wurde
ein Gremium geschaffen, mit dem eine ökonomische, politische und kulturelle Stärkung der Region erreicht werden soll. Ich darf an dieser Stelle daran erinnern, dass es
zwei große Liberale waren, auf die die Initiative zur Gründung des Ostseerates zurückgeht. Es waren der damalige
deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher und sein
dänischer Kollege Uffe Ellemann-Jensen, langjähriger
Vorsitzender der europäischen Liberalen.
({0})
Ich will gern die Gelegenheit nutzen, auch dem früheren
Außenminister Klaus Kinkel, der heute an dieser Debatte
teilnimmt, recht herzlich für sein Engagement in diesem
Bereich zu danken.
({1})
Er ist heute hier,
({2})
während wir den Bundesaußenminister vermissen.
Die Gründung des Ostseerates, dessen Vorsitz Deutschland jetzt übernimmt, war eine Konsequenz der Beendigung des Ost-West-Konfliktes. Skandinavien und auch
Osteuropa richten sich nun stärker auf Deutschland aus.
Ich finde, das verpflichtet. Wir müssen und wollen Motor
der Ostseepolitik sein. Insofern, Herr Staatsminister, wäre
es begrüßenswert gewesen - der Kollege Börnsen hat es
bereits für die CDU/CSU gesagt, ich will dies für die F.D.P.
tun -, wenn die Bundesregierung in der Lage gewesen
wäre, die Großen Anfragen, die zu diesem Bereich vorliegen, bis zu dieser Debatte zu beantworten.
({3})
So schwierig wird es wohl nicht sein, nach so vielen Monaten endlich eine Antwort zu finden. Aber die Sprachlosigkeit der Bundesregierung gerade zu dieser Thematik ist
ja bekannt.
({4})
Die Chancen des deutschen Vorsitzes im Ostseerat, um
Impulse für die Ostseeregion zu geben, sind vielfältig.
Wir benötigen gute Verkehrsverbindungen zwischen
Norddeutschland und den skandinavischen Ländern sowie Osteuropa. Der Güter- und Individualverkehr steigt;
darauf müssen wir reagieren. Gerade in der Verkehrspolitik hinsichtlich Skandinavien ist über viele Jahre durch
rot-grüne Politik - das muss man leider sagen, Frau
Ministerpräsidentin - ein Stillstand eingetreten. Der Kollege Börnsen hat es schon angesprochen: Sie haben gestern im „Flensburger Tageblatt“ gesagt: „Ostseepolitik ist
heute selbstverständlich.“ An der Politik der Landesregierung, zum Beispiel in der Verkehrspolitik, kann ich das
nicht erkennen, in der Kulturpolitik dagegen, angeschoben von Björn Engholm, schon. Ich werde nachher noch
auf andere Bereiche eingehen.
Während Länder wie Schweden oder Dänemark ihre
Hausaufgaben gemacht haben, hat Deutschland nur blockiert.
({5})
Ich darf bei dieser Gelegenheit daran erinnern, dass meine
Partei in Schleswig-Holstein schon vor über zehn Jahren
die Beltquerung gefordert hat. Erzählen Sie uns doch einmal - Sie haben ja gleich das Wort -, was Ihre Partei noch
bis vor kurzem, nämlich bis zur Landtagswahl, gefordert
hat! Teile der Grünen sind übrigens noch heute vehement
gegen die Beltquerung. Sie wissen ja noch nicht einmal in
der Koalition in Schleswig-Holstein, was sie eigentlich
genau wollen. Heute habe ich in einer Agenturmeldung
gelesen, dass Sie sogar glauben, Schleswig-Holstein sei
die treibende Kraft für eine Beltquerung gewesen. Der
Mitarbeiter in der Staatskanzlei, der Ihnen das aufgeschrieben hat, muss ganz neu sein; denn das stimmt nun
wirklich nicht.
({6})
Die rot-grüne Koalition schreibt in einem Antrag zur
heutigen Debatte, dass der Schiene und dem Schiffsverkehr Vorrang einzuräumen sei. Sprechen Sie darüber einmal mit den Vertretern der Ostseeanrainerstaaten; die werden nur den Kopf schütteln, wenn Sie mit dieser Forderung kommen. Frau Ministerpräsidentin, angesichts der
Politik für diese Region, die Sie betreiben, muss ich ganz
offen sagen: Wenn Sie vor etwas über 100 Jahren regiert
hätten, dann gäbe es in Schleswig-Holstein, so vermute
ich, nicht einmal den Nord-Ostsee-Kanal.
Um neue Arbeitsplätze in der Ostseeregion zu schaffen, muss es zu einer Zusammenarbeit aller Staaten
kommen - auch um die EU-Förderprogramme gemeinsam zu nutzen. Der Ostseeraum stellt für die Zukunft eine
wirtschaftspolitisch sehr interessante Region dar. Die
Chancen wirtschaftlichen Wachstums sind groß; wir müssen sie nutzen. Aber dazu - das will ich noch einmal betonen - reichen Schiene und Schiff alleine nicht aus.
Wir sollten den Vorsitz im Ostseerat nutzen, um entschlossener als bisher der grenzüberschreitenden Kriminalität zu begegnen.
({7})
Auch hier gilt: Wenn alle Staaten gemeinsam arbeiten,
sind die Erfolgsaussichten wesentlich größer.
Die Kollegin Beer hat - das ist als Angehörige der Grünen-Fraktion ja fast ihre Pflicht - das Engagement des
Bundesaußenministers in dieser Sache betont. Kollegin
Beer, Sie haben zu Recht die Minderheitenpolitik angesprochen. Aber dann bleiben wir auch einmal bei diesem
Thema: Ich stelle fest, dass die deutsche Bundesregierung
die nationalen Minderheiten nicht fördert. Diese Bundesregierung hat zum Beispiel die Mittel für die deutsche
Minderheit in Dänemark erheblich gekürzt und der Bundesaußenminister hat das Generalkonsulat in Apenrade
geschlossen. Das ist Ihre Minderheitenpolitik. Ich kann
nicht erkennen, dass Sie eine gute Minderheitenpolitik
machen.
({8})
Wie wollen Sie das den anderen Minderheiten klarmachen, wenn Sie hier die Mittel kürzen und das Generalkonsulat schließen? Das müssten Sie uns einmal erläutern.
Die F.D.P. tritt dafür ein, dass die Zusammenarbeit der
Hochschulen im Ostseeraum gestärkt wird. Wir würden
es begrüßen, wenn es zu einer Zusammenarbeit aller dortigen Bildungseinrichtungen kommt.
({9})
Aber dazu müssen wir unsere Schularbeiten machen.
Dazu gehört, dass wir attraktive Universitäten haben, damit junge Menschen aus Skandinavien zu uns kommen.
Frau Ministerpräsidentin, ich weiß nicht, wie Sie diese Attraktivität für Studenten aus Skandinavien sicherstellen
wollen, wenn an der Uni in Kiel, wie ich heute in der Zeitung gelesen habe, dank der Politik der rot-grünen Koalition in Schleswig-Holstein 220 Stellen gestrichen werden.
Mit dem Vorsitz im Ostseerat hat Deutschland eine
große Chance, den Staaten in der Region Ostsee deutlich
zu machen, dass die Befürchtungen, die der finnische
Ministerpräsident im letzten Jahr ausgesprochen hat, unbegründet sind. Er sagte:
Europa ist nicht nur für die großen Länder da. Wir
entscheiden am gemeinsamen Tisch, nicht draußen,
wo die großen Länder diese Neigung haben, ein Direktorat zu schaffen.
Wen hat er wohl gemeint - Dänemark, Luxemburg? Nein,
er hat die großen Staaten angesprochen und damit natürlich auch Deutschland gemeint.
Werfen wir in diesen Tagen einen Blick nach Dänemark: Dänemark wird im September über die Einführung
des Euro abstimmen. Noch vor kurzem war die Stimmung
in Dänemark ausgesprochen positiv; für den Euro sprachen sich nach den Umfragen etwa 60 Prozent aus. Jetzt
geht die Stimmung in den Keller, nicht weil der Euro so
stark gefallen ist, nein, wegen der Haltung der großen
Staaten, vor allem der Bundesrepublik Deutschland, in
Sachen Österreich.
({10})
Man befürchtet in Dänemark, dass es als Kleinstaat eines
Tages genauso behandelt wird wie jetzt Österreich.
Kollege Thönnes, das, was Sie zu den kleinen Staaten
zitiert haben - Sie können es sich ja noch einmal vornehmen -, trifft auch auf Österreich zu. Das Verhalten der
Bundesrepublik gegenüber Österreich war jedenfalls
nicht dazu geeignet, in den Staaten der Ostseeregion Sympathie für Europa zu wecken.
({11})
Die Zusammenarbeit im Ostseeraum kann auch für die
Menschen in der Region um das ehemalige Königsberg
Hoffnung bedeuten. Diese Region muss schon heute
Grenzen überwinden, um den Kontakt nach Moskau zu
halten. Wie viel schwerer wird dies erst sein, wenn die Region eines Tages von EU-Staaten umgeben ist! Auch deshalb müssen wir alle Möglichkeiten der Zusammenarbeit
der Ostseestaaten mit Russland nutzen. Es geht darum,
dass Russland über die Ostseezusammenarbeit hinaus in
ein Beziehungsgeflecht eingebunden wird.
({12})
Eine gute Zusammenarbeit mit Russland ist nicht nur
wichtig für die Staaten in der Ostseeregion, sondern für
ganz Europa.
Geben wir Deutschen mit dem Vorsitz im Ostseerat
neue, starke Impulse zum Wohle aller Menschen für eine
bessere Zukunft!
Vielen Dank für Ihre Geduld.
({13})
Das Wort
hat jetzt die Ministerpräsidentin des Landes SchleswigHolstein, Frau Heide Simonis.
Heide Simonis, Ministerpräsidentin ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren Abgeordneten! Der Bundestag diskutiert heute
über die Chancen der Ostseekooperation. Das ist gut so,
gibt es uns doch die Möglichkeit, auf die Potenziale in
Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Kultur
in diesem Raum hinzuweisen, vor allem auch diejenigen,
die von ihrer Wohnung aus nicht gerade ihren großen Zeh
in die Ostsee halten können.
Es gibt viele Symbole, unter anderem die neue Öresundbrücke zwischen Malmö und Kopenhagen, die in
zwei Tagen für den Verkehr freigegeben wird. Die inoffizielle Freigabe wurde zu einem viertägigen Volksfest, an
dem nach Expertenaussagen 100 000 Menschen teilgenommen haben, unter anderem der Außenminister, der
über die Brücke gejoggt ist und mit anderen eine halbe
Marathonstrecke zurückgelegt hat,
({1})
sowie Radfahrer und Inlineskater, die die Brücke in Besitz genommen und sich über das Zusammenwachsen der
Staaten gefreut haben. Am 1. Juli erfolgt die offizielle Inbetriebnahme dieser Brücke mit 3 000 Ehrengästen aus
ganz Europa, die auch alle kommen werden, weil sie die
symbolische Bedeutung dieser Brücke begreifen.
Dies ist vor allem auf die positive Haltung der Dänen
und Schweden zu Europa zurückzuführen. Die Schweden, die sich lange als eine Insel und Europa als Kontinent
betrachtet haben, haben sich entschlossen, näher heranzurücken. Die Öresundquere ist Teil eines gigantischen
Projektes, das Skandinavien fest mit dem europäischen
Kontinent verbinden soll. Man möchte dabei sein und dazugehören.
1998 wurde die Brücke über den Großen Belt zwischen
den dänischen Inseln Seeland und Fünen eröffnet. Nun
fehlt als letztes großes Teilstück die Fehmarn-Belt-Querung. Wenn das alles so einfach wäre, wie Sie glauben, lieber Herr Koppelin, hätten Sie in den letzten zehn Jahren
Ihrer Regierungszeit den ersten Spatenstich machen können.
({2})
So einfach können Brücken und Tunnel zwischen unterschiedlichen Ländern nun wirklich nicht gebaut werden,
vor allem nachdem zunächst die Dänen und auch die Bundesregierung dagegen waren und Schleswig-Holstein das
einzige Land war, das tapfer zu dieser Brücke gestanden
hat, obgleich es sich empfahl, in Fehmarn nur noch mit
Leibarzt anzureisen, weil der Fährverkehr davon unter
Umständen negativ beeinflusst würde.
({3})
- Natürlich, weil sie an die Arbeitsplätze gedacht haben.
Fragen Sie einmal die Leute, was sie davon halten. Man
muss auf solche Gefühle auch Rücksicht nehmen, wenn
man Großprojekte in die Welt setzt.
({4})
In der Zwischenzeit gibt es jedenfalls im Norden Europas eine Aufbruchstimmung, die nicht zuletzt auch dadurch genährt wird, dass die Wirtschaftskraft in dieser
Region steigt und europaweit wirklich herausragt. Der
Abbau der Arbeitslosigkeit, vor allem bei unseren dänischen und schwedischen Nachbarn, ist kaum zu beschreiben. In wenigen Jahren ist es der dänischen Regierung gelungen, den Haushalt aus den roten Zahlen zu führen, die
Arbeitslosigkeit von 13 auf 4,5 Prozent zu senken; dies
übrigens mit der so genannten und von Ihnen verteufelten
Ökosteuer.
Insgesamt investieren Dänemark und Schweden
20 Milliarden Euro in eine gemeinsame Verkehrsinfrastrukturpolitik in dieser Region. Aus anfänglicher Skepsis
wurde Zustimmung. Es wuchs die Einstellung, das Beste
aus den sich bietenden Chancen zu machen. Das ist die
pragmatische Haltung der Skandinavier, die nicht lange
fragen: Was habe ich gestern gesagt?, sondern die neu
überlegen und bewerten sowie neue Ziele formulieren.
({5})
Die Ostseeregion ist ein gutes Beispiel für eine gewachsene Großregion, wie sie in Zukunft immer stärker
das Gesicht Europas prägen wird. Die Bürgerinnen und
Bürger füllen sie in vielen Initiativen und Organisationen
mit Leben und kümmern sich darum, dass sich die Menschen in einer solchen Großregion nicht verloren vorkommen.
In den letzten 10 Jahren haben die neuen Demokratien
in Polen, in den baltischen Staaten und in Russland den
Weg zurück nach Europa dadurch erleichtert bekommen,
dass auch die Skandinavier mit dabei waren und dass ihnen von allen der Weg ohne Gesichtsverlust erleichtert
wurde. Es wird nicht mehr lange dauern, dann ist die Ostsee das größte europäische Binnenmeer. In einer erweiterten Europäischen Union muss die Ostseekooperation
deshalb eine neue Basis finden. Sie muss über das hinaus,
was zum Beispiel Mecklenburg, Hamburg und Schleswig-Holstein, zum Teil auch mit Bordmitteln, gemacht
haben. Dabei werden auch die regionalen und nichtstaatlichen Zusammenschlüsse in der Region großes Gewicht
haben, obgleich ich manchmal glaube, dass die 70 und
mehr Organisationen schon fast einen eigenen Führer
brauchen, um sich durchzufinden. Aber immerhin sind sie
da und zeigen das große Interesse, das man dort in der Region hat.
Mehr als 10 Jahre lang bestand das Engagement des
großen EU-Mitglieds Deutschland in der Ostseekooperation eigentlich nur in einer interessierten Beobachtung.
Der jetzige Bundeskanzler hat sich innerhalb eines Jahres
mit mehr skandinavischen und baltischen Staatspräsidenten getroffen, hat mehr Reisen in die Region unternommen als der ehemalige Bundeskanzler Kohl, der innerhalb
von 10 Jahren einmal in Visby und einmal als Privatbürger in Riga war. Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass
dies dort oben aufgefallen ist.
({6})
Jedenfalls ist das Signal verstanden worden: Deutschland wird sich in der Ostseeregion engagieren und steht
den Staaten dort zur Seite. Die Regierung unter Gerhard
Schröder hat die Bedeutung der Ostsee für Deutschland
verstanden. Wir sind dankbar, dass wir jetzt Hilfe bekommen. Das Echo in den drei baltischen Staaten - das war
fast ein bisschen beschämend - war geradezu überwältigend positiv und von großen Erwartungen gekennzeichnet.
Wir erwarten jetzt von dem Ostseerat, dass er in Zukunft entschiedener die politischen Ziele für die Entwicklung der Region formuliert und festlegt, welche Projekte
dafür vorrangig sind und welche von wem vorangetrieben
werden müssen.
Frau Ministerpräsidentin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Börnsen?
Heide Simonis, Ministerpräsidentin ({0}): Aber gerne, bitte schön.
Frau
Ministerpräsidentin, Sie haben gerade Ihren gemeinsamen Besuch mit dem Bundeskanzler in den drei baltischen Staaten angesprochen. Der „Spiegel“ hat darüber
sehr ausführlich berichtet und mitgeteilt, dass Sie sich zu
der Äußerung haben hinreißen lassen, der estnische Präsident sei ein Erpresser. Vielleicht nehmen Sie die Gelegenheit wahr, vor dem Hohen Haus zu klären, ob Ihre
Aussage zutrifft. Ich finde, schon die Art und Weise, wie
wir mit unseren Nachbarn umgehen, ist Voraussetzung für
ein freundschaftliches Verhältnis im Ostseeraum. Wenn
der „Spiegel“ schreibt: „,Der Meri ist ein Erpresser‘,
schäumte die Dame aus dem meerumschlungenen Ländchen“ Schleswig-Holstein, dann finde ich, wäre es richtig,
die Sache hier einmal klarzustellen.
({0})
Heide Simonis, Ministerpräsidentin ({1}): Herr Koppelin, Sie wollen doch nicht in die Fußstapfen des Altbundeskanzlers treten und sagen, dass ich
keine Dame bin.
Im Übrigen: Nicht alles, was der „Spiegel“ schreibt,
kann man bestätigen, meine sehr verehrten Damen und
Herren.
Die drei zentralen Aufgaben, die jetzt auf der politischen Tagesordnung stehen, sind folgende: Im Interesse
des wachsenden Europas dürfen erstens in der Ostseeregion keine neuen sozialen und ökonomischen Trennlinien - auch keine in Kunst und Kultur, in Wirtschaft und
Wissenschaft - entstehen. Deswegen appellieren wir an
die Europäische Union und an die Regierungen der Mitgliedstaaten, bei dem Erweiterungsprozess eine soziale
Dimension mit einzuführen. Dieses würde auch die Gewerkschaften stärker mit einbinden und ihnen die Zusammenarbeit erleichtern.
({2})
Ministerpräsidentin Heide Simonis ({3})
Die Tradition eines europäischen Sozialstaats ist etwas,
was für diese Staaten zum Teil neu ist und wo wir ihnen
helfen müssen.
Zweitens. Wir wollen vor allem in dem Europa von
morgen einen Wettbewerb länderübergreifender Entwicklungsräume haben. In diesem Wettbewerb soll die
Ostseeregion ganz weit vorne mitspielen und er soll es
den Menschen ermöglichen, ihr Können und ihr Wissen
mit einzubringen. Man muss beobachten, was dort oben
die Stärken sind. Der Handel in den IT- und Multimediabranchen ist in der Ostseeregion die Nummer eins und
in Europa führend. Der Ausbildungsstandard rund um das
Mare Balticum ist exzellent. Die Zusammenarbeit zwischen den Universitäten - es wurde darauf hingewiesen -,
zwischen 300 wissenschaftlichen Einrichtungen ist so
gut, wie man es sich besser gar nicht vorstellen kann. Eine
Initiative „Wissensgesellschaft Ostsee“ wäre mehr als ein
reiner Jugendaustausch - so wichtig er auch ist -, etwas,
wo junge Menschen zusammentreffen können und gemeinsam ihr Können und Wissen austauschen können.
Drittens. Durch die Ostseezusammenarbeit muss ein
entscheidender Beitrag geleistet werden, die Beziehungen
der EU zu Russland zu stabilisieren. Das Prinzip „Stabilität durch Kooperation“ ist hier greifbar. Das Prinzip der
„Northern Dimension“, so wie es die Finnen formuliert
haben, ist von uns aufgegriffen worden. Die Finnen hatten genau das im Blick, was hier vorhin kritisiert worden
ist, nämlich den Menschen von Region zu Region in ganz
konkreten kleinen Beispielen zu zeigen, was es bedeutet,
wenn man zusammenarbeitet, anstatt nur Sonntagsreden
zu halten.
({4})
Wir haben uns zusammen mit Mecklenburg und Hamburg bereit erklärt, solche Aufgaben zu übernehmen. Ich
kann Ihnen wirklich sagen, Kaliningrad ist ein harter
Brocken, wenn man die Armut, das Elend, die Hilflosigkeit dort sieht und natürlich die daraus resultierende Verzweiflung der Menschen, ob überhaupt etwas verbessert
wird, nur weil man zur Ostseeregion gehört.
In einem Jahr werden wir es nicht schaffen, die Aufgaben zu Ende zu führen, weil sie viel zu lange liegen geblieben sind. Aber die richtigen Weichen müssen jetzt gestellt werden. Ich habe das Gefühl, als ob sowohl der
Außenminister als auch die Regierung von Gerhard
Schröder insgesamt langsam, aber sicher den Blick auch
einmal nach Norden wenden und den Menschen dort das
Gefühl geben, dass sie nicht in einer Randlage leben, sondern sich mitten im wichtigsten Geschehen befinden, was
das Zusammenwachsen Europas angeht.
Die schleswig-holsteinische Landesregierung wird jedenfalls ab dem 1. Juli 2000 die Koordination der norddeutschen Länder in der Ostseezusammenarbeit übernehmen und als fairer Partner zwischen den Ländern und der
Bundesregierung auftreten. Sie wird nicht nur für uns selber reden, sondern für die gesamte Region.
Für die Zukunft der Ostseeregion ist es jedenfalls entscheidend, ob es uns gelingt, sie als eine dynamische und
wettbewerbsfähige Großregion in Konkurrenz zu anderen
Großregionen der Europäischen Union zu etablieren und
ihr das Selbstbewusstsein zu geben, dass alle gefordert
sind und wir ohne sie keinen Schritt weiterkommen. Jugendbegegnungen gehören genauso dazu wie wissenschaftlicher Austausch, wie Ars Baltica, wie Jazz Baltica,
wie die Teilnahme am schleswig-holsteinischen oder am
mecklenburgischen Musikfestival. Ich will dabei nicht
nur uns loben: andere machen genauso viel.
Die Glaubwürdigkeit resultiert jedenfalls daraus, dass
die Menschen das Gefühl haben, dabei zu sein. Die Hilfe
bei den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die es zu überwinden gilt - die Hilfe wird zum Beispiel durch die Landesbanken geleistet, durch die Norddeutsche Landesbank
genauso wie durch die Schleswig-Holsteinische Landesbank -, ist manchmal mehr wert als manche Aufforderung, wir müssten etwas tun. Wenn vor Ort jemand ist, der
bereit ist, Geld zu investieren, stärkt das das Selbstvertrauen der Menschen mehr als manches andere.
({5})
Dies kann die Bundesregierung während ihres einjährigen Vorsitzes im Ostseerat aufbauen. Ich wünsche ihr
dabei viel Erfolg und wünsche der gesamten Region die
Aufmerksamkeit, die sie verdient hat und die ihr so lange
vorenthalten worden ist.
Ich bedanke mich.
({6})
Das Wort
hat nun der stellvertretende Ministerpräsident und Minister für Arbeit und Bau des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Herr Helmut Holter.
Helmut Holter, Minister ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der
deutschen Vereinigung vor zehn Jahren und den Reformen in Mittel- und Osteuropa hat die Ostsee als Wirtschafts- und Kulturraum gewonnen. Wir „Südschweden“
in Mecklenburg-Vorpommern sind mittendrin. Das ist
nicht zuletzt ein Grund dafür, dass wir sehr gern im Auftrag des Bundes den Vorsitz im Ausschuss für Raumentwicklung im Ostseerat übernommen haben.
Für die Mitwirkung Mecklenburg-Vorpommerns am
Zusammenwachsen bilden traditionelle Verbindungen
mit den skandinavischen und baltischen Staaten sowie mit
Polen gute Voraussetzungen. Als Bindeglied zwischen
West und Ost sowie als Tor zum Norden kann und will das
Land die Herausforderungen annehmen und zur partnerschaftlichen Entwicklung beitragen. Gerade für Ostdeutsche lassen sich hier Arbeitsfelder erschließen, zumal
wir uns mit unseren Kenntnissen der russischen Sprache
und Mentalität - „mnogie mojich zemljakow goworjat
porusski; das heißt auf Deutsch: viele meiner Landsleute
sprechen russisch - und unseren Erfahrungen ganz konkret einbringen können.
In Ergänzung zu dem, was bisher schon gesagt wurde:
Es ist schon viel passiert und wir bemühen uns intensiv
Ministerpräsidentin Heide Simonis ({1})
um eine engere Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn,
so zum Beispiel bei den Biotechnologien. Mit dem schwedischen Medicon Valley sind Vereinbarungen getroffen
worden. Es gibt bei uns einen Initiativkreis, der die Gründung eines Biocon Valley in Mecklenburg-Vorpommern
vorbereitet.
In der Tourismusbranche boomt es. 1999 besuchten ein
Drittel mehr Schweden, nämlich fast 32 Prozent, und ein
Fünftel mehr Dänen, nämlich 18,2 Prozent, als im Vorjahr
Mecklenburg-Vorpommern. Falls jemand von Ihnen Segler ist, habe ich auch hier eine gute Kunde. Wir weben im
Rahmen von EU-Programmen an einem Netz von Sportboothäfen, das von Westen bis Osten rund um die Ostsee - und übrigens auch bis nach Berlin - reicht. Seien Sie
herzlich willkommen an Bord, meinetwegen auch online.
({2})
Es stehen ganz neue Projekte ins Haus. Geplant ist eine
Gaspipeline von Nordwestrussland über Südwestfinnland
durch die Ostsee nach Greifswald/Lubmin in Vorpommern. Von diesem Projekt erhoffen wir uns Jobs und Impulse für wirtschaftliche Entwicklung zusammen mit
Russland, das für uns der wichtigste Handelspartner im
Ostseeraum ist.
Wie Sie vielleicht wissen, planen wir auch die Ansiedlung von Gaskraftwerken an einem ehemaligen Energiestandort in Lubmin. Hierfür brauchen wir in der Tat die
Unterstützung der Bundesregierung, und zwar in stärkerem Maße als bei der missglückten Ansiedlung der Montagestätte des A3XX in Rostock-Laage.
({3})
Hier ist eine Entscheidung auch hinsichtlich einer Befreiung Mecklenburg-Vorpommerns von der Gassteuer notwendig. Wir brauchen gerade im vorpommerschen Raum
wirtschaftliche Entwicklung. Wer es ernst meint mit der
Chefsache Ost, muss dies auch praktizieren.
({4})
Das Baltikum war in der Vergangenheit wiederholt ein
Krisengebiet. Es gibt Probleme und die europäische Dimension wird im 21. Jahrhundert diese Probleme beantworten müssen. Dazu brauchen wir nicht nur die Einbeziehung Polens und der drei baltischen Staaten, sondern
auch Russland muss mit den Lösungen einverstanden
sein, die von uns gemeinsam gefunden werden müssen.
Auf der einen Seite funktioniert die Zusammenarbeit mit
den EU-Mitgliedstaaten sehr gut, auf der anderen Seite
gibt es ein paar Probleme, nämlich mit den Nichtmitgliedern und den potenziellen Beitrittskandidaten zur Europäischen Union. Gemeinsam mit der Bundesregierung arbeitet unsere Landesregierung daran, diese Abstimmungsprobleme zu beseitigen. Trotzdem gibt es eine
Reihe von Aufgaben, die zu lösen sind. Ich möchte hier
drei nennen.
Erstens. Mit Blick auf die EU-Osterweiterung sollte
ein institutioneller Rahmen geschaffen werden. Ich
möchte Ihnen hier eine EU-Ostseekonferenz unter Einbeziehung aller Staaten der Region - Mitglieder der EU,
Nichtmitglieder und darunter auch die potenziellen Beitrittskandidaten - vorschlagen.
({5})
Diese Zusammenarbeit vollzieht sich, wie Sie wissen, auf
verschiedenen Ebenen, aber wir müssen die parallel laufenden Prozesse zusammenführen.
Zweitens - es klang schon an - ist es notwendig, das
von Finnland vorgelegte Konzept der nördlichen Dimension nun endlich umzusetzen. Dazu wird es Anfang September in Schwerin eine Konferenz geben.
Drittens müssen wir vor dem Beitritt Polens jetzt Voraussetzungen schaffen. Das betrifft den Ausbau der Infrastruktur im grenznahen Raum. Wir brauchen auch ein
Geflecht von Kooperationen. Deswegen ist es notwendig,
die Grenzförderung in den Mittelpunkt zu stellen und
den Vorschlag von Günter Verheugen tatsächlich in die
Tat umzusetzen.
({6})
Wir legen als Partei Wert darauf, nicht nur die Vorzüge
der Wirtschaftsunion zu nutzen, sondern uns auch um die
Zukunft der Sozialunion Europas zu kümmern. Aus diesem Grunde ist es nach meiner Meinung notwendig, Wirtschafts- und Sozialunion rund um die Ostsee gleichberechtigt zusammen zu entwickeln.
({7})
Hier kommt es darauf an, Ängste und Vorbehalte abzubauen.
Die Menschen in der Region müssen darauf vertrauen
können, dass europäische Politik für sie gemacht wird.
Erst wenn sie davon überzeugt sind, dass die Ostsee ein
Meer des Friedens und der gleichberechtigten Zusammenarbeit ist, haben wir die Herausforderungen bestanden. Dann haben die Ostseekooperation und die Integration im Ostseeraum eine tatsächliche Chance.
Ich danke Ihnen.
({8})
Als
nächster Redner hat das Wort der Kollege Johannes Pflug,
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Der 1992 gegründete Ostseerat war ja eine Antwort auf die neue politische Situation, die seit Ende der 80er-Jahre in Polen zu einer
demokratischen Regierung, in Deutschland zur Vereinigung, in den baltischen Staaten zur Unabhängigkeit und
auch zur Auflösung der Sowjetunion geführt hatte. Durch
diese Ereignisse hatte sich die politische Geographie des
Ostseeraumes grundlegend gewandelt mit völlig neuen
Chancen für eine verbesserte Zusammenarbeit der Ostseeanrainer.
Der Ostseerat ist eine politische Organisation, die sich
zum Ziel gesetzt hat, die Folgen der Teilung Europas zu
überwinden und Russland in die europäische Entwicklung einzubeziehen. In ihm arbeiten sehr unterschiedliche
Minister Helmut Holter ({0}):
Anrainerstaaten zusammen: EU-Mitglieder, EU-Kandidaten wie Polen und die baltischen Staaten, westliche
Nicht-EU-Mitglieder wie Norwegen und Island sowie
Russland, als ein Land, das stärker einbezogen werden
sollte in die Kooperation als Ostseeland, vor allen Dingen
auch wegen seiner Gebiete St. Petersburg und Kaliningrad.
Wir begrüßen den nüchternen, unspektakulären Pragmatismus, der die Arbeit des Ostseerates kennzeichnet. Er
gibt Empfehlungen zur Verbesserung der wirtschaftlichen
Zusammenarbeit in der Ostseeregion, zum Abbau von
Handelshemmnissen, zur Beschleunigung der Zollabfertigung, zur Unterstützung demokratischer Institutionen,
zur Erleichterung des Übergangs von der Plan- zur
Marktwirtschaft, zur Förderung des Umweltschutzes und
der nuklearen Sicherheit und zu vielen anderen praktischen Kooperationsbereichen.
Der Ostseerat versteht sich nicht als ein direktes
Durchsetzungsinstrument für operatives Handeln und ist
insofern auch nicht vergleichbar mit der Europäischen
Union oder der OSZE. Die Umsetzung seiner Empfehlungen und seiner Aktionspläne liegt in der Hand der Mitgliedstaaten. Aber er ist ein Rat- und Impulsgeber, ein Forum für den Austausch von Gedanken und ein Förderer
von Kooperation, wo Integration noch nicht möglich ist.
An dieser Stelle unterscheidet sich auch der Antrag der
CDU/CSU-Fraktion von dem der Regierungskoalitionen.
Die CDU/CSU-Fraktion fordert von der Bundesregierung
in ihrem Katalog, noch in diesem Jahr ein ostseespezifisches Leitbild und einen Zielkatalog vorzulegen. Sie fordert sogar einen Zeitplan zum Aktionsprogramm der
Agenda 21.
Herr Kollege Koppelin, wenn Sie vorhin bemängelt
haben, dass die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion
noch nicht beantwortet wurde,
({1})
liegt das möglicherweise daran, dass Abstimmungsprobleme zwischen der neuen und der alten Bundesregierung
vorhanden sind. Ich habe mit großem Interesse die Frage
61 in der Großen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion vom
1. Dezember letzten Jahres gelesen. Da heißt es: „Was hat
die Bundesregierung im Zeitraum von 1989 bis 1999 unternommen, um einer Zunahme der Migration präventiv
entgegenzuwirken?“ Nach meiner Erinnerung war die
neue Bundesregierung 1999 gerade ein Jahr im Amt. Es
scheint wohl so zu sein, dass die alte Bundesregierung beurteilt werden soll durch die neue.
({2})
Ich möchte zum Antrag der CDU/CSU zurückkommen. Ich glaube, dass alles, was Sie dort fordern, eine
Nummer zu groß ist. Es missachtet die Tatsache, dass wir
es beim Ostseerat mit einem multinationalen Gremium zu
tun haben, dessen Aktivitäten nicht von einem Mitgliedsland allein definiert werden können. Aufgabe des Vorsitzes im Ostseerat ist es, zu koordinieren und die Konsensfindung zu erleichtern und nicht die Entscheidungen an
sich zu reißen. Die CDU/CSU sollte deshalb nicht so tun,
als hätte die neue Bundesregierung durch den Koalitionsvertrag oder durch Regierungserklärungen, so wie es gefordert wird, die Entwicklung der Ostseeregierung dominieren können.
Der Ostseerat, dem auch die EU-Kommission als Mitglied angehört, hat in den vergangenen Jahren dazu beigetragen, die drei baltischen Staaten und Polen an die EU
heranzuführen. Heute ist die Einbindung Russlands in
die Ostseezusammenarbeit ein besonderer Schwerpunkt.
Seit dem Beitritt Finnlands im Jahre 1995 hat die EU eine
über 1 300 Kilometer lange Grenze mit Russland, die mit
der Aufnahme der Beitrittskandidaten natürlich noch länger wird. Sie betrifft unmittelbar den Ostseeraum. Umso
wichtiger wird es sein, zu verhindern, dass Russland hierdurch von der europäischen Entwicklung abgeschnitten
wird.
Der Ostseerat, der Russland einbezieht, ist ein relevanter werdendes Gremium, um Russland die Zusammenarbeit mit der EU zu erleichtern. Die Europäische Union hat
mit ihrer Initiative für eine so genannte nördliche Dimension damit begonnen, ihre Politik gegenüber Russland
weiterzuentwickeln. Wir benötigen darüber hinaus auch
Strukturen, in denen Russland unmittelbar mitarbeitet.
Hier kann der Ostseerat eine wichtige Rolle spielen.
Ein potenziell krisenträchtiger Aspekt im Zusammenleben der Ostseeanrainer ist das große Wohlstandsgefälle, insbesondere zwischen Russland und den heutigen
EU-Ländern. Armut und Reichtum liegen in der Ostseeregion näher beisammen als in den meisten anderen Regionen der Welt. Das Pro-Kopf-Einkommen der Finnen
ist beispielsweise zehnmal höher als das auf der russischen Seite der Grenze und die wirtschaftliche Entwicklung in Kaliningrad verlief noch schlechter als im 400 Kilometer entfernten Hauptland. Das muss nicht, aber das
kann durchaus zum Ausgangspunkt von zwischenstaatlichen Konflikten werden. Hier kann Krisenvorbeugung
genau an die Kultur kooperativen Handelns im Ostseeraum anknüpfen.
Der Antrag der Koalitionsfraktionen verfolgt das Ziel,
den Ostseerat und die Ostseekooperation zu stärken.
Deutschland wird ab dem 1. Juli 2000 den Vorsitz im
Ostseerat übernehmen. Meine Fraktion möchte die Bundesregierung ermutigen, ihren Vorsitz im Ostseerat aktiv,
insbesondere für die Zusammenarbeit mit Russland, zu
nutzen. Es gehört zur Politik einer bewussten Krisenprävention, Gelder nicht nur in die Regionen zu lenken, die
nicht selbst für Stabilität sorgen können. Vielmehr sind
Gelder zur Krisenpräventionen gerade auch dort gut investiert, wo die Bereitschaft zur regionalen Stabilisierung
bereits besteht. Der Ostseeraum ist eine solche Region
und hat deswegen eine breite Unterstützung verdient.
Ich bitte den Deutschen Bundestag, dem Antrag der
Koalitionsfraktionen zur Ostseezusammenarbeit zuzustimmen.
({3})
Herr Kollege Pflug, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede in
diesem Hause. Vielen Dank.
({0})
Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Paul Krüger
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Anträge, über die wir heute diskutieren, weisen eine große
Übereinstimmung auf. Deswegen ist die Debatte auch
nicht sehr kontrovers. Die Anträge beinhalten im Wesentlichen deutliche Aufforderungen an die Bundesregierung
zur Stärkung der Ostseeregion im Zusammenhang mit der
europäischen Integration der Oststaaten. Interessant ist allerdings, dass auch in dem Koalitionsantrag, also im Antrag des Bündnisses 90/Die Grünen und der SPD, die
Bundesregierung aufgefordert wird, hier aktiv zu werden.
Das ist in der Tat ein interessanter Vorgang.
({0})
Man fragt sich: Warum ist das so? Es ist so, weil die Bundesregierung - das wurde hier schon gesagt - offensichtlich zu inaktiv ist. Man könnte auch sagen: Sie schläft an
dieser Stelle.
({1})
Wenn man sich die Anträge, die Gott sei Dank im Wesentlichen übereinstimmen, genau anschaut, dann stellt
man fest, dass zuerst die CDU/CSU eine Große Anfrage
gestellt hat. Dann kam der Antrag der CDU/CSU. Erst wesentlich später folgten alle weiteren Anträge, die heute
vorliegen.
Man könnte annehmen, dass sie bei der CDU abgeschrieben worden sind. Das ist gar nicht so wichtig. In meinen
Augen ist es wichtig, dass wir alle in dieser Frage die gleiche Intention haben.
({2})
Mit der angestrebten Integration weiterer osteuropäischer Staaten wird Europa nicht nur östlicher, sondern
vor allem nördlicher, man könnte auch sagen: baltischer.
Die EU-Mitglieder Nordosteuropas sind dann ausschließlich Ostseeanrainerstaaten. Berlin - 200 Kilometer von
der Ostsee entfernt - rückt vom Rand in die Mitte Europas; damit ergibt sich auch für die Ostsee eine neue Dimension der Betrachtung. In der Tat besteht damit Hoffnung auf mehr Zuwendung für diese Region durch die
Bundesregierung. Bisher war diese Hoffnung leider vergeblich.
Die Differenzen in der Entwicklung zwischen den
westlichen EU-Mitgliedern und den designierten neuen
Staaten sind enorm. Wolfgang Börnsen hat darauf eindrücklich hingewiesen. Man könnte von einer faktisch
noch vorhandenen Ost-West-Trennung sprechen. Deshalb
bleiben Anstrengungen zur Angleichung langfristig notwendig. Insbesondere wenn man auf die Entwicklung der
Angleichung der Verhältnisse in den alten und in den
neuen Bundesländern schaut, dann weiß man, dass der
Weg ein sehr langer sein wird. Die Ostsee könnte als Bindeglied zwischen den Mitglied- und den Nichtmitgliedstaaten fungieren, um diesen Prozess zu beschleunigen.
Darüber hinaus besteht - auch das ist heute schon gesagt worden - die Möglichkeit, Russland mit der Enklave
Königsberg und mit Sankt Petersburg einzubinden. Gegebene Voraussetzungen für diesen möglichen Prozess sind
dabei die zum Teil schon seit langer Zeit bestehenden Bindungen und auch die gemeinsamen Interessen aller Ostseeanrainerstaaten. Ich denke an die gemeinsame Historie
und an die gemeinsame Kultur. Die Hanse ist heute erwähnt worden. Zeichen für diese Zusammengehörigkeit
sind auch die nordeuropäische Backsteingotik und viele
andere Bereiche.
Die Ostsee ist ein gemeinsamer Lebensraum und
eine gemeinsame Lebensgrundlage. Ich denke an Schiffbau, Schifffahrt, Fischerei, Tourismus und viele andere
Gebiete. Es gibt gemeinsame ökologische Interessen; es
geht um eine nachhaltige Bewirtschaftung der Ostsee, um
Meeresverschmutzung, um ein gemeinsames Handeln im
Falle von Ölkatastrophen und bei Fällen von Seenot, um
eine gemeinsame Katastrophen-, Bergungs- und Rettungstechnik und um viele andere Felder der Zusammenarbeit.
Nicht zuletzt - auch das ist hier angesprochen worden geht es um gemeinsame Sicherheitsinteressen bei der
Bekämpfung der organisierten Kriminalität, bei der illegalen Einwanderung und auch bei der Bekämpfung von
Zoll- und Wettbewerbsverstößen.
Der Ostseerat mit seinen elf Mitgliedsländern hat in
den letzten Jahren erste wichtige Schritte der notwendigen Zusammenarbeit eingeleitet. Deutschland wird in wenigen Tagen die Präsidentschaft übernehmen. Wenn man
von Deutschland in der Vergangenheit eine Schrittmacherrolle im europäischen Einigungsprozess gewohnt
war, dann teilt man sicherlich die Auffassung, dass von
der deutschen Präsidentschaft wichtige Impulse für die
Entwicklung der Ostseeregion ausgehen sollten. Der Umstand, dass heute von fast allen Fraktionen Anträge als
Handlungsaufforderung gegenüber der Bundesregierung
gestellt worden sind, beweist eigentlich, dass die Bundesregierung auf diesem Gebiet nicht aktiv geworden ist.
Dabei geht es vordergründig nicht um die Schaffung
einer Ostseeidentität, wie sie im Koalitionsantrag gefordert wird. Bei der auch für die Zukunft gewollten kulturellen Vielfalt der europäischen Regionen geht es vielmehr darum, die enormen Entwicklungspotenziale der
Ostseeregion zur Entfaltung zu bringen. Das betrifft zuallererst die wirtschaftliche Entwicklung und sollte, ausgehend von den Erfahrungen der neuen Bundesländer, nicht
ausschließlich als eine Frage der finanziellen Unterstützung gesehen werden. Es geht um Fragen der politischen
Stabilisierung, des Abbaus von Handelsschranken, der
Organisation von Bildungsprozessen, des Jugendaustausches und nicht zuletzt des Innovationstransfers bzw. des
Innovationsmanagements.
Bei der Aus- und Weiterbildung gilt es dabei vor allem,
im Rahmen einer stärkeren Vernetzung wesentlich mehr
Flexibilität, mehr Praxisbezug und auch mehr privatwirtschaftliches Engagement zu nutzen. Darüber hinaus bleibt
der weitere Ausbau der Infrastruktur, insbesondere im Bereich der Kommunikation und der Verkehrswege, die
Kernfrage der wirtschaftlichen Entwicklung. Darüber
sollten wir uns Klarheit verschaffen.
Dass hierbei intelligente Lösungen im Rahmen der
transeuropäischen Netze zu finden sein werden, ist selbstverständlich. Zentrale Bedeutung kommt dabei aus meiner Sicht der schnellen Realisierung der so genannten
Baltikautobahn zu, die die industriellen Ballungszentren
Mitteleuropas mit der Nordostregion des Ostseeraumes
verbinden soll. Damit kann die Voraussetzung für eine gedeihliche wirtschaftliche Entwicklung geschaffen werden.
Viele intelligente Schritte bis hin zu einer gemeinsamen touristischen Vermarktung werden notwendig sein,
um wirtschaftlich deutlich voranzukommen. Leider sind
diese Schritte bis heute nicht erkennbar. Die Bundesregierung arbeitet hier ohne erkennbares Konzept und ohne
erkennbare Initiative. Sie verpasst damit nicht nur wichtige Chancen im europäischen Einigungsprozess bezüglich der Osterweiterung, sondern vor allem auch Möglichkeiten der Entwicklung in den Ostseeregionen
Deutschlands, so etwa in meinem Heimatland Mecklenburg-Vorpommern, und damit ganz Deutschlands.
Deshalb brauchen wir eine gemeinsame Ostsee-Offensive, wie wir sie mit unserem Antrag vorschlagen, und deren aktive Umsetzung durch die Bundesregierung. Herr
Schröder und Herr Fischer, folgen Sie unseren Anträgen,
und warten Sie nicht weiter zu! Werden Sie endlich aktiv!
Vielen Dank.
({3})
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt
Staatsminister Dr. Christoph Zöpel das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu den
Anmerkungen der Opposition in Kürze Folgendes:
Erstens. Ein guter Außenminister hat gute Staatsminister. Einer von beiden ist hier. Das entspricht der Lage.
({0})
- Auch ein schlechter Außenminister kann gute Staatsminister haben, aber der hier ist gut.
({1})
Zweitens. Auch lange Anfragen werden von uns sorgfältig beantwortet. Es gilt das Prinzip „Genauigkeit vor
Schnelligkeit“.
({2})
Drittens. Jede Anregung aus dem Parlament, die der
Politik der Bundesregierung hilft, wird von uns begrüßt,
in diesem Fall etwas stärker der Antrag der Koalitionsfraktionen als Ihr Antrag, der aber auch in vielen Punkten
sehr in Ordnung ist.
Viertens. Zu unserer konkreten Politik:
Erstens die Ostseepolitik: Die bilateralen Beziehungen
zu vier Staatengruppen, zu drei EU-Mitgliedstaaten, vor
allem zu Schweden, sind exzellent. Es gibt gemeinsame
Initiativen in der nichtmilitärischen Sicherheitspolitik.
Zweitens die Beziehungen zu vier Beitrittsstaaten: Wir
tun alles, damit diese so schnell wie möglich beitreten
können. Wir ersparen ihnen aber Beitrittsdaten, die nicht
eingehalten werden. Das war das Prinzip Kohl.
({3})
Drittens die Beziehungen zu Ländern, die nicht beitreten wollen: Zu Norwegen und Island bestehen exzellente
Beziehungen, vor allem zu Norwegen im Rahmen der internationalen Friedenspolitik.
Viertens die Beziehungen zu Russland: Der Putin-Besuch hat gezeigt, dass sich die Kooperation mit Russland
auf einem neuen, hervorragenden Niveau befindet.
({4})
Bilaterale Beziehungen können am besten durch die EU
gebündelt werden. Auf Initiative Finnlands ist die nördliche Dimension auf den Weg gebracht worden. In der letzten Sitzung des Ministerrats in Luxemburg hat die EU die
gemeinsame Dimension, die nördliche Dimension, verabschiedet.
Folgerungen daraus:
Aufgabe des Ostseerats: die nördliche Dimension implementieren. Das ist die Hauptaufgabe des deutschen
Vorsitzes. Am Ende des deutschen Vorsitzes, der ja noch
gar nicht angefangen hat, sondern erst übermorgen beginnt, wird die nördliche Dimension implementiert sein.
Dazu gehören drei große Aktionspläne,
({5})
die nicht das größte Land allein entwirft, wie es Ihren Forderungen entspräche, weil die Großen die anderen nicht
bevormunden sollen.
({6})
Wir werden diese Pläne also gemeinsam mit den kleinen
Ländern der Union entwerfen. Die Pläne gelten drei Dimensionen: erstens der Wirtschaft, zweitens der Ökologie, drittens der Wissenschaft. In zwölf Monaten sind wir
weiter.
Noch eines gilt: Es hat gar keinen Zweck, darüber zu
diskutieren, was wichtiger ist, staatliche Politik oder zivile Gesellschaft. Wir wollen, dass staatliche Politik und
zivile Gesellschaft auch im Ostseeraum vernetzt werden.
({7})
In zwölf Monaten wird das alles noch besser aussehen als
heute.
Danke für alle Anregungen.
({8})
Ich
schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Antrags der
Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/3293 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem
Titel „Die Chancen der Ostseekooperation nutzen“ auf
Drucksache 14/3587. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die
Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P. angenommen.
Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „Für eine kohärente Ostseepolitik“ auf Drucksache 14/3675. Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur
Änderung der Verordnung ({1}) Nr. 1251/1999
zur Einführung einer Stützungsregelung für
Erzeuger bestimmter landwirtschaftlicher Kulturpflanzen zur Einbeziehung von Faserflachs
und -hanf
Vorschlag für eine Verordnung des Rates über
die gemeinsame Marktorganisation für Faserflachs und -hanf
- Drucksachen 14/2747 Nr. 2.54, 14/3415 Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Klaus Rose
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Waltraud Wolff von der SPD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Meine Damen und Herren! Hanf und Flachs
sind zurzeit nicht nur in Fachkreisen Gesprächsthema,
sondern in aller Munde. Bis vor den Zweiten Weltkrieg
hatten diese Kulturpflanzen eine große Bedeutung, unter
anderem auch als Lieferanten wertvoller Spinnfasern.
Nun haben sie aufgrund ihrer Wiederentdeckung und der
vielfältigen Einsatzmöglichkeiten ihrer Fasern ein tolles
Comeback gefeiert, in Deutschland leider erst nach 1996.
Das soll uns jetzt auf die Füße fallen? Ich selber habe in
der letzten Woche das Hanfhaus hier in Berlin-Kreuzberg
besucht und habe auch interessante Gespräche zu diesem
Thema geführt.
Die EU versprach sich von diesen Kulturpflanzen auch
die Erschließung neuer Märkte und räumte ihren Mitgliedstaaten zum Aufbau Fördermöglichkeiten ein, die
dann in einer Verordnung festgehalten wurden. Entscheidende Rahmenbedingungen dieser Verordnung sollen
nun verändert werden. Das geschieht an Stellen, meine
Damen und Herren, die uns in Deutschland vor fast unlösbare Probleme stellen.
Vorausschicken will ich, dass Deutschland an einer Reform der gemeinsamen Marktordnung für Hanf und
Flachs, die längst überfällig war, interessiert ist, denn
Haushaltsbegrenzungen sind dringend erforderlich - das
sehen wir ein.
Die bisherige Regelung hatte den entscheidenden Haken, dass sich in Windeseile herumgesprochen hat, wie
gut man eigentlich beim Hanfanbau verdienen kann, und
der Prämienabfang florierte prächtig. Ich sage das nicht
aus der hohlen Hand; vielmehr kann man das sehr genau
beobachten: Man schaue sich nur einmal an, in welcher
Größenordnung der Hanfanbau in einigen wenigen Ländern zunahm und wie sich daneben deren industrielle
Verarbeitungsmöglichkeiten entwickelt haben. Grob eingeschätzt kann ich sagen, dass viele Tausend Tonnen in
Europa einfach für die Halde produziert wurden. Diese
Praxis kann natürlich nicht weitergeführt werden, denn
diese Art von Subventionierung war nicht geplant.
({0})
Der EU-Haushalt für Hanf und Flachs ist innerhalb der
letzten fünf Jahre von 74 Millionen auf 123,6 Millionen
Euro in die Höhe geschnellt. Die Ausbreitung des Anbaus
in der EU allein zum Zwecke des Prämienabfangs ist
unredlich. Das ist auch erkannt worden. Der Produktion
stand, wie ich vorher schon sagte, in einigen Ländern
nicht die entsprechende industrielle Verarbeitungskapazität gegenüber. Deshalb sind wir der Meinung, dass
man an dieser Stelle auch vonseiten der EU handeln muss.
Der Anbau von Kulturen, das Abkassieren der Prämien
und die Vernichtung der Erntemengen sind Zeichen dafür,
dass die Regelungen schlecht sind und in die falsche Richtung gehen.
Wie ist nun aber die Situation in Deutschland? Hier
bei uns ist der Hanfanbau erst 1996 wieder genehmigt
worden. Seitdem hat sich vorsichtig ein Markt entwickelt.
Im letzten Jahr stieg die Anbaufläche für Hanf auf über
3 900 Hektar an. Die Gesamtanbaufläche von Kurz- und
Langfaserflachs sowie Hanf betrug in Deutschland im
letzten Jahr insgesamt schon 4 500 Hektar. Auf die Produktionsmenge umgerechnet ergibt das circa 6 600 Tonnen Fasern. Diese Produktion - darauf möchte ich aufmerksam machen, das finde ich wirklich toll - wurde von
der heimischen Industrie auch verarbeitet.
Mit Ideenreichtum und Kreativität wurde der industrielle Einsatz begonnen, zum Beispiel in der Autoindustrie,
bei der Herstellung von Dämmstoffen, in der Bekleidungs-, Lebensmittel- und Kosmetikindustrie. Das ist positiv. Aber zurzeit ist es so, dass die Verarbeiter zum Beispiel auch im Bereich Bekleidung noch immer Hanf aus
China oder aus anderen Ländern einführen müssen, weil
die Maschinen für die Feinstzerfaserung hier noch fehlen.
Wer möchte in Deutschland schon in Maschinen investieren, von denen er morgen nicht mehr weiß, ob er sie wirklich verwenden kann?
Die Anbauerwartungen der heimischen Verarbeitungsindustrie wären eigentlich stark steigend - eigentlich;
denn die Kommission hat ungeachtet aller Marktentwicklungen vorgeschlagen, die diesjährige deutsche Anbaumenge in Höhe von 6 600 Tonnen als Ausgangsbasis für
die garantierte einzelstaatliche Höchstmenge in Deutschland zugrunde zu legen.
Als EU-Kommissar Fischler bei seinem Berlin-Besuch
kurz in unserem Ausschuss war, befragte ich ihn nach
Sonderregelungen für Deutschland, erhielt aber keine
Antwort, sondern bekam abschweifend die Besonderheiten des Anbaus erläutert. Ich glaube, er wusste schon ganz
genau, warum. Unsere Aufgabe muss es sein, den EU-Abgeordneten und der Kommission nochmals deutlich zu
machen, dass dem Anbau von Hanf und Flachs in
Deutschland der Aufbau der weiterverarbeitenden Industrie folgte, anders als in manch anderen europäischen
Staaten.
Gerade in strukturschwachen Gebieten siedelte sich
die Nachfolgeindustrie an. Ganz besonders in den neuen
Bundesländern hat man eine große Chance hierin gesehen. Weil sich dieser Zweig in Deutschland so gut entwickelt hat und auch politisch gewollt war, war klar, dass
er gefördert werden muss. Mittel in Höhe von circa 66,6
Millionen DM wurden bereits investiert, davon zum
Teil - man höre und staune - circa 75 Prozent Fördermittel aus der EU, vom Bund und von den Ländern. Wir wollen immer noch, dass diese Förderung auf die Erweiterung
des Marktes abzielt. Das sehen Bund und Länder einvernehmlich.
Man kann sich nur wundern, dass die EU bereitwillig
Fördermittel vergibt, um einen neuen Markt aufzubauen,
und dass nun genau dieser Markt und damit die getätigten
Investitionen wieder bedroht sind, weil andere Länder
Missbrauch betreiben. Warum hat Herr Fischler dazu
nicht Stellung bezogen? Mir hat seine Antwort nicht ausgereicht und ich habe mich noch einmal schriftlich an ihn
gewandt. Aber die Antwort, die vorgestern bei mir eintraf,
war mehr als dürftig. Entweder weiß er über die besonderen deutschen Verhältnisse nicht Bescheid oder er will sie
gar nicht kennen.
Der Markt muss aus seinem Nischendasein herauswachsen; denn nur so kann die Produktion auf Dauer rentabel werden,
({1})
denn nur so können die Betriebe lernen, auf eigenen Beinen zu stehen. Die 14 Betriebe, die es im Moment in
Deutschland schon gibt, haben für die Zukunft geplant,
weil sie nämlich auf den Rohstoff Hanf gesetzt haben.
({2})
Sie haben Kapazitäten von insgesamt 18 000 Tonnen
Hanf- und Flachsfasern. Vier weitere Unternehmen werden derzeit errichtet. Der Aufbau dieser Betriebe ist nicht
mehr zu stoppen.
Auch hier ist der finanzielle Einsatz beachtlich. Circa
23,6 Millionen DM wurden investiert; weitere 80,5 Millionen DM sind geplant. Die neuen Unternehmen werden
9 000 Tonnen Fasern verarbeiten können. Es ergibt sich
also in der Zukunft eine Verarbeitungskapazität von
27 000 Tonnen Hanf- und Flachsfasern: 6 600 Tonnen, die
genehmigt werden sollen, und 27 000Tonnen, die geplant
sind. Wie soll das aufgefangen werden? Ich glaube, hier
brauchen wir einen Kompromiss.
({3})
Aber nicht nur die verarbeitende Industrie ist betroffen.
Auch Erzeuger haben unter diesen Plänen zu leiden.
Als sehr schwer wiegend empfinde ich den Umstand,
dass keine Planungssicherheit gegeben werden kann.
Während die Verhandlungen in Brüssel laufen, warten die
Bauern und Landwirte auf ein Signal. Es fragt sich nur,
auf welches.
Wie werden die Flächenbegrenzungen für die folgenden Wirtschaftsjahre aussehen? Wie hoch wird im nächsten Jahr die tatsächliche Flächenbeihilfe ausfallen? Es
kann doch nicht sein, dass die Landwirte erst nach der
Aussaat erfahren, unter welchen Bedingungen sie produzieren müssen.
Am 3. Juli wird in Brüssel eine Sondersitzung des
Agrarausschusses stattfinden. Sollte man dort zu einer Einigung kommen, was ich hoffe, so kann trotzdem nicht
mit einer abschließenden Entscheidung vor der nächsten
Sitzung des Agrarrates gerechnet werden. Diese findet im
Übrigen erst Mitte Juli statt.
Meine Damen und Herren, aus internen Brüsseler
Kreisen verlautet, dass die Kommission für den 3. Juli einen neuen Vorschlag einbringt. Es ist geplant, die Höchstmenge von 6 600 Tonnen für Deutschland auf vier Jahre
festzuschreiben
({4})
und dann erneut zu beurteilen. Wenn das Wirklichkeit
wird, kann ich nur sagen: Gute Nacht, Marie. Erst sterben
lassen und dann vier Jahre später Gräber beweinen kommen. Das kann nicht sein. Deshalb mein Appell an
die EU-Abgeordneten - sie haben jetzt schon Flagge
gezeigt, indem sie keine Stellungnahme abgegeben haben -: Bleiben Sie dabei, auch für einen solchen möglichen Vorschlag keine Stellungnahme abzugeben.
({5})
Dies ist nämlich kein Vorschlag, sondern es wäre ein
Todesurteil.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie hier im
Haus um ein einmütiges Votum zu unserem Antrag, sodass die EU-Abgeordneten von uns Rückenstärkung bekommen und gemeinsam mit uns für einen sehr jungen
Landwirtschafts- und Wirtschaftszweig in Deutschland
kämpfen.
Vielen Dank.
({6})
Waltraud Wolff ({7})
Als
nächster Redner hat der Kollege Albert Deß von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich in das Thema
einsteige, möchte ich für die CDU/CSU-Fraktion dem
Bundeslandwirtschaftsminister die besten Genesungswünsche übermitteln.
({0})
Wir haben erfahren, dass er im Krankenhaus ist. Ebenso
möchte ich Staatssekretär Thalheim zum heutigen Geburtstag gratulieren.
({1})
Da wir schon bei Freundlichkeiten sind, möchte ich auch
den Staatsminister in der Bayerischen Staatsregierung,
Erwin Huber, recht herzlich begrüßen.
({2})
Seine Anwesenheit zeigt, welchen Stellenwert die Bayerische Staatsregierung dem Thema nachwachsende Rohstoffe zumisst.
({3})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die gemeinsame Marktorganisation für Faserflachs und -hanf ist meiner Ansicht nach, wie dies von der Vorrednerin schon
angesprochen wurde, nicht hinnehmbar. Diese EU-Verordnung würde, wenn sie so umgesetzt würde, das zarte
Pflänzchen nachwachsende Rohstoffe in diesem Bereich
zerstören.
({4})
Die Rahmenbedingungen, die für Deutschland mit
6 600 Tonnen vorgesehen sind, reichen in keiner Weise
aus, um die geplanten bzw. bereits gebauten Verarbeitungskapazitäten in Zukunft auszunutzen. Hier muss auch
ein gewisser Vertrauensschutz gegeben sein, wenn im
Hinblick auf die bisherige Rechtslage investiert wurde.
Deutschland darf nicht dafür bestraft werden, dass andere
EU-Länder diese Beihilfe missbrauchen. Ich bin mit dem
Deutschen Bauernverband einig, dass eine verursacherbezogene Sanktionierung zu erfolgen hat.
Der Aufbau einer ökologisch hochinteressanten Technologie wird hier im Keim erstickt. Ich habe in der vorigen Woche in meinem Heimatlandkreis Neumarkt einen
mittelständischen Jungunternehmer besucht, der intensiv
dabei ist, das Thema „Fahrzeugteile aus nachwachsenden
Rohstoffen“ voranzubringen. Für große Autofirmen in
Deutschland entwickelt er entsprechende Technologien.
Er hat mir gesagt, dass hier eine enorme Kapazität vorhanden ist, um umweltfreundliche Materialien zu verwenden, die später, wenn das Auto entsorgt werden muss,
umweltfreundlich entsorgt werden können.
Brüssel muss meiner Ansicht nach diesen Verordnungsentwurf zurücknehmen. Minister Funke hat die
Aufgabe, die deutschen Interessen in Brüssel umzusetzen,
um hier eine nachhaltige Entwicklung im Sinne der
Agenda 21 zu unterstützen. Deshalb hat die CDU/CSUFraktion am 10. Mai in der Ausschusssitzung dem Antrag
der Regierungsfraktionen zugestimmt. Meine Sorge ist
nur, dass Minister Funke, wenn er aus Brüssel zurückkommt, ein für Deutschland unbefriedigendes Ergebnis
mit nach Hause bringt.
Der Anbau von Faserpflanzen ist zwar nur ein kleiner
Mosaikstein hinsichtlich der Wirkung nachwachsender
Rohstoffe, aber trotzdem hochinteressant mit Blick auf
den Abbau von Agrarüberschüssen durch nachwachsende
Rohstoffe. Gerade durch die Faserpflanzen ist ein absolut
umweltfreundlicher Rohstoffeinsatz möglich. Ich darf daran erinnern, dass heute zum Beispiel Bremsbeläge mit
Inhaltsstoffen von Faserpflanzen hergestellt werden und
dadurch der Asbestzusatz überflüssig geworden ist. Hier
zeigt sich, wie umweltfreundlich nachwachsende Rohstoffe eingesetzt werden können.
({5})
Deshalb ist es meiner Ansicht nach auch verantwortbar,
dass in diesem Bereich EU-Gelder eingesetzt werden.
Der Fehler der EU-Agrarförderung liegt jedoch
darin, dass es in der Agrarförderung 100 Prozent Mittel
aus Brüssel gibt und dadurch dem Missbrauch Tür und
Tor geöffnet ist. Es wäre notwendig gewesen, bei der
Agenda 2000 eine Kofinanzierung der Agrarpolitik zu erreichen, wie es die CSU, die CDU/CSU-Fraktion und insbesondere die Bayerische Staatsregierung mit Edmund
Stoiber an der Spitze gefordert haben. Kofinanzierung in
der Agrarpolitik bedeutet nämlich nationale Mitverantwortung. Damit wird auch der Missbrauch solcher Mittel
eingeschränkt.
Ich finde es deshalb unverantwortlich, dass die
Agenda 2000 ohne Kofinanzierung abgeschlossen worden ist. Ich bin überzeugt, dass die Kofinanzierung der europäischen Agrarpolitik eine Voraussetzung dafür ist, dass
die Osterweiterung überhaupt finanziert werden kann.
({6})
Diese Kofinanzierung wäre aber auch die Voraussetzung
dafür gewesen, in Europa eine bessere Agrarpolitik durchzusetzen, die mehr auf Mengenbegrenzung statt auf Weltmarktagrarpreise setzt. Auf den Flächen, die dann für die
Agrarproduktion nicht benötigt werden, könnten nachwachsende Rohstoffe angebaut werden.
Wir würden insgesamt eine bessere Agrarpolitik erreichen, wenn man dem Thema nachwachsende Rohstoffe
auf europäischer Ebene mehr Beachtung schenken würde.
Wie Mengenbegrenzung am Markt funktioniert, machen
uns momentan die Ölscheichs eindrucksvoll vor. Genauso
würde Mengenbegrenzung in der Agrarpolitik funktionieren. Wenn wir darauf setzen würden, wären wesentlich
weniger Gelder der Steuerzahler notwendig, und unsere
Landwirte könnten auf den Märkten wieder bessere Preise
für ihre Produkte erzielen.
Längerfristig sind in Europa 30 Millionen Hektar
Agrarfläche nicht für die Nahrungsmittelproduktion erforderlich. Es ist interessant, welche Energiemenge dort
erzeugt werden könnte. Wir können pro Hektar etwa 5 000
Kilogramm Heizöläquivalent ernten. Das kann man hochrechnen: 5 Tonnen Heizöläquivalent pro Hektar mal
30 Millionen Hektar Agrarüberschussfläche ergeben immerhin 150 Millionen Tonnen Heizöläquivalent, die jährlich als nachwachsende Rohstoffe auf diesen Agrarüberschussflächen angebaut werden könnten. Damit könnten
jährlich 300 Millionen Tonnen CO2 in Europa eingespart
werden. Dieser Weg muss in der Agrarpolitik beschritten
werden.
Man kann die Rechnung auch anders machen, um dieses Potenzial zu erkennen. Mir hat ein Energiewirtschaftler gesagt, dass man pro Einwohner etwa 750 Kilogramm
Heizölenergie benötigt. Das bedeutet, wenn wir auf den
Agrarüberschussflächen 150 Millionen Tonnen Heizöläquivalent ernten könnten, könnten wir jährlich für
200 Millionen Einwohner in Europa Heizenergie erzeugen. Das ist ein gewaltiges Potenzial. Insoweit wären wir
von den Ölscheichs dann nicht mehr erpressbar.
Der Einsatz nachwachsender Rohstoffe hätte eine positive Mehrfachwirkung: Einsparung fossiler Vorräte, Abbau der Agrarüberschüsse, Entlastung der Agrarmärkte,
CO2-Einsparung, Arbeit für den ländlichen Raum. Dies
alles ergäbe wieder Perspektiven für den bäuerlichen
Berufsstand, vor allem für unsere jungen Landwirte.
Hier kommt dann immer das Gegenargument, das
Ganze sei nicht finanzierbar. Schauen wir uns den Finanzrahmen dahin gehend an, ob dies nicht doch möglich
ist. Berechnungen ergeben, dass wir momentan für einen
wirtschaftlichen Einsatz von nachwachsenden Rohstoffen
bzw. Energien pro Hektar Anbaufläche im Durchschnitt
umgerechnet etwa 1 200 DM benötigen würden. Wenn die
Ölpreise weiter steigen, brauchen wir in Zukunft pro Hektar weniger.
({7})
- Eine europaweite Ökosteuer in Form einer CO2-Abgabe
hätte Sinn. Ihr aber verwendet die Ökosteuer an ganz anderer Stelle und nicht für den besseren Einsatz von nachwachsenden Rohstoffen.
Ich will die Rechnung weiterführen: Multipliziert man
die in Europa bestehende Agrarüberschussfläche von
30 Millionen Hektar mit 1 200 DM, ergäbe dies einen
Subventionsbedarf in Höhe von 36 Milliarden DM. Der
Agrarhaushalt in Europa beträgt derzeit 81,5 Milliarden DM. Das heißt, weniger als 45 Prozent dieser Mittel
würden ausreichen, um die Agrarüberschüsse in Europa
zu beseitigen und es den Bauern zu ermöglichen, auf dem
Markt wieder bessere Preise zu erzielen. Das wäre meiner
Ansicht nach der wesentlich bessere Weg. Dies wäre eine
Agrarpolitik, die, wie gesagt, den Steuerzahler weniger
kostet, den Bauern mehr bringt, die Umwelt entlastet und
Arbeitsplätze schafft bzw. sichert.
({8})
Warum erkennen viele diese positiven Ansätze nicht?
Müssen erst Tankerkatastrophen wie vor einigen Jahren in
Alaska oder voriges Jahr an der französischen Küste geschehen, damit man bestimmten Leuten die Augen öffnen
kann? Wären diese Tanker mit Pflanzenöl beladen gewesen, dann wären keine Langzeitschäden an den betroffenen Küsten erfolgt.
({9})
Im Gegenteil, lieber Albert Schmidt: Pflanzenöl kann als
Fischfutter verwendet werden. Es wäre somit zu keinerlei
ökologischen Schäden an den betroffenen Küsten gekommen.
({10})
Die Idee, nachwachsende Rohstoffe anzupflanzen, ist
ja nichts Neues. Henry Ford hat bereits 1935 gesagt - ich
darf ihn zitieren -:
Die Zeit kommt heran, in welcher der Bauer nicht
mehr nur Ernährer seines Volkes, sondern auch Lieferer der Rohstoffe für die Industrie sein wird.
Ein weiser Satz, den Henry Ford vor vielen Jahren ausgesprochen hat. Er würde sich sicherlich freuen, wenn er
feststellen könnte, dass einerseits Autos mit Pflanzenöl
fahren, dass anderseits Pflanzen aber auch eingesetzt werden können, um damit Autos zu bauen.
({11})
Als CSU-Abgeordneter freue ich mich, dass die CSUgeführte Bayerische Staatsregierung in ganz Deutschland
im Bereich der nachwachsenden Rohstoffe eine Vorreiterrolle einnimmt. Lieber Erwin Huber, vielen Dank, dass
die Bayerische Staatsregierung für nachwachsende Rohstoffe mehr Finanzmittel zur Verfügung stellt als alle rotgrün regierten Bundesländer in Deutschland zusammen.
({12})
In Bayern wird gehandelt und nicht nur geredet. Das soll
auch so bleiben. Die dafür erforderlichen Mehrheiten sind
in Bayern vorhanden.
Wir sind es unseren Kindern und Enkeln schuldig, die
verantwortungslose Plünderung fossiler Rohstoffe einzudämmen. Nachwachsende Rohstoffe und nachwachsende
Energien können dazu einen Beitrag leisten.
Der von der Kommission im Hinblick auf die Faserpflanzen Flachs und Hanf vorgelegte Vorschlag geht in
die falsche Richtung. Jetzt liegt es an der Bundesregierung, mit einer Verhinderung der Brüsseler Vorschläge
eine kleine, aber interessante Marktnische voranzubringen.
Die CDU/CSU-Fraktion erwartet von der Bundesregierung für die Interessen der deutschen Flachs- und
Hanfanbauer erfolgreiche Verhandlungen. Die CDU/
CSU-Fraktion wird der Beschlussempfehlung der Regierungsfraktionen zustimmen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({13})
Als
nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Steffi Lemke
vom Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr
geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Kollege Deß hat soeben bewiesen, dass es auch in
der CSU Abgeordnete gibt, die sehr ökologisch und nachhaltig denken und hier im Bundestag eine entsprechende
Rede halten können.
({0})
Ich finde das sehr gut. Herr Kollege Deß, machen Sie weiter so. Da haben wir viele Gemeinsamkeiten.
({1})
Die gemeinsame Marktorganisation für Flachs und
Hanf besteht seit nunmehr 30 Jahren. Die ursprüngliche
Intention war hauptsächlich im Schutz der traditionellen
Erzeugerregionen der damaligen Gemeinschaft - das waren vor allem Belgien, Frankreich und die Niederlande zu sehen. Hiermit wurde in der damaligen Zeit einer Nischenproduktion das Überleben gesichert.
Inzwischen haben sich aber die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen grundlegend geändert.
Nachwachsende Rohstoffe haben wieder einen festen
Platz in der Landwirtschaft. Sie sind die erneuerbaren
Ressourcen einer innovativen und weit gefächerten
jungen Industrie, die sich in den vergangenen Jahren
in Deutschland entwickelt hat. Im Wirtschaftsjahr
1999/2000 erreicht der Anbau nachwachsender Rohstoffe
in Deutschland einen neuen Höchststand. Inzwischen
werden in Deutschland auf 5,6 Prozent der Ackerfläche
nachwachsende Rohstoffe angebaut.
Ich freue mich über diese Entwicklung und halte sie für
zukunftsweisend. Wurden nachwachsende Rohstoffe Anfang der 90er-Jahre eher als willkommenes Ventil zum
Abbau einer Überschussproduktion betrachtet, so treten
heute die eigentlichen Vorteile nachwachsender Rohstoffe
viel stärker in den Vordergrund.
({2})
Zum einen sind nachwachsende Rohstoffe die Grundlage
einer Ressourcen schonenden nachhaltigen Technologie
und Energieversorgung, zum anderen schaffen sie neue
Arbeitsplätze in mittelständischen Verarbeitungsunternehmen im ländlichen Raum und bilden damit eine neue
Einkommensquelle für Landwirte.
({3})
Inzwischen haben Hanf und Flachs völlig neue Einsatzbereiche als Verbundwerkstoffe in ganz verschiedenen Industrien erschlossen. Herr Deß hat die Automobilindustrie als ein Beispiel angesprochen. Der Einsatzbereich Verbundwerkstoffe geht darüber aber weit hinaus
und auch in Dämmstoffen für die Bauindustrie oder als
Geotextilien in der Landschaftsgestaltung liegen neue
Möglichkeiten für nachwachsende Rohstoffe. Auch die
EU-Kommission bescheinigt diesen Bereichen erhebliche
Wachstumspotenziale.
Umso unverständlicher ist der Vorschlag, den die EUKommission im November vergangenen Jahres zur Reform der gemeinsamen Markorganisation vorgelegt hat.
Als Hauptbegründung wird dort angeführt, dass es in den
vergangenen Jahren in verschiedenen Mitgliedstaaten
verstärkt zur Prämienjägerei gekommen sei, weil die Anbauer versuchten, die pauschale Hektarbeihilfe in Höhe
von 815 Euro für Flachs bzw. 660 Euro für Hanf abzugreifen. Allerdings geht der Vorschlag der Kommission
am Problem vorbei, denn wenn man sozusagen das Kind
mit dem Bade ausschüttet, wird dies der Flachs- und
Hanfindustrie weder in Deutschland noch in den anderen
Mitgliedstaaten im Nachhinein etwas nützen.
Die Ausgaben für die Marktorganisation bei Hanf und
Flachs sind stark angestiegen. Deshalb hat auch meine
Fraktion nicht bestritten, dass eine Reform notwendig ist.
Wir erkennen den Reformbedarf an und haben auch den
Anbauern immer wieder gesagt, dass sie nicht auf Dauer
von einer Prämie auf dem ursprünglichen Niveau von
1 500 DM ausgehen könnten, sondern dass diese Förderung absinken werde. Ich kenne sehr viele Anbauer, aber
auch Verarbeiter in der Flachs- und Hanfindustrie, die sich
auf diese Entwicklung eingestellt haben, weil sie wussten,
dass es zwar eine Anschubfinanzierung in beträchtlicher
Höhe geben, dem aber irgendwann ein Absinken der Förderung folgen werde.
Allerdings darf diese Absenkung nicht so erfolgen, wie
es die EU-Kommission jetzt vorgeschlagen hat. Letztendlich soll für Deutschland ein Deckel eingezogen werden,
der der Flachs- und Hanfindustrie in Deutschland den
Hahn zudrehen würde. Dadurch würden einem aufstrebenden Industriezweig Steine in den Weg gelegt werden,
was auch durch den Reformbedarf nicht mehr zu begründen ist. Lediglich 6 600 Tonnen Flachs- und Hanfstroh
sollen in Deutschland künftig noch prämienberechtigt
sein, obwohl bereits jetzt eine Verarbeitungskapazität von
27 000 Tonnen vorhanden ist. Eine derart restriktive
Obergrenze für die prämienberechtigte Verarbeitungsmenge wird von uns entschieden abgelehnt.
({4})
Bündnis 90/Die Grünen haben sich seit 1993 für die
Wiederzulassung des Anbaus von Hanf in Deutschland
eingesetzt. Damals gab es in diesem Hause sehr ideologisch geprägte Debatten. Wir konnten letztendlich in
langwieriger Überzeugungsarbeit und in vielen Gesprächen mit den anderen Fraktionen erreichen, dass der
Hanfanbau in Deutschland wieder zugelassen wurde.
Seitdem wird er auch von allen Fraktionen begrüßt und
unterstützt. Hier sollten wir gemeinsam fortfahren.
Wir haben die EU-Kommission gebeten, ihre Entscheidung zu überdenken. Das Europäische Parlament hat
entsprechend gehandelt. Die Verhandlungen zwischen
dem Europäischen Parlament und der Kommission
können, wie ich hoffe, in der nächste Woche zu einem
Vorschlag führen, der auch der deutschen Flachs- und
Hanfindustrie gerecht wird.
Ich freue mich, dass zumindest Teile der Opposition
unserem Antrag zustimmen. Wir wollen die Verhandlungsposition auf europäischer Ebene im Sinne Deutschlands stärken und hoffen, dass wir dort einen Erfolg für
die deutschen Flachs- und Hanfanbauer erzielen werden.
Wir fordern Kommissar Fischler auf, in der nächsten Woche in diesem Sinne eine Entscheidung zu treffen.
Danke.
({5})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Marita Sehn von der F.D.P.-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wir möchten uns den guten Wünschen anschließen, an Herrn Thalheim zum Geburtstag
und auch an den Minister, damit er bald wieder unter uns
sein kann.
({0})
Faserflachs und -hanf sind keine Eier legenden Wollmilchschweine. Obwohl die potenziellen Einsatzmöglichkeiten von der Textilbranche bis zu den neuen Märkten im Kurzfaserbereich der Automobil- und Dämmstoffindustrie reichen - wir konnten uns am Wochenende
auf der EXPO davon überzeugen; wir alle begrüßen diese
auch -, greift immer mehr Nüchternheit Platz. Die bestehende gemeinsame Marktorganisation für Flachs und
Hanf ist bürokratisch, teuer und wird missbraucht.
({1})
Es ist richtig und überfällig, die untragbaren Missstände
insbesondere in den südlichen Mitgliedstaaten endlich zu
beenden.
({2})
Aus marktwirtschaftlicher Sicht sind allerdings Zweifel angebracht, ob die neue Marktorganisation die richtigen Antworten aufzeigt. Für die F.D.P. hätte ich mir in diesem Zusammenhang einen marktwirtschaftlichen Schnitt
gewünscht.
({3})
Eine Anschubfinanzierung ist richtig - ich denke, da
sind wir uns alle einig -, um die vielfältigen Chancen insbesondere auf den neuen Märkten zu nutzen. Aber es kann
doch nicht sein, dass wir die Fehler in anderen Bereichen - ich nenne als Stichwort die Milch - auf Kosten der
Steuerzahler und der Landwirte wiederholen. Natürlich
muss alles unternommen werden, damit die politisch gewollten und mit erheblichen Mitteln der EU, des Bundes
und der Länder geförderten Investitionen nicht sinnlos
waren.
({4})
Leider könnte genau das zumindest für die heimischen
Landwirte bittere Realität werden.
Unsere Hauptkritikpunkte an der Verordnung sind:
Erstens. Es wird eine verfehlte Agrarpolitik in Form einer
teuren und bürokratischen Marktorganisation zementiert.
({5})
Zweitens. Die zahlreichen Regelungen und Vorschriften werden zu einer aufwendigen und komplizierten Umsetzung führen, die deren Akzeptanz weiter verringert.
({6})
Drittens. Die für Deutschland im Rahmen der Verarbeitungshilfe vorgeschlagenen Mengen in Höhe von
6 600 Tonnen bleiben weit hinter den Kapazitäten von
etwa 27 000 Tonnen zurück.
({7})
Spätestens an diesem Punkt beißt sich die Katze in den
Schwanz. Werden diese nationalen Quoten weiter aufgestockt, bedeutet das zwangsläufig ein Aufweichen der
Haushaltskonsolidierung auf EU-Ebene.
Die genannten Argumente sprechen ganz klar für eine
marktwirtschaftliche Lösung. Deshalb sollte im Interesse
der Landwirte und der betroffenen Wirtschaft die Chance
ergriffen werden, um die ausgetretenen Wege der Marktorganisationen zu verlassen.
({8})
Wir werden der Beschlussempfehlung nicht zustimmen.
Danke.
({9})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Kersten Naumann von der PDSFraktion.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Der Anbau von Flachs und Hanf stieg
seit der Lockerung des Anbauverbots 1996 rapide an und
wurde, da politisch gewollt, durch EU, Bund und Länder
gefördert. In den strukturschwachen Regionen, gerade im
Osten, sind die Ausgaben für getätigte und geplante Investitionen zur Verarbeitung immens; sie liegen im dreistelligen Millionenbereich. In Gardelegen in Sachsen-Anhalt
entstand eine Verarbeitungsanlage mit einer Investitionssumme von 8 Millionen DM, eine der modernsten Anlagen Europas.
Doch die für Deutschland vorgesehene beihilfeberechtigte Höchstmenge für Hanf- und Flachsfasern in
Höhe von 6 600 Tonnen pro Jahr entspricht etwa einem
Drittel der zurzeit zugelassenen Verarbeitungskapazitäten. Bezieht man die im Aufbau befindlichen Unternehmen ein, so würde Deutschland eine Quote von
27 000 Tonnen Fasern benötigen. Die Verarbeitungskapazität beträgt allein in Sachsen-Anhalt 3 500 Tonnen pro
Jahr und der Anbau zog nach. Waren es 1996 noch
100 Hektar Anbaufläche in Sachsen-Anhalt, so wurde
1998 schon auf 816 Hektar angebaut.
Flachs und Hanf stellen für die heimische Landwirtschaft nicht nur eine echte Produktions- und Einkommensalternative dar. Sie tragen dazu bei, im ländlichen
Raum Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen.
Aber auch als Fruchtfolgeglied ist der Rohstoff in der
ohnehin engen Getreidefruchtfolge weitestgehend ohne
Einsatz von Pflanzenschutzmitteln und Düngemitteln
sehr umweltfreundlich. Hier treffen sich also Interessen
der Agrar-, Umwelt- und Arbeitsmarktpolitik.
({0})
Hanf zeigt aufgrund des hohen Kohlenstoffgehaltes
praktikable Alternativen für neue keramische Werkstoffe,
für Naturfaserstoffe und Polymerverbindungen bis hin
zum Ersatz von Glasfaserstoffen auf. Für einige Anwendungen zeigt sich bereits Interesse bei den Industriezweigen der Telekommunikation, der Möbel- und Automobilindustrie bis hin zur Raumfahrt. Die damit verbundenen
Chancen zu ihrer effektiven Nutzung in sehr effizienten
Material-, Struktur- und Technologiekonzepten bieten
auch die Chance zu einer hohen Wertschöpfung.
Die Annahme der EU-Kommission, dass zahlreiche
Enderzeugnisse aus Hanffasern sehr hohe Faserpreise bewirken werden, ist jedoch äußerst verfrüht; sie läuft an
den derzeitigen Realitäten vorbei. Eine Absenkung der
Produktionsquote - zumindest bei einer Absenkung der
Flächenbeihilfe auf das Niveau von Getreide - halten wir
für falsch und hinsichtlich der Entwicklung des Marktes
für innovative Produkte aus nachwachsenden Rohstoffen
sogar für kontraproduktiv. Der EU-Kommission ist allerdings das Nachwachsen der Ressourcen und deren Verarbeitung zu teuer.
Im Gegensatz dazu erfolgt zurzeit bundesweit der Ruf
nach geförderter Energieerzeugung aus Biomasse.
Flachs und Hanf werden in dieser Frage stiefmütterlich
behandelt, obwohl damit dieselben Effekte erreicht werden können. Sie benötigen jedoch - wenn durch die EU
nicht hinreichend gefördert wird - ein nationales Programm der Förderung. Ansonsten stellt man Entwicklungen, die bereits vorangeschritten sind, von den Füßen auf
den Kopf.
Die PDS unterstützt das EU-Parlament nachdrücklich
in seiner ablehnenden Haltung.
Danke schön.
({1})
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft
und Forsten zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung zu Vorschlägen für zwei Verordnungen des Rates
betreffend Faserflachs und -hanf.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3415, die Vorschläge zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen.
Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3415 die Annahme einer
Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann
ist die Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der
F.D.P.-Fraktion angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ernst Burgbacher, Gisela Frick, Hildebrecht
Braun ({0}), weiteren Abgeordneten und
der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes ({1})
- Drucksache 14/1731 ({2}) ({3})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({4})
- Drucksache 14/3272 Berichterstattung:
Abgeordnete Horst Schild
Ernst Burgbacher
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das
Wort für den Antragsteller der Kollege Ernst Burgbacher.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Als wir diesen Gesetzentwurf im Oktober 1999 eingebracht haben, war ich
eigentlich optimistisch, dass wir für ein vernünftiges Anliegen, dem viele in diesem Hause, wie ich weiß, zustimmen, am Ende auch eine fraktionsübergreifende Mehrheit
finden würden.
({0})
Die Voraussetzungen waren eigentlich sehr gut. Die
SPD hat die Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung in
ihrem Wahlprogramm. Der damalige Ministerpräsident
von Niedersachsen hat es dem Hotel- und Gaststättenverband persönlich versprochen.
({1})
Leider ist nichts geschehen.
({2})
Von der CDU/CSU hatten wir Zeichen, dass auch dort Zustimmung durchaus möglich ist. Unser Außenminister
Fischer wird mit dem Satz zitiert: man könne sich ja wohl
vorstellen, was passiert wäre, wenn man ihm als Taxifahrer ans Trinkgeld gegangen wäre.
({3})
Leider sieht die Lage heute ein ganzes Stück anders
aus. In den Ausschüssen war das Abstimmungsverhalten
sehr unterschiedlich. Die SPD hat sich im Tourismusausschuss enthalten, sonst zugestimmt. Die CDU/CSU hat im
Wirtschaftsausschuss zugestimmt, sonst dagegen gestimmt. Ich glaube, das zeigt die Unsicherheit. Es ist eigentlich schade und schlecht für alle Betroffenen, die auf
dieses Gesetz gewartet haben, dass wir heute wohl keine
Mehrheit dafür finden werden.
({4})
Zur Sache: Richtig ist, dass der Bundesfinanzhof
Trinkgeld als steuerpflichtigen Arbeitslohn betrachtet.
Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf diese Rechtsprechung gesetzgeberisch aufheben.
({5})
Ich zitiere wörtlich aus unserem Gesetzentwurf:
Freiwillig gezahlte Trinkgelder gehören nicht zu den
Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit.
Dies würde das Problem auch wirklich lösen. Wir müssen - völlig richtig - zwischen freiwillig gezahlten und
solchen Trinkgeldern unterscheiden, die auf der Rechnung auftauchen. Diese müssen natürlich versteuert werden.
Wie sieht denn die Praxis aus? Das Finanzamt kontrolliert und kontrolliert mehr denn je. Das Finanzamt schätzt
die Höhe des Trinkgeldes auf 1,7 bis 3,3 Prozent des Umsatzes. Dann muss die Steuer nachbezahlt werden. Doch
damit nicht genug. Diese Daten werden an die BfA und an
die AOK weitergegeben und dann müssen Sozialbeiträge
nachgezahlt werden, und zwar vom Arbeitgeber, der aber
den Arbeitnehmeranteil in Höhe von 50 Prozent von diesem überhaupt nicht mehr zurückholen kann.
Ich sage Ihnen ein konkretes Beispiel und kann Ihnen
auch den Namen des Gasthofes nennen: Es wurden Nachzahlungen in Höhe von über 28 000 DM an Sozialbeiträgen plus über 10 000 DM an Säumnisgebühr erhoben.
Wenn er dies bezahlen muss, macht er den Laden zu. Das
kann doch keine Politik für mehr Arbeitsplätze sein.
(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. - Marita
Das kann nicht unser Ernst
sein! - Dirk Niebel ({0}): Und das für ein
Dankeschön für gute Leistungen! Das ist eine
Frechheit!)
Noch ein Punkt: Ich habe die Regierung nach der Praxis und dem Aufkommen in anderen Ländern gefragt. Die
Regierung kennt das Aufkommen und den Verwaltungsaufwand nicht. Nach Untersuchungen, die mir sehr seriös
erscheinen, beläuft sich das Nettoaufkommen bei der
Trinkgeldbesteuerung auf 3 bis 4 Millionen DM jährlich.
({1})
- Millionen. Wir schätzen das Aufkommen auf 10 Millionen DM bei Verwaltungskosten in Höhe von 6 bis 7 Millionen DM. Um diese Zahlen diskutieren wir, die einen
ganzen Berufsstand in seiner Tätigkeit hemmen, die Motivation töten statt wecken.
({2})
Meine Damen und Herren, Trinkgeld wird für die Qualität der Bedienung gegeben. Wenn ich nicht gut bedient
werde, gebe ich auch kein Trinkgeld. Dies ist eine Leistung, auf die der Dienstleistende keinerlei Anspruch hat.
Deshalb kann es nicht Bestandteil des Einkommens sein.
({3})
Es kann maximal eine Schenkung sein. Für diese haben
wir Steuersätze, mit denen wir allemal leben könnten.
({4})
Das Ganze verstößt auch gegen den Grundsatz der
Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Wir wissen, dass in einigen Bereichen, in der Gastronomie und zunehmend
auch im Taxigewerbe, Prüfungen gemacht werden, in den
meisten anderen Bereichen aber nicht und auch gar nicht
gemacht werden können. Auch deshalb muss mit der
Trinkgeldbesteuerung Schluss sein.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir befinden
uns in einer Dienstleistungsgesellschaft. Wir alle hoffen,
dass wir im Dienstleistungsgewerbe einen großen Teil der
Arbeitsplätze schaffen können, die im produzierenden
Sektor weggefallen sind. Aber wir werden diese Arbeitsplätze nur dann schaffen können, wenn wir auch die Servicementalität in unserem Land verbessern.
({6})
Meine Erfahrungen, die ich im vergangenen halben
Jahr in unendlich vielen Gesprächen gewonnen habe, sind
folgende: Die Leute sind es leid, und bevor eine Steuererklärung gemacht wird, werden Dinge eben schwarz gemacht. Dann kommen die Kontrollen. Es kann doch nicht
Ihr Ernst sein, so etwas beibehalten zu wollen.
({7})
Insbesondere der Tourismusbereich ist erheblich darauf angewiesen. Wir reden vom Jobmotor Tourismus.
Aber dieser Motor wird nur dann laufen, wenn wir hochwertiges Öl einfüllen. Hochwertiges Öl in diesem Bereich
heißt: Eigeninitiative, Selbstverantwortung, Leistungsbereitschaft.
({8})
Wenn wir aber das abgestandene Gemisch alter Ideologien einfüllen, wird dieser Motor ins Stottern kommen
oder schließlich mit einem Kolbenfresser ganz aufhören
zu laufen. Deshalb, meine Damen und Herren, gilt es jetzt
durchzustarten.
Ich appelliere an Sie: Niemand draußen versteht, wenn
dieser Gesetzentwurf heute abgelehnt wird. Die Menschen, die abends und am Wochenende im Service tätig
sind, erwarten, dass die Politik tätig wird, dass sie auf
neue Entwicklungen in der Gesellschaft reagiert. Deshalb
wäre es unverständlich, wenn Sie diesem Gesetzentwurf
der F.D.P. heute nicht zustimmten. Ich sage Ihnen, wenn
der Gesetzentwurf heute abgelehnt wird, werden wir weiter kämpfen. Es ist eine richtige Sache. Wir werden dranbleiben. Ich prophezeie, wir werden dass auch noch
durchsetzen. Herzlichen Dank.
({9})
Als
nächster Redner hat der Kollege Horst Schild von der
SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen
und Herren! Verehrter Kollege Burgbacher, die Argumente sind gedreht, gewendet und ausgetauscht. Ich
werde auch gerne das wiederholen, was ich schon einmal
gesagt habe. Das Argument ist populistisch, und viele hier
im Saal und auf der Tribüne werden sagen: Das ist toll, das
muss so sein.
({0})
- Das Problem besteht darin - auch das habe ich hier
schon einmal gesagt; ich wiederhole es gerne -, dass
Sie von der Auffassung ausgehen, die gegenwärtige Form
der Trinkgeldbesteuerung, das heißt die gegenwärtig
im Einkommensteuergesetz festgesetzten steuerfreien
2 400 DM wären nicht mehr zeitgemäß. Sie sind damit
allein.
({1})
Sie haben selbst gesagt, dass der Bundesfinanzhof weiter an der Rechtsauffassung festhält, dass das Trinkgeld
Bestandteil des Arbeitslohnes ist - auch die Kollegen
von der CDU/CSU, die ja den Antrag eingebracht haben.
Man könnte gegebenenfalls noch darüber reden, die
Grenze in § 3 Nr. 51 des Einkommensteuergesetzes anzuheben. Auch das steht in der Begründung. Damit bleibt
aber die Rechtsauffassung, dass Trinkgelder Bestandteil
des Einkommens sind, erhalten. Machen wir uns nichts
vor. Im Gastgewerbe und in vielen anderen Bereichen ist
mit der Aufnahme einer Tätigkeit in diesem Bereich auch
die Erwartung verbunden, Trinkgelder zu erhalten. Auch
das ist hier gesagt worden. Das spielt auch bei Tarifvereinbarungen und bei der Entlohnung eine Rolle. Trinkgeld
wird bei der Bemessung der Einkünfte mit einbezogen.
Das ist unstrittig.
Aber das ist nur ein Aspekt. Wenn Sie meinen, Sie können einfach so einen Baustein herausbrechen und sagen,
diese Grenze streichen wir einmal in § 3 Nr. 51, dann müssen Sie auch bedenken, dass das Präjudizwirkung hat.
Was ist denn mit anderen Freigrenzen? Was ist beispielsweise mit dem Arbeitnehmerrabatt, der gegenwärtig auf
2 400 DM festgelegt ist?
({2})
- Das ist nicht etwas anderes. Sie müssen davon ausgehen, dass der Gesetzgeber auch bei solchen Anträgen zu
beachten hat, ob es sich insgesamt und nicht nur in die
Rechtsprechung, sondern auch in die einzelnen Bausteine
des Einkommensteuergesetz einfügt.
({3})
- Ich weiß, wir wären ja alle viel froher, wenn wir einmal
losgelöst von Sachkenntnis und von den Maßstäben des
Einkommensteuergesetzes sagen könnten, darüber setzen
wir uns einfach einmal hinweg. Aber so einfach, meine
Damen und Herren, ist es nicht.
Ein zweites Argument. Sie gehen davon aus, dass mit
der Trinkgeldbesteuerung der Gleichheitsgrundsatz der
Besteuerung verletzt wird. Allein die Tatsache, dass es
Schwierigkeiten bei der Erhebung der Steuer gibt, kann
aber kein hinreichender Anlass dafür sein zu sagen: Dann
verzichten wir darauf. Wenn das zum Maßstab der Finanz- und Steuerpolitik in diesem Lande würde, dann
müsste der Staat auf manche Einnahme verzichten, nicht
nur auf diese.
Ich will ein drittes Argument ansprechen. Sie haben das war ja auch bei Ihrer Einbringungsrede ganz deutlich - diesen Antrag nicht als den großen Baustein einer
liberalen Steuerreform gepriesen, sondern als einen Einstieg in einen Schub, der sozusagen den Arbeitsmarkt im
Hotel und Gaststättengewerbe neu aufrollen würde. Wir
haben - diese Zahlen können Sie über-all nachlesen erstmalig seit Antritt dieser Regierung einen deutlichen
Rückgang der Arbeitslosigkeit. Nach den Zahlen des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit beläuft er sich für
das Jahr 2000 auf ungefähr eine Viertelmillion.
({4})
- Herr Fromme, Sie können ja gerne eine Zwischenfrage
stellen.
Wir haben im Jahre 2001 nach Einschätzung der Bundesanstalt für Arbeit wahrscheinlich einen weiteren Rückgang um 350 000 Arbeitslose. Diese Entwicklung ist auch
am Hotel- und Gaststättengewerbe nicht spurlos vorübergegangen. Wir haben, nachdem wir jahrelang einen deutlichen Rückgang der Beschäftigungszahlen sowohl im
Beherbergungs- als auch im Gaststättengewerbe verzeichnen mussten, erstmals seit vielen Jahren wieder einen spürbaren Zuwachs der Arbeitsplätze. Sie wissen,
dass wir im Jahre 2000 auch eine deutliche Zunahme bei
den Übernachtungen und bei den Touristen in diesem
Lande haben. Sie können niemandem weismachen, dass
dies über eine Aufhebung der Besteuerung von Trinkgeldern zu steuern ist. Das ist das Ergebnis der konsequenten
Arbeitsmarkt- und Finanzpolitik dieser Regierung. An
diesem Punkt werden wir weitermachen.
({5})
Wenn Sie für die Beschäftigten und die Betriebe in diesem Bereich etwas tun wollen, dann gehen Sie mit uns die
vorgezeichneten Schritte weiter. Wir haben im Bundestag
ein Steuersenkungsgesetz verabschiedet. Das wird auch
- soweit es von Ihnen nicht blockiert wird - zu spürbaren
Entlastungen im Portemonnaie sowohl der Beschäftigten
im Gaststättengewerbe als auch bei den Betrieben führen.
Das sind andere Dimensionen. Auf diese Art und Weise
werden wir die Beschäftigung auf diesem Feld sichern
und auch mehr Arbeitsplätze schaffen.
Mein Appell lautet: Blockieren Sie das Steuersenkungsgesetz nicht im Bundesrat, sondern tragen Sie dazu
bei, dass auf diesem Wege die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeber spürbare Entlastungen
erfahren. Damit ist uns und den Betroffenen mehr geholfen als mit der Diskussion über die Frage der Trinkgeldbesteuerung, die Sie zum Gegenstand Ihres Gesetzantrages gemacht haben.
({6})
Danke schön.
({7})
Als
nächster Redner hat der Kollege Klaus-Peter Willsch von
der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie wissen, lieber Herr Burgbacher, dass ich genauso wenig wie Sie
möchte, dass sich Herr Eichel von dem Trinkgeld, das ich
für einen guten Service hingebe, einen Teil in den Sack
steckt.
({0})
Sie wissen aber auch - wir haben über dieses Thema
schon gelegentlich gesprochen -, dass es nicht ganz so
einfach ist, wie Sie es gelegentlich darstellen. Wir haben
die Themenbereiche Gleichheit in der Steuerbelastung
und Gleichheit im Belastungserfolg zu beachten und müssen natürlich Präzedenzwirkungen berücksichtigen. Wir
haben deshalb als CDU/CSU-Fraktion einen gangbaren
Weg vorgeschlagen, wie wir zu dem kommen, was wir eigentlich wollen, nämlich dass das, was gemeinhin als
Trinkgeld gegeben wird, bei den Servicekräften steuerfrei
bleibt. Wir haben unseren Vorschlag im Finanzausschuss
eingebracht, und da wäre, Herr Schild, Gelegenheit gewesen, darüber zu diskutieren. Wir haben darüber diskutiert, aber Sie haben sich weder gesprächs- noch ergebnisbereit gezeigt.
Die Anhebung des Freibetrages von gegenwärtig
2 400 DM, der seit 1990 auf dieser Höhe ist, auf 3 600 DM
würde dazu führen, dass der weit überwiegende Teil der
Trinkgelder besteuerungsfrei bleibt,
({1})
ohne dass wir gleichzeitig in eine gefährliche Situation in
Richtung auf einen Gestaltungsmissbrauch gelangen. Das
muss man bei der Steuergesetzgebung doch bedenken und
muss auch in der Opposition bereit sein, das anzuerkennen und dazu zu stehen. Einen Gestaltungsmissbrauch
verhindert man durch angemessene Freibeträge in Bereichen, in denen der Erhebungsaufwand unverhältnismäßig
hoch ist. Genau das ist der Weg, den wir vorgeschlagen
haben und den wir auch auf anderen Feldern, zum Beispiel bei den Übungsleitern, gegangen sind. Wir sollten
das auch bei diesem Thema machen.
({2})
Wir als CDU halten nämlich damit auch fest an unserem
bewährten synthetischen Einkommensteuerbegriff, der
unserer Einkommensbesteuerung zugrunde liegt.
Wenn ich hier bei meinen an die F.D.P. gerichteten Bemerkungen Kopfnicken bei der SPD bemerkt habe, dann
muss ich leider feststellen, dass bei Ihnen die Grundsatztreue in der Frage des synthetischen Einkommensteuerbegriffs leider nicht besonders ausgeprägt ist. Da kann ich
mich insgesamt an das Regierungslager wenden. Sie haben nämlich diesen bewährten Einkommensbegriff verlassen, indem Sie die Mindestbesteuerung eingeführt haben, indem Sie Veräußerungsgewinne von Großbanken,
von Versicherungsunternehmen, von Kapitalgesellschaften von der Besteuerung freistellen wollen, indem Sie das
bewährte Anrechnungsverfahren aufgeben und durch das
Halbeinkünfteverfahren ablösen wollen, worüber wir ja
nun im Vermittlungsausschuss streiten. Sie sind an diesem
Punkt der Einkommensbesteuerung in Deutschland nicht
grundsatztreu. Sie legen es sich zurecht, wie Sie wollen.
Ich glaube, der von uns vorgeschlagene Weg ist genau
richtig, und wenn man bei der Einkommensbesteuerung
nominale Freibetragsgrenzen einführt, muss man ihn
natürlich auch gehen. Nominale Werte müssen von Zeit
zu Zeit angepasst werden. Der Freibetrag von 2 400 DM
besteht seit 1990. Da ist es Zeit, und wir können durch diesen von uns vorgeschlagenen Schritt zu dem Ergebnis
kommen, das wir uns wünschen.
Auch wir wollen, dass im Dienstleistungssektor in
Deutschland Leistung belohnt wird, dass wir die Servicekräfte motivieren, also diejenigen, die Dienste für uns erbringen, die ihren Dienst häufig zu ungünstigen Zeiten
verrichten, die wichtig sind für den Tourismusstandort
Deutschland, die dafür sorgen, dass Menschen gerne zu
uns kommen und wieder kommen. Deshalb meinen wir,
die Mehrheitsfraktionen müssten noch einmal darüber
nachdenken und sollten uns nachgeben.
Denken Sie bitte auch daran, was Sie gerade dem Bereich Hotellerie und Gaststätten, um den einmal herauszunehmen, schon alles zugemutet haben, seit Sie an
der Regierung sind. Ein Gesetzesvorhaben nach dem anderen hat die deutsche Tourismuswirtschaft und die deutsche Gastronomie gebeutelt.
({3})
Welche Bedeutung diesem Bereich seitens der Bundesregierung beigemessen wird, kann man auch daran sehen,
dass sich niemand aus dem Finanz- oder dem Wirtschaftsministerium auf der Regierungsbank verloren hat.
Ich erinnere Sie an die Ökosteuer: Mehrbelastung von
15 000 bis 20 000 DM pro Betrieb allein dadurch. Ich erinnere an die Neuregelung der 630-Mark-Jobs, wo unsere Dienstleister nach wie vor händeringend versuchen,
die Lücken, die dieses Gesetz geschlagen hat, irgendwie
wieder auszufüllen, wo inzwischen sehr viel SchwarzHorst Schild
arbeit stattfindet, für die weder Sozialversicherungsbeiträge noch Steuern gezahlt werden.
Ich erinnere an das so genannte Steuerentlastungsgesetz, wo ja der Mittelstand zunächst vorfinanziert hat und
in keiner Weise entlastet worden ist. Ich erinnere an das
so genannte Steuerbereinigungsgesetz, wo noch einer
drauf gesetzt wurde, und an die Verschiebung der Unternehmensteuerreform auf das Jahr 2001. Alles unter
der Überschrift: Versprochen, gebrochen, nicht gehalten.
({4})
Die Diskussionen im Vermittlungsausschuss zeigen,
dass das, was Sie gesetzgeberisch vorlegen, eine Nullnummer für den Mittelstand ist und dass wir mit der
Mehrheit im Bundesrat jetzt erst ertrotzen müssen, dass
hier ein vernünftiges Ergebnis für unsere mittelständischen Betriebe in Deutschland zustande kommt, gerade
auch in den Bereichen, über die wir heute hier reden.
({5})
- Ach, Herr Schild, wenn Sie vom Trinkgeld für Ihre Zwischenrufe leben müssten, dann würden Sie kümmerlich
verhungern, nehme ich an.
({6})
Wir haben an verschiedenen Punkten immer wieder
das Gleiche erleben müssen, wenn wir über Tourismus bei
uns in der Bundesrepublik Deutschland sprechen. Es wird
irgendetwas versprochen, es wird mal forsch bei einer
interessierten Gruppe eine Zusage gemacht, aber hinterher wird nichts eingehalten.
({7})
Ich erinnere an das leidige Thema reduzierter Mehrwertsteuersatz im Beherbergungsgewerbe. Ich will
einmal die Zahlen in Erinnerung rufen. Wir muten unseren Hoteliers 16 Prozent Mehrwertsteuer zu und werden
darin, wenn man sich die Nachbarländer anschaut, nur geschlagen von Großbritannien, Dänemark und der Tschechischen Republik. Alle anderen ernsthaften Konkurrenten haben Mehrwertsteuersätze in dem Bereich von null
über drei oder fünf bis acht Prozent. Das ist ein Wettbewerbsnachteil.
({8})
Ich möchte so etwas nicht ansprechen, ohne an den
Schriftverkehr zu erinnern, den ich mit Bundesminister
Müller geführt habe. Er war ja unverhofft in der Lage, zusätzlich auch noch Finanzminister zu sein. Just in dieser
Zeit habe ich ihn an sein Versprechen erinnert, das er bei
der Eröffnung der ITB gegeben hatte, nämlich dass er sich
für die Einführung eines reduzierten Mehrwertsteuersatzes nachhaltig einsetzen werde und dass er sich diesbezüglich mit dem Finanzminister ins Benehmen setzen
werde. Nun war er selber Finanzminister. Er hat es leider
versäumt, sich mit sich selber ins Benehmen zu setzen,
und Eichel hat das Ganze wieder blockiert. Nur leere Versprechungen, nichts hinterher!
Ich wundere mich, dass Frau Kastner heute nicht hier
ist. Nein, eigentlich wundere ich mich nicht; denn ich
möchte aus den von ihr verantworteten tourismuspolitischen Leitlinien der SPD zitieren, die im Mai 1998, vor
der Bundestagswahl, herausgegeben worden sind:
Eine Form der Anerkennung für die Beschäftigten im
Gastgewerbe stellt das Trinkgeld dar, mit dem Gäste
ihre Zufriedenheit ausdrücken. Die Besteuerung des
Trinkgelds als Arbeitslohn verkennt den persönlichen Charakter dieser Anerkennung und ist daher abzuschaffen.
({9})
Das wurde vor der Bundestagswahl versprochen. Frau
Kastner ist heute deshalb nicht da, weil sie sich diese Konfrontation sicherlich ersparen möchte.
Es gibt aber neben den gebrochenen Versprechen der
SPD, die sie im Allgemeinen begeht, noch eine Steigerungsform. Höchste Gefahr für die Bürger droht immer
dann, wenn der Kanzler erklärt: Das mache ich jetzt zur
Chefsache.
({10})
Im Gespräch mit Vertretern der deutschen Tourismuswirtschaft hat sich Bundeskanzler Schröder die ganze Angelegenheit erklären lassen, um dann deutlich zu verkünden,
darum werde er sich persönlich kümmern - man muss sagen: mit kümmerlichem Ergebnis. Aber das ist kein Einzelfall. Wann immer etwas zur Chefsache erklärt wird,
dann geht das so aus. Ich erinnere an das Gesetz über die
630-Mark-Jobs, das anders ausfiel, als es der Chef verkündet hatte. Ich erinnere an das Versprechen: Die nettolohnbezogene Rente bleibt! Anschließend musste man
sich im Fernsehen entschuldigen. Ich erinnere an das Versprechen: 6 Pfennig Ökosteuer; dann ist Schluss! Das sind
die Worte des Chefs, die man hören konnte. Ich sage nur:
Am besten verlässt man sich nicht auf seine Worte. Wenn
man es tut, dann ist man verlassen.
Ich möchte nachdrücklich an Sie von der SPD und von
den Grünen appellieren: Geben Sie sich einen Ruck, damit wir für den wichtigen Bereich der Dienstleistungswirtschaft in unserem Land etwas vorwärts bringen und
damit wir Leistungsbereite motivieren und unterstützen.
Geben Sie sich vor allen Dingen im Vermittlungsausschuss einen Ruck; denn dort droht der nächste Tort für
den Mittelstand, wenn Sie sich das betrachten, was Sie
dort vorgelegt haben: Die Kurve des Einkommensteuertarifs verläuft so steil, dass bereits bei einem Einkommen
von etwa 90 000 DM bis 98 000 DM der Spitzensteuersatz erreicht wird, der insgesamt viel zu hoch ist, weil er
bei 45 Prozent liegt. Seine Senkung ist auf den SanktNimmerleins-Tag verschoben. Wenn Sie endlich den Mut
zu einer durchgreifenden, vorwärts weisenden sowie
Wachstum und Innovation anstoßenden Steuerpolitik in
diesem Lande haben, dann können wir uns solche Fachdiskussionen sparen.
Danke schön.
({11})
Das Wort
hat jetzt die Kollegin Christine Scheel vom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Herr Willsch,
ich gehe davon aus, dass sich nach den heutigen Ankündigungen bzw. Aussagen, die im Vermittlungsausschuss,
dessen Sitzung gerade jetzt zu Ende gegangen ist, getroffen worden sind, einige der Punkte, die Sie hier genannt
haben, aufgrund des Vorschlages der Regierungsfraktionen und der A-Länder in Wohlgefallen auflösen werden,
und zwar im positiven Sinne.
({0})
Doch zurück zu dem Antrag der F.D.P. Die Begründung ist irgendwie eigenartig. Dort heißt es, dass Trinkgelder nicht mehr zu besteuern seien, weil sie keine Einkünfte aus unselbstständiger Tätigkeit darstellten; denn
sie würden freiwillig gegeben.
({1})
Ich muss schon sagen: Sie sind schon sehr spitzfindig;
denn unabhängig davon, ob Gelder freiwillig, zwangsweise oder aufgrund von Arbeitsverträgen gezahlt werden, handelt es sich immer um Einkünfte. Einkünfte,
gleich welcher Art - das werden Sie selber nicht ernsthaft
bestreiten wollen -, unterliegen nun einmal einer gleichmäßigen Besteuerung, die man gerecht ausführen und leistungsgerecht gestalten muss.
({2})
In dem anderen von Ihnen eingebrachten Antrag - ich
meine den zur Unternehmensteuerreform - haben Sie eine
weitere Variante aufgezeigt. Dort heißt es - darin besteht
ein gewisser Widerspruch -, alle Einkunftsarten seien
gleich zu behandeln. Darin sind wir uns einig. Wir alle sagen: Gerecht ist eine breite Steuerbasis, also wenige
Ausnahmen, bei gleichzeitig niedrigen Steuersätzen.
Damit wird gewährleistet, dass jeder nach seiner tatsächlichen Leistungsfähigkeit besteuert und über Steuersatzsenkungen entlastet wird.
Auch an diesem Punkt möchte ich sagen: Hören Sie,
was das Steuersenkungsgesetz betrifft, mit der Blockade
im Vermittlungsverfahren auf!
({3})
Mit diesem Gesetz werden alle entlastet. Für einen verheirateten Durchschnittsverdiener bleiben nach In-KraftTreten des Gesetzes im nächsten Jahr 1 800 DM mehr als
im Jahr 1998 in der Tasche; 2005 werden es etwa
3 000 DM sein.
({4})
Ich nenne dieses Beispiel nur, damit Sie sehen, dass es
sich um eine gleichmäßige, adäquate Entlastung vor allen
Dingen der kleinen und mittleren, aber auch der höheren
Einkommen handelt. Wenn Sie mit Ihrer Blockade nicht
endlich aufhören, dann wird es leider so sein, dass die
Steuerbelastung so hoch wie bisher bleiben wird. Das
dient weder der Wirtschaft noch den Steuerzahlern noch
dem Kreis derjenigen, für den Sie versuchen, hier eine
neue Klientelpolitik zu präsentieren.
({5})
Sicherlich ist die jetzige Regelung der Trinkgeldbesteuerung nicht unproblematisch. Das gilt aber nicht, weil
die Trinkgelder überhaupt besteuert werden, sondern wegen des Freibetrags von 2 400 DM. Den haben nämlich
andere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen nicht. Das
ist an sich ungerecht, denkt man zum Beispiel an Angestellte im Büro, die kein Trinkgeld bekommen und ihre
Einkünfte voll versteuern müssen.
({6})
Auf der anderen Seite, lieber Herr Willsch, ist es so,
dass der Freibetrag eingeführt worden ist, damit der bürokratische Aufwand bei der Erfassung der Trinkgelder für
die Steuerzahler und auch für die Finanzverwaltung in
Grenzen gehalten wird. Wir meinen, dass das an dieser
Stelle - aber eben nur aus diesen Gründen - absolut gerechtfertigt ist.
Ich komme zur Inkonsequenz des Vorschlags der
F.D.P. und zur Frage der Systematik. Ihre Vorschläge sind
inkonsequent. Das gilt nicht nur für diesen, sondern auch
für viele andere.
({7})
Auf der einen Seite fordern Sie immer wieder den Abbau
von Ausnahmetatbeständen, während Sie auf der anderen
Seite alle Möglichkeiten irgendwelcher Steuersonderabschreibungen wieder zum Leben erwecken wollen. Wie
passt das zusammen? Sie machen Klientelpolitik pur, die
mit einem Populismus verbunden ist, der weder der Sache
dient noch irgendetwas mit Systematik oder mit Gerechtigkeit zu tun hat. Sie setzen einfach darauf, mit billigen
Parolen ein paar neue Wähler und Wählerinnen zu gewinnen; sonst wollen Sie nichts.
({8})
Es ist daher vollkommen richtig, dass wir diesen unsinnigen Antrag ablehnen.
Danke schön.
({9})
Als letzte
Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin
Heidemarie Ehlert von der PDS-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einigen Bereichen der Gastronomie,
besonders in den Biergärten und in den Eiscafés, ist in den
vergangenen heißen Tagen sicherlich reichlich Trinkgeld
geflossen. Das wird vermutlich bei den Friseusen weniger
der Fall gewesen sein. Nur ganz Mutige werden es gewagt
haben, sich bei 35 Grad im Schatten der Heißluft eines
Föhns auszusetzen. Das beweist, Trinkgelder sind nach
wie vor zwar eine wünschenswerte Einnahmequelle im
Dienstleistungsbereich, aber eben nicht planbar. Kollege
Schild, Sie haben bereits in der ersten Lesung im Namen
der SPD-Fraktion nachdrücklich betont, dass Trinkgelder,
realistisch gesehen, durchaus als Arbeitslohn zu bezeichnen sind. Die Arbeitgeber betrachten sie als festen Bestandteil des Lohnes - das wissen wir -, und insofern ist
eine Besteuerung korrekt.
Damit bleibe ich zwar im Rahmen des Steuerrechts;
aber den Betroffenen bleibt - auch das ist eine Tatsache durch die Besteuerung noch weniger zum Leben übrig,
sofern sie den Freibetrag von 2 400 DM überschreiten.
Dazu kommt aber noch, dass allein im Gastronomiebereich die Hälfte der Beschäftigten auf Teilzeitbasis arbeitet. Die Gewerkschaft NGG verweist außerdem darauf,
dass gerade im Gastronomiebereich Vollarbeitsplätze
durch Auszubildende ersetzt werden, was zwar an und für
sich nicht schlecht ist, weil die Branche damit für Nachwuchskräfte sorgt; aber zwischen 60 Prozent und 80 Prozent der jungen Fachleute verlassen das Gewerbe meist
schon unmittelbar nach der Ausbildung und suchen ihr
Glück woanders, weil die Löhne in diesem Bereich so
niedrig und die Arbeitsbedingungen so schlecht sind.
Selbst Nobelherbergen - ich sage nur: Adlon - sind hiervon nicht ausgenommen.
Nicht durch Streichung der Freibeträge oder durch Besteuerung der Trinkgelder, sondern durch Umsetzung der
gewerkschaftlichen Forderungen nach besser geregelten Bedingungen, besserer Bezahlung und planbaren Freizeiten würde die Attraktivität der Arbeit im Gaststättengewerbe in Deutschland erheblich angehoben werden.
Der Erhöhung der Freibeträge auf 3 600 DM, die von
der CDU/CSU ursprünglich gefordert worden ist, würden
wir ja zustimmen, aber dieser Antrag steht heute nicht zur
Abstimmung. Herr Willsch, wo ist der Antrag? Wenn,
dann müssen Sie Nägel mit Köpfen machen. Sie dürfen es
nicht nur fordern, sondern Sie müssen es dann auch einreichen und zur Abstimmung stellen.
({0})
Wenn von Seiten der F.D.P. hier gesagt wird, dass von
der Besteuerung des Trinkgeldes das Tourismusgeschäft
abhänge, dann habe ich Zweifel, ob der Redner weiß, wovon er da spricht. Das Tourismusgeschäft hängt nämlich
nicht von der Besteuerung der Trinkgelder ab, sondern davon, was die Leute draußen zur Verfügung haben, das
heißt davon, ob die Leute es sich leisten können, in Urlaub
zu fahren, Gaststätten zu besuchen oder zum Friseur zu
gehen.
({1})
Ich
schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
der Fraktion der F.D.P. zur Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung auf Drucksache 14/1731 ({0}). Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/3272, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der
Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/1731 ({1}) abstimmen und bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion bei Enthaltung der
Fraktionen der CDU/CSU und der PDS. Damit entfällt
nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe Punkt 10 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags des Abgeordneten Werner
Lensing und weiteren Abgeordneten der Fraktion
der CDU/CSU, der Abgeordneten Uta TitzeStecher und weiteren Abgeordneten der Fraktion
der SPD, der Abgeordneten Ekin Deligöz und weiteren Abgeordneten der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abgeordneten
Hildebrecht Braun ({2}) und weiteren Abgeordneten der Fraktion der F.D.P.
Für einen verbesserten Nichtraucherschutz am
Arbeitsplatz
- Drucksache 14/3231 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Werner Lensing von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine
sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Um es von
vornherein in der gebotenen Klarheit und Offenheit zu sagen: Der interfraktionellen Nichtraucherschutzinitiative
geht es letztlich nicht darum, all unseren Raucherinnen
und Rauchern auf dem Gesetzeswege den vermeintlichen
Kampf anzusagen - dafür fehlt ihr im Übrigen auch jegliche Rechtsgrundlage -; vielmehr treibt sie die Fürsorge
für die unfreiwilligen Passivraucherinnen und Passivraucher in der konkreten Situation ihres Arbeitsplatzes.
({0})
Ausgangslage unserer Überlegungen bleibt ein in
Art. 2 des Grundgesetzes angelegter, schier unüberbrückbarer Entscheidungskonflikt, weil einerseits Absatz 1 den Anspruch eines jeden Einzelnen auf die freie
Entfaltung seiner Persönlichkeit und damit zugleich die
freie Entscheidung, beispielsweise zu rauchen, beinhaltet,
andererseits in Absatz 2 des gleichen Artikels das Recht
des Einzelnen auf Leben und körperliche Unversehrtheit
garantiert wird. Dieses grundsätzlich geschützte Recht
auf körperliche Unversehrtheit wird allerdings massiv
verletzt, solange beispielsweise Bürgerinnen und Bürger
nicht ausreichend vor den Folgen des Passivrauchens am
Arbeitsplatz geschützt sind.
({1})
Daher wird der berechtigte Ruf nach einer gesetzlichen
Regelung immer lauter.
Doch wollen wir, meine Damen und Herren, um das an
dieser Stelle gleich deutlich zu artikulieren, in dieser
Frage nicht mehr Staat als eben notwendig und lehnen daher ein spezielles Nichtraucherschutzgesetz entschieden
ab, befürworten allerdings Präzisierungen innerhalb bereits bestehender Regelungen, beispielsweise in der gültigen Arbeitsstättenverordnung.
({2})
Nun wird gesagt, die Frage eines geeigneten Nichtraucherschutzes - wer kennt diese Diskussion nicht? - solle
gefälligst konkret vor Ort auf der Basis freiwilliger Vereinbarungen einvernehmlich geklärt werden. Schließlich
verfüge Deutschland ausschließlich über mündige Bürgerinnen und Bürger. Ja, meine Damen und Herren, glauben
Sie etwa, ich würde dieses nicht gerne ebenso bewerten
wollen? Ich wäre doch geradezu froh und dankbar, wenn
es tatsächlich so wäre, wenn unsere Initiative nicht nötig
gewesen wäre und wir die Vorlage nicht hätten erarbeiten
müssen. Doch leider ist diese idealisierte Wunschvorstellung in der Tat nur ein Traum. Sie entspricht nicht der
realen Arbeitswelt. Dies beweisen zahllose gerichtliche
Verfahren. Das ist aus meiner Sicht sehr traurig.
Im Übrigen kann der immer wieder beschworene Appell an die Vernunft gar nicht fruchten - weder der Appell
an die Raucher, doch gefälligst Rücksicht zu nehmen,
noch die Aufforderung an die Nichtraucher, sich doch toleranter zu zeigen. Schon aus psychologischen Gründen,
meine Damen und Herren, kann eine freiwillige Rücksichtnahme insbesondere von den starken Raucherinnen
und Rauchern, die ihr Rauchverhalten aufgrund ihrer Tabakabhängigkeit vielfach nicht mehr im Griff haben, erst
gar nicht erwartet werden. Umgekehrt - das wollen wir
auch deutlich sagen - kann man von Nichtrauchern wohl
kaum so viel vermeintliche Toleranz erhoffen, dass diese
die Gefahren der Gesundheitsbeeinträchtigung durch Passivrauchen widerspruchslos hinnehmen.
({3})
Im Übrigen sind all die Arbeitsstätten, wo es zu einer gütlichen Einigung gekommen ist, ohnehin von unserer Initiative nicht betroffen.
Wo liegt das eigentliche Problem? Nach dem heutigen
wissenschaftlichen Erkenntnisstand kann niemand mehr
ernsthaft bezweifeln, dass Passivrauchen grundsätzlich
die gleichen akuten und chronischen Gesundheitsschäden
hervorruft wie das Rauchen selbst. Diese unbezweifelbaren Fakten werden durch zahlreiche medizinische Nachweise, durch statistische Befunde und nicht zuletzt durch
Bestandsaufnahmen des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg und des Robert-Koch-Instituts in
Berlin belegt. Nach diesen Untersuchungen sind allein in
Deutschland pro Jahr etwa 300 bis 400 Krebstote aufgrund von Passivrauchen zu beklagen. Obwohl die deutsche Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe bereits im Jahre 1985 erklärt hat, dass
das Passivrauchen endlich als grundsätzlich Krebs erzeugend anerkannt werden müsse und zu den bedrohlichsten
Gefährdungskategorien wie beispielsweise auch das Einatmen von Asbestfasern oder Benzoldämpfen gehöre, ist
nach wie vor Handlungsbedarf angezeigt.
({4})
Es ist eine weit verbreitete Fehlhaltung zu sagen:
„Natürlich müssen wir an den Arbeitsplätzen Asbest beseitigen,
({5})
egal was es kostet!“, aber zugleich die Frage, wie man den
Passivraucher schützt, als Bagatelle zu vernachlässigen.
Ich sage deshalb noch einmal mit aller gebotenen Deutlichkeit: Diese weit verbreitete Fehlbewertung muss endlich aufgrund objektiver wissenschaftlicher Erkenntnisse
ausgeräumt werden.
Nun gibt es aber in Deutschland - man höre und
staune - keine einzige explizite gesetzliche Regelung zum
Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz. Dieses bedeutet in
der Praxis, dass derzeit unsere Gerichte bei den vielen arbeitsrechtlichen Streitigkeiten zum Nicht-raucherschutz
immer noch gezwungen sind, auf wenige allgemeine Paragraphen zum Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz
zurückzugreifen.
Ich will Ihnen diese Paragraphen nicht vorenthalten.
Da gibt es den § 5 der Arbeitsstättenverordnung, wonach
am Arbeitsplatz ausreichend „gesundheitlich zuträgliche
Atemluft“ vorhanden sein muss. Doch keiner weiß, was
das heißt. Es gibt ferner den § 32 der Arbeitsstättenverordnung, wonach Nichtraucher in Pausen-, Bereitschaftsund Liegeräumen, aber nicht am konkreten Arbeitsplatz
vor Belästigung durch Tabakrauch zu schützen sind.
Schließlich gibt es den relativ unpräzisen § 618 BGB, wonach die Fürsorgepflicht des Arbeitsgebers für seine Mitarbeiter auch deren Schutz für Leben und Gesundheit umfasst.
Wenn man aber nachfragt, wo die jeweilige Fürsorgepflicht beginnt und wo sie endet, dann ist das schwer auszumachen. Das hat zur Folge, dass wir eine Fülle individueller Gerichtsurteile haben und dass es in diesem Bereich keine Rechtsgrundsätze gibt, die konkret angewandt
werden können. Das Schlimmste ist, dass jeder Einzelne,
der meint, er müsse jetzt klagen, gegenüber dem Gericht
nachweisen muss, inwieweit er konkret als Individuum
durch die Einflüsse des Rauchens gesundheitlich geschädigt wurde.
Aus diesem Grunde hat sich die interfraktionelle
Gruppe gebildet. Wir haben etwas gemacht, das sich sehr
von dem unterscheidet, was bisher unternommen wurde.
Wir haben nämlich gesagt - ich habe es bereits angedeutet -, dass wir folgende Leitsätze beachten wollen: Wir
wollen kein eigenständiges Nichtraucherschutzgesetz,
sondern - wie bereits erläutert - nur bereichsspezifische
Änderungen bestehender Gesetze und Verordnungen.
Wir wollen keine ausdrückliche Bußgeldbewehrung, sondern lieber Hilfe für all die Raucherinnen und Raucher,
die sich von ihrer Rauchgewohnheit lösen wollen.
Deswegen hat unsere gesetzliche Initiative mindestens
die folgenden vier Vorteile: Erstens. Sie ist eindeutig und
schafft dadurch die überfällige Rechtsklarheit im Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz. Zweitens. Sie ist allgemein und lässt dadurch hinsichtlich der Wahl der konkreten betrieblichen Maßnahmen den Arbeitgebern und Betriebsräten den angesichts der Vielgestaltigkeit der
betrieblichen Verhältnisse erforderlichen Regelungsspielraum. Drittens. Sie ist moderat, da sie das Rauchen
am Arbeitsplatz entgegen früheren Versuchen nicht generell verbietet, sondern lediglich im Rahmen individueller
betrieblicher Vereinbarungen Nichtraucher schützen will.
Viertens. Sie ist zumutbar, da nach § 3 a Abs. 2 der Arbeitsstättenverordnung in Arbeitstätten mit Publikumsverkehr nur insoweit Schutzmaßnahmen zu treffen sind,
„als die Natur des Betriebes und die Art der Beschäftigung
es zulassen“.
Dies ermöglicht schließlich dem Arbeitgeber - etwa in
Gaststätten, wo Raucher und Nichtraucher gemeinsam
Entspannung und Vergnügen suchen - aus Gründen der
Zumutbarkeit an die besondere Situation angepasste und
weniger kostenaufwendige Schutzmaßnahmen. Dies bedeutet allerdings letztendlich keinen Freibrief für den
Gastwirt, in solchen Betrieben alles beim Alten belassen
zu können. Vielmehr besteht auch dort eine Pflicht zur
Minimierung der Gesundheitsgefahren durch Passivrauchen.
Neben der Klarstellung der bestehenden Rechtslage
zum Schutze der Nichtraucher gilt unsere Zielsetzung
gleichermaßen neben dem Jugendschutz auch der Tabakprävention. Entwöhnungsbereite Raucherinnen und
Raucher, die ihre Tabakabhängigkeit erkennen, sich jedoch bisher vergeblich um eine Einschränkung ihres Konsums bemühen, sollen endlich wirksam in ihrem Bemühen unterstützt werden. Daher fordern wir mit dem
vorliegenden Antrag zugleich das Bundesministerium für
Gesundheit und das Bundesministerium für Arbeit und
Sozialordnung auf, Konzepte für eine innerbetriebliche
Nikotinentwöhnung zu entwickeln.
Der vorliegende Antrag will somit zweierlei bewirken:
Erstens. Er schafft eine überfällige eindeutige Rechtslage
zugunsten der Passivraucher und er unterstützt zweitens
entwöhnungsbereite Raucherinnen und Raucher, ohne sie
in irgendeiner Weise zu diskreditieren.
Nach meiner Auffassung gibt es daher zu dem heute
hier vorgelegten Antrag keine Alternative. Ich bitte, sich
daran zu erinnern, dass die EU bereits 1985 ihre Mitgliedstaaten aufgefordert hat, endlich die Voraussetzungen für einen gesetzlichen Nichtraucherschutz zu schaffen. Diese wurden inzwischen - gottlob - in 14 EU-Staaten umgesetzt. Nur Deutschland hinkt immer noch dem
erforderlichen Schutzstandard hinterher. Doch durch unseren Antrag würde in Deutschland endlich ein Schutzanspruch der Bürgerinnen und Bürger vor den Gesundheitsgefahren des Passivrauchens gesetzlich verankert, wie er
bereits in über 90 Staaten der Erde besteht.
Herr Kollege
Lensing, denken Sie bitte daran, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist.
Ich denke daran: Ich
möchte aber gern die Chance nutzen, noch einen Satz zu
sagen, der da lautet: Ich bitte Sie sehr darum, mit uns gemeinsam für dieses Ziel zu werben und bei Bedarf auch
zu streiten.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Uta Titze-Stecher.
Frau Präsidentin! Liebe
verbliebene Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß, dass der
Fußball seinen Tribut fordert. Deshalb freue ich mich,
dass zumindest einige Sitzfleisch beweisen. Lassen Sie
mich, nachdem der Kollege Lensing dankenswerterweise
ausführlich, detailliert und sachgerecht den Inhalt des vorliegenden Antrages dargestellt hat, einen kurzen Rückblick auf die bisherigen parlamentarischen Bemühungen auf diesem Gebiet machen. Denn Unkundige denken
vielleicht, das sei der erste Versuch, einen gesetzlichen
Nichtraucherschutz zu verankern. Dem ist nicht so. Dies
ist vielmehr bereits der dritte Versuch.
Immer war das Vorgehen interfraktionell angelegt, weil
wir wissen, dass dieses Thema emotional befrachtet ist,
weil wir wissen, dass Interessen des Gesundheitsschutzes
versus Interessen der Wirtschaft stehen, weil wir wissen,
dass aufseiten der Raucher individuelle Freiheit und aufseiten der Nichtraucher Gesundheitsschutz eingeklagt
werden. Der erste Versuch von 1994 ist mit Beendigung
der Wahlperiode durch die Ritze gefallen. Unterstützt haben ihn damals 41 Kolleginnen und Kollegen. Wir haben
uns damals fast an diesem gesetzlichen Regelwerk verhoben.
Aus dieser Erfahrung und aufgrund der Gespräche mit
der betroffenen Tabakindustrie, dem DEHOGA, also dem
Deutschen Hotel- und Gaststättenverband, und anderen
entstand dann der zweite interfraktionelle Anlauf, der immerhin zu einer zweiten und dritten Lesung im Jahre 1998
führte. Wenn er Erfolg gehabt hätte, stünden wir heute
nicht hier und müssten nicht den Kraftakt eines dritten
Versuches unternehmen.
Der Kollege Lensing hat schon dargestellt, dass wir inzwischen weise und auch ein bisschen bescheidener geworden sind. Wir haben uns in einem ersten Schritt vorgenommen, den Bereich zu regeln, der in unseren Augen
als Erstes regelungsbedürftig ist, nämlich den Arbeitsplatz. Immerhin sind 63 Prozent der Erwerbstätigen Nichtraucher und Nichtraucherinnen. Deshalb besteht die Notwendigkeit, hier als Erstes zu regeln.
Wir haben davon abgesehen, ein Artikelgesetz vorzulegen, das in öffentlichen Anhörungen zerpflückt worden
wäre und großen Widerstand auch bei Kollegen und Kolleginnen hervorgerufen hätte. Wir haben, wie gesagt, eine
andere Strategie gewählt: Wir regeln nur noch bestehende
Lücken. Deshalb können Sie diesem Antrag getrost zustimmen. Er trägt immerhin auch die Unterschrift der Gesundheitsministerin sowie die Unterschriften von drei
Staatssekretären, allerdings nicht die Unterschrift des
Kanzlers. Das ist wohl auf Unkenntnis des Inhaltes
zurückzuführen. Wir wollen Kanzler Schröder keinesfalls
seine Cohiba verbieten. Er kann sie rauchen, so oft er will,
nur nicht in jeglicher Situation. Da ich Kabinettsitzungen
für Arbeitssitzungen halte, wird, wenn unser Vorschlag
Gesetz wird, die Cohiba in Kabinettsitzungen wohl
schwerlich zum Genuss kommen.
Wir haben die Hoffnung, dass dieser dritte Versuch von
Erfolg gekrönt sein wird, weil die jahrelange Debatte - ein
Verdienst hieran rechnen wir auch uns an - das Bewusstsein auf allen Seiten geändert hat, und zwar sowohl auf
der Seite der Raucher als auch auf der Seite der Nichtraucher, aber, was besonders wichtig ist, vor allem auch in
den Reihen der Politik. Denn nirgends wird so viel gepafft
wie im politischen Raum und im Bereich der Medien deswegen auch immer die freundliche Unterstützung unserer Bemühungen aufseiten der Medien.
Die aktuelle Entwicklung kommt uns sehr entgegen.
Heute haben die Gesundheitsminister der EU entschieden, dass ab 2004 eine verschärfte EU-Tabakrichtlinie
gelten soll. Ich erspare Ihnen die Einzelheiten. Nur so
viel: Erstmals sind Höchstgrenzen für alle Tabakprodukte
vorgesehen. Die entsprechenden Warnhinweise, die Sie
alle kennen - Rauchen gefährdet ungeborenes Leben,
Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit -, werden sprachlich
verschärft und optisch vergrößert, sodass niemand mehr
sagen kann: Ich habe gar nicht gewusst, was ich da tue.
Positives Fazit: Jahrelange Bemühungen, auch Kämpfe
und unsachliche Auseinandersetzungen, haben immerhin
dazu geführt, dass jetzt die Hoffnung auf einen gesetzlich
verankerten Nichtraucherschutz sehr konkret geworden ist. Auch Meldungen wie die gestern Morgen im
Frühstücksfernsehen, ab Juli gebe es eine Antiraucherpille namens Zyban, die, mit 30-prozentiger Erfolgsquote
versehen, dann zu kaufen sei, können uns nicht daran hindern, den Nichtraucherschutz im Betrieb zu verankern.
Denn der beste Schutz ist natürlich, die Zigarette gar nicht
erst anzufassen.
Zum Antrag. Der Titel ist Programm: „Für einen verbesserten Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz“. Es geht
uns, wie der Kollege Lensing betont hat und wie es sicher
auch die folgenden Redner betonen werden - das ist ein
wichtiges Thema -, nicht um Diskriminierung, Stigmatisierung oder Ausgrenzung der Raucher. Jeder Bürger soll
selbst entscheiden, zu welchem Genussmittel er greift und
durch welches er sich schädigt. Nur, wenn ich ein Schnäpschen trinke oder eine Flasche Wein leere, dann schädige
ich die eigene Leber. Esse ich zu viel, habe ich eigene Gewichtsprobleme. Beim Rauchen liegt die Sache entschieden anders. Derjenige, der neben einem Raucher sitzt,
steht oder arbeitet, ist als Nichtraucher immer mit betroffen, wenn sein Nachbar raucht. Und da hört es auf! Wenn
ich mich entscheide, mich persönlich durch Rauchen zu
schädigen, ist das mein Recht, mein Bürgerrecht. Aber ich
habe nicht das Recht, den Nachbarn mit zu schädigen.
({0})
Deswegen ist die gesetzliche Regelung absolut überfällig.
Herr Kollege Lensing hat ebenfalls darauf hingewiesen, wie schwierig es ist, mit Süchtigen eine Vereinbarung zu treffen. Es wird immer gesagt: Wir haben alle
Verstand, wir verfügen über Sprache, wir sprechen
Deutsch; unter zivilisierten Menschen müsste man das eigentlich zivil regeln können. - Pustekuchen! Wenn zwei
Drittel der Raucher nikotinabhängig sind, das heißt von
einem Stoff abhängen, dessen Suchtpotenzial vergleichbar dem von Heroin und Kokain ist, dann können Sie
nicht mit einem Appell an die Ratio erfolgreich arbeiten.
Sie müssen Hilfe bieten, da es sich um eine Krankheit
handelt, wie auch Alkoholsucht inzwischen als Krankheit
angesehen wird.
({1})
- Ich weiß, dass Sie rauchen, Frau Kollegin; ich meine es
nicht persönlich.
({2})
- Gut.
Gestatten Sie mir an dieser Stelle eine kleine Abschweifung: Wir haben den Anspruch, hier interfraktionell vorzugehen. Ich habe das auch begründet. Es tut mir
Leid, dass die Unterschrift der PDS unter diesem Antrag
fehlt. Ein Unvereinbarkeitsgebot der CDU/CSU-Fraktion
hat die Unterschrift verhindert, obwohl gestern im Haushaltsausschuss beschlossen wurde, ein gemeinsames Gesetz zur Errichtung einer Stiftung mit dem Namen „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ zu schaffen. Da hat
man dieses Prinzip um der Sache willen verlassen können.
Ich will die Themen zwar nicht vergleichen, aber bei der
vergleichsweise einfachen und klaren Sache Nichtraucherschutz hätte man über diese Hürde springen können.
Jedenfalls appelliere ich an die Kollegen und Kolleginnen der PDS, von denen ich weiß, dass sie in der Sache hinter uns stehen, in der zweiten und dritten Lesung
mit uns zu stimmen. Wie sagte Ihr Kollege Gysi zu mir:
Ich muss schon dafür sein, weil man die Menschheit vor
mir als Raucher schützen muss.
Unsere Perspektive ist natürlich nicht, bei diesem
Schritt stehen zu bleiben. Auch das hat Kollege Lensing
in einem Nebensatz erwähnt. Wir bereiten im Augenblick
eine Verbesserung des Jugendschutzes, das heißt des
Schutzes der Jugendlichen unter 16 Jahren vor aktivem
und passivem Rauchen, vor, indem wir - analog zum AbUta Titze-Stecher
gabeverbot für Alkohol - ein Abgabeverbot für Tabakwaren erwägen. Das ist überfällig.
Wir führen kontinuierlich einen konstruktiven Dialog
mit der Automatenindustrie, um zu erreichen, dass sie
eine Lösung entwickelt, die den Zugang zu Zigarettenautomaten für Jugendliche unter 16 Jahren verhindert. Wir
wollen zudem unter Federführung der Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung die Maßnahmen für Prävention und Aufklärung massiv verstärken und - ich nehme
an, Vertreter der Zigarettenindustrie hören uns zu - hoffen
natürlich auf eine angemessene finanzielle Unterstützung
durch die Tabakindustrie in diesem Bereich.
Die Gegner eines gesetzlichen Nichtraucherschutzes
argumentieren oft mit einem Appell an den zivilen Umgang, an die gegenseitige Rücksichtnahme. Nicht nur die
Tatsache der Sucht steht diesem Appell entgegen. Selbst
in Familien, ja sogar hier im Parlament, in bestimmten
Ausschüssen, in bestimmten Landesgruppen und in bestimmten Arbeitsgruppen erleben Sie es, dass Sie auf Granit beißen, wenn Sie die Hand heben und sagen: Mich
belästigt das Rauchen nicht nur, sondern es macht mich
sogar krank. Wenn ich in diesem Zusammenhang auf
meine Allergie verweise, höre ich oft: Ich werde allergisch, wenn ich nicht rauchen darf.
Gegen solche unsachlichen Entgegnungen kann man
nichts machen. In anonymen Gruppen, in Gruppen, in denen sich die Einzelnen nicht kennen, ist die Situation noch
schwieriger. Möchten Sie mir zumuten, in einem Charterflieger von der ersten bis zur letzten Reihe jedem persönlich zu „verklickern“, warum mich das Rauchen stört,
belästigt oder schädigt? Sie sind längst am Urlaubsziel
vorbeigeflogen, wenn Sie dem Letzten die Sache erklärt
haben.
Schlimmer - weil komplizierter - wird es in Betrieben. Deswegen suchen wir uns diesen Ort im Hinblick auf
eine gesetzliche Regelung aus. Da verweisen die Kollegen, insbesondere der Kollege Dreßler, ein Obergesundheitsapostel, auf bestehende Betriebsvereinbarungen.
Wenn Sie die Ergebnisse der in diesem Zusammenhang
gemachten Untersuchungen betrachten, sieht das so aus:
Je nach Zusammensetzung der Betriebspartner, sprich:
der Geschäftsführung und des Betriebsrates, sieht das Ergebnis aus. Bestehen diese beiden Seiten in Mehrheit aus
Rauchern, können Sie Gift darauf nehmen, dass das Ergebnis raucherfreundlich ist - und umgekehrt. Nach dem
Motto „Wir sind die Schwereren, wir sind die „Mehreren“
darf ein solcher Konfliktfall nicht entschieden werden.
({3})
Die Regelung, die wir hier anbieten - ich will mich
nicht wiederholen; Herr Kollege Lensing hat das vorzüglich dargestellt -, ist durch Rechtssicherheit gekennzeichnet, wird seit 1984 durch die Rechtsprechung mehr
und mehr bestätigt und entzieht den zwischen Rauchern
und Nichtrauchern bestehenden Konflikt der Ebene der
elenden persönlichen Auseinandersetzung, bei der immer
Sieger und Besiegte zurückbleiben. Beide Seiten können
sich auf diese Regelung verlassen. Raucher sind nicht weniger gesetzestreu als Nichtraucher. Beide wissen, was
Sache ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, dass wir,
nachdem die zuständigen Ausschüsse den vorliegenden
Antrag beraten haben, beim dritten Versuch, dieses Vorhaben durchzusetzen, eine Mehrheit gewinnen. Das wird
dann wohl das letzte Mal sein. Denn ich weiß nicht, ob angesichts dessen, dass ich ab 2002 nicht mehr im Bundestag vertreten sein werde, die Energie vorhanden sein wird,
dieses Vorhaben ein viertes Mal zu stemmen.
Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen der interfraktionellen Arbeitsgruppe meinen persönlichen Dank
aussprechen. Ein spezieller Dank gilt Herrn Lensing, der
diesen Antrag federführend vorbereitet hat.
({4})
Ich möchte erwähnen, dass uns unsere Mitarbeiter meine Mitarbeiter zum Beispiel rauchen gern und häufig,
nur nicht in meinem Raum; aber in ihren Räumen verbiete
ich das Rauchen natürlich nicht - tatkräftigst unterstützen.
Ich möchte schließen mit dem Dank an die Vertreter der
zuständigen Ministerien, die uns bei der Formulierung
und Abfassung des vorliegenden Antrags behilflich waren.
({5})
Das Wort hat
jetzt der Kollege Hildebrecht Braun, F.D.P.-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute
über eine Initiative aus der Mitte des Hauses, über ein Vorhaben von vier Initiatoren. Einer davon bin ich.
Gott sei Dank hat sich eine Abgeordnete gefunden,
nämlich Frau Schwaetzer, die eine andere Position einnehmen wird. Das ist für eine Diskussion im Bundestag
außerordentlich wichtig. Dafür braucht sie Redezeit.
Dies geht aber auf Kosten der Redezeit, die man mir dankenswerterweise - entsprechend der Größe der Fraktionen zugemessen hat.
Liebe Kolleginnen und lieber Kollege aus der Arbeitsgruppe, ich halte so etwas nicht für akzeptabel. Wenn vier
Initiatoren aus der Mitte des Hauses gemeinsam einen
Entwurf erarbeiten, dann kann es wohl kaum so sein, dass
die ersten beiden Redner nach der Größe ihrer Fraktion
Redezeit bekommen,
({0})
der Vierte im Bunde, der genauso zu diesem Entwurf bei-
getragen hat, aber von seiner Redezeit auch noch das ab-
gezogen bekommt, was das einzige Mitglied des Hauses,
das dagegen sprechen wird, zu Recht im Interesse der Dis-
kussion an Redezeit beansprucht. So können wir das nicht
machen.
Ich will daher meine Rede zu Protokoll geben. Jeder
kann sie dann nachlesen. Außerdem haben die beiden
Vorredner schon viel Richtiges gesagt. Wir werden uns
in Ruhe darüber unterhalten, wie wir bei der nächsten
Beratung nach den Sommerferien die Dinge handhaben
werden, wenn wir den zweiten Teil unserer Initiative hier
im Bundestag einbringen werden.
Vielen Dank.
Dies ist nun ein
schwieriger Geschäftsordnungsvorgang, weil Sie bereits
geredet haben und trotzdem noch Ihre Rede zu Protokoll
geben wollen. In dieser Frage ist aber Toleranz die beste
Richtschnur. Daher empfehle ich, dass wir der Bitte des
Kollegen Braun nachkommen. Sind Sie damit einverstan-
den? - Dann wird die Rede zu Protokoll gegeben.1)
Nun hat die Abgeordnete Ekin Deligöz das Wort.
Frau
Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber
Herr Kollege Braun, leider gibt es in einer Demokratie
nun einmal bestimmte Spielregeln. Manchmal sind sie
nicht so angenehm; aber wir müssen mit ihnen leben. Das
verlangt unsere Geschäftsordnung. Aber wir haben jetzt
ein gutes Verfahren gefunden. Ich danken Ihnen, Frau Präsidentin, ausdrücklich dafür, dass Sie Toleranz gezeigt haben. Für diese Toleranz im Zusammenleben treten wir
hier ja gemeinsam ein; es geht darum, wie wir letztendlich
unsere Gesellschaft und unsere Demokratie gestalten
wollen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, selten haben wir im
Bundestag die Gelegenheit, eine fraktionsübergreifende
Initiative vorzustellen.
({0})
Gerade diese Überparteilichkeit zeigt, dass es uns an diesem Punkt wirklich und ausschließlich um die Sache geht.
Was wollen wir erreichen? Wir treten dafür ein, dass endlich ein Anliegen vieler Menschen durchgesetzt wird: Sie
wollen einen Anspruch darauf haben, ihre tägliche Arbeit
unbelästigt zu verrichten.
Jetzt höre ich natürlich immer wieder das Gegenargument - das werden wir heute vielleicht noch einmal zu
hören bekommen -, dass die Menschen dies untereinander regeln könnten und wir dazu keine Gesetze bräuchten.
Ich selbst weiß ziemlich genau, wie es in Deutschland mit
den zahlreichen Gesetzen steht, weil ich das studiert habe;
ich bin Diplomverwaltungswissenschaftlerin. Aber ich
habe auch zu unterscheiden gelernt.
Wir wollen hier nicht in irgendeiner Weise die Regelungswut in Deutschland weiter vorantreiben. Aber wir
müssen die Prozesswut, die es in diesem Lande gibt, eindämmen.
({1})
Die Gerichte und Justizverwaltungen stöhnen - häufig zu
Recht - über die vielen kleinen Nachbarschaftsstreitigkeiten. Die Bundesregierung arbeitet an diesem Problem
in mehrfacher Weise und wird dafür sorgen, dass eine Reform des Justizrechtes kommt, die die Gerichte massiv
entlasten wird.
Beim Nichtraucherschutz handelt es sich nach meiner
Auffassung aber um eine andere Dimension. Es geht um
die Sicherung der verfassungsmäßigen Rechte der Menschen: um ihr Recht auf Leben und um ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit.
({2})
Da dürfen wir als Gesetzgeber - wir alle, die wir hier sitzen - nicht wegsehen. Das gilt ebenso für die Behörden
und auch für uns alle in unserem privaten Verhalten. An
diesem Punkt ist tatsächlich die Verantwortung gefragt:
Wir dürfen uns nicht aus der Verantwortung für den Gesundheitsschutz wegstehlen. Ganz im Gegenteil: Weil
wir in diesem Bereich bisher auf Regelungen verzichtet
haben, hat sich in Betrieben leider oft das Recht des Stärkeren und Rücksichtslosen durchgesetzt. Darunter wollen
wir einen Schlussstrich ziehen. Wir wollen für die Nichtraucherinnen und Nichtraucher mehr Freiheiten an ihren
Arbeitsplätzen, an denen sie sein müssen, um ihr täglich
Brot zu verdienen.
Die Regelungen, die wir heute fraktionsübergreifend
vorschlagen, schaffen endlich Klarheit und entlasten die
Gerichte. Die Gegner einer gesetzlichen Regelung müssen sich schon fragen lassen, warum sie es zulassen wollen, dass die Gerichte - bis hin zum Bundesarbeitsgericht weiterhin den Gesetzgeber ersetzen, der hier doch eindeutig gefragt ist.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen, dass die
unsägliche Beweislast nicht bei den Nichtraucherinnen
und Nichtrauchern liegt. Wir stellen klar fest: Das Recht
der Raucher, ihr Umfeld zu verqualmen, zu rauchen, wo
sie wollen, hat dort seine Grenze, wo das Recht der Nichtraucher beginnt. Aus verschiedenen Gründen haben wir
uns im ersten Schritt auf den Arbeitsplatz konzentriert;
Weiteres wird folgen.
Das Passivrauchen am Arbeitsplatz wurde 1998 von
der Deutschen Forschungsgemeinschaft als eines der gefährlichsten Krebsrisiken benannt. Tabakrauch wird als
einer der gesundheitsschädlichsten Arbeitsstoffe eingeordnet. Dies bedarf keiner weiteren Kommentierung.
Da auch mir die Zeit wegrennt und ich eigentlich noch
viel zu sagen habe, möchte ich mich kurz fassen und mit
einem letzten Punkt schließen. Ich bin überzeugt, dass die
Durchsetzung des rauchfreien Arbeitsplatzes ein erster,
aber sehr wichtiger Baustein für ein umfassendes Nichtraucherschutzgesetz ist. Das ist nichts Revolutionäres,
das hat nichts mit Stigmatisierung zu tun. Wir wollen die
Raucher nicht in die Ecke drängen und auch nicht so
etwas wie eine Positivdiskriminierung; das ist nicht unser
Ziel. Wir wollen nur das Recht der Nichtraucher festschreiben und den Anschluss an die europäische
Hildebrecht Braun ({4})
1) Anlage 2
Entwicklung erreichen. Dafür wollen wir mit einer großen
Mehrheit des Parlaments ein Zeichen setzen; und dies
sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Ich bedanke mich schon im Voraus bei allen, die uns dabei unterstützen.
Danke.
({5})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Petra Bläss.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Besser auf den Punkt bringen kann
man die Bewertung des vorliegenden interfraktionellen
Antrags für einen verbesserten Nichtraucherschutz am
Arbeitsplatz wohl nicht, als es die „Koalition gegen das
Rauchen“ getan hat, deren Brief uns Abgeordnete heute
erreicht hat. Der Antrag berücksichtigt die erforderlichen
Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit vor Passivrauchen. Zugleich wird bei den zu ergreifenden Maßnahmen
Augenmaß gewahrt, indem die Selbstbestimmungsrechte
der Sozialpartner unberührt bleiben und diese selbst über
die Verhältnismäßigkeit der Schutzmaßnahmen entscheiden können. Nicht mehr, aber auch nicht weniger steht
also zur Debatte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Regelung der
Pflichten der Arbeitgeber gegenüber den individualrechtlichen Ansprüchen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf einen rauchfreien Arbeitsplatz ist überfällig. Bisher ist dies oft eine Ermessensfrage in Verhandlungen zwischen Betriebsräten und Arbeitgebern oder ein
Fall für Gerichte. Diese notwendige Regelung aber bleibt
nur ein Schritt auf dem Weg zu einem umfassenden
Schutzgesetz für Nichtraucherinnen und Nichtraucher.
Die halbherzige Aufforderung an die Bundesregierung,
„Konzepte für innerbetriebliche Maßnahmen der Prävention und der freiwilligen Raucherentwöhnung“ zu entwickeln, darf nicht das letzte Wort des Gesetzgebers bleiben. Was muss denn noch an Argumenten angeführt werden, um in diesem Hause endlich eine Mehrheit dazu zu
bringen, etwas zum Schutz vor den enormen gesundheitlichen Gefahren des Rauchens und vor allem des passiven
Mitrauchens zu tun?
Auf dem 24. Deutschen Krebskongress wurde nachgewiesen, dass jeder zweite Jugendliche, der heute zur Zigarette greift, an den Folgen der Nikotinabhängigkeit sterben muss. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass
in Deutschland der Tabakkonsum jährlich bereits für
100 000 Bürgerinnen und Bürger tödliche Folgen hat.
Noch alarmierender sind die Studien, die belegen, welche
gesundheitsschädigenden Wirkungen das Passivrauchen
auf Nichtraucherinnen und Nichtraucher, insbesondere
auf Kinder hat.
Angesichts des unübersehbaren politischen Handlungsbedarfs müsste unsere Verantwortung als Politikerinnen und Politiker Anlass genug sein, so schnell wie
möglich ein alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens
umfassendes Nichtraucherschutzgesetz zu verabschieden. Es kann nicht oft genug gesagt werden: Es geht nicht
um eine Diskriminierung der Raucherinnen und Raucher.
Es geht um ein Gesetz, das den Anspruch der Nichtrauchenden auf eine nikotinfreie Umwelt in öffentlichen
Gebäuden und Verkehrsmitteln, am Arbeitsplatz und in allen Räumen, in denen sich kleinere Kinder aufhalten, regelt.
({0})
Wie kaum ein anderes Thema ist der Nichtraucherschutz nicht für die parteipolitische Auseinandersetzung
geeignet. Gerade weil es seit Jahren ein fraktionsübergreifendes Bemühen um eine Nichtraucherschutzregelung gibt - die Kollegin Uta Titze-Stecher hat noch einmal die Geschichte aufgezeigt -, ist es unverständlich und
in meinen Augen auch nach außen hin nicht vermittelbar,
dass kleinkarierte Unvereinbarkeitsbeschlüsse vorgeschoben werden, um zu verhindern, dass Abgeordnete aus
wirklich allen Fraktionen die vorliegende Initiative unterzeichnen. Da, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die
außerparlamentarische „Koalition gegen das Rauchen“
schon wesentlich weiter. Zu dieser Koalition haben sich
inzwischen über 80 Organisationen des Gesundheitswesens zusammengeschlossen. Wir sind hier im Parlament
dagegen nur fünf Fraktionen.
Nichtsdestotrotz: Die Abgeordneten der PDS werden
dem vorliegenden Antrag zustimmen, denn wir halten
seine Umsetzung für einen notwendigen ersten Schritt
zu einem umfassenden Nichtraucherinnen- und Nichtraucherschutz.
Ich danke Ihnen.
({1})
Jetzt erteile ich
der Frau Kollegin Schwaetzer das Wort.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, zum Abschluss dieser Debatte ist es richtig, dass auch jemand das
Wort ergreift, der diesem Antrag nicht zustimmen wird.
Ich weiß heute noch nicht, ob ich für eine Mehrheit im
Hause spreche. Das letzte Mal hat eine Mehrheit den Entwurf eines Nichtraucherschutzgesetzes abgelehnt, somit
ist er nicht Gesetz geworden.
Wie es bei dieser Initiative steht, kann ich heute nicht
sagen. Aber ich kann natürlich darüber nachdenken: Was
hat sich seit der Initiative in der letzten Legislaturperiode
geändert? Da allerdings möchte ich noch einmal darauf
hinweisen, dass von denen, die hier geschützt werden sollen, nur eine wirkliche Minderheit meint, dass sie diesen
Schutz brauche. Es sind nämlich nur 25 Prozent der Nichtraucher der Meinung, dass der Staat das Nichtrauchen gesetzlich regeln solle.
({0})
- Sie können das jederzeit mittels anderer Umfragen
nachweisen lassen. Diese Zahlen sind über die Jahre in
etwa gleich geblieben.
({1})
- Herr Lensing, damit möchte ich auch Ihrer Aussage widersprechen, dass der Ruf nach einer solchen Regelung
immer lauter würde. Wenn Sie sagen, kein Kind werde befragt: Ihre Vorlage bezieht sich auf Arbeitsstätten; insofern würde dieses Argument sicherlich nicht treffen.
({2})
Bei Arbeitsstätten - daran sollten wir überhaupt keinen
Zweifel lassen - ist es ganz selbstverständlich die notwendige Pflicht des Arbeitgebers, dass Arbeitnehmer vor
Gesundheitsgefahren auch durch das so genannte Passivrauchen geschützt werden müssen.
({3})
Dies gilt vor allem für Schwangere und andere gesundheitlich besonders gefährdete Arbeitnehmer. Dazu brauchen wir aber keine Änderung der Arbeitsstättenverordnung; denn dies ist bereits in Arbeitsgerichtsprozessen bis zum Bundesarbeitsgericht - mehrfach und ausreichend entschieden worden und damit geklärt.
({4})
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich bin mir
ganz sicher, dass Kleinkonflikte in der Gesellschaft - in
vielen Fällen handelt es sich um solche, auch wenn sie
nicht mehr im Wege einer Betriebsvereinbarung geregelt
werden können - auch durch Verordnungen, Richtlinien
und Behördenauflagen nicht endgültig ausgeräumt werden können.
({5})
Vielmehr ist das eine Frage, die wirklich in die Gesellschaft hineingeht. Es ist ein Appell an Rücksichtnahme
auf der einen Seite und an Toleranz auf der anderen Seite.
Immerhin sind ja auch die Sozialpartner, Herr Lensing,
nach wie vor der Meinung, dass es zu keiner zusätzlichen
gesetzlichen Regelung kommen sollte und dass es einer
solchen gesetzlichen Regelung auch nicht bedarf.
({6})
Deswegen werden wir in den Ausschüssen erörtern,
was wir den Sozialpartnern zusätzlich an die Hand geben
können, um innerhalb des Betriebes durch Vereinbarungen oder Modellversuche auf solche Kleinkonflikte mäßigend und problemlösend einzuwirken. Aber einer gesetzlichen Regelung bedarf es nach meiner festen Überzeugung nicht.
Danke schön.
({7})
Ich schließe die
Aussprache zu diesem Punkt. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3231 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulf Fink,
Eva-Maria Kors, Aribert Wolf, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU
Zukunft der sozialen Pflegeversicherung
- Drucksache 14/3506 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Ulf Fink.
Frau Präsidentin! Meine sehr
verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat einen Antrag zur Zukunft der sozialen
Pflegeversicherung mit einer ganzen Reihe von Aufforderungen und Vorschlägen eingebracht. Ich glaube, dass die
Unionsfraktionen das mit vollem Recht tun. Denn wir waren es, die die Pflegeversicherung in einer nicht einfachen
Situation durchgesetzt haben.
({0})
In den 90er-Jahren waren wir es, die die Initiative ergriffen haben und trotz vieler Widerstände dafür gesorgt
haben, dass die mittlerweile 1,9 Millionen Pflegebedürftigen eine Leistung bekommen. Dies ist eine gewaltige
Leistung. Sie müssen bedenken, dass wir in demselben
Zeitraum immerhin die große Aufgabe der Finanzierung
der deutschen Einheit zu bewältigen hatten. Dennoch haben wir es geschafft, dass für die Pflegebedürftigen rund
30 Milliarden DM jährlich zusätzlich bereitgestellt werden konnten. Diese Leistung ist in ihrer Bedeutung gar
nicht hoch genug zu schätzen. Denn vorher musste das
Problem der Pflegebedürftigkeit als ungelöst gelten.
Sie, die Sozialdemokraten, hatten von 1970 bis 1981
elf Jahre lang Zeit, sich um die Pflegebedürftigen zu kümmern. Tatsache ist: Sie haben in diesen elf Jahren nichts,
aber auch gar nichts geschafft, um den Pflegebedürftigen
zu helfen. Wir haben es während unserer Regierungszeit
trotz der großen Herausforderung der Finanzierung der
deutschen Einheit geschafft, die Pflegeversicherung
durchzusetzen. Ich glaube, dies sollte man an den Anfang
stellen.
({1})
Wir haben Ihnen ein gutes Erbe hinterlassen. Wir haben Ihnen nicht nur ein geregeltes System der Pflegeversicherung übergeben, sondern Ihnen zusätzlich auch
10 Milliarden DM im Vermögen der Pflegeversicherung
zur Obhut anvertraut. Was haben Sie damit gemacht? Als
es erste Überlegungen dazu gab, wie man den BundesDr. Irmgard Schwaetzer
haushalt sanieren könnte, ist Ihnen nichts anderes eingefallen, als zu sagen: Greifen wir doch in die Kasse der
Pflegeversicherung! 500 Millionen DM gehen der Pflegeversicherung jetzt jährlich verloren, weil auf Vorschlag
von Herrn Eichel die Bezieher von Arbeitslosenhilfe geringere Pflegeversicherungsbeiträge zahlen müssen, als
das eigentlich notwendig wäre.
Ich fordere Sie von den Sozialdemokraten und insbesondere Sie, Frau Schmidt-Zadel - wir haben vor kurzem
darüber geredet -, dringend auf: Sorgen Sie dafür, dass
dieser unziemliche Griff in die Kasse der Pflegeversicherung endlich rückgängig gemacht wird!
({2})
Ich möchte noch ein Weiteres hinzufügen: Wir sind alle
der Auffassung, dass die Pflegequalität verbessert werden muss. Das ist richtig. Wir müssen dafür sorgen, dass
die Kontrollen besser sind. Und wir wollen - mein Kollege Wolfgang Zöller wird dazu nachher sprechen - etwas
tun, um den Demenzkranken, den Altersverwirrten, besser als bisher zu helfen. Aber dafür braucht man natürlich
Geld. Dann kann man nicht sagen: Wir sanieren den eichelschen Haushalt und bedienen uns am Geld der Pflegeversicherung. Wenn man den Pflegebedürftigen zusätzliche Leistungen verspricht, muss man als Erstes dafür
sorgen, dass dieses Geld wieder in die Kasse der Pflegeversicherung zurückkommt.
({3})
Es ist immer das große Ziel der Pflegeversicherung gewesen, dass Menschen, wenn Sie pflegebedürftig werden,
nicht länger auf die Sozialhilfe angewiesen sind. Es war
ja vor 1995 so, dass 80 Prozent der Menschen in Pflegeheimen auf Sozialhilfe angewiesen waren. Unser Ziel war
es immer, dieses Verhältnis umzukehren. Wir haben es
weitgehend geschafft. 1997 waren 70 Prozent der Menschen in den Pflegeheimen nicht auf Sozialhilfe angewiesen. Was erreicht werden konnte, ist sehr, sehr viel.
Nur, seit 1995 sind die Leistungen der Pflegeversicherungen nicht mehr angepasst worden, obwohl die Berechnungen auf dem Status von 1992 beruhen. Mittlerweile
sind fast zehn Jahre vergangen. Die Leistungen sind nicht
angepasst worden. In Ihren Berechnungen und allem, was
Sie darlegen, sind Sie darauf nicht eingegangen. Ich fordere Sie dringend auf: Sorgen Sie durch eine klare Politik
und eine Korrektur der falschen Sparbeschlüsse dafür,
dass die Pflegeversicherung nicht selbst zum Pflegefall
wird.
({4})
Das Wort hat
jetzt die Kollegin Regina Schmidt-Zadel.
Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren! Herr Fink, was Sie eben hier
gesagt haben, hat mir ja fast die Sprache verschlagen. Wir
sanieren den Haushalt. Wir korrigieren das Chaos, das Sie
uns bei den Finanzen hinterlassen haben. Das ist unsere
Aufgabe - nicht nur bei der Pflegeversicherung, sondern
in allen Bereichen.
({0})
- Ich gehe noch darauf ein. Sie brauchen sich nicht zu
beunruhigen.
({1})
Ich will Ihnen heute einmal einige Dinge aus der Vergangenheit um die Ohren hauen. Am 10. Dezember 1997
fand vor dem Deutschen Bundestag - seinerzeit waren wir
noch in Bonn - eine Debatte zur Pflegeversicherung statt.
Es ging damals um die Antwort der Bundesregierung welcher wohl? -auf eine Große Anfrage der SPD-Fraktion zur Situation der Demenzkranken in der Bundesrepublik Deutschland. Jetzt hören Sie gut zu. Die SPD hatte
damals zu dieser Debatte einen Entschließungsantrag eingebracht, der unter anderem Verbesserungen für Demenzkranke und eine Weiterentwicklung der Pflegeversicherung zur besseren Versorgung dieser Patientengruppe zum
Inhalt hatte.
Meine Damen und Herren von der Union, ich kann
mich - wie sicher auch Sie - an die Debatte und die nachfolgenden Diskussionen noch lebhaft erinnern und zitiere
zunächst einmal aus der Beschlussempfehlung der damaligen Berichterstatterin der CDU/CSU-Fraktion:
Man dürfe ... nicht verkennen, dass bereits eine
Menge geschehen sei. Auch seitens der Bundesregierung sei einiges unternommen worden. Die Lösung
liege nicht in der Forderung nach mehr Angeboten ...
In der Pflegeversicherung sei den Demenzerkrankungen verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt worden. Insgesamt lehnten die Mitglieder der Fraktion
der CDU/CSU die vorliegenden Entschließungsanträge ab. Eine Fortführung des eingeschlagenen
Weges ... halte man für zweckmäßiger.
Weil wir beim Thema Vergangenheitsbewältigung
sind, will ich Sie auch noch an folgende Tatsache erinnern: Der für die Pflegeversicherung damals zuständige
Minister war Norbert Blüm; der gleiche Norbert Blüm,
der im ersten Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Pflegeversicherung vom 19. Dezember
1997 ausführte, dass eine Änderung des Begriffs der Pflegebedürftigkeit nicht infrage komme, weil das den festgelegten Beitragssatz von 1,7 Prozent sprengen würde.
Blüm führte damals - hören Sie bitte zu - in seinem
Bericht weiter aus, dass der Forderung nach der Berücksichtigung des Zeitaufwandes für die allgemeine Betreuung und Beaufsichtigung bei Demenzpatienten und altersverwirrten Patienten nicht entsprochen werden
könnte.
Bereits ein Jahr zuvor, am 16. August 1996, schrieb der
eben von mir zitierte Minister Blüm in einem Antwortbrief an den Deutschen Städtetag:
Ihren Forderungen, dass auch verwirrte, demente
und psychisch kranke Menschen Leistungen aus der
Pflegeversicherung erhalten, stimme ich gerne zu.
Dieses Ziel verwirklicht die Pflegeversicherung bereits.
Die Behauptung, die Berücksichtigung psychisch Kranker in der Pflegeversicherung sei unzulänglich, so
Norbert Blüm damals weiter, ist unzutreffend.
Meine Damen und Herren von der Union; wenn ich mir
heute Ihren Antrag ansehe, den Sie hier im Plenum einbringen, und den Inhalt mit Ihren Aussagen von damals
vergleiche, komme ich aus dem Staunen über Ihre 180Grad-Drehung nicht mehr heraus.
({2})
Herr Fink, Sie verkennen die Tatsache - das tun Sie sehr
bewusst -, dass es nicht nur die CDU/CSU war, die die
Pflegeversicherung damals verabschiedet hat. Es war ein
gemeinsamer Entwurf und eine gemeinsame Verabschiedung.
({3})
Darauf will ich noch einmal deutlich hinweisen.
({4})
Ich weiß nicht, ob Sie davon ausgegangen sind, dass Ihre
Einlassungen von damals von irgendwelchen Festplatten
gelöscht wurden. Anders ist mir diese Wandlung vom
Saulus zum Paulus jedenfalls nicht zu erklären.
Herr Fink, wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen
werfen.
({5})
Sie fordern heute das - das ist das Verwerfliche -, was Sie
in Ihrer Regierungsverantwortung stets blockiert und abgelehnt haben.
({6})
- Wir haben eine Menge gemacht.
Wenn Ihnen an einer Weiterentwicklung der Pflegeversicherung wirklich gelegen wäre, wenn Sie wirklich
der Meinung wären, dass vorhandene Defizite in der Pflegeversicherung beseitigt werden sollten, dann frage ich
mich, warum Sie diesen Sinneswandel nicht eher vollzogen haben.
Die SPD-Fraktion hat Sie in der letzten Legislaturperiode wiederholt aufgefordert, in der Pflegeversicherung etwas zu unternehmen. Aber es ist nichts geschehen. Selbst
die längst vereinbarten Novellierungen zur Pflegeversicherung haben Sie in der letzten Wahlperiode blockiert.
Wir dagegen haben sie mittlerweile durchgesetzt.
({7})
Wir wären heute in allen Punkten, die Sie in Ihrem Antrag aufführen, viel weiter oder sogar schon am Ziel, wenn
Sie mitgemacht hätten und während Ihrer Regierungszeit
die Angebote der SPD zur notwendigen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung aufgegriffen hätten. Sie von
der Union sind für die verlorenen Jahre bei der Pflegeversicherung verantwortlich. Sie sind maßgeblich für den
Stillstand bei der Lösung der Problematik der nicht angemessenen Versorgung dementer und altersverwirrter
Menschen verantwortlich. Davon können Sie nicht ablenken - weder mit Ihren zahlreich beantragten Aktuellen
Stunden zur Pflegeversicherung noch mit Ihrer überdimensionierten Kleinen Anfrage zu diesem Thema, die
90 Einzelfragen beinhaltet, und schon gar nicht mit Anträgen wie dem heutigen.
Wir müssen uns in der Pflegeversicherung und vor allem bei der Lösung der Problematik im Zusammenhang
mit den Demenzkranken von Ihnen keine Versäumnisse
vorwerfen lassen.
({8})
Im Gegenteil: Bereits in der vergangenen Legislaturperiode haben wir mit einer ganzen Reihe von Initiativen - ich
habe die Große Anfrage und den Entschließungsantrag
bereits angesprochen - auf die Problematik des demographisch bedingten Anstiegs der Zahl von Demenzkranken
und deren unzureichender Berücksichtigung in der Pflegeversicherung hingewiesen. Ich habe die Große Anfrage
und den Entschließungsantrag bereits angesprochen.
Wir haben in der Koalitionsvereinbarung festgelegt,
dass wir die Situation der Demenzkranken in dieser Legislaturperiode prüfen werden. Die Koalitionsvereinbarung enthält außerdem einen Auftrag zur Überprüfung
der Schnittstellenprobleme zwischen Pflegeversicherung,
GKV und Sozialhilferecht sowie die Absichtserklärung,
die medizinische Behandlungspflege im stationären Bereich von der Pflegeversicherung auf die GKV zu übertragen. Wer für diese Probleme verantwortlich war, brauche ich Ihnen heute nicht mehr zu sagen.
Wir haben unmittelbar nach der Regierungsübernahme
damit begonnen, mit dem 4. SGB-XI-Änderungsgesetz
die zuletzt von der Union blockierten Verbesserungen im
Bereich der Urlaubs- und Verhinderungspflege umzusetzen. Das Gesetz ist in Kraft und für viele Pflegebedürftige
und ihre Angehörigen hat es zahlreiche Verbesserungen
gebracht.
({9})
Das Bundesministerium für Gesundheit hat im
Februar ein Eckpunktepapier zur Förderung der Tagespflege als ersten Schritt für eine Versorgung demenzkranker Mitbürgerinnen und Mitbürger vorgelegt. Es enthält gezielte Verbesserungen des Leistungsangebotes im
Bereich der Tages- und Nachtpflege und ist ein erster
Schritt zur praktischen Umsetzung unserer Forderungen
nach Verbesserungen für Demenzkranke.
({10})
Mit den vorgelegten Referentenentwürfen für ein
Heimgesetz und ein Qualitätssicherungsgesetz, auch in
Verbindung mit dem Gesetz zur Reform der Altenpflegeausbildung, hat die Koalition wichtige Vorhaben zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität und
zur Stärkung der Verbraucherrechte in der Pflege auf den
Weg gebracht.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, in den
nach der Sommerpause anstehenden Beratungen dieser
Gesetzentwürfe werden Sie ausreichend Gelegenheit haben, den größten Teil der in Ihrem Antrag enthaltenen Forderungen mit zu beraten. Es hätte Ihres Antrages also eigentlich gar nicht bedurft,
({12})
denn die Zukunft der sozialen Pflegeversicherung ist bei
uns, bei der Koalition, in guten Händen.
({13})
Alle wichtigen Weichenstellungen sind bereits vorgenommen worden.
({14})
- Seien Sie nicht so aufgeregt, lassen Sie mich doch auch
einmal etwas Positives sagen.
Es freut mich, dass Sie nach zehn Jahren der Blockade
offenbar auf den Weg der Vernunft zurückgekehrt sind.
Lassen Sie uns in den kommenden Beratungen deutlich
machen, dass uns die Situation der Pflegebedürftigen und
ihrer Angehörigen über alle Fraktionsgrenzen hinweg am
Herzen liegt. Helfen Sie mit, die von Ihnen in der vergangenen Legislaturperiode verpassten Fortentwicklungen in
der Pflegeversicherung aufzuholen. Dazu werden wir
nach der Sommerpause Gelegenheit haben, wenn Ihr Antrag und die von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwürfe in den Ausschüssen und hier im Plenum diskutiert und beraten werden.
Vielen Dank.
({15})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Detlef Parr.
Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Die „Pharmazeutische Zeitung“ vom 8. Juni
titelte: „Demenz ängstigt die Politik“. Ich habe nach
Ihrem Beitrag, Frau Schmidt-Zadel, den Eindruck: Demenz ängstigt die SPD. Da trifft der Antrag der CDU/CSU
offensichtlich ins Schwarze.
({0})
Ich will noch einmal einen Blick zurückwerfen: Als wir
am 22. April 1994 das Pflegeversicherungsgesetz beschlossen haben, haben wir meiner Meinung nach damit
begonnen, die Zukunft der so genannten fünften Säule zu
verspielen. Es bestand seinerzeit ein breiter sozialpolitischer Konsens darüber, dass das Risiko der Pflegebedürftigkeit einer neuen Form der sozialen Absicherung bedurfte. Das war unstrittig über die Fraktionsgrenzen hinweg. Hauptgründe waren die finanzielle Überforderung
der Pflegenden und die finanzielle Überforderung der
Kommunen. Die Sozialhilfe wurde zum Regelleistungssystem für Pflegebedürftige.
Ich erinnere mich aber auch noch allzu gut an die heftigen Auseinandersetzungen darüber, ob das Risiko der
Pflegebedürftigkeit sozialversicherungsrechtlich oder
durch Einführung einer privaten Pflegepflichtversicherung abgesichert werden sollte. Die F.D.P. kämpfte
damals einen einsamen ordnungspolitischen Kampf. Weder die Versicherungsbranche noch die Arbeitgeberseite
erkannten, dass nur eine sich auf dem Kapitaldeckungsprinzip gründende privatversicherungsrechtliche Lösung
langfristig Bestand haben.
({1})
Heute wissen wir alle - wir brauchen nur auf den Umgang
der privaten Krankenversicherungen mit den dort Pflegeversicherten zu schauen -: Es war eine gut gemeinte, aber
nicht gut gelungene Entscheidung.
Deshalb hat die Überschrift des CDU/CSU-Antrags
„Zukunft der sozialen Pflegeversicherung“ ihre absolute
Berechtigung. Die Zukunft der Pflegeversicherung macht
eine Strukturreformdiskussion auch in diesem Bereich
dringend erforderlich.
({2})
Frau Schmidt-Zadel, ich bin gespannt, was dazu von
Ihrer Seite kommt. Die bereits zitierte „Pharmazeutische
Zeitung“ stellt weiter die Frage: Wird die Pflegeversicherung als eigenständiger Sozialversicherungszweig
bald aufgegeben? - Das ist eine spannende Frage. Die entscheidende Frage ist aus unserer Sicht: Können wir die
auf uns zurollenden Probleme - demographische Entwicklung, stetig steigende Zahl altersverwirrter Menschen und Ähnliches - auf der Grundlage des bestehenden Versicherungsprinzips und unter Beibehaltung der
jetzigen Ausgestaltung der Pflegestufen überhaupt noch
lösen? Bei gleich bleibender Pflegefallwahrscheinlichkeit
und Zunahme der Lebenserwartung wird nach seriösen
Prognosen die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2020 auf
2,2 Millionen steigen und 2050 annähernd die
4-Millionen-Grenze erreicht haben. Bei allem Respekt
vor dem Antrag der Kolleginnen und Kollegen der
CDU/CSU: Auf diese Frage finden wir in Ihrem Antrag
natürlich keine Antwort.
Wir dürfen aber nicht auf der Basis einer Weiter-soMentalität diskutieren, nicht ein Stellschräubchen hier
und ein Stellschräubchen da neu justieren. Nein, wir müssen uns einer Diskussion stellen, mit der die Zukunftsfragen der Pflegeversicherung von Grund auf neu angegangen werden und die weit über die uns zurzeit besonders bewegenden Fragen hinausgehen muss, die zum
Beispiel lauten: Wie können wir dafür sorgen, dass Menschen auch im Pflegeheim ihre Autonomie behalten und
dass sie ein menschenwürdiges Leben ohne Angst vor Gewalt führen können? Wie stellen wir sicher, dass der
Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“ auch wirklich zum
Tragen kommt? Die Diskussion muss auch die Frage nach
der Situation der Demenzkranken einschließen.
Egal, wie wir diese Diskussion auch angehen werden,
eines steht fest: Für viele der Vorhaben braucht man Geld.
Frau Schmidt-Zadel, der Antrag, den Ihre Fraktion damals
in der Opposition gestellt hat, hat - wahrscheinlich keine Antwort auf die Frage gegeben, wie Sie das, was Sie
beantragt haben, finanzieren wollen. Ich kenne zwar den
Antrag nicht - ich war damals noch nicht Mitglied des
Deutschen Bundestages -, aber ich kann mir gut vorstellen, dass der Antrag keine Antwort auf die Frage nach der
Finanzierung beinhaltet hat.
Das Szenario - Frau Ministerin Fischer hat im letzten
Jahr zugelassen, dass Geld von der Pflegeversicherung in
den Haushalt des Arbeitsministers umgeschichtet wurde;
immerhin 400 Millionen DM sind pro Jahr geflossen soll sich in diesem Jahr bei der gesetzlichen Krankenversicherung in noch stärkerem Maße wiederholen. Frau
Schmidt-Zadel - da beißt die Maus keinen Faden ab -, das
ist ein unanständiger Griff in die Taschen Fremder und der
Versicherten.
({3})
Wir werden alles daransetzen, dies zu verhindern und die
Entscheidung vom letzten Jahr zuungunsten der Pflegeversicherung wieder rückgängig zu machen.
Vom Grundsatz her stimmen wir dem Antrag der
CDU/CSU natürlich zu. Aber wir müssen im Gesundheitsausschuss über die Details reden. Das gilt insbesondere für die Frage, wie die Mehrausgaben an anderer
Stelle kompensiert werden können. Sie haben dazu auch
Vorschläge gemacht. Wir freuen uns auf die Auseinandersetzung und Diskussion im Gesundheitsausschuss. Sie ist
notwendig, aber erst der Anfang einer weit tiefer greifenden Diskussion, die wir über diesen Problemkreis führen
müssen.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat
jetzt die Abgeordnete Katrin Göring-Eckardt.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Herr Fink, wenn Sie fragen, wo die Millionen geblieben sind, dann kann ich Ihnen zwei Dinge versichern: Erstens. Sie sind nicht in einem schwarzen Koffer verschwunden. Zweitens. Sie sind auch nicht aus dem
Kanzleramt verschwunden.
({0})
- Nein, das ist nicht billig. Ich werde Ihnen das gerne begründen. Sie müssen sich den Vorwurf gefallen lassen,
dass Sie es sich an dieser Stelle super einfach machen. Sie
tun so, als ob Sie mit dem finanzpolitischen Scherbenhaufen, den Sie uns hinterlassen haben und der nun in allen Bereichen zu schmerzhaften Einschnitten führen
muss, nichts zu tun hätten.
({1})
Natürlich finden auch wir die Einschnitte schmerzhaft.
Wir hätten gerne auf sie verzichtet. Aber klar ist: Wir
konnten nicht daran vorbei, einen Beitrag zur Konsolidierung des Gesamthaushalts zu leisten; denn ein Kabinett,
das sich eine solche Konsolidierung vornimmt, kann das
nur gemeinsam schaffen.
Bezüglich der Pflegeversicherung - das ist auch
klar - toppen Sie Ihr Vorgehen nach dem Motto „Uns geht
das alles nichts an“ noch mit Ihrem Antrag: Sie tun so, als
hätten Sie mit dem Handlungs- und Reformbedarf, der
in der Pflegeversicherung besteht, nichts zu tun. Tatsächlich haben Ihre Versäumnisse zu den Defiziten und
Schwächen der Pflegeversicherung geführt.
({2})
Eines kann ich Ihnen versichern: Diese Strategie wird
nicht funktionieren, weil das Gedächtnis der Bürgerinnen
und Bürger nicht so kurz ist. Die Menschen sehen in der
Pflegeversicherung einen wichtigen Baustein zur Absicherung des Pflegerisikos. Sie sind mit den Leistungen in
vielen Bereichen auch zufrieden. Ich denke, das sehen Sie
nicht anders.
Es ist auch kein Geheimnis, dass es nach wie vor
Schwächen, Lücken und Ungereimtheiten gibt. Zum Teil
handelt es sich dabei um Konstruktionsfehler, die bei der
Einführung der Pflegeversicherung schon abzusehen waren und deren Beseitigung wir damals auch schon angemahnt haben. Ich nenne als Beispiel die Frage der Demenzkranken.
Auch das Problem der Gewalt in der Pflege - das
sollte man an dieser Stelle ebenfalls sagen - ist nicht zu
verleugnen. Wir müssen dafür sorgen, dass das Auftreten
weiterer Einzelfälle - wir sollten uns darin einig sein, dass
es Einzelfälle sind ({3})
in Zukunft verhindert wird. Wir müssen aber auch schauen,
ob es Fehler im System gibt.
Frau Kollegin,
gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Reinhardt?
Ich möchte gern im Zusammenhang vortragen. - Weil das Problem schon sehr lange bekannt ist,
hat sich diese Bundesregierung im Koalitionsvertrag vorgenommen, sich den Problemen zu stellen. Sie hat Verabredungen getroffen, die sie jetzt Stück für Stück umsetzt.
Wir unterscheiden uns von Ihnen vor allen Dingen in
einem: Wir stellen uns den finanziellen Rahmenbedingungen und fragen, was unter diesen Bedingungen an
Verbesserungen möglich ist. Wir fragen nicht, was wir alles versprechen können.
({0})
- Ja, so ist Ihr Antrag.
Auf dieser Basis haben wir übrigens im letzten Jahr einige Leistungsverbesserungen beschlossen, die unter der
alten Regierung nicht durchzusetzen waren - Herr Parr,
da waren Sie noch nicht da -, weil sie von der F.D.P.
verhindert worden sind. Die F.D.P. hat vor 14 Tagen ihr
soziales Herz entdeckt; auch das haben wir erfahren. So
schnell wird man von der „Partei der Besserverdienenden“ zur Partei derer, die besser Spaß haben.
Wir haben außerdem - Frau Schmidt-Zadel hat darauf
hingewiesen - einen Referentenentwurf für ein Qualitätssicherungsgesetz vorgelegt, mit dem die Qualitätssicherung in einem bisher nicht gekannten Maß in den Alltag
der Pflegeheime integriert wird. Darum geht es doch wohl
in allererster Linie. Gleichzeitig stärken wir die zu Pflegenden und ihre Angehörigen, indem wir ihre Rechte als
Verbraucherinnen und Verbraucher deutlich machen. Auf
diesem Gebiet werden wir zu einem Mehr an Selbstbestimmung kommen. Ich persönlich glaube, dass Selbstbestimmung in der Pflege erst noch Standard werden muss.
Mit unserem Entwurf zur Qualitätssicherung knüpfen
wir an die Diskussion der Fachleute auf dem Gebiet der
Pflege an. Sie alle sind der Meinung, dass Qualität nur
dann entstehen kann, wenn sie in den Heimen von allen
Beteiligten getragen wird. Selbstverständlich braucht es
dazu Kontrollen. Diese sollen auch in Zukunft mit aller
Konsequenz durchgeführt werden. Qualität muss ein ständiger Verbesserungsprozess sein. Sie lässt sich nicht von
oben aufstülpen. Ansonsten werden wir keine tatsächliche
Verbesserung erreichen.
Außerdem wollen wir endlich Verbesserungen für die
Demenzkranken realisieren. Unser Vorschlag, den wir in
die Diskussion eingebracht haben, lautet: ein Tag Entlastung durch Tagespflege. Dieser Ansatz nutzt sowohl den
Pflegebedürftigen als auch den Angehörigen; denn die
Pflegebedürftigen können in Einrichtungen der Tagespflege ganz anders und viel stärker aktivierend betreut
werden als das zu Hause möglich ist. Wir wissen, dass dieser Vorschlag auch in der Fachwelt umstritten ist. Deshalb
führen wir zurzeit eine intensive Diskussion über die konkrete Ausgestaltung. Ich möchte auch die Union ausdrücklich auffordern, sich an dieser Diskussion zu beteiligen.
Verbesserung der Qualität und Leistungsverbesserung
für Demenzkranke - in diesen Zielen sind wir uns einig.
Deshalb fordere ich Sie auf, hier in einen ehrlichen Dialog mit konstruktiven Vorschlägen einzutreten. Voraussetzung dafür sind allerdings mehr Ehrlichkeit und keine
Versprechungen, die unter den gegebenen finanziellen
Rahmenbedingungen nicht zu halten sind.
({1})
Ich hoffe nach wie vor auf diesen Dialog. Ich gehe davon
aus, dass Ihr Antrag ein Diskussionsbeitrag in diese Richtung sein wird.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Ilja Seifert.
Frau Präsidentin! Meine lieben
Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU,
ich kann Ihnen nur empfehlen: Nehmen Sie mich als Gutachter! Ich würde Sie aufgrund Ihres Antrags ohne weiteres in Stufe II der Pflegeversicherung einstufen. Ich weiß
noch nicht genau, ob es sich um einen Fall kollektiver
Amnesie oder von Demenz im jugendlichen Alter handelt.
({0})
Ich glaube, Sie haben vergessen, dass Sie die Pflegeversicherung eingeführt haben. Alles, was Sie jetzt vorschlagen, kann ich nur unterstützen. Vielleicht haben Sie
vergessen, dass Sie diejenigen sind, die daran schuld sind,
dass es überhaupt so weit gekommen ist.
({1})
- Lassen Sie mich doch einmal ausreden. - Dass es so
weit gekommen ist, liegt daran, dass Sie einen völlig antiquierten Pflegebegriff zugrunde gelegt haben. Dass es so
weit gekommen ist, liegt daran, dass Sie die Bedürfnisse
vieler Bevölkerungskreise überhaupt nicht im Auge hatten und diese erst ganz zuletzt in die Pflegeversicherung
einbezogen haben, wo sie eigentlich nicht hingehören.
Herr Kollege
Seifert, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Reinhardt?
Aber sehr gern. Wenn dann die
Uhr angehalten würde, wäre es noch besser.
Lieber Kollege Seifert,
Ihnen ist doch sicherlich klar, dass der Pflegeversicherung
durch die Sparmaßnahmen des Herrn Eichel 648 Millionen DM entzogen wurden.
({0})
- Doch, sie stimmt. Einmal 400, einmal 248, das ergibt
648. Das ist nun einmal so. - Stimmen Sie mir zu, dass
genau diese Summe dazu beitrüge, im Bereich Demenz
etwas zu verbessern?
Natürlich stimme ich Ihnen zu,
liebe Kollegin, und natürlich bin ich auch dagegen, dass
dieses Geld der Pflegeversicherung entzogen wird, wie
ich bereits mehrfach hier schon gesagt habe. Heute diskutieren wir aber über einen Antrag, den Sie vorgelegt haben. Deshalb erlaube ich mir, mich einmal mit Ihrer Politik in diesem Bereich auseinander zu setzen. Die Bundesregierung kritisiere ich wegen ihrer Politik in diesem
Bereich oft genug und ich meine, das ist auch deutlich
zum Ausdruck gekommen.
({0})
Ich danke Ihnen also für die Frage, aber heute muss ich
mich einmal mit Ihrer Politik auseinander setzen.
Sie haben strukturell angelegt, dass Menschen aus Einrichtungen der Behindertenhilfe in Einrichtungen der
Pflegeversicherung abgeschoben werden, noch schlimmer: dass sogar Einrichtungen der Behindertenhilfe in
Einrichtungen der Pflegeversicherung umgewandelt worden sind. Dort fand alles das, was wir über lange Zeit erkämpft haben - pädagogische, soziale, kulturelle und andere Betreuung - nicht mehr statt. „Gewalt in der Pflege“
ist doch erst in den letzten Jahren wirklich zum Begriff,
zum Problem geworden, weil Menschen in den Heimen,
die aus Ihrer Pflegeversicherung finanziert werden, struktureller Gewalt ausgesetzt sind. Ich will das einfach einmal sagen, weil das nicht unter den Teppich gekehrt werden darf. Was die Bundesregierung jetzt mit der Pflegeversicherung macht, kritisiere ich ebenfalls. Auch da
wären viele andere Maßnahmen erforderlich.
Wenn Sie jetzt so tun, als seien Sie diejenigen, die dafür
sorgten, dass die Demenzkranken und ihre Angehörigen
wenigstens ein bisschen einbezogen würden, dann ist das
pharisäerhaft. Sie sollten zumindest sagen, dass dieser
Personenkreis bisher nicht einbezogen worden ist, liegt an
Ihrer Anlage der Pflegeversicherung.
({1})
Es ist auch keine Kunst - auch das muss ich einmal sagen, Herr Fink -, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern dieses Landes mehr als 30 Milliarden DM aus der
Tasche zu ziehen, diese zusätzlich in das System zu bringen und dann zu sagen: Ein bisschen was Gutes haben
wir damit auch machen können. - Na klar, mit 30 Milliarden DM könnte auch ich sozusagen allerhand Schaden
anrichten, aber so arbeitet die PDS nicht.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Wolfgang Zöller.
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich
Folgendes feststellen: Die vor fünf Jahren von uns eingeführte Pflegeversicherung hat beachtliche Entlastungen
und Verbesserungen für die Pflegebedürftigen und für deren Angehörige mit sich gebracht.
({0})
Eine kürzlich in Auftrag gegebene Umfrage hat ergeben,
dass mehr als 90 Prozent der Befragten mit den Leistungen der Pflegedienste zufrieden waren. Das Pflegepersonal wurde weit überwiegend als qualifiziert und verständnisvoll bezeichnet.
Man muss sich also sehr davor hüten, die in Einzelfällen bekannt gewordenen Missstände zu verallgemeinern.
Offenbar ist die Arbeit der Pflegedienste im Großen und
Ganzen in Ordnung und man sollte das Engagement dieser Menschen, die einen schwierigen Beruf ausüben, hier
auch einmal anerkennend erwähnen.
({1})
Trotzdem sind zur Stabilisierung der Ziele und des
Schutzzwecks der Pflegeversicherung Verbesserungen erforderlich, angefangen von der Qualitätssicherung bis hin
zu Finanzierungsmaßnahmen.
Besonderen Handlungsbedarf sehen wir in diesem Zusammenhang bei den Demenzkranken. Da die allgemeine Betreuung der Demenzkranken noch immer nicht
als Verrichtung im Begriffskatalog der Pflegeversicherung enthalten ist, erhalten eine große Anzahl erkrankter
Personen keine Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung. Eine weitere Benachteiligung für Demenzkranke sehe ich im Übrigen durch das Arzneimittelbudget
verursacht, da hier die Gefahr besteht, dass innovative
Arzneimittel gerade für Demenzkranke nur noch zögerlich verordnet werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, über alle Parteigrenzen hinweg ist man sich einig, dass für Demenzkranke etwas unternommen werden muss. Bei Rot-Grün
liegen aber zwischen Reden und Handeln tatsächlich Welten.
({2})
Vielleicht liegt es auch am Thema. Ich werde Ihnen das
beweisen, indem ich einmal aufzeige, was allein in den
letzten zwei Jahren im Ausschuss geschehen ist. Wir, die
CDU/CSU, unternehmen heute nämlich den dritten Anlauf, um Verbesserungen für Demenzkranke zu erreichen.
Bereits im Januar 1999 hatten Bayern und die übrigen
B-Länder einen Antrag, der Verbesserungen für Demenzkranke vorsah, eingebracht. Sie haben ihn abgelehnt. Unser Vorschlag, im Rahmen des 4. SGB-XI-Änderungsgesetzes Verbesserungen für Demenzkranke zu
erzielen, wurde von Ihnen abgelehnt.
({3})
Vor diesem Hintergrund ist es schon ein starkes Stück von
Ihnen, sich hier hinzustellen und zu sagen, wir würden
nichts für Demenzkranke tun. Sie hatten schon zweimal
die Möglichkeit, dafür zu stimmen; Sie haben zweimal
dagegen gestimmt.
({4})
Die Begründung, die Sie vorgebracht haben, ist mehr als
ärgerlich. Als wir unseren Antrag zu Verbesserungen für
Demenzkranke eingebracht haben, sagten Sie, man könne
das nicht umsetzen, weil 500 Millionen DM nicht finanDr. Ilja Seifert
zierbar seien. Die gleiche Regierung hat dann einen Monat später 500 Millionen DM aus der Pflegekasse herausgenommen.
({5})
Dann haben Sie hier vorhin ein zweites unredliches Argument vorgebracht, indem Sie sagten, wir hätten schon
viel früher etwas für Demenzkranke tun müssen. Darf ich
Sie an Ihre eigenen Worte im Ausschuss erinnern, als wir
den Vorschlag gemacht haben, etwas für Demenzkranke
zu tun? Sie sagten, es seien erst Gutachten erforderlich,
diese müssten ausgewertet werden, damit man weiß, was
es kostet, wenn im nächsten Jahr etwas getan werden
sollte. Vor diesem Hintergrund ist es doch unredlich, uns
vorzuhalten, wir hätten vorher etwas tun müssen.
({6})
Sie hatten dreimal die Möglichkeit, etwas für Demenzkranke zu tun.
({7})
- Ja, tun Sie etwas? - Das zeigt, wie unredlich die Regierung ist. Ich darf aus dem Antwortschreiben zitieren, das
wir letzte Woche von der Regierung auf unsere Große Anfrage erhalten haben.
({8})
- Eine Kleine, danke. Aber auch Sie haben vorhin gesagt,
es sei eine Große gewesen.
Hier heißt es:
Die neue Bundesregierung setzt sich zum Ziel,
die ... Finanzspielräume weiter zu verbessern.
Das steht dort.
({9})
- Ein gutes Ziel, aber Sie tun das Gegenteil. Das ist ja immer Ihr Problem. Sie geben hehre Ziele vor und machen
gerade das Gegenteil, indem Sie die Finanzspielräume einfach verschlechtern. Reden und Handeln liegen hier in diesem Fall bei Ihnen weit auseinander.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sollten
gemeinsam versuchen, eine allgemeine Beaufsichtigung
und Betreuung in zeitlich begrenztem Umfang für
Demenzkranke irgendwie in Anrechnung zu bringen, zumindest jedoch eine individuell am Bedarf ausgerichtete
Inanspruchnahme von ehrenamtlichen Helfern und häuslichen Diensten zur allgemeinen Betreuung und Beaufsichtigung von Demenzkranken zu ermöglichen. Hier
möchte ich auf die vorbildliche Politik Baden-Württembergs verweisen. Es lohnt sich nachzulesen, wie BadenWürttemberg mit Demenzkranken und auch mit Selbsthilfegruppen in diesem Bereich umgeht. Auf diese Weise
könnte nämlich eine Entlastung der physisch und psychisch oftmals sehr stark belasteten Angehörigen von Demenzkranken erreicht werden.
Bei etwas gutem Willen kann man über Parteigrenzen
hinweg sehr schnell sinnvolle und finanzierbare Verbesserungen für Demenzkranke erreichen. Wir bieten hierzu
unsere Mitarbeit an.
({10})
Danke schön.
Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3506 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung ({0}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Ursula Burchardt,
Ulrike Mehl, Adelheid Tröscher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Matthias Berninger,
Dr. Uschi Eid, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bildung für eine nachhaltige Entwicklung
- Drucksachen 14/1353, 14/3319 Berichterstattung:
Abgeordnete Ulla Burchardt
Axel E. Fischer ({1})
Matthias Berninger
Cornelia Pieper
Angela Marquardt
Ich frage Sie, ob Sie damit einverstanden sind, dass wir
die Reden der Kollegen Burchardt, Mehl, Tröscher,
Fischer, Hermann, Flach und Fink zu Protokoll neh-
men.1) - Ich höre keinen Widerspruch. Dann wird so ver-
fahren.
Wir kommen damit gleich zur Abstimmung über die
Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der
Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit
dem Titel „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“.
Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache
14/1353 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! -
Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen worden.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Klaus Riegert, Friedrich Bohl, Georg Brunn-
huber, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Verbesserung der Vereinsförderung
und der Vereinfachung der Besteuerung der eh-
renamtlich Tätigen
- Drucksache 14/1145 -
1) Anlage 3
({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({3})
- Drucksache 14/3412 Berichterstattung:
Abgeordnete Ludwig Eich
Norbert Barthle
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch
gibt es nicht. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Klaus Riegert.
Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Verbesserung der Vereinsförderung und Vereinfachung der
Besteuerung ehrenamtlich Tätiger soll das Vereinsteuerrecht der zeitlichen Entwicklung angepasst und vereinfacht werden. Vereine müssen mehr Handlungs- und
Gestaltungsräume erhalten, um den gestiegenen Anforderungen der Mitglieder kreativ und innovativ begegnen zu können.
Ehrenamtlich, neben- und hauptberuflich Tätige müssen von bürokratischen Arbeiten entlastet werden. Sie
wollen sich nicht ständig mit neuen Rechtsvorschriften
und Verwaltungsvorschriften herumschlagen. Ihnen bereitet es kein Vergnügen, für den Staat Eintragungen auf
Lohnsteuerkarten zu prüfen. Sie sehen ihre Lebenserfüllung nicht darin, für die Bundesversicherungsanstalt für
Angestellte über 60 Fragen wegen jeder beruflichen Nebentätigkeit zu beantworten oder zu prüfen, ob im Hauptberuf die Bemessungsgrenze für die Sozialversicherung
erreicht ist. Dies haben sie nicht gemeint, als sie sich für
das Engagement im Verein entschieden haben. Deshalb
müssen wir sie von bürokratischem Ballast befreien.
({0})
Dies wäre eine weitaus größere Anerkennung ihres Engagements als viele öffentliche Bekundungen.
Vereine sind ein wichtiger Pfeiler unserer Gesellschaft.
Sie zu fördern muss dringliches Anliegen der Politik sein,
und zwar der Politik aller Parteien. Weil dies in der Tat so
ist, ist es unverständlich, dass den Koalitionsfraktionen
nichts anderes eingefallen ist als ein Nein zu unserem Gesetzesantrag.
({1})
Sie haben sich in den Ausschüssen jeglicher Diskussion
entzogen.
({2})
Dafür haben unsere Vereine kein Verständnis.
Der Finanzminister Eichel hatte als Ministerpräsident
des Landes Hessen mehr Verständnis für Vereine, zumindest auf dem Papier und während des Landtagswahlkampfs. Er hat am 1. Dezember 1998 einen Gesetzesantrag im Bundesrat mit der Drucksachennummer 950/98
eingebracht. Der Titel lautete: Gesetz zur Vereinfachung
und Verbesserung der Vereinsbesteuerung und der Besteuerung der ehrenamtlich Tätigen.
Wir unterstützen seine damals vorgeschlagenen Maßnahmen: Erstens: Erhöhung der Besteuerungs- und
Zweckbetriebsgrenzen. Dies fordern wir in unserem Gesetzentwurf auch. Zweitens: Erhöhung der Grenze für die
Pauschalierung der Vorsteuer. Auch dies fordern wir in
unserem Gesetzentwurf. Drittens: Bildung einer Rücklage zur Erhöhung der Finanz- und Leistungskraft, besonders der kleinen und mittleren Vereine. Auch dies fordern wir.
Die Gesetzentwürfe unterscheiden sich im Wesentlichen nur durch die Höhe der Forderungen. Darüber hätte
man in den Ausschüssen wenigstens reden können. Sie
haben sich jedoch geweigert, über Maßnahmen zu reden,
die Ihr Finanzminister als damaliger Ministerpräsident für
ein sehr dringliches Anliegen unserer Vereine gehalten
hat.
Der Gesetzentwurf Ihres Finanzministers geht weit über
unseren Gesetzentwurf hinaus. Er fordert die Ausdehnung
des steuerfreien Übungsleiterpauschbetrages - damals
noch 2 400 DM pro Jahr - auf alle ehrenamtlichen
Vorstandsmitglieder und Funktionsträger - man höre genau hin: auf alle ehrenamtlichen Vorstandsmitglieder und
Funktionsträger - aller 350 000 Vereine: Vorsitzende,
Schriftführer, Schatzmeister, Beisitzer etc. Herr
Eichel oder sein Vertreter - es ist niemand aus dem Finanzministerium da -, reichen Sie einen solchen Gesetzentwurf hier ein! Unsere Zustimmung haben Sie. Wir sind
auf Ihrer Seite.
({3})
Die Kosten für die öffentlichen Haushalte bezeichnete
der Finanzminister damals als gering. Ich wiederhole: gering! Wir glauben ihm das. Deshalb verstehen wir den
Parlamentarischen Geschäftsführer der SPD-Fraktion
Herrn Wilhelm Schmidt nicht, der die in unserem Gesetzentwurf als gering veranschlagten Kosten als unseriös
bezeichnet.
({4})
Lieber Herr Kollege Schmidt, dies müssten Sie zunächst
Ihrem Finanzminister Eichel vorhalten. Erklären Sie
zunächst Ihrem Finanzminister seine unseriöse Finanzierung. Seine Forderungen wären wegen der immensen Erweiterung des Bezugskreises der steuerfreien Übungsleiterpauschale weitaus höher als das von uns geforderte Finanzierungsvolumen. Der Herr Finanzminister soll zu
seinem Gesetzentwurf stehen. Wir können uns über die
Höhe der Maßnahmen auseinander setzen und dann zum
Wohle der Vereine und der dort Tätigen dieses Gesetz sofort in Kraft setzen. Das täte unseren Vereinen gut.
({5})
Auch die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen bekunden offen Sympathie zumindest für einen
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
wesentlichen Teil unseres Gesetzentwurfs. Der Fraktionsvorsitzende Dr. Struck verkündet mit Sperrfrist vom
20. Mai 1999 vor der Presse in Bonn: Die steuerfreie Pauschale für Übungsleiter von Sportvereinen und für alle anderen ehrenamtlichen Tätigkeiten - man höre auch hier
genau hin: für alle anderen ehrenamtlichen Tätigkeiten will die Bonner Koalition von 200 DM auf 400 DM verdoppeln. Herr Dr. Struck, wir sind sofort dabei! Frau
Schmidt behauptet laut Bericht der „FAZ“ vom 6. Mai
1999, dies koste den Staat nichts, er verzichte lediglich
auf zu erwartende Steuereinnahmen. Und Herr Wilhelm
Schmidt ist natürlich auch dabei, wenn es um die Verkündung von Wohltaten geht.
({6})
Warum verdoppeln Sie nicht die Übungsleiterpauschale?
Wir könnten es machen! Heute! Mit unserem Gesetz!
({7})
Sie haben in der Koalition einen eigenen Entwurf erstellt und die Forderung nach Verdoppelung der
Übungsleiterpauschale erhoben. Diesen Entwurf haben
Sie öffentlichkeitswirksam verkauft und ihn nach diesem
Betrug stillschweigend kassiert. Sie wollen die Verdoppelung der Übungsleiterpauschale auf 4 800 DM. Sie sagen:
Das kostet nichts. Sie beschließen 300 DM, schmieren damit weiße Salbe auf Ihr vordergründiges Handeln. Das
hilft weder den Vereinen noch den dort Tätigen.
Sie wollten mit der Erhöhung auf 3 600 DM den Unfug des 630-DM-Gesetzes kaschieren. Die SPD-Arbeitsgruppe hat Ihnen gesagt, dass Sie den Murks des
630-DM-Gesetzes mit der Erhöhung der Übungsleiterpauschale nicht kompensieren. Der Finanzminister hat Ihnen gesagt, dass die Erhöhung der Übungsleiterpauschale
die gemeinnützigen Vereine nicht von den beklagten Lasten des 630-DM-Gesetzes befreit - so Eichel schriftlich
am 23. Juni 1999. Recht hat er in diesem Punkt.
Ziehen Sie den Murks für gemeinnützige Vereine
zurück und lassen Sie uns das machen, was auch Sie
schriftlich in Entwürfen niedergelegt haben.
Sport bringt Gewinn für alle. Wenn Sie und Herr
Eichel Ihre Gesetzesinitiativen ernst meinen und nicht als
plumpe Täuschung ansehen lassen wollen, dann stimmen
Sie unserem Gesetzentwurf einfach zu!
({8})
Und schon haben wir den Vereinen und den dort ehrenamtlich, neben- und hauptberuflich Tätigen geholfen. Die
Belastungen für den Staat sind gering. Sie sagen es selbst.
Der Gewinn für unsere Vereine ist enorm. Das wissen Sie.
Sollte es Ihnen schwer fallen, unserem Entwurf zuzustimmen, dann legen Sie doch einen Entwurf gleichen Inhalts vor. Wir stimmen dann zu.
({9})
Uns geht es um die Sache, um die Vereine, um die dort für
das Gemeinwohl tätigen Menschen, nicht um parteipolitische Profilierung.
({10})
Nein, Sie verweigern sich der Diskussion, weil Sie dem
Diktat des Finanzministers unterliegen. Sie machen gemeinsame Sache mit dem Finanzminister und pressen seit
Ihrem Regierungsantritt Milliarden aus den Vereinen und
den dort ehrenamtlich und nebenberuflich Tätigen heraus:
über die Ökosteuer, die 630-DM-Jobs und die Scheinselbstständigkeit. Sie greifen selbst bei den Aufwandsentschädigungen der freiwilligen Feuerwehr ungeniert zu.
Sie benutzen das ehrenamtliche Engagement der Bürgerinnen und Bürger, um Ihre Kasse zu füllen. Das sagen
nicht nur die Vereine; Sie wissen das auch selbst. Geben
Sie wenigstens etwas von dem zurück, was Sie den Vereinen genommen haben!
Wir wissen, dass wir uns mit diesem Anliegen in bestem Einvernehmen mit den Vereinen, Organisationen,
Verbänden, aber vor allem mit den dort Tätigen befinden.
Diese leisten die Arbeit in den Vereinen. Sie gilt es zu entlasten und damit ihre Arbeit anzuerkennen.
({11})
Um es nochmals deutlich zu machen: Die Ziele unseres Gesetzes sind erstens die Erhöhung der Besteuerungsund Zweckbetriebsgrenzen auf 120 000 DM, zweitens die
Bildung einer zusätzlichen Rücklage zur Erhöhung der
Finanz- und Leistungskraft, drittens die Erhöhung der
Grenze der Pauschalierung der Vorsteuer auf 120 000 DM
und viertens die Heraufsetzung der Übungsleiterpauschale auf 4 800 DM. Das sind die Eckpunkte unseres
Gesetzentwurfes.
Vereine brauchen weitere steuerliche Entlastungen
und Erleichterungen. Sonst finden sich immer weniger Personen bereit, ehrenamtliche Funktionen wahrzunehmen.
Diese Worte stammen nicht von mir, sondern sind ein Zitat von Ihrem eigenen Finanzminister, Herrn Eichel, zumindest aus der Zeit, in der er noch Ministerpräsident von
Hessen war. Er hat völlig Recht. Deshalb sollten Sie unserem Gesetz die Zustimmung nicht verweigern.
({12})
Da wir gerade
beim Thema Vereinsleben sind, hoffe ich, dass einer der
Kollegen uns sagen kann, wie das Spiel ausgegangen ist.
({0})
Vielleicht kann uns das der Kollege Schmidt sagen,
dem ich jetzt das Wort gebe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich weiß nicht, ob der Kollege Riegert nach
mir vom Fernsehapparat weggegangen ist, aber als ich
weggegangen bin, stand es 0 : 0 in der Verlängerung. Die
Holländer haben während des laufenden Spiels zwei
Elfmeter verschossen. Es ist also hochinteressant. Wie
man sieht, kümmern wir uns um das, was die Menschen
interessiert.
Das ist auch der Anlass dieser Debatte. Ich will, Herr
Riegert, unabhängig vom Inhalt Ihrer Rede ausdrücklich
würdigen, dass wir durch Ihren Antrag die Gelegenheit
haben, erneut über die Förderung des Ehrenamtes in
Deutschland zu sprechen. Manchmal hat man in diesen
Tagen das Gefühl, es beginne so etwas wie ein Wettlauf,
sich an die Verbände, die Vereine, die Ehrenamtlichen,
diejenigen, die in Deutschland das bürgerschaftliche
Engagement praktizieren, die Bürgerinnen und Bürger,
die diesen Einsatz zeigen, zu wenden und sich an sie - dieses Gefühl hatte ich bei Ihnen, Herr Riegert - heranzumachen.
({0})
- Nein, das hat schon anderen Charakter. Was an der Stelle
von der CDU/CSU betrieben wird, ist blanke Anbiederei,
Populismus reinsten Wassers und Profilierungssucht. Bei
dem, was Sie hier veranstalten - ich wiederhole jetzt, was
ich beim ersten Durchgang dieses Gesetzentwurfes gesagt
habe -, fehlt jede Seriosität.
Ich kann nur sagen: Es ist auf der einen Seite gut, dass
wir, auch in diesem Hohen Hause, erkennen, dass es in
Deutschland Millionen von Menschen gibt, die ehrenamtlich tätig sind, und dass sich viele, auch in Ihren Reihen das verbindet uns -, in einem Maße einsetzen, ohne das
die Gesellschaft in Deutschland nicht dieses hohe Lebensniveau hätte, wie wir es haben. Aber auf der anderen
Seite muss unser Einsatz doch realistisch sein. Unabhängig davon, dass Sie einen im Wahlkampf entstandenen
Antrag aus Hessen aus dem Jahre 1998 zitieren, ist es so,
dass auch der damalige hessische Ministerpräsident noch
nicht gewusst hat, was er heute als Finanzminister des
Bundes weiß, dass er nämlich von Ihnen Billionen von
Schulden hinterlassen bekommen hat.
({1})
Deshalb muss Ihnen immer wieder klargemacht werden, dass man nun nicht aus dem Vollen schöpfen kann.
Wir wollen eine seriöse Finanzpolitik mit der Aufgabe
verbinden, das Ehrenamt, das gesellschaftliche Engagement zu fördern. Dabei lassen wir uns, ob das nun von Ihnen akzeptiert wird oder nicht, nicht übertreffen.
({2})
Es stellt sich die Frage, wie wir in diesem Zusammenhang zu mehr Gemeinsamkeit kommen. Lassen Sie doch
diese Art und Weise der Auseinandersetzung, Herr
Riegert! Wir arbeiten in der Enquete-Kommission zur
Förderung des bürgerschaftlichen Engagements, die die
SPD durchgesetzt hat - das füge ich als Halbsatz hinzu -,
im Prinzip so gut zusammen, dass es sich für die Mitglieder dieses Hauses wirklich nicht schickt, sich außerhalb
dieses Hauses, nur um billig irgendeine Art von Öffentlichkeit zu erzielen, in der Tour zu bewegen, wie Sie, Herr
Riegert, das auch heute wieder im Rahmen Ihrer Rede getan haben.
Die in Ihrem Gesetzentwurf gemachten Vorschläge
sind bei näherer Betrachtung nicht zu finanzieren. Ich will
aus Ihrem Gesetzentwurf zitieren. Da steht, dass Sie durch
die Schaffung einer zusätzlichen Rücklagemöglichkeit
nach § 58 Nr. 7 der Abgabenordnung eine Förderung des
Ehrenamtes erreichen wollen. Sie wollen eine Erhöhung
der Besteuerungs- und Zweckbetriebsgrenzen, der Besteuerungsgrenzen für die wirtschaftliche Betätigung von
Vereinen, um das Doppelte einführen. Sie fordern die Verdoppelung der Übungsleiterpauschale und nehmen überhaupt nicht zur Kenntnis, dass wir inzwischen in diesem
Bereich Aufstockungen in Höhe von 50 Prozent vorgenommen haben. Was soll das also? Dann wollen Sie natürlich auch noch eine Erhöhung der Grenze für die Pauschalierung der Vorsteuer um das Doppelte einführen.
Wenn man dies alles zusammenrechnet - ich begebe
mich dabei noch nicht einmal auf das Schätzgleis des
Finanzministeriums, das auch uns manchmal nicht ganz
geheuer ist -, dann produzieren Sie auf diesem Wege 3 bis
4 Milliarden DM Steuerausfälle. Das kann doch nicht
seriös sein.
Ich bitte Sie also, sich mit uns gemeinsam in der Enquete-Kommission und bei den übrigen Aktivitäten im
Sport- und im Jugendausschuss sowie im Ausschuss für
Arbeit und Sozialordnung und an vielen anderen Stellen
dafür einzusetzen, dass die quer durch alle gesellschaftlichen Gruppen organisierten Ehrenamtlichen sowie deren
Verbände und Organisationen besser gefördert werden als
das in den 16 Jahren Ihrer Regierung der Fall war.
({3})
An dieser Stelle will ich einen kleinen Hinweis hinzufügen - auf dieses Niveau will ich mich eigentlich nicht
herunter begeben; aber es muss gestattet sein, einmal diesen Punkt anzusprechen -: Sie haben 16 Jahre lang regiert,
alle unsere damaligen Anträge, die sehr fundiert und seriös gewesen sind, zum Beispiel den hinsichtlich einer 50prozentigen Anhebung der Übungsleiterpauschale, abgelehnt und fordern nun eine Verdoppelung. Im Übrigen
haben Sie überhaupt nicht darauf reagiert, dass wir inzwischen die Gültigkeit der von uns durchgesetzten 50-prozentigen Anhebung der Übungsleiterpauschale auf die
Gruppe der Betreuerinnen und Betreuer erweitert haben. Wir haben damit eine wichtige Lücke im Bereich der
Förderung geschlossen. Dies betrifft Hunderttausende
von Menschen in diesem Lande, die sich mit jungen und
alten Menschen auseinander setzen, sie betreuen und tagtäglich umsorgen, damit diese besser durchs Leben kommen.
Wir müssen uns darum bemühen, nicht nur vordergründig mit Gesetzesanträgen oder Ähnlichem zu arbeiten, sondern dafür zu sorgen, dass wir diesen bei vielen
Millionen Menschen in unserem Lande bestehenden
Geist transportieren und anerkennen. Deshalb richte ich
an dieser Stelle - ich bedanke mich, dass Sie uns durch das
Einbringen Ihres Gesetzentwurfes dazu die Gelegenheit
geben - ausdrücklich ein kräftiges Dankeschön an die vielen Millionen Ehrenamtlichen in Deutschland.
({4})
Sie sind der Kitt der Gesellschaft, wie das einmal genannt
wurde. Sie sollen das auch weiter sein.
Wilhelm Schmidt ({5})
Ich bin wie Sie der Meinung, dass wir nach dem, was
die Koalition in den ersten anderthalb Jahren der Regierung erreicht hat, nicht am Ende unserer Bemühungen stehen. Ich habe bereits die Enquete-Kommission genannt.
Es ist gut, dass wir sie haben, und sie arbeitet sehr intensiv, damit wir in diesem Zusammenhang noch mehr erreichen.
Ich will ein weiteres Projekt nennen, das wir nach jahrelangem Hin und Her durchgesetzt haben und das uns
ebenso helfen wird, das bürgerschaftliche Engagement
mehr als bisher zu unterstützen und zu untermauern. Das
ist die Änderung des Stiftungssteuerrechts.
({6})
Es hat jahrelang gedauert, bis auf Ihrer Seite die dafür erforderliche Erkenntnis gewachsen ist. Frau Präsidentin
Vollmer, da Sie gerade amtieren, möchte ich Ihnen ein
Lob aussprechen. Denn Sie sind im Wesentlichen die
Initiatorin dieses Vorhabens gewesen.
({7})
Ludwig Stiegler hat ganz maßgeblich zur Koordinierung
des gesamten Projektes beigetragen. Um Einzelne nicht
hintanzusetzen: Es waren viele andere daran beteiligt,
aber ihr besonders.
Dieses Projekt ist in diesem Zusammenhang deswegen
zu nennen, weil wir damit der Gesellschaft einen neuen
Schub im Hinblick auf Stiftungsinitiativen geben wollen.
Wir verschaffen den Menschen die Gelegenheit, mit
ihrem privaten Geld noch mehr Gutes zu tun, als das bisher schon der Fall war. Nach dem neuen Recht können
40 000 DM pro Jahr zusätzlich steuerlich berücksichtigt
werden, wenn man sie in eine Stiftung gibt. 600 000 DM
können über zehn Jahre hinweg ohne Vermögensstock einer neu gegründeten gemeinnützigen Stiftung steuerfrei
gespendet werden.
({8})
- Ich war ja so froh darüber, dass Ihre Länder und auch einige der A-Länder, die das nicht oder anders wollten, den
Vermittlungsausschuss angerufen haben. An dieser Stelle
komme ich ins Spiel - das sage ich einmal ganz unbescheiden -, weil ich der Verhandlungsführer der Koalition
im Vermittlungsausschuss bin. Wir haben am Ende nämlich mehr erreicht und manchen von denen, die den Vermittlungsausschuss angerufen haben, war das gar nicht so
recht. Insofern kann ich nur sagen: Wir wollten dies so haben und haben es sogar noch besser gemacht, als es ursprünglich aussah oder als Sie es am Ende haben mittragen wollen. Insoweit ist also schon eine Menge geschehen.
Als Nächstes wollen wir mehr Entbürokratisierung
erreichen. In den zuständigen Ministerien wird hinter den
Kulissen daran bereits gearbeitet. Der Bundeskanzler ist
doch in der vorigen Woche selbst zum Feuerwehrtag nach
Augsburg gegangen und hat auch dort noch einmal vor
den versammelten Feuerwehrleuten, die nur alle zehn
Jahre in Deutschland zusammenkommen, vor einer
großen Menge engagierter Menschen persönlich zum
Ausdruck gebracht, dass hier weiter gearbeitet wird und
Entlastungen für Ehrenamtliche auch beim Bezug von
Aufwandsentschädigungen kommen werden.
Aber es kann doch hier bitte schön nicht nur an das
Steuerrecht, nicht nur an das Stiftungsrecht gedacht werden und es kann nicht nur eine Enquete-Kommission sein,
in der wir uns mit wissenschaftlicher und manchmal auch
öffentlicher Begleitung über das Fortkommen auf diesem
Gebiet unterhalten. Das Entscheidende ist doch, dass wir
die Menschen erreichen. Wir erreichen sie aber nicht dadurch, dass wir uns hier gegenseitig beschimpfen, wie Sie
das auf diesem Felde jetzt schon zum zweiten Mal machen, sondern nur dadurch, dass wir uns alle gemeinsam
bemühen, daran zu arbeiten, die Bedingungen für den ehrenamtlichen Einsatz in Deutschland zu verbessern.
({9})
Wenn wir uns vor diesem Hintergrund in den nächsten
Wochen und Monaten in der Enquete-Kommission und
an anderer Stelle miteinander bewegen, werden wir
eine Menge erreicht haben. Ich bin auch sicher, Herr
Riegert, - um Ihre Kritik am Finanzminister mit einem
Satz aufzunehmen -, dass sich auch der Finanzminister zu
weiteren Schritten bereit erklären wird. Aber das ist wirklich nicht einfach, jedenfalls nicht so einfach, wie Sie
glauben es sich machen zu können.
Auf der anderen Seite haben wir auch noch viele anderen Aufgaben. Die Reformprojekte schreiten fort. Ein
wichtiges Reformprojekt, das diese Regierung und diese
Koalition im Auge haben, ist die Unterstützung des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland. Das haben
die Menschen verdient, die sich engagieren, und das haben auch deren Vereine, Verbände und Organisationen
verdient. Auf diesem Wege werden wir uns nicht beirren
oder behindern lassen.
({10})
Frau Kollegin
Aigner meint, ich solle Ihnen sagen, dass es im Moment
2:0 für Italien stehe, weil Holland zwei Elfmeter verschossen hat. Das ist aber noch nicht der Endstand.
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gerhard Schüßler.
Frau Präsidentin! Meine
sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Die Sportvereine in Deutschland leisten einen großen Beitrag für das Gemeinwohl und ihre Leistungen entlasten kommunale und private Träger in ganz
erheblichem Maße. Die Sportvereine erbringen eine nicht
zu unterschätzende gesellschaftspolitische Leistung, die
unsere allerhöchste Anerkennung verdient. Sie leisten einen ganz wesentlichen Teil von Kinder- und Jugendarbeit,
von Gesundheitsvorsorge und der Entwicklung von Gemeinsinn. Ihre von ihnen geleistete Aufgaben sind so
vielfältig, dass sie allein aus Zeitgründen an dieser Stelle
nicht alle genannt werden können. Diese großen Leistungen werden von Tausenden von ehrenamtlich tätigen
Wilhelm Schmidt ({0})
Helferinnen und Helfern erbracht, die ebenfalls unsere
höchste Anerkennung verdienen.
({1})
Der Stellenwert ehrenamtlicher Tätigkeit kann in der
Gesellschaft nicht hoch genug bewertet werden. Wir erleben ja, dass allein die Einrichtung der Enquete-Kommission ein unheimlich großes Echo hervorgerufen hat.
Die Zielsetzung des uns heute vorliegenden Antrags ist
in vollem Umfang zu unterstützen. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion wird ihm zustimmen. Etwa 12 Millionen
Bürgerinnen und Bürger üben an irgendeiner Stelle eine
ehrenamtliche Tätigkeit aus. Oftmals fehlt die Anerkennung. Zum Beispiel ist es selbstverständlich, dass es eine
freiwillige Feuerwehr gibt. Die Aufgaben der Sportvereine sind in den vergangenen Jahren immer vielfältiger
und größer geworden. Aber jedermann weiß auch, dass
sich die finanziellen Rahmenbedingungen parallel zur
Aufgabenmehrung wesentlich verschlechtert haben.
Die von der rot-grünen Koalition beschlossenen Gesetze zur Ökosteuer, zu den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen und zur Scheinselbstständigkeit haben bei den Vereinen zu großen und enormen Schwierigkeiten und finanziellen Belastungen geführt. Diese
können die gemeinnützigen Sportvereine nicht tragen.
Darum fordern wir die Bundesregierung und die rot-grüne
Koalition auch an dieser Stelle auf, die genannten unsinnigen Gesetze aufzuheben. Sie haben großen Schaden angerichtet und Sie, meine Damen und Herren, die Sie dies
beschlossen haben, haben es auch zu verantworten. Setzen Sie endlich ein positives Signal und nehmen Sie diese
unmöglichen Gesetze zurück! Dann hätten wir die heutige
Debatte an dieser Stelle wahrscheinlich nicht.
({2})
Der uns vorliegende Gesetzentwurf der CDU/CSUFraktion zielt sehr konkret auf die Vereinfachung der Besteuerung der ehrenamtlich Tätigen. Eine Verbesserung
der steuerlichen Rahmenbedingungen kann die katastrophalen Auswirkungen der Neuregelungen, zum Beispiel
der 630-Mark-Jobs, zumindest zum Teil auffangen. Ich
halte die Ablehnung, wie Herr Schmidt sie geäußert hat,
schlicht und einfach für widersinnig.
({3})
Der Bundeskanzler - Sie haben es ja gesagt - fährt zum
Deutschen Feuerwehrtag und hält dort eine wohlfeile
Rede.
({4})
- Ja, eine wohlfeile Rede, das kann er sehr gut, das räume
ich ein. - Dann beschäftigt er sich mit den entstandenen
Problemen der Sozialversicherungspflicht für Aufwandsentschädigungen für ehrenamtlich Tätige
({5})
und verspricht Abhilfe, allerdings nicht ohne den sanften
Hinweis, dass die Bäume natürlich nicht in den Himmel
wachsen können.
({6})
Ich habe erwartet, dass der Bundeskanzler in dieser
Diskussion, die wir ja - auch in der Enquete-Kommission - streitig miteinander geführt haben, so handeln
würde. Das ist das bekannte Spiel: Es werden Entlastungen angekündigt. An anderer Stelle wird den Bürgern das
Geld wieder aus der Tasche gezogen. Meine Damen und
Herren, das ist die Wahrheit.
Die F.D.P.-Bundestagsfraktion stimmt dem Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion zu. Ich hoffe, dass wir im
Rahmen der Enquete-Kommission, die aus ihrer Arbeit ja
auch Schlussfolgerungen ziehen muss, zu anderen Ergebnissen kommen, als sie dem jetzigen Istzustand entsprechen.
Danke schön.
({7})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Winfried Hermann. Der weiß vielleicht auch das endgültige Ergebnis. Hier ging es zu wie
bei der stillen Post: zwischen 3:1 und 4:2.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sie von den Bildschirmen
zurückgekommen sind, ich muss sagen, es ist eine der härtesten parlamentarischen Disziplinen, wenn man das
Elfmeterschießen im Halbfinale verpassen muss, weil
man hier über Vereinsbesteuerung reden muss. Insofern
bedaure ich, dass ich zum Ergebnis nichts sagen kann.
({0})
Nun komme ich zum Gesetzentwurf der CDU/CSUFraktion zur Vereinsbesteuerung. Es wäre ehrenwert,
wenn man einen Vorschlag hinsichtlich des Ehrenamtes
machen würde. Es wäre ehrenwert, wenn man einen Gesetzentwurf einbringen würde, in dem zum Ausdruck
kommt, dass man sich insgesamt Gedanken gemacht hat,
wie man Vereine und Vereinsbildung fördern, aber auch
die Besteuerung erleichtern könnte.
Was Sie hier aber eingebracht haben - Kollege Riegert,
das muss ich Ihnen ganz persönlich sagen -, sind nicht
mehr und nicht weniger als vier Lobbyforderungen einer
bestimmten Gruppe, die Sie jahrzehntelang, als Sie in der
Regierung waren, hartnäckig abgelehnt haben. Deswegen
ist es ziemlich unglaubwürdig oder jedenfalls nicht sehr
überzeugend, wenn Sie jetzt, da Sie in der Opposition
sind, so tun, als käme das Geld aus der Steckdose.
({1})
Sie stellen als Opposition einfach Forderungen auf, ohne
sie abzuwägen und ohne zu prüfen, was deren Verwirklichung kosten würde.
Ein zweiter Punkt. Ich finde, Sie verwischen ständig
und leider Gottes zu oft das Ehrenamt und nebenberufliche Beschäftigungen. Sie übersehen, dass es auch in Vereinen viele Geschäfte gibt. Das Ehrenamt kann man nicht
besteuern und man wird es auch nicht besteuern. Dann
braucht man insofern auch keine Steuererleichterungen.
Sie aber suggerieren, dass es um das Ehrenamt geht. Objektiv geht es aber darum, dass Menschen nebenberuflich
zusätzlich Geld verdienen, dafür entlohnt werden und
auch Steuern zahlen müssen. Die Frage ist: Was macht
man da und wie geht man damit um?
Ich will aber auf Ihre Forderungen durchaus im Einzelnen eingehen und sagen, aus welchen Gründen wir sie
ablehnen.
Erstens: Ihre Rücklageforderung. Heute haben Vereine
schon die Möglichkeit, Rücklagen zu bilden - wie ich
finde, in ausreichendem Maße. Vereine sind nicht gemeinnützig und haben nicht die Funktion, vor allen Dingen
Kapital und Vermögen anzusammeln. Es ist nicht das
oberste Ziel des Vereins, ein Vereinsheim zu bauen. Vielmehr sind die menschlichen Aktivitäten, auch sportive
Aktivitäten, zu fördern. Das Vereinsheim kann gebaut
werden oder auch nicht. Das ist aber nicht das primäre
Ziel des Vereins.
Zweiter Punkt. Sie wollen die Besteuerungsgrenze
und die Pauschalierungsgrenze von 60 000 auf
120 000 DM erhöhen. Das ist aus der Sichtweise des Vereins, wenn er unversteuert Geld machen will, durchaus
vernünftig. Aber wenn Sie das einmal im Marktgeschehen
betrachten - dem kann man sich nicht vollständig verschließen -, dann sehen Sie, dass die Kneipen, die die Vereine betreiben, natürlich in Konkurrenz zur Gastronomie
stehen. Ich sage Ihnen: Sobald Sie in der Situation wären,
in der Regierung zu sein, würde Ihr Vorschlag sofort einkassiert, weil natürlich auch die anderen ihre Interessen
vertreten hätten. Dann hätten Sie ein schwieriges Abwägungsproblem gehabt. Wir haben uns in dieser Abwägungsfrage klar dafür entschieden zu sagen: Es gibt eine
gewisse Freistellung, aber auch nicht mehr und nicht weniger; das reicht und man kann da nicht überziehen. Sie
würden mit Ihrer Forderung meines Erachtens den Wettbewerb in diesem Bereich völlig durcheinander bringen.
Das lässt sich meines Erachtens gegenüber der Gastronomie nicht rechtfertigen.
Dritter Punkt: Übungsleiterpauschale. Sie schlagen
die Verdoppelung der Pauschale vor. Wir haben ja das
System geändert. Wir haben das steuerfreie Einkommen
für Tätigkeiten in diesem Bereich geschaffen. 3 600 DM
sind eine ordentliche Erhöhung. Eine solche Erhöhung
haben Sie jahrelang nicht hinbekommen.
({2})
Herr Riegert, da Sie wie ich auch viel an Diskussionen in
Vereinen teilnehmen, haben Sie wahrscheinlich gemerkt,
dass es in den Vereinen inzwischen still geworden ist.
({3})
Mit dieser Erhöhung haben wir wirklich in erheblicher
Weise die Bedingungen für die nebenberuflich Beschäftigten verbessert. Wir haben den Kreis erweitert. Auch
Kollege Schmidt hat darauf hingewiesen. Ich will Ihnen
nur sagen: Sie von der CDU/CSU haben nichts Besseres
zu tun gehabt, als in Ihren Kreisen Briefe zu verbreiten,
dass der Abgeordnete Hermann Unsinn erzähle, weil er
gesagt habe, das gelte nicht nur für Übungsleiter.
({4})
Es gilt tatsächlich nicht nur für Übungsleiter, sondern
auch für das Betreuungspersonal. Das hätten Sie berücksichtigen sollen, anstatt herumzugehen und etwas Gegenteiliges zu behaupten. Es ist möglich, dass Frauen und
Männer, die Jugendmannschaften betreuen und keinen
Übungsleiterschein haben, auch von dieser Regelung profitieren. Das haben Sie ignoriert bzw. haben auch noch so
getan, als wäre das nicht wahr.
({5})
Jetzt möchte ich Ihnen gerne sagen, was wir noch vorhaben und was man, wie ich finde, noch in Angriff nehmen muss - da können Sie auch durchaus mitarbeiten.
Natürlich muss man sich Gedanken machen, wie etwa im
Bereich der Feuerwehr eine Regelung zu finden ist; denn
die Feuerwehr wird in der bisherigen Regelung nicht
berücksichtigt. Gar keine Frage, das ist unbefriedigend,
da muss man etwas machen. Gott sei Dank hat auch Kanzler Schröder deutlich gemacht, dass er da schnell etwas
machen will.
Nächster Punkt: Steuer- und Stiftungsrecht. Nicht
einmal die Vereinsfunktionäre kennen es bisher richtig.
Wir sollten ihnen behilflich sein, die Möglichkeiten dieses Rechts zu nutzen; sie sind überhaupt noch nicht ausgeschöpft.
({6})
Schließlich nenne ich noch die Enquete-Kommission.
Wir haben die Enquete-Kommission eingerichtet, um
auch grundsätzlich darüber nachzudenken, wie man in einer Gesellschaft, in der vieles professionalisiert ist, in der
vieles käuflich ist und in der vieles verkauft wird, in der
es aber auch viel soziales, ehrenamtliches und bürgerschaftliches Engagement gibt, die Bedingungen so gestalten kann, dass das Engagement weiterentwickelt wird und
nicht unter bestimmten Bedingungen kaputt geht. Darüber gilt es weiter nachzudenken und nicht nur über Einzelforderungen. Da muss man sich Gedanken über sozialpolitische und arbeitsrechtliche Gesichtspunkte machen
und ein vernünftiges Gesamtkonzept entwickeln. Das verspreche ich mir von der Enquete-Kommission.
Ich danke Ihnen.
({7})
Das Wort hat
jetzt der Abgeordnete Grehn.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit einigen Zitaten
beginnen, von denen hier auch schon die Rede war. Aber
lassen Sie mich noch einmal den Originalton vortragen.
Vor fünf Tagen sagte der Bundeskanzler in Augsburg:
Wer aber vorbildliche ehrenamtliche Arbeit leistet,
der hat auch verdient, dass die Gesellschaft das würdigt und anerkennt.
Recht hat der Mann.
Zweites Zitat:
Ich räume gerne ein, dass insbesondere bei geringen
Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche Tätigkeiten das geltende Steuer- und Sozialrecht und die
Auslegungspraxis der Sozialversicherungsträger zu
Ungereimtheiten führen.
Recht hat der Mann.
({0})
Ein drittes Zitat:
Aber für die große Masse der ehrenamtlich Tätigen,
die Aufwandsentschädigungen erhalten, will ich eine
Verbesserung der augenblicklichen Situation. Für sie
werden wir eindeutig klarstellen, dass Aufwandsentschädigungen bis zu einer bestimmten Höhe künftig
steuer- und versicherungsfrei sein werden.
Nun haben wir hier einen Vorschlag auf dem Tisch liegen. Herr Kollege Schmidt, Sie tun so, als wenn es um das
goldene Zeitalter in den Vereinen, als wenn es um Verbesserungen ginge. Es geht um einen Ausgleich für Entwicklungen, die zu einer erheblichen Verschlechterung
der Situation in den Vereinen geführt haben. Es geht nicht
um Lobbyforderungen.
({1})
Man muss - das muss man einfach sagen - diesen Vorschlag aus der Sicht der betroffenen Verbände und nicht
aus der Sicht der Parteienpolitik sehen.
({2})
Aus Sicht der Verbände ist dieser Vorschlag - so gering er
sein mag - ein Fortschritt. Herr Henkel würde sagen: Das
sind Peanuts. Aber Vereine sind im Gegensatz zu anderen
auch mit Peanuts zufrieden. Insofern verstehe ich überhaupt nicht, dass Sie die Verbesserungen wiederum auf
den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben wollen und
ihrem Kanzler nicht zur Seite springen wollen. Es gibt
keinen Grund, Ihrem Kanzler und Parteivorsitzenden
nicht zu folgen. Helfen Sie ihm und unterstützen Sie ihn!
Lassen Sie ihn in diesem Fall nicht allein im Regen und
auch nicht gegenüber der Opposition stehen! Sie haben in
diesem Fall die Möglichkeit dazu.
Angesichts der realen Lage und angesichts der Verschlechterungen, die die Vereine durch vielfältige Entwicklungen - diese will ich nicht alle aufzählen; das lässt
die Zeit auch nicht zu - zu erdulden haben, halten wir Verbesserungen für dringend geboten, wenn das Vereinsleben
und die ehrenamtliche Tätigkeit in Quantität und Qualität
nicht noch weiter als bisher absinken sollen.
Eine letzte Bemerkung: Die Kollegen der CDU/CSUFraktion waren bescheiden - zu bescheiden: Sie haben
sich mit ihren Vorschlägen zur Rückstellung und zu den
Steuerfreibeträgen auf die Sportvereine konzentriert.
Dazu sehe ich überhaupt keinen Anlass. Es gibt im sozialen, im kulturellen und im Jugendbereich Vereine, die es
in mindestens genauso starkem Maße verdient haben,
dass sie wie die anderen an diesen Entwicklungen partizipieren. Deswegen sollten wir den Gesetzentwurf erweitern.
({3})
Damit schließe
ich die Aussprache zu diesem Punkt.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Gesetzentwurf zur Verbesserung der Vereinsförderung und der Vereinfachung
der Besteuerung der ehrenamtlich Tätigen, Drucksache 14/1145. Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/3412, den Gesetzentwurf abzulehnen.
({0})
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen! - Enthal-
tungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-
men der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS abgelehnt
worden.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei-
tere Beratung.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b sowie
die Zusatzpunkte 10 und 11 auf:
15. a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den sozialen Wohnungsbau erhalten und reformieren
- Drucksache 14/3664 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuss
b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Dirk Fischer
({2}), Eduard Oswald, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
des Wohnungsbindungsgesetzes und des Altschuldenhilfe-Gesetzes
- Drucksache 14/2763 ({3})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen
({4})
- Drucksache 14/3578 Berichterstattung:
Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig
ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.-Ing.
Dietmar Kansy, Dirk Fischer ({5}), Eduard
Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der CDU/CSU
Soziale Wohnraumförderung - Reform im
Einklang mit einer kohärenten Wohnungsund Städtebaupolitik
- Drucksache 14/3668 ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst
Friedrich ({6}), Hans-Michael Goldmann,
Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P.
Wohngeld erhöhen, Bürokratie abbauen,
Länderkompetenzen stärken: Reformchancen beim sozialen Wohnungsbau konsequent
nutzen
- Drucksache 14/3676 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre
keinen Widerspruch. Dann verfahren wir auch so.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der
Abgeordnete Wolfgang Spanier.
Frau Präsidentin! Meine
Damen und Herren! Zu später Stunde diskutieren wir über
soziale Wohnungspolitik. Es gibt viele Stimmen in unserem Land, die sagen: Der Wohnungsmarkt ist gesättigt.
Wir haben eine Mietenentwicklung, die nur sehr maßvolle
Steigerungen erkennen lässt.
({0})
Der Wohnungsmarkt ist in Ordnung. - Bei genauerem
Hinsehen ergibt sich ein sehr viel differenzierteres Bild.
({1})
Wir werden in den kommenden Jahren einen zusätzlichen Bedarf haben; nicht weil die Bevölkerung wächst,
sondern weil die Zahl der Haushalte wachsen wird. Wir
werden auch einen zunehmenden Bedarf im unteren
Preissegment haben. Hier zeichnet sich bereits seit längerem - nicht nur in den Ballungszentren - ab, dass die Zahl
der preiswerten Wohnungen nicht ausreicht und dass zunehmend Gruppen in der Bevölkerung Schwierigkeiten
haben, eine angemessene und bezahlbare Wohnung zu
finden.
({2})
Wir haben auch andere Probleme auf dem Wohnungsmarkt. Ich will nur die Situation der leer stehenden
Wohnungen in den neuen Bundesländern nennen. Sie
wird uns in den kommenden Jahren vor gewaltige Herausforderungen stellen. Ich nenne auch die Situation, die
der GdW in zwei Untersuchungen herausgearbeitet hat
und die er die „überforderten Nachbarschaften“ nennt. Armutsforscher haben einen sehr viel drastischeren Begriff
geprägt. Sie sprechen von „Armutsgettos“. Es gibt nicht
nur in den großen Städten, sondern auch zunehmend in
mittelgroßen Städten Wohnquartiere, die absacken. Dort
ballen sich geradezu die sozialen Probleme und Konflikte
unserer Gesellschaft. Auch dies ist eine Herausforderung
für die soziale Wohnungspolitik der kommenden Jahre.
({3})
Wichtig ist dabei - das möchte ich ganz am Anfang
herausstellen -: Der soziale Wohnungsbau ist und bleibt
eine Gemeinschaftsaufgabe von Kommunen, Ländern
und Bund.
({4})
Das unterstreichen wir in dem ersten Ziel unseres Antrages, wo noch einmal ausdrücklich auf die Mitfinanzierung
des sozialen Wohnungsbaus durch den Bund verwiesen
wird. Daran wollen wir festhalten.
({5})
Das unterscheidet uns natürlich von den Freien Demokraten, die im Unterschied zu ihrer Haltung noch in der
letzten Legislaturperiode jetzt - so wie Kai aus der
Kiste - mit dem Vorschlag kommen: Ausstieg des Bundes
aus dem sozialen Wohnungsbau und Verwendung der
Mittel zur Aufstockung des Wohngelds.
({6})
Meine Damen und Herren von den Freien Demokraten,
vielleicht haben Sie noch nicht ganz mitbekommen, dass
Ihr Generalsekretär Herr Westerwelle neuerdings die soziale Fahne schwingt.
({7})
Bei einem ganz wichtigen wohnungspolitischen Instrument bedeutet das den Ausstieg aus einer sozialpolitisch
verantwortbaren Wohnungspolitik.
({8})
Ein wenig anders - ich muss ehrlich sagen, gehörig anders - sieht es beim Antrag der CDU/CSU aus.
({9})
Zum Thema Wohnungsbindungsgesetz möchte ich nur
eine Anmerkung machen. Wir sind ja noch einmal durch
die entsprechende Abstimmung im zuständigen Bundesratsausschuss darin bestätigt worden, dass es klug ist, die
Einzelmaßnahme der mittelbaren Belegung, die wir
durchaus akzeptieren und für richtig halten, zurückzustellen und dann im Rahmen einer Gesamtreform des sozialen Wohnungsbaus zu berücksichtigen.
Auf die Vorwürfe, die Sie um Ihren eigenen Antrag
herum garnieren, will ich nicht näher eingehen. Wissen
Sie, mich erinnert das Ganze ein wenig an Folgendes:
Wenn man in einem Gasthaus ein Schnitzel bestellt, gibt
es dazu die berühmt-berüchtigte Salatbeilage, oft etwas
angegammelt und ein bisschen verwelkt. Ähnlich wie
Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer
beim Schnitzel sollte man sie zur Seite schieben. Es lohnt
sich nicht, ihr allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken.
Sie wissen genau, woran Ihre Wohnbaureform gescheitert ist. Sie haben es eben nicht fertig gebracht - so
wie Sie es in Ihrem Gesetzentwurf damals vorhatten -,
gleichzeitig das Wohngeld deutlich zu verbessern. Nun
haben wir diese Voraussetzung geschaffen, selbstverständlich auch mit Unterstützung der CDU im Bundesrat.
Nun lassen Sie uns gemeinsam ans Werk gehen! Deswegen will ich mich jetzt nicht auf die Salatbeilage, sondern aufs Schnitzel konzentrieren.
({10})
Siehe da, meine Damen und Herren von der Union und
besonders Herr Dr. Kansy, wir stimmen in den Zielen weitestgehend überein. Das war übrigens beim Wohngeld
ähnlich.
Deswegen sage ich Ihnen in aller Ruhe und Gelassenheit: Am Ende wird ebenso wie beim Wohngeld das herauskommen, was wir gemeinsam wollen. Es gehört ein
bisschen oppositionelles Tamtam dazu. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir im nächsten Jahr tatsächlich die Reform des sozialen Wohnungsbaus schaffen werden, und
zwar mit folgenden wesentlichen Zielen - das ist entscheidend -: Die Zielgruppe wird verändert, das heißt, wir
wollen denjenigen Menschen, die auf dem Wohnungsmarkt Zugangsschwierigkeiten haben, die Schwierigkeiten haben, eine preiswerte Wohnung zu bekommen, helfen. Wir wollen uns nicht mehr auf den Neubau konzentrieren. Vielmehr soll gleichberechtigt neben der
Neubauförderung die Förderung im Bestand stehen. Das
ist ein wesentlicher Fortschritt. Wir wollen die starren Regelungen hinsichtlich der Förderwege und der Einkommensgrenzen sowie der Belegungsregelungen lockern
und flexibilisieren - ein Wort, das Ihnen gefallen müsste.
({11})
Weiterhin sollen die Entscheidungsspielräume vor allem
der Kommunen und Länder gestärkt werden. Das bedeutet ein Stück Dezentralisierung. Wir wissen alle - viele
von uns kommen aus der Kommunalpolitik -, dass man
vor Ort am ehesten weiß, was Not tut.
({12})
Damit ist ein wesentlicher Punkt erreicht. Zum ersten
Mal werden - in dieser Hinsicht stimmen wir überein tatsächlich Wohnraumförderung und Städtebauförderung
verzahnt. Wenn man sich die Sache genauer anschaut,
dann zieht sich wie ein roter Faden - Entschuldigung, wie
ein rot-grüner Faden - sowohl bei den europäischen Förderprogrammen als auch bei dem Programm „Die soziale
Stadt“, der Städtebauförderung und der sozialen Wohnraumförderung ein Grundgedanke hindurch: Wir müssen
wegkommen vom Kästchen- und Ressortdenken und
brauchen integrative Ansätze.
({13})
Es ist ein entscheidender Fortschritt, wenn man genau in
den Wohnquartieren, die ich eben angesprochen habe, die
Möglichkeit schafft, ein Stück weit sozialen Frieden zu sichern und wieder herzustellen.
Wohnen hat in unserer Gesellschaft nach wie vor einen
hohen Stellenwert. Wir haben in den vergangenen Jahren
sicherlich sehr viel für die Eigenheimförderung getan.
Dazu stehen wir selbstverständlich. Wir haben aber auch
eine soziale Verpflichtung, an die Wohnraumversorgung
der Menschen zu denken und denjenigen zu helfen, die
sich im unteren Drittel der Einkommensskala bewegen.
Das ist nach wie vor eine wichtige und notwendige Aufgabe, gerade weil sich, lieber Herr Dr. Kansy, in diesen
Wohnquartieren die sozialen Konflikte unserer Gesellschaft konzentrieren.
Deshalb ist es wichtig, dass wir alle Instrumente, die
wohnungspolitisch notwendig sind, in dieser Legislaturperiode reformieren. Geschafft haben wir das beim Wohngeld und das war sicherlich ein deutlicher Fortschritt.
({14})
Geschafft haben wir es auch beim Programm „Die soziale
Stadt“. Man kann verstehen, dass bei Ihnen ein bisschen
Mäkelei kommt. Wir haben uns auch, allerdings allzu
lange, in der Oppositionsrolle befunden. In dieser Situation sucht man manchmal etwas krampfhaft, was man kritisieren könnte, weil sozusagen zum Rollenverständnis
gehört, dass die Opposition immer etwas zu kritisieren
hat. Herr Goldmann, auch wir haben da ein Stück Erfahrung und Sie sammeln sie jetzt. Da wünsche ich Ihnen
weiterhin viel Vergnügen.
({15})
Wir machen jetzt den nächsten Schritt bei der Reform
des sozialen Wohnungsbaus und der Weiterentwicklung
zur sozialen Wohnraumförderung. Ich denke, Herr
Kansy und meine Kolleginnen und Kollegen von der
CDU/CSU, wir werden diesen Weg gemeinsam gehen.
Wir werden noch in dieser Legislaturperiode das soziale
Mietrecht - ein weiterer wichtiger Baustein - reformieren. Dann sind wir insgesamt, was die sozial verpflichtete
Wohnungspolitik in diesem Lande betrifft, einen deutlichen Schritt vorangekommen.
({16})
Das kann sich nach meiner Meinung sehen lassen.
Ich kann verstehen, dass Ihnen das alles nicht schnell
genug geht und Sie immer wieder drängeln und drängen.
Sie wissen: Wir machen gute Dinge und da haben Sie auch
ein gutes Recht, uns zu drängeln und die möglichst
schnelle Verwirklichung unserer Vorhaben einzufordern.
Es ist aber wichtig und richtig, dass wir nicht nur im Fachausschuss und nicht nur in diesem Parlament über diese
gesellschaftspolitische Aufgabe diskutieren.
Ich glaube, wir brauchen eine breite gesellschaftspolitische Debatte über die Zukunft unserer Städte. Das ist
nicht eine Diskussion unter Architekten, sondern eine
Diskussion mit dem integrativen Ansatz, dass es eben
nicht nur um Bauten geht, sondern dass es gleichzeitig
auch um Arbeitsplätze, um die soziale Ausstattung der
Menschen und letztlich um den sozialen Frieden in unseren Städten geht.
({17})
Diese gesellschaftspolitische Debatte sollten wir führen,
hoffentlich dann mit etwas größerer Beteiligung als heute
Abend. Das, denke ich, ist notwendig.
({18})
- Ich sehe Sie zum Beispiel. Ich bin ja schon mal beruhigt,
dass Sie und auch Herr Dr. Meister anwesend sind. So
schlecht ist die Besetzung heute Abend nicht.
({19})
- Nein, ich wollte Ihnen eine Freude machen, weil Sie es
angesprochen haben, Herr Dr. Kansy.
Ich halte das für sehr wichtig, weil wir - damit will ich
schließen - den Grundsatz der Nachhaltigkeit, den wir
sonst immer wieder in eher akademischer Diskussion beschwören, wirklich ein Stück voran bringen können, sowohl was die ökologische Dimension - Stichwort zum
Beispiel Konzentration auf den Bestand - als auch was die
soziale Dimension und natürlich auch die ökonomische
Dimension betrifft. Deswegen hoffe ich übrigens auch,
dass sich unsere Wirtschaftspolitiker an dieser gesellschaftspolitischen Diskussion über die Zukunft unserer
Städte beteiligen werden.
Herzlichen Dank.
({20})
Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Dr. Michael Meister.
Sehr geehrter Herr
Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die
heute noch gültigen gesetzlichen Regelungen im sozialen
Wohnungsbau sind im Prinzip kurz nach Gründung der
Republik in Kraft gesetzt worden und im Wesentlichen
auch durch die Zeit nach dem Krieg geprägt. Das heißt, es
gab damals akute Wohnungsnot, es gab dringenden Bedarf nach preisgünstigem Wohnraum.
Heute, gut 50 Jahre später, steht natürlich die Frage einer Reform des sozialen Wohnungsbaus an. Alle in Bund,
Ländern und Kommunen, sind sich natürlich darüber einig, Herr Spanier, dass sie dringend notwendig ist und
dass das derzeit gültige Recht, das noch von den Ideen der
Zeit von vor 50 Jahren geprägt war, den heutigen Ansprüchen nicht mehr genügt.
Wir wissen - Sie haben es zu Recht angesprochen von Versorgungsengpässen einkommensschwacher Haushalte, leider nicht nur in den Ballungsräumen, sondern
insgesamt in der Republik. Wir denken an kinderreiche
Familien und Alleinerziehende, die nach wie vor Zugangsprobleme im Wohnungsmarkt haben. Auf der anderen Seite haben wir eine Förderung des sozialen Wohnungsbaus, die sich nach wie vor vom Mietmarkt abschottet. Ich nenne als Stichwort das Kostenmietprinzip,
das eine Hürde zwischen dem frei finanzierten und dem
sozialen Wohnungsbau errichtet. Wir haben Fehlbelegungen, wir haben Fehlsubventionierungen. Alles das zeigt,
dass hier eine Fehlsteuerung stattfindet. Die gesetzlichen
Regelungen folgen nicht der Lebensentwicklung und der
Lebenssituation der Menschen.
Wir diskutieren als Fehlentwicklung auch Gettobildung, weil sich einige Strukturen bilden, die von einseitigen sozialen Zusammenfügungen geprägt sind und damit
weit über den Wohnungssektor hinaus zu sozialem
Sprengstoff führen.
Das haben wir bereits vor über vier Jahren erkannt und
haben dazu einen Gesetzentwurf vorgelegt, der im Prinzip
vier Punkte umfasste: Zum einen wollten wir eine Konzentration der Fördermaßnahmen auf die Haushalte, die
tatsächlich bedürftig sind. Ich habe vorhin speziell Haushalte mit Kindern und Haushalte mit wenig Einkommen
genannt. Wir haben überlegt, als zweiten Punkt die Frage
der Kostensenkung mit einzuführen und als dritten Punkt
die eben schon angesprochene Marktspaltung zwischen
frei finanziertem und sozialem Wohnungsbau zu überwinden. Als Viertes wollten wir insbesondere einkommensorientierte Förderinstrumente.
({0})
Außerdem wollten wir innovatives Bauen. - Frau
Mertens, regen Sie sich doch nicht auf, das kommt alles
noch zur rechten Zeit.
Ich wollte nur einmal darauf hinweisen, dass uns dies
vor vier Jahren schon bewusst war und wir damals die Reformnotwendigkeiten erkannt hatten. Was ist dann passiert? Die SPD-regierten Länder haben im Bundesrat
diese Reform abgelehnt. Sie haben sie blockiert.
({1})
Jetzt, Frau Mertens, ist das Stichwort Wohngeld angebracht. Sie haben das Wohngeld - auch wir waren der
Meinung, dass hierzu eine Novelle notwendig war - im
Prinzip als Vorwand genutzt, um die Reform des sozialen
Wohnungsbaus zu blockieren.
({2})
- Frau Mertens, die Lösung der Strukturprobleme, die
dringend anstand, haben Sie blockiert. Wenn wir beim
Wohngeld wenigstens eine kleine Reform durchgeführt
hätten, dann hätten wir zumindest eine Strukturreform erreicht und dann hätten wir auch in den zurückliegenden
drei bis vier Jahren beim Wohngeld etwas tun können.
({3})
Jetzt hatten Sie selber zwei Jahre Zeit, eine Strukturreform durchzuführen. Herr Spanier hat zu Recht die Probleme skizziert. Ich warte allerdings auf die Antworten.
Es reicht nicht, die Probleme darzulegen, wenn man in der
Regierungsverantwortung ist. Man muss auch Antworten
formulieren. Davon war in Ihrer Rede herzlich wenig zu
hören, Herr Spanier. Sie führen offenbar in Ihrer Fraktion
ein Nischendasein; denn Sie können sich gegen diejenigen, die bei Ihnen für die Haushalts- und Fiskalpolitik
verantwortlich sind, nicht durchsetzen. Es wird viel angekündigt, aber im Prinzip passiert nichts.
Wenn Sie jetzt zu unserem Antrag zum Wohnungsbindungsgesetz sagen, das wäre Tamtam der Opposition,
aber gleichzeitig zugeben, dass seine Inhalte eigentlich
zutreffend seien, dann antworte ich darauf: Diejenigen,
die einen Antrag, der inhaltlich und sachlich zutreffend
ist, ablehnen, machen Tamtam, nicht diejenigen, die einen
solchen Antrag vorgelegt haben.
({4})
Herr Spanier, Sie haben eben von dem Faden der rotgrünen Wohnungspolitik gesprochen. Wenn ich einen Faden erkennen kann, dann ist es der, dass Sie alle Etattitel,
die angeblich wichtig für Ihre Wohnungspolitik sind - Sie
haben das Städtebauförderungsprogramm „Die soziale
Stadt“ und den sozialen Wohnungsbau angesprochen -,
kürzen und die Mittel für die entsprechenden Vorhaben reduzieren. So setzen Sie das um, was Sie für wichtig halten.
({5})
- Sie haben mit unserer Hilfe eine Verbesserung durchgeführt. Aber dies können Sie sich wirklich nicht zugute halten.
Sie haben des Weiteren den Bestand erwähnt, von dem
Sie immer behaupten, dass er wichtig sei. Wir sind uns
natürlich einig: Hier müssen wir mehr tun. Aber was tun
Sie mit Ihrer Politik? Ich nenne das Eigenheimzulagengesetz. Sie haben die Vorkostenpauschale gekürzt und damit
Politik gegen den Bestand gemacht.
({6})
Ich nenne die steuerlichen Rahmenbedingungen für
den frei finanzierten Mietwohnungsbau. Wenn ich mir anschaue, was Sie hier verändert haben, dann stelle ich fest:
Sie haben Politik gegen den Bestand gemacht.
Herr Spanier, Sie haben zu Recht das Mietrecht angesprochen. Auch wir sind der Meinung, dass es durchaus
reformbedürftig ist, aber nicht in der Weise, wie Sie es
vorhaben. Sie wollen nämlich durch Änderung des Mietrechts aus einer symmetrischen Gestaltung eine asymmetrische machen
({7})
und eine Unwucht hineinbringen, die dafür sorgen wird,
dass gerade die Haushalte, die einkommensschwach sind
und viele Kinder haben, benachteiligt sein werden, weil
die Vermieter genau an dieser Stelle den Finger in die
Wunde legen werden. Das heißt, Sie erweisen genau der
Gruppe, für die Sie angeblich was tun wollen, einen
Bärendienst.
Sie haben die Probleme dargestellt und darauf hingewiesen, wie wichtig die Gemeinschaftsaufgabe, etwas für
den sozialen Wohnungsbau zu tun, für Bund, Länder und
Kommunen sei. Wenn wir in der Regierung wären und
einen Haushaltsentwurf für das Jahr 2001, wie Sie es
jetzt getan haben, vorgelegt hätten, in dem nur 450 Millionen DM für den sozialen Wohnungsbau vorgesehen
wären, dann hätte ich nicht hören wollen, was Sie dazu gesagt hätten. Sie haben uns schon bei viel höheren Summen
gegeißelt. Nun sagen Sie auf einmal, wie wichtig dieses
Thema sei, und fahren zugleich die Ausgaben für den sozialen Wohnungsbau auf einen absoluten Tiefpunkt
zurück. Wenn Sie ehrlich rechnen, dann verdienen Sie in
diesem Bereich sogar noch Geld; denn mittlerweile sind
die Rückflüsse aus den Vorjahren höher als das, was Sie
für den sozialen Wohnungsbau ausgeben. Das nennen Sie
Politik für den sozialen Wohnungsbau?
({8})
Herr Spanier, was hat Ihr Reden mit Ihrem Handeln zu
tun? Wo decken sich die Taten mit dem, was Sie hier als
richtige Politik verkünden? Setzen Sie doch bitte das um,
was Sie hier vortragen! Wenn Sie das täten, dann wären
wir schon zufrieden.
({9})
Herr Spanier hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es
momentan einen ausgeglichenen Wohnungsmarkt gibt,
der nur in wenigen Bereichen Probleme aufweist. Ich
glaube, Sie ruhen sich auf Erfolgen aus, die in der Zeit vor
1998 durch die Rahmenbedingungen eingeleitet worden
sind, die damals gesetzt worden sind. Sie glauben jetzt,
eine Wohnungspolitik machen zu können, mit der an allen
Stellen - egal, ob im Bereich des Steuerrechts, des Mietrechts oder der Fiskalpolitik - die Stellschrauben auf negative Weise angezogen werden.
({10})
Das hat dazu geführt, dass bei den Bauinvestitionen und
bei den Fertigstellungszahlen absolute Negativrekorde erreicht werden.
Wenn Sie damit fortfahren, dann werden Sie das, was
Sie gerade hinsichtlich der problematischen Klientel angesprochen haben, gewaltig verschlimmern. Wir würden
uns dann plötzlich in einer Situation befinden, in der wir
Gesetzgebung nicht vor dem Hintergrund eines entspannten Markts betreiben könnten; vielmehr müssten wir in einer Notsituation handeln. Davor warne ich. Noch ist Zeit
umzukehren.
({11})
Sie haben sich für das Jahr 1999 gelobt. Sie haben gesagt, die Talsohle bei den Bauinvestitionen sei durchschritten. Wenn man sich die ersten vier, fünf Monate dieses Jahres anschaut, dann sieht man, dass es keine TrendDr. Michael Meister
wende, sondern ein kleines Zwischenhoch war. Es geht
weiter bergab. Sie sollten das langsam erkennen und gegensteuern.
Unsere Fraktion bietet Ihnen an, im Interesse einer
sinnvollen Wohnungspolitik konstruktiv und geschlossen
zum Zwecke der Lösung der Probleme, die wir gemeinsam erkennen, miteinander zu arbeiten und zu versuchen,
Lösungen zu finden. Ich fordere von Ihnen nur, dass Sie
das, was Sie in Erklärungen und in Papieren immer wieder betonen, endlich umsetzen. Tun Sie nicht so, als wäre
das nur Papier, während Ihr wahres Handeln das genaue
Gegenteil davon ist! Wenn wir an dieser Stelle zusammenkommen könnten, dann hätten wir viel erreicht, Herr
Spanier.
Danke sehr.
({12})
Für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Franziska
Eichstädt-Bohlig.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Meister, Ihre Rede hat mich
ein bisschen irritiert. Nachdem Sie im ersten Teil darüber
geklagt haben, dass der frühere soziale Wohnungsbau so
ineffizient war und allzu hohe Kosten verursacht hat,
müssten Sie eigentlich die Politik einer Koalition, die darauf ausgerichtet ist, mit gegebenen Mitteln konstruktiv
und kreativ den sozialen Wohnungsbau zu reformieren,
loben, indem Sie sagen: Endlich, jetzt geht’s ran.
({0})
Sie sollten es der PDS überlassen, immer nur mehr Geld
zu fordern. Die kann das letztlich doch besser als Sie.
Diese Angleichung zwischen PDS und CDU/CSU - letztlich gilt das auch für die F.D.P. - macht mir langsam
Sorge. Es mangelt Ihnen einfach an Ideen.
({1})
Eine weitere Bemerkung zu Ihrem Beitrag. Sie haben
gesagt: Es wird viel angekündigt; aber es passiert nichts.
Tatsache ist, dass die Reform des sozialen Wohnungsbaus
in Eckwerten von der Bundesregierung mit den Ländern meines Wissens gibt es auch Länder, die von der CDU
bzw. der CSU geführt werden - praktisch abgestimmt
worden ist. Ein Eckwertepapier ist vorgelegt worden,
dessen Inhalt in einen Gesetzentwurf einfließen wird. Wir,
die Koalitionsfraktionen, wollen ein Stück weit Druck
machen, damit die Ausarbeitung vorangeht. Wir sind sicher, dass das Vorhaben bis zum Herbst in trockenen
Tüchern ist und dass uns die Regierung den Gesetzentwurf konkret, Paragraph für Paragraph, vorlegen wird.
Man sollte anerkennen, dass das kein ganz einfaches Gesetzeswerk ist.
In Richtung der F.D.P.: Es fällt schon auf, dass Sie den
sozialen Wohnungsbau so einfach abschaffen wollen. Sie
meinen, man könnte die frei werdenden Mittel dem
Wohngeld zukommen lassen. Irgendwie habe ich den Eindruck, Sie haben gar nicht gemerkt, dass wir gerade eine
Wohngeldreform durchgeführt haben, die sich weiß Gott
sehen lassen kann. In Westdeutschland liegt die Wohngelderhöhung pro Haushalt bei durchschnittlich 80 DM
pro Monat. Für Ostdeutschland haben wir das jetzige
Niveau sichergestellt. Das ist eine großartige Leistung in
Zeiten, in denen die Politik sparen muss.
Ich interpretiere Ihren Antrag so, dass Sie sagen: Das
reicht uns nicht! Schafft den sozialen Wohnungsbau ab!
Leitet die frei werdenden Mittel dem Wohngeld zu und
bedenkt damit gleichzeitig wieder die Eigenheimförderung von Haushalten mit Jahreseinkommen von
240 000 DM! Ich weiß überhaupt nicht, was eigentlich
Ihre Zielgruppe ist und wem Sie das Geld geben wollen.
Mir ist nicht klar, ob Sie es nicht vielleicht zweimal ausgeben wollen.
({2})
Das Argument, wir brauchten keinen sozialen Wohnungsbau, wird von mehreren Seiten immer wieder vorgebracht. Daher müssen wir ernsthaft noch einmal sagen,
warum wir den sozialen Wohnungsbau brauchen. Der
Kollege Spanier hat es deutlich gesagt: Es geht nicht mehr
wie früher darum, dass wir ständig mehr Wohnungen
bauen. Das ist nur in einigen Regionen nötig, wo echter
Wohnungsmangel herrscht. Ich denke an Regionen wie
München, Stuttgart und Frankfurt. In anderen Regionen
müssen wir den Schwerpunkt darauf setzen, in denjenigen
Stadtteilen, in denen sich die sozialen Probleme durch
die Entmischung zunehmend konzentrieren, stabilisierend einzuwirken. Wenn sich die Bundespolitik dieses Instruments begibt und von der Bundesebene aus nicht mehr
in der Form handlungsfähig sein will, dass sie den Ausgleich in den verschiedenen Regionen schafft, dann hat
sie sich aus der wohnungspolitischen Verantwortung verabschiedet. Wir wollen das nicht. Das haben wir mit unserem Antrag deutlich zum Ausdruck gebracht. Ich finde
es sehr bedauerlich, dass die F.D.P. - Herr Westerwelle hat
mit seiner Ankündigung von sozialer Wärme gerade etwas anderes versprochen - das auf einmal vergisst.
Lassen Sie mich jetzt noch sagen, warum uns die Reform des sozialen Wohnungsbaus im Sinne einer sozialen
Wohnraumversorgung, einer sozialen Wohnraumförderung so wichtig ist. Um von der bisherigen einseitigen
Neubauorientierung zu einer Bestandsorientierung, zu
einer Förderung von mehr Modernisierung, von mehr Belegrechtsankäufen bis hin zu Gebäudeankäufen zur mittelbaren Belegung zu kommen, brauchen wir ein neues
und flexibles Förderrecht.
Das Zweite ist: Wir wollen das bisherige schwerfällige
Kostenmietrecht durch die vereinbarte Förderung ablösen.
Das Dritte ist - das ist mir schon wichtig -: Wir haben
in diesen Eckwerten die Möglichkeit zur vorrangigen Förderung von Unternehmen verankert, die auch ihren ungebundenen Bestand sozial bewirtschaften, das heißt von
Unternehmen wie städtischen Gesellschaften, Genossenschaften, kirchlichen Wohnungsgesellschaften. Es gibt
eine Reihe entsprechender Institutionen, die Sie seinerzeit
in vollem Umfang rechtlich nach dem Motto „Alle sollen
gleich sein, alle sollen so sein wie der freie Wohnungsmarkt“ behandelt haben, die aber sehr wohl soziale Lasten
und soziale Verantwortung tragen. Wir wollen, dass das
Rechtsinstrument auch Möglichkeiten hergibt, die Förderung ein Stück weit dort zu konzentrieren, wo soziales Engagement und effizientes betriebswirtschaftliches Handeln miteinander vereinbart werden.
Von daher bitte ich alle Beteiligten, nicht in dem Sinne
zu argumentieren, dass wir das überhaupt nicht brauchten,
weil wir genug Wohnungen hätten, und der Wohnungsmarkt gesättigt sei, sondern zu erkennen, dass die Verknüpfung von stadtpolitischen Zielen mit dieser sozialen
Wohnraumbewirtschaftung in Zukunft immer wichtiger
wird. Wie wir schon an dem Programm „Die soziale
Stadt“ gesehen haben, ist es eben nicht so, dass das nur
für ein paar extreme Notfälle gebraucht wird, sondern
dass der Reihe nach immer mehr Städte kommen und sagen, genau das sei das Programm, das sie brauchten. Die
Verknüpfung von sozialer Wohnraumversorgung mit
städtebaulichen Aspekten, mit Wohnumfeldverbesserungen, mit dem Programm „Die soziale Stadt“ wird also genau die Aufgabe der Zukunft sein, und in diesem Sinne
werden wir das Programm anpacken. Vielleicht lernt auch
die F.D.P. noch, dass für soziale Verantwortung ganz konkrete Instrumente gebraucht werden.
({3})
Für die F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Michael Goldmann.
Sehr geehrter
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
meine, es ist sehr wichtig, dass wir zunächst einmal eine
gewisse Gemeinsamkeit herstellen, gerade wenn wir von
einem parlamentarischen Abend kommen, auf dem der Interessenverbund Bau deutlich gemacht hat, wie schwierig
die Situation im Baugewerbe ist.
({0})
Herr Spanier, ich habe festgestellt, dass Sie bei Ihrer
Rede eben viele gute Dinge im Sinn gehabt haben, muss
aber sagen, dass Ihre Taten dem nicht ganz entsprechen.
({1})
Nach zwei Jahren rot-grüner Baupolitik haben Sie eine
ziemlich traurige, eine trübe Bilanz aufzuweisen.
({2})
Wenn Sie sich zum Beispiel Ihr Altschuldenhilfe-Gesetz,
das Sie hier gefeiert haben, vor Augen führen, dann müssen Sie mittlerweile feststellen, dass dieses Gesetz bei
weitem nicht das abdeckt, was sich an Notwendigkeiten
darstellt.
Wenn Sie Ihre Überlegungen zum Mietrecht als soziales Mietrecht definieren - das führe ich gerade vor dem
Hintergrund dessen an, was der Kollege Dr. Meister hier
auch gesagt hat -, dann haben Sie aus meiner Sicht das,
was Ihnen sozusagen als Gegenwind aus dem Justizministerium entgegenschlägt, im Grunde genommen substanziell nicht verstanden.
({3})
Sie sind nicht in der Lage, eine kluge Baupolitik zu betreiben, weil Ihnen der Finanzminister für die Investitionen, die dafür notwendig wären, noch nicht einmal anteilig etwas gibt.
Vor diesem Hintergrund finde ich es wirklich schon
dreist, wenn Sie die F.D.P. kritisieren, die meiner Meinung nach einen sehr vernünftigen Antrag in die Diskussion einbringt.
({4})
- Liebe Kollegin Gleicke, wenn ich Ihr Knurren richtig
deute,
({5})
dann fällt es wohl auch Ihnen sehr schwer, die 450 Millionen DM, die eingeplant sind, noch als Erfolg zu verkaufen. Es war ja wohl Ihre Fraktion, die Beträge, die insgesamt weit über 1 Milliarde DM lagen, als nicht sachgerecht dargestellt hat.
({6})
Wenn Herr Spanier dann sagt, Sie machten einen
Schritt in die richtige Richtung, dann kann ich nur entgegnen, dass Sie sozusagen einen radikalen Schnitt in die
völlig falsche Richtung machen. Nicht wir steigen aus
dem sozialen Wohnungsbau aus, sondern Sie sind, wenn
man die Mittelansätze im Haushalt als Maßstab nimmt,
schon lange ausgestiegen.
Wir machen etwas ganz anderes; das ist richtig. Wir
sorgen nämlich dafür - das wurde hier ja bereits angesprochen -, dass die Mittel, die bereitgestellt werden, gebündelt eingesetzt werden. Wir wollen nicht weniger Mittel für soziale Aufgabenstellungen ausgeben, um gefährdete Nachbarschaften in den Städten zu unterstützen, wir
wollen nicht weniger Mittel dafür einsetzen, um die Integration in dieser Gesellschaft voranzutreiben, aber wir
wollen, dass diese Mittel den Ländern zur Verfügung stehen, die ja schon jetzt viel mehr Geld als der Bund in diesem Bereich ausgeben.
({7})
Wenn Sie sich einmal die Bilanz von NRW anschauen,
werden Sie feststellen, dass dieses Land weit über 2 Milliarden DM hierfür ausgibt. Wenn Sie die Bilanz von
Hamburg betrachten, werden Sie feststellen, dass man
dort große Beträge einsetzt, um die entsprechenden Aufgaben zu erfüllen.
({8})
- Ja gut, das will ich nicht bestreiten. Das gilt aber auch
für andere Länder, Sie können auch Baden-Württemberg
oder Hessen nehmen. Auch dort liegen die Beträge, die für
diese Aufgaben bereitgestellt werden, sehr hoch. Oder
schauen Sie sich an, wie intensiv sich Bayern an dem Programm „Die soziale Stadt“ beteiligt. Das ist genau der
richtige Weg.
Herr Kollege
Goldmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Eichstädt-Bohlig?
Ja, aber erst
möchte ich noch den Satz beenden: Geben Sie das Geld
dahin, von wo aus es sachgerecht eingesetzt werden kann!
Herr Kollege Goldmann, Ihre Ausführungen
haben mich jetzt noch mehr verwirrt, als mich schon Ihr
Antrag verwirrt hat. Sie geben das Geld jetzt offenbar
dreimal aus, wenn ich Ihren Antrag richtig verstehe. Im
ersten Absatz fordern Sie:
Die bisherigen Fördermittel des Bundes für den sozialen Wohnungsbau und die Komplementärmittel
der Länder werden zur dauerhaften Leistungsverbesserung beim Wohngeld verwendet.
Das ist der O-Ton Ihres Antrages.
Die zweite Forderung lautet:
Die Zuständigkeit und die Kompetenzen für die Förderung des sozialen Wohnungsbaus werden - über
das bisherige Maß hinaus - vollständig den Ländern
überlassen.
Hier ergibt sich schon als erste Frage, ob nicht ein Widerspruch zwischen dem ersten Satz, gemäß dem auch die
Länder ihr Geld in das Wohngeld einbringen sollen, und
dem zweiten Satz, wonach es den Ländern überlassen
werden soll, besteht. Jetzt eben haben Sie noch gesagt,
dass die Gelder vom Bund auf die Länder übertragen werden sollen.
Schließlich fordern Sie im dritten Absatz, die Grenzen
für die Eigenheimförderung nach dem Eigenheimzulagengesetz für Verheiratete wieder auf 240 000 DM anzuheben.
Können Sie mir erklären, woher Sie das Geld nehmen,
das Sie mindestens drei- bis viermal in Ihrem Antrag verteilen?
Ich bin anscheinend länger als Sie zur Schule gegangen, was zwar nicht
immer von Erfolg gekrönt war,
({0})
aber, Frau Kollegin, Rechnen habe ich dabei gelernt.
({1})
Wenn Sie den Antrag genau analysieren, dann werden Sie
sehr schnell feststellen, dass das, was wir bei der Eigenheimförderung vorhaben, überhaupt nichts mit den Mitteln für den sozialen Wohnungsbau zu tun hat.
({2})
- Sie müssen mir schon die Möglichkeit geben zu antworten, und sollten nicht ständig dazwischenreden.
Wir wollen die Mittel - das haben Sie auch richtig vorgetragen - beim Wohngeld zusammenführen, weil wir
der Meinung sind, dass das Wohngeld die direkteste Form
und die sozialste Art an Zuwendung ist, die man sich überhaupt vorstellen kann.
({3})
Ich denke, dass dieser Weg richtig und konsequent ist,
denn auf diese Weise kommt das Geld wirklich bei denen
an, die bedürftig sind.
Sie tun uns - das war schon eben so bei den Ausführungen zu Herrn Westerwelle - Unrecht. Ich sehe das
als völlig im Einklang mit dem an, was die F.D.P. auf
ihrem Bundesparteitag in Nürnberg beschlossen hat. Wir
wollen nämlich keine soziale Fahne schwingen, sondern
wir wollen ganz konkrete, die Menschen erreichende Sozialpolitik betreiben.
({4})
Genau das verfolgen wir auch mit diesem Antrag.
({5})
- Das ist keine Drohung, Kollege Spanier, sondern das ist
eine Konkretisierung dessen, was die Vertreter der F.D.P.
unter Sozialpolitik verstehen, nämlich dem helfen, der
sich selbst nicht helfen kann. Ich glaube, in diesem Punkt
könnten wir sogar eine ganze Menge an Gemeinsamkeiten feststellen.
({6})
Mit diesem Antrag - das sollten Sie auch mit bedenken,
Frau Eichstädt-Bohlig - sind sehr interessante Nebeneffekte verbunden. Es besteht die Möglichkeit, einen erheblichen Abbau von Bürokratie zu betreiben, weil man für
die Erledigung dieser Aufgabenstellung im Ministerium
kein Personal mehr abstellen muss und so Personalmittel
eingespart werden können. Ein weiterer Vorteil, der damit
verbunden ist, ist die Abschaffung einer zusätzlichen
Transferstelle. Damit orientieren wir uns hin zu einer Bürgergeldlösung, wie wir sie für richtig halten.
({7})
Der von uns gestellte Antrag macht insofern genau das,
Herr Spanier und Frau Eichstädt-Bohlig, was Sie angesprochen haben. Er gibt den Ländern, die in diesem Bereich in Verbindung mit den Kommunen die eigentlich
Aktiven sind - das haben wir ja beispielsweise beim Projekt „Die soziale Stadt“ belegt bekommen -, zusätzliche
Möglichkeiten zur Ausgestaltung einer echten sozialen
Wohnungsbaupolitik. Diesem Gedanken tragen wir mit
unserem Antrag Rechnung.
Ich glaube, dass es sich um einen klugen Antrag handelt, bei dem Sie sich schwer tun werden, ihn in der Substanz abzulehnen. Wenn Sie das machen, hat es etwas
damit zu tun, dass Sie sich klugen Lösungen im Grunde
genommen verweigern, wie es schon beim Altschuldenhilfe-Gesetz der Fall war. Wenn Sie unseren Vorstellungen gefolgt wären, hätten Sie den jetzigen Ärger mit den
Wohnungsbauunternehmen gerade in den neuen Ländern
nicht. Frau Gleicke, Sie haben dies leider heute Morgen
schmerzlich in Dresden erfahren müssen.
({8})
Weil es wichtig ist, dass alle, die sich mit Wohnungsbaupolitik beschäftigen, ein besonderes Maß an Gemeinsamkeit zeigen müssen, bieten wir Ihnen die Zusammenarbeit an. Wir sagen aber auch ganz klar: Wir wollen eine
Verlagerung der Aufgaben dorthin, wo sie erfüllt werden.
Das sind die Länder und die Kommunen.
({9})
Wir sind ganz konkret dafür, dass der Bund Mittel bereitstellt, wie er das auch in anderen Bereichen der Wirtschaft tut. Die Umsetzung muss im Sinne der Subsidiarität
dort erfolgen, wo die Menschen am direktesten erreicht
werden.
Herzlichen Dank.
({10})
Für die PDS-Fraktion spricht die Kollegin Christine Ostrowski.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Herr Goldmann, da Sie sich jetzt um
Sozialpolitik kümmern,
({0})
könnte ich fast - ich habe sie natürlich nicht - Angst vor
Ihrer Konkurrenz bekommen.
Das Spannende ist ja nicht unbedingt der Inhalt der
Anträge, die heute vorliegen, sondern zunächst einmal
der Vorgang. Herr Spanier, Sie haben ja Recht: Die
CDU/CSU-Fraktion macht im Vorgriff auf eine Wohnungsreform Tamtam mit ihrem Antrag. Das Traurige ist
aber, dass Sie sich als Koalitionsfraktionen unter Druck
gesetzt fühlen und schnell, holterdiepolter einen Antrag
vorlegen, der etwas oberflächlich wirkt, den ich Ihnen ehrlich gesagt - in dreißig Minuten herunterschreiben
könnte und der Sätze enthält, die mittlerweile - außer vielleicht auf der rechten Seite - Allgemeingut sind.
Ich denke, Sie haben es nicht nötig, sich von der
CDU/CSU unter Druck setzen zu lassen. Warum denn
auch? Sie hat sich nicht sonderlich durch wohnungspolitische Aktivitäten in dieser Wahlperiode ausgezeichnet.
Hätten Sie also gelassen reagiert und gewartet, bis die Reform insgesamt vorgelegt wird, dann wäre es Ihnen besser bekommen; denn Ihre Rede selber war sehr viel nachdenklicher als dieser Wisch, der uns auf eineinhalb Seiten
vorgelegt wurde.
Die findigen Bürschchen von der F.D.P. satteln natürlich sofort drauf. Das könnt ihr wirklich gut. Ihr nutzt die
Gelegenheit und kommt mit einem Antrag, der wirklich
unter Niveau ist.
({1})
Wir hätten auch noch schnell zwei Seiten schreiben
können, um sie hier vorzulegen. Aber wir wollen dieses
Spiel nicht mitmachen, weil wir uns nicht in einem Wettrennen befinden. Es kommt ja nicht darauf an, wer am
schnellsten rennt. Es geht vielmehr um die Reform des sozialen Wohnungsbaus.
({2})
Dabei kommt es auf das beste Konzept an. Wir arbeiten
daran und werden im September diesbezüglich einen
komplexen Antrag einbringen.
({3})
Noch einmal zum Konzept: In dem Antrag der
CDU/CSU ist keines zu erkennen. Das kann ja auch nicht
sein, weil es sich nur um eine Einzelmaßnahme handelt,
die für sich genommen in Ordnung ist und die wir mittragen. Es macht aber wenig Sinn, diese Maßnahme schnell
einzuführen und im Nachhinein eine komplexe Reform zu
machen.
({4})
Zum Konzept der F.D.P. bezüglich des Wohngeldes.
Vielleicht wissen Sie, dass damit Biedenkopf schon vor
20 Jahren in der CDU - ich denke: zu Recht - gescheitert
ist. Die Übertragung auf die Länder geht mitnichten.
Wenn es um die Reform des sozialen Wohnungsbaus
geht, muss man sich überlegen, worin das Ziel liegt. Da
ich nur wenig Redezeit habe, will ich mich auf einige
Punkte beschränken.
({5})
Nehmen wir einmal die Anzahl der Hilfsbedürftigen.
Dazu zählt - darüber gibt es Einigkeit - beispielsweise die
allein stehende Frau mit zwei Kindern. Mich bewegt die
Frage - dazu höre ich von Ihnen nichts -: Wie schätzen
Sie die Größe dieser Bevölkerungsgruppe ein? Wird diese
Zahl sinken oder steigen? Ich vermute, sie wird steigen.
Meine Vermutung kann falsch sein. Aber ein Indiz ist für
mich beispielsweise die steigende Zahl der Sozialhilfeempfänger. Ich muss in diesem Zusammenhang auch an
die Osterweiterung der EU denken und an die Ausweitung
des Niedriglohnsektors. Wenn man nicht weiß, in welcher
Größenordnung man höchstwahrscheinlich fördern muss,
dann geht man von einem falschen Ansatzpunkt aus. Das
hat letzten Endes natürlich auch etwas mit Geld, mit Finanzen zu tun, aber nicht nur.
({6})
Außerdem stellt sich die Frage, welche grundlegende
Förderphilosophie wir in Zukunft zugrunde legen. Hoffentlich nicht - das kam jedenfalls in Ihrer Rede zum Ausdruck - nur den Erwerb oder das Hinstellen von nackten
vier Wänden. Diese Zeit ist vorbei. Die Gesellschaft hat
sich sehr gewandelt. Die Bedürfnisse der Menschen haben sich gewandelt; auch beispielsweise die demographische Entwicklung. Wir müssen also überlegen, welche
Förderphilosophie zugrunde liegt. Ich denke, da kann
man nur den Grundgedanken des Programms „Die soziale
Stadt“ nehmen,
({7})
dass man nicht nur an die nackten vier Wände denkt - ich
spitze das jetzt zu -, sondern an einen Komplex, der von
Arbeitsmarktpolitik über Kultur und so weiter bis hin zur
Wohnung reicht.
({8})
Man muss auch überlegen, was und wie man denn fördern will. Was ist der Fördergegenstand, und welches ist
das Förderinstrumentarium? Bleibt es im Grundsatz bei
der bisherigen, strikten Trennung von Fördertöpfen mit
einigen Verbesserungen? Sie sprechen von Flexibilisierung, aber wenn ich in das Papier der Bauminister gucke,
wird mir ein bisschen schlecht, denn ich habe das Gefühl,
dass sie schon Vorbehalte haben. Gelingt es uns, einen
Fördertopf zu schaffen und ihn so differenziert zu verwenden, wie es das konkrete Leben braucht? Das weiß ich
nicht. Herr Großmann hat mehrmals auf öffentlichen Veranstaltungen gesagt: Das wird so sein. Ich hoffe auch,
dass das so sein wird. Aber, wie gesagt, das Papier der
Bauminister ist etwas anders formuliert.
Kriegen wir es, was die Förderinstrumente anbelangt,
auch hin, dass die Kommunen mehr Eigenverantwortung übernehmen können, dass sie in stärkerem Maße das
Sagen haben, wie das Geld verwendet wird? Auch da weiß
ich, dass die Bauminister das mitnichten so sehen. Wer
das Geld hat, bestimmt über Sinn und Zweck.
Stichwort Geld - das ist meine letzte Bemerkung -: Sie
führen den vorsichtigen Satz ein, dass wir die begrenzten
Mittel effizient einsetzen müssen. Das bringt mich zu der
Befürchtung, dass Sie bei dem Mindestmaß von 450 Millionen DM bleiben wollen oder bleiben müssen. Dazu
sage ich Ihnen: Erstens darf sich der Bund aus der Förderung nicht herausziehen. Das haben Sie jetzt bestätigt.
Das finde ich in Ordnung. Zweitens müssen wir zunächst
einmal überlegen - ich bitte Sie, zu versuchen, seriös zu
prognostizieren -, wie groß die Gruppe der Bedürftigen
sein wird, die zu fördern sind. Danach muss sich das Geld
richten. Welche Förderphilosophie legen wir zugrunde?
Wenn wir von vornherein die Elle bei 450 Millionen DM
anlegen, dann, so denke ich, wird daraus keine richtige
Reform.
({9})
Frau Kollegin, es
gibt zwar eine gewisse Technik, das Signal des amtierenden Präsidenten mit dem eigenen Redemanuskript zu verdecken, aber ich kann Ihnen deswegen die Redezeit nicht
verlängern.
({0})
Ich bitte Sie, jetzt doch zum Schluss zu kommen.
Ich bin auch am Ende. Ich verzeihe Ihnen die Flüchtigkeit Ihres Papiers. Immerhin haben wir heute das erste Mal darüber debattiert. Das
ist gut. Ich hoffe auf eine gesunde und gute Debatte im
Herbst.
({0})
Nun spricht für die
SPD-Fraktion der Kollege Dieter Maaß.
Herr Präsident! Meine
Damen und Herren! Der Antrag, über den wir unter diesem Tagesordnungspunkt debattieren, trägt die Überschrift „Den sozialen Wohnungsbau erhalten und reformieren“. Damit erfüllen wir Sozialdemokraten ein
Wahlversprechen und eine Aussage in unserem Koalitionsvertrag mit Bündnis 90/Die Grünen.
Über die Notwendigkeit, den sozialen Wohnungsbau
zu reformieren, besteht sicherlich keine Meinungsverschiedenheit. Schon die abgewählte Bundesregierung
hatte mit ihrer Gesetzesvorlage zur Reform des Wohnungsbaurechtes auch eine Reform der sozialen Wohnraumförderung geplant. Allerdings hatte sie nicht die
Kraft, die notwendige Wohngeldreform durchzusetzen.
Es scheiterte letztlich daran, dass der Schwerpunkt staatlicher Förderung zu sehr auf die Subjektförderung ausgerichtet war.
Mit unserem Antrag, den sozialen Wohnungsbau zu reformieren, bleiben wir in erster Linie bei der Objektförderung. Damit stärken wir zunächst einmal den investiven Teil des Bundeshaushaltes. Wir wollen nicht mehr in
erster Linie den Neubau fördern, sondern stärker den Erhalt und die Modernisierung des Bestandes. Dies bringt
übrigens mehr Aufträge für die mittelständische Bauindustrie.
({0})
Bei der Förderung im Bestand geht es uns um den
Erhalt gewachsener Wohnquartiere. Wenn es uns gelingt,
zu verhindern, dass schwierige Wohnquartiere zu
Glasscherbenvierteln herunterkommen, ist dies ein Gewinn für die Lebensqualität in unseren Städten.
({1})
Niemand wird ernstlich bestreiten können, dass es sich
lohnt, hierfür Geld in die Hand zu nehmen und so weitaus
höhere Folgekosten der gesamten Gesellschaft zu verhindern. Gleichwohl gibt es Stimmen im politischen Raum,
die uns empfehlen, ganz aus der Förderung des sozialen
Wohnungsbaus auszusteigen.
Die Gründe für einen solchen Ausstieg sind auf den
ersten Blick einleuchtend. Es gibt Wohnungsleerstände,
und zwar auch im Niedrigpreissektor, vor allem in den
neuen Bundesländern. Hier muss man allerdings genau
hinsehen und fragen: Warum gibt es diese Leerstände?
Wenn es nicht genügend bezahlte Arbeit in der Stadt oder
Region gibt, werden die Menschen ihre Heimat und ihre
Wohnungen verlassen.
Wir können in dieser kurzen Debatte nicht klären, wie
man dieser Entwicklung entgegenwirkt. Doch es gibt
auch Leerstände, die ihre Ursache in unterlassener oder
mangelnder Renovierung und Modernisierung haben.
Solche Entwicklungen können wir mit einer zeitgemäßen
Förderung des sozialen Wohnungsbaus stoppen und umkehren. Eine Unterstützung durch Städtebaufördermittel
und Maßnahmen, die wir unter dem Begriff „Die soziale
Stadt“ kennen, gehören dazu.
Nun hören wir aus einigen Landesregierungen, der
Bund solle sich ganz aus der Förderung zurückziehen.
Den Einfluss des Bundes durch Dotationsauflagen wollen
diese Landesregierungen natürlich nicht. Ich gebe jedoch
zu bedenken: Wenn wir als Bundespolitiker aus dem sozialen Wohnungsbau aussteigen, binden wir uns selbst die
Hände. Wir können nicht mehr steuern, wie im sozialen
Wohnungsbau gebaut wird und wo diese Wohnungen gebaut werden.
In meinem Wahlkreis im Ruhrgebiet sind in den vergangenen Jahren auf einer alten Industriebrache 125 neue
Sozialwohnungen entstanden. Diese Wohnungen konnten
auf einem Bauplatz nahe einem alten Ortskern gebaut
werden, der sonst für den Bau hochwertiger Eigentumswohnungen vermarktet worden wäre. Aber wo wären die
Familien mit geringem Einkommen geblieben? Sie hätten
in sozial problematische Quartiere ausweichen müssen.
Jetzt leben junge Familien mit Kindern nahe am Stadtteilzentrum und verjüngen darüber hinaus die Bevölkerung
dieses Stadtteils.
Sollten wir auf diesen politischen Einfluss auf einen
wichtigen Teil des Wohnungsmarktes verzichten? Bestenfalls über das Wohngeld könnten wir dann noch darauf
Einfluss nehmen, wie einkommensschwache Haushalte
sich auf dem Wohnungsmarkt behaupten können. Dies ist
uns zu wenig. Deshalb hat sich in der Vergangenheit jeder
Deutsche Bundestag, gleich welcher politischen Zusammensetzung, dieser Forderung widersetzt.
Das ist auch der Grund, warum wir den Antrag der
F.D.P. ablehnen. Sie, meine Damen und Herren, wollen
ganz aus dem sozialen Wohnungsbau aussteigen.
({2})
Sie wollen die Fördermittel aus der Objektförderung auf
die Subjetförderung umlenken, sich also auf die Zahlung
von Wohngeld beschränken. Es ist schon merkwürdig,
wenn uns jetzt ausgerechnet die Liberalen auffordern, investive Haushaltsmittel in konsumtive umzuwandeln.
Gestern habe ich das hier noch ganz anders gehört.
({3})
Die von der F.D.P. geforderte Anhebung der Einkommensgrenzen im Eigenheimzulagegesetz halten wir
ebenso für falsch. Wir Sozialdemokraten werden die
knappen Haushaltsmittel auf die Förderung von Familien
mit geringen Einkommen konzentrieren.
({4})
Wir sind der Meinung, bei hohen Einkommen muss der
Staat den Kauf von Wohneigentum nicht fördern.
Lassen Sie mich am Schluss meiner Ausführungen zusammenfassen: Eine Reform des sozialen Wohnungsbaus
ist wichtig. Wir wollen auf Neubauförderung nicht verzichten, aber den Schwerpunkt auf die stärkere Förderung
im Bestand legen.
Ich bin sicher, dass die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag einen guten Gesetzentwurf vorlegen
wird. Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU,
fordere ich auf, diesen Antrag zu unterstützen. Er geht
schließlich in die gleiche Richtung, in die auch Sie zielen.
Schönen Dank.
({5})
Der Kollege
Dr. Dietmar Kansy spricht nun für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Kollege
Maaß, ich habe leider nicht Ihren Antrag mitgebracht,
sondern die Wahlversprechen der Grünen im Bereich des
sozialen Wohnungsbaus. Leider ist die Zeit zu kurz, sie
vorzulesen.
Lieber Kollege Spanier, ob wir im Hinblick auf den sozialen Wohnungsbau einen Konsens finden, wird sich zeigen. Aber einen Konsens in Bezug auf Ihre derzeitige
Wohnungspolitik hier in Berlin wird es mit uns nicht geben.
({0})
„Der soziale Wohnungsbau“, so schreiben Sie so wunderschön gehoben und geschwollen in Ihrem Antrag, „ist, neben den Rahmenbedingungen des frei finanzierten Wohnungsbaus, ein zentrales Element der Wohnungspolitik.“
Wohl wahr! Also hätte man angesichts ihrer vor der letzten Wahl großartig angekündigten Versprechen annehmen
können, dass die Bundesregierung diese Rahmenbedingungen spürbar verbessert, und dies vor allen Dingen
schnell, Herr Staatssekretär Großmann.
Genau das Gegenteil ist der Fall: Eine Reform des sozialen Wohnungsbaus hätte bereits Anfang 1999 - Kollege Meister hat darauf hingewiesen - in Kraft treten könDieter Maaß ({1})
nen, wenn die Vorlage des ehemaligen Bauministers
Töpfer nicht im Bundesrat auf eine politisch und wahltaktisch motivierte, von Lafontaine angestiftete Blockadepolitik gestoßen wäre.
({2})
Statt nun aber, nachdem Sie die Wahl gewonnen haben,
schnell an diese Reform heranzugehen, hat sich in den
letzten zwei Jahren nichts Positives ereignet. Ganz im
Gegenteil: Sie haben sich bei der Mitfinanzierung des sozialen Wohnungsbaus auf das gesetzliche Mindestniveau
zurückgezogen.
({3})
- Ich weiß ja, dass dies schmerzt. Mit Ausnahme derjenigen, die diese Debatte für den Deutschen Bundestag aufzeichnen, hört uns ja auch keiner zu. - Innerhalb von zwei
Haushaltsjahren haben Sie die für den sozialen Wohnungsbau vorgesehenen Bundesmittel um 55 Prozent
gekürzt.
({4})
Frau Eichstädt-Bohlig, was hatten Sie denn versprochen? Sie hatten für den sozialen Wohnungsbau nicht nur
einen gesetzlichen Mindestrahmen von 1 Milliarde DM
gefordert, sondern auch noch zusätzlich - ich wiederhole:
zusätzlich!- die Rückflüsse aus Zinsen und Tilgung. Was
jetzt hier passiert, ist genau das Gegenteil. Die dank der
hohen Verpflichtungsrahmen unserer gemeinsamen Regierungszeit, Herr Kollege Goldmann, bestehenden
Rückflüsse übersteigen im nächsten Jahr sogar die Ausgaben für den sozialen Wohnungsbau, sodass der Wohnungsbau im Grunde zu einer Einnahmeposition der Bundesregierung wird, wenn die Haushaltsansätze so durchgesetzt werden, wie Sie sie vorgesehen haben. Wir werden
uns massiv dagegen wehren.
Damit Sie sich noch einmal an die Zahlen erinnern: Im
letzten Regierungsjahr von Helmut Kohl lag der entsprechende Haushaltsansatz bei 1,347 Milliarden DM, 1999
noch bei 1,1 Milliarden DM und dieses Jahr nur noch bei
600 Millionen DM. Für das nächste Jahr haben Sie ganze
450 Millionen DM vorgesehen.
({5})
Herr Staatssekretär Großmann, der Sie damals wohnungspolitischer Sprecher waren, wie hieß es in Ihrem
Regierungsprogramm 1998? Wir werden den Neubau der
Sozialwohnungen verstärken. Sie haben inzwischen die
Mittel auf ein Viertel der im letzten Regierungsjahr von
Helmut Kohl angesetzten Mittel zurückgeführt. Das ist
die Wahrheit.
({6})
Die liebenswerte Kollegin und Vizepräsidentin Anke
Fuchs ist ja auch Präsidentin des Mieterbundes. Diese
fordert sogar 2 Milliarden DM für den sozialen Wohnungsbau. So liegen Anspruch und Wirklichkeit auseinander.
({7})
Hier wird ja ständig das Thema Wohngeld angesprochen. Dasselbe wäre fast beim Wohngeld passiert. Die
Bundesregierung hatte vor, sich aus der hälftigen Mitfinanzierung des Wohngeldes zu verabschieden.
({8})
Erst im Vermittlungsausschuss konnte auf Druck der
CDU/CSU verhindert werden, dass Kosten in Höhe von
2,6 Milliarden DM vom Bund auf die Länder verschoben
wurden. Sonst hätte die Bundesregierung auch dort Kasse
gemacht. Sie aber verkaufen das als große Wohngeldreform. Auch das ist die Wahrheit.
({9})
Nachdem Sie nun den sozialen Wohnungsbau so schön
zerrupft haben, haben Sie auch noch den frei finanzierten Mietwohnungsbau entdeckt und die steuerlichen
Förderbedingungen an allen Ecken und Enden verschlechtert. Es steht eine Mietrechtsreform an, angesichts der auch der letzte Investor vergrault wird, in den
frei finanzierten Mietwohnungsbau zu investieren. Schon
heute kommt es bei den Genehmigungen im frei finanzierten Wohnungsbau zu einem radikalen Einbruch. Der
Stellenwert des selbst genutzten Wohnungsbaus wird
nicht nur durch Abbau der Eigenheimzulage, die wir, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, gemeinsam verabschiedet haben, gefährdet, sondern auch durch die Kürzung der für den sozialen Wohnungsbau vorgesehenen
Bundesmittel. Denn die Förderung des sozialen Wohnungsbaus hat auch im Eigentumsbereich eine hohe Priorität.
({10})
Dazu kommen Ihre verheerende Politik bei der Bestandsförderung - das war eigentlich eine zwischen uns
unumstrittene Zielsetzung einer Reform des sozialen
Wohnungsbaus -, der Wegfall der Geltendmachung der
Vorkosten und der Verteilung des Erhaltungsaufwandes,
die Ablehnung unserer Initiative zur Förderung der mittelbaren Belegung und jetzt noch die Wahnsinnsidee, im
Mietrecht die Modernisierungskostenumlage in einer Zeit
zu senken, in der Hunderttausende von Altbauwohnungen
insbesondere in Ostdeutschland danach rufen, modernisiert zu werden.
({11})
Kurzum, meine Damen und Herren, Ihr Start in die
Wohnungsbaupolitik dieser Legislaturperiode war mehr
als mäßig. Selbst das viel beschworene Programm „Soziale Stadt“, das zu unserer Regierungszeit in der Arge
Bau mit entwickelt wurde, geht in Wirklichkeit zulasten
der Förderung des sozialen Wohnungsbaus. Die Gelder,
die Sie dort groß angepriesen ausgeben, haben Sie vorher
im sozialen Wohnungsbau doppelt und dreifach einkassiert.
({12})
Da nutzen auch PR-Kampagnen nichts, das war ein Fehlstart.
Ich resümiere: Es gibt nicht nur den Bruch von Wahlversprechungen von Rot und Grün in fast allen Bereichen
der Wohnungspolitik, sondern auch die Umwandlung des
ehemals erfolgreichen Ministeriums für Raumordnung,
Städtebau und Wohnungswesen in eine ineffiziente Großmaschinerie, die einen Teil dieser desolaten Wohnungspolitik mitverschuldet.
({13})
Meine Damen und Herren, Herr Minister Klimmt ist
jetzt auf seinen Haushaltsentwurf für das Jahr 2001 sehr
stolz. Für den Wohnungs- und Städtebau verkündet die
Propagandaabteilung des Ministeriums einen Ausgabenzuwachs von 1,6 Milliarden DM. Das ist wieder schöngerechnet. In Wirklichkeit muss er ein Zusammenstreichen
um rund 0,5 Milliarden DM im Investitionsbereich hinnehmen. Was ist der Trick? Für das Vergleichsjahr 2000
legt er den um 2 Milliarden DM unterdotierten Ansatz für
Wohngeldausgaben zugrunde und kann alles kaschieren,
was er im investiven Bereich losgeworden ist.
({14})
Meine Damen und Herren, es gibt ein Zitat unserer
schon erwähnten Kollegin Anke Fuchs, Vizepräsidentin
dieses Hauses und Präsidentin des Mieterbundes, über das
es sich nachzudenken lohnt: „Die notwendige Reform des
sozialen Wohnungsbaus ist jetzt schlichtweg überfällig.“
Das sagte sie im letzten Jahr, als Sie noch einen Etatansatz
von 600 Millionen DM hatten. Davon sind jetzt noch
450 Millionen DM übrig geblieben und Sie wollen das als
riesige Reform des sozialen Wohnungsbaus aufblasen. So
nicht, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition!
({15})
Herr Kollege Kansy,
die Bemerkungen zur Vizepräsidentin Fuchs waren schon
außerhalb Ihrer Redezeit.
({0})
Ich werde ihr Ihre herzlichen Grüße übermitteln.
Ich schließe die Aussprache.
Tagesordnungspunkt 15 a: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3664 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 15 b: Abstimmung über den von
der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Gesetzentwurf
zur Änderung des Wohnungsbindungsgesetzes und des
Altschuldenhilfe-Gesetzes, Drucksache 14/2763. Der
Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 14/3578, den Gesetzentwurf abzulehnen.
Ich lasse über den Gesetzentwurf der CDU/CSU auf
Drucksache 14/2763 abstimmen und bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von
CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS abgelehnt.
Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere
Beratung.
Zusatzpunkte 10 und 11: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3676 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Vorlage auf Drucksache 14/3668 soll ebenfalls an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Ist das Haus damit einverstanden? - Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU
Importverbot für qualgezüchtete Tiere
- Drucksache 14/3505 Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({1})
Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung
Die Kolleginnen und Kollegen Marianne Klappert,
Heinrich-Wilhelm Ronsöhr, Ulrike Höfken, Ulrich
Heinrich und Eva Bulling-Schröter geben ihre Reden zu
Protokoll.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 14/3505 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({2}) zu
dem Antrag der Abgeordneten Heidemarie Ehlert,
Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS
Bekämpfung der sinkenden Zahlungsmoral
durch Änderung des Umsatzsteuerrechtes
({3})
- Drucksachen 14/1878, 14/2843 -
1) Anlage 5
Berichterstattung:
Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme
Die Kolleginnen und Kollegen Simone Violka, Jochen-
Konrad Fromme, Werner Schulz und Jürgen Türk geben
ihre Reden zu Protokoll.1) Zu Wort gemeldet hat sich die
Kollegin Heidi Ehlert für die PDS. - Bitte.
({4})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass
Sie so stöhnen. Ich habe die Tagesordnung nicht gemacht.
Am Brandenburger Tor sitzen oder liegen seit bereits
25 Tagen verzweifelte Handwerkerinnen, die versuchen,
durch ihren Hungerstreik Politikerinnen und Politiker auf
ihre Situation aufmerksam zu machen. Leider erhalten sie
von dieser Seite wenig Resonanz. Ausstehende Zahlungen hatten ihre Familienbetriebe in den Konkurs getrieben. Sie selbst haben einige hunderttausend Mark Schulden und leben inzwischen von Sozialhilfe. Ihre Angestellten sind arbeitslos. Ja, ein paar hunderttausend Mark
an ausstehenden Rechnungen sind keine Million und
Monika Schönemann ist nicht Philipp Holzmann.
({0})
Ein Sofortprogramm der Regierung zur Lösung ihrer Probleme gibt es nicht.
Meine Damen und Herren, der Aufschrei der Hungerstreikenden umreißt nachdrücklich ein ernsthaftes wirtschaftliches Problem, das zunehmend kleine und mittlere
Unternehmen bewegt: die immer schlechter werdende
Zahlungsmoral von Privaten, aber auch der öffentlichen
Hand. Durch Zahlungsverzug nehmen die Liquiditätsprobleme zu. Viele Betriebe können die durch den Zahlungsverzug auftretenden finanziellen Engpässe nur kurzzeitig abfangen bzw. müssen diese durch kurzfristige Kredite oder Überziehungskredite decken. Immer häufiger
kommt es aus diesem Grunde zum Konkurs und damit
zum Verlust von Arbeitsplätzen.
Die Wirtschaftsauskunftei Creditreform verzeichnete
in den ersten sechs Monaten dieses Jahres mit bundesweit
5 800 Fällen eine Verdoppelung gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Mit dem Gesetz zur Beschleunigung fälliger
Zahlungen wurde ein erster Schritt zur Bekämpfung der
schlechten Zahlungsmoral getan. Aber es sind weitere
Maßnahmen notwendig. Auch durch das Umsatzsteuerrecht wird der mangelnden Zahlungsmoral Vorschub geleistet. Es begünstigt gegenwärtig diejenigen Unternehmen, die sich die ihnen von anderen Unternehmen in
Rechnung gestellte Umsatzsteuer vom Finanzamt - unabhängig von der Bezahlung der Rechnung - als Vorsteuer
erstatten lassen.
({1})
Die Berechnung der Umsatzsteuer nach den vereinnahmten und nicht nach den vereinbarten Entgelten erleichtert Unternehmen, deren Gläubiger in den Zahlungen
säumig sind, zunächst das Überleben. Andererseits können diejenigen, die bisher die Vorsteuer in Anspruch nahmen, ohne jedoch für die Leistungen entsprechend den
Fristen zu bezahlen, diese erst nach Zahlung der Rechnung in Anspruch nehmen. Damit wird meines Erachtens
die Zahlungsmoral positiv beeinflusst. Der Unternehmer
wird durch das Entstehen der Steuerschuld erst nach der
Bezahlung seiner Ausgangsrechnung liquiditätsmäßig
entlastet. Er ist also daran interessiert zu zahlen.
Auch der Fiskus würde von der Geltendmachung des
Vorsteuerabzugs nach der Bezahlung der Rechnung
profitieren, denn er wäre nicht mehr - wie bisher sehr oft Kreditinstitut für Unternehmer, die die Vorsteuer in Anspruch nehmen, obwohl sie selbst überhaupt nicht daran
denken zu zahlen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in der Bundesrepublik ist die Besteuerung nach vereinbarten Entgelten
leider bereits seit 1968 die Regel. Lediglich für Kleinunternehmen und für Unternehmer in den neuen Bundesländern mit einem Gesamtumsatz bis zu 1 Million DM gibt
es bis zum Jahr 2004 eine Ausnahmeregelung. Allerdings
ist das Vorsteuerabzugsrecht nicht von dieser Regelung
betroffen. Insofern ist diese Lösung halbherzig.
Unsere Forderung ist, im Interesse einer Verbesserung
der Zahlungsmoral die Ist-Besteuerung für kleinere und
mittlere Unternehmen auf das gesamte Bundesgebiet auszudehnen
({2})
und den Vorsteuerabzug erst zum Zeitpunkt der Entgeltzahlung zuzulassen.
({3})
Eine ähnliche Regelung gibt es bereits in Großbritannien.
Sie widerspricht also nicht den vereinbarten EU-Richtlinien, wie bisher immer wieder behauptet wurde.
Mit der Annahme unseres Antrages wäre zwar den hungerstreikenden Handwerkerinnen, die bereits in Konkurs
sind, nicht geholfen, wohl aber vielen anderen, denen
durch ausstehende Bezahlungen das Geld für die Zahlung
der Umsatzsteuer einfach fehlt. Deshalb bitte ich Sie,
meine Damen und Herren: Stimmen Sie diesem Antrag
zu.
({4})
Ich schließe die Aus-
sprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Frak-
tion der PDS zur Bekämpfung der sinkenden Zahlungs-
moral durch Änderung des Umsatzsteuerrechtes,
Drucksache 14/2843. Der Ausschuss empfiehlt, den An-
trag auf Drucksache 14/1878 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Ent-
haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den
Vizepräsident Rudolf Seiters
1) Anlage 4
Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Uwe Jens, Dr. Ditmar Staffelt, Hermann
Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Dr. Antje
Vollmer, Margareta Wolf ({0}), Volker Beck
({1}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der nationalen Buchpreisbindung
- Drucksache 14/3509 ({2})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({3})
- Drucksache 14/3699 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Uwe Jens
Die Kollegen Siegmar Mosdorf, Dr. Norbert Lammert,
Antje Vollmer, Gudrun Kopp und Dr. Heinrich Fink haben
ihre Reden zu Protokoll gegeben.1)
Deshalb kommen wir zur Abstimmung über den von
den Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Sicherung der nationalen
Buchpreisbindung, Drucksache 14/3509. Der Ausschuss
für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache
14/3699, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf
ist auch in dritter Lesung einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:
Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines
Zweiten Gesetzes zur Änderung des Rindfleischetikettierungsgesetzes
- Drucksachen 14/3369, 14/3648 ({4})
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
({5})
- Drucksache 14/3700 -
Berichterstattung:
Abgeordneter Helmut Heiderich
Die Redebeiträge der Kollegen Jella Teuchner, Peter
Bleser, Ulrike Höfken, Ulrich Heinrich und Kersten
Naumann werden zu Protokoll gegeben.2)
Wir kommen damit gleich zur Abstimmung über den
soeben genannten Gesetzentwurf, Drucksachen 14/3369,
14/3648 und 14/3700. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Kollege von Klaeden fühlt sich etwas vereinsamt.
({6})
- Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist
unter Anwesenheit aller Fraktionen einstimmig angenommen.
({7})
Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Forsten empfiehlt unter Ziffer II seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3700 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich danke Ihnen. Ich berufe die nächste Sitzung
des Deutschen Bundestages ein auf morgen, Freitag, den
30. Juni 2000, 9 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen.