Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/29/2000

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Gerhard Schröder (Kanzler:in)

Politiker ID: 11002078

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Nacht zum 15. Juni hat sich die Bundesregierung mit der Energiewirtschaft darauf geeinigt, die Nutzung der Kernenergie geordnet zu beenden. Gleichzeitig wird für die verbleibende Laufzeit der sichere und ungestörte Betrieb der existierenden Anlagen gewährleistet. Die breite Zustimmung, welche die Einigung bei den Koalitionsparteien, aber auch in der öffentlichen Meinung und in der Energiewirtschaft gefunden hat, zeigt, dass wir einen fairen Kompromiss gefunden haben. Nur die Opposition malt wegen des Ausstiegs aus einer angeblichen Zukunftsenergie gleichsam den Untergang des Abendlandes an die Wand. ({0}) Warum, so frage ich mich, wollen Sie die Realität nicht nur in Deutschland nicht zur Kenntnis nehmen? Kein Unternehmen der Energiewirtschaft denkt auch nur im Traum daran, in absehbarer Zeit in Deutschland irgendeinen Antrag für den Neubau eines Kernkraftwerkes zu stellen. Kein Energieunternehmen dachte und denkt im Traum daran, ein solches Kraftwerk zu errichten. Der Investitionsbedarf je Kilowattstunde liegt bei der Kernenergie mindestens doppelt so hoch wie bei anderen Energieträgern. Den Energiestandort Deutschland werden wir mit der Kernenergie nicht sichern oder gar entwickeln können. Dieses Problem ist auf der Seite der Opposition immer noch nicht erkannt worden. ({1}) Gleichzeitig - das mussten wir insbesondere bei einigen CSU- und CDU-geführten Länderregierungen feststellen - verweigern Sie sich der Lösung der schwierigen Probleme, die die Nutzung der Kernenergie vor allen Dingen auf dem Entsorgungssektor mit sich bringt. ({2}) - Das ist keine üble Nachrede. Schauen Sie sich doch mal die Erklärungen Ihres Herrn Stoiber an! Was passiert denn beständig in Bayern? Da predigt man den Ausbau der Kernenergie, glaubt aber, dass andere Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen die Entsorgungsfragen für Bayern lösen. ({3}) Das ist klassische Politik nach dem Sankt-Florians-Prinzip: Man hält die Fahne hoch, aber die Arbeit sollen die Präsident Wolfgang Thierse anderen machen. Das ist Verantwortung, wie sie Bayern versteht. So geht das nicht. ({4}) Wer sich wie der eine oder andere Ministerpräsident es ist übrigens nicht nur Herr Stoiber; auch bei Herrn Teufel ist Ähnliches festzustellen - für die Nutzung der Kernenergie stark macht, aber ausschließlich den anderen Bundesländern die Entsorgungslasten, also die Entsorgung der radioaktiven Abfälle, überlassen will, der macht sich wirklich total unglaubwürdig. ({5}) Eine solche Politik zulasten anderer darf es nicht geben. Wir haben damit Schluss gemacht. Wir werden diese Politik auch in Zukunft nicht durchgehen lassen. Über viele Jahre hinweg hat die Nutzung der Kernenergie zu heftigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in unserem Land geführt. Die Bilder von massiven, teilweise auch gewaltsamen Protestaktionen haben sich in unser aller Gedächtnis eingeprägt. Von Wyhl über Wackersdorf bis hin nach Brokdorf und Gorleben reichen die Spuren dieses gesellschaftlichen Konfliktes. Das politische Bewusstsein einer ganzen Generation wurde durch die Auseinandersetzungen um die Kernenergie mitbestimmt. Anhänger und Gegner standen einander jahrzehntelang fast unversöhnlich gegenüber. Als in jener Nacht zum 15. Juni 2000 die Einigung erzielt war und ein grüner Umweltminister ({6}) - das ist so und Sie können sicher sein, dass das noch lange so bleiben wird ({7}) und die Chefs der wichtigsten Unternehmen der deutschen Energiewirtschaft zugestimmt hatten - ich verstehe ja, dass Ihnen das sehr Leid tut; aber sie hatten Gründe, so zu handeln -, ({8}) wurden diese Konflikte beendet. Ein kurzer Blick zurück hilft, das Ergebnis richtig einzuordnen. Fast über ein Jahrzehnt hinweg wurde in insgesamt drei Anläufen versucht, einen solchen Konsens zu vereinbaren. Ich weiß wirklich, wovon ich rede. Ich habe selbst viel Zeit investiert, um den unfruchtbaren Grundsatzstreit über die Kernenergie zu beenden und - das ist genauso wichtig - die drängenden praktischen Probleme, die damit zusammenhängen, wirklich zu lösen. Mehrmals hätte es fast geklappt. Jetzt ist es so weit. ({9}) Dass es im dritten Anlauf gelungen ist, ist ein Erfolg der Bundesregierung, aber auch ein Zeichen für die politische Kultur in unserem Land. Gerade den Menschen, die in Wackersdorf und Gorleben friedlich gegen Kernkraft demonstriert haben, ({10}) sage ich: Ich weiß, dass es vielen nicht schnell genug gegangen ist. Aber bei aller Kritik im Einzelnen muss man sehen, dass es nicht anders möglich war. Wir haben kontroverse Positionen zusammenbringen müssen. Daher ist es kein Wunder, dass Kompromisse gemacht werden mussten. Im Mittelpunkt der Vereinbarung steht ein Kompromiss über die Regellaufzeit der Anlagen. Ursprünglich hatten die Kraftwerksbetreiber 40 Volllastjahre gefordert. Selbst in der Schlussrunde hatten sie 35 Kalenderjahre als Mindestlaufzeit verlangt. Die Bundesregierung - Sie wissen das - ging nach gewiss schwierigen Einigungsgesprächen auch innerhalb der Koalition - das soll überhaupt nicht bestritten werden - mit der Forderung nach 30 Kalenderjahren in die Verhandlungen. Die vereinbarte Regellaufzeit von 32 Kalenderjahren stellt einen fairen und auch für die Gegner der Kernenergie vertretbaren Kompromiss dar. ({11}) Ich weiß, wie schwer dieser Kompromiss auch den Chefs der Versorgungsunternehmen gefallen ist. Sie müssen ihre Entscheidungen - sie können das jetzt auch - vor ihren Aktionären, aber auch vor den Beschäftigten rechtfertigen. Ihre Zustimmung wurde sicher durch die vereinbarte Flexibilisierung der Laufzeiten erleichtert. Sie erlaubt den Unternehmen, moderne und wirtschaftliche Anlagen länger zu betreiben, wenn sie dafür ältere und weniger wirtschaftliche Anlagen früher stilllegen. Ich will aber eines sehr klar machen: Flexibilisierung bedeutet nicht, dass die Betriebsdauer der Anlagen in das Belieben der Unternehmen gestellt worden sei. Vielmehr wurde für jedes Atomkraftwerk auf der Basis der Regellaufzeiten eine feste Strommenge vereinbart, welche das Kraftwerk in der verbleibenden Restlaufzeit noch produzieren darf. Nur wenn ein Kraftwerk früher als vereinbart vom Netz geht, darf ein anderes länger laufen. Wenn ältere Anlagen abgeschaltet werden, erhöht dies insgesamt betrachtet auch das Sicherheitsniveau der noch bestehenden, der laufenden Anlagen. Die älteren sind in der Regel schlechter als moderne Kraftwerke gegen Störfälle geschützt. Es gibt Ausnahmen. Das ist bekannt. Auch darauf kann reagiert werden. Somit war die Flexibilisierung der Laufzeiten der Schlüssel, um das Interesse der Betreiber an einem wirtschaftlichen Betrieb der Anlagen, um das es uns entgegen dem, was so geredet worden ist, immer auch ging, mit unserem gemeinsamen Interesse an einer verbesserten Sicherheit vereinbaren zu können. Im Übrigen gibt es beim Thema Sicherheit keinen Rabatt. Ich will hier ganz klar hinzufügen, dass von den Gesprächspartnern auch nie ein Rabatt in puncto Sicherheit gefordert worden ist. Kernkraftwerke müssen in DeutschBundeskanzler Gerhard Schröder land weiterhin auf einem auch international gesehen sehr hohen Sicherheitsniveau betrieben werden. ({12}) Darüber hinaus haben wir uns darauf verständigt, dass erstmals die Pflicht zur periodischen Sicherheitsüberprüfung gesetzlich verankert wird. Ganz entscheidend kommt es mir darauf an, dass bei der Entsorgung der radioaktiven Abfälle der nun wirklich vorhandene Problemstau aufgelöst wird. Schließlich war es die neue CSU-Vorsitzende, Frau Merkel, die 1998 - ({13}) - Das war wirklich keine Absicht, obwohl man das hätte vermuten können. Entschuldigung. ({14}) Es war die CDU-Vorsitzende, Frau Merkel, die 1998 wegen der Überschreitung von Grenzwerten den Transportstopp verhängt hatte. Heute sind wir uns mit den Ländern und den Unternehmen über das Sicherheitspaket für die Transporte einig. Ebenso haben wir uns mit der Energiewirtschaft über die Beendigung der Wiederaufarbeitung verständigt. Dabei werden die bestehenden internationalen Vereinbarungen eingehalten. Auch hier geht es nicht nur um sichere Entsorgung, sondern die Beendigung der Wiederaufarbeitung liegt auch im wirtschaftlichen Interesse der versorgenden Unternehmen. Die fast an Hysterie grenzende Erregung wegen der Errichtung standortnaher Zwischenlager kann ich nun wirklich nicht nachvollziehen. ({15}) Tatsächlich haben sich die Regierungschefs von Bund und Ländern schon 1979 in diesen viel zitierten Vereinbarungen darauf verständigt, dass weitere Zwischenlager notwendig sind. Der bayerische Ministerpräsident, der sich so gern auf diese Verständigung beruft, lässt diesen Teil allerdings unter den Tisch fallen. ({16}) So etwas nennt man wohl selektive Wahrnehmung. ({17}) Im Übrigen sind die standortnahen Zwischenlager vernünftig. Wir wollen und wir werden damit erreichen, dass unnötige Transporte in die regionalen Zwischenlager, also nach Ahaus und Gorleben, unterbleiben. Auch das, denke ich, liegt in unser aller Interesse. Darüber hinaus ist es auch wirtschaftlich vernünftig. Vor allen Dingen bedeutet die neue Regelung auch eine faire Lastenverteilung zwischen den Bundesländern. Damit wird deutlich, dass die Entsorgung der radioaktiven Abfälle wirklich alle Bundesländer betrifft und nur in gemeinsamer Verantwortung aller Bundesländer getragen werden kann. Jene Drohungen, die wir da hören, wer alles was nicht genehmigen werde, zeugen wirklich von totaler Verantwortungslosigkeit, was diese Frage angeht. ({18}) Im Übrigen handelt es sich hier um Zwischenlager und nicht um Endlager. Das betone ich ausdrücklich, weil es gelegentlich Erklärungen gibt, die da Missverständnisse aufkommen lassen sollen. In der Vereinbarung mit der Energiewirtschaft bekennt sich der Bund ausdrücklich zu seiner gesetzlichen Pflicht, ein Endlager für radioaktive Stoffe einzurichten. Die Erkundung des Salzstocks in Gorleben wird für mindestens drei, längstens jedoch zehn Jahre unterbrochen. In diesem Zeitraum sollen die bestehenden Zweifel an der Eignung des Salzstocks überprüft werden. Bereits jetzt arbeitet eine Expertengruppe daran, Eignungskriterien für ein Endlager festzulegen - damit auch klar wird, dass die Eignungskriterien abstrakt festgelegt werden müssen und dann geprüft werden muss, ob ein bestimmtes Endlager geeignet ist oder nicht. Ich fordere die Länder nachdrücklich auf, bei der Umsetzung der Vereinbarung konstruktiv mitzuarbeiten. Ich denke, dies liegt im Interesse der Entsorgung und damit im Interesse der Unternehmen und der Beschäftigten. Wer auch auf diesem Feld, wie ich habe lesen müssen, Erklärungen abgibt, was er alles nicht mit verantworten will, der macht sich selbst verantwortlich, wenn Entsorgung nicht funktioniert, und hat dann auch die wirtschaftlichen Folgen dessen zu verantworten. Nachdem wir den Grundsatzstreit um die Kernenergie politisch beendet haben, kommt es jetzt darauf an, den Blick nach vorn zu richten. Wir stellen fest, dass sich die europäische Energiewirtschaft in einem dramatischen Umbruch befindet. Die Liberalisierung der Märkte hat den Druck auf Kosten und Preise enorm verschärft. Im harten europäischen Wettbewerb sind die Unternehmen auf langfristig kalkulierbare Rahmenbedingungen angewiesen. Die gemeinsam erzielte Vereinbarung gibt ihnen die notwendige Planungssicherheit. Gemeinsam werden Bundesregierung und Energiewirtschaft daran arbeiten, eine umweltverträgliche und wettbewerbsfähige Energieversorgung zu erhalten und weiterzuentwickeln. Der gefundene Konsens ermöglicht den Unternehmen die wirtschaftliche Optimierung ihrer Anlagen, die Sicherung der Arbeitsplätze und einen gleitenden Übergang in einen neuen Mix der Energieträger. Vor allem stehen wir vor der Herausforderung, die Erfordernisse des Klimaschutzes und einer wettbewerbsfähigen Energiewirtschaft miteinander vereinbar zu machen. Auf dem Weg zu einer umweltverträglichen und wettbewerbsfähigen Energiepolitik hat die Bundesregierung auch nach dem internationalen Urteil bereits wichtige Marksteine gesetzt: Wir unterstützen massiv die Photovoltaik. Unser Programm vor allen Dingen für die Kraft-Wärme-Kopplung im Bereich der öffentlichen Energieversorgung wird nicht nur in Deutschland als vorbildlich begriffen. Weiterhin - das ist mir wichtig setzen wir auf die heimischen Energieträger, also auf Steinkohle und Braunkohle gleichermaßen. Moderne Kraftwerke mit niedrigen Umweltbelastungen und hohen Wirkungsgraden weisen da den Weg. Vergangene Woche habe ich in Lippendorf das modernste Braunkohlekraftwerk der Welt mit eröffnen dürfen. Für die Zukunft wird es aber entscheidend sein, dass wir hier in unserem Land etwas tun, was man im Bereich der Energiewirtschaft „Effizienzrevolution“ nennt. Mit dem Einsatz moderner Technik können wir in 20 Jahren die Nachfrage nach Energieträgern um ein Drittel vermindern. Dazu gehört übrigens das Dreiliterauto ebenso wie das Strom sparende Fernsehgerät und das hoch effiziente Kraftwerk. Bei einer weltweit steigenden Nachfrage nach Energieträgern machen wir damit unsere Volkswirtschaft unabhängiger und damit fit für die Zukunft. Gleichzeitig entlasten wir durch einen sinkenden Energieverbrauch die Umwelt. ({19}) Meine Damen und Herren, ich will die Hoffnung nicht aufgeben, dass auch noch einige Ministerpräsidenten der deutschen Länder zu der Einsicht kommen, dass es sich auch aus wirtschaftlichen Gründen nicht lohnt - von Gesellschaftspolitik will ich in diesem Zusammenhang und in Bezug auf sie erst gar nicht sprechen -, gleichsam in die strahlende Rüstung des Atomritters zu schlüpfen, um ein letztes Mal die Schlachten der Vergangenheit zu schlagen. ({20}) Ich hoffe, dass begriffen wird, dass diese Konsensvereinbarung den Weg für eine neue und wirklich zukunftsfähige Energiepolitik freimacht. Diesen Weg wird die Koalition auch in Zukunft entschlossen gehen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({21})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Angela Merkel, CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, als Sie soeben versuchten, uns in die Nacht vom 14. auf den 15. Juni 2000 zu entführen, da habe ich zwei Dinge Revue passieren lassen: Zum einen habe ich mich an die Castortransporte und an die vielen Gespräche mit Menschen erinnert, die große Angst vor diesen Transporten und vor der friedlichen Nutzung der Kernenergie hatten und haben. Ich brauche nicht zu betonen, dass ich immer anderer Meinung war und die friedliche Nutzung der Kernenergie für vertretbar halte. Aber diese Menschen haben meinen Beteuerungen im Hinblick auf die Sicherheit der deutschen Kernkraftwerke und der Castortransporte nicht glauben wollen. Ich bin damals zur Bürgerinitiative nach LüchowDannenberg gefahren, habe mit den Menschen dort gesprochen und mir ihre Sicht der Dinge schildern lassen. Ich weiß, dass diese Menschen gefordert haben, sofort auszusteigen, und zwar deshalb, weil sie jeden Energiekonsens, der den Ausstieg aus der Kernenergie in bestimmten Zeiträumen vorsieht, ablehnten, weil sie die Verantwortung für die Kernenergie auch vorübergehend für nicht tragbar hielten. Diese Menschen hatten an den Regierungswechsel, an Rot-Grün, große Erwartungen. Sie haben deshalb gefordert: Dieser Ausstieg muss sofort erfolgen. ({0}) - Herr Präsident, darf ich um Ruhe bitten. ({1}) Je mehr Sie schreien, umso wahrer wird es. Sie wissen das doch; falls nicht, sollten Sie wieder mal nach LüchowDannenberg fahren. ({2}) Wenn ich mir die von Ihnen getroffene Vereinbarung anschaue, dann muss ich feststellen, dass die von Ihnen über Jahre vorgebrachte Argumentation, dass die Sicherheit der bestehenden Kernkraftwerke, die Sicherheit der Transporte und die Sicherheit der Zwischenlager nicht gewährleistet seien, offensichtlich falsch war. ({3}) Denn Ihre Vereinbarung mit der deutschen Atomenergiewirtschaft lautet, dass der Betrieb von Kernkraftwerken, die Lagerung von Atommüll und alles, was dazugehört, in den nächsten 32 Jahren vertretbar bzw. verantwortbar sind. Das ist aus dem Blickwinkel vieler Menschen, die sich täglich Sorgen gemacht haben, ein langer Zeitraum. ({4}) Herr Bundeskanzler, es geht offensichtlich nicht um das, was Sie viele Jahre gesagt haben, und schon gar nicht um das, was die Herrschaften von den Grünen gesagt haben. Sie haben nicht wegen des Umweltschutzes, nicht wegen der Energieversorgung und nicht wegen der Wirtschaftlichkeit eine Vereinbarung getroffen, sondern um taktische, ideologische Vorhaben auf gerade noch vertretbare Art und Weise umzusetzen. ({5}) Wenn Sie in dieser Vereinbarung jetzt davon sprechen, dass die periodische Sicherheitsüberprüfung, wie wir sie mit den Betreibern auf freiwilliger Basis festgelegt hatten, ins Gesetz übernommen werden soll, dann sagen Sie implizit, dass die Sicherheit immer gewährleistet war. Das möchte ich hier einfach einmal festhalten: Die Sicherheitsphilosophie wird in dieser Vereinbarung in keinem einzigen Punkt angetastet. Sie hat sich bewährt und deshalb wird sie auch noch 30 Jahre reichen. ({6}) Ich kann mich noch sehr gut an die Behauptung erinnern - ich weiß nicht, ob Frau Griefahn im Raume ist, die das immer besonders klar ausgesprochen hat -, dass es sich bei den Hallen in Gorleben und Ahaus sozusagen um völlig unsichere „Tennishallen“ handle. Dies alles haben Sie inzwischen akzeptiert, weil es richtig und vernünftig war. Nach Ihrer Meinung soll nun an jedem Kernkraftwerk ein solches Zwischenlager errichtet werden. Worum geht es eigentlich? Herr Bundeskanzler, Sie sagen, Sie hätten in der Entsorgungsfrage, die in der Tat die entscheidende Frage im Hinblick auf die Verantwortbarkeit der Nutzung der Kernenergie ist, Fortschritte erzielt. Ich kann dies nicht erkennen. Die Erkundungen von Gorleben sind weit fortgeschritten. Sie trauen sich nicht zu sagen, dass Gorleben nicht geeignet ist. Sie trauen sich auch nicht, ein langjähriges Moratorium zu beschließen, weil Sie Angst haben, dann mit dem Rechtsstaat in Konflikt zu geraten. ({7}) Aber Sie sagen, Sie werden den Entsorgungsvorsorgenachweis dahin gehend ändern, dass der Betrieb von Kernkraftwerken nicht mehr an Fortschritte im Endlagerbereich gebunden ist. Damit machen Sie implizit die Zwischenlager für lange Zeit zu Quasiendlagern. Sie tun das, was Sie selbst als Teufel an die Wand gemalt haben: Das Flugzeug, das in der Luft ist und nicht landen kann, erheben Sie nun zum eigenen Maßstab, indem Sie sich weigern, weitere Erkundungen für Endlager durchzuführen. Das ist die Wahrheit. ({8}) Der zweite Punkt. Herr Bundeskanzler, Sie haben im Zuge dieser Gespräche nicht einen einzigen Versuch unternommen, mit den Ministerpräsidenten über eine Weiterentwicklung des Bund-Länder-Abkommens von 1979 zu verhandeln. ({9}) Sie waren selber lange Jahre Ministerpräsident. Sie müssten wissen, dass sich diese Art des Umgangs einer Bundesregierung mit den Bundesländern auf Dauer rächt, dass man so nicht vorgehen kann. Sie haben nicht einmal den Versuch unternommen, mit denen zu sprechen, mit denen Sie hätten sprechen können. Sie haben das einfach ignoriert, ein Abkommen mit der Wirtschaft gemacht und gedacht, damit sei die Sache vom Tisch. Ich sage Ihnen voraus: Die Sache ist damit nicht vom Tisch, weil wasserrechtliche und baurechtliche Genehmigungsverfahren in die Kompetenz der Länder fallen. Deshalb werden Sie Schwierigkeiten bei der Umsetzung Ihres Lagerkonzeptes bekommen, die Sie persönlich herbeigeführt haben, indem Sie nicht mit den Ministerpräsidenten gesprochen haben, wie es sich kollegialerweise gehört hätte. ({10}) Herr Bundeskanzler, Sie haben immer gesagt: Wer aussteigt, muss auch wissen, wo er einsteigt. Nun habe ich in dieser Vereinbarung den wegweisenden Satz gefunden, dass die Bundesregierung und die Elektrizitätsversorgungsunternehmen darüber sprechen werden, wie umweltverträgliche und wettbewerbsfähige Energieversorgung in Deutschland gestaltet werden kann. Ich finde nicht, dass dies eine Bemerkung zu dem Thema „Wer aussteigt, muss auch wissen, wo er einsteigt“ ist. Ich sehe in all Ihren Vereinbarungen nicht einen einzigen Hinweis darauf, wo Sie einsteigen wollen und wie Sie die Defizite beheben wollen, die Sie durch diese Vereinbarung hervorrufen. ({11}) Herr Bundeskanzler, an einer Stelle haben Sie die Katze etwas aus dem Sack gelassen. Als nämlich in Nordrhein-Westfalen Wahlkampf war, haben Sie gesagt: Für die Kohlekumpel ist der Ausstieg aus der Kernenergie gut. Das heißt aber für mich: Für das Klimaschutzziel ist er mit Sicherheit nicht gut. ({12}) Für mich bleibt ein Rätsel, wie nach dem Ausstieg aus der Kernenergie ein klimaverträglicher, CO2-freier Ersatz für den 30-prozentigen Anteil der Kernenergie an der Grundlast unserer Energieerzeugung geschaffen werden könnte. Sie wollen - das hatten auch wir festgeschrieben - den Anteil der erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2010 auf 10 Prozent steigern. Das ist ein ehrgeiziges Ziel. Aber selbst wenn Sie annehmen, dass die gesamte erzeugte erneuerbare Energie für den Grundlastbereich eingesetzt wird, was schon nicht wahr ist, bliebe noch immer eine Differenz von 20 Prozent, über die Sie in dieser Vereinbarung kein einziges Wort verloren haben. Im Übrigen: Die Wirtschaft hatte gar keine andere Wahl, als dieser Übereinkunft zuzustimmen. Sie haben hier viel von Gesellschaftspolitik gesprochen. Die Art von Gesellschaftspolitik, die diese Vereinbarung möglich gemacht hat und die über Jahrzehnte versucht wurde zu betreiben, halte ich für einen Rechtsstaat für außerordentlich kritisch, nämlich zu versuchen, mit einem ausstiegsorientierten Vollzug von Gesetzen die einmal von der Mehrheit beschlossenen Gesetze außer Kraft zu setzen. Wenn es aber so wäre, Herr Bundeskanzler, dass in Deutschland niemand daran denkt, ein neues Kernkraftwerk zu bauen, dann müssten Sie doch nicht in ein Atomgesetz schreiben, dass der Neubau verboten ist. ({13}) Es ist doch gerade nicht so, dass Sie sicher sein können, dass auf absehbare Zeit niemand mehr eine solche Entscheidung trifft. Wenn es nämlich so wäre, bräuchten wir uns alle gemeinsam gar nicht aufzuregen. Sie müssen den Neubau verbieten, weil Ihnen das ein ideologisches Grundanliegen ist. Meines Wissens ist es in der deutschen Geschichte zum ersten Mal der Fall, dass der Bau eines ganz bestimmten Typs von Anlagen grundsätzlich und per Gesetz verboten wird, ohne dass Sicherheitsaspekte, Schadstoffaspekte oder genehmigungsrechtliche Vorbehalte der Grund dafür sind. Deshalb halte ich diese Vereinbarung schon vom Prinzip her für schlecht. ({14}) Was die politische Kultur in unserem Lande anbelangt, so kann ich nur sagen, dass mich diese Abmachung mit äußerster Skepsis erfüllt. Es ist nämlich eine Abmachung, die die betreffende Branche relativ gut stellt, die aber seitens der Bundesregierung zulasten Dritter durchgeführt wird. ({15}) Sie geht erstens - ich will Ihnen dies aufzählen - zulasten der internationalen Sicherheitsstandards. Ich finde, man muss schon relativ ruhig schlafen können, wenn man akzeptiert, dass in Russland 15 Reaktoren vom Typ Tschernobyl stehen und Deutschland mutwillig und wissentlich aus dem technologischen Know-how und aus der Verbesserung von Sicherheitsvorschriften aussteigt. Meine Damen und Herren, durch diese Vereinbarung mit der deutschen Wirtschaft lassen natürlich die Reputation und das Gewicht Deutschlands zur Verbesserung von Sicherheitsbestimmungen beim Betrieb von Kernkraftwerken im internationalen Maßstab massiv nach. ({16}) Damit überlassen Sie Frankreich und Amerika das Feld. Die Internationale Atomenergiebehörde war auf dem Wege, international gemeinsame Sicherheitsstandards zu entwickeln. Deutschland wird sich dort nicht mehr einbringen können. Sie werden damit leben müssen, dass unser Einfluss gerade hinsichtlich der Verbesserung der Sicherheit russischer Kernkraftwerke nachlässt. Herr Bundeskanzler, bei Ihnen ist jetzt ein Wettrennen ausgebrochen, darauf zu achten, dass bloß kein Hermeskredit mehr zur Verbesserung der Sicherheit irgendeines Kraftwerks auf dieser Welt gegeben wird. Ich kann nur sagen: Dies hat für mich mit verantwortbarer Politik nichts zu tun. ({17}) Diese Vereinbarung geht zulasten des Klimaschutzes, zulasten der Ausbildungskapazitäten und ganzer Berufszweige sowie zulasten des technologischen Fortschritts in der Bundesrepublik Deutschland. ({18})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin Merkel, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Griefahn?

Dr. Angela Merkel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001478, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, ich gestatte keine Zwischenfragen. ({0}) - Ich möchte fortfahren. Herr Bundeskanzler, Ihre Bundesregierung fühlt sich angeblich dem Prinzip der Nachhaltigkeit verpflichtet. Sie haben eine politische Drucksituation herbeigeführt: Sie haben eine Branche dazu gezwungen, mit Ihnen ein Abkommen zu schließen. ({1}) - Aber Herr Struck, das ist doch ganz klar. ({2}) Sie haben gesagt, dass Sie dies ansonsten durch gesetzliche Maßnahmen erreichen werden. - Damit haben Sie der Nachhaltigkeit keinen Dienst erwiesen. ({3}) Meine Damen und Herren, Sie haben keine politische Alternative aufgezeigt. Ich persönlich sehe nicht, wie die Bundesrepublik Deutschland als Energiestandort erhalten bleiben kann. Ich habe aber auch noch nicht gehört, dass Sie sich wirklich dazu bekannt haben. Sie haben sich weder dazu bekannt, aus eigener Kraft die Versorgungssicherheit in Deutschland gewährleisten zu wollen, noch haben Sie sich dazu bekannt, dass Sie die Wettbewerbsfähigkeit erhalten wollen. Ich glaube, dass wir in diesem Hause - CDU und CSU werden dazu Vorschläge unterbreiten - einmal darüber diskutieren sollten, was das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland als eines hoch entwickelten Industrielandes ist und wie es gelingen kann, in der Energieversorgung aus eigener Kraft vorne zu sein. ({4}) Sonst, so sage ich Ihnen voraus, wird es dazu kommen, dass in unserem Land keine Energie mehr produziert wird, dass aus unserem Land alle energieintensiven Branchen flüchten, weil sie keine sicheren Investitionsbedingungen vorfinden. ({5}) Denn Sie wissen ganz genau, dass durch die Einführung der Ökosteuer und die Tatsache, dass Sie bei den Verhandlungen über eine europaeinheitliche Ökosteuer nachgelassen haben, für die deutsche Wirtschaft völlig unkalkulierbare Investitionsbedingungen entstanden sind. ({6}) Der Wettbewerbskommissar der EU hat den Ausnahmebestimmungen für die energieintensive Industrie bis zum Ende des Jahres 2003 zugestimmt. Aber Sie haben keine Antwort auf die Frage, wie es nach 2003 weitergeht. ({7}) Nach allen Regeln der Europäischen Union werden diese Subventionen dann auch als solche gewertet werden, werden die Ausnahmeregelungen bezüglich der Beihilfen wegfallen und muss die deutsche Wirtschaft anschließend die Ökosteuer voll zahlen. Sie sind dieses Risiko eingegangen, wieder aus rein ideologischen Gründen. Damit haben Sie, Herr Bundeskanzler, Ihr Wort gebrochen. Denn Sie haben versprochen: Erhöhung der Mineralölsteuer um höchstens sechs Pfennig, danach nur noch im Rahmen einer europaeinheitlichen Ökosteuer. Daran haben Sie sich nicht gehalten. ({8}) Diese Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen denkt nicht an morgen. Diese Vereinbarung ist nicht zu Ende gedacht. Sie ist alles andere als ein Konsens über die Energieproduktion und die Energieversorgung in der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist ein Übereinkommen zulasten Dritter. Deshalb ist diese Vereinbarung ein Teil dessen, was wir an Ihrer Politik grundsätzlich kritisieren: Es geht nicht, dass Sie - wie diese Vereinbarung zeigt - in einer Zeit der Globalisierung und Internationalisierung eine nationale und kleinkarierte Politik betreiben. ({9}) Es geht vielmehr darum, im internationalen Rahmen die soziale Marktwirtschaft weiterzuentwickeln. ({10}) Es geht darum, führend bei der Bestimmung von Sicherheitsstandards zu sein. Es geht darum, Forschungs- und Entwicklungspotenziale zu stärken, anstatt sie einzudämmen. Es geht darum, internationale Sicherheitsstandards weiterzuentwickeln. Und es geht darum, als Hochindustrieland selber Energie zu erzeugen, anstatt sie zu importieren. Deshalb, Herr Bundeskanzler, steht diese Vereinbarung für mich in einer langen Liste von Dingen, die Sie nicht zu Ende gedacht haben: Noch vor wenigen Jahren haben Sie einen Studiengang für IT-Fachleute in Hildesheim geschlossen. ({11}) Heute müssen Sie in einer Ad-hoc-Aktion die Green Card einführen. Ich sage Ihnen voraus, dass Ihnen bei der Kernenergie Ähnliches passieren wird. ({12}) Heute machen Sie eine Vereinbarung zum Ausstieg aus einer ganzen Hochtechnologiebranche und morgen, in wenigen Jahren, werden Sie ad hoc Spezialisten aus dem Ausland holen müssen, weil wir Know-how im Bereich der Kerntechnik brauchen. ({13}) Dies nennen wir eine Politik, die nicht zu Ende gedacht ist, die nicht generationenübergreifendes Denken einbezieht, die sich eben nicht auf die internationalen Rahmenbedingungen einstellt und die dem Gebot der Nachhaltigkeit gerade nicht gerecht wird. ({14}) Deshalb, Herr Bundeskanzler, werden wir - dafür haben Sie alle Voraussetzungen geschaffen - bei einem Regierungswechsel 2002 ({15}) diese Vereinbarung rückgängig machen und der Kernenergie in Deutschland wieder eine Perspektive geben. ({16})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Bundesminister Jürgen Trittin das Wort. Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass sich die Bundesregierung mit den Energieversorgungsunternehmen politisch darauf verständigt hat, die Nutzung der Atomkraftwerke in diesem Lande geordnet zu beenden, scheint bei Ihnen, in den Reihen der Opposition, ein großes Maß an Verwirrung ausgelöst zu haben. ({1}) Wer soll Ihnen denn eigentlich die Atomkraftwerke das heißt die Zukunftstechnologie, von der Sie hier die ganze Zeit reden - überhaupt noch bauen? Während Sie - Herr Huber hat das gesagt - von dem 14. Juni als schwarzen Tag für die Bundesrepublik sprechen, scheint es mir eher so zu sein, dass dies ein schwarzer Tag für schwarze Ideologen und atomare Glaubenskrieger gewesen ist, denen die Orientierung abhanden gekommen ist. ({2}) Verehrte Frau Merkel, Sie sind der Versuchung des Bundeskanzlers, sich hier in die atomare Strahlenrüstung zu werfen, erst im zweiten Teil Ihrer Rede nachgegangen. Im ersten Teil haben Sie versucht, sich als Sofortaussteigerin darzustellen. ({3}) Gnädige Frau, weder die schimmernde Rüstung des Atomstreiters noch die schwarze Jacke des Sofortaussteigers passt Ihnen. Beides steht Ihnen nicht. Sie sollten es lassen. ({4}) Meine Damen und Herren, mit der Befristung der Laufzeiten der 19 Atomkraftwerke hier in Deutschland auf 32 Jahre ab Produktionsbeginn sorgen wir dafür, dass hier die bestehenden Atomkraftwerke im Schnitt nach 13 Jahren vom Netz gehen. Und wir sorgen durch die exakte Bestimmung der Strommengen dafür, dass es sich dabei um einen selbstvollziehenden Ausstieg handelt. Wir wollen eben bei diesem Ausstieg keine quälenden gerichtlichen, insbesondere verwaltungsgerichtlichen Auseinandersetzungen. Der Eindruck, den Sie hier erwecken, Deutschland mache diesen Ausstieg im Alleingang, ist falsch. Es ist nicht nur so, dass sich eine Befristung auf 32 Jahre nach Inbetriebnahme international durchaus sehen lassen kann. Es gibt kein Land, in dem dies schneller geht. Nein, die Behauptung, dass überall um uns herum Atomkraftwerke gebaut und betrieben werden, die dann anschließend den Strom hier nach Deutschland liefern - man muss es an dieser Stelle noch einmal mit Nachdruck sagen -, stammt eher aus der Märchenküche des Deutschen Atomforums. Mit dem Ausstieg Deutschlands aus der Atomenergie ist nunmehr die Mehrheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union atomkraftwerksfrei oder hat entsprechende Ausstiegsbeschlüsse gefasst. Und - um auch das anzufügen - selbst im atomar so hoch entwickelten Frankreich herrscht mittlerweile ein Planungsstopp. Meine Damen und Herren, wir achten gerade bei dem Beitritt neuer Länder in die EU wie etwa Litauen oder Bulgarien darauf, dass die Stilllegung von unsicheren Reaktoren erfolgt. Diese Stilllegung von unsicheren Reaktoren wie Ignalina und andere ist für diese Länder Beitrittsvoraussetzung. Die Behauptung, uns wäre die Sicherheit in diesen Ländern egal, sollten Sie, meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund besser nicht länger aufrecht erhalten. ({5}) Wenn hier von der Verantwortung in der Entsorgungsfrage die Rede ist, dann muss ich allerdings sagen, Frau Merkel: Es ist schon ein starkes Stück, was Sie uns vorhalten. Wer war dafür verantwortlich, dass über Jahre hinweg in diesem Lande der einfache Transport von Atommüll nach Frankreich und nach Großbritannien sowie die Wiederaufarbeitung genannte Umwandlung dieses Mülls in noch giftigeren Müll, nämlich in Plutonium, als Entsorgungsnachweis gegolten haben? Sie waren dafür verantwortlich! Und Sie predigen uns etwas von Verantwortung? ({6}) Wir beenden die Produktion von Plutonium durch ein Verbot der Wiederaufarbeitung. Wir haben mit den Unternehmen vereinbart, dass künftig der Nachweis der tatsächlichen Verwertung und nicht die Ablieferung ins Ausland Voraussetzung dafür ist, dass wiederaufgearbeitet werden kann. Das bedeutet: Verantwortung ernst nehmen. ({7}) Ich füge eins hinzu: Aus dieser Verantwortung heraus reduzieren wir die Zahl der Atomtransporte drastisch. Die Energieversorgungsunternehmen tun auch dieses im Konsens mit uns. Wir wollen die drei Transporte des Atommülls aus dem Atomkraftwerk in die Wiederaufarbeitung, von der Wiederaufarbeitung in ein Zwischenlager und vom Zwischenlager dann irgendwann in ein Endlager auf einen einzigen Transport reduzieren. ({8}) Wir wollen die Zahl der Transporte nach Ahaus und Gorleben tunlichst auf ein Minimum reduzieren. Ich füge auch hinzu: Wir tun dies ohne Abstriche der Sicherheit. Für die Anwohner der Zwischenlager zum Beispiel in Gundremmingen oder Philippsburg gelten künftig die gleichen Sicherheitsstandards, meine Damen und Herren von CDU/CSU, wie Sie sie in Ahaus und Gorleben für ausreichend halten, wo der Müll, der in Philippsburg und Gundremmingen produziert wurde, bisher angeliefert wurde. Da gibt es keine Abstriche. ({9}) Ich füge ein Weiteres hinzu, wenn ich von Sicherheit spreche: Es gibt nicht nur keinen Rabatt bei der Sicherheit. Was bedeuten denn der geltende Sicherheitsstandard und die zugrunde liegende Sicherheitsphilosophie, von denen in dieser Vereinbarung die Rede ist? Nach den Vorschriften des Atomgesetzes ist der jeweilige Stand von Wissenschaft und Technik Grundlage für die Bestimmung von Sicherheit. Wir haben es hier mit einem dynamischen und sich weiterentwickelnden Sicherheitsprozess zu tun und nicht einfach mit dem Festschreiben eines heutigen technischen Standards. Dieses sage ich mit Nachdruck in Richtung Diskussion um Zwischenlager. Ich habe mit Freude gelesen, meine Damen und Herren, dass sich inzwischen auch der hessische Ministerpräsident Roland Koch unsere Auffassung von einem sicherheitsorientierten Vollzug des Atomgesetzes zu Eigen gemacht hat. ({10}) Ich habe mit gewissem Interesse zur Kenntnis genommen, dass hier gesagt worden ist, wir würden mit der Unterbrechung der Erkundung des Salzstocks in Gorleben die Frage der Entsorgung auf kommende Generationen verschieben. Nein, das tun wir nicht. Aber Sie haben sich damit, liebe Frau Merkel, selber ins Bein geschossen. Jahrelang haben Sie den Bürgerinnen und Bürgern in Gorleben, in Lüchow-Dannenberg erzählt, es ginge hier lediglich um eine standort- und entscheidungsoffene Erkundung. In Wirklichkeit - dafür bin ich Ihnen dankbar Bundesminister Jürgen Trittin haben Sie mit Ihrer heutigen Rede nachdrücklich unterstrichen, dass die Vorwürfe der Lüchow-Dannenberger Stimmen gerechtfertigt waren. Es ging in Gorleben nie um eine Erkundung. Es ging um den Bau eines Zwischenlagers, nein, eines Endlagers, um das Schaffen von Tatsachen. Dieses ungeprüfte Schaffen von Tatsachen stoppen wir mit dieser Vereinbarung. Das ist der Weg, den wir gehen. ({11}) Wir werden all die Zweifel an der Geeignetheit von Salz als Wirtsgestein, an der Frage, ob es nicht vernünftiger ist, Atommüll rückholbar zu lagern, an der Frage des Ein-Endlager-Konzepts in dem Zeitraum des Moratoriums entsprechend prüfen und in ein verantwortbares Konzept umsetzen. ({12}) Daher ist es auch vernünftig, dass wir das Endlager Schacht Konrad in Salzgitter vorerst nicht in Betrieb nehmen. Wir wollen offene Entscheidungen und keine Fakten durch Vorabentscheidungen schaffen. Ich füge hinzu: Ich freue mich, dass es an dieser Stelle endlich gelungen ist, diese entscheidungsoffene Diskussion eines verantwortbaren Endlagerkonzepts in Übereinstimmung mit den Energieversorgungsunternehmen zu einem Abschluss zu bringen. Wir werden in dieser Frage noch eine Reihe von Diskussionen, Gesprächen und Verhandlungen - auch mit den Ländern - zu führen haben. Liebe Frau Merkel, Ihre Rede war - mit Verlaub rückwärts gewandt. Sie sagen uns, wir müssten zu einem kollegialeren Verhältnis mit den Ministerpräsidenten der Länder kommen. Ich bin einmal Föderalismusminister gewesen, und weil ich aufgrund dieser Tatsache weiß, wovon ich rede, sage ich Ihnen: Wer jahrelang mit den Ländern nur in Form von bundesaufsichtlichen Gesprächen verkehrt hat, ist der Letzte, der sich hierher stellen und uns zu einem kollegialen Umgang mit den Ländern ermahnen darf. ({13}) Wenn es eine Verantwortung gibt, dann ist diese Verantwortung an einem Faktum am besten zu illustrieren: Unsere Kinder können es sich nicht aussuchen, ob sie noch in einer Welt mit oder ohne Atommüll leben können. Kein demokratischer Vorgang in Form von Abstimmung oder Wahl kann den durch die damalige Entscheidung verursachten Müll wieder aus der Welt schaffen. Der Einstieg in die Atomenergie war in der Tat unumkehrbar. Die Verantwortung dafür müssen diejenigen tragen, die damals diesen Beschluss gefasst haben. ({14}) Es geht heute darum, den Ausstieg aus dieser so belastenden und eben gerade nicht nachhaltigen Energieerzeugung - es ist das Gegenteil einer nachhaltigen Energiegewinnung - tatsächlich unumkehrbar zu machen. Ich habe wenige Tage nach den Verhandlungen in Klettwitz auf einer alten Braunkohlehalde den größten Windenergiepark Europas eröffnet. In unmittelbarer Nähe dieses Projekts werden zwei neue Anlagen ähnlicher Größenordnung installiert. Photovoltaikanlagen sind in Deutschland mittlerweile derart nachgefragt, dass die entsprechenden Anlagen auf dem deutschen Markt nicht mehr zu beschaffen sind. Wir erleben es - Sie wissen das sehr genau -, dass fast in jedem Dorf dieser Republik Biomasseanlagen geplant werden. Die Bundesrepublik ist heute schon Spitzenreiter in der Energieerzeugung durch Windkraft und erlebt einen Boom erneuerbarer Energien wie noch nie in der Geschichte. ({15}) Das ist die Wirklichkeit und Sie reden davon, wie wir den Einstieg in eine andere Energie schaffen. Dieser Einstieg läuft von selbst, findet jeden Tag statt und wir haben dafür die Rahmenbedingungen durch Energieeinsparung und Verbesserung der Energieeffizienz geschaffen. Dazu gehört auch die Ökosteuer. Frau Merkel, wenn Sie sich hier noch einmal als Hintze kostümiert hinstellen, holen wir Ihr altes Ökosteuerkonzept aus den Schubladen meines Ministeriums. ({16}) Wir wollen die Verdoppelung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2010. Wir haben davon nicht nur geredet, sondern dies in einem Gesetz umgesetzt. Wir wollen mögliche weitere Ersatzkapazitäten zum Beispiel durch Gaskraftwerke und eine entsprechende Erweiterung der Kraft-Wärme-Kopplung über den kommunalen Bereich hinaus mit dem Ziel einer Verdoppelung schaffen. Damit machen wir klar, dass Klimaschutz und Atomausstieg nicht in Widerspruch zueinander stehen. Nur wenn wir die atomaren Überkapazitäten abbauen, haben erneuerbare Energien und intelligente sowie effiziente Technologien am Markt eine Chance. Wenn zum Beispiel RWE heute plant, anstatt künftig Strom zu vertreiben Brennstoffzellen in die Häuser zu liefern, die dann überschüssigen Strom einspeisen, hat diese Bundesregierung für diese Strategie die Rahmenbedingungen geschaffen. ({17}) Frau Merkel, Herr Stoiber, Herr Koch, Sie können natürlich ankündigen, dass Sie das Atomgesetz, wenn Sie irgendwann einmal wieder eine Mehrheit haben - Sie waren so verwegen, von 2002 zu sprechen -, wieder ändern. Das können Sie, das ist wohlfeil, das kostet nichts, das können Sie ankündigen. Sie geben damit auch ein Stück zu, dass Sie die Verabschiedung des Gesetzes wohl nicht verhindern können. Aber Sie werden sich daran verheben, die Windparks, die Biomasseanlagen, die Gas- und Dampfkraftwerke, die kommunalen und industriellen Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen zugunsten der Atomenergie wieder aus der Welt zu schaffen. ({18}) Und deswegen ist es richtig: Der Einstieg in eine andere Energiepolitik macht den Ausstieg aus der Atomenergie tatsächlich unumkehrbar. ({19}) Wie kräftig Sie bei diesen Versuchen sind, haben Sie beim Erneuerbare-Energien-Gesetz gesehen. Sie haben im Bundesrat gesagt: Wir werden das blockieren. Und was ist dabei herausgekommen? Gar nichts ist dabei herausgekommen. Nicht einmal der Bauernverband - entschuldigen Sie, dass ich den Bauernverband hier in einem Atemzug nenne, aber der Präsident ist nun einmal CSUMitglied - mochte bei Ihrem Kurs mitfahren, weil er wusste, dass erneuerbare Energien eine Chance gerade für den ländlichen Raum in diesem Lande sind. ({20}) Meine Damen und Herren, deswegen ist der Ausstieg aus der Atomenergie eine Zäsur. Er hat das Tor aufgemacht hin zu einer Energiezukunft, die auf Erneuerbarkeit und Effizienz setzt. ({21})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile dem Kollegen Klaus Lippold, CDU/CSU-Fraktion, das Wort zu einer Kurzintervention.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister Trittin, wenn ich Sie gerade richtig verstanden habe, haben Sie gesagt, der hessische Ministerpräsident habe sich jetzt Ihren Auffassungen von einem sicherheitsorientierten Vollzug angeschlossen. Ich sage ganz deutlich in der mir eigenen Art: Ich habe selten eine unverschämtere Fehldarstellung erlebt als diese. ({0}) Die hessische Landesregierung unter Ministerpräsident Wallmann hat eine Reihe von Sicherheitsanforderungen für Biblis aufgestellt. Diese sind dann nicht umgesetzt worden infolge des Sachverhalts, dass die hessische Landesregierung zu Rot-Grün wechselte. Rot-Grün hat nichts getan, um diese Sicherheitsanforderungen zu realisieren. Nachdem Sie dann, Gott sei Dank, aus der hessischen Landesregierung wieder herausgeflogen sind, bedauerlicherweise hier in Berlin Platz nahmen, haben wir erleben müssen, dass die erneut vorgetragenen Nachrüstungsforderungen der hessischen Landesregierung von Ihnen blockiert wurden. Das ist der Sachverhalt. Es ist eine Unverschämtheit, Herr Trittin, jetzt hier zu sagen, Herr Koch schließe sich Ihnen an. Sachverhalt ist, dass wir Sie zum Jagen treiben müssen und dass jetzt in dieser Vereinbarung hoffentlich etwas realisiert wird, was schon seit langem hessische Unionspolitik gewesen ist. ({1})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Herr Minister Trittin, Sie haben Gelegenheit zu einer Antwort. ({0})

Jürgen Trittin (Minister:in)

Politiker ID: 11003246

Der Hinweis mag ja richtig sein, dass es nichts bringt, aber da außer dem Kollegen Lippold hier noch ein paar andere Kolleginnen und Kollegen im Raum sind, will ich dennoch antworten. ({0}) Lieber Herr Kollege Lippold, wir haben in der Tat den Versuch einer scheibchenweisen Nachrüstung, die nicht die Grundlagen berücksichtigt, zum Beispiel Erdbebensicherheit und anderes, aufgehalten. Diese Billignachrüstung des Landes Hessen hat die Bundesaufsicht verhindert. Und jetzt lese ich in der Zeitung, dass Herr Koch erklärt, es werde keine Billignachrüstung des Reaktors Biblis A mit ihm geben. Das empfinde ich als nachdrückliche Bestätigung dessen, was die Bundesregierung gemacht hat, ({1}) und deswegen freue ich mich, dass auch Roland Koch nunmehr zum sicherheitsorientierten Vollzug des Atomgesetzes steht. ({2})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort nunmehr dem Kollegen Walter Hirche, F.D.P.-Fraktion.

Walter Hirche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002678, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was Worte so alles bedeuten können. Da hört man heute den Bundeskanzler und den Bundesumweltminister hier sagen, es gebe einen umfassenden Konsens mit der Energiewirtschaft darüber, dass mit der Kernenergie Schluss gemacht werden müsse. Ich empfehle die Lektüre der Pressemitteilung der Elektrizitätsunternehmen, in der das Gegenteil steht. In dieser Erklärung heißt es: Die Unternehmen sind weiterhin überzeugt, dass die Kernenergie aus ökonomischen und ökologischen Gründen Bestandteil des Energiemixes bleiben sollte. Dort heißt es auch: Die Vereinbarung ... kann einen umfassenden Energiekonsens nicht ersetzen. Hier im Parlament wird der Öffentlichkeit etwas vorgegaukelt, was überhaupt nicht vorhanden ist. ({0}) Der Kern der Vereinbarung ist die Garantie der Bundesregierung, dass der Betrieb der Kernkraftwerke und die Entsorgung des nuklearen Materials in Zukunft nicht mehr durch politisch motivierte Störungen behindert werden. Aus Sicht der Betreiber ging es darum, sich Rechtssicherheit zu kaufen und sich durch Verzicht auf unbeschränkte Betriebsgenehmigungen von Manipulationen des bestehenden Rechts durch rot-grüne Regierungen freizukaufen. Die Betreiber zahlen für Rechtsfrieden in Deutschland. Sie können das, weil sie notfalls ihren verminderten Gewinn in Preisen - zulasten Dritter - überwälzen können. Bei dem so genannten Atomkonsens stellt sich damit meines Erachtens zuallererst die Frage nach den Folgen für unseren Rechtsstaat. Muss denn künftig jeder, der nach bestehendem Recht handelt, Sorge haben, dass er zusätzlich an den Staat zahlen bzw. auf Gewinnansprüche verzichten muss, weil eine rot-grüne Obrigkeit mit Nadelstichen oder mit einem ausstiegsorientierten Vollzug seine Tätigkeit behindert? Die jetzige Vereinbarung erinnert an die Methode der Schutzgeldzahlung, wie sie in anderen Bereichen der Welt üblich ist. ({1}) Es ist ein Stück aus dem Tollhaus, wie es der frühere Chefredakteur der Zeitung „Einheit“ der damaligen IG Bergbau und langjährige SPD-Bundestagsabgeordnete Niggemeier überdeutlich formuliert hat. ({2}) - Sie wollen das nicht hören, aber es ist so. - Die Unternehmen stellen in ihrer Presseerklärung fest: Eine Alternative, mit der sich ein vergleichbarer Schutz ihrer Investitionen erzielen ließe, sehen die Unternehmen nicht. Deutlicher kann man die Einschätzung von rot-grünen Regierungen durch die Wirtschaft und damit die Bedrohung von Arbeitsplätzen nicht formulieren. Ich hoffe allerdings, dass dieser Bundestag genauso wie wir Liberale unter Rechtsstaatlichkeit etwas anderes versteht. ({3}) Auch wenn man eine Sachlage politisch verändern möchte - das ist Ihr gutes Recht -, muss man sich an Recht und Gesetz halten. Herr Bundeskanzler, können Sie die gegebenen Garantien denn überhaupt durchsetzen? Der niedersächsische Umweltminister, Genosse Jüttner, erklärt: „Wir wollen nachbessern.“ Das ist geradezu eine kindische Aussage, wenn der Genosse Kanzler doch die Vereinbarung geschlossen hat. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Niedersächsischen Landtag äußert, diese Entsorgungspolitik könne nicht zum Maßstab der Dinge werden. Man könne von ihr nicht erwarten, dass sie den Atomkonsens nutzt, um für Ruhe in Gorleben zu sorgen. Sie werde weiter Druck machen. Festzustellen ist: Die Zauberlehrlinge zündeln weiter. Ich wünsche den Unternehmen, dass sie wirklich den Rechtsfrieden bekommen, den sie teuer bezahlen. Mit dem so genannten Konsens - das möchte ich in aller Klarheit feststellen, obwohl die Presse davon voll ist - hat Rot-Grün alle moralisch hochtourig aufgedrehten Positionen der Vergangenheit über Bord geworfen. ({4}) Die SPD hatte 1986 einen Ausstieg in zehn Jahren beschlossen. Heute, 14 Jahre nach 1986, sagt sie, dass vielleicht in 30 Jahren das Ende kommen werde - immerhin ein gewaltiger Wandel! Die Grünen haben vom Sofortausstieg gesprochen, und zwar angeblich aus Sicherheitsgründen. Jetzt wird von einer Garantie der Laufzeit von 32 Jahren - so steht es in der Vereinbarung - bzw. von faktisch - 35 Jahren gesprochen. Frau Merkel hat es schon ausgeführt: Die Vorwürfe hinsichtlich angeblicher Sicherheitsrisiken bei Kernkraftwerken waren immer eine politische Lüge von Rot-Grün. Das will ich hier noch einmal in aller Klarheit feststellen. ({5}) Wer der Meinung ist, dass es solche Sicherheitsrisiken gibt, der müsste, wie von den Grünen beschlossen, einen Sofortausstieg vornehmen. Aber indem Sie eine Laufzeit von faktisch 35 Jahren festschreiben, beweisen Sie selber, dass Sie in der Öffentlichkeit immer nur Panikmache betrieben und Angst erzeugt haben. Es gibt keine Sicherheitsgründe gegen den weiteren Betrieb von Kernkraftwerken in Deutschland. Man höre und staune, was zur Entsorgung gesagt wird! Schacht Konrad soll planfestgestellt werden. Das ist gut so. Ich finde es nicht gut, dass Sie den Sofortvollzug nicht beantragen. Denn was ist die Folge? Der Nuklearmüll, zum Beispiel aus der Nuklearmedizin, wird weiterhin in der Republik, oberirdisch in Sammellagern, gelagert. Für Sie besteht darin offenbar eine größere Sicherheit als bei einem unterirdischen Verbringen. Wenn das alles so sicher ist, dann schlage ich Ihnen vor: Nehmen Sie doch die Parkplätze von Krankenhäusern und sammeln Sie dort den Nuklearmüll! Wenn Sie das tun, dann sparen Sie sich den Transport in die Sammellager. ({6}) - Herr Müller, Sie müssen doch feststellen, dass Sie in allen von Ihnen in der Vergangenheit vertretenen Punkten gescheitert sind. ({7}) Was Gorleben betrifft, will ich deutlich sagen, dass der Kanzler heute aus der Anlage zu der Vereinbarung nicht richtig berichtet hat. In dieser Anlage zur Vereinbarung wird festgestellt, dass die Eignungshöffigkeit von Gorleben nicht infrage gestellt ist. Im Gegenteil, die positiven Befunde der bisherigen Erkundungen geben zu der Annahme Anlass, dass die Geeignetheit gegeben ist. TrotzWalter Hirche dem will man die Erkundung des Salzstockes unterbrechen. Sie wollen zusätzliche Kriterien untersuchen. Das kann man machen; aber es ist gegen die Sicherheit. Sie tragen damit nicht zu mehr Sicherheit bei. Sofortausstieg: Pustekuchen. Es gibt Laufzeitgarantien, also gibt es sichere Kraftwerke. Das Aus für Gorleben und Konrad: völlig falsch. Zu welchen Verbiegungen die Grünen in der Lage sind, kann man eigentlich nur noch mit Mitleid konstatieren. Ich komme zu Wirtschaftsminister Müller und seiner Interpretation - das ist vielleicht das Interessanteste - der Vereinbarung. Nach einer Pressemitteilung der dpa von gestern äußerte sich Herr Müller skeptisch zu den Möglichkeiten, den vermehrten Import ausländischen Nuklearstroms zu verhindern. Es könne sein, dass wir sehenden Auges mit diesem unerfreulichen Zustand leben müssten. Was ist die Folge? Diese Bundesregierung will in der Bundesrepublik Strom aus Kernspaltung unterbinden; aber sie weiß zum gleichen Zeitpunkt, dass er durch Nuklearstrom aus Frankreich oder Russland ersetzt wird. Soll das verantwortlich sein? Das ist das Gegenteil von Verantwortung! ({8}) Der Bundeswirtschaftsminister setzte in aller Deutlichkeit noch eins oben drauf, indem er einen späteren Wiedereinstieg in die CO2-freie Kernenergie nicht ausschloss. Diese Frage könne sich in einigen Jahren tatsächlich stellen. Wenn sie sich in drei Jahrzehnten stellt, dann ist das genau der Zeitpunkt, da man alte Anlagen sowieso durch neue ersetzen muss. Das heißt, in dieser Bundesregierung gibt es mindestens einen, der der Meinung ist, dass zumindest das, was öffentlich von dieser Vereinbarung verkauft wird, Nonsens, reiner Wortmüll ist. Auch nachfolgende Beiträge werden uns das nicht ausreden können. Insbesondere ist es versäumt worden - es hätte sich gelohnt, darüber mit den Elektrizitätsversorgungsunternehmen zu sprechen -, eine Vereinbarung über die Verstärkung der Sicherheitsforschung zu treffen. Bei Sicherheitsforschung denke ich an das Trennen von nuklearem Müll, an Transmutation, an Sicherheitsforschung im Bereich schmelzsicherer Hochtemperaturreaktoren oder an die Sicherheitszusammenarbeit mit osteuropäischen und asiatischen Sicherheitskommissionen. All das will diese Bundesregierung aufgeben. Das ist ein Verzicht auf Sicherheit für die Bevölkerung in Deutschland, und es ist im Übrigen ein Schlag gegen jede Klimapolitik auf der Erde. ({9}) Wir haben doch hoffentlich noch das gemeinsame Ziel, Energie auch künftig preiswürdig, sicher und umweltverträglich zur Verfügung zu stellen. Meine Damen und Herren, wer das will, der darf nicht erst einen Ausstieg organisieren und hinterher erforschen, wie denn Einstiege in neue Technologien erreicht werden können. Umgekehrt muss es sein: Erst Einstiege und dann kann man über Ausstiege und Veränderungen im Einzelnen reden. Da die Zahlen in den letzten Tagen auf den Tisch gekommen sind, sage ich hier noch einmal: Im Jahre 1999 hat der Strom aus Kernenergie insgesamt 31 Prozent und der Strom aus Kernenergie in der Grundlast mehr als 60 Prozent ausgemacht. Wer glaubt, dass man das ohne weiteres beiseite schieben kann, der ist schlicht und einfach falsch gewickelt. ({10}) Ich will noch einen Punkt aufgreifen, weil ich meine, dass wir dann, wenn wir über Energiepolitik allgemein reden, auch schauen müssen, wo Brücken der Verständigung sind. Herr Müller, wir haben das im Rahmen dessen, was Sie als Energiedialog organisiert haben, gemeinsam versucht. Ich finde diesen Teil der Energiepolitik auch richtig und bedauere, dass zum einen die CDU/CSU und zum anderen die Umweltverbände da ausgestiegen sind. Aber es fehlen in dem Zusammenhang natürlich die entscheidenden Dinge. Es fehlt eine Vereinbarung über die Energiefragen im Verkehr, und es fehlt der Teil Kernenergie. Deswegen wäre es wichtig, dass sich diese Bundesregierung nun einmal dazu äußerte, wie das Thema Energieeffizienz, von dem auch Sie gestern gesprochen haben, aufgegriffen werden soll. Ich glaube schon - diesen Punkt will ich hier ausdrücklich bestätigen -, dass uns die Anregungen, die unter anderem von Ernst Ulrich von Weizsäcker unter dem Stichwort „Faktor 4“ in die Debatte gebracht worden sind, beim Thema Energiepolitik weiter bringen als manche anderen Gefechte. Ich persönlich bin auch davon überzeugt, dass dieses Thema wahrscheinlich mehr Bedeutung hat als das Thema alternative Energien. Jedenfalls muss beides zusammengebracht werden. Warum wird das nicht gemacht, Herr Müller? ({11}) - Nein. - Das ist ganz einfach: weil Sie Energieeinsparung - so hat mir ein Kollege Ihrer Fraktion etwas resigniert gesagt - nicht fotografieren können. Bei Photovoltaik und bei Windanlagen ist das anders. Davon kann man mehr hermachen. Deswegen, meine Damen und Herren, ist es erforderlich, dass wir an dieser Stelle weiterhin über das Thema Energieeffizienz reden und dass wir insbesondere auch im Zusammenhang mit den Klimafragen überlegen, wie weit die Themen Umwelt und Entwicklung und Energie zusammengebracht werden können. Ich beziehe mich damit auf die Anregungen von Professor Schellnhuber, dem Potsdamer Klimaforscher, der im Übrigen gesagt hat, es wäre ein Fehler, jetzt die Kernenergie aus dem Netz zu nehmen, weil sie uns helfen kann, den Umstieg in alternative Energien besser und sicherer zu betreiben. Weiter hat er gesagt - ich finde, dass wir in den Ausschüssen des Bundestags darüber diskutieren müssen -, richtig wäre eine Solarallianz mit den Ländern in den Wüstenregionen, in den arabischen Ländern, die heute noch vom Öl leben und die morgen vielleicht andere Energieformen herstellen können und von denen wir profitieren können. Aber das alles bedeutet, dass wir in sorgfältiger Weise Einstiege in neue Techniken, in Innovationen organisieren müssen und nicht nur Subventionen verteilen dürfen. Vor allem müssen wir die Kernenergie als CO2-freie Energie und damit als eine Energieform, die den Treibhauseffekt mindern kann, auch in Zukunft nutzen. Wer in Deutschland aus der Kernenergie aussteigt, der wird dafür sorgen - diese Erkenntnis bleibt auch nach der Vereinbarung, die Sie so loben -, dass anderswo in der Welt weiterhin Kernkraftwerke gebaut werden, und zwar ohne deutsche Sicherheitsphilosophie. Das, meine Damen und Herren, ist das Gegenteil von dem, was verantwortlich ist. Moralisch verantwortlich sind das Festhalten am Beitrag der Kernenergie für eine sichere Zukunft, der Ausbau alternativer Energien und das Nutzen von mehr Energieeffizienz. Nur mit diesen drei Maßnahmen zusammen werden wir weiterkommen. Was Sie hier als Vereinbarung vorlegen, ist ein Schritt in die falsche Richtung, nützt niemandem und dient einzig und allein der Demütigung und Domestizierung der Grünen. ({12}) - Wenn das ein Erfolg sein soll, Herr Schmidt, dann gratuliere ich Ihnen dazu. Aber ich finde, das ist ein bisschen zu billig. Dieser Weg trägt nichts zur Lösung der Energieprobleme in Deutschland bei. Vielen Dank. ({13})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Müller, SPD-Fraktion.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Wichtigste an dieser Vereinbarung zum Atomkompromiss ist, dass es sich um eine Richtungsentscheidung zugunsten von Zukunftstechnologien handelt. Das ist der Kern. Wir überwinden und beenden endlich eine lähmende Debatte, die die Neuordnung der Energieversorgung über Jahre blockiert hat. Das ist der entscheidende Punkt. Erstens. Wir machen den Weg frei für die vorhandenen, aber viel zu wenig genutzten Zukunftstechnologien, für eine Effizienzrevolution, für die Solartechnik und für Einsparungen. Das ist der richtige Weg. ({0}) Insofern geht es nicht nur darum, dass wir eine riskante Technologie kritisieren und möglichst schnell aus ihr aussteigen, sondern es geht auch um einen Paradigmawechsel, nämlich die Hinwendung zu einer Energiepolitik, deren oberstes Ziel lautet, mit möglichst wenig Energie auszukommen, statt an den verschwenderischen und ineffizienten Strukturen festzuhalten. Das ist der entscheidende Punkt, den man sehen muss. ({1}) Insofern ist es gut, dass wir diese lähmende Debatte der letzten Jahre beenden. Zweitens. Die Zukunftsvorsorge gebietet, jetzt an eine Neuordnung der Energieversorgung zu denken. Machen wir uns nichts vor: Es wird in der Bundesrepublik wie auch in den meisten anderen Ländern kein neues Atomkraftwerk mehr gebaut werden können. ({2}) Im Übrigen, Frau Merkel, wenn Sie ehrlich sind, braucht man zur Bestätigung dieser Aussage nur das während Ihrer Amtszeit geänderte Atomgesetz zu zitieren. Nach § 7 Abs. 2 heißen die Anforderungen für ein neues Atomkraftwerk in der Bundesrepublik, dass die Folgen eines Schadens auf die Anlage begrenzt bleiben müssen. Das schafft keine Technologie und es ist keine Atomtechnologie absehbar, die dies schaffen würde. Sie selbst haben sozusagen den Schlussstrich unter die Nutzung der Atomenergie gezogen. Nur, das erzählen Sie öffentlich nicht. ({3}) Nach dem heute geltenden Atomgesetz ist faktisch kein Neubau möglich. ({4}) Das ist der eigentliche Schluss aus § 7 Abs. 2. Oder kennen Sie Ihr eigenes Gesetz nicht? Wo gibt es eine Atomtechnologie, die im Falle eines Unfalls den Schaden auf die Anlage begrenzt? - Es gibt sie nicht. Sie reden immer abstrakt vom EPR, der bisher weitgehend nur auf dem Papier steht. Auch er kann all dies, soweit wir wissen, nicht erfüllen. ({5}) - Ja, ist klar, das kennen wir seit 30 Jahren. Drittens. Wir können endlich Akzeptanz in der Bevölkerung für die Energiepolitik schaffen. Mit einem Festhalten an der Atomenergie wäre es nicht möglich, Akzeptanz zu schaffen. Akzeptanz ist aber gerade für die Energieversorgung - sie ist ein Kernbereich jeder Industriegesellschaft - wichtig. Wir schaffen mit einer Veränderung der Grundlagen der Energieversorgung Akzeptanz und Konsens und öffnen den Weg für Zukunftstechnologien. Das ist wichtig. ({6}) Im Übrigen - lassen Sie mich auch darauf hinweisen ist es nicht so, dass wir beim Ausstieg alleine dastehen. Österreich ist ausgestiegen, Dänemark hat per Parlamentsbeschluss den Nichteinstieg beschlossen, in Belgien gibt es jetzt einen Rahmenbeschluss für den Ausstieg, Italien hat per Parlamentsbeschluss den Ausstieg festgelegt, die Schweiz hat ein Moratorium beschlossen, Schweden hat den Ausstieg beschlossen. Zur Situation in England kann ich nur die „Financial Times“ zitieren: „Als die Atomenergie privatisiert wurde, wurde klar: Es war der kostspieligste Fehler der Industriegeschichte.“ In den USA haben Bundesstaaten den Ausstieg aufgrund von Entscheiden der Bevölkerung beschlossen. Auch in Japan gibt es in der Zwischenzeit erhebliche Kritik am Atomprogramm. Man kann die Vorfälle in Tokaimura nicht so herunterspielen, dass man sagt, das seien Fehler eines Entwicklungslandes. Japan ist ein Hochtechnologieland. Dort sind solche Unfälle passiert. ({7}) Viertens. Als weiteren Punkt sehen wir - das möchte ich hier festhalten -, dass wir das mit der Atomenergie verbundene Risiko nicht verantworten können. Dabei geht es primär nicht um die Eintrittswahrscheinlichkeit, sondern um den möglichen Schadensumfang. Jede Risikoberechnung hat zwei Komponenten: Die eine ist die Eintrittswahrscheinlichkeit; sie liegt bei der Atomkraft zweifellos nicht so hoch wie die eines Autounfalls. Die andere aber ist der mögliche Schadensumfang. Der Schadensumfang eines Unfalls in einem Atomkraftwerk ist mit dem anderer Technologien, auch mit dem der chemischen Industrie, nicht vergleichbar. Das hat eine andere Qualität. Deshalb muss man auch zu einer entsprechenden Schlussfolgerung kommen. ({8}) Dasselbe gilt auch für die Entsorgung. Frau Merkel, ich habe mich sehr über Ihre Kritik an den Zwischenlagern gewundert. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Debatten über den Energiekonsens seit 1992, wo Sie 1995 öffentlich Herrn Stoiber kritisiert haben, weil er kein regionales Zwischenlager zulassen wolle. Was gilt denn nun? Die damalige Einsicht kann auch heute nicht falsch sein. Deshalb sollten Sie heute nicht so tun, als ob Sie nicht selbst diese Forderung geteilt hätten. Da Sie uns parteipolitische Ideologie vorwerfen, sollten Sie bedenken, was Sie selbst zu diesem Thema geäußert haben. Der Ausstieg ist vor allem eine Chance für den Umstieg. Das ist wichtig und der Kern, der beachtet werden muss. Herr Hirche, Sie haben Recht - ich sehe das auch so -: Es gibt natürlich riesige Gefahren, die auf uns zukommen, insbesondere die Gefahr durch ausländischen Atomstrom. Allerdings müssen Sie fairerweise zugeben: Dieses Problem stellt sich unabhängig vom Ausstieg ({9}) angesichts der im Ausland angebotenen Dumpingpreise für Atomstrom. ({10}) In Wahrheit liegt hierin eine grundsätzliche Herausforderung an die Energiepolitik nach der Liberalisierung der europäischen Strommärkte. Sie sollten nicht die Auswirkung mit der Ursache verwechseln, was Sie mit Ihrer unsauberen Argumentation tun. Tatsächlich haben wir durch die Veränderung der Energiemärkte gewaltige Probleme auch in Bezug auf die nationale Gestaltung des Umweltschutzes. Wir haben große Probleme in Bezug auf einen Strom, den wir nicht wollen, weil er aus unsicheren Kraftwerken stammt. Insofern stellt sich durch die Liberalisierung prinzipiell die Frage, was Politik heute zur Neuordnung und Neustrukturierung der Energieversorgung leisten kann. Dies ist keine Frage des Ausstiegs. Sie stellt sich jetzt nur schneller und deutlicher. Das ist richtig. Aber das Grundproblem geht sehr viel tiefer. Es stellt sich die Frage, ob die Politik ihren Primat bezüglich einer effizienten und umweltverträglichen Energieversorgung überhaupt durchsetzen kann. Genau das versuchen wir. ({11}) Wir haben heute das Risiko, dass wir auf der Basis der vorhandenen Großstrukturen mit ihren hohen Reservemargen in Gefahr geraten, dass die Energiepolitik in der Zukunft nur noch durch einen hohen Stromabsatz bestimmt wird. Wir wissen aber - zum einen vor dem Hintergrund der langfristig sehr viel dringender werdenden Ressourcenprobleme, zum anderen wegen der fatalen Folgen einer ineffizienten Nutzung für die Ökologie und insbesondere für den Klimaschutz -, dass so keine zukunftsfähige und nachhaltige Energieversorgung erreicht werden kann. Es geht also um die Frage, ob die Politik eine Energieversorgung durchsetzen kann, die verbrauchsnah, dezentral und solar ausgerichtet ist und die möglichst hohe Effizienzsprünge in Nutzung und Wandlung machen kann. Dies ist die Schlüsselfrage. In dem Ausstieg aus der Atomenergie liegt die Chance, diese Frage positiv zu entscheiden. Im Übrigen: Die Atomenergie ist die uneffizienteste Energieversorgung mit einem Wirkungsgrad von gerade einmal 34 Prozent. Unter den wichtigen Energieträgern gibt es keine ineffizientere Energie als die Atomenergie, was die Auslastung in der Umwandlungstechnik angeht. ({12}) Die Neuordnung ist dringend erforderlich, um die Stagnation und den Status quo, der viel mit den gegebenen Energieversorgungsstrukturen zu tun hat, zu überwinden. Wir machen uns Sorgen um die Beschäftigung, um die Energieerzeugung in der Bundesrepublik und den Umweltschutz. Deshalb liegt in der Neuordnung und nicht im Festhalten an alten Strukturen die Chance, diese Zukunftsherausforderungen zu bestehen. Das ist für uns ein entscheidender Punkt, für Ausstieg und Umstieg. ({13}) Wir wollen diesen Weg in Richtung Energiedienstleistung, Effizienzrevolution und Nutzung der regenerativen Energien gehen, die eine Einheit bilden. Wir wollen bei diesen Zukunftstechnologien Vorreiter werden; wir wollen auf diesem Feld die Nummer eins werden. Das ist unser Ziel. Wenn wir das erreichen, dann schaffen wir etwas, was unter dem Gesichtspunkt globaler Verantwortung überfällig ist und womit wir uns sehen lassen können. Michael Müller ({14}) Wir haben die große Chance, dieses Ziel zu erreichen. In der Bundesrepublik gibt es ein Einsparpotenzial von über 40 Prozent des heutigen Energieumsatzes. Die regenerativen Energien haben immer noch nur einen bescheidenen Anteil von 2,3 Prozent an der Endenergie. Wir können diese Potenziale sehr viel besser nutzen und damit einen wichtigen Beitrag für eine nachhaltige Energieversorgung leisten. Wir werden das tun. ({15}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich drei abschließende Bemerkungen machen. Erstens. Wir werden - so interpretieren wir die Vereinbarung nicht; sie lautet so auch nicht - keine Einschränkungen bei der Sicherheit hinnehmen. Das ist mit uns nicht zu machen. ({16}) Im Gegenteil! Das wäre rechtlich auch gar nicht möglich, Herr Hirche - das wissen auch Sie -, weil das sozusagen der wesentliche Grund für den Ausstieg ist. Wir können ja nicht selbst den wesentlichen Grund für den Ausstieg konterkarieren. Wir machen das nicht. Es gibt keine Einschränkungen bei der Sicherheit. Zweitens. Es gibt kein Stillhalten in Bezug auf die Entwicklung der neuen Energiemärkte. Im Gegenteil! Weil Ausstieg und Umstieg zusammengehören, muss die Dynamik für die neuen Energiemärkte umso stärker entfaltet werden. Drittens. Wir werden durch die Neustrukturierung der Energieversorgung alles tun, um die Auslandsgefahren, die durchaus gegeben sind, abzuwehren. Zumindest werden wir die Gesetze so ändern, dass sie kaum eintreten werden. Dies ist aber nur durch den Umbau möglich. Dafür ist heute, auch wenn ich mir weiter gehende Konzepte vorstellen könnte, wenigstens der Weg vorgegeben. Es ist einfach unfair, wenn sich jemand, der diese Richtung überhaupt nicht will, hier hinstellt und fragt: Warum tut ihr nicht mehr? Das ist scheinheilig. Das machen wir nicht mit. ({17})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort der Kollegin Eva Bulling-Schröter, PDS-Fraktion.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es gleich vorweg zu sagen: Die PDS-Fraktion lehnt die Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Energieversorgern ab. ({0}) SPD und Bündnis 90 ignorieren die Gefahren, die von Atomkraftwerken ausgehen. Es schert sie nicht, dass die Entsorgung ungelöst bleibt. Sie verspüren keine Verantwortung für die Folgen des Uranabbaus in vielen Teilen der Welt. Es kümmert sie nicht, dass Wiederaufbereitungsanlagen in Frankreich und Großbritannien Mensch und Umwelt mit radioaktiven Emissionen belasten. Der Umweltminister will Transporte mit hochradioaktiven Abfällen noch in diesem Jahr wieder zulassen. Die Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den EVUs ist kein Ausstieg. Sie ist ein Geschenk des Kanzlers zum Bergfest der Atomindustrie; denn es soll mindestens noch einmal so viel Atomstrom und -müll produziert werden, wie bisher insgesamt in Deutschland hergestellt wurde. Die Bundesregierung hatte angenommen, dass der Ausstieg aus der Atomkraft im Konsens mit der Atomindustrie vereinbart werden könne. Das war ein Fehler. ({1}) Statt von Beginn an auf vertrauliche Gespräche mit der Industrie zu setzen, hätten Sie ein breites Bündnis mit ausstiegswilligen Kräften in der Gesellschaft suchen müssen. ({2}) Die Bundesregierung verkündet nun, der Weg für den Einstieg in eine neue Energieversorgung sei jetzt frei, wie dies Herr Müller gerade wieder getan hat. Ich frage mich: Warum eigentlich? Schließlich beabsichtigt die Bundesregierung, den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke zu garantieren. Keines der beiden strittigen Endlagerprojekte Gorleben und Konrad wird beendet. Die Urananreicherungsanlage in Gronau wird zur Versorgung des Weltmarktes mit Uran erheblich ausgebaut. Neue Zwischenlager sollen genehmigt werden. Die Konditionierungsanlage in Gorleben erhält eine Genehmigung. Die geplante Novelle zur Strahlenschutzverordnung ermöglicht eine kostengünstige Deponierung von schwach kontaminierten Abfällen im Straßenbau. Also noch einmal die Frage: Warum? Viele Jahre lang haben auch SPD und Grüne Sicherheitsmängel in deutschen Atomkraftwerken erkannt und die mangelnden politischen Konsequenzen aus den Sicherheitsmängeln beklagt. Und jetzt soll alles im grünen Bereich sein? Ein Zitat aus der Vereinbarung beweist das: ... die Bundesregierung wird keine Initiative ergreifen, um diesen Sicherheitsstandard und die diesem zugrunde liegende Sicherheitsphilosophie zu ändern. Bei Einhaltung der atomrechtlichen Anforderungen gewährleistet die Bundesregierung den ungestörten Betrieb der Anlagen. Im Klartext: Die Bundesregierung behauptet, dass die Vorsorge gegen Schäden, die sie bei ihrem Amtsantritt vorgefunden hat, dem Stand von Wissenschaft und Technik entspricht. Das ist aber Unsinn. Sie müssen wohl eingestehen, dass bei einer Kernschmelze kein Betonmantel hält. Das wollen Sie jetzt einfach so hinnehmen. Wir werden es erleben, wie Sie in politischer Verantwortung die Risiken kleinreden, vertuschen und verharmlosen werden. Michael Müller ({3}) Die Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Energieversorgern wird die Konflikte um die Nutzung der Atomenergie nicht beilegen können. Die Erfahrung lehrt, dass auch künftig mit Störfällen in Atomanlagen gerechnet werden muss. Und auch künftig werden Atomskandale Schlaglichter auf den parteipolitisch-industriellen Filz werfen. Obgleich die mit den technischen Risiken verbundenen politischen Risiken als bedrohlich eingeschätzt werden müssen, hat sich eine große Mehrheit der Partei der Grünen für einen Weg entschieden, der die Antiatombewegung spalten, isolieren und kriminalisieren wird. Dazu ist nichts anderes zu sagen als: Verrat! ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin BullingSchröter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßen?

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ja.

Peter Dreßen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002642, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, sind Sie mit mir einer Meinung, dass es besser ist, den Spatz in der Hand zu haben, als die Taube auf dem Dach, der Sie vielleicht noch nachfliegen müssen? Wenn Sie einmal berücksichtigen, dass die Antiatomkraftbewegung am Kaiserstuhl begonnen hat und die Leute dort heute froh über den Ausstieg sind, da sie feststellen, dass nun ein Ende abzusehen ist: Meinen Sie dann nicht, dass dieser Weg der richtigere ist als Ihr Weg, der Ihnen unter Umständen von den Gerichten untersagt worden wäre, sodass Sie dann überhaupt nichts in der Hand gehabt hätten? Meinen Sie nicht, dass durch den gemeinsam gefundenen Ausstiegskonsens jetzt eher ein Fortschritt erzielt worden ist als durch den Weg, dem Sie jetzt nachweinen und von dem Sie meinen, Sie hätten ihn mit brachialer Gewalt durchsetzen können, ohne zu bedenken, dass das vermutlich anschließend vom Gericht wieder einkassiert worden wäre?

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Die Frage des Fortschritts und des Kompromisses sieht natürlich jeder anders. Ich sehe das anders als Sie. Erstens glaube ich nicht, dass die Menschen vor Ort mit Ihrem Kompromiss zufrieden sind. Ich weiß nicht, ob Sie im Fernsehen den Parteitag der Grünen beobachtet haben. Ich habe das sehr wohl getan. Ich habe die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag von Niedersachsen gehört, die dazu eine ganz andere Meinung hat. Tatsache ist, dass in einer ganzen Reihe von Standorten bis zur Hälfte der Mitglieder der Grünen ausgetreten sind. Das spricht für sich. Zweitens meine ich: Klar kann man über die Gerichte etwas erreichen; aber Sie haben das erst gar nicht probiert. Dieser Konsens ist dadurch entstanden, dass Sie immer weiter zurückgegangen sind. Was war denn mit dem Atomgesetz? Es wurde von Trittin zurückgezogen. Dann gab es das Versprechen, zum 1. Januar 2000 würde die Wiederaufbereitung beendet. Auch dieses Versprechen wurde nicht eingehalten. Ich meine, dieser Konsens ist Nonsens und es hätte andere Möglichkeiten gegeben. ({0}) Die Energieversorger bestätigen das inzwischen. Sie verstehen unter „sicherem Betrieb“ offenkundig etwas anderes als der grüne Koalitionspartner. Die Chefs von Preussen-Elektra und Bayernwerk, Harig und Majewski, schrieben an ihre „lieben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“, dass der Atomkonsens kein Ausstieg sei. Wörtlich: „Die Vereinbarung bedeutet nicht das Ende der Kernenergie in Deutschland.“ Im Gegenteil, der Vertrag biete ein „Maximum an politischer Betriebssicherheit“. In der Gewissheit, dass durch einen zukünftig nicht auszuschließenden Wechsel der Mehrheiten im Bund anderes bestimmt wird - sie warten ja nur darauf -, konnte die Atomindustrie den geplanten Verzicht auf die Genehmigung neuer AKWs beruhigt und lapidar zur Kenntnis nehmen. Aber sie werden es wieder versuchen. Die Sicherheitsforschung bleibt laut Vereinbarung ohnehin frei, sodass die technische Fortentwicklung von Atomreaktoren gesichert ist. Das war in „Kennzeichen D“ vor zwei Wochen zu sehen. Strom aus abgeschriebenen Atomkraftwerken wird für mindestens die kommenden 20 Jahre sehr wettbewerbsfähig sein, sodass sich eine tatsächlich sozial-ökologische Energiewende für Umwelt und Beschäftigung nicht wird entfalten können. Kollege Müller hat über das Preisdumping gesprochen. Diese Dinge sind absehbar. Sie haben wörtlich vereinbart: Die Bundesregierung wird keine Initiative ergreifen, mit der die Nutzung der Kernenergie durch einseitige Maßnahmen diskriminiert wird. Dies gilt auch für das Steuerrecht. Im Klartext: Es erfolgt also keine Besteuerung von Kernbrennstoffen. Die Subventionierung über steuerfreie Entsorgungsrückstellungen läuft weiter. ({1}) Die vereinbarten Regelungen zur Entsorgung des Atommülls stehen im krassen Widerspruch zu den Wahlversprechen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Sie hatten das Aus für die Endlager Gorleben und Schacht Konrad angekündigt. Nun jedoch soll das Endlager Schacht Konrad genehmigt werden, obwohl ein separates Endlager für so genannte schwach wärmeentwickelnde Abfälle überflüssig ist und in Übereinstimmung mit dem Koalitionsvertrag ein zentrales Endlager für alle Arten radioaktiver Abfälle eingerichtet werden sollte. Erstmals trifft die Bundesregierung im Anhang des Konsenses eine positive Eignungsaussage für das Endlager Gorleben. Es gibt zwar ein drei- bis siebenjähriges Moratorium; aber alle Voraussetzungen werden geschaffen, um danach mit der Erkundung und Genehmigung weiterzumachen. Ein weiteres Zitat aus der Vereinbarung: Es wird gemeinsam nach Möglichkeiten gesucht, vorläufige Lagermöglichkeiten an den Standorten vor Inbetriebnahme der Zwischenlager zu schaffen. Als Interimslösung sollen Castorbehälter also auch an Plätzen gelagert werden dürfen, die dafür bisher nicht vorgesehen sind. Meine Damen und Herren, auch das ist ein Ausfluss der Hilflosigkeit. Hier hangelt sich die Bundesregierung von einer Zwischenlösung zu einer Zwischenzwischenlösung. Ihr bleibt auch nichts anderes übrig; denn die Endlagerfrage ist technisch eben nicht lösbar und Transporte enthalten ein zusätzliches Risiko. Aufzulösen wäre das nur durch einen sofortigen Ausstieg, wenngleich das nicht im Hinblick auf den schon produzierten Abfall möglich ist. Aber dieser Ausstieg wird ja nun um eine Generation verschoben und damit wird dieses Problem für unsere Kinder und Enkel nachhaltig verschärft. ({2}) Die Wiederaufarbeitung wird nicht verboten. Die Bundesregierung vereinbarte, dass angelieferte Brennelemente verarbeitet werden dürfen. Schon heute liegen deutsche Brennelemente in französischen und britischen Anlagen auf Halde. Bis Mitte 2005 sollen weitere Transporte erlaubt sein. Die Cogema stört das überhaupt nicht. Sie rechnet damit, dass sie etwa noch bis zum Jahr 2015 den in deutschen Kraftwerken vorhandenen Berg an Brennelementen wieder aufarbeiten kann. So lange reicht nämlich der Vorrat. Einige Kommentatoren meinen, mit dieser Vereinbarung sei der SPD und den Grünen ein Befreiungsschlag geglückt und es sei nun genügend Raum entstanden, der es der Regierung erlaube, sich den regenerativen und rationellen Energietechnologien stärker zuzuwenden. Deshalb noch ein gut gemeinter Hinweis zur taktischen Lage: Wenn Sie hier Ihre Atompläne durchpeitschen und damit die Energieversorger ihre Bestandsgarantien erhalten haben, dürfte Rot-Grün auf energiepolitischem Gebiet vorerst ausgespielt haben, da der Reformbedarf der mächtigen Energieversorger fürs Erste wirklich gedeckt ist. Ich appelliere daher an Ihren taktischen Instinkt, wenigstens mit dem angekündigten Gesetz zur Einführung einer Quote bei der Kraft-Wärme-Kopplung nicht allzu lange zu warten. Die PDS-Fraktion hat hierzu bereits einen Gesetzentwurf eingebracht. Auch Vorschläge der Koalition zur Regulierung des Strommarktes und des Netzzugangs sowie zur Anrechnung der Netzkosten stehen bis heute aus und sollten noch vor der parlamentarischen Auseinandersetzung über Ihre Atompläne verabschiedet werden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Ergebnis der Konsensverhandlungen stellt eine geldwerte Sicherung von Marktanteilen für die Atomkraftbetreiber für die Dauer von noch mindestens 25 bis 30 Jahren dar. Nicht einmal vergleichbare Regelungen zur Finanzierung des Steinkohlenbergbaus haben eine so lange Laufzeit. Dies ist somit kein Ausstieg zum Nulltarif. In Geldwert ausgedrückt, übersteigen die vereinbarten Strommengen alles, worüber bisher als Gründe für drohende Klagen auf Schadensersatz oder Ausgleich diskutiert wurde. 2,62 Terawattstunden Atomstrom stellen einen Geldwert dar, der im Streitfall Forderungen der Energieversorger begründen könnte, die um ein Vielfaches höher sind als der Zeitwert der Anlagen, wie er im Atomgesetz als maximale Höhe bei Entschädigungen geregelt wurde.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollegin BullingSchröter, Sie müssen zum Ende kommen.

Eva Maria Bulling-Schröter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002636, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Zudem wird die Monopolmacht der Energiekonzerne mit dieser Vereinbarung weiter ausgebaut werden. ({0})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem Kollegen Christoph Matschie, SPD-Fraktion.

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Nach dem bisherigen Verlauf der Debatte habe ich den Eindruck, dass die Tatsache, dass es gelungen ist, einen Konsens zwischen Bundesregierung und Energieversorgern zu erreichen, die Opposition völlig verwirrt. Sie wissen überhaupt nicht mehr, was Sie uns eigentlich vorwerfen wollen. Frau Merkel hat uns auf der einen Seite vorgeworfen, die Atomwirtschaft sei zu gut weggekommen; auf der anderen Seite hat sie uns vorgeworfen, wir richteten riesigen wirtschaftlichen Schaden an. Sie hat uns auf der einen Seite vorgeworfen, wir stiegen nicht schnell genug aus; auf der anderen Seite hat sie uns vorgeworfen, wir würgten eine Technologie ab, die weiterhin zukunftsweisend sei. Ich glaube, Sie müssen sich noch einmal zusammensetzen und entscheiden, welchen Vorwurf Sie uns eigentlich machen wollen. ({0}) Sind jetzt die Konzerne zu gut weggekommen oder richten wir großen wirtschaftlichen Schaden an? Steigen wir zu schnell oder zu langsam aus? Darüber müssen Sie sich zunächst einmal einig werden. ({1}) Man sollte versuchen, zu einer sachlichen Debatte zurückzufinden und keine ideologisch aufgeladene Auseinandersetzung zu führen. „Wer aussteigt, muss auch wissen, wo er einsteigt“ - völlig richtig. Aber daraus ein Panikszenario zu machen - wenn die ersten Atomkraftwerke vom Netz gehen, geht das Licht aus oder kommt massenweise Strom aus dem Ausland -, ist sachlich überhaupt nicht zu rechtfertigen. ({2}) Wir reden im Moment über enorme Überkapazitäten auf den Strommärkten sowohl in der Bundesrepublik als auch in Europa insgesamt. Wir sind im Moment nicht in einer Situation, wo abgeschaltete Anlagen unverzüglich durch andere Anlagen ersetzt werden müssten. Wir haben vor diesem Hintergrund ein Ausstiegsszenario, das uns die Zeit einräumt, wirklich die Weichen für eine neue Energiepolitik zu stellen. Die ersten Schritte dazu haben diese Bundesregierung und diese Koalition getan. Wir haben ein Gesetz zur Förderung erneuerbarer Energien beschlossen, das wirklich Bewegung in diesen Markt gebracht hat, gegen das Sie sich aber gewehrt haben und das wir gegen Ihren Widerstand hier im Parlament durchsetzen mussten. ({3}) Wir haben ein erstes Gesetz zur Förderung der KraftWärme-Kopplung auf den Weg gebracht. Auch dieses Gesetz wird dazu beitragen, umweltfreundliche Energieerzeugung in diesem Land zu sichern und weiter zu fördern. Manche werfen uns vor, dass der Ausstieg nicht schnell genug komme. Ich glaube, dass es angesichts jahrelanger Auseinandersetzungen notwendig war, einen Weg zu suchen, der praktisch tatsächlich umsetzbar ist, der dem Rechtsrahmen unseres Landes entspricht und der versucht, die Interessen in dieser Gesellschaft auszugleichen. Ich glaube, dass es mit dieser Vereinbarung gelungen ist, einen geordneten Ausstieg aus der Kernenergie im Konsens zu ermöglichen. Das ist ein hohes Gut und wird dazu beitragen, dass dieser gesellschaftliche Konflikt an Schärfe verliert. ({4}) Herr Hirche, Sie haben versucht, Umweltsachverständige für Ihre Argumentation heranzuziehen, die Atomenergie sei für die Lösung des Klimaproblems unverzichtbar. Nun sind Sie nicht mehr so häufig im Umweltausschuss anzutreffen und haben die Debatten vielleicht nicht ganz mitgekriegt. Wir haben gerade vor einigen Wochen die Vertreter des Sachverständigenrates für Umweltfragen bei uns im Ausschuss gehabt und haben diese Frage diskutiert. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen hält die Nutzung der Atomenergie für nicht verantwortbar. Ich zitiere: Der Umweltrat hält aufgrund der Charakteristiken bestrahlter Brennelemente und der darin begründeten, in weiten Teilen ungelösten Entsorgungsprobleme eine weitere Nutzung der Atomenergie für nicht verantwortbar. Wir haben die Frage diskutiert, ob man angesichts des Klimaproblems trotzdem Ja sagen müsse. Der Umweltrat sagt: Nein, das ist nicht verantwortbar. Die Atomenergie leistet weltweit einen Beitrag zur Primärenergieversorgung von 7 Prozent. ({5}) - Herr Hirche, da geht es nicht nur um den Strom; denn auch andere Energieerzeugung trägt zum Treibhauseffekt bei. - Das entspricht 436 Kernkraftwerken. Wie viele Kernkraftwerke wollen Sie denn weltweit bauen, um das Klimaproblem zu lösen? Schon die Enquete-Kommission, die sich mit den Klimafragen auseinander gesetzt hat, hat es eindeutig formuliert: Die Atomenergie ist kein Beitrag zur Lösung des Klimaproblems. ({6}) Dann beschwören Sie hier den Verlust von Arbeitsplätzen in diesem Bereich der Energieversorgung. Ich glaube, dass durch die Energiepolitik, die wir betreiben, genau das Gegenteil eintreten wird: Wir werden mehr Arbeitsplätze bekommen, weil im Bereich der regenerativen Energien und im Bereich der Energieeinsparung die Arbeitsintensität wesentlich höher ist als in den Großkraftwerken. Wir werden auch ein neues Know-how bekommen, ein Know-how, das es jetzt zu entwickeln gilt, weil der Markt dafür in der Zukunft vorhanden ist. Es geht um die Konversion der Atomtechnologie. In vielen Teilen der Welt stehen alte Atomkraftwerke, die stillgelegt worden sind oder in nächster Zeit stillgelegt werden. Wir sind jetzt gut beraten, Technologien zu entwickeln, die es ermöglichen, diese Standorte zu konvertieren, und dazu beitragen, die Atomenergienutzung sicher zu beenden. ({7}) Wir als wichtiges Industrieland haben ein Zeichen gesetzt. Dies haben wir nicht allein getan - das wurde schon gesagt -; es gibt auch andere Länder, die den Ausstieg beschlossen haben. Auch die Länder, die einen solchen Beschluss nicht gefasst haben, gehen mit der Nutzung der Atomenergie sehr pragmatisch um. In den Vereinigten Staaten beispielsweise ist seit 1979 kein Kernkraftwerk mehr ans Netz gegangen. Und wenn man die Verantwortlichen fragt, wie die Zukunft der Atomenergie in ihrem Land diskutiert wird, antworten sie: Welche Zukunft meinen Sie denn? Diese Technologie hat keine langfristige Zukunft. - Das liegt nicht an einer rot-grünen Ideologie, sondern schlicht und einfach daran, dass diese Großtechnologie keine Chance hat, auf den liberalisierten Energiemärkten effizient zu agieren und sich durchzusetzen. Das kann Ihnen passen oder nicht, meine Damen und Herren, es ist aber so. ({8}) - Doch, wir brauchen eine Vereinbarung, Herr Hirche, weil wir nicht darauf warten wollen, dass sich diese Entwicklung peu à peu mit all den Problemen und weiteren gesellschaftlichen Auseinandersetzungen von allein durchsetzt, sondern weil wir politisch dafür sorgen wollen, dass der Ausstiegspfad geordnet gegangen wird und parallel dazu eine neue Energiepolitik aufgebaut wird, eine Energiepolitik, die in das 21. Jahrhundert gehört und nicht die Kämpfe des letzten Jahrhunderts ausficht. ({9}) Dann wird hier immer das Gespenst der großen Stromimporte an die Wand gemalt: ({10}) Wenn wir die Kernkraftwerke abschalten, wird der Strom von den Kernkraftwerken aus den Nachbarländern importiert. Was die osteuropäischen Nachbarn anbetrifft, so hat der Umweltminister dazu schon einiges gesagt. Wir haben als Beitrittsvoraussetzung die Stilllegung der Anlagen festgeschrieben, die den Sicherheitskriterien der Europäischen Union nicht genügen. Es wird also nicht der Fall sein, dass Strom aus solchen Anlagen von uns importiert wird. Im Übrigen existieren in den Nachbarländern überhaupt nicht die Kapazitäten, um die Strommengen zu liefern, die wir in Deutschland als Ersatz für die Energie der jetzt am Netz befindlichen Atomkraftwerke brauchen. Sie bauen also Gefahrenszenarien auf, die in der Realität überhaupt nicht sachlich begründet werden können. Auf der anderen Seite ist es richtig, dass wir schon jetzt Strom importieren. Das wird auch in Zukunft so sein. Niemand kann bei einem liberalisierten Strommarkt ausschließen, dass Strom importiert bzw. exportiert wird. Das ist ein normaler Vorgang. Ihn gibt es jetzt und ihn wird es auch in Zukunft geben. ({11})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Kollege Matschie, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grill?

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Aber selbstverständlich.

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Matschie, wenn Ihre These richtig ist, dass ein solcher Import nicht zu befürchten ist, sind Sie dann mit mir der Meinung, dass Herr Michael Müller vollkommen falsch liegt, wenn er ein Verbot des Imports von Atomstrom fordert? ({0})

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich kenne eine solche Forderung des Kollegen Müller nicht. ({0}) Ich glaube, dass man sich bei einem liberalisierten Markt Gedanken darüber machen muss, ob der Wettbewerb auf fairen Bedingungen beruht, das heißt, ob die Standards in etwa vergleichbar sind und ob die Länder gleiche Öffnungsbedingungen - das ist ja das Problem zwischen der Bundesrepublik und Frankreich - haben. Darum geht es, nicht darum, ob grundsätzlich ein Import oder Export stattfindet. ({1}) Ich glaube, solche ideologischen Debatten brauchen wir an dieser Stelle nicht zu führen. ({2}) Wir haben eine Energiepolitik begonnen, die auf den effizienten Umgang mit Ressourcen setzt, auf eine Effizienzrevolution beim Energieverbrauch und auf den Ausbau regenerativer Energien. Das sind die Potenziale, die es im 21. Jahrhundert zu nutzen gilt. Nach technischen Abschätzungen haben wir in der Bundesrepublik ein Energieeinsparpotenzial von 40 Prozent. Das ist im Moment unsere größte Energiereserve. Diese gilt es zu nutzen. Dadurch werden wir viele Arbeitsplätze schaffen. Langfristprognosen gehen davon aus - das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt hat dazu Studien vorgelegt -, dass wir etwa im Jahre 2050 in der Lage sein werden, 60 Prozent der Energieversorgung über regenerative Energien abzudecken. Effizienz und regenerative Energien - das ist erfolgversprechend für das 21. Jahrhundert, nicht das Festhalten an einer veralteten Großtechnologie, die sich am Markt nicht mehr durchsetzen kann. Deshalb kann ich Ihnen nur raten: Geben Sie Ihre ideologisch begründete Blockadehaltung auf - auch Frau Merkel wird es nicht gelingen, der Atomenergie noch einmal eine Perspektive zu geben ({3}) und gestalten Sie mit uns eine zukunftsorientierte Energiepolitik, die auf Einsparung, auf Effizienz und auf regenerative Energien setzt! ({4})

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002318

Ich erteile das Wort dem bayerischen Staatsminister Otto Wiesheu. Dr. Otto Wiesheu, Staatsminister ({0}): Herr Präsident! Hohes Haus! Der Bundeskanzler spricht vom „Konsens zum Ausstieg“. Ich kann nur feststellen: Den hat es nicht gegeben und den gibt es nicht. Das, was als „Konsens“ bezeichnet wird, hat die Energiewirtschaft hingenommen unter dem Zwang der Verhältnisse. Man hat ihr rechtzeitig die Folterwerkzeuge gezeigt. Man hat Zwang ausgeübt. Man hat, wenn man so will, die Energiewirtschaft erpresst. ({1}) Die Energiewirtschaft bringt das in dem Papier auch zum Ausdruck. Dort heißt es, man nehme die Zielsetzung der Bundesregierung zur Kenntnis. Dabei von Konsens oder Zustimmung zu reden - das, Herr Trittin, wissen Sie angesichts der Verhandlungen auch -, ist Verbalrabulistik; es ist falsch. Es hat auch keinen Konsens mit den Ländern gegeben. Man hat ihn auch gar nicht gesucht. Im Gegensatz zu 1979, als Bundeskanzler Schmidt die Länder seinerzeit zu den Verhandlungen eingeladen hat, um zu einem Konsens zu kommen, war hier ein Konsens nicht einmal angestrebt. Gleiches gilt für die Gemeinden. Sie werden vielleicht sagen: „Die brauchen wir auch nicht.“ Sie werden sie brauchen. Das ist auch der Punkt bei den Vorwürfen, die der Herr Bundeskanzler gegenüber Bayern erhoben hat. Im Jahre 1979 hat es ein Konzept gegeben: mit der Wiederaufarbeitung in Wackersdorf, der Zwischenlagerung in Ahaus und Gorleben sowie der Endlagerung in Gorleben. Wir in Bayern haben uns - das möchte ich hier feststellen - von der Wiederaufarbeitung nicht verabschiedet. Wir hätten unsere Lasten getragen. ({2}) Der Ausstieg erfolgte nicht durch die bayerische Politik, sondern durch die Energiewirtschaft. Deshalb lasse ich uns das nicht vorhalten. Darüber hinaus gab es seinerzeit eine geschlossene Entsorgungskette, mit Wiederaufarbeitung, Zwischenlagerung und Endlagerung. Heute das Endlager Gorleben infrage zu stellen - wie Sie es tun -, Zweifel zu äußern, die in keiner Weise wissenschaftlich begründet sind, heißt, die Entsorgungskette zu unterbrechen. ({3}) Ihr Bestreben, Zwischenlager bei den Standorten einzurichten, bedeutet, aus den Zwischenlagern quasi Endlager zu machen, weil Sie sich in Sachen Endlager nicht in die Pflicht nehmen lassen wollen. Sie sagen, Sie wollen damit Transporte einsparen. Was für ein Problem aber lösen Sie bei der Vermeidung der Transporte? Sie lösen ein Problem, das Rot-Grün durch die Demagogie der letzten 20 Jahre selbst geschaffen hat. ({4}) Die Transporte sind kein Problem, kein technisches und kein ökologisches. Sie sagen, wenn Zwischenlager nicht sofort realisierbar seien, könne man „Zwischenzwischenlager“ schaffen, dann stehen die Castoren halt einfach so herum. Angesichts dessen müssen Sie sich fragen lassen, welche technischen Anforderungen Sie hier stellen. Aber es geht ja weiter: Die Zwischenlager werden de facto Endlager. Sie sagen, mit der Errichtung von Zwischenlagern und weiteren Untersuchungen garantierten Sie die Entsorgungskette. Das tun Sie gerade nicht. Sie als Bundesregierung können die Errichtung der Zwischenlager nicht gewährleisten, weil Sie die Mitwirkung der Kommunen nicht garantieren können. Denn dort gibt es ja Gott sei Dank oder auch nicht - auch Rote und Grüne. Wenn die Gemeinden die baurechtliche Zustimmung für Zwischenlager verweigern oder wenn Bürgerinitiativen diese im Wege von Bürgerentscheiden verhindern, dann sind die Gemeinden daran über Jahre gebunden. Das bedeutet, dass Sie den Energieversorgern vorgaukeln, der Entsorgungsweg werde eingehalten, obwohl Sie das nicht gewährleisten können. ({5}) Das ist leichtfertig und das kritisieren wir. Deswegen sagen wir: An einem derartigen Konsens hätten Länder und betroffene Gemeinden beteiligt werden müssen. Sie können das, was Sie hier versprechen, nicht einhalten. Möglicherweise ist das Ihre Strategie. ({6}) Auf alle Fälle ist es nicht haltbar. Es hieß immer: Wer aussteigt, muss sagen, wo er einsteigt. Die Ziele waren immer klar: eine sichere, eine wettbewerbsfähige, eine umweltverträgliche Energieversorgung. Jeder weiß heute, dass mit den regenerativen Energien die Grundlastversorgung oder die Grundlastausstattung bei Strom, die jetzt weitgehend durch die Kernenergie erfolgt, nie und nimmer hergestellt werden kann. Das wird nicht möglich sein. Ihr 100 000-DächerProgramm, das Sie aufgelegt haben, ist Blendwerk. Mit dem schaffen Sie nicht einmal 1 Prozent der Energieversorgung. Mit dem leisten Sie überhaupt keinen Beitrag. Kraft-Wärme-Kopplung, Windenergie und Biomasse können Sie auf bis zu 10 Prozent ausbauen. Damit schaffen Sie die für einen Industriestandort notwendige Grundversorgung beim Strom in keiner Weise. Ich warne Sie vor Ihren Illusionen. ({7}) - Mit solchen Einwürfen, ich würde alles mies machen, kann ich relativ wenig anfangen. Der Industriestandort Deutschland braucht eine gesicherte Energieversorgung. Wir können uns bei der Energieversorgung nicht auf ein Lotteriespiel verlassen. ({8}) Am Schluss bleibt der verstärkte Einsatz von Kohle, Gas und Öl. Dies führt zu einem Anstieg der CO2-Mengen, die ausgestoßen werden. Es ist zweifelsohne so, dass die 150 bis 170 Millionen Tonnen an CO2-Ausstoß, die jetzt durch die Kernenergie eingespart werden, dann auf andere Weise auftreten. ({9}) 15 Jahre lang erklärt uns Rot-Grün: CO2 ist das Problem dieses Jahrhunderts und des nächsten auch noch. Plötzlich ist es kein Problem mehr. ({10}) Plötzlich ist es egal. Wenn man mit Ihren Leuten diskutiert, sagen die: Wir wissen, dass der CO2-Ausstoß vorübergehend ansteigt. Aber wie lange steigt er an und was ist bei Ihnen „vorübergehend“? Dies wird die nächsten JahrStaatsminister Dr. Otto Wiesheu zehnte der Fall sein, wenn Sie das realisieren können, was Sie realisieren wollen. Ich glaube, dass die Entwicklung Ihnen dabei noch einen Strich durch die Rechnung machen wird. Sie leisten damit auch keinen Beitrag zur Sicherheit in der Kernenergie. Darauf will ich gar nicht weiter eingehen, aber auf einen Punkt, der von Rot und Grün immer bestritten wird: Der Strommarkt ist nicht mehr national zu regeln. Der Strommarkt ist europäisch geregelt, ob es Ihnen passt oder nicht. Wer heute meint, dass er den Strommarkt noch national regeln kann, gehört zu den letzten Nationalisten, die wir in diesem Lande haben. Wir können den Strommarkt nicht mehr national regeln. ({11}) - Herr Trittin, der ist europäisch bestimmt. - Sie werden dies auch nicht verhindern können. Fragen Sie doch bei den Energieversorgern in Baden-Württemberg nach, woher die Stromangebote kommen! ({12}) Fragen Sie doch bei Yello-Strom nach! Fragen Sie doch einmal bei den Vertretern der Energiewirtschaft aus Russland, Tschechien oder anderen Ländern nach, die zu uns kommen und Strom zu einem Preis von 2 Pfennig pro Kilowattstunde anbieten! Ich möchte sehen, wie wir bei der Stromverteuerung über das EEG und die anderen Themen, die Sie auflegen, diesen Angeboten begegnen sollen. Dann haben Sie keine sichere, keine preiswerte und auch keine ökologische Energieversorgung mehr. ({13}) Machen Sie sich keine Illusionen: Die Aussage, dass die Kraftwerke europäischen Standards entsprechen müssen, ist natürlich richtig, aber tun sie das nicht? Mohovce, Bohunice und das KKW in Tschechien lassen sich die Sicherheitstechnik von Siemens und den amerikanischen Firmen liefern. Glauben Sie denn, dass Sie denen gegenüber behaupten können, Sie würden die Sicherheitsstandards nicht einhalten? Diese produzieren aber zu anderen Kosten. Sie können im Rahmen des europäischen Energiemarktes Energielieferungen aus diesen Ländern nicht aufhalten. Bei uns kann jeder der Energiebezieher selber entscheiden, welches Angebot er annimmt. Dann werden wir die Kernkraftwerke bei uns stilllegen und Kernenergiestrom aus anderen Ländern zwangsläufig beziehen. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Matschie von der SPD-Fraktion? Dr. Otto Wiesheu, Staatsminister ({0}): Nur dann, wenn es nicht zulasten meiner Redezeit geht. ({1}) - Es geht nicht zulasten von ihr. Dann bitte gern.

Christoph Matschie (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001434, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, Sie haben eben das Problem beschrieben, dass Strom in die Bundesrepublik importiert wird, und dies als Argument gegen unser Ausstiegskonzept verwandt. Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass Deutschland auch Strom exportiert und dass der Saldo zwischen Export und Import im Moment positiv für die Bundesrepublik ist? ({0}) Dr. Otto Wiesheu, Staatsminister ({1}): Das ist mir sehr wohl bekannt, weil wir von Bayern aus auch Strom Richtung Österreich liefern, und zwar im Winter, wenn es dort weniger Wasserstrom gibt. Im Sommer beziehen wir diesen von dort mit. Das machen die Österreicher, die sonst sehr gegen die Kernenergie sind, im Übrigen auch mit der Ukraine. Sie beziehen auch von dort im Austausch Kernenergiestrom. ({2}) - Das geht technisch sehr wohl, weil die Gleichrichterkopplungen vorhanden sind. Die Stromnetze sind geschlossen. Vielleicht sind Sie nicht auf dem aktuellsten technischen Stand. Das geht sehr wohl und wird auch praktiziert. Meine Damen und Herren, es kommt noch etwas hinzu; vielleicht hat man sich das nicht überlegt: Die Kommunen müssen den Strom dort einkaufen, wo sie ihn am billigsten bekommen. Wenn Herr Müller sagt, man muss dafür sorgen, dass man Kernenergiestrom nicht aus anderen Ländern nach Deutschland liefern kann, dann muss ich Ihnen sagen, die Kommunen müssen ab einer gewissen Einkaufsmenge ihre Bezüge europaweit ausschreiben. Wir müssen sie rechtsaufsichtlich veranlassen, den Strom dort zu beziehen, wo er am günstigsten ist. Das wird lustig. Da werden sich Ihre rot-grün regierten Kommunen arg freuen. ({3}) Was Sie machen, ist die Vernichtung einer vernünftigen und guten Technologie, einer sicheren, preiswerten und umweltfreundlichen Energieerzeugung, ist die Vernichtung von Tausenden von Arbeitsplätzen, ohne dass gleichwertige geschaffen werden. Das ist keine Energiepolitik. Das bedeutet für einen Energiestandort die Verteuerung der Produktion und die Gefährdung von Arbeitsplätzen im Stahl-, Chemie-, Papier-, Glas-, Porzellan-, Zement-, Zellstoff-, Aluminiumbereich und in vielen anderen Bereichen. Reden Sie doch einmal mit den Vertretern der IG Chemie, Bergbau und Energie, was die zu dem Thema sagen! Reden Sie doch einmal mit den Betriebsräten in diesen Betrieben! Reden Sie doch einmal mit den Leuten, die konkret mit den Themen konfrontiert sind! Ich freue mich immer, wenn Vertreter der SPD zur Porzellanindustrie gehen und sagen, der Strom muss billiger Staatsminister Dr. Otto Wiesheu werden, und dann dafür stimmen, dass der Strom permanent teurer wird. Meine Damen und Herren, Sie geraten hier in einen Widerspruch und Zwiespalt, den Sie auf Dauer nicht aushalten werden. ({4}) Sie sorgen dafür, dass sich Deutschland aus einer wichtigen, weltweit relevanten Hochtechnologie abmeldet. Bei über 400 Kernkraftwerken, die es weltweit gibt, wird die Abschaltung der 19 in Deutschland keinen Beitrag zur Erhöhung der Sicherheit leisten. Im Gegenteil. Sie wird einen Beitrag dazu leisten, dass wir uns aus der weltweiten sicherheitspolitischen Diskussion ausblenden, obwohl wir bisher die höchsten technischen Anforderungen gestellt haben. ({5}) Was das für diese Technologie bedeuten soll, ist mir nicht klar. Ich kann nur eine Bilanz ziehen. Die Bundesregierung handelt hier leichtfertig. Das ist kein Beitrag zur sicheren, preiswerten und umweltfreundlichen Energieversorgung. Das ist auch kein Beitrag zur Innovation. Das ist nicht zu verantworten angesichts eines Industriestandortes, wie wir ihn in Deutschland haben, der auf eine sichere und preiswerte Energieversorgung angewiesen ist. Das ist nicht solide und seriös. Es trägt auch nicht lang. ({6}) Es fällt zunächst noch gar nicht auf - das ist das Problem -, und zwar deswegen nicht, weil sichere und stabile Grundlagen der Energieversorgung vorhanden sind. Sie fragen: Wer will schon in den nächsten zehn Jahren ein Kernkraftwerk bauen? Genau genommen will in den nächsten zehn Jahren fast niemand ein großes Kraftwerk bauen, weil der Park ausreicht. Deswegen glauben Sie, sündigen zu können. Nur, das wird nicht lange halten. Das, was hier gemacht wird, ist nichts anderes als Scharlatanerie, weil man auf der Basis einer stabilen Grundlage sündigt, aber keine Konzeption für die Zukunft hat. Was Sie hier praktizieren, ist Genugtuung für politische Ideologie, aber keine Antwort auf die Fragen, die die Praxis stellt. Deswegen sagen wir Nein zu diesem Kurs. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Michaele Hustedt vom Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass Sie der Konsens umtreibt, kann ich ja verstehen. Dass Sie für Atomkraft sind, ist ehrlich. So ist das nun einmal. Aber es ist verlogen, wenn Sie hier so tun, als ob Sie die Interessen der Stromkonzerne vertreten. ({0}) - Sie tun hier so, als ob Sie aufseiten der Stromkonzerne stehen. ({1}) Der selbst ernannte Freund ist in der Politik häufig der größte Feind. Herr Wiesheu, gerade Sie haben das heute wiederum ziemlich deutlich gemacht. Ich freue mich schon darauf, wie Sie an der Seite von Herrn Stoiber ({2}) organisiert in einer Bezugsgruppe vor dem Zwischenlager XY in Bayern gegen die Zwischenlager demonstrieren. Damit finden Sie sich vollständig auf der Seite der so genannten Verstopfer wieder - Seite an Seite mit der AntiAKW-Bewegung -, was Jürgen Trittin immer vorgeworfen wurde. Herr Wiesheu, ich glaube nicht, dass Sie die Position, in Bayern die meisten Atomkraftwerke in Deutschland zu betreiben und gleichzeitig zu sagen, die Zwischenlagerung von Atommüll komme in diesem Land nicht in Frage, sondern solle gefälligst in Niedersachsen oder in Ahaus in Nordrhein-Westfalen passieren, politisch durchhalten können. Das ist eine Position, die moralisch nicht vertretbar und politisch nicht durchhaltbar ist. ({3}) Ich möchte Ihnen die Tatsache, dass Sie hier nur im eigenen Interesse und nicht im Sinne der wirtschaftlichen Interessen der Stromkonzerne sprechen, mit einem kleinen Rückblick auf die Geschichte deutlich machen. Wer hat denn die Idee des Energiekonsenses überhaupt erst auf die Tagesordnung gebracht? Das war in den Jahren 1991/1992 - Herr Müller weiß das besser als ich - die VEBA, die damals die Regierung Kohl aufgefordert hat, einen Konsens zum geordneten Auslaufen der Atomenergie in Deutschland zu organisieren, und zwar mit der Begründung, ein Betreiben einer Technologie, die nicht auf Akzeptanz in der Bevölkerung stoße, sei auf Dauer auch für die Stromkonzerne in Deutschland nicht akzeptabel. Herr Kuhnt von RWE hat in den damaligen Gesprächen deutlich gemacht, man setze auf ein geordnetes Auslaufen, solange diese Akzeptanz nicht gegeben sei. Die Regierung Kohl hat damals diesen Konsens verhindert. Es ist viel Zeit verschwendet worden, um diesen Kompromiss in der Gesellschaft hinzubekommen. Es hat jahrelange Grabenkämpfe bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen gegeben. Jetzt haben wir diesen Kompromiss, der in den Jahren 1991/1992 von den Stromkonzernen selbst angestoßen worden ist. Die Stromkonzerne haben aus wohlverstandenen wirtschaftlichen Interessen diesem Konsens zugestimmt. Sie könnten ihr Geld auch anders als mit Atomkraft verdienen. Andere Technologien, wie zum Beispiel moderne Gaskraftwerke, rechnen sich im Wettbewerb wesentlich besser, da sie wesentlich kürzere Amortisationszeiten und eine größere Akzeptanz haben. Staatsminister Dr. Otto Wiesheu Die Einzigen, die mit diesem Kompromiss nicht leben können, sind anscheinend Sie. Sie stellen sich damit jenseits eines gemeinsamen Konsenses in der Gesellschaft. ({4}) Deutlich wurde das auch dadurch, wie Sie sich im Energiedialog verhalten haben. Da hat der Kollege Grill verkündet, die CDU steige aus, am nächsten Tag saßen Sie wieder in der Steuerungsgruppe. Da hat der Fraktionsvorsitzende Merz gesagt, die CDU sei ausgestiegen, am nächsten Tag hat Frau Merkel verkündet, die CDU sei weiter am Energiedialog beteiligt. Ich glaube, Sie sollten sich einmal fragen, ob Ihre Pro-Atom-Haltung ohne Wenn und Aber und Ihr Festhalten an der Atomenergie als Zukunftstechnologie richtig sind, obwohl jeder weiß, dass das eine Sackgassentechnologie des letzten Jahrhunderts ist. Ihre Haltung ist die Ursache dafür, dass Sie völlig am Rande der Gesellschaft stehen und sich außerhalb jeglicher vernünftigen Debatte über die Zukunft der Energieversorgung befinden. ({5}) Sie behaupten, die Bundesregierung habe kein Konzept. Ich muss Ihnen sagen: Von allen Vorrednern der Opposition, vor allem von Frau Merkel, habe ich außer einem Bekenntnis zur Atomenergie kein einziges Wort darüber gehört, wie denn aus Ihrer Sicht das Klimaschutzziel zu erreichen ist. Aus Ihrer Sicht wäre es logisch gewesen, den Bau von neuen Atomkraftwerken vorzuschlagen. Ich habe auch das nicht gehört. Sie wissen sehr wohl, warum Sie dieses nicht vorschlagen: Sie würden weit und breit keinen Investor finden, der sich in diesem Bereich betätigen würde. ({6}) Von Ihnen liegen auch keine anderen Vorschläge auf dem Tisch. Das ist ein Oppositionsverständnis, welches wir in der Tat so niemals vertreten würden. Ich glaube, die Ursache dafür liegt darin, dass Sie Ihren Frieden mit dem Atomkonsens nicht machen können. Diesen Konflikt mit Ihrer Pro-Atom-Haltung außerhalb der Gesellschaft zu stehen oder mit uns zusammen in der Gesellschaft an einem zukunftsfähigen Energieversorgungskonzept mitzuarbeiten - müssen Sie erst einmal klären und sich entscheiden. Die rot-grüne Regierung dagegen geht ihren Weg. Wir haben nicht nur den Ausstieg beschlossen, wir haben auch begonnen mit dem Einstieg in eine umweltverträgliche Energieversorgung. Das Gesetz für die erneuerbaren Energien, das weltweit ambitionierteste Förderprogramm für die erneuerbaren Energien, wurde hier schon mehrmals genannt. Selbstverständlich ist es nicht so, dass damit in fünf Jahren 30 Prozent der Stromerzeugung erreicht werden können. Aber gerade in der Industrie muss man mit Investitionszeiträumen von 30 bis 40 Jahren rechnen. Das sind die Planungshorizonte. Ich sage Ihnen: In 30, 40 oder 50 Jahren werden wir auch in Deutschland 50 Prozent der Energieerzeugung aus erneuerbaren Energien, aus Wind, aus Biomasse, aus Photovoltaik, aus Erdwärme haben. ({7}) Selbstverständlich kann man nur mit regenerativen Energien, durch einen geschickten Mix aus Biomasse, aus Wind, aus Photovoltaik, dann auch aus Speicherstoffen wie zum Beispiel Wasserstoff, auch die Grundlast sicherstellen. Es ist eine völlig irre Vorstellung, dass man ohne Atomkraft die Grundlast nicht betreiben kann; das funktioniert auch in dem Übergangszeitraum. Es gibt viele hoch industrialisierte Länder, die ohne Atomkraft eine florierende Wirtschaft haben. ({8}) Malen Sie doch hier nicht den Beelzebub an die Wand! ({9}) Es geht auch ohne Atomenergie, es geht sogar besser als mit Atomenergie. Bevor wir das Solarzeitalter richtig eröffnen und damit einen Anteil von 50 bis 100 Prozent erreichen, werden wir eine Übergangsphase haben, in der wir auf die Energieeinsparung setzen werden. ({10}) Es wird eine Energieeinsparverordnung geben. Wir werden außerdem ein Altbausanierungsprogramm auf den Weg bringen, wo wir große Einsparpotenziale sehen, und wir werden auch die hocheffiziente Nutzung fossiler Energieträger vorantreiben, damit sie nicht verschwendet werden, sondern damit mit ihnen sparsam umgegangen wird. Das ist - es wurde bekanntlich schon mehrmals gesagt - das Konzept der rot-grünen Bundesregierung. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Dr. Peter Paziorek von der CDU/CSU-Fraktion.

Dr. Peter Paziorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001685, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Matschie fragte uns als Opposition: Was werfen Sie uns eigentlich vor? Unsere Kritik an Ihrem Ausstiegskurs kann in einem Satz zusammengefasst werden: Die Atomausstiegspolitik der rotgrünen Bundesregierung ist politisch unverantwortlich und bezogen auf die bisherigen Positionen von Rot und Grün auch in höchstem Maße unglaubwürdig. ({0}) Wie unglaubwürdig Ihre jetzige Haltung ist, ergibt sich schon daraus, dass seit der Gründung der Partei der Grünen immer wieder die Sicherheit der deutschen Atomkraftwerke angezweifelt wurde. Die massiven Sicherheitsdefizite waren, wie Sie damals ja behaupteten, auch Anlass für gewaltsame Auseinandersetzungen auf der Straße. ({1}) Nun aber sind die Kernkraftwerke laut Trittin so sicher, dass sie noch 32 Jahre laufen können. Wenn sie so unsicher wären, wie Sie es in der Vergangenheit immer behauptet haben, dann hätten Sie sie sofort abstellen müssen. Dass Sie das nicht getan haben, belegt doch, wie unglaubwürdig Ihre bisherigen Positionen waren. ({2})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Paziorek, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hustedt?

Dr. Peter Paziorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001685, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gerne.

Michaele Hustedt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002685, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Paziorek, Sie wollen sich ja hier mit Qualität an der Debatte beteiligen. ({0}) Ist Ihnen entgangen, dass es einen Unterschied zwischen Gesamtlaufzeiten und Restlaufzeiten gibt? Ist Ihnen vielleicht auch entgangen, dass die durchschnittlichen Restlaufzeiten 13 Jahre betragen und die Gesamtlaufzeiten 32 Jahre sind? Das heißt, da das letzte AKW vor ungefähr elf Jahren ans Netz gegangen ist, dass Sie diese elf Jahre auch für das letzte AKW abziehen müssen. Ist Ihnen entgangen - noch einmal die Wiederholung der Frage -, dass es einen Unterschied gibt zwischen den Gesamt- und den Restlaufzeiten? Das ist das kleine Einmaleins.

Dr. Peter Paziorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001685, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Hustedt, gehen Sie davon aus, dass mir das nicht entgangen ist. Aber die Kompliziertheit Ihrer Rechnung und die Kompliziertheit Ihrer Darlegung zeigt doch, welche Schwierigkeiten Sie haben, von Ihrer bisherigen Position abzurücken. ({0}) Frau Hustedt, Sie haben doch gerade in Ihrer Rede auch gefordert, die Union solle sich entscheiden. Deshalb sage ich Ihnen noch einmal für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ganz deutlich: Unsere Fraktion steht für die friedliche Nutzung der Kernenergie und hält den von der rot-grünen Bundesregierung ausgehandelten Ausstieg aus der Kernenergie aus gesamtpolitischen, aus ökologischen und aus wirtschaftlichen Gründen für einen Irrweg. Die friedliche Nutzung der Kernenergie leistet nämlich ganz im Sinne des Leitbildes der nachhaltigen Entwicklung einen bedeutsamen Beitrag für die Energieversorgung. Dieser Beitrag ist mittel- und längerfristig notwendig, um eines der Ziele der Agenda 21 von Rio umzusetzen. Eines dieser Ziele ist, die benötigte Energie unter größtmöglicher Schonung fossiler Energiequellen bei geringer Belastung der Erdatmosphäre zu erzeugen und zu nutzen. Von diesem Ziel rücken Sie in unserem Lande - leider - ab, wenn Sie jetzt immer mehr der stärkeren Nutzung der Steinkohle das Wort reden. Der vereinbarte Atomkonsens ist eine schwere Niederlage - das ist auch ganz wichtig - für den Forschungs- und Entwicklungsstandort Deutschland. Durch den Atomausstieg wird Deutschland international auf sicherheitstechnische Einflussnahme verzichten müssen. Dies wird langfristig die deutsche Wettbewerbsfähigkeit auf diesem speziellen Technologiegebiet beschädigen; denn die Wirtschaft eines Landes, das seine Kernkraftwerke abschaltet, wird im Ausland Schwierigkeiten haben, zu erklären, warum man gerade deren Sicherheitstechnik kaufen soll. ({1}) Es ist in erster Linie auch ein großes ethisches Problem. Ich stelle nur die Frage: Ist es vertretbar, dass sich gerade Deutschland mit seiner Sicherheitsphilosophie aus der internationalen Diskussion verabschiedet? Ich meine - kurz gesagt -: Nein, das ist ethisch unverantwortlich. ({2}) Der Bundeskanzler hat in seinen Ausführungen davon gesprochen, der Union ginge es bei der Frage des Atomausstiegs vielleicht um den Untergang des Abendlandes. Darum geht es gar nicht. Aber bei dem Atomausstieg geht es höchstwahrscheinlich um die Aufgabe der sicherheitstechnischen Führungsrolle Deutschlands in Europa. Dies halte ich insgesamt für unverantwortlich. ({3}) Der jetzige Kurs bedeutet in Wahrheit den Verlust von Forschungs- und Entwicklungskompetenz in einer naturwissenschaftlichen Kerndisziplin. Wenn Sie den Mut gehabt hätten, dies Ihren Anhängern zu sagen, dann hätten Sie einen verantwortungsvollen Weg eingeschlagen. Aber bei allen Politikfeldern, die Sie im Augenblick beschreiten, stellt man immer wieder fest: Der rote Faden Ihrer Politik ist der Populismus. ({4}) Sie versuchen, mit geringstmöglichem Widerstand durchzukommen. Sie haben manchmal nicht den Mut, eine schwierige Diskussion mit Ihrer Klientel zu führen. Das muss ich Ihnen in aller Deutlichkeit vorwerfen. ({5}) Wir werden durch den Atomausstieg langfristig von einem Exporteur zu einem Importeur von technischem Know-how. Das wird uns langfristig international in die Isolation führen. Ein Wort zu den äußerst polemischen Aussagen von Herrn Trittin, die er im Sinne einer Parteitagsrede gemacht hat, als er das Bild an die Wand malte, mit den erneuerbaren Energien ließe sich die Atomenergie jetzt ersetzen. Deutschland wird erhebliche Schwierigkeiten haben, Herr Bundesumweltminister, seinen Klimaschutzverpflichtungen nachzukommen. Die Eindämmung der weltweiten CO2-Emissionen zur Stabilisierung des Weltklimas ist die größte umweltpolitische Herausforderung unserer Generation. In diesem Zusammenhang darf man nicht nur auf das nationale Ziel 2005 verweisen. Schließlich müssen wir auch noch das Ziel von Kioto - minus 12 Prozent - erfüllen. Die Reduktionspolitik muss nach 2005 weitergehen. ({6}) Deshalb frage ich: Meinen Sie wirklich, dass wir durch den notwendigen Mix aus Energieeinsparung und rationaler Energieanwendung tatsächlich den Wegfall der Kernenergie - auch bezogen auf das Ziel 2012 - ausgleichen können? ({7}) Wenn ich die Äußerungen des ehemaligen Umweltsenators von Hamburg, Herrn Vahrenholt, als Beispiel nehme, der ausdrücklich davor warnt, zu glauben, dass sich mit den erneuerbaren Energien 2005, 2010 oder 2015 die Kernenergie ersetzen ließe, und der damit zu Recht die Frage aufwirft: „Wie realistisch ist das Erreichen des Reduktionsziels?“, dann finde ich es sehr traurig, dass solche kritischen Stimmen in Ihrer Partei einfach weggebügelt werden. Wenn Sie auf solche Stimmen gehört hätten, dann hätten Sie auch mit einer Atompolitik eine verantwortungsbewusste CO2-Reduktionspolitik machen können. Aber Sie hören nicht auf solche Stimmen und führen deshalb Deutschland auch in der internationalen Klimaschutzpolitik in eine Sackgasse. ({8}) Eines wird auch in Ihrem Papier zum Energiedialog, Frau Ganseforth, ganz deutlich: Es gibt keinen belastbaren Energiekonsens. Es gibt keine aussagekräftigen Zahlen und Rechnungen - es gibt nur allgemeine Aussagen -, die belegen sollen, wie Sie mittelfristig die Kernenergie durch erneuerbare Energien ersetzen wollen. Auch das Papier zum Energiedialog gibt darauf keine Antwort. Wenn Sie das Papier lesen, dann müssen Sie zugeben, dass Sie an diesem Punkt eine große inhaltliche Schwachstelle haben. ({9}) Natürlich wird die Atomenergie jetzt im internationalen Bereich - wir haben den liberalisierten Strommarkt einen Kostenfaktor darstellen. Es wird eine spannende Frage werden, wie Sie Atomstromtransporte vor dem Hintergrund des EU-Rechts verhindern wollen. Herr Matschie, wir haben Ihre Aussage hier gehört. Auch Herr Müller hat gerade gesagt, er habe kein Interesse daran. Sie sagen, es werde mit Ihnen keine rechtliche Regelung geben, die beinhaltet, dass zum Beispiel der EU-weite Import von Atomstrom nach Deutschland verhindert wird. Wenn Sie das so sagen, dann ist das der neueste Stand, auch wenn wir andere Papiere aus Ihrer Umgebung kennen. Ich bin einmal gespannt, wie Sie in den nächsten Jahren verhindern wollen, dass deutscher Atomstrom durch ausländischen Atomstrom tatsächlich ersetzt wird und wie Sie das als einen Erfolg Ihrer Ausstiegspolitik verkaufen wollen. Das wird nicht möglich sein und wir werden es Ihnen nicht durchgehen lassen. ({10}) Der Bundeskanzler hat davon gesprochen, uns gehe es in Sachen des Endlager- und Entsorgungskonzeptes um die Anwendung des Sankt-Florians-Prinzips. Ich will in aller Deutlichkeit sagen: 1979, 1980 und 1990 haben Bund und Länder vereinbart, gemeinsam ein Entsorgungskonzept über die verschiedensten Ebenen zu tragen. Zwei Eckpunkte dieses Konzepts will ich nennen: zum einen die Zwischenlagerung - dabei ist Ahaus genannt worden; das liegt im Münsterland, ganz in der Nähe meines Wohnortes - und zum anderen langfristig die Fortsetzung der Erkundung in Gorleben. Sie müssen den Menschen hinsichtlich der Zwischenlagerstandorte, egal ob es sich um Ahaus oder um die neuen Standorte der dezentralen Konzepte handelt, eine Antwort darauf geben, ob sie zu Recht befürchten, dass aus den in ihrer Nähe liegenden Zwischenlagerstandorten langfristig doch verkappte Endlager werden, weil Sie nicht den Mut haben, die Erkundungen in Gorleben fortzusetzen. Was bedeutet das Moratorium? Wenn Sie in diesem Papier an anderer Stelle sagen, Sie seien der Ansicht, dass Gorleben zum heutigen Zeitpunkt tatsächlich nicht als sicher bezeichnet werden kann, dann frage ich Sie: Warum erkunden Sie in Gorleben dann nicht weiter? Ich kann Ihnen die Antwort geben: Sie erkunden in Gorleben nur deshalb nicht weiter, weil Sie dann Schwierigkeiten mit Ihrer Anhängerschaft bekämen. Sie erkunden nicht deswegen nicht weiter, weil Sie der Ansicht sind, Gorleben sei unsicher. Sie erkunden nur deshalb nicht weiter, weil Sie nicht den Mut haben, diese Frage mit Ihrer Anhängerschaft zu diskutieren. Daran kann man erkennen, wie verantwortungslos Sie in diesem Bereich Politik betreiben. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Dr. Peter Paziorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001685, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Danke schön, Herr Präsident. Abschließend sage ich: Kernenergie ist für uns keine Auslaufveranstaltung. Die Union wird die friedliche Nutzung in jedem Fall weiterhin propagieren. Dies ist für uns nämlich eine selbstverständliche Verpflichtung gegenüber nachfolgenden Generationen; denn die Kernkraftoption muss für sie offen gehalten werden. Vielen Dank. ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Volker Jung von der SPD-Fraktion das Wort.

Volker Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001040, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dass der Ausstieg aus der Kernenergie nach diesem Energiekonsens kontrovers bleiben wird, war absehbar und irritiert uns nicht besonders. Allerdings ist die Situation neu, dass Drohungen von unionsregierten Ländern im Raum stehen, bei der Errichtung von standortnahen Zwischenlagern nicht zu kooperieren. Nach meiner Auffassung ist das genau das Gleiche, was Sie rot-grünen Landesregierungen jahrelang vorgeworfen haben: Sie betrieben einen ausstiegsorientierten Gesetzesvollzug. Wir werden in der Zukunft wahrscheinlich darüber reden müssen, dass ein ausstiegsbehindernder Gesetzesvollzug betrieben wird, den wir nicht akzeptieren werden. Wir werden das insbesondere deswegen nicht tun, weil sich die Vereinbarung über den Ausstieg nach meiner festen Überzeugung als unumkehrbar erweisen wird; denn - der Bundeskanzler hat es hier gesagt und ich wiederhole es - seit über zehn Jahren denkt kein einziges Energieversorgungsunternehmen in unserem Land mehr daran, ein neues Kernkraftwerk zu bauen, nicht nur wegen der bekannten Akzeptanzprobleme, sondern insbesondere auch wegen wirtschaftlicher Erwägungen. Man befürchtet, dass neue Kernkraftwerke nicht wirtschaftlich eingesetzt werden können. Diese Problematik wird auf Dauer so bleiben, weil der liberalisierte europäische Binnenmarkt das nicht zulassen wird. ({0}) Darum betrachten wir es als einen großen Erfolg der Bundesregierung, dass es jetzt gelungen ist, einen Konsens über den Ausstieg aus der Kernenergie zu finden. Damit ist ein klarer Auftrag der Wähler aus der Bundestagswahl 1998 eingelöst worden; denn unsere Bevölkerung vertraut der Beherrschbarkeit dieser Technologie seit dem Super-GAU in Tschernobyl und dem Beinahe-GAU in Harrisburg nicht mehr. ({1}) Es ist ein großer Erfolg, meine Damen und Herren, dass die Elektrizitätsversorgungsunternehmen auf Entschädigungsansprüche verzichten. Das gilt für die Laufzeitbegrenzung der Kernkraftwerke, das gilt aber auch für mögliche Pönalen aus der Wiederaufarbeitung - die EVUs haben sich verpflichtet, alle zumutbaren Möglichkeiten zu nutzen, um eine frühestmögliche Beendigung der Wiederaufarbeitung sicherzustellen -, und das gilt schließlich auch für die Investitionen in die Exploration von Gorleben und Schacht Konrad. Es ist auch ein Erfolg, dass mit der Definition von Reststrommengen, die übertragbar sind, der Einsatz von Kernkraftwerken optimiert werden kann, und zwar in die Richtung „Neu für Alt“. Damit wird ein wesentlicher Beitrag zur Sicherheit geleistet. ({2}) Dieses Modell hat es dem RWE auch ermöglicht, die Inbetriebnahme von Mülheim-Kärlich jetzt zu den Akten zu legen. Es ist in das Kontingent einbezogen, und damit werden alle Schadenersatzansprüche obsolet. Meine Damen und Herren, es ist auch ein Erfolg, dass es jetzt regelmäßig Sicherheitsüberprüfungen geben wird. Das ist einvernehmlich so festgelegt worden. Es ist schließlich ein Erfolg, dass durch die Errichtung standortnaher Zwischenlager die Zahl der Castortransporte in der Zukunft ganz erheblich reduziert wird. Damit haben wir Zeit gewonnen, und damit können wir ein tragfähiges Endlagerkonzept entwickeln, das der einzige Entsorgungsweg werden soll. Meine Damen und Herren, ich nehme die Hinweise schon ernst, dass wir in der Zukunft ein schlüssiges Energiekonzept brauchen. Ich habe verschiedentlich von einer belastbaren Substitutionsstrategie gesprochen, damit wir den Verzicht auf die Kernenergie ermöglichen und gleichzeitig unsere Klimaschutzziele weiter verfolgen können und damit Arbeitsplätze am Standort Deutschland sichern. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als darum darin stimme ich durchaus mit Herrn Hirche überein -, dass wir einen Anteil von mehr als 30 Prozent der Kernenergie an der Stromerzeugung substituieren müssen, und ich stimme mit Herrn Hirche auch darin überein, dass es um einen Anteil der Kernenergie von mehr als 50 Prozent an der Grundlaststromerzeugung geht. Das ist ein Problem, das wir hier nicht wegreden dürfen. Ich finde aber, dass die Strategie gut vorgezeichnet ist. Dazu hat der Energiedialog 2000, in dem eine ganze Reihe von bemerkenswerten Übereinstimmungen gefunden worden ist, wesentliche Beiträge geleistet. Auf dieser Grundlage soll nach Aussage des Bundeswirtschaftsministers im Herbst ja auch ein Energiekonzept entwickelt werden. Ich meine, dass eine solche Substitutionsstrategie vier, fünf Elemente beinhalten sollte. In der Diskussion wird immer vergessen, dass mit der Kernenergie Überkapazitäten abgebaut werden können. Das steht zwar nicht in dem Papier über den Energiedialog 2000, weil das Kapitel Kernenergie als kontrovers ausgeklammert worden ist, aber es wird von den EVUs heute so gesagt, dass es notwendig ist, in der Zukunft Kapazitäten stillzulegen. Das ist ein Baustein. Zweitens. Wir müssen die erneuerbaren Energiequellen wirksamer fördern. Dazu haben wir das Gesetz über erneuerbare Energien verabschiedet und das 100 000-Dächer-Solarprogramm auf den Weg gebracht. Ich bin mir durchaus bewusst, dass diese erneuerbaren Energieträger nur begrenzt im Grundlastbereich eingesetzt werden können - bei der Wasserkraft sieht das etwas anders aus -, aber das ist ein sehr wesentlicher additiver Beitrag. Darum müssen wir vor allem Energie einsparen. In diesem Sinne arbeiten wir mit Hochdruck an einer Energieeinsparverordnung. Ein wesentlicher Punkt ist meiner Meinung nach des Weiteren, dass in der Zukunft die Kraft-Wärme-Kopplung ausgebaut wird. ({3}) Ich verweise da auf einschlägige Studien, die im letzten halben Jahr vorgelegt worden sind und in denen die KraftWärme-Koppelung als kostengünstigste Möglichkeit bezeichnet wird, gleichzeitig Energie zu erzeugen und die CO2-Emissionen zu reduzieren. Ganz wichtig ist dabei, dass dieser Energieträger vorwiegend im Grundlastbereich eingesetzt wird. Hier kommt tatsächlich eine Substitution zum Zuge. ({4}) Wir haben in diesem Zusammenhang das Soforthilfegesetz verabschiedet, weil es ja keinen Sinn macht, meine Damen und Herren, erhebliche Kapazitäten einer Energieform vom Netz gehen zu lassen, die wir in Zukunft ausbauen wollen. Nach meiner Auffassung müsste diese Regelung aber durch eine dauerhafte Ausbauregelung abgelöst werden. Wenn all diese Bausteine nicht ausreichend sein sollten, um den entsprechenden Substitutionsbeitrag zu erbringen, dann werden wir konsequenterweise auch daran denken müssen, hoch effiziente konventionelle Kraftwerke neu zu bauen. Meine feste Überzeugung ist aber, dass sich das nicht als notwendig erweisen wird. Meine Damen und Herren, wenn wir alle diese Bausteine intelligent und flexibel kombinieren und daraus eine Konzeption entwickeln, dann wird es uns gelingen davon bin ich fest überzeugt -, Kapazitäten zu verringern, Arbeitsplätze am Standort Deutschland zu sichern und in der Zuliefererindustrie zu vermehren und am Ende auch unsere Klimaschutzziele zu erreichen. Schönen Dank. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Kurt-Dieter Grill von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte schon noch einmal deutlich machen, dass es in der jetzigen Zeit nicht die Hauptaufgabe ist, darüber zu diskutieren, welche neuen Kapazitäten wir brauchen. Vielmehr müssen wir in den nächsten fünf bis acht Jahren des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts mit marktwirtschaftlichen Instrumenten den Abbau der sonst immer so gescholtenen Überkapazitäten vollziehen; auch Sie haben sie ja immer beredt beklagt. In Wahrheit muss in Deutschland nicht ein einziges Megawatt neuer Leistung installiert werden, weil wir in Deutschland selbst genug Strom produzieren. Das ist das Entscheidende. ({0}) - Vor diesem Hintergrund können Sie sich aber nicht hier hinstellen und sagen, Sie hätten zum einen ein Konzept das stimmt nicht, da Sie auf den Ausstieg nicht vorbereitet sind - und zum anderen sei es die wichtigste Aufgabe, Neubauten zu errichten. ({1}) Herr Trittin selber hat als Vertreter der Bundesregierung Ende März, Anfang April dieses Jahres auf die Frage, ob die erneuerbaren Energien die Kernenergie ersetzen können - das vertreten Sie ja hier -, geantwortet, dass das abwegig sei. Mit den von Herrn Trittin geschalteten Anzeigen, in denen es heißt, nach der Kernenergie kommen Wind, Wasser und was auch immer, zum Beispiel Solar, versagen Sie schon wieder in der Sache und täuschen die Bevölkerung ein weiteres Mal. ({2}) Herr Müller wird ja nicht müde, hier vorzutragen, wie es sich in Dänemark und Österreich verhält. Herr Müller, ich will dazu nur sagen: Die dänischen Werte beim CO2Ausstoß liegen an der Spitze Europas, nämlich 14 Tonnen CO2 pro Kopf und Jahr; das liegt insbesondere daran, dass die Dänen mit Strom aus KWK für das stillgelegte Kernkraftwerk Barsebäck in Schweden Ersatz leisten. Das schlägt sich in ihrer CO2-Bilanz mit 4 Millionen Tonnen CO2 mehr jährlich nieder. Auch in der heutigen Debatte haben Sie keine Antwort darauf gegeben, welche Mengen an CO2 durch Ihre Energiepolitik freigesetzt werden und was das klimapolitisch bedeutet. ({3}) Noch etwas ist Ihnen vorzuwerfen: Sie stellen sich hier hin und sagen: Dass keiner baut, hat etwas mit den Überkapazitäten zu tun. Ihr Bundeswirtschaftsminister hat aber heute in der „Zeit“ ein Interview gegeben. Schon letztes Jahr auf der kerntechnischen Tagung im Mai hat er gesagt: Die deutschen Unternehmen können sich gerne am EPR in Frankreich beteiligen. Heute lese ich in der „Zeit“, dass er natürlich nicht ausschließe, dass wieder Kernkraftwerke gebaut werden. Aus Ihren Äußerungen zugunsten erneuerbarer Energien, für einen Wiedereinstieg in die Kerntechnik und der Tatsache, dass der Bundeskanzler an Stelle von Kernkraftwerken Kohlekraftwerke bauen will, ist kein schlüssiges Konzept zu erkennen. Sie veranstalten hier vielmehr einen Marsch in die Sackgasse der Klimapolitik. ({4}) Ich will mich noch mit einem zweiten Punkt auseinander setzen. Sie suggerieren - auch in der Antwort auf Frau Merkel und mit dem, was der Bundeskanzler und Herr Volker Jung ({5}) Trittin gesagt haben -, dass Gorleben und das gesamte Entsorgungskonzept eine Angelegenheit der CDU/CSU, von Helmut Kohl und von Angela Merkel, sei. Hören Sie auf, die Menschen im Lande zu verdummen! Ernst Albrecht musste die Zusagen von Alfred Kubel 1977 einlösen, dass in Niedersachsen ein nukleares Entsorgungszentrum gebaut wird. Das ist die Wahrheit. Was in Gorleben steht, ist nicht die Folge der Politik von CDU/CSU, sondern die Folge der Politik der Regierung Schmidt in den 70er-Jahren. Das ist die Realität. ({6}) Es ist ganz interessant, dass heute in diesem Haus zwei Parteien die Mehrheit bilden, von denen die eine, nämlich die Sozialdemokraten, durch ihre totale Technikgläubigkeit in den 70er-Jahren die Basis für die Entstehung der anderen Partei, der Grünen, als einer Protestbewegung gegen die Politik der Sozialdemokraten in den 60er- und 70er-Jahren gelegt hat. Insofern beteiligen Sie sich an der Bewältigung dessen, was die Sozialdemokraten in ihrer Technik- und Machbarkeitsgläubigkeit in den 70er-Jahren als Erbe hinterlassen haben. ({7}) Dazu eine weitere Bemerkung. Wenn der Bundeskanzler heute sagt, die CDU/CSU verweigere sich in der Entsorgungsfrage, dann ist das so unglaublich verlogen, weil Ernst Albrecht nicht danach gefragt hat, wer in jener Zeit in Bonn regiert hat. Er hat vielmehr danach gefragt, wer die Aufgaben wahrnehmen muss und wie man die Aufgaben wahrnehmen muss. Insofern müssen wir über die Vergangenheit der SPD reden. Wir müssen konstatieren: Sie malen das Bild eines Konsenses an die Wand. In Wahrheit schaffen Sie neue Konfrontationen. Sie schaffen zum Beispiel eine Konfrontation mit den Ländern, weil Sie wider den Geist der Verfassung den Konsens mit den Ländern aufgeben und den Dialog bewusst abgebrochen haben, ohne deutlich zu machen, wie es ohne einen solchen Konsens weitergehen soll. ({8}) Sie haben auch in grob fahrlässiger Weise die Kommunen aus der Willensbildung ausgenommen. Sie haben diejenigen, die von Ihrer Politik betroffen sind - Sie sind doch basisdemokratisch -, ({9}) vollkommen aus der Diskussion gehalten. Hinter verschlossenen Türen ist etwas ausgehandelt worden, was nicht gesellschaftlicher Konsens sein kann, weil vier Unternehmen der Strombranche und zwei Parteien miteinander verhandelt haben. Aber das Volk, die Gesellschaft, die Betroffenen und die Verantwortlichen an den Standorten sind nicht an diesen Gesprächen beteiligt gewesen. ({10}) Aus einer solchen Politik kann kein Vertrauen erwachsen. ({11}) - Frau Ganseforth, ich glaube, es wäre besser, wenn Sie schweigen würden. ({12}) In den letzten 20 Jahren haben Sie an allen Kernkraftwerkstandorten sozusagen die Auseinandersetzung geschürt. Weil meine Redezeit dafür nicht reicht, will ich jetzt nicht aufzählen, was alles in diesem Zusammenhang gelaufen ist. Aber einen Punkt will ich herausgreifen. Von Griefahn bis Jüttner haben alle gesagt, dass CastorenBehälter unsicher seien und dass das Zwischenlager in Gorleben unsicher sei. Wenn Sie jetzt sagen, diese Behälter seien sicher, können auf die grüne Wiese gestellt werden und brauchen nur eine Betonhaube, dann handelt es sich, schlicht und einfach gesagt, um eine verlogene Politik gegenüber den Bürgern, denen Sie gestern noch erzählt haben, das sei die Politik der Union. ({13}) Ich möchte dazu noch einen Hinweis geben. Das Konzept der Betonhauben haben wir schon 1980 in Gorleben diskutiert. Ernst Albrecht hat es wegen mangelnder Sicherheitsvorsorge abgelehnt. Ich finde es nett, dass Sie Konzepte akzeptieren, die Albrecht schon 1980 wegen mangelnder Sicherheitsvorsorge abgelehnt hat. Diesen Hinweis kann ich Ihnen nicht ersparen. ({14}) Ich will Ihnen sagen, worin für mich die Verlogenheit Ihrer Politik liegt. Gerhard Schröder hat 1989 - damals wollte er Ministerpräsident in Niedersachsen werden versprochen, dass in Gorleben eines Tages nur noch Kartoffeln gebuddelt werden. Sie haben die Ängste der Menschen für das Ziel instrumentalisiert, politische Macht zu erringen, und nicht für das Ziel, die Sorgen der Menschen abzubauen. Das ist das Entscheidende. ({15}) Sie haben Krieg inszeniert und gerieren sich jetzt als Friedensstifter. Sie sorgen dafür, dass Ihre eigene Kriegsführung zu Ende geht. Aber Sie werden zum Schluss erklären müssen, warum das, was gestern falsch war, heute richtig ist. Ich könnte Ihnen das am Beispiel Schacht Konrad nachweisen. ({16}) - Herr Matschie, Sie haben keine Ahnung von der Sache.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, ich komme zum Schluss. - Gerhard Schröder hat im Juni 1990 als Ministerpräsident erklärt, Schacht Konrad könne wegen mangelnder Sicherheit nie in Betrieb gehen. Am 13. Oktober 1990 hat er Herrn Rau geschrieben: SelbstverständKurt-Dieter Grill lich stimmen wir dem schnellstmöglichen Bau eines Endlagers für nicht wärmeentwickelnde Abfälle in Konrad zu. - Nur ein halbes Jahr lag zwischen der Aussage „nicht sicher“ und der Zustimmung zum Bau eines Endlagers. Der entscheidende Unterschied zwischen Ihnen und uns ist nicht das Ja oder Nein zur Kernenergie, sondern der entscheidende Unterschied ist, dass wir gegenüber den Menschen wahrhaftig waren, Sie aber nicht! ({0})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt der Bundeswirtschaftsminister Werner Müller.

Werner Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11005300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Grill, wenn ich Ihnen so zuhöre, wenn ich das, was Sie sagen, mit den Dingen vergleiche, die im Lande zu sehen sind, so ist das Einzige, was ich unterstreichen kann, das Wort „wahrhaftig“. Sie haben wahrhaftig eine energiepolitisch insgesamt desolate Lage hinterlassen. ({0}) Ich hoffe, dass es mir gelingt, Ihnen das deutlich zu machen, denn Energiepolitik ist etwas, was sich auf die lange Frist richtet. Insofern würden wir insgesamt als Nation besser fahren, wenn wir sie in den Grundzügen überparteilich formulieren könnten. Wenn Sie sich dieser überparteilichen Formulierung entziehen, dann müssen wir das eben allein machen. Aber Sie sind unverändert eingeladen, sich in die Energiepolitik dieser Bundesregierung mit einzuklinken, denn sie ist nicht unvernünftig. ({1}) Wenn ich allerdings von Herrn Paziorek höre, dass das Überdenken von energiepolitischen Positionen, das Aufeinanderzugehen dazu führe, dass man völlig unglaubwürdig werde, wenn also beispielsweise jemand, der eigentlich sofort aus der Kernenergie aussteigen will, aber, um einen Konsens zu erzielen, um energiepolitisch vorwärts zu kommen, sagt: „Gut, dann steigen wir einen Moment später aus“, ({2}) von Ihnen mit der Behauptung angeprangert wird, er werde völlig unglaubwürdig, dann ist mir völlig klar, warum Sie bewegungslos auf einer Position verharren und jedwede Konsensüberlegung von vornherein ablehnen, ({3}) in der völlig falschen Hoffnung, Sie würden dadurch glaubwürdig. Wer in diesem Lande eine Energiepolitik betrieben hat, die, wenn ich das einmal in aller Nüchternheit sagen darf, 20 Jahre lang den Ausstieg aus der Kernenergie systematisch vorbereitet hat, kann sich doch nicht hier hinstellen und sagen: Erstens sind wir 2002 wieder dran - diese Hypothese lassen wir einmal weg -, und zweitens machen wir im Jahre 2002 die große Kernenergiezukunft. - Ich will Sie einmal daran erinnern, dass in der Amtszeit der Regierung Kohl kein einziges Kernkraftwerk bestellt wurde, ({4}) mit dem Ergebnis - Sie reden immer über die Exportfähigkeit -, dass zum Ende der Amtszeit Kohl die Firma Siemens ihre Nukleartechnik nach Frankreich eingebracht hat. ({5}) - Warum? Weil in der Amtszeit der Regierung Kohl eine Energiepolitik betrieben wurde, die in jeder Beziehung nicht sachgerecht war. ({6}) Wenn Sie wirklich an der Zukunft der Kernenergie Interesse gehabt hätten - wider die große Mehrheit des Volkes -, dann hätten Sie nicht den Brüter stillgelegt, dann hätten Sie nicht den Hochtemperaturreaktor stillgelegt, sondern dann hätten Sie für Neubauten von Kernkraftwerken gesorgt, dann hätten Sie für ein anständiges Entsorgungskonzept gesorgt, und schlussendlich hätten Sie auch Wackersdorf nicht stillgelegt. ({7}) Wackersdorf, lieber Herr Wiesheu, ist nicht von der Wirtschaft stillgelegt worden. ({8}) Ich war bei den Verhandlungen dabei. Wackersdorf ist stillgelegt worden, weil der bayerische Ministerpräsident die Erteilung von Baugenehmigungen verweigert hat. ({9}) - Es ist vieles Geschichtsklitterung, was Sie hier betreiben. Ich will Ihnen sagen: Das Thema Kernenergie ist in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit für das vorbereitet worden, was jetzt zu Papier gebracht worden ist, nämlich für einen geordneten Ausstieg. Ich halte es für sehr bemerkenswert, dass Sie die Stromwirtschaft vorher dahin gehend beeinflussen wollten, dass sie sich nicht in autonomer Entscheidung mit der Bundesregierung auf einen geordneten Ausstieg verständigt. Der Stromwirtschaft vorzuwerfen, sie wäre erpresst worden, ist also geradezu aberwitzig. ({10}) - Die Stromwirtschaft hat nie gesagt, sie sei erpresst worden. Die Stromwirtschaft hat Sie, die CDU/CSU, aufgefordert, diesen Vereinbarungen zuzustimmen. ({11}) Ich kann mich dieser Aufforderung nur anschließen, will allerdings hinzufügen: Sie müssen sich nicht erpresst fühlen, dieser Aufforderung nachzukommen; es geht in diesem Punkt tatsächlich auch ohne Sie. ({12}) Ich habe gesagt, Sie haben eine energiepolitische Baustelle hinterlassen, weshalb wir zunächst einmal einiges begradigen müssen. ({13}) - Warten Sie doch ab; ich will Ihnen gerade die Trümmer auf der Baustelle vorführen. Sie beschweren sich darüber, dass man nicht genau weiß, was man mit Stromimporten nach Deutschland, namentlich mit Kernenergiestrom aus Frankreich und aus Osteuropa, macht. Die damalige Opposition hat das Energiewirtschaftsgesetz nicht gemacht; das haben Sie gemacht! Sie haben zugelassen, dass es möglich ist, dass kein deutsches Unternehmen Strom nach Frankreich, aber Frankreich beliebig Strom nach Deutschland exportieren kann. ({14}) - Das ist nicht die Unwahrheit, sondern das ist der heutige Zustand und der ist in Ihrem Gesetz verankert. Das ist einer der Trümmer in diesem Gesetz. ({15}) Ich will Ihnen einen zweiten Trümmer nennen. Wie kann man eigentlich ernsthaft ein Gesetz machen, mit dem der deutsche Strommarkt in den Wettbewerb entlassen wird, aber um Ostdeutschland ein Schutzzaun gelegt wird, damit Ostdeutschland jahrelang um etliche Pfennige höhere Strompreise zu zahlen hat und den Stromwettbewerb nur im Fernsehen verfolgen kann? ({16}) Was ist denn das für ein Gesetz? ({17})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grill?

Werner Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11005300

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Grill.

Kurt Dieter Grill (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002665, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundeswirtschaftsminister, ist Ihnen erstens bekannt, dass RWE kürzlich einen Stromliefervertrag über 100 Gigawattstunden mit einer Papierfabrik in Frankreich, sinnigerweise im Wahlkreis des Energiestaatssekretärs im französischen Wirtschafts- und Finanzministerium, abgeschlossen hat? Zweitens. Warum sind Sie eigentlich der Meinung, dass die Schutzklausel für die VEAG so falsch ist? Das war doch die einzige Möglichkeit, die VEAG in diesem Wettbewerb am Leben zu erhalten! ({0}) Ich denke, Sie sollten uns in Anbetracht dessen, was Sie selber verkündet haben, einmal darlegen, wie die VEAG in dem Wettbewerb, den Sie jetzt hier anmahnen, hätte erhalten werden können. ({1})

Werner Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11005300

Was das Thema Stromexport nach Frankreich anbelangt: Den einen angesprochenen Vertrag kenne ich. Ich war selbst am Zustandekommen beteiligt und habe EDF gebeten, in diesem Falle ein Auge zuzudrücken. ({0}) Denn nach den Regeln der EDF ist das noch immer nicht möglich. Aber das hat mit dem Thema nichts zu tun. Ich will Ihnen sagen, welchen Fehler Sie im Energiewirtschaftsgesetz gemacht haben. Die Frage der Reziprozität ist eine überaus wichtige Frage. Sie haben für die Reziprozität die falsche Institution eingesetzt, die darüber entscheiden soll. ({1}) Deswegen haben wir den Zustand, dass wir in etliche Länder nicht exportieren können, dass aber nach Deutschland beliebig importiert werden kann. Das ist der erste Punkt und den nenne ich einen Trümmer auf der Baustelle. ({2}) Sie sprachen von der VEAG. Es ist gut, dass Sie dieses Thema erwähnen. Denn wir haben, um die VEAG zu stabilisieren, unendlich viel Arbeit zu leisten, weil Sie beispielsweise die in diesem Bereich vorgenommene Privatisierung so gestaltet haben, dass Sie für die Bergarbeiter und die Stromwerker Ostdeutschlands in keiner Weise eine gesicherte Perspektive in den Kaufvertrag hineingeBundesminister Dr. Werner Müller schrieben haben. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass in Ostdeutschland irgendwie ein Mindestniveau an Verstromung festgeschrieben wird. ({3}) Wenn man die Verträge so exekutierte, wie Sie sie gestaltet haben, dann könnte die VEAG morgen nur noch als Netzbetrieb agieren. All das müssen wir begradigen. Auch das ist eine Baustelle, Herr Grill, die von Ihrer Partei hinterlassen worden ist. Ich will Ihnen die nächste nennen: Sie haben im Bereich der Steinkohle mit den Vertretern des Bergbaus einen öffentlichkeitswirksamen Vertrag abgeschlossen, haben aber die Mittel, die Sie dem Bergbau zugesagt haben, nicht einmal richtig in die Haushalte eingestellt - da begann das Problem -, wissend, dass diese Regelungen auf europäischer Ebene nur noch kurzfristig abgesichert sind. Sie haben nichts dazu getan, um irgendeine Nachfolgeregelung für den EGKS-Vertrag auf die Reihe zu bekommen. Eine weitere echte Baustelle, die wir vorgefunden haben, war, dass Sie zwar ein bestimmtes CO2-Einsparziel formuliert haben - das war grundsätzlich richtig -, aber keine Maßnahmen dahin gehend getroffen haben, dass die Strukturen der Energiewirtschaft so verändert werden, dass dieses Einsparziel bis zum Jahre 2005 auch wirklich erreicht werden kann. Die einzige Einsparung, die in Ihrer Amtszeit erzielt wurde, war durch den Rückgang der Zahl der großen Kombinate und die Restrukturierung der Energieversorgung in Ostdeutschland zustande gekommen. Bei den westdeutschen Energieversorgungsstrukturen ist nichts dafür getan worden, dass eine wirkliche CO2-Einsparung in Richtung des bis zum Jahre 2005 versprochenen Zieles erreicht wird. Ich möchte hinzufügen, dass das bis zum Jahre 2005 angestrebte Ziel nur eine Durchgangsstation ist. Wir werden bis zum Jahre 2020 weitaus größere Einsparziele erreicht haben müssen. Das ist, so glaube ich, parteiübergreifend in den Klima-Enqueten früherer Regierungen festgestellt worden. Angesichts dessen, dass bis 2020 etwa 40 Prozent der CO2-Emissionen eingespart werden sollen, will ich darauf hinweisen, dass das weit mehr ist, als dazu die Kernenergie einen Beitrag leistet. Die Kernenergie leistet einen Beitrag in Höhe von 10 Prozent zur deutschen Energieversorgung. Wenn Sie 40 Prozent der CO2-Emissionen einsparen wollen, müssen Sie eine richtige Effizienzrevolution hinbekommen. ({4}) Sie müssen ein zunehmendes Wirtschaftswachstum mit einem sinkenden, nicht mit einem konstanten Energieverbrauch erreichen. Dafür müssen wir die erforderlichen Strukturen festlegen. ({5}) Dies ist während Ihrer Amtszeit nicht erfolgt. ({6}) Wir müssen jetzt beispielsweise eine Energieeinsparverordnung vorlegen. Denn ein Problem habe ich: Sie können nicht immer alles dem Strom anlasten. 70 Prozent der Primärenergie dienen nicht der Stromerzeugung. Dort also liegen die großen Einsparpotenziale. Deswegen müssen wir uns namentlich um die Themen Verkehr und Raumwärmebereitstellung kümmern. ({7}) Dort brauchen wir - ich sage das noch einmal - eine Effizienzrevolution. Das Thema Kernenergie erledigt sich en passant. ({8}) Eines will ich noch betonen: Wir stehen unter keinem hohen Zeitdruck, weil sich das Thema Kernenergie, betriebswirtschaftlich gesehen, in einem im Hinblick auf die Unternehmen schadensfreien Prozess erledigen wird. Übrigens, Herr Paziorek, es ist nicht sehr schwer nachzurechnen: Wir sprechen von 32 Jahren Gesamtlaufzeit. Sie dürfen nicht immer von 32 Jahren Restlaufzeit sprechen. ({9}) Wenn Sie von dieser Gesamtlaufzeit 20 Jahre abziehen, kommen Sie auf das richtige Ergebnis; nur damit sich niemand erschreckt angesichts dessen, was Herr Paziorek soeben festgestellt hat. ({10}) Während dieses Prozesses wird die Kernenergie auslaufen. In den nächsten zwei, drei oder vier Jahren wird Kernenergieleistung nicht nennenswert vom Netz gehen. Das heißt, wir haben jetzt die Chance, das, was wir im Energiedialog versucht haben zu verwirklichen, nämlich uns eine Energieversorgungsstruktur des Jahres 2020 vorzustellen - diese ist in ihren Konturen vorgegeben, weil sie enorm CO2-sparend sein muss -, umzusetzen und gemeinsam Schritte festzulegen, wie wir uns Jahr für Jahr zu diesem Ziel hin entwickeln. Den Versuch eines Energiedialoges habe keineswegs nur ich, sondern hat auch der Vorsitzende des Forums Zukunftsenergien, Herr Breuer von der Deutschen Bank, gemeinsam mit mir veranstaltet. An diesem Energiedialog haben mehrere Gewerkschaftsvorsitzende, etliche Unternehmer, die alle Arten der Energie vertraten, nämlich Kohle, Öl und Gas, und die Kraftwerke und Windräder bauen, Umweltverbände und Vertreter der Parteien teilgenommen. Ich halte es schon für bemerkenswert, dass Sie bis zur Formulierung des Abschlussberichtes sehr konstruktiv mitgearbeitet haben. Ich beklage mich darüber nicht, sondern bedanke mich ausdrücklich dafür. Nur, nachdem Sie den Abschlussbericht mit formuliert haben Herr Hirche weiß das; er hat zusammen mit Herrn Grill einige kritische Punkte eingebracht -, zum Schluss, als dieser Bericht veröffentlicht werden sollte, zu sagen: „Wir steigen jetzt aus“, das ist ein etwas komisches Verhalten. Das zeugt nicht davon, dass man wirklich gemeinsam an diesen großen Zukunftsaufgaben arbeiten will. Deswegen appelliere ich noch einmal an Sie: Arbeiten Sie an diesen großen Aufgaben mit! Die Aufgaben sind weit größer als etwa die Diskussion des Themas Kernenergie. ({11}) Zum Thema Kernenergie will ich deutlich sagen: Es geschieht niemandem irgendein Schaden. Auch die Kommunen sind nicht ausgeschlossen worden. Vielmehr haben wir von den kommunalen Eigentümern von Kernkraftwerken den klaren Satz gehört, man wolle durch die Miteigentümer vertreten werden. Was Sie vielleicht stört, ist, dass außer Ihnen mit Ihrer parteipolitischen Denke alle mit dieser Regelung zufrieden sind. Deswegen werden wir an dieser Regelung festhalten und sie auch umsetzen. Wir werden entsprechende gesetzliche Regelungen vereinbaren.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Bundesminister, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hirche?

Werner Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11005300

Ja.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Bitte schön, Herr Hirche. ({0})

Werner Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11005300

Haben Sie keinen Strom? ({0})

Walter Hirche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002678, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Mit dem roten Saft ist es bei mir so ein Problem. Herr Müller, Sie haben eben gesagt, es seien alle zufrieden. Was sagen Sie denn zu der Presseerklärung der Stromkonzerne, die sagen, sie hätten die Vereinbarung getroffen, weil nur so der störungsfreie Betrieb der Kraftwerke und die Entsorgung zu gewährleisten seien? Bedeutet nicht diese Pressemitteilung, dass hier eine Nötigungssituation vorgelegen hat und sich die Kraftwerksbetreiber dann in dieser Nötigungssituation rational verhalten haben? ({0})

Werner Müller (Minister:in)

Politiker ID: 11005300

Von einer Nötigungssituation, die Sie hier unterstellen, habe ich - das habe ich schon einmal gesagt - auch durch Inaugenscheinnahme der Verhandlungen über zwei Jahre nichts beobachten können. Die Herren haben dort in keiner Weise bedroht gesessen. Sie haben nach einer halbstündigen Klausur gesagt, sie machen diesen vorbereiteten Text gerne mit. ({0}) Sie haben ihn paraphiert und in der Presse den Wunsch geäußert, dass CDU und CSU - vielleicht haben sie sogar auch die F.D.P. erwähnt - dieser Vereinbarung zustimmen und sie als Opposition mittragen. Das würde ich von jemandem, der erpresst worden ist, nicht erwarten. ({1}) Ich habe schon einmal gesagt: Wenn hier Druck ausgeübt wurde, dann durch die briefliche Warnung an die Stromwirtschaft, sich mit der SPD und den Grünen nicht auf irgendetwas zu verständigen. Allerdings war der Hinweis, sonst werde man sich in zwei Jahren, wenn man wieder am Ruder sei, rächen, ({2}) nicht so furchtbar wirkungsvoll. Das werden wir alles Ende 2002 sehen. ({3}) Insgesamt ist energiepolitisch in den letzten zwei Jahren viel erreicht worden. Ich will mit einem Thema beginnen, das Ihnen auch nicht sehr lieb ist. Aber Sie haben es mit erfunden. Wir müssen, wenn wir Energie einsparen wollen, peu à peu eine pretiale Lenkung einführen. Das Thema Ökosteuer ist auch unter diesem Gesichtspunkt zu sehen. Es geht nicht nur um die Finanzierung der Renten, sondern auch um eine ökologische Steuerung. ({4}) Wir haben beim Strom in Bezug auf den Wettbewerb das erledigt, was Sie noch nicht gemacht hatten, nämlich eine Marktzugangsverordnung, und zwar nicht auf der Basis staatlicher Regulierung, sondern auf der Basis einer freiwilligen Verbändevereinbarung. Erst danach ist Wettbewerb möglich geworden. Sie könnten sich vielleicht sogar freundlicherweise dem Satz anschließen: Gelben Strom gibt es erst seit Rot-Grün. ({5}) - Ich beklage die Liberalisierung nicht. Ich beklage, dass man Liberalisierung ins Gesetz schreibt und im Umfeld nichts regelt, beispielsweise nicht, wie das Stromeinspeisungsgesetz weiterlaufen soll, wenn der Strompreis sinkt. ({6}) Deswegen war dies das Nächste, was wir novellieren mussten. Ich beklage, dass man die Finanzierung der Kommunen nicht geregelt hat. Deswegen mussten wir eine Änderung der Konzessionsabgabenverordnung vornehmen. Hätten wir dies nicht getan, müssten die Kommunen heute einen Einnahmeausfall von 5 Milliarden DM hinnehmen. All das sind die mehr oder weniger großen Trümmer, die Sie hinterlassen haben. ({7}) Wir haben die Förderung der erneuerbaren Energien auf völlig neue Füße gestellt. Wir haben die Mittel dafür insgesamt pro Jahr verzehnfacht. Wir haben auch ein Gesetz zur Energieeinspeisung erneuerbarer Energien verabschiedet, das es ermöglicht, die Einspeisung prozentual zu verdoppeln. Vorher wurden lediglich Windmühlen gebaut; das war auch gut. Jetzt aber haben wir den Bereich der Förderung so ausgeweitet, dass die Nutzung aller regenerativen Energien, von der Photovoltaik bis zur Biomasse, angereizt wird. Und nach unseren Beobachtungen zeitigt dies auch Erfolge. Des Weiteren haben wir in dem bereits zitierten Energiedialog einige Grundsätze festgelegt, auf denen wir im Herbst unser Energieprogramm aufbauen werden. Ich würde mich freuen, Herr Hirche, wenn die Zustimmung seitens der F.D.P. bestehen bliebe. Die CDU ist dazu unverändert aufgerufen. Wir haben auch für den Gasmarkt Vorbereitungen getroffen. Wir werden in absehbarer Zeit eine Vereinbarung seitens der Verbände haben, damit auch der Zutritt zum Gasmarkt geregelt ist und auch in diesem Bereich der Wettbewerb eingeführt werden kann. Allerdings bleibt abzuwarten, in welcher Größenordnung wir die EURichtlinie umsetzen. Nach den letzten Recherchen habe ich nämlich festgestellt, dass niemand rund um Deutschland den Gasmarkt zu 100 Prozent liberalisieren will. Wir hatten dies bisher vor. Wir müssen also prüfen, ob wir bei unserem Vorhaben bleiben oder ob wir uns den übrigen Ländern in Europa anschließen wollen. Ich kann verstehen - das darf ich abschließend sagen -, dass Ihnen die heutige Debatte über die Kernenergie nicht so richtig passt. Es ist nämlich etwas gelungen, woran Sie jahrzehntelang vergeblich gearbeitet haben, nämlich einen Streit in der Bevölkerung so zu befrieden, dass die Industrie feststellt: „Uns entsteht kein Schaden“, dass der kernenergiekritische Teil der Bevölkerung sagt: „Damit können wir leben“ und der sonstige energiewirtschaftliche Sachverstand im Lande zu dem Schluss kommt: „Das ist nicht unvernünftig“. Auf dieser Basis werden wir weitermachen. ({8}) Es gilt unverändert meine Bitte an die CDU zu überlegen, ob sie bei den Grundlinien der Energiepolitik nicht doch zu einer konstruktiven Haltung zurückkehren möchte, etwa in dem Sinne, wie es im Energiedialog angelegt war, und nicht zu kneifen, wenn sie gemeinsam mit der jetzigen Regierung ein Papier unterschreiben soll. Sie sind aus dem Energiedialog doch nur deshalb ausgestiegen, weil Sie zurzeit in vielen Bereichen Opposition nur um der Opposition willen betreiben, koste es, was es wolle. Vielen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/3507 und 14/3667 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 sowie die Zusatzpunkte 4 bis 6 auf: 4. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Feira am 19./20. Juni 2000 ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ursula Lötzer, Rolf Kutzmutz, Angela Marquardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS E-Europe: die europäische Informationsgesellschaft sozial und demokratisch gestalten - Drucksache 14/3623 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({0}) Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU Europäische Lebensmittelbehörde nach Deutschland - Drucksache 14/3669 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({1}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Guido Westerwelle, Detlef Parr, Hildebrecht Braun ({2}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Europäische Lebensmittelbehörde nach Bonn holen - Drucksache 14/3300 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({3}) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Bundesminister der Finanzen, Hans Eichel.

Hans Eichel (Minister:in)

Politiker ID: 11003522

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Europäische Rat in Feira hat letzte Woche die europäische Einigung vorangebracht. Das gemeinsame europäische Haus wächst. In Feira haben wir einen weiteren Bauabschnitt fertig gestellt und uns neue Ausbaupläne vorgenommen. Die Bundesregierung hat im Ecofin-Rat dem Beitritt Griechenlands zur Euro-Zone zum 1. Januar 2001 zugestimmt. Aus der Euro-11-Gruppe wird dann die Euro12-Gruppe. Der griechische Finanzminister wird bereits am nächsten Treffen der Gruppe teilnehmen. Griechenland hat auf einem langen und schwierigen Weg einen erfolgreichen Konvergenzprozess hinter sich. Dazu kann man Griechenland nur gratulieren. Ich freue mich, dass Griechenland mit seiner langen Geschichte und seinem großen Beitrag, den es zur europäischen Kultur geleistet hat, Mitglied der Euro-Zone wird. ({0}) Sie sehen daran übrigens, welche Stabilitätsgemeinschaft die Euro-Zone inzwischen ist. Vor zehn Jahren hätte sich niemand vorstellen können, dass Griechenland und viele andere Länder in so kurzer Zeit von hohen Inflationsraten und hohen Zinsen herunterkommen und das Staatsdefizit ganz konsequent begrenzen. Deswegen sage ich: Wir haben allen Grund, Griechenland zu diesem Erfolg zu gratulieren. Aber natürlich darf es in seinen Anstrengungen nicht nachlassen. Das erwarten wir gerade jetzt, da es nun der Gemeinschaft der Euro-Länder angehören wird. Großes Kompliment an Griechenland, verbunden mit der nachdrücklichen Aufforderung: Wer dazugehört, muss sich auch zukünftig so verhalten, wie er sich verhalten hat, um dazugehören zu können. Möglicherweise wird dieser Schritt die Beitrittsdiskussion in Dänemark und Schweden positiv beeinflussen. Das können wir uns, so denke ich, alle nur wünschen. ({1}) - Nein, dieser Schritt ganz gewiss nicht, Herr Thiele, im Gegenteil! Der Europäische Rat hatte sich in Lissabon zu einem ehrgeizigen Ziel bekannt: Innerhalb von zehn Jahren soll aus Europa der dynamischste und wettbewerbsfähigste Wirtschaftsraum weltweit werden. In Feira wurden dazu jetzt weitere konkrete Schritte eingeleitet. So wurde ein Aktionsplan gebilligt, der die bessere Nutzung des Internets fördern soll. Der Zugang zum Internet soll billiger, schneller und sicherer werden. Für die Menschen in Europa soll der Umgang mit dem Internet einfacher, ja schlicht selbstverständlich werden - und zwar für alle Menschen. Eine „digitale Kluft“ zwischen denen, die Zugang zum Internet haben und es nutzen, und denen, die keinen Zugang haben oder die Möglichkeiten des Internets nicht nutzen können, darf es nicht geben. ({2}) - Es geht doch nicht um eine Internetsteuer. Das ist wieder einer der, vorsichtig ausgedrückt, falschen Zwischenrufe. ({3}) Es geht darum, dass die Steuern, die heute zu Recht erhoben werden, auch dann erhoben werden können, wenn die entsprechenden Aktionen über das Internet stattfinden. Darum und um nichts anderes geht es. ({4}) Unbestritten ist die große Bedeutung der Forschung für wirtschaftliche Dynamik. In Feira haben sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union geeinigt, einen gemeinsamen europäischen Forschungsraum zu entwickeln. Einzelstaatliche und europäische Forschungsprogramme sollen vernetzt werden. In die gleiche Richtung zielt die neue Initiative „Innovation 2000“ der Europäischen Investitionsbank. Durch die Europäische Investitionsbank werden rund 1 Milliarde Euro an Risikokapital für kleine und mittlere Unternehmen bereitgestellt. Ein zusätzliches Darlehensprogramm mit einem Volumen von 12 bis 15 Milliarden Euro soll Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung sowie die Informations- und Kommunikationsnetze fördern. Die Chancen, die in neuen Techniken liegen, müssen von Europa verwirklicht werden. Verzichtet Europa darauf, wird es an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Andere Länder werden die Vorteile der Informations- und Kommunikationstechnik zu nutzen wissen. Europa stellt die Weichen, um die Möglichkeiten der New Economy und einer wissensbasierten Gesellschaft ausschöpfen zu können. Dabei helfen auch die „Grundzüge der Wirtschaftspolitik“. Diese Empfehlungen enthalten auch in diesem Jahr wieder ein solides Stück wirtschaftspolitischer Koordinierung. Diese wird im zusammenwachsenden Europa immer wichtiger. - Sie erinnern sich an das, was der französische Staatspräsident vorgestern hier dazu gesagt hat. - Die Umsetzung der Empfehlungen bleibt selbstverständlich eine nationale Aufgabe. Wir wollen Innovation und Beschäftigung. Unsere Politik muss aber durch eine Dimension der sozialen Absicherung auch auf europäischer Ebene ergänzt werden. Diese Aufgabe muss von Staat und Sozialpartnern gemeinsam bewältigt werden. Wenn wir beispielsweise über lebenslanges Lernen reden, ist das einerseits eine Sache der Unternehmen, verlangt andererseits aber auch, dass man die Sozialpartner auf europäischer Ebene in die Gespräche einbindet. Unter französischer Präsidentschaft soll ein europäisches sozialpolitisches Aktionsprogramm verabschiedet werden. Das europäische Sozialmodell wird dadurch noch konkretere Formen annehmen. Auch dies ist ein Beitrag dazu, dass Europa zueinander findet. Meine Damen und Herren, die Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, der kommunalen Ver- und Entsorger und der Sparkassen wird von europäischer Warte anders beurteilt als aus deutscher Sicht. Wie Sie wissen, befinden wir uns in dieser Frage in intensiver Diskussion mit der Europäischen Kommission. Die Bundesregierung hat ihre Haltung zu den verschiedenen Bereichen der Daseinsvorsorge in Feira noch einmal deutlich gemacht. Wir brauchen hier RechtssiBundesminister Hans Eichel cherheit und wir kämpfen für unsere Institutionen. Die Kommission wurde vom Europäischen Rat aufgefordert, ihm im Oktober in Biarritz eine aktualisierte Mitteilung zur Daseinsvorsorge vorzulegen. Die deutsche Haltung ist der Kommission bekannt. Wir entwickeln sie in Abstimmung mit den Ländern. Meine Damen und Herren, die institutionellen Rahmenbedingungen der Europäischen Union haben sich in der Vergangenheit bewährt, aber sie waren für eine wesentlich kleinere Staatengruppe gemacht. Mit wachsender Mitgliederzahl zeigen sich die Nachteile - beispielsweise der Einstimmigkeitsregel - deutlicher. Die Bundesregierung plädiert dafür, das Vetorecht zunehmend durch qualifizierte Mehrheitsentscheidungen zu ersetzen. Mit Blick auf die kommende Osterweiterung sind keine Alternativen dazu denkbar. Deshalb muss die Regierungskonferenz zu den institutionellen Reformen ein Erfolg werden. Deutschland wird in dieser Frage eng mit Frankreich zusammenarbeiten. Auch das haben Sie hier aus dem Munde des französischen Staatspräsidenten im Einzelnen hören können. Bis Ende dieses Jahres lässt sich die Frage der Mehrheitsentscheidungen hoffentlich klären. Hätten wir die Weiterentwicklung der Entscheidungsstrukturen bereits erreicht, wäre eine Lösung bei der Zinsbesteuerung kurz danach möglich gewesen. Noch gilt aber die Einstimmigkeitsregel. Deshalb musste eine Lösung gesucht werden, der alle Mitgliedstaaten zustimmen konnten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei der Besteuerung von Zinserträgen ist in Feira ein Durchbruch gelungen. ({5}) Wer die Verhandlungen kennt - Sie wissen doch genau, wie viele Jahre Sie daran ohne jeden Erfolg gearbeitet haben -, ({6}) weiß: Dass wir jetzt Luxemburg und Großbritannien, also die beiden Länder mit Extrempositionen, in einer Zielsetzung vereint haben, ist in der Tat ein Durchbruch. Dass wir noch nicht alle Schritte gemacht haben, ist völlig richtig. Aber dass wir jetzt den ersten Schritt geschafft haben, um den Sie selber - ich kritisiere das übrigens gar nicht lange Zeit gerungen haben, ohne ihn je geschafft zu haben, ist ganz offenkundig. Ich sage ausdrücklich: Uns ist der Durchbruch gelungen. ({7}) Schon viele Jahre ärgern wir uns, weil das unkoordinierte Nebeneinander verschiedener Steuersysteme zur Hinterziehung von Steuern auf Zinserträge genutzt wird. Nicht nur für uns Deutsche ist das ein Problem. Andere europäische Staaten sehen das genauso. Das untergräbt die Zustimmung zu einem Steuersystem überhaupt. Deswegen sage ich mit Nachdruck: Den Kommentar, den ich heute in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zu diesem Thema gelesen habe, kann ich überhaupt nicht akzeptieren. ({8}) - Ich sage das nur. Wenn Sie Europa so gestalten, dass Europa und auch die einzelnen Länder ein Hort für Steuerhinterziehung sind, werden Sie keine Zustimmung zu Europa bekommen. Schlimmer noch: Sie werden auch die Zustimmung zu den nationalen Steuersystemen verlieren. Das ist die gemeinsame Überzeugung aller 15 Finanzminister. ({9}) Schon sehr lange wird das Problem im europäischen Rahmen diskutiert. Zwischenzeitlich hatten einige Stimmen schon an einer Lösung und damit an der Handlungsfähigkeit Europas in strittigen Fragen gezweifelt. Diese Zweifler müssen nun verstummen. Europa hat sich hier nach harten, quälenden Debatten - das ist wohl wahr - als handlungsfähig erwiesen. Die Gemeinsamkeiten sind größer und wichtiger als nationale Einzelinteressen. Im Diskussionsprozess haben sich letztlich alle bewegt. So ist ein guter Kompromiss erzielt worden. Alle Mitgliedstaaten streben als Ziel einen Informationsaustausch über Zinserträge von Ausländern in ihrem Land an. Grenzüberschreitend gezahlte Zinsen werden ab 2003 in den meisten Mitgliedstaaten von einer Information an das jeweils heimische Finanzamt begleitet. Ab 2010 wird das bei allen Mitgliedstaaten der Fall sein. Diese gemeinsame Zielvereinbarung ist der entscheidende Durchbruch in den Verhandlungen. Unterschiedliche nationale Systeme werden auf ein Ziel zustreben. Auch das gehört für mich zu einer wirksamen Koordinierung der nationalen Wirtschafts- und Finanzpolitiken. Wie erfolgreich dieses Vorgehen sein kann, hat der wirtschaftliche Konvergenzprozess der letzten Jahre innerhalb der Europäischen Union belegt. Für einen Übergangszeitraum - zwischen 2003 und 2009 - können fünf Mitgliedsländer - Luxemburg, Belgien, Griechenland, Österreich und Portugal - eine Quellensteuer auf Zinsen von Ausländern erheben. Einen Teil der so erzielten Einnahmen müssen sie an die Wohnsitzstaaten der Ausländer abführen. Diese Verpflichtung, einen Teil der Einnahmen aus Zinserträgen von Ausländern an den Wohnsitzstaat abzugeben, wird die Neigung zur Einführung einer Quellensteuer sicherlich eher dämpfen. Bis Ende dieses Jahres werden wir uns innerhalb der Europäischen Union auf die Höhe der Quellensteuer einigen. Ich erwarte einen Steuersatz zwischen 20 und 25 Prozent als Mindesthöhe. Auch über weitere Details der Zinsrichtlinie müssen wir uns bis zum Ende des Jahres verständigen. Die Länder, die berechtigt sind, im Übergangszeitraum eine Quellensteuer einzuführen, werden sich dies vielleicht noch überlegen. Es macht nämlich keinen Sinn, eine Quellensteuer für Steuerausländer einzuführen, die schon bald durch einen Informationsaustausch abgelöst werden soll. Vielleicht kommt der Informationsaustausch schneller, als Skeptiker das jetzt glauben. ({10}) Meine Damen und Herren, die Einigung auf den Informationsaustausch ist einer Reihe von Ländern sehr schwer gefallen. Aber auch diese Länder haben europäischen Interessen Vorrang vor nationalen eingeräumt; so auch wir. Allein das ist schon ein Erfolg. Hervorheben möchte ich, dass sich Großbritannien, Luxemburg und Österreich bewegt haben. ({11}) Die österreichische Regierung ist inzwischen bereit zu prüfen, ob für die Aufhebung des Bankgeheimnisses für Steuerausländer eine Verfassungsänderung nötig ist. Gegebenenfalls will die österreichische Regierung die nötigen Schritte einleiten. In Deutschland wird sich für Steuerinländer am Bankgeheimnis nichts ändern. Aber natürlich wird Deutschland für Steuerausländer auch eine Informationspflicht an den Wohnsitzstaat einführen. Das Bankgeheimnis ist wie in den anderen europäischen Ländern - auf Inländer beschränkt. Alles andere wäre in der Tat kaum zu vertreten und würde jedes Land, das es anders definiert, vertrags- und gemeinschaftsunfähig machen. Weder verfassungsrechtlich noch europarechtlich ist das zu kritisieren. Der Quellensteuerabzug sichert eine Besteuerung von deutschen Steuerpflichtigen. Eine zusätzliche Informationspflicht ist deshalb nicht mehr nötig. Die Entscheidung von Feira zeigt aber wieder einmal deutlich: Die europäische Dimension gewinnt zunehmend an Bedeutung für die nationale Politik. Meine Damen und Herren, wenn die Einigung über die Einzelheiten der Zinsrechtlinie Ende des Jahres steht, können Verhandlungen mit Drittstaaten beginnen, um die Wirksamkeit der Zinsrichtlinie nicht nur auf die Europäische Union zu beschränken. Es kann keine Rede davon sein, dass Nicht-EU-Staaten die Zinsrichtlinie übernehmen sollen. Es kann aber auch keine Rede davon sein, dass wir uns mit unserer Entscheidung in der Europäischen Union von den Entscheidungen von Nicht-Mitgliedern abhängig machen - was natürlich nicht ausschließt, dass einzelne Länder bei ihrer Entscheidung, wenn es um die endgültige Einführung der Zinsrichtlinie geht, schon hinsehen, wie sich Nicht-EU-Länder verhalten. Wir streben aber vergleichbare Regelungen an. Es ist zum Beispiel sichtbar, dass in der Schweiz Bewegung in die Diskussion gekommen ist. Verhandlungen werden von der Europäischen Union mit den Vereinigten Staaten, der Schweiz, Liechtenstein, Monaco, Andorra und San Marino geführt. Außerdem müssen die abhängigen Gebiete von EU-Staaten in die Verhandlungen einbezogen werden. Dabei ist klar, dass in erster Linie die Länder, von denen sie abhängig sind, die Verantwortung dafür tragen, dass dort genau die gleichen Regime eingeführt werden, wie sie in der Europäischen Union gelten. Wir wollen sicherstellen, das Steuerbetrüger nicht in diese Länder ausweichen. Das Signal, das von dieser Einigung in Feira ausgeht, ist eindeutig: Die Tage der leichten Steuerhinterziehung sind in Europa gezählt. Jeder muss wissen: Steuerhinterziehung hat auf unserem Kontinent keine Zukunft mehr. ({12}) Ich freue mich sehr, dass jetzt auch die OECD massiv gegen Steueroasen vorgeht. In Steueroasen wird nun die Luft dünn. Auch andere Institutionen gehen dagegen vor: das Forum für Finanzmarktstabilität, das noch der frühere Bundesbankpräsident Tietmeyer geführt hat, sowie die G7. Man muss wissen: Weltweit - angesichts der technischen Entwicklung ist dies auch hohe Zeit - geht es darum, die Steuerregime der Länder auch wirklich durchzusetzen und nicht zuzulassen, dass sich einzelne Länder zu Fluchtburgen für Steuerhinterzieher und Steuerhinterziehung entwickeln. ({13}) Zum verhandelten Steuerpaket gehört nicht nur die Zinsrichtlinie, sondern auch der Verhaltenskodex zur Bekämpfung von schädlichem und unfairem Steuerwettbewerb. Die Mitgliedstaaten sind sich darin einig, dass die Rücknahme schädlicher Maßnahmen in der Verantwortung der Mitgliedstaaten bleibt. Der Rücknahmeprozess soll bis zum Ende des Jahres 2002 abgeschlossen sein. Auch in Deutschland gibt es eine - weniger gewichtige - Regelung, die wir zurücknehmen sollen. Die Bundesregierung wird dies dem Deutschen Bundestag und dem Bundesrat vorschlagen. Feira war ein Durchbruch. Die Ergebnisse dürfen nicht unterschätzt werden. Wer für die Besteuerung von Zinserträgen mehr erwartet hatte, hat für die Positionen unserer Nachbarn zu wenig Verständnis aufgebracht. Tragbare Kompromisse können Sie aber nicht erzielen, wenn Sie nicht verstehen, warum Ihre Partner so handeln, wie sie handeln. Die Einigung in der Zinsbesteuerung ist ein wichtiger Baustein des gemeinsamen europäischen Hauses. Ohne Zweifel braucht Europa Visionen. Aber erst das Zusammenfügen einzelner Bausteine bringt das wirtschaftliche und politische Zusammenwachsen voran. Ohne harte Arbeit bleiben Visionen nur Visionen. Alle Mitgliedstaaten tragen diesen Kompromiss. Ein Ende des Problems unversteuerter Zinserträge und hinterzogener Steuern ist jetzt abzusehen. Es wird zwar noch einige Jahre dauern, aber wir haben viel geschafft. Mit Ungeduld wären wir gescheitert, mit Zähigkeit haben wir dieses Ziel erreicht. Deshalb war Feira ein Erfolg für ganz Europa. Herr Kollege Waigel, ich vermute, auch Sie freuen sich ein Stück weit mit, dass wir so weit gekommen sind, nachdem auch Sie um diesen Teil schon gekämpft haben. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich eröffne jetzt die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Peter Hintze von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Peter Hintze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000907, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der französische Staatspräsident hat hier vor dem Plenum des Deutschen Bundestages eine große europapolitische Rede gehalten. Diese Rede war Ausdruck eines guten deutsch-französischen Verhältnisses, das über Jahrzehnte von französischen und deutschen Politikern aufgebaut und entwickelt wurde. Es gehört zu den europapolitischen Grundüberzeugungen der demokratischen Fraktionen dieses Hauses, dass vom guten Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich Europa insgesamt profitiert. ({0}) Präsident Chirac hat deutlich gemacht, dass wir in wichtigen Bereichen mehr Europa brauchen und dass zugleich die Europa tragenden Nationalstaaten eine unverbrüchliche Bestandsgarantie bekommen. Die von Chirac skizzierte historische Synthese zwischen einer stärker werdenden Europäischen Union und selbstbewussten Nationalstaaten bezeichnet unseren Handlungsauftrag: stark in der Wirtschaftspolitik, stark gegen Gefahren von innen und außen, aber dennoch die nationalen Eigenständigkeiten und Bedürfnisse achtend und bewahrend. Ein solches Europa - die Vereinigten Nationalstaaten von Europa - wollen wir für zukünftige Generationen errichten. ({1}) Wir in der CDU/CSU-Fraktion haben uns darüber gefreut, dass der französische Präsident wichtige Kernelemente in seiner Rede aufgegriffen hat, die auch wir seit Jahren vertreten. So trifft sich die vorgeschlagene „Pioniergruppe“ als europäisches Integrationszentrum mit der von Wolfgang Schäuble und Karl Lamers entwickelten Idee von Kerneuropa. Ein großer Fortschritt - das haben wir erreicht - ist auch die Betonung der notwendigen Kompetenzabgrenzung in einer europäischen Verfassung. Das ist eine zentrale Kernforderung von Angela Merkel, Edmund Stoiber und Friedrich Merz an das europäische Reformprojekt. Wir haben uns hier im Bundestag oft anhören müssen, das interessiere außerhalb Deutschlands niemanden, und nun hat uns der französische Staatspräsident vor dem Plenum des Deutschen Bundestages gesagt, das sei ein wichtiges Anliegen der Völker Europas. Ein großer Erfolg! ({2}) - Hier kommt gerade der Zwischenruf des Kollegen Gloser: „Aber wie schaut die Praxis aus?“ Meine sehr geehrten Damen und Herren, werfen wir einen Blick auf die Regierungsbank. Heute steht eine Regierungserklärung zum europäischen Gipfel von Feira auf der Tagesordnung. Anwesenheit des Bundeskanzlers Fehlanzeige. Anwesenheit des Bundesaußenministers Fehlanzeige. ({3}) Der Bundesfinanzminister war da; darauf werde ich gleich noch zu sprechen kommen. Ich halte es - gelinde gesagt - für einen ziemlichen Skandal, dass in einer zentralen Situation der europäischen Reformdiskussion der deutsche Bundeskanzler vor dem Gipfel und nach dem Gipfel einfach wegtaucht und dem Parlament die Debatte über die zentralen Fragen Europas verweigert. ({4}) Wenn man die Berichte liest, die die portugiesische Präsidentschaft erstellen musste, weil insbesondere von Deutschland so wenig gekommen ist, ({5}) dann wissen wir auch, warum der Bundeskanzler heute wieder nicht gekommen ist. Der Bundeskanzler spricht heute nicht zu uns, weil er in der Sache nichts zu sagen hat. Das ist der Punkt! ({6}) Es ist schon schade - und das ist ein Bruch mit der europapolitischen Tradition dieses Hauses -, dass uns vor so wesentlichen Ereignissen wie einem europäischen Gipfel die Aussprache hier im Plenum verweigert wird oder die Regierung so tut, als müsse man sich nur über Ergebnisse des Ecofin-Rates austauschen. ({7}) - Das ist auch wichtig, auch richtig - darauf komme ich gleich noch -, aber doch viel zu kurz gesprungen. Wir stehen in einer historischen Situation: Es geht um die Wiedervereinigung Europas. Es geht um die großen Reformkonzepte. Es geht um mehr Effizienz, mehr Transparenz, mehr Kraft in der Europäischen Union - und die Regierungsbank ist wie leer gefegt. Der Finanzminister müht sich schiedlich und redlich, seine Sachen vorzutragen - die Ergebnisse werde ich gleich noch kommentieren -, aber ansonsten ist bei der Regierung auf breiter Front Fehlanzeige. Das ist trostlos, meine Damen und Herren! ({8}) Nun wollen wir nicht den Anwesenden zu sehr kritisieren. Der Bundesfinanzminister hat sich ja hier bemüht, die kleinen Ergebnisse des Gipfels doch noch in ein großes Licht zu tauchen. ({9}) Wenn man Ihr Beifallsverhalten eben verfolgte, konnte man feststellen: Er hat sich viel Mühe geben müssen, um dafür wenigstens die Zustimmung der Regierungsfraktionen zu bekommen. Man kann dazu nur sagen: Das war auch nicht beifallwürdig. Was ist denn in Wahrheit herausgekommen? Es ist in Wahrheit eine mit vielen Wenn und Aber gespickte Vereinbarung herausgekommen, ({10}) die im allerbesten Falle zu einer riesigen Bürokratie und zu einer Durchlöcherung des Bankgeheimnisses in Europa führt. ({11}) Wenn etwas mehr Kraft darauf verwendet worden wäre, beispielsweise europaweit eine Quellensteuer durchzusetzen, dann könnten Sie sich Ihren Zwischenruf ersparen; wir hätten den Datenschutz gesichert und wir hätten auch in der Sache etwas Vernünftiges gemacht, so wie es unser Bundesfinanzminister Waigel in seiner Regierungszeit angestrebt hat. ({12}) Vielleicht wären die Staats- und Regierungschefs ja erfolgreicher gewesen, wenn sie nicht ihre ganze Energie auf die Drangsalierung eines kleinen Mitgliedstaates, Österreichs, gerichtet ({13}) und sich hier nicht vertragswidrig aufgeführt hätten, ({14}) sondern ihre Energie darauf gerichtet hätten, den europäischen Geist zu entdecken, zu stärken und ihrer historischen Aufgabe gerecht zu werden. Ich sage nur eines ganz ruhig: Besonders traurig finde ich, dass Deutschland als Nachbar Österreichs, als guter Freund, der weiß, wie europafreundlich Herr Schüssel, die jetzige österreichische Regierung und die Vorgängerregierung jeweils operiert haben, keinen einzigen Beitrag dazu leistet, vernünftig aus dieser verfahrenen Situation herauszukommen. Deswegen fordern wir die Bundesregierung auf, endlich etwas zu unternehmen, damit mit Österreich wieder fair umgegangen wird, liebe Freunde. ({15}) Die größte Fehlanzeige von Feira war allerdings der Zwischenbericht über den Stand der Regierungskonferenz. Über diesem Bericht steht zwar „Fortschrittsbericht“. Aber eigentlich müsste Stillstandsbericht heißen, weil die Regierungskonferenz ein hohes Maß an Stillstand signalisiert. Nach monatelanger Diskussion ist keine einzige der wesentlichen Fragen beantwortet und kein einziges Problem vom Tisch geräumt worden. Wir erwarten vom Europäischen Rat Perspektiven. Wir erwarten von der deutschen Bundesregierung, dass sie im Europäischen Rat dazu Beiträge leistet, dass sie sie mit dem Parlament und der Öffentlichkeit diskutiert und dass sie die Dinge voranbringt. Dies hat die deutsche Bundesregierung nicht getan. Deswegen ist es vielleicht gut, dass der Bundeskanzler in dieser Debatte abgetaucht ist, damit die Peinlichkeit nicht gar so deutlich wird. ({16}) Ein Zusammenhang ist besonders wichtig: Äußere Stärke können wir nur gewinnen, wenn wir auch die innere Stärke weiterentwickeln. Dies werden wir nicht erreichen, wenn wir die notwendige Vertiefung der Europäischen Union allein als Angelegenheit der vielen Regierungen in Europa verstehen. Ein Europa der Hauptstädte würde den Herausforderungen der Globalisierung allein nicht gerecht. ({17}) Nein, wir müssen auf dem großen europapolitischen Weg fortschreiten, den wir in den letzten Jahrzehnten eingeschlagen haben, der uns stark gemacht hat und der uns in Zukunft noch stärker machen wird. ({18}) Die wichtigste historische Aufgabe ist die Überwindung der Teilung und die Wiedervereinigung Europas. ({19}) Hierbei hat auch Deutschland eine wichtige Aufgabe. Wir waren Anwälte der Wiedervereinigung Europas. Wir müssen das auch bleiben und zusammenstehen. Wir müssen bei der jetzigen Regierungskonferenz die Grundlagen dafür schaffen, dass auch ein größeres Europa weiterhin stark ist und gut funktioniert. Das Europa der 15, das wir heute haben, wird im Prinzip nach den gleichen Regeln geführt, wie sie ursprünglich für die sechs Gründerstaaten galten. Seitdem haben sich die Zeiten, die Bedingungen und die Aufgaben geändert. Mit der Osterweiterung der Europäischen Union, mit diesem großen Projekt, wird sich die Mitgliederzahl nahezu verdoppeln. Wir wollen, dass Europa stärker wird und dass es besser wird. Deshalb muss die Handlungsfähigkeit Europas vor seiner Erweiterung gesteigert werden. Wir brauchen einen weit gehenden Übergang zum Prinzip der Mehrheitsentscheidungen, eine Konzentration der exekutiven Aufgaben und eine größere Transparenz bei der europäischen Gesetzgebung. Ich möchte einen Aspekt der Diskussion der letzten Wochen aufgreifen - wir haben ja einiges eingebracht, was zu Widerspruch führte, worüber aber mittlerweile Konsens herrscht -: Wir wissen, dass nicht alles auf der laufenden Regierungskonferenz zu lösen ist. Neben dem erfreulicherweise aufgegriffenen Thema der verstärkten Zusammenarbeit sind vorrangig die drei offenen Fragen von Amsterdam zu klären, insbesondere der Übergang zum Prinzip der Mehrheitsentscheidung. Darin stimmen wir überein. Diese Themen müssen noch vor Jahresende, also unter französischer Präsidentschaft, vollständig und weitblickend gelöst werden. Es darf keine „leftovers“ der „leftovers“ geben. Die offenen Fragen müssen jetzt beantwortet werden. ({20}) Es muss aber weitergehen: Unmittelbar nach Abschluss der Reformkonferenz müssen wir uns auf die Ziele und die Grenzen der europäischen Integration verständigen. Die EU muss schlanker, unbürokratischer, demokratischer und konsequenter subsidiär aufgebaut werden. Die grundlegende Weiterentwicklung der Architektur Europas muss in den nächsten zwei Jahren abgeschlossen werden. Wir wollen, dass die Erweiterung schnell vorangeht. Wir wollen mit der Weiterentwicklung der Architektur vor der Erweiterung fertig sein. Wir schlagen vor, an dem Prozess der europäischen Verfassungsgebung auch die Kandidatenstaaten zu beteiligen, die später zur Europäischen Union gehören werden und für die eine solche Verfassung die gemeinsame Grundlage für politisches Handeln und Wirken in Europa sein wird. ({21}) Kernelement dieser zu entwickelnden europäischen Architektur ist eine klare Aufgabenteilung zwischen Europa, Nationalstaaten und Regionen. Dabei geht es immer um die Frage: Wer macht was? Unsere Antwort lautet: so viel Bürgernähe wie irgend möglich und so wenig Zentralismus wie nötig. Die CDU/CSU-Fraktion hat seit langem die große Bedeutung dieser Frage für die Zustimmung der Bürger zur Europäischen Union unterstrichen, oft gegen kritischen Widerstand aus diesem Hause. Aber wir müssen das jetzt machen. Alle werden davon profitieren: Die Union wird stärker; die Nationalstaaten erhalten eine Bestandsgarantie. Hier liegt die Chance eines klug ausgearbeiteten Verfassungsvertrages, so wie wir ihn vorgeschlagen haben. Wenn es um Europa geht, dann geht es immer auch um Beschwernisse. Das wird in einigen Anträgen aufgegriffen. Es geht um die Frage, wie man auf einem so großen Markt Lebensmittelsicherheit schaffen kann. Salmonellen im Huhn, Östrogene im Kalb, BSE im Rind - es macht die Leute schon nervös, wenn sie das lesen oder wenn sie davon betroffen sind. Deswegen ist es richtig, dass ein europäisches Amt für Lebensmittelsicherheit auf diesem großen Markt dafür sorgt, dass die Menschen mit Freude französische Hühnchen, deutsche Rinder und österreichische Kälber verspeisen können, sofern sie nicht Vegetarier sind. Wir schlagen vor, dass ein solches europäisches Amt für Lebensmittelsicherheit, das nach den Überlegungen in der Nähe von Brüssel angesiedelt sein soll, in Deutschland errichtet wird. Wir haben eine Reihe von Vorschlägen für Standorte entlang der Rheinschiene gemacht: Frankfurt, Bonn und Düsseldorf sind ins Spiel gebracht worden. Man könnte auch an Wuppertal denken. Es gibt viele gute Standorte. Wir sind der Auffassung: Es gibt in Deutschland ein hohes Maß an Sensibilität für die Fragen des Gesundheitsschutzes und für den Verbraucherschutz. Ein solches Amt hätte in Deutschland einen guten Platz. ({22}) Zum Schluss möchte ich einen Wunsch ausdrücken. Wir erwarten von der Bundesregierung, dass sich der Bundeskanzler vor Eintritt in die entscheidende Phase der Verhandlungen der Regierungskonferenz im Plenum des Deutschen Bundestages der Debatte mit dem Parlament stellt. ({23}) Wir müssen hier die Grundlinien diskutieren. Wir müssen hier darüber diskutieren, wie das europäische Projekt von Deutschland aus betrachtet wird. Die Tradition, die bisher alle Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewahrt haben, muss endlich auch von dem amtierenden Bundeskanzler aufgegriffen werden. Wir in der CDU/CSU-Fraktion sind bereit, einen vernünftigen europapolitischen Weg mitzugehen, der Europa stärker macht, die Souveränität der Nationalstaaten achtet und das Gute an der europäischen Idee weiter fördert. Wir sind bereit, die Regierung bei einem solchen Weg zu unterstützen. Das Mindeste ist, dass wir Gelegenheit haben, uns im Parlament über die zentralen Fragen Europas auszutauschen. Ich danke Ihnen. ({24})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Joachim Poß von der SPD-Fraktion das Wort.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Hintze, wenn Sie sich hier so aufplustern und die Regierung so scharf angehen, wie Sie es getan haben, dann dient das offenkundig nur einem einzigen Zweck: Sie wollen von Ihren internen Schwierigkeiten ablenken. ({0}) Sie wissen nämlich nicht, wo es langgehen soll. Auch Sie werden mit Interesse den Artikel des Europakollegen Elmar Brok gelesen haben: „Union am Scheideweg“. Genau da befinden Sie sich. Sie wissen nicht, wo es mit Ihnen europapolitisch langgehen soll. Dies - nicht die Bundesregierung - ist das aktuelle Problem in der Bundesrepublik Deutschland. ({1}) Herr Merz hat noch vor wenigen Wochen von gestörten deutsch-französischen Beziehungen gesprochen. Ich will Ihnen nicht die ganze Latte von Zitaten vorhalten, die deutlich machen, wie orientierungslos Sie sich auch auf dem Felde der Europapolitik - aber bekanntermaßen nicht nur dort - bewegen. Die Bundesregierung ist auf einem guten Wege. Feira hat das unterstrichen. Die Richtlinien für die weitere Diskussion wurden entwickelt und die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Abschluss der Regierungskonferenz unter französischer Präsidentschaft wurden geschaffen. Dafür gebührt der portugiesischen Ratspräsidentschaft Dank. ({2}) Die verstärkte Zusammenarbeit ist nun offiziell Gegenstand der europäischen Agenda. Die Bundesrepublik wird unsere französischen Partner nachhaltig in dem Bestreben unterstützen, dieses Instrument zur Vertiefung der Integration und zur Vorbereitung der EU auf die Osterweiterung auszubauen. In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag hat sich der französische Präsident Chirac für eine europäische Verfassung stark gemacht. Diese soll es nicht heute oder morgen geben; er hat das in einer zeitlichen Perspektive gesehen. Er wünschte sich dieses Vorhaben nicht nur als einen Akt von Staatslenkern, sondern auch und gerade als verfassunggebenden Prozess der europäischen Bürger. Ich denke, Chirac hat Recht: Die breite Beteiligung der europäischen Bürgerinnen und Bürger kann europäische Identität schaffen. Wir sind uns darüber einig, dass ein solch konstitutives Einigungswerk auch eine Kompetenzabgrenzung zwischen den verschiedenen Ebenen in der EU beinhalten sollte. Dieses Vorhaben wird bisher nur von zwei Mitgliedstaaten der EU, wenn auch von zwei großen, unterstützt. Es muss also noch eine Mehrheit von dieser Idee überzeugt werden. Da ist es mehr als störend, ja kontraproduktiv, wenn Herr Merz, wenn Frau Merkel mit der Ablehnung der Ratifizierung des Vertrages von Nizza drohen, falls die Frage der Kompetenzabgrenzung bis dahin noch nicht geregelt ist. Diese Frage darf doch nicht Gegenstand von Oppositionstaktiken werden. ({3}) Wenn Sie so weitermachen, dann wird der bewährte europapolitische Konsens zwischen den großen politischen Kräften in unserem Lande bald wirklich der Vergangenheit angehören. Wir begrüßen daher ausdrücklich, dass Volker Rühe, Elmar Brok und andere die Haltung der Bundesregierung unterstützen. Wir fordern die CDU/CSU auf, dem Kompromissvorschlag der Bundesregierung und des niedersächsischen Ministerpräsidenten Sigmar Gabriel zu folgen, die Frage der Kompetenzabgrenzung auf einer neuen Regierungskonferenz bis zum Jahre 2004 zu regeln. Der Europäische Rat von Feira hat sich auch mit vielen wirtschafts-, finanz- und steuerpolitischen Themen befasst. Herr Eichel hat darüber berichtet. So wurden die ersten Schritte zur Umsetzung der vom Europäischen Rat in Lissabon beschlossenen Strategien gebilligt, die Europa binnen zehn Jahren zum weltweit wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum machen sollen. Die Beispiele sind Ihnen bekannt: der E-Europe-Aktionsplan mit dem Schwerpunkt eines kostengünstigen Internet-Zugangs und die Charta für Kleinunternehmen, die die Bedeutung dieser Unternehmen für Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung hervorhebt. An all diesen Vorhaben war die Bundesregierung maßgeblich beteiligt. Bei der Zinsbesteuerung konnte ein wichtiger Einstieg erreicht und damit ein Erfolg in einer Frage erzielt werden, die seit vielen Jahren ungelöst war. Der anwesende Kollege Waigel hatte bereits im Jahre 1989 die Chance, im Grunde genommen zu einem vergleichbaren Einstieg zu kommen. Da ging es um die Vereinbarung eines Informationssystems. CDU/CSU und F.D.P. haben das damals abgelehnt. ({4}) Wir hatten zugegebenermaßen das Problem Luxemburg. Wir hatten in den letzten Jahren übrigens noch größere Probleme als nur Luxemburg. ({5}) Wir als größte Wirtschaftsmacht in Europa hätten dieses Problem damals schultern können. Deshalb schelten Sie doch bitte jetzt nicht Bundesfinanzminister Eichel, der es mit unglaublicher Zähigkeit erreicht hat, dass wir den Einstieg geschafft haben. ({6}) Bundesfinanzminister Hans Eichel gebührt Dank für seine Hartnäckigkeit, durch die es überhaupt zu einem Ergebnis gekommen ist. Das Ergebnis hätte besser sein können. ({7}) Erst wer bedenkt, wie unterschiedlich die Interessen der Mitgliedstaaten bei der gleichmäßigen Besteuerung der Zinseinkünfte sind, wer in Betracht zieht, welche Sensibilität diesem Thema innewohnt, und wer sich daran erinnert, wie viele Anläufe für eine Einigung schon gemacht worden sind, der kann ermessen, welch großer Schritt in Feira gelungen ist. Auch Sie wissen das, jedenfalls die Sachkundigen unter Ihnen. Herr Michelbach, Sie wissen das vielleicht nicht; aber die Sachkundigen wissen, wie schwierig es ist, zu solchen internationalen Fortschritten zu kommen. ({8}) Die jetzt gelungene Einigung ist auch ein deutliches Signal an diejenigen, die ihre Zinserträge bislang nicht oder nicht vollständig versteuert haben. Steuerhinterziehung ist nämlich kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat. ({9}) Offensichtlich sehen Sie das anders. Frau Merkel hat den Kompromiss von Feira in der „Bild am Sonntag“ nämlich so bewertet, dass er das Bankgeheimnis aushöhle. Herr Hintze hat sich ähnlich geäußert. Damit suchten Frau Merkel oder Herr Hintze für die Union wohl die Rolle als Schutzpatronin bzw. Schutzpatron der Steuerhinterzieher. ({10}) Diese Position, die Sie da einnehmen, finde ich schon toll. Wer das so genannte Bankgeheimnis in Deutschland, konkret: § 30 a Abs. 3 der Abgabenordnung, dahin gehend versteht, dass es verhindern soll, Steuerhinterziehung aufJoachim Poß zudecken, der kann sich über das Ergebnis von Feira tatsächlich nicht freuen. Die große Mehrheit der Steuerpflichtigen in Deutschland wird aber froh darüber sein, dass auch bei den Zinsen eine gleichmäßige und gerechte Besteuerung herbeigeführt werden soll. ({11}) Der Ehrliche darf nicht länger der Dumme sein. Deutschland wird nach der Richtlinie, die nach dem Beschluss bis Ende 2002 verabschiedet werden soll, Informationen über in Deutschland erzielte Kapitalerträge von Steuerausländern erteilen müssen. Hinsichtlich der in Deutschland erzielten Kapitalerträge von Steuerinländern gilt das nicht. Das heißt, dass die schützenswerten Belange von in Deutschland ansässigen Steuerpflichtigen im Verhältnis zu ihren Banken voll gewahrt werden. Panikmache ist also total unbegründet. Der jetzt gefundene Kompromiss nimmt schließlich den Druck, ohne Abstimmung mit unseren Partnern eine rein nationale Regelung finden zu müssen. Dieses Beispiel zeigt aber: Wir brauchen eine globalisierungstaugliche Zinsbesteuerung genauso, wie wir ein globalisierungstaugliches Unternehmensteuerrecht brauchen. ({12}) Deswegen sollte das Signal von Feira auch ein Aufruf an die Mitglieder von CDU und CSU sein, im Vermittlungsverfahren zum Steuersenkungsgesetz ihre nicht nachvollziehbare Fundamentalopposition gegen den Systemwechsel bei der Körperschaftsteuer aufzugeben. ({13}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Bundesregierung war aber auch noch in einem anderen Vorhaben erfolgreich: Das deutsche Anliegen zur Daseinsvorsorge wurde aufgegriffen. Auf Initiative der Bundesregierung forderte der Europäische Rat die Kommission auf, ihre Mitteilung über gemeinwohlorientierte öffentliche Leistungen bis zum nächsten Gipfel zu aktualisieren. Sie können sehen: Europa ist bei uns, bei dieser Koalition in guten Händen. ({14})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Carl-Ludwig Thiele von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Der Formelkompromiss zur Zinsbesteuerung, der auf dem Europäischen Gipfel in Feira gefunden wurde, enthält alle Merkmale, die Entscheidungen der Europäischen Union bei den Bürgern in Verruf gebracht haben: Erstens. Er ist halbherzig. Die Übergangsfrist von neun Jahren ist viel zu lang. Zweitens. Wegen der zusätzlichen Meldepflicht wird eine Unmenge an zusätzlicher Arbeit bei Banken, Finanzämtern, Steuerberatern und Steuerpflichtigen anfallen. ({0}) Die Bürokratie wird ausufern. Es werden so zwar Arbeitsplätze geschaffen, aber andere Arbeitsplätze, als wir uns das in Deutschland und in Europa vorstellen. ({1}) Der Kompromiss hat ferner nichts mit Steuerharmonisierung zu tun. Es wird lediglich festgeschrieben, dass jeder Staat weiterhin seine eigene Zinsbesteuerung vornehmen kann. Das Ergebnis wird sein: Gleichmacherei statt Wettbewerb, Schnüffelei statt Vertrauen. ({2}) Dieser Beschluss kann keine Begeisterung auslösen. Ich verstehe, Herr Finanzminister, dass Ihnen der Kommentar aus der „FAZ“ von heute nicht gefällt. Dort heißt es: „Die Fehlgeburt von Feira“. Auch die „Frankfurter Rundschau“, die ja eigentlich den Sozialdemokraten näher stehen sollte, kommentierte am 21. Juni: An der Grenze des Absurden. Die EU hat eine neue Fortbewegungsart entwickelt: Kein Stillstand mehr, aber auch noch kein Fortschreiten. ({3}) So wird das Ergebnis, das Sie erreicht haben, beurteilt. Der Austausch wechselseitiger Dankadressen dafür, dass man verhandelt hat, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Ergebnisse an dieser Stelle nicht erreicht wurden. ({4}) Fast zehn Jahre soll es dauern, bis alle EU-Staaten diesen Informationsaustausch eingeführt haben. Dieses muss erst einmal erreicht werden. Da haben Sie noch mehrere schwierige Abstimmungsprozesse vor sich. Auch die Auffassung dieser rot-grünen Regierung, sie würde entschlossen handeln, kann nicht richtig sein; denn in diesem Bereich geht es um eine Frist von zehn Jahren und in dem Bereich der Atomkraft, über den wir vorher diskutiert haben, geht es um eine Frist von 32 Jahren. Wenn Sie entschlossen handeln, dann handeln Sie doch hier und heute! Dazu haben Sie die Möglichkeit; das müssen Sie nicht immer verschieben. Wir haben sogar gleich die Möglichkeit weiterzuverhandeln, Herr Finanzminister. Ich plädiere an dieser Stelle für die Position, die die F.D.P. schon seit Jahren einnimmt. Führen wir doch in Deutschland endlich eine Abgeltungsteuer mit Anrechnungsmöglichkeit ein. Dieses ist die beste und unbürokratischste Lösung. ({5}) Sie schafft Klarheit für den Bürger, erspart den Banken ein Mitteilungssystem und stärkt den Finanzplatz Deutschland. Damit haben wir die Möglichkeit, wieder Kapital nach Deutschland zu holen, weil es dann attraktiv ist, in Deutschland zu investieren. Der letzte Punkt ist: Sie sichert dem Fiskus das Steueraufkommen. Von der derzeitigen Regelung waren erhebliche Steuermehreinnahmen erwartet worden; die Wirklichkeit sah anders aus. Wir müssen Deutschland angesichts des Wettbewerbs mit anderen Staaten attraktiv für Kapital und für Investitionen machen. ({6}) Das System der Abgeltungsteuer bedeutet - um das noch einmal zu erklären -, dass mit Ausschüttung der Erträge diese endgültig besteuert werden und damit die Steuerpflicht abgegolten ist. Die Anrechnungsmöglichkeit bedeutet, dass ein Steuerpflichtiger die Möglichkeit hat, die einbehaltene Steuer im Rahmen seiner Steuererklärung anzugeben und verrechnen zu lassen. Das führt zu dem Ergebnis, dass ein Steuerpflichtiger mit niedrigerem Steuersatz hier entsprechend seiner Leistungsfähigkeit besteuert wird. ({7}) Das ist ein Grundsatz, über den wir nachher weiter verhandeln werden, Herr Finanzminister. Weil Österreich gerade in der Diskussion ist, will ich bemerken: Das ist das Modell, welches in Österreich in den vergangenen Jahren unter einer SPÖ-Regierung, also unter einer sozialdemokratisch geführten Regierung, beschlossen wurde. Daher muss niemand behaupten, dass dieses Modell unsozial wäre. Ich glaube auch nicht, dass jemand die SPÖ aus der Sozialistischen Internationale ausschließen will, weil sie unsoziale Maßnahmen durchgeführt hätte. Das wird nicht der Fall sein. Vor allem muss niemand die Sorge haben, dass diese Regelung erst in neun, 15 oder 32 Jahren greift. Sie kann heute beraten werden. Im Vermittlungsausschuss liegen entsprechende Anträge von uns vor. Wir haben die Möglichkeit, im Rahmen dieser Verhandlungen wirklich einen Schritt weiterzukommen und nicht das Ganze immer weiter ausufern zu lassen und fortzuschreiben. Eine weitere Enttäuschung des Gipfels von Feira, die ich in diesem Zusammenhang nicht verschweigen kann, ist es, dass es keinen entscheidenden Schritt in Richtung auf Aufhebung der Sanktionen gegen Österreich gibt. ({8}) Es ist geradezu absurd: Diese Sanktionen waren und sind stillos. Die Front der Befürworter der Sanktionen bröckelt weiter ab. Diese Sanktionen sind eine Frechheit gegenüber den österreichischen Bürgern, die das Parlament gewählt haben. Die 14 Mitgliedstaaten betonen unentwegt, es handele sich um bilaterale Maßnahmen und nicht um Sanktionen der EU. Bei Fototerminen wird gehampelt und gestrampelt, damit man ja nicht ins Bild kommt, wenn man einem Österreicher die Hand schüttelt. Das darf doch nicht wahr sein! Dieses Verständnis von Europa leuchtet keinem vernünftigen Menschen in diesem Lande ein. ({9}) Einer versteckt sich hinter dem anderen und nichts bewegt sich. Österreich hat auch in Feira wieder seine Europatreue zum Ausdruck gebracht. Die Vorschläge - das ist sozusagen das Schärfste, was sich die Regierung leistet -, eine Beobachtermission oder „Drei Weise“ nach Österreich zu entsenden, um zu schauen, ob sich Österreich vertragskonform verhält, sind Lachnummern und reine Ausflüchte. ({10}) In Wien befinden sich mehr als 300 ausländische Diplomaten, die nichts anderes zu tun haben, als täglich zu beurteilen, wie sich Österreich im nationalen und internationalen Maßstab verhält. Sie aber wollen die „Drei Weisen“ nach Österreich schicken, um so zu neuen Erkenntnissen zu kommen. Ich kann Ihnen dazu nur sagen - das ist die Auffassung der F.D.P. -: Beziehen Sie hier klar Position! Hören Sie mit der unwürdigen Diskriminierung Österreichs und der Österreicher auf! Sorgen Sie dafür, dass Europa sich einig ist! Akzeptieren Sie endlich, dass die Österreicher in freier und geheimer Wahl ein Parlament gewählt haben und sich für eine Mehrheit der jetzigen Regierungskoalition entschieden haben! Das mag jeder für richtig oder falsch halten. Auch die F.D.P. ist gegen die Beteiligung der FPÖ an der Regierung. ({11}) Aber das ist doch kein Grund für uns, Österreich in dieser Form zu isolieren. Auch in Deutschland ist nicht jeder mit der rot-grünen Regierung einverstanden. ({12}) Aber sie ist gewählt und die Mehrheit des Bundestages trägt derzeit noch diese Regierung. Ich fordere Sie auch im Zusammenhang mit den anstehenden Verhandlungen in Europa auf: Hören Sie mit den Sanktionen gegen Österreich so schnell wie möglich auf! Treten Sie den Rückweg zur Normalität an! Herzlichen Dank. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat die Kollegin Christine Scheel von Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Herr Thiele, gerade die F.D.P. hat in 16 Jahren Regierungsverantwortung mit der CDU und der CSU ({0}) keinen Fortschritt im Zusammenhang mit der Steuerharmonisierung, ({1}) über die wir heute reden, erreicht. Im Gegenteil: Die Steuerhinterziehung ist unter Ihrer Regierungsverantwortung quantitativ gestiegen. Diesen Punkt muss man vorab festhalten. ({2}) Boshaft könnte ich die F.D.P. als Schutzpatronin der Steuerhinterzieher titulieren. Ich glaube, das wäre passend für diese Partei. ({3}) In der jetzigen Debatte geht es um das, was in Feira ernsthaft verhandelt und auch nach vorn gebracht worden ist. Das kann man auch aus unserer Sicht als einen sehr zähen und langsamen Prozess werten, was er real ja auch ist. Wir haben früher schon gesagt: Der Fortschritt auf europäischer Ebene ist eine Schnecke, weil es sehr problematisch und schwierig ist, innerhalb der Gemeinschaft Veränderungen voranzutreiben, die von allen gemeinsam getragen werden. Der Erfolg, der an dieser Stelle entscheidend ist, besteht darin, dass man sich einstimmig zu einem Ziel durchgerungen hat, und zwar mit einer sehr, sehr großen Sensibilität, vor allem was die deutsche Seite betrifft. Das müssen Sie in diesem Zusammenhang einfach einmal zur Kenntnis nehmen. Europäische Politik kann man gerade im Zusammenhang mit dem Steuerrecht und im Zusammenhang mit der Harmonisierung in Steuerfragen nicht mit der Brechstange betreiben. In steuerpolitischen Zusammenhängen gibt es nationale Interessen, die sehr viel stärker ausgeprägt sind, als dies in vielen anderen Themenbereichen der Fall ist. Daher muss man hier sehr sensibel vorgehen. Angesichts des vorliegenden Ergebnisses kann man mit gutem Recht sagen, dass endlich der Weg zu einer einheitlichen EU-Zinsbesteuerung geebnet wurde und wir gute Fortschritte darstellen können, was wir auch tun. Natürlich bereitet es angesichts der Entwicklung und angesichts der Interessen der einzelnen EU-Länder Schwierigkeiten, dass das Einstimmigkeitsprinzip in Steuerfragen, über das ich gerade gesprochen habe, für die nächsten Jahre auch für den gestuften Weg zur Realisierung der EU-Zinsbesteuerung festgeschrieben wurde. Danach bedarf es mindestens zweier einstimmiger EU-Ministerratsentscheidungen, um die Richtlinie für eine einheitliche Zinsbesteuerung Wirklichkeit werden zu lassen. Das ist der richtige und auch Erfolg versprechende Weg. Aber selbst wenn sich die EU-Regierungen im Dezember 2000 auf eine Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen im Rahmen des EU-Vertrages verständigen sollten, bleibt diese Richtlinie auf jeden Fall dem Einstimmigkeitsprinzip der 15 EU-Länder unterworfen. Generell geht es darum, dass wir Wettbewerbsverzerrungen zwischen den EU-Ländern vermeiden und dass wir zugleich - das ist ein sehr wichtiger Punkt - ein investitions- und beschäftigungsfreundliches Klima im europäischen Binnenmarkt gewährleisten. Dabei stehen natürlich grenzüberschreitende Sachverhalte, wie die grenzüberschreitenden Zinszahlungen, im Mittelpunkt. Gerade bei Letzteren spielt das Problem der Steuerhinterziehung eine sehr wesentliche Rolle, da sich grenzüberschreitende Zinszahlungen viel leichter der Besteuerung entziehen können als Zinsen, die nur national gezahlt werden. Für nationale Zinsen gibt es die Quellensteuer und Kontrollmitteilungen. Von daher ist Ihr Hinweis auf die Abgeltungsteuer, Herr Thiele, in diesem Punkt an der falschen Stelle angebracht. In diesem Zusammenhang geht es um Steuerausländer. Es geht nicht darum, wie wir auf nationaler Ebene mit der Erfassung von Kapitalerträgen umgehen. ({4}) Das ist eine Diskussion, die auf einer anderen Baustelle stattzufinden hat. ({5}) Hier geht es darum, wie wir international operieren. In den USA beispielsweise sind schon vor Jahren Kontrollmitteilungen eingeführt worden, wie es sie auch in anderen EU-Ländern bereits gibt. Das heißt, wenn Sie Ihr Geld in Amerika anlegen und beim Finanzamt die Erträge daraus nicht angeben, dann kann es Ihnen durchaus passieren, dass eine Kontrollmitteilung bei Ihrem Finanzamt eingeht. Dies sollte weltweit einheitlich gehandhabt werden. Zumindest sollten einander ähnliche Regelungen gefunden werden, mit denen zum Beispiel auch die Schweiz oder andere so genannte Steueroasen - ich meine damit nicht nur die Schweiz, sondern es gibt noch ganz andere Steueroasen, wie Sie wissen - in die Verantwortung gezogen werden können. Bei den grenzüberschreitenden Zinszahlungen, die sich der Steuerpflicht des jeweiligen Inlandes entziehen, geht es nicht um Peanuts, sondern um Milliardensummen. Nach einer UNO-Studie sind in den Steueroasen weltweit 5 000 Milliarden US-Dollar angelegt. Ich muss sagen: Es ist ausdrücklich zu begrüßen, dass die OECD in ihrem jüngsten Bericht - der Minister hat darauf hingewiesen 35 Steuerparadiese benennt und zur Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Steuerflucht von Unternehmen und Privatleuten auffordert. ({6}) Das ist der richtige Weg, den wir auch von deutscher Seite massiv unterstützen. ({7}) Wir begrüßen auch, dass es auf mehreren Ebenen, auf der Ebene der EU, der OECD, bei den G7, verstärkt Anstrengungen gibt, Vereinbarungen für funktionsfähige und tragbare Kapitalmärkte zu finden, die der Steuerflucht entgegenwirken sollen. Wir sind deshalb sehr froh und begrüßen die Anstrengungen und die Initiativen, die zu einem System der Auskunftserteilung für nicht Ansässige, also Steuerausländer, beitragen sollen. Dieser Schritt ist realisierbar und wird greifen, wenn sich die 15 EU-Länder über den Inhalt der Richtlinie geeinigt haben. Die Vereinbarung von Feira sieht eine Frist bis zum 31. Dezember 2002 vor.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Michelbach?

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte, Herr Michelbach.

Hans Michelbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002738, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin Scheel, es ist richtig, dass wir eine Vereinheitlichung der Kapitalbesteuerung vornehmen sollten, um die Steuerflucht einzudämmen. Aber warum sind Sie denn dann gegen eine Abgeltungsteuer in Deutschland, wie die Union sie in ihrem Alternativkonzept vorschlägt?

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Derzeit sind auf der europäischen Ebene alle Länder miteinander im Gespräch darüber, wer in der Zukunft welchen Weg gehen will. Bislang haben beispielsweise Österreich und Luxemburg klipp und klar gesagt, was sie wollen. Belgien, Griechenland und Portugal werden im Laufe des Jahres 2000 dem Europäischen Rat mitteilen, welchen Standpunkt sie vertreten. Es wird über einen Quellensteuersatz von 15 bis 25 Prozent diskutiert. Österreich und Luxemburg vertreten die Position, dass dieses Niveau zu hoch sei, wollen also niedrigere Steuersätze aufgrund der Wettbewerbsvorteile auf den Kapitalmärkten für sich in Anspruch nehmen. ({0}) Wir sollten uns hier genau überlegen, was wir wollen. ({1}) Wir haben, was die Zinsbesteuerung betrifft, in Deutschland im Prinzip ein sehr gutes System, Herr Michelbach. Wir haben die Möglichkeit der Anrechnung bei der Einkommensteuer. ({2}) - Ich rede hier von Deutschland. Sie können das nur für Deutschland diskutieren. Das ist genau der Fehler, den auch Herr Thiele gemacht hat. Wir reden hier über Regelungen für Steuerausländer und Sie kommen immer wieder mit Regelungen, die für die Besteuerung im Inland gelten sollen. ({3}) Wenn wir von Leistungsgerechtigkeit bei der Besteuerung reden, Herr Thiele, und wenn wir darüber reden, dass wir in der Steuerpolitik hier zu einer Regelung kommen müssen, mit der man die Einkünfte gleich behandelt und die Leistungsgerechtigkeit in den Vordergrund stellt, muss man sehen, dass die 15 Prozent Abgeltungsteuer, die Sie vorschlagen, nicht leistungsgerecht sind. ({4}) - 25 Prozent; das wäre genau das gleiche Problem. Wenn man die Steuerprogression kennt, wenn man weiß, wo diese Steuer positiv und wo sie negativ greift, stellt man fest, dass man wieder bei den kleineren Einkünften die Probleme hat. ({5}) Das wollen wir nicht. Entweder Sie erheben eine Abgeltungsteuer oder Sie lassen das System mit der Anrechnungsmöglichkeit, wie es ist. Wir sind dafür, dass wir jetzt in aller Ruhe darüber beraten. Das System ist mit der Anrechenbarkeit derzeit gut geregelt. Jetzt müssen wir sehen, wie wir das Problem in den Griff bekommen, dass die Deutschen ihr Geld im Ausland anlegen, ohne dass der deutsche Fiskus etwas von den Erträgen sieht, die steuerlich geltend gemacht werden müssten. Unsere Aufgabe ist, Steuerhinterziehung zu vermeiden. Diese Diskussion führen wir heute. Wir diskutieren nicht darüber, wie in Zukunft die Zinsbesteuerung in Deutschland aussieht. Darüber diskutieren wir an anderer Stelle, gerne auch mit Ihnen. Da befinden wir uns im Wettbewerb der Ideen und sind sehr aufgeschlossen. Man muss an dieser Stelle abwägen, was für die Zukunft das Beste ist. Das sage ich auch an Ihre Adresse gewandt, Herr Thiele.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Thiele?

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Bitte, Herr Thiele.

Carl Ludwig Thiele (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002315, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herzlichen Dank. - Die Frage ist: Wie stellen sich die Grünen das vor? Sie haben gerade vier, fünf Minuten darüber geredet, wie es sein könnte. Aber Sie haben nicht gesagt, was Sie wollen. Sie haben uns vorgeworfen, wir wollten, gerade die Bezieher niedriger Einkommen, nicht nach der Leistungsfähigkeit besteuern. Das stimmt nicht. Ich habe vorhin ausdrücklich auf die Abgeltungsteuer mit Anrechnungsmöglichkeit hingewiesen. Das stellt sicher, dass jeder Steuerpflichtige, der einen niedrigeren Steuersatz hat als die ZinsabgelChristine Scheel tungsteuer, niedriger besteuert wird als ohne Anrechnungsmöglichkeit. Aber die Hauptfrage lautet: Was wollen Sie von den Grünen denn, Nebelkerzen werfen oder ein klares Konzept? ({0})

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Thiele, ich habe darauf hingewiesen, dass wir uns darüber gerne im Rahmen des Themas nationale Besteuerung unterhalten können. In meiner Fraktion besteht ein sehr breiter Konsens dahin gehend, dass man hier etwas tun muss. Darüber sind wir uns einig. ({0}) Das Einführen von Kontrollmitteilungen führt zu Vorteilen, die auch in sehr vielen anderen Ländern so formuliert worden sind. In zahlreichen EU-Ländern wurden bereits auf nationaler Ebene Kontrollmitteilungen eingesetzt. In einigen europäischen Ländern wurde eine Abgeltungsteuer eingeführt, und zwar mit unterschiedlichen Kriterien im Hinblick auf Anrechenbarkeit und Nichtanrechenbarkeit. Wir haben uns jetzt darauf verständigt, die Frage der Zins- bzw. Kapitalertragsbesteuerung insgesamt auf den Prüfstand zu stellen und zu schauen, welche unterschiedlichen Situationen bestehen. Denn je nach Kapitalanlage gibt es unterschiedlichste Besteuerungen. Auch das ist nicht zeitgemäß. Deswegen kann man nicht isoliert eine Maßnahme herausgreifen und so tun, als sei das die Lösung aller Dinge. Vielmehr brauchen wir insgesamt ein Konzept zur Kapitalertragsbesteuerung. Daran arbeiten wir. Bekanntermaßen sind unsere Konzepte immer etwas substanzieller als das, was die F.D.P. auf den Tisch legt. ({1}) Wir sind der Meinung, dass im Rahmen des EU-Vertrages das Einstimmigkeitsprinzip für weitere Bereiche aufgehoben und zum Prinzip der qualifizierten Mehrheit übergegangen werden sollte. Ich habe vorhin bereits darauf hingewiesen, dass für viele Länder die Steuerpolitik ein nationales Heiligtum ist. Es ist daher sehr schwierig, in diesem Bereich vom Einstimmigkeitsprinzip abzuweichen. Aber wir sollten auch vor Augen haben, dass bei der Harmonisierung der Energiebesteuerung nichts vorangegangen ist, obwohl gemäß EU-Vertrag ein direkter Harmonisierungsauftrag vorliegt. Dies gilt übrigens ebenso für die Kerosinbesteuerung. Daher sollte man überlegen, wie man angesichts dessen, dass andere Länder in diesem Zusammenhang ihr Vetorecht in Anspruch genommen haben, in Zukunft verfahren sollte. Abschließend eine Bemerkung zur qualifizierten Mehrheit: Die qualifizierte Mehrheit ist etwas anderes das wird immer wieder durcheinander gebracht - als die einfache Mehrheit, sodass sehr wohl weiterhin Kompromisse gesucht werden müssen. Mit der Einführung der qualifizierten Mehrheit soll jedoch eine Blockade per Vetorecht ausgeschlossen werden. Ich denke, dass im Hinblick auf die weitere Entwicklung dieser Fragen auf die im nächsten halben Jahr bestehende französische Präsidentschaft eine Schlüsselfunktion zukommt. Wir setzen darauf, dass sich die EU-Länder auch in diesem Punkt aufeinander zu bewegen, und zwar im Interesse eines gemeinsamen Europas und auch mit Blick auf die Erweiterung der Europäischen Union durch osteuropäische Länder. Danke schön. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe den Eindruck, dass die zum Thema Europa gehaltenen Reden derzeit immer bombastischer werden, die Visionen immer größer, die realen Ergebnisse jedoch im gleichen Tempo abnehmen. Das gilt meiner Meinung nach auch für Feira. ({0}) Dieses Missverhältnis zwischen großen Visionen und praktischer Politik wird auch bei den Bürgerinnen und Bürgern in den Mitgliedsländern der Europäischen Union wahrgenommen und stärkt die Vorbehalte gegen Europa. Damit ich nicht missverstanden werde: Ich bin kein Gegner von europäischen Visionen und einer streitbaren Debatte darüber. Ich achte die notwendige Kleinarbeit, die zu leisten ist, das zähe Dicke-Bretter-Bohren, außerordentlich hoch. Aber ich verlange, dass mit den Menschen in unserem Land und in den anderen europäischen Ländern über die bestehenden Probleme gesprochen wird. ({1}) Die Erfolgspropaganda, die hier immer betrieben wird, führt nicht dazu, zu überzeugen, täuscht über die eigentlichen Probleme hinweg und ist kontraproduktiv. Auch ich habe heute Morgen in der Presse gelesen, dass der Kanzler seine Abgeordneten aufgefordert hat, die Arbeit der Regierung ordentlich zu loben. Dass das so schnell umgesetzt werden würde, habe ich allerdings nicht gedacht. Aber Sie täuschen sich darüber, wie so etwas funktioniert: Nur mit Loben überzeugt man nicht. Wenn man aufrichtig über Probleme redet und Widersprüche deutlich macht, kann man überzeugen, nicht aber auf diese Art und Weise. ({2}) Ich verstehe, dass der Finanzminister in seiner Regierungserklärung den Schwerpunkt selbstverständlich auf die Fragen der Zinsbesteuerung und der monetären Aspekte gelegt hat. Er selbst sprach davon, dass ein Durchbruch erreicht worden sei; Kollege Poß war sehr viel vorsichtiger und sagte, es sei ein Einstieg erreicht worden. Aber auch hier muss ich betonen, dass die eigentlichen Probleme von der einstimmigen Entscheidung des Ministerrates über die Richtlinien bis hin zu den Fragen, was wann konkret verabredet wird, noch offen sind. Es ist nicht absehbar, in welchem Zeitraum Europas Steuerschlupflöcher, die unbedingt geschlossen werden müssen, geschlossen werden. Vielleicht war nicht mehr drin - das kann schon sein -; aber dann bin ich dafür, dass man das hier offen sagt und begründet, warum nicht mehr drin war, anstatt zu sagen, man habe einen Durchbruch erreicht, die Dinge seien geregelt und alles gehe seinen Gang. ({3}) Glauben Sie mir - ich habe damit sehr viel Erfahrung -, diese Art von Politik wird auf Dauer nicht fruchten. Ich möchte auch darauf aufmerksam machen, dass eigentlich andere Fragen im Zentrum der Tagesordnung von Feira gestanden haben, zum Beispiel die Frage der europäischen Grundrechtecharta, die in das Vertragswerk der Europäischen Union aufgenommen werden und damit Rechtsverbindlichkeit erhalten muss. Auf der Tagesordnung war die Unteilbarkeit der Menschenrechte. Dies bedingt, dass auch soziale Rechte in diese europäische Grundrechtecharta aufgenommen werden. Von der Bundesregierung erwarte ich - bisher ist wenig dazu gesagt worden -, dass sie dafür noch konsequenter eintritt. Ich halte es auch für falsch, dass man in Feira die Beitrittsländer nicht in die Ausarbeitung der europäischen Grundrechtecharta einbezogen hat. Wer die Beitrittsländer nicht an der Erarbeitung einer Grundrechtecharta beteiligt, wird sie sehr schwer an der Erarbeitung der Verfassung beteiligen können. Das ist ein Fehler. Niemand hätte den Europäischen Rat daran gehindert, die Beitrittsländer einzubeziehen. ({4}) Auch die in Feira gefassten Beschlüsse zur Erweiterung der Union sind aus meiner Sicht zwiespältig. Einerseits werden Fortschritte der Kandidaten gelobt; andererseits wird festgestellt, dass noch viel zu tun bleibe. Das ist das übliche Gerede. Ich bin in vielen Gesprächen in den osteuropäischen Beitrittsländern immer mehr zu der Auffassung gekommen, dass diese Unverbindlichkeit bei den Menschen dort die Sorge stärkt, dass ihr Weg in die Europäische Union nicht gesichert ist. Es wäre sinnvoller, einen zeitlich klareren Rahmen zu setzen und deutlichere Aussagen in diese Richtung zu machen. Das bedeutet auch, die Beitrittsländer heute an allem zu beteiligen, was überhaupt nur möglich ist. Abschließend möchte ich Sie auf einen großen Widerspruch aufmerksam machen. In Feira ist auch beschlossen worden, Länder am militärischen Teil der Europäischen Union zu beteiligen, während sie aus dem anderen Teil noch immer ausgegrenzt sind. Die Beitrittsschwelle zum militärischen Teil ist also deutlich niedriger. Zu den Ländern, die sich an der militärischen Integration beteiligen sollen, gehört übrigens auch die Türkei. Wenn man aber einem Land attestieren muss, dass in ihm die Grund- und Menschenrechte nicht gewahrt sind, dann darf man es auch nicht am militärischen Teil beteiligen, wobei ich nicht verhehlen will, dass ich überhaupt gegen den militärischen Teil bin. In Feira ist klar entschieden worden - ich bedaure es außerordentlich -, dass man an der Militarisierung der Europäischen Union und an der Schaffung von Kriseneinsatzkräften festhalten wird. Das ist aus meiner Sicht genau der falsche Weg. Wir brauchen die Sozialunion, die Umweltunion, eine Beschäftigungsunion. Der militärische Teil der Europäischen Union wird kein Problem lösen, sondern viele neue Probleme in Europa aufhäufen. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt hat der Kollege Markus Meckel das Wort.

Markus Meckel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001451, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Mit den letzten Stichworten wurden die Themen angesprochen, denen ich mich zuwenden möchte, nämlich die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Allerdings ist der letzte Begriff nicht ganz korrekt - das sollten wir immer wieder deutlich machen -; denn von Verteidigungspolitik soll an dieser Stelle eigentlich nicht die Rede sein. Die Verteidigung der Staaten, die der NATO angehören, wird Sache der NATO bleiben. Es geht vielmehr um Krisenmanagement und Krisenbewältigung. Wir alle haben die 90er-Jahre in Erinnerung. Wir alle haben die Unfähigkeit Europas erlebt, zu gemeinsamen Positionen und zu gemeinsamem Handeln zu kommen. In Bosnien und vor allem im Kosovo hat sich die Schwäche der Europäer deutlich herausgestellt. Obwohl dies alles noch nicht so lange her ist, wurden bereits, so glaube ich, sichtbare Erkenntnisfortschritte erzielt. Und dabei ist es nicht geblieben, die Erkenntnisse wurden auch in Handeln umgesetzt. Angesichts dessen, dass die Beschlüsse von Köln und Helsinki gerade einmal vor einem bzw. vor einem halben Jahr gefasst wurden, sind wir ungeheuer weiter vorangekommen. Auch in Feira hat es wieder große Fortschritte gegeben. Diese Fortschritte muss es auch geben, weil es um die gemeinsame Handlungsfähigkeit der Europäer in Krisen geht. Sie, Herr Gehrcke, werden es wahrscheinlich begrüßen - Sie haben nicht davon gesprochen -, dass die Komplementarität von zivilem und militärischem Handeln deutlich ausgebaut worden ist. Gerade die Einrichtung eines zivilen, also nicht militärischen Ausschusses für Krisenmanagement und Konfliktprävention zeigt, was die Stärke der Europäischen Union ausmacht. ({0}) Gerade bei der Koordinierung dieser beiden Dimensionen haben wir ein großes Defizit. Schauen wir uns die anderen Institutionen an, die hier eine wichtige Rolle spielen, sei es die NATO, sei es die OSZE, seien es die Vereinten Nationen. Die ungenügende Koordinierung war immer wieder das zentrale Problem des gemeinsamen interWolfgang Gehrcke nationalen Handelns. Die Europäische Union entwickelt jetzt beide Fähigkeiten. Zum einen bündelt sie ihre zivilen, ihre politischen Fähigkeiten. Zum anderen koordiniert sie sie mit den militärischen Fähigkeiten, die jetzt aufgebaut werden. Ich glaube, darin liegt eine ganz zentrale Dimension des gemeinsamen Handelns der Europäischen Union, des gemeinsamen Handelns, das wir in der Vergangenheit immer wieder allzu schmerzlich vermissen mussten. Diese Fähigkeit wird sich deutlich erhöhen, unter anderem dadurch, dass man sich in Feira vorgenommen hat, kurzfristig gemeinsam Polizeitruppen bereitzustellen. Hier gab es in der Vergangenheit ungeheure Defizite. Es ist ja richtig, wenn gesagt wird, dass in militärischen Fragen die NATO sehr viel schneller handlungsfähig ist, weil sie über eine eingespielte Organisation verfügt. Dies müssen wir auf der militärischen Ebene lernen. Wir müssen aber nicht nur auf der militärischen Ebene lernen, sondern auch hinsichtlich ziviler Fragen. Hier haben wir uns als internationale Staatengemeinschaft in der Vergangenheit nun wahrhaftig nicht mit Ruhm bekleckert. Das zeigt sich daran, wie lange es im Laufe der verschiedenen Einsätze gedauert hat, die entsprechenden Polizeikräfte vor Ort zu bringen. Hier gibt es sehr große Defizite. Hier sind wir in Feira deutlich vorangekommen mit dem Vorhaben, für künftige Einsätze 5 000 Polizeibeamte bereitstellen zu können. Zudem soll ein kurzfristiger Einsatz, also ein Einsatz innerhalb von 30 Tagen, von bis zu 1 000 Polizeikräften möglich sein. Ich denke, dies sind große Erfolge. Außerdem ist mit den europäischen NATO-Staaten gesprochen worden, die nicht EU-Mitglied sind. Diese Staaten wollen beteiligt werden. Vorredner haben gesagt, wir wollten sie hinzuziehen. Aber genau das ist falsch. Sie sagen selber: Wir wollen beteiligt werden, brauchen dafür aber klare Strukturen und Vereinbarungen. Auch in dieser Hinsicht sind wir in Feira einen großen Schritt vorangekommen. Die Notwendigkeit regelmäßiger Konsultationen ist aufgezeigt worden. Ebenso muss es gemeinsame Arbeitsgruppen mit der NATO geben, die ein Abkommen vorbereiten, das fertig sein soll, wenn die europäischen Krisenreaktionskräfte in drei Jahren zur Verfügung stehen. Darin sollen Fragen der Sicherheitsbestimmungen und der konkreten Verfahren zur Bereitstellung von NATO-Ressourcen für europäische Einsätze geklärt werden. Dies ist ein wichtiges Stück Arbeit. Wichtig ist auch, dass die Widerstände, die es insbesondere in der Türkei, aber auch in Norwegen gibt, überwunden werden. Deshalb muss die Transparenz dieser Verfahren deutlich werden. Es ist gut, dass es im Herbst eine Beitragskonferenz geben wird, sodass bis Nizza im Dezember klar ist, welche Staaten welche Beiträge - auch militärisch - einbringen können. Ich möchte auf einen weiteren Punkt eingehen, und zwar die gemeinsame Strategie gegenüber den Mittelmeerstaaten. Es ist ganz wesentlich, dass wir nach der gemeinsamen Strategie gegenüber Russland und der Ukraine nun auch eine gemeinsame Strategie gegenüber den Mittelmeerstaaten entwickeln. Dieser Region, die für die nachbarschaftlichen Beziehungen der Europäischen Union ganz zentral ist, müssen wir uns in besonderem Maße widmen. Dies darf Deutschland nicht den südlichen Mitgliedstaaten überlassen; wir als Deutsche sollten uns daran intensiv beteiligen. Zum Schluss möchte ich noch einen Punkt ansprechen, der noch nicht geklärt ist, nämlich die parlamentarische Begleitung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitsund der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Es wird hier noch einiger Anstrengungen und Gespräche bedürfen. Die Parlamentarische Versammlung der WEU - ihr Präsident ist ja Mitglied unseres Hauses hat beschlossen, sich entsprechend zu verändern, weil sie der Meinung ist, dass es auch künftig einer solchen interparlamentarischen Versammlung bedarf. Das Europäische Parlament sieht dies anders und will ihre Aufgaben voll übernehmen. Es sagt, wenn die WEU in die EU integriert werde, sei auch die Parlamentarische Versammlung nicht mehr nötig. Eines jedenfalls muss klar sein: Es muss eine parlamentarische Begleitung der Außen- und Sicherheitspolitik geben. - Diese Diskussion müssen wir auch intern weiterführen, um hier zu klaren Regelungen zu kommen. Europa ist langsam nicht nur ein großer Wirtschaftsfaktor, sondern wird auch zu einem wesentlichen politischen Faktor in der Welt. Die internationale Staatengemeinschaft sieht dies durchaus mit großen Hoffnungen. Unsere Aufgabe wird es sein, diesen Hoffnungen gerecht zu werden. Gerade wir Deutschen tragen dafür eine große Verantwortung. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gerd Müller.

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben es wieder einmal geschafft: Ich glaube, dass uns - so ein Fernsehsender diese Europadebatte überträgt - kaum noch einer freiwillig zuhört. Auch das Plenum haben wir wieder einmal leer geredet. Ist das Europa? ({0}) Europa hat so spannende Themen zu bieten. Aber wie wir das präsentieren - parteiübergreifend! -, macht mir Sorge. In Feira wurden 80 Punkte beschlossen, darunter so spannende Themen wie die Aufstellung einer 5 000 Mann starken europäischen Polizei. Auch das Problem einer einheitlichen Zinsbesteuerung wurde angesprochen. Was die europäische Entwicklung anbetrifft, sind wir in einer der spannendsten Phasen der letzten 20 Jahre. Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Sie zuhören, wir sind in der Endphase der Diskussion über eine Grundrechtscharta, was den Einstieg in eine europäische Verfassung bedeutet. Die Mitgliedstaaten führen Beitrittsverhandlungen mit zwölf mittelosteuropäischen Staaten. Die Bundesregierung will die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union; die ersten Gespräche dazu laufen. Aber bei all diesen wichtigen Themen verweigern sich der Bundeskanzler und der Bundesaußenminister dem Plenum, der Öffentlichkeit. Dies können wir nicht akzeptieren, dies können wir nicht hinnehmen. ({1}) Wir stehen vor der größten institutionellen Reform in Europa der letzten 20 Jahre: Stimmenwägung im Ministerrat, qualifizierte Mehrheit, Zusammensetzung des Europäischen Parlaments. Dennoch ist die Bundesregierung nicht bereit, diese zentralen Fragen mit dem Deutschen Bundestag zu diskutieren. ({2}) Dies ist ein autoritärer Regierungsstil - Geheimdiplomatie! Bundeskanzler Schröder sitzt öfter und länger am Gendarmenmarkt als hier im deutschen Parlament. ({3}) Das können wir uns nicht bieten lassen. Deshalb werden wir in den nächsten Wochen eine Initiative ergreifen. Die Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestags in zentralen Fragen der Europapolitik müssen gestärkt werden. ({4}) Wir werden einen Vorstoß zur Ergänzung des Art. 23 Grundgesetz unternehmen, ein maßgebliches Mitentscheidungsrecht des Bundestages bei zentralen europäischen Themen, die unsere Bürger im Staat interessieren und berühren, einzuführen. ({5}) Die Rede des französischen Staatspräsidenten Chirac war hochinteressant. Wir wissen jetzt, was die Franzosen wollen. Das Kolloquium des Privatmannes Joseph Fischer an der Humboldt-Universität war hochinteressant. Aber wir wissen nicht, was der frühere Straßenkämpfer und Basisdemokrat, der heutige deutsche Außenminister, als Außenminister in die Regierungskonferenz einbringt. Das ist nicht hinnehmbar, das ist skandalös. ({6}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese Regierung hätte - und dazu fordern wir sie auf - in Anknüpfung an die Rede von Präsident Chirac die große Chance, die zentrale Aussage von Chirac aufzugreifen und eine deutsch-französische Initiative zur Kompetenzabgrenzung in diese Regierungskonferenz - so wie es gute Tradition der Regierung Kohl/Waigel war, ich erinnere an die Subsidiaritätsinitiative ({7}) einzubringen. ({8}) Chirac, Prodi, die deutschen Bundesländer, der Privatmann Fischer, alle bezeichnen das Thema Kompetenzabgrenzung als das jetzt drängendste zentrale Thema. Ich möchte einen Grund von Bundeskanzler Schröder erfahren, warum er auf diesen Zug nicht aufspringt. ({9}) Dies ist der Schlüssel. Jeder stellt visionäre Reden in den Raum. Es ist interessant, darüber zu schwadronieren und zu visionieren, was in 50, in 100 Jahren in Europa sein soll oder muss. Es ist interessant, notwendig, wichtig. Aber es lenkt natürlich davon ab, dass die Bundesregierung dazu, was konkret jetzt, heute, morgen, in zwei Jahren passieren muss, nichts zu bieten hat. ({10}) Wir brauchen nicht nur eine neue Ordnung in Europa Herr Finanzminister Eichel, nachdem Sie die Regierungserklärung abgegeben haben, halten Sie Hof auf der Regierungsbank -, sondern wir brauchen natürlich auch eine innere Reform der Bundesrepublik Deutschland, was den Staat, den Verwaltungsapparat, die Finanzverfassung - Theo Waigel hat dazu wichtige Anstöße gegeben und die Gesetzgebung, die Rechtsprechung anbetrifft. Das wäre Substanz in der Politik. Nehmen Sie diese Chance wahr und diese Anregung auf, wir als Opposition würden Sie unterstützen. Es kann nicht sein, dass wir oben eine neue Ebene, die europäische Ebene, draufsetzen, aber heute in Deutschland die Situation haben, dass wir für die Genehmigung von 20 Kilometern Autobahn wie zum Beispiel bei der A 7 bei mir zu Hause in Füssen ein 35 Jahre dauerndes Genehmigungsverfahren brauchen. ({11}) Deshalb müssen wir Deutschland auch nach innen europafähig machen. Das ist eine ganz wichtige Standortfrage. ({12}) Herr Eichel, die Aufnahme Griechenlands in den Eurokreis zum jetzigen Zeitpunkt war ein schwerer Fehler. ({13}) Die Staatsverschuldung betrug 104 Prozent. Bei der Inflationsbekämpfung wurde manipuliert. Sie haben die Kriterien einfach einmal mit links hinweggeschoben und das Vertrauen in den Euro beschädigt. Sehr geehrter Herr Finanzminister, zur Zinsbesteuerung wurde vom Kollegen der F.D.P. Wesentliches und Wichtiges gesagt. Ich kürze dies ab - ich stimme den Argumenten zu - denn ich möchte Ihnen, nachdem Sie heute der Ersatzkanzler sind, noch einige andere Fragen stellen. Im Zusammenhang mit der Regierungskonferenz und der Osterweiterung stehen natürlich weitere zentrale Fragen zur Debatte, die gerade den Finanzminister berühren. Sagen Sie dem deutschen Volk: Wie wollen Sie die Osterweiterung finanzieren? Das interessiert unsere Bürgerinnen und Bürger. ({14}) Sagen Sie dem deutschen Volk, wie Sie das Finanzsystem der EU korrigieren wollen. Deutschland zahlt 60 Prozent der Nettotransfers. ({15}) Herr Finanzminister, beim Berliner Gipfel haben Sie bewusst für den Beitritt in den nächsten Jahren Finanzbeschlüsse gefasst, die bis zum Jahre 2006 keine finanzielle Grundlage für eine Erweiterung der Union schaffen. Wie wollen Sie darauf reagieren? Kommen Sie ans Mikrofon. Das sind die zentralen Themen. Die Erweiterung der Europäischen Union ist auf der Basis der Agenda-2000-Beschlüsse nicht möglich. ({16}) Das ist auch die Aussage von Staatsminister Zöpel im Europaausschuss, von Kommissar Fischler und dem Präsidenten der EU-Kommission Prodi. ({17}) Jeder Finanzmann weiß genau, die Finanzplanung bis 2006 beruht auf der Annahme von Verhandlungen mit sechs und nicht mit zwölf Beitrittsstaaten. Dieser Finanzrahmen ist unter der Maßgabe beschlossen worden, dass die beitretenden osteuropäischen Staaten von den Direktbeihilfen im Agrarbereich ausgeschlossen werden. Dies wurde bisher alles über Bord geworfen. Das sind die Fragen an den Finanzminister. Herr Finanzminister, der ehemalige Bundeskanzler Kohl und der ehemalige Finanzminister Waigel haben Ihnen ein Instrument an die Hand gegeben, das Instrument der Kofinanzierung. ({18}) Wir haben präzise Vorschläge zur Reform der Strukturund Kohäsionsfonds unterbreitet. Seit Sie im Amt sind, in den vergangenen eineinhalb Jahren, haben Sie sich nicht mehr mit diesem Thema beschäftigt. Sie haben kein Konzept, keinen Vorschlag und keine Lösungsansätze.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, denken Sie bitte daran, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist.

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin, ich komme zum Schluss. Wo ist Ihr Konzept? Wo ist Ihr Bundeskanzler? ({0}) Wir sehen mit großer Sorge, dass die Bundesregierung, allen voran der Bundeskanzler - ich komme zum Schluss -, Europapolitik nur noch als willkommenen Event betrachtet: Bilder stellen, mit Staatsmännern spazieren gehen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, bitte.

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Politik verkommt bei Ihnen zum Infotainment, meine sehr verehrten Damen und Herren. Danke schön. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dietmar Nietan.

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es erfreut mich immer wieder zu sehen, welch große Sehnsucht in den Reihen der CDU/CSU besteht, den Worten unseres Kanzlers zu lauschen. Ich kann das nachvollziehen. Ich werde Ihre Bitte unterstützen, dass Sie ihn noch möglichst oft und möglichst lange hören werden. ({0}) Lassen Sie uns zu dem Thema zurückkommen, das Anlass dieser Debatte sein sollte, nämlich der Europäische Rat in Feira. Ich kann natürlich verstehen, dass aus Sicht der Opposition die Ergebnisse einer solchen Veranstaltung immer unter dem Motto gesehen werden: Wir sehen uns nicht an, ob das Glas halb voll ist, sondern bei uns ist es grundsätzlich halb leer. Das ist legitim. Aber es wäre sehr unredlich, wenn man wie Sie in diesen Rat hineininterpretieren würde: Das hätte der Europäische Rat mit weitreichenden historischen und abschließenden Entscheidungen sein müssen. Sie alle wissen, dass es bei dieser Tagung darum ging, historische und weitreichende Entscheidungen vorzubereiten. Ich glaube, diese Aufgabe hat der Europäische Rat mit Bravour erfüllt. ({1}) Ich will nur noch einmal kurz sagen, - es ist schon angedeutet worden -: Wir haben uns als aufstrebende, dynamische, wirtschaftliche Macht positioniert, auch im Bereich E-Commerce und im Bereich der Informationsgesellschaft. Wir haben das Ganze mit einer sozialen Dimension verbunden - auch das ist ein Novum im Vergleich zu dem, was EU-Politik darstellte, als noch jemand anders die Regierungsverantwortung trug. An der sozialen Dimension wird unter französischer Präsidentschaft weitergearbeitet. Auch da sind wir weitergekommen. Es muss noch einmal deutlich gesagt werden: Es sind die Weichen gestellt worden, Europa institutionell erweiterungsfähig zu machen. Ich betone an dieser Stelle ausdrücklich: Es war richtig, dass auf dem Rat in Feira beschlossen wurde, sich auf die drei „leftovers“ von Amsterdam zu konzentrieren und sie mit einer weiteren Erarbeitung der verstärkten Zusammenarbeit zu ergänzen. Jeder, der im Sinn gehabt hat, die Themen für die Regierungskonferenz in Nizza auszuweiten, hätte deren Scheitern oder zumindest die Verwässerung der Ergebnisse in Kauf genommen und damit letztlich die Erweiterungsfähigkeit infrage gestellt. Genau das galt es zu verhindern. Deshalb war der Beschluss, sich zu konzentrieren, richtig. ({2}) Er war deshalb richtig, weil wir vor einer historischen Herausforderung stehen, jetzt die EU-Erweiterung in eine konkrete Phase zu bringen. Ich glaube, dass es nach der Vollendung der deutschen Einheit gerade für uns eine große Aufgabe ist, als Bundesrepublik Deutschland aktiv an der Vollendung der Einheit Europas mitzuwirken. Wir sind auf einem richtigen Weg und es ist falsch, es so darzustellen, als wäre nicht gerade die deutsche Regierung immer noch ein Motor der EU-Osterweiterung. Das werden wir auch bleiben. ({3}) Vor diesem Hintergrund gilt es noch einmal deutlich zu sagen - das gebietet die Ehrlichkeit - : Es ist richtig, dass solch ein historischer Prozess nicht nur Chancen, sondern auch Risiken birgt. Darüber muss man mit den betroffenen Menschen reden, darf aber nicht mit der Angst der Menschen spielen, wie das einige Protagonisten der CDU/CSU tun. Wir haben in der SPD klar Stellung bezogen und gestern in der Fraktion einstimmig ein Papier mit konkreten, konstruktiven Vorschlägen verabschiedet, mit welchem wir uns in der EU-Osterweiterung positionieren. Wir haben schon seit einiger Zeit mit unserem europapolitischen Sprecher, Günter Gloser, an der Spitze die Grenzregionen besucht und dort mit den Menschen gesprochen, um konstruktiv deren Sorgen und Bedenken aufzunehmen und nicht etwa um Ängste zu schüren. Ich glaube, das ist der richtige Weg. ({4}) Wir setzen uns auch dafür ein, dass es auf Regierungsebene eine ressortübergreifende Strategie zur Flankierung dieses Erweiterungsprozesses - gerade auch für die Grenzgebiete - gibt. Für all diejenigen, die immer noch auf Angst setzen, sei die Information hinzugefügt, die wir gestern von Herrn Verheugen erhalten haben, nämlich dass auch die EU-Kommission an einem Aktionsplan für die Grenzregionen arbeitet. Gemeinsam werden wir es auch schaffen, die dort vorhandenen Probleme, die man nicht wegreden soll, anzugehen. Man kann sie aber nur dann angehen, wenn man konkrete Handlungsschritte entwickelt, und nicht, wenn man mit der großen Angstwelle arbeitet. ({5}) Ich will nicht noch einmal betonen, dass die EUOsterweiterung ein historischer Prozess ist, bei dem die Chancen überwiegen. Wir können diesem historischen Prozess nicht mit formalem Klein-Klein begegnen, sondern müssen jetzt vom Reden zum Handeln kommen. Es müssen die Voraussetzungen für eine zügige Realisierung der EU-Erweiterung geschaffen werden. Dazu gehört die Schaffung eines angemessenen finanziellen Rahmens. Ich will an die Adresse der CDU/CSU-Fraktion sagen: Wenn ich mich an die Diskussionen im Rahmen der Agenda 2000 erinnere, bin ich gespannt, welche Beiträge wir von Ihnen erleben werden, wenn wir im Jahr 2003 die Debatte über eine notwendige Reform der gemeinsamen Agrarpolitik führen werden, um erweiterungsfähig zu werden. Diejenigen, die auf der einen Seite überall erzählen, wir bräuchten ein möglichst frühes und schnelles Beitrittsdatum für die Länder in Mittel- und Osteuropa, die sich aber auf der anderen Seite im Bereich der Agrarreformen zum Besitzstandswahrer aufschwingen und die Ängste bei den deutschen Bauern schüren - so wie Sie das tun, indem Sie ihnen erzählen, man brauche an der Agrarpolitik nichts zu ändern und könne trotzdem die Erweiterung erreichen -, handeln unverantwortlich. Ich bin wirklich gespannt, wie Sie das in Zukunft angehen werden. ({6}) Ich sehe an dieser Stelle gewisse Parallelen zur deutschen Einheit. Da ist von einigen Leuten erzählt worden, man könne diese nebenbei aus der Portokasse bezahlen. Wir brauchen nicht mehr weiter darüber zu reden, wozu dies geführt hat. Es ist auch wichtig - ich habe das schon gesagt -, jetzt endlich den institutionellen Rahmen für die Erweiterung zu schaffen und einen Fahrplan dafür vorzulegen. Kommissar Verheugen hat gestern im Europaausschuss deutlich gemacht, dass jetzt ein konkreter Fahrplan erarbeitet wird. Darum geht es auch. Es wäre unredlich, sich schon jetzt auf ein Datum zu fixieren. Viel redlicher ist es, gemeinsam - ich fordere Sie in diesem Zusammenhang auf, konstruktiv daran mitzuwirken - an einem Fahrplan zu arbeiten. Ein solcher soll vorgelegt werden, um dann im Jahre 2001 mit der konkreten Endphase der Beitrittsverhandlungen beginnen zu können. Wir wollen die institutionellen Reformen schaffen, um im Jahre 2003 beitrittsfähig zu sein. Auf diese Weise haben wir auch einen Zielkorridor, den wir den Menschen in den mittel- und osteuropäischen Staaten konkret nennen müssen, weil sie diese Perspektive des Beitritts brauchen. Dies darf nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag vertagt werden. ({7}) Ich glaube, dass an dieser Stelle sehr viele Staaten in Europa auf Deutschland schauen werden. Sie werden nicht nur darauf schauen, ob die deutsche Regierung weiter ein Motor bei der EU-Erweiterung bleibt, sie werden auch darauf schauen, wie die größte Oppositionspartei damit umgeht. Ich sage einmal: Wenn die Experten der Konrad-Adenauer-Stiftung den Fraktionsvorsitzenden zurechtrücken müssen, ({8}) indem sie in einem Papier deutlich machen, dass ein Hereinnehmen der Diskussion über die Kompetenzabgrenzung in die Konferenz von Nizza zu einer Belastung dieser Konferenz führen würde und deshalb nicht sachdienlich ist, dann frage ich mich in der Tat: Wer hat in der CDU/CSU-Fraktion das Sagen? Wer wird sich in der CDU/CSU-Fraktion durchsetzen?

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Müller?

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich.

Dr. Gerd Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002742, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, können Sie zur Kenntnis nehmen, dass die Forderung nach Aufnahme der Kompetenzabgrenzung in die laufenden Verhandlungen der Regierungskonferenz eine Forderung des Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Herrn Merz, ist und diese Forderung präzise am Sonntag im Interview des ZDF und am Montag vom französischen Staatspräsidenten in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag übernommen wurde? Wie bewerten Sie dies? ({0})

Dietmar Nietan (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003199, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bewerte das als sehr positiv. Das sehe ich auch im Zusammenhang mit der Initiative der Bundesregierung, die ja auch gesagt hat, dass sie auf einer weiteren Regierungskonferenz zur Kompetenzabgrenzung zu Beschlüssen kommen will. Aber im Gegensatz zu Herrn Merz und zum Ministerpräsidenten von Bayern ({0}) haben wir nicht - und auch nicht der Herr Chirac - eine Perspektive eröffnet für die Kompetenzabgrenzung, die erstens unrealistisch ist und zweitens die Regierungskonferenz belasten würde. Das ist der Unterschied; den müssen Sie zur Kenntnis nehmen. ({1}) Lassen Sie mich zum Schluss noch einmal sagen, weil es mir wirklich sehr wichtig ist: Wir müssen an dieser Stelle auch als Parlament das Signal der Einmütigkeit setzen, dass wir alle die EU-Osterweiterung wollen. Ich sage sehr deutlich: Wer - wie das hier angedeutet wird - sagt, er sei bereit - wie zum Beispiel Herr Merz -, die Beschlüsse und die Ratifizierung der Regierungskonferenz zu blockieren, wenn nicht genügend im Bereich der Kompetenzabgrenzung geschehen sei, der setzt die zügige EU-Osterweiterung aufs Spiel ({2}) und der wird - auch das sage ich an dieser Stelle sehr deutlich - zum Sicherheitsrisiko für Europa. ({3}) Für mich ist die entscheidende Frage: Wird sich die Blockiererfraktion durchsetzen? Wir sehen das bei der Rentenreform, wir sehen das beim Energiekonsens, wir sehen das bei der Steuerdebatte. Sie können ja im Moment nur noch blockieren, weil Ihnen die Inhalte fehlen. Aber es wäre fatal, wenn Sie das auch in Europa machen würden. Ich rufe den konstruktiven Europapolitikern, von denen es eine ganze Reihe gibt, die ich auch hier im Saal sehe, zu: Sagen Sie das, was Sie uns immer unter vier Augen sagen, auch öffentlich, dass wir eigentlich nicht weit auseinander sind, dass wir an einem Strang ziehen, ({4}) und sorgen Sie dafür, dass die Blockierer in Ihren Reihen endlich wieder in die Schranken gewiesen werden. Ich glaube, von diesem Parlament muss das Signal ausgehen, dass wir gemeinsam die EU-Osterweiterung wollen und dass wir uns nicht im Klein-Klein ergehen, sondern diese historische Aufgabe mit Tatkraft anpacken und nicht zerreden. Vielen Dank. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe da- mit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 14/3623, 14/3669 und 14/3300 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- schüsse vorgeschlagen. Einverstanden? - Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a bis o auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Anpassungsprotokollen zu den Europa-Abkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits, der Republik Ungarn, der Tschechischen Republik, der Slowakischen Republik, der Republik Polen, der Republik Bulgarien und Rumänien andererseits - Drucksache 14/3464 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({0}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 7. September 1999 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Repu- blik Usbekistan zur Vermeidung der Doppel- besteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen - Drucksache 14/3465 - Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 21. Mai 1999 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Moldau über den Luftverkehr - Drucksache 14/3475 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1}) Finanzausschuss d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 28. Juli 1995 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Aserbaidschanischen Republik über den Luftverkehr und zu dem Protokoll vom 29. Juni 1998 zur Berichtigung und Ergänzung des Abkommens vom 28. Juli 1995 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Aserbaidschanischen Republik über den Luftverkehr - Drucksache 14/3476 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({2}) Finanzausschuss e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 6. März 1997 zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrags über den Geheimschutz - Drucksache 14/3457 Überweisungsvorschlag: Innenausschuss ({3}) Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes - Drucksache 14/3553 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({4}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- schätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO g) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umrechnung und Glättung steuerrechtlicher EuroBeträge ({5}) - Drucksache 14/3554 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss ({6}) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union h) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung verkehrswegerechtlicher Vorschriften - Drucksache 14/3646 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({7}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit i) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter ({8}) - Drucksache 14/3645 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({9}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend j) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundesfernstraßengesetzes ({10}) - Drucksache 14/2994 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({11}) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit k) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Schornsteinfegergesetzes und anderer schornsteinfegerrechtlicher Vorschriften - Drucksache 14/3650 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({12}) Rechtsausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- schätzung l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Lohmann ({13}), Dr. Wolf Bauer, Dr. Sabine Bergmann-Pohl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Abgabe von Hilfsmitteln durch Gesundheitshandwerker sichern - Drucksache 14/3184 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({14}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef Parr, Dr. Dieter Thomae, Dr. Irmgard Schwaetzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Hochwertige Hilfsmittelversorgung durch Gesundheitshandwerker sichern - Drucksache 14/2787 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit ({15}) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus Grehn, Petra Bläss, Dr. Ruth Fuchs, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Aufhebung des Asylbewerberleistungsgesetzes - Drucksache 14/3381 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({16}) Innenausschuss Rechtsausschuss Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Haushaltsausschuss o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla Jelpke, Heidi Lippmann, Carsten Hübner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Einstufung des irakischen Giftgasangriffs am 16. März 1988 auf Halabja als Völkermord Humanitäre Hilfe für die Opfer des Angriffs - Drucksache 14/2916 Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss ({17}) Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. Interfraktionell ist vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 27, den ich gleich aufrufen werde, um die Beratung von zwei Beschlussempfehlungen des Rechtsausschusses zu Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht, Drucksachen 14/3703 und 14/3704, zu erweitern. Die Beschlussempfehlungen sollen am Ende dieses Tagesordnungspunktes als Zusatzpunkte 15 und 16 beraten werden. Einverstanden? - Dann ist so beschlossen. Wir kommen also zum Tagesordnungspunkt 27 a bis j sowie zu den Zusatzpunkten 15 und 16. Es handelt sich um Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist, sodass wir jetzt eine Reihe von Abstimmungen haben. Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 a auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 14. Dezember 1998 zur Änderung des am 3. Dezember 1980 in Bonn unterzeichneten Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Nachlass-, Erbschaft- und Schenkungsteuern - Drucksache 14/3248 ({18}) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({19}) - Drucksache 14/3678 Berichterstattung: Abgeordnete Hansgeorg Hauser ({20}) Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/3678, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen des gesamten Hauses angenommen worden. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Stimmt jemand dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Lesung angenommen worden. Tagesordnungspunkt 27 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({21}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra Pau und der Fraktion der PDS Anerkennung eines Asylanspruchs für jugoslawische Deserteure und Kriegsdienstverweigerer - Drucksachen 14/1183, 14/3540 Berichterstattung: Abgeordnete Rüdiger Veit Dietmar Schlee Marieluise Beck ({22}) Dr. Max Stadler Ulla Jelpke Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1183 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen worden. Tagesordnungspunkt 27 c: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({23}) zu der Unterrichtung durch das Europäische Parlament gemäß § 93 Abs. 1 GO Beschluss des Europäischen Parlaments über die Prüfung der Mandate zur 5. Direktwahl zum Europäischen Parlament vom 10. bis 13. Juni 1999 - EuB-EP 575 - Drucksachen 14/2817 Nr. 1.5, 14/3437 Berichterstattung: Abgeordnete Erika Simm Der Ausschuss empfiehlt, zu dieser Unterrichtung dem Europäischen Parlament durch den Präsidenten des Deutschen Bundestages eine Stellungnahme zu übermitteln. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist damit einstimmig angenommen worden. Wir kommen jetzt zu einer Reihe von Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Tagesordnungspunkt 27 d: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({24}) Sammelübersicht 167 zu Petitionen - Drucksache 14/3529 Wer stimmt dafür? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 167 ist einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 27 e: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({25}) Sammelübersicht 168 zu Petitionen - Drucksache 14/3530 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Auch Sammelübersicht 168 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Tagesordnungspunkt 27 f: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({26}) Sammelübersicht 169 zu Petitionen - Drucksache 14/3531 Wer stimmt dafür? - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 169 ist einstimmig angenommen worden. Tagesordnungspunkt 27 g: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({27}) Sammelübersicht 170 zu Petitionen - Drucksache 14/3532 Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Sammelübersicht 170 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. angenommen worden. Tagesordnungspunkt 27 h: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({28}) Sammelübersicht 171 zu Petitionen - Drucksache 14/3533 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 171 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition angenommen worden. Tagesordnungspunkt 27 i: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({29}) Sammelübersicht 172 zu Petitionen - Drucksache 14/3534 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 172 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der PDS, der F.D.P. gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen worden. Tagesordnungspunkt 27 j: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({30}) Sammelübersicht 173 zu Petitionen - Drucksache 14/3536 Wer stimmt dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? Sammelübersicht 173 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen worden. Zusatzpunkt 15: Beschlussempfehlung des Rechtssausschusses zu den dem Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht - Drucksache 14/3703 Das ist die Übersicht 5. Der Ausschuss empfiehlt, von einer Äußerung oder einem Verfahrensbeitritt abzusehen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung des Ausschusses? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Zusatzpunkt 16: Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu den dem Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht - Drucksache 14/3704 Der Ausschuss empfiehlt, Stellungnahmen abzugeben und den Präsidenten zu bitten, einen Prozessbevollmächtigten zu bestellen. Wer stimmt dem zu? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Auch diese Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 und den Zusatzpunkt 7 auf: 6. Beratung des Antrags der Fraktionen SPD, CDU/CSU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 25 Jahre KSZE/OSZE - Drucksache 14/3666 ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Günther Friedrich Nolting, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. OSZE stärken - Drucksache 14/3674 Ich gehe davon aus, dass über den Antrag der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 14/3399, der inhaltsgleich ist mit dem Antrag unter Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Tagesordnungspunkt 6, nicht weiter beraten wird. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Sie sind einverstanden. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst für die SPD-Fraktion die Abgeordnete Uta Zapf.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte, die wir heute führen, findet aus Anlass des 25-jährigen Bestehens der KSZE/OSZE statt. Ich freue mich ganz besonders, dass dieser Debatte Jan Kubis, der Generalsekretär der OSZE - er hat auf der Tribüne Platz genommen -, zuhört. ({0}) Herr Kubis, es ist von Ihnen sehr freundlich, dass Sie diese Debatte verfolgen. Gerade für uns in der Bundesrepublik Deutschland hat die KSZE bzw. die OSZE eine überragende Bedeutung. Sie wurde als Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa am 1. August 1975 mit der Schlussakte von Helsinki ins Leben gerufen. Vorher gab es „talks about talks“, die die Modalitäten festlegen sollten. Die Konferenz tagte zwei Jahre und dann wurde die Schlussakte verabschiedet. Diese Konferenz war ein Kind des Kalten Krieges und der neuen Ostpolitik, der Entspannung, die maßgeblich von Willy Brandt geprägt wurde. Sie hat trotz mancher Rückschläge wesentlich zur Überwindung der Ost-WestKonfrontation beigetragen und damit letztendlich auch die Wiedervereinigung Deutschlands möglich gemacht. Der Helsinki-Prozess führte zum friedlichen Wandel und zum Fall des Eisernen Vorhangs. 35 Staaten verabredeten - ich zitierte im Interesse der Völker ihre Beziehungen zu verbessern und zu verstärken, in Europa zum Frieden, zur Sicherheit, zur Gerechtigkeit und zur Zusammenarbeit sowie zur Annäherung zwischen ihnen und den anderen Staaten der Welt beizutragen. Der Prozess der Entspannung sollte erweitert, vertieft und dauerhaft gemacht werden. Die 35 Staaten legten zehn Grundprinzipien, den so genannten Dekalog, fest, die vornehmlich auf den Bereich der zwischenstaatlichen Beziehungen ausgerichtet waren, jedoch in der Praxis eine bedeutsame Berufungsgrundlage für die innergesellschaftliche Entwicklung darstellten. Es waren Gewaltverzicht, Unverletzlichkeit der Grenzen, friedliche Regelung von Streitfällen und - das ist ganz besonders wichtig - die Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten einschließlich Gedanken, Gewissens-, Religions- und Überzeugungsfreiheit. Diese Verpflichtung auf die universelle Bedeutung der Menschenrechte und Grundfreiheiten wird in der Schlussakte als wesentlicher Faktor für Frieden, Gerechtigkeit und Wohlergehen bezeichnet. Die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang, die Bürger- und Menschenrechtler werden sich von da an auf diesen Punkt berufen. Die Einforderung dieser Rechte stärkt und stützt alle, die für Menschenrechte, Demokratie und Freiheit in Diktaturen kämpfen. Die Teilnehmerstaaten anerkannten damals ein - ich zitiere nochmals gemeinsames Interesse an Bemühungen zur Verminderung der militärischen Konfrontation und zur Förderung der Abrüstung, die darauf gerichtet sind, die politische Entspannung zu ergänzen und ihre Sicherheit zu stärken. Es ist bemerkenswert, dass schon an dieser Stelle der Begriff der gemeinsamen Sicherheit angesprochen worden ist. Er war noch lange Zeit ein Stück weit umstritten, obwohl sich die Staaten schon damals darauf verständigt hatten. Vertrauensbildende Maßnahmen wie Ankündigung von Manövern, Austausch von Beobachtern wurden erstmals vereinbart. Zwei für Europa bedeutsame Abrüstungsverträge sind im Rahmen der KSZE geschlossen worden: 1990 der erste Vertrag über konventionelle Streitkräfte - dieser führte zu dramatischen Abrüstungsschritten; 50 000 Waffensysteme wurden abgerüstet - und 1999 der KSEFolgevertrag, mit dem der noch von den Bedingungen und den Strukturen der Blockkonfrontation gezeichnete erste KSE-Vertrag abgelöst wurde. Ich meine, es ist bemerkenswert, dass dieser Vertrag, der trotz einer damals durch die NATO-Osterweiterung und durch den Kosovokonflikt zwischen den größeren Parteien noch herrschenden Irritation geschlossen wurde, eine im Konsens erreichte sehr gute Lösung darstellt, die tatsächlich zur Stabilität in Europa beitragen kann. ({1}) - Das sollte man ruhig einmal beklatschen; das ist wahr. Heute betrachten wir die OSZE als ein wichtiges sicherheitspolitisches Instrument, weil sie die einzige Organisation ist, die alle europäischen Staaten, die USA, Kanada sowie die Staaten des Kaukasus und Zentralasiens umfasst. Ich glaube, das ist für uns in der augenblicklichen Situation erkennbar ein ganz wichtiger Vorteil. ({2}) Diese geopolitische Reichweite ist keine Schwäche, sondern ist wegen des gesamteuropäischen Charakters eine Stärke. Das ist, wie ich meine, auch ein Teil des Erfolgs der OSZE. Die breite Anlage des Aufgabenspektrums von sicherheitspolitischen Prinzipien - Korb I - bis hin zu wirtschaftspolitischen Prinzipien - Korb II - und die humanitäre Dimension sowie der prozesshafte Charakter auch das ist ein wichtiger Punkt - haben dazu beigetragen, dass die KSZE die dramatischen Veränderungen von der bipolaren hin zur multipolaren Welt vollziehen und die Herausforderungen aufgrund der neuen geopolitischen und geostrategischen Bedingungen bewältigen konnte. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Dies konnte deshalb gelingen, weil der Prozess der sicherheitspolitischen Vertrauensbildung und die Verständigung auf gemeinsame Werte Grundlage waren. Mit der Charta von Paris im Jahre 1990 begann die Institutionalisierung der KSZE. Dies weist darauf hin, dass ein Prozess der Identitätsfindung einsetzte, der die jeweilige Rolle von KSZE, Europäischer Union, NATO, WEU und Europarat zu definieren suchte und voneinander abgrenzte. „Interlocking institutions“ - nicht „interblocking“, wie manchmal gesagt wird - sollten entstehen. An diesem Prozess arbeiten wir noch immer, weil sich all diese Organisationen in ihrer Aufgabenstellung ja ein Stück weit verändern. Zweijährliche Folgetreffen, der Rat, das Sekretariat, der Ausschuss Hoher Beamter waren zunächst die Organe zur Institutionalisierung. Besonders wichtig aber sind die Einrichtung des Konfliktverhütungszentrums in Wien und das Büro für freie Wahlen in Warschau. All diese Institutionen weisen darauf hin, dass Konfliktprävention, Förderung von Demokratie und Menschenrechten und Stärkung der militärischen Ordnung in Europa Kernpunkte der Aufgaben sein sollten. In der Folge hat sich die OSZE auch in ihren Institutionen weiter verbessert und weiterentwickelt. Dieser Prozess dauert immer noch an. Nach dem Gipfel von Istanbul sind wir jetzt aber an einem Punkt, an dem dieser Prozess sehr deutliche Konturen angenommen hat und den heutigen Risiken, der heutigen Situation in Europa eine Antwort mit einem breiten Spektrum von im weitesten Sinne sicherheitspolitischen Möglichkeiten entgegenzusetzen hat. Aufgrund der Erfahrungen der KSZE in den Bereichen Rüstungskontrolle, Abrüstung und Vertrauens- und Sicherheitsbildung sowie Verifikation wurde die OSZE die lnstitution, die im Dayton-Vertrag, also nach dem Bosnien-Krieg, mit der Ausarbeitung und Überwachung der Abrüstungsverpflichtungen beauftragt wurde. Die erfolgreiche Implementierung des Ergebnisses der Abrüstungsverhandlungen aus Artikel IV des Dayton-Vertrages ist ein herausragender Beitrag zu Frieden und Stabilität auf dem Balkan. Ich meine, dies ist wieder einmal ein Beispiel dafür, dass wir gar nicht immer wahrnehmen, welche ganz wichtige sicherheitspolitische Funktion diese Organisation im Rahmen der Erfüllung ihrer Aufgaben hat; denn dies sind keine dramatischen Aufgaben, sondern eher solche, über die in der Presse nicht in breiter Form berichtet wird. Mit der Erklärung zur Regionalorganisation setzte sich die KSZE wiederum Schwerpunkte bei Frühwarnung, Konfliktverhütung und Krisenbewältigung einschließlich der Maßnahmen zum Einsatz von Streitkräften, allerdings ohne den Gebrauch von Zwangsmaßnahmen. In dieser Zeit, liebe Kolleginnen und Kollegen, nimmt auch die OSZE ihre erste Mission zur friedlichen Regelung von Regionalkonflikten auf. Dies ist ein ganz wichtiger Wendepunkt in der Tätigkeit dieser Organisation gewesen. Ich glaube, dass der Budapester Gipfel, als die KSZE beschloss, sich nicht mehr „Konferenz“, sondern „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ zu nennen, ein deutliches Zeichen dafür war, dass die OSZE ihren Platz im Spektrum der Institutionen in Europa gefunden hat. Zu diesem Zeitpunkt gab sie sich auch endgültige Entscheidungsstrukturen. Es ist bemerkenswert, dass die Schlussakte von Helsinki schon 1975 dem erweiterten Sicherheitsbegriff verpflichtet war, auf den wir heute unsere Sicherheitspolitik gründen. Korb III, die menschliche Dimension, hat zweifellos gegenüber den anderen Körben die größte Sprengkraft entfaltet. Die Einhaltung von Menschenrechten, Meinungs- und Pressefreiheit, menschliche Kontakte über die Blockgrenzen hinweg sowie die Zusammenarbeit bei Kultur, Bildung und Wissenschaft war das, was die Menschen in Europa berührte und sie zu Handelnden in diesem Prozess werden ließ. Auch heute noch stellt Korb III mit seiner Weiterentwicklung eine wichtige Dimension in den Transformationsstaaten dar. Das sollten wir nicht vergessen. Das Gipfeltreffen von Lissabon baute die Schlüsselrolle der OSZE für die Förderung von Sicherheit und Stabilität in allen Dimensionen aus. Es gab auch den entscheidenden Anstoß zur Entwicklung der OSZE-Charta für europäische Sicherheit, die im November 1999 auf dem Gipfel von Istanbul verabschiedet wurde. Ich denke, wir haben noch gar nicht ganz begriffen, welche Bedeutung dem Gipfel von Istanbul in der Tat zukommt. Vielleicht wäre es gut, wenn wir einmal ein bisschen mehr Debattenzeit bekämen, um das zu vertiefen. ({3}) Frühwarnung, Konfliktverhütung und Krisenbewältigung gehören heute zweifellos zu den wichtigsten Aufgaben der OSZE. 20 Missionen - ich habe sie vorhin schon erwähnt - hat die OSZE bisher durchgeführt und die meisten dieser Missionen dauern an. Man kann den Wert dieser Missionen nicht hoch genug einschätzen, auch wenn nicht alle Missionen so erfolgreich gewesen sind, wie wir uns das wünschen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, denken Sie bitte an die abgelaufene Zeit.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. - Die Erfolge sind nicht öffentlichkeitswirksam, denn wo kein Blut fließt, ist auch kein CNN. Ich plädiere wirklich dafür, dass wir die Erfolge, die dort bei der Konfliktprävention erreicht worden sind, herausstellen. Die Fortentwicklung - mein letzter Gedanke -,

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Letzter Satz, bitte.

Uta Zapf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002582, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

- die die OSZE auf dem Istanbuler Gipfel erfahren hat, und die Institutionen, die wir dort eingerichtet haben, wie die schnellen Eingreiftruppen ziviler Art, werden wichtige Elemente zukünftiger Politik sein. Ich sage noch ein letztes Wort: Wer Krisenprävention will, muss diese auch finanziell ausreichend unterstützen. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Willy Wimmer.

Willy Wimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gibt zum Glück in dieser Welt Erfolgsgeschichten. Die Geschichte von KSZE bzw. OSZE ist eine ganz unglaubliche Erfolgsgeschichte. Wenn es diese Organisation nicht gegeben hätte, würden wir hier nicht sitzen. Weil das eine Veranstaltung der Macht, des Geistes, der Moral und des Rechts gewesen ist und bleiben soll, ist es gut, dass wir Vorstellungen dazu entwickeln und uns nicht nur am heutigen Tag daran erinnern, dass vor 25 Jahren wesentliche Entscheidungen getroffen worden sind. Meine Damen und Herren, hier liegen uns jetzt zwei Anträge vor. Das könnte auf den ersten Blick die Annahme begründet erscheinen lassen, dass auch unterschiedliche Auffassungen damit verbunden sind. Wenn man sich die Anträge durchliest, kann man feststellen, dass es nicht so ist. Ich kann zugunsten der F.D.P. sagen: Wir sind eigentlich alle einer Meinung. ({0}) Ich bedauere ein wenig, dass die F.D.P. einen eigenen Antrag vorgelegt hat. Dies zeigt aber, dass es bei allem Konsens auch Differenzen gibt. Sie zeigen sich darin, dass die alten Bundesregierungen Schmidt/Genscher, Kohl/Genscher und Kohl/Kinkel der KSZE/OSZE wesentlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt haben, als es die derzeitige Bundesregierung Schmidt/Fischer tut. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, „Schmidt“ ist nicht ganz richtig.

Willy Wimmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002524, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich meine die Regierung Schröder/Fischer. Eines ist ganz offenkundig: Die Vorgängerregierungen haben hinsichtlich der Weiterentwicklung der KSZE/OSZE wesentlich mehr Initiativkraft entwickelt. Sie haben konstruktiv diese Weiterentwicklung vorangetrieben. Wenn man angesichts des letzten Gipfeltreffens der OSZE in Istanbul - Frau Kollegin Zapf hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht - die eigentlichen Fragestellungen der vor uns liegenden Zeit betrachtet, dann kann man nur feststellen, dass die jetzige Bundesregierung nicht mehr das leistet, was die früheren Bundesregierungen geleistet haben. Was ist in Istanbul gesagt worden? In Istanbul ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass wegen der schwierigen Entwicklung im Kosovo und in Tschetschenien - ich erinnere in diesem Zusammenhang an die bemerkenswerte Rede des UN-Generalsekretärs Kofi Annan - die Staaten wesentlich mehr Initiative zeigen müssten, um das von ihm kritisierte Auseinanderfallen von internationalem Recht und dem praktischen Tun in der Zukunft zu verhindern. Wenn diese Aufforderung der Vereinten Nationen früher an die jeweilige Bundesregierung gerichtet worden ist - Herr Kinkel ist als Vertreter einer früheren Bundesregierung heute anwesend -, ist ihr immer entsprochen worden. Ich kann aufgrund der Aktivitäten des Bundesaußenministers und aufgrund der Zusammenarbeit mit dem Parlament nicht sehen, dass das Außenministerium angesichts des dringenden Appells des UN-Generalsekretärs aktiv geworden ist. Ich empfinde dies als Manko; denn es ist gerade unsere Aufgabe, aus der Wiedervereinigung unseres Landes und aus dem Prozess, der zu dem wieder geeinten Europa geführt hat, Perspektiven zu entwickeln, die diesen Prozess auf Dauer unumkehrbar machen. Bei allem Konsens in der Sache muss ich feststellen, dass dazu eine größere Anstrengung der Bundesregierung gehört. Angesichts des Appells von Kofi Annan will ich diese sehr bewusst einfordern. Vieles innerhalb der OSZE läuft sehr professionell. Ich darf hinsichtlich der Leistung unserer Offiziere, hohen Beamten und Experten in den Missionen der OSZE dieses Urteil abgeben. Ich will aber in diesem Zusammenhang eine Anmerkung machen. Es ist dankenswerterweise heute so, dass das Außenministerium ehemalige Botschafter und hohe Beamte des ehemaligen DDR-Außenministeriums in internationalen Missionen einsetzt. Diese Persönlichkeiten gereichen unserem Lande - das muss man mit allem Nachdruck sagen - zwischen Tadschikistan und dem Kaukasus zur Ehre. ({0}) Das ist ein wesentlicher Beitrag dafür, dass wir auch in Deutschland in diesem Bereich zur Normalität zurückkehren können. ({1}) - Ich bin sehr froh, dass Sie den Fall Loquai ansprechen, Herr Kollege Gehrcke. In diesem Punkt mangelt es dem Außenminister und auch dem Verteidigungsminister an jeder Souveränität. Das muss man wirklich sagen. ({2}) Ich will im Zusammenhang mit der aktuellen Entwicklung noch auf zwei Gesichtspunkte aufmerksam machen: Der erste Gesichtspunkt. Die heutige Entwicklung zwischen Nordkorea und Südkorea wäre ohne die KSZE bzw. OSZE so nicht denkbar gewesen. Wenn wir Konflikte nicht austragen, sondern verhindern wollen, sollten wir viel dafür tun, unser Handeln an den tragenden Prinzipien der OSZE auf Dauer auszurichten. Der zweite Gesichtspunkt. Wir haben in den Staaten des östlichen Teils des asiatischen Kontinents, den ASEAN-Staaten, schon vor Jahren eine Entwicklung beobachten können, die auf drei Prinzipien der KSZE/OSZE beruht: präventive Diplomatie, Rüstungskontrolle und Abrüstung sowie übergreifende Sicherheit. Ich begrüße es außerordentlich, dass uns der damalige österreichische Außenminister Schüssel in seiner Eigenschaft als Ratspräsident der OSZE - er hatte dieses Amt für einige Wochen - darauf aufmerksam gemacht hat, dass noch in diesem Jahr ein Dialog zwischen der OSZE und den ASEAN-Staaten aufgenommen werden muss. Meine Damen und Herren, wenn wir etwas aus der Entwicklung lernen wollen - ich finde, wir sollten das -, dann müssen wir einer Überlegung Rechnung tragen, die der Sicherheit des ganzen Kontinentes zugute kommen wird, dass nämlich die tragenden Prinzipien der transkontinentalen Sicherheit und Zusammenarbeit eine Grundlage unserer künftigen Sicherheit sein werden. Wir haben vor wenigen Wochen noch über Überlegungen zur Raketenabwehr gesprochen und das mit den berühmten „Schurkenstaaten“ verbunden. Meine Damen und Herren, wenn wir das auf Dauer machen wollen, was wir in der Vergangenheit mit Erfolg betrieben haben und was wir offensichtlich machen können, dann, so finde ich, sollte diese Bundesregierung das Feuer in den Argumenten nachliefern, was die Vorgängerregierungen zu unser aller Nutzen gemacht haben. Dies ist nicht nur eine Zeit der Erinnerung, sondern auch eine Zeit der Hoffnung. Im Zusammenhang mit der KSZE und der OSZE ist dies mehr als begründet. Ich bedanke mich. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Rita Grießhaber.

Rita Grießhaber (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002664, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der „Geburtstag“ der OSZE bietet mehr als genug Anlass, noch einmal dankbar Revue passieren zu lassen, welche Entwicklungen ohne sie wahrscheinlich so nicht möglich gewesen wären. Die wichtige Rolle der OSZE in den Fragen der europäischen Sicherheitsarchitektur ist uns allen sehr gut im Bewusstsein. Wenn der Kollege Willy Wimmer das Feuer in den Argumenten der Regierung vermisst, dann müssen wir doch einmal ganz ehrlich sagen, wie schwierig die Situation vor Istanbul war und mit welch großer, enormer Anstrengung nicht nur die Bundesregierung, aber auch sie, alles daran gesetzt hat, Istanbul zu einem Erfolg werden zu lassen. Der Kollege Wimmer weiß sehr gut, dass die Erfolge, die man in der OSZE erzielt, schwierig zu erzielen sind, dass sie langfristig wirken und dass ein kurzes Strohfeuer, das Sie hier einfordern, alles andere als angezeigt ist. ({0}) Wir würdigen genauso die Rolle der OSZE bei der Verwirklichung der deutschen Einheit. Nicht zu vergessen: Mit der Charta von Paris wurde ein ganz bedeutsamer Beitrag zu einer gerechten und dauerhaften Friedensordnung für ein geeintes, demokratisches Europa geleistet. Diese Erklärung ist uns heute noch Verpflichtung. ({1}) Die Kollegin Zapf hat schon darauf hingewiesen, dass ein Teil der Schlussakte von Helsinki, der so genannte Korb III, nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Er hat dazu geführt, dass das Ostregime destabilisiert wurde und die Öffnung stattgefunden hat. Er war doch im Grunde die Initialzündung für viele Initiativen in den damaligen Ostblockländern. Er hat die Charta 77 ermöglicht. Helsinki hat im Osten die zivilgesellschaftliche Perspektive eröffnet. Ich glaube, das können wir gar nicht hoch genug einschätzen. Allerdings ist der große Transformationsprozess im Osten noch längst nicht abgeschlossen. Vielerorts hat sich angesichts der schleppenden Entwicklung auch Ernüchterung breit gemacht und die anfängliche Begeisterung wurde abgelöst. Wir alle, so denke ich, mussten lernen, dass man die OSZE nicht überfordern darf. Es geht darum, ihre ganz eigenen Stärken im weltweiten Geflecht der internationalen Organisationen zu nutzen und zu unterstützen. Ich glaube, da tun sich auch neue Aufgaben auf. Angesichts der Tatsache, dass wir dabei sind, die EU nach Osten zu erweitern, heißt dies, dass wir die Dialogprozesse der Osterweiterung mit der OSZE intensivieren und fortführen müssen. Die OSZE hat den Vorteil und die Besonderheit, dass in ihre Diskussionen sowohl unsere transatlantischen Partner als auch Russland und die zentralasiatischen Staaten mit eingebunden sind. Sie wird oft als das „Dach für das gemeinsame Haus Europa“ bezeichnet. Damit sie dies sein kann und die Dachbalken immer wieder auf Stabilität überprüft werden können, muss einiges nachgebessert werden. Das gilt auch für die Stärkung der Rolle des Generalsekretärs und nicht zuletzt für die OSZE-Missionen in Krisengebieten. Ich denke, hier gibt es viele Verbesserungsmöglichkeiten. Wir mussten gerade in Tschetschenien sehr schmerzhaft erfahren, dass erfolgreiche Missionen den Kooperationswillen der betroffenen Länder erfordern. Die Umsetzung des wichtigsten Ziels, nämlich über die Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu einer wirklichen Friedenssicherung beizutragen, ist eine Mammutaufgabe, die wir nicht hoch genug einschätzen können und die unser aller Anstrengung bedarf, damit sie zum Erfolg führt. Wahrscheinlich bietet sie genug Arbeit für mehr als 25 Jahre. Für diese Arbeit wünsche ich allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der OSZE, dem für die Medien Zuständigen bei der OSZE, Freimut Duve, und stellvertretend für sie alle dem hier anwesenden Generalsekretär die erforderliche Geduld und Zähigkeit, um diese Arbeit fortzusetzen. Ich glaube, wir haben alles, bloß keinen Grund zum Jammern. Vielen Dank. ({2}) Willy Wimmer ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Wenn der Generalsekretär der OSZE von allen Rednern begrüßt wird, möchte auch ich das von hier oben im Namen des ganzen Hauses tun. Schön, dass Sie da sind! ({0}) Das Wort hat jetzt der Herr Kollege Irmer.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn ein Mitglied der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen, wie Frau Grießhaber, hier sagt, wir hätten keinen Grund zum Jammern, dann ist das eine Premiere und ich freue mich sehr darüber. Herzlichen Glückwunsch, Frau Kollegin Grießhaber! ({0}) Im Übrigen ändern sich die Zeiten doch gewaltig. Der Kollege Wimmer hat in seiner Weisheit eben nicht darauf hingewiesen, dass seine Fraktion vor 25 Jahren dem gesamten KSZE-Prozess erheblichen Widerstand entgegengesetzt hat. ({1}) Ihr seid klüger geworden; ich finde das sehr schön. Noch vor zwei Jahren, glaube ich, konnte man von Bündnis 90/ Die Grünen hören, die NATO müsse abgeschafft werden und ihre Aufgaben müsse die OSZE übernehmen. Das war eine sehr kühne Vorstellung. Von dieser haben Sie inzwischen Abstand genommen. Auch Sie sind inzwischen weiser geworden. Herzlichen Glückwunsch auch hierzu! Als vor 25 Jahren die Schlussakte von Helsinki verabschiedet wurde, hat wohl kaum einer geahnt, welcher Sprengsatz sie werden würde und dass durch diesen Sprengsatz eigentlich die gesamte Nachkriegsordnung in Europa aus den Angeln gehoben werden würde. Die Bürgerrechtsbewegungen in den kommunistischen Ländern bekamen dadurch einen ganz klaren Bezugspunkt und konnten sich gegenüber ihren eigenen Regierungen darauf berufen, dass diese bestimmte Punkte in Bezug auf Menschenrechtsfragen - Pressefreiheit, Reisefreiheit akzeptiert hatten. Bei Reisefreiheit fällt mir ein, dass es genau die Schlussakte von Helsinki war, auf die sich die Ungarn vor nunmehr fast elf Jahren berufen konnten, als sie die Grenze öffneten und den DDR-Flüchtlingen die Ausreise ermöglichten. Die Ungarn waren damals bilateral verpflichtet, Menschen aus der DDR, die sich zu lange bei ihnen aufgehalten hatten, zurückzuschicken. Die Ungarn hatten, clever wie sie sind, dann natürlich eine Interpretation zur Hand, die es nicht einmal nötig machte, sich auf die Schlussakte von Helsinki zu berufen. Sie haben nämlich zu ihren Kollegen aus der DDR gesagt: In dem bilateralen Vertrag mit der DDR steht nur, dass wir Touristen zurückschicken müssen, die sich länger bei uns aufhalten. Schaut einmal, das sind doch offensichtlich keine Touristen; die sind doch zu einem ganz anderen Zweck hier! Aber letzten Endes hätten sie sich möglicherweise doch nicht getraut, die Grenze zu öffnen, hätten sie nicht die Möglichkeit gehabt zu sagen: In der Schlussakte von Helsinki, die alle unterzeichnet haben, steht, dass jeder reisen darf, wohin er will. ({2}) Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich heute, da wir 25 Jahre Schlussakte feiern, als Liberaler einen Namen nennen möchte, ohne den dieser Prozess nicht so erfolgreich gewesen wäre: Ich meine Hans-Dietrich Genscher, den damaligen Außenminister, dem wir dieses in hohem Maße zu verdanken haben. ({3}) Zum Unterschied zwischen NATO und OSZE: Die NATO ist ein System kollektiver Verteidigung. Sie hat ihre fest umrissenen Aufgaben. Die OSZE ist etwas qualitativ ganz anderes. Sie ist ein System kollektiver Sicherheit. Sie hat keine direkt militärischen Aufgaben. Sie kann Aufgaben erfüllen, zu denen die NATO nicht berufen ist. Dies muss sie tun. Der Verteidigungsfall, für den die NATO in erster Linie vorgesehen ist, ist sehr unwahrscheinlich geworden. Was wir heute erleben, sind im Wesentlichen keine Kriege zwischen Staaten, sondern Kriege innerhalb von Staaten, sind Auseinandersetzungen, die sich daran entzünden, dass Menschenrechte mit Füßen getreten, dass Minderheitenrechte missachtet werden und dass sich die betroffenen Menschen das irgendwann nicht mehr gefallen lassen. Das führt dann zu kriegerischen Auseinandersetzungen, zu Brutalität der Regierenden gegenüber diesen Menschen und Minderheiten. Dafür sieht das Völkerrecht bisher leider keine ausreichenden Regeln vor. Verletzungen von Menschenrechten und Minderheitenrechten sind immer, wenn Sie dies einmal analysieren, die Quelle der Kriege, die wir in den letzten Jahren erlebt haben. Deshalb kommt es darauf an, zu versuchen, überall präventiv dafür zu sorgen, dass demokratische und rechtsstaatliche Strukturen eingeführt werden und sich stabilisieren können. Hier leistet die OSZE natürlich einen unglaublich wichtigen Beitrag. Ihr Generalsekretär Kubis, den auch ich jetzt noch einmal begrüße, hat uns vorhin gesagt, dass die OSZE auch bei dem Annäherungsprozess der mittelund osteuropäischen Staaten an die Europäische Union eine große Rolle spielt, indem sie sich nämlich vor Ort darum kümmert, dass das Prinzip des Rechtsstaats und dass Demokratie und Pressefreiheit geachtet werden und dass demokratische Wahlen vorbereitet werden. All dies sind unerlässliche Voraussetzungen dafür, dass ein Land für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union fit werden kann. Die OSZE leistet hier also Pionierarbeit und ist für das Erreichen von Sicherheit im umfassenden Sinne, also gemäß dem erweiterten Sicherheitsbegriff, genau das Instrument, das wir brauchen. Noch ein Gesichtspunkt: Es wurde schon gesagt, dass die OSZE die Organisation ist, die einen weiten geographischen Bogen von den Vereinigten Staaten über die Mitglieder der Europäischen Union bis hin zu Russland spannt. Wir wissen ja, dass es für die europäische Sicherheitsarchitektur insgesamt fast das Wichtigste ist, zu versuchen, Russland in diese Bemühungen einzubinden. Gegen Russland zu operieren wäre mit Sicherheit das Ende aller Sicherheitsbemühungen. In der OSZE arbeitet Russland mit. Wir müssen deshalb versuchen, es dort ganz stark zu halten. Das bedeutet nicht, dass man nicht immer wieder auf Menschenrechtsverletzungen, wie sie in Tschetschenien in massivster Weise geschehen sind, hinweist und dass man nicht immer wieder betont, welche Position man selber hat. Vielleicht wäre es eine Lösung, nicht zu sagen: „Wir erheben den Zeigefinger und legen denselben in eure Wunden“, sondern zu sagen: „Vielleicht braucht ihr Russen unsere Hilfe; denn ihr habt da ein echtes Problem. Der Terrorismus in der Kaukasusregion, in Afghanistan bzw. in der gesamten weiteren geographischen Gegend ist eine Gefahr erster Ordnung.“ Die Russen versuchen, mit den falschen Mitteln, wie wir wissen, etwas dagegen zu tun. Aber sie versuchen es zumindest. Wäre es nicht im Rahmen der OSZE eine gute Idee, den Russen zu sagen: „Lasst uns euch bei der Bekämpfung dieser Geißel der Menschheit, die der Terrorismus ist, helfen“? ({4}) Es gibt ja weitere kriminelle Aktivitäten, deren sich die OSZE annehmen will, indem sie versucht, dagegen anzugehen. Ich meine Menschenhandel, Waffenhandel, Drogenhandel bzw. Schmuggel mit Dingen jeglicher Art. Die OSZE hat das dafür erforderliche Instrumentarium. Wir sollten sie dabei materiell, aber auch moralisch unterstützen. Insofern begrüße ich, dass sich alle Fraktionen dahin gehend geäußert haben, auf die Zukunft der OSZE zu setzen. Ich bedanke mich. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke.

Wolfgang Gehrcke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003130, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von den zahlreichen Jahrestagen, die wir hier im Bundestag zum Ausgangspunkt aktueller Erörterungen gemacht haben, ist mir persönlich der 25. Jahrestag der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Helsinki einer der interessantesten und auch einer der wichtigsten. Mit dem Helsinki-Prozess ist die Überwindung der Spaltung Europas in zwei Blöcke eingeleitet worden; damit hat er mehr als viele andere Vorgänge das Gesicht Europas verändert. Wenn man über den Helsinki-Prozess redet, dürften Stichworte wie die Verträge von Moskau und Warschau, der Grundlagenvertrag zwischen BRD und DDR, die große Auseinandersetzung über die Stationierung von Mittelstreckenraketen und die Nachrüstungsdebatte nicht fehlen. Damals hat die Außenpolitik - darauf weise ich in aller Deutlichkeit hin - die Menschen erreicht und erregt, damals hat in unserem Volk wie in anderen Völkern über Außenpolitik eine wirkliche Auseinandersetzung stattgefunden. Ich bin ehrlich genug, zu sagen, dass ich mir eine solche Art der Auseinandersetzung, die die Menschen erreicht, für heute zurückwünsche. Helsinki hat ungeheuer viel verändert. In diesem Zusammenhang spreche ich direkt die Kollegen der Fraktion der SPD an: Ich habe es nie verstanden, warum Sie die Entspannungspolitik und auch die Entspannungspolitiker jener Zeit in den nachfolgenden Jahren so distanziert behandelt haben und warum Sie mit der Entspannungspolitik so defensiv umgegangen sind. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass Sie Entspannungspolitik ebenso wie die Entspannungspolitiker unter den Angriffen der Konservativen wie heiße Kartoffeln haben fallen lassen. ({0}) - Ich glaube, da ist viel dran, und die entsprechenden Leute empfinden das auch so. Helsinki hat Ergebnisse gezeitigt, die bleibende Wirkungen hätten erzielen können. Ich will dafür nur einige Beispiele nennen: das Verständnis von Sicherheit als gegenseitige Sicherheit, Gewaltverzicht und damit gekoppelt die Souveränität von Staaten und Grenzen. Helsinki hat als Botschaft die Bereitschaft beinhaltet, militärische Paktsysteme abzubauen und Systeme gegenseitiger Sicherheit aufzubauen. Man kann auch die interessanten Menschenrechtsdebatten in Helsinki nachzeichnen, wo, vereinfacht gesagt, zwei unterschiedliche Positionen in Form des Ost-West-Konfliktes aufeinander getroffen sind: die Betonung von individuellen und von kollektiven Menschenrechten, von sozialen Rechten und Freiheitsrechten. Ich halte es für eine der großen Leistungen von Helsinki, dass daraus ein gemeinsamer Korb, ein gemeinsames Verständnis sozialer wie auch individueller Freiheitsrechte geworden ist und eine staatliche Garantie solcher Rechtsauffassungen erreicht worden ist. ({1}) Ich erinnere an die Bemühungen in Helsinki, Rüstungskontrolle und Abrüstung gemeinsam voranzutreiben. Vieles von dieser gemeinsamen Grundlage ist verlassen worden, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, zu dem wir in Europa mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus zu tun hatten. Das wirft bei mir immer wieder den Verdacht auf, dass vieles von dem, was in Helsinki verabredet worden ist, eigentlich funktional gemeint war. Nachdem man den Hauptzweck erledigt hatte, war die Umsetzung der Ziele von Helsinki offensichtlich nicht mehr so bedeutend gewesen, wie es vorher gesagt worden war. Lassen Sie mich Sie mit wenigen Aussagen konfrontieren: Der Direktor des Internationalen Konversionszentrums Bonn, Herbert Wulf, stellte bei der Vorstellung des neuen Jahrbuchs über Abrüstung und Konversion fest, dass sich der Abrüstungstrend stark verlangsamt hat. Sein Institut befürchtet „für das Jahr 2000 eine Trendwende zur erneuten Aufrüstung“. Mit Blick auf die Versuche der USA, das angebliche Raketenabwehrsystem zu stationieren, wird prognostiziert, dass Länder wie Russland, Indien und China nicht ohne Gegenreaktion damit umgingen. Dieser Trend führt vom Helsinki-Prozess weg, da das ein Prozess der Abrüstung war. Man muss auch zur Kenntnis nehmen - das sage ich mit einer gewissen Bitterkeit; die Zahlen können Sie alle nachlesen -, dass Deutschland bei den Militärausgaben Platz vier nach den USA, Japan und Frankreich, in der Statistik der Weltgesundheitsorganisation aber nur Platz 25 einnimmt. Mir wäre es umgekehrt lieber: Platz 25 bei den Rüstungsausgaben und Platz vier bei den Gesundheitsausgaben. ({2}) Das erfordert eine andere Politik. Ich kann Ihnen auch in diesem Zusammenhang folgenden Hinweis nicht ersparen: Wenn in Helsinki jemand gesagt hätte, dass in Europa wieder unter deutscher Beteiligung Krieg geführt würde, hätte es diesen Helsinki-Prozess nicht gegeben. Auch das muss man hier aussprechen, wenn man über Helsinki redet. Wir können nicht nur über das Gemeinsame reden. Die Botschaft von Helsinki war „OSZE first“. Herausgekommen ist in der praktischen Politik: „NATO first“. Das gehört ebenfalls dazu, wenn man den Helsinki-Prozess bilanziert. Ich bin der Auffassung, dass wir vor der Aufgabe stehen, Politik neu zu gestalten, neu zu fassen, wieder geistig, politisch und inhaltlich am Helsinki-Prozess anzuknüpfen, tatsächlich Abrüstung voranzubringen, das Völkerrecht zu stärken und nicht weiter zu demontieren und Menschenrechte sowohl im sozialen wie auch im individuellen Bereich - beides ist notwendig - umzusetzen. Wenn wir in diesem Sinne mit dem Helsinki-Prozess umgehen, werden wir nicht alte Kontroversen neu führen müssen, sondern können neue Politik gestalten. Danke sehr. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Herr Bundesaußenminister Joschka Fischer.

Joseph Fischer (Minister:in)

Politiker ID: 11000552

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon von allen Rednern und Rednerinnen betont worden, dass die Schlussakte von Helsinki zweifellos eines der weitsichtigsten und wirkungsvollsten politischen Dokumente der Nachkriegszeit gewesen ist und dass der gesamte Prozess wie auch die Schlussakte selbst entscheidend zur friedlichen Überwindung der Spaltung Europas, auch Deutschlands und Berlins beigetragen haben und deshalb mit Recht das Etikett „historisch“ verdienen. Bei all den festlich gestimmten Reden möchte ich doch zumindest zu der des letzten Redners einige kritische Anmerkungen machen. Es wurden nämlich Dinge ausgeblendet, die für den Helsinki-Prozess damals offensichtlich konstitutiv waren. Eine Entgegensetzung von Helsinki-Prozess und NATO hat historisch überhaupt keinen Bestand. Ohne die NATO hätte es den Helsinki-Prozess nicht gegeben. Das muss man einmal konstatieren. ({0}) - Ich muss jetzt gar nichts zu meiner persönlichen Meinung sagen; ich spreche nur von der Historie. Ohne die Tatsache, dass es einen europäischen Integrationsprozess gegeben hat, und ohne den Transatlantismus hätte es den Helsinki-Prozess nicht gegeben. Andererseits wäre der Helsinki-Prozess ohne die Unterdrückung der Ost- und Mitteleuropäer, ohne die Unterdrückung der Menschenrechte durch die damalige Sowjetunion gar nicht notwendig gewesen. Dies muss man ebenfalls hinzufügen. ({1}) Insofern halte ich überhaupt nichts davon, entscheidende Fakten auszublenden. Wenn man dies tut, kann man sich meines Erachtens die Zustimmung zur OSZE schenken; denn dann hat man den historischen Prozess nicht begriffen. Dann ist es eine weihevolle Rede, die aber den politischen Prozess - es handelt sich schließlich um eine politische Organisation mit einer Wirkung, die man zu Recht historisch nennen kann - entwertet, weil man die für die Fortentwicklung dieses Prozesses notwendigen Konsequenzen nicht zieht. Damit spreche ich auch Herrn Wimmer an. Sie haben hier Kofi Annan zitiert. Ich möchte Ihnen nur sagen, dass Kofi Annan sehr deutlich darauf hingewiesen hat - dies ist für mich eine der Verpflichtungen für die zukünftige Gestaltung -, dass das Prinzip der Souveränität, so wichtig es auch als Grundlage des Regelns des Zusammenlebens der Staaten in der Welt ist, in der Welt von morgen keinen Absolutheitsanspruch dergestalt mehr haben kann, dass es menschenmörderische oder gar völkermörderische Handlungen von Regierungen bzw. Diktatoren und vor allen Dingen die Tatenlosigkeit, das Zusehen der internationalen Staatengemeinschaft rechtfertigen würde. ({2}) Ich bin der Meinung, dass man Kofi Annan vollständig zitieren sollte. Insofern sehe ich eine enge, übrigens auch organisationelle Verbindung zwischen dem Geist des Helsinki-Prozesses und der Entwicklung auf dem Balkan. Damit Sie mich nicht missverstehen: Die KVM ist für mich keine gescheiterte Mission. Hätte Milosevic wirklich die Zeichen der Zeit erkannt und hätte er seine Politik geändert, wäre er kompromissbereit gewesen, dann wäre die KVM sogar eine sehr erfolgreiche Mission geworden. Ich denke, dass gerade die OSZE gezeigt hat, dass sie eben nicht nur ein traditionelles Sicherheitssystem ist, so wichtig dies ist, sondern dass sie auch fortentwicklungsfähig ist. Dies wird an vielen Punkten im Bereich der ehemaligen Staaten der GUS deutlich, wo die OSZE eine erfolgreiche, konfliktpräventive Arbeit geleistet hat. Wir haben es auch auf dem Balkan gesehen und sehen es im Kaukasus. Das alles gründet auf eine der großen Traditionen, deren es im Grunde drei gibt, auf die Tradition der Abrüstung. Herr Wimmer, wenn Sie uns mangelndes Engagement vorwerfen, dann kann ich Ihnen nur sagen, dass es unter den Bedingungen des Tschetschenien-Krieges und auch der Bereitschaft einzelner sehr wichtiger Bündnispartner, eher auf Konfrontation zu gehen, einer sehr großen Anstrengung bedurfte, nicht nur im Vorfeld von Istanbul, sondern auch in Istanbul selbst, diese Fortentwicklung hinzubekommen. ({3}) Die Bundesregierung hat sich mit allem Nachdruck dafür eingesetzt. Aber ebenso wichtig wie der Abrüstungsprozess ist das System kollektiver Sicherheit. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen sagen: Meines Erachtens war der Ansatz zum Stabilitätspakt vom Helsinki-Prozess inspiriert. Wenn wir jetzt über den finalen Status des Kosovo reden, dann sollten wir die Instrumente und den Geist von Helsinki wieder aufnehmen. Wir können das nicht heute entscheiden, schon gar nicht entlang des Interesses nur einer Bevölkerungsgruppe. Vielmehr müssen die Interessen aller Nachbarn berücksichtigt werden, wenn Frieden, Stabilität und demokratische Entwicklung eine Chance haben sollen. ({4}) Das ist für mich ein direkter Nutzen aus der Anwendung des Helsinki-Prozesses. Vielleicht war der große historische Fehler - damit ich nicht missverstanden werde: im Rückblick; ich werfe das niemandem vor, sondern schließe mich da selbstkritisch mit ein -, dass wir beim Auseinanderbrechen Jugoslawiens zu sehr auf die Substanz der Entscheidung und zu wenig auf das Verfahren geachtet haben. Der Kern des Verfahrens von Helsinki war, bei sich im Grunde absolut widersprechenden politischen Positionen die Gemeinsamkeit in den Vordergrund zu stellen. Deswegen bin ich der festen Überzeugung: So wichtig die innere Aussöhnung im Kosovo heute ist, so wichtig wird es sein, dass wir einen Prozess der regionalen Stabilität und Sicherheit entwickeln, in dessen Zuge sich alle Beteiligten auf bestimmte Verfahren einigen, die einzuhalten sind. ({5}) Das ist für mich der entscheidende Punkt. ({6}) - Selbstverständlich. Ein demokratisches Serbien hat legitime nationale Interessen. ({7}) Genauso wie die Albaner im Kosovo legitime Interessen haben, so gilt das für Mazedonien, so gilt das für Griechenland, so gilt das für Bulgarien - für alle Beteiligten! Regionale Stabilität und Sicherheit durchzusetzen heißt: Anerkenntnis der legitimen Interessen - und zwar von Gleich zu Gleich -, Anerkenntnis der Grenzen, Anerkenntnis des Prinzips der Gewaltfreiheit und Anerkenntnis der Lösung dieser Probleme auf der Grundlage von Vertrag und Recht. ({8}) Nur, das werden Sie mit Herrn Milosevic - damit Sie mich nicht missverstehen: leider! - nicht bekommen. Das wissen Sie so gut wie ich. ({9}) - Anders als bei Herrn Breschnew heißt das Prinzip von Milosevic Krieg. Breschnew war sicher ein Diktator. Das Prinzip, auf dem die Macht der Sowjetunion gründete, war innere Unterdrückung - nicht aber Krieg, nicht aber „ethnische Säuberung“. Das ist ein wichtiger Unterschied. ({10}) - Ich möchte den Unterschied herausarbeiten. CDU-Bundeskanzler saßen mit ihm an einem Tisch - zu Recht; ich habe das nicht zu kritisieren. Ich möchte nichts von der Sowjetunion schönmalen, sondern den klaren Unterschied zu Herrn Milosevic herausarbeiten: Bei Milosevic hat das Prinzip Krieg, das Prinzip „ethnische Säuberung“, das Prinzip Massenvergewaltigung, das Prinzip Vertreibung gegolten, und zwar nicht einmal, sondern insgesamt viermal - und Weiteres wäre gefolgt. Man hat doch beim besten Willen alles versucht, mit ihm zu einem Vertrag zu kommen. Es war nicht möglich, weil er jeden Vertrag gebrochen hat. Damit ist ein Prozess analog zu Helsinki nicht möglich, weil ein solcher ein Minimum an Vertrauen und Vertragstreue voraussetzt, damit er überhaupt ins Laufen kommen kann. ({11}) Wir sehen in der Konfliktprävention und zivilen Krisenbewältigung eine große Herausforderung. Dies gilt insbesondere für die Fortentwicklung des Korbs III, wo sich Freimut Duve mit seiner wirklich bewundernswerten Arbeit für unabhängige Medien einsetzt. Die Frage der regionalen Sicherheitsstrukturen habe ich bereits angesprochen. Dies wird im Kaukasus sehr große Bedeutung haben. Die OSZE bietet auch für Konfliktmonitoring und all diese Aspekte eine hervorragende Grundlage. Schließlich bindet sie als kollektives Sicherheitssystem eine Vielzahl von Staaten ein, zwingt sie auch und bietet Instrumente selbst wenn sie nicht immer einen direkten Durchgriff ermöglichen - damit diese Staaten eingebunden werden können, was wir gerade auch im Zusammenhang mit Tschetschenien gesehen haben. Es ist ein Ansatz, der mehr Frieden, mehr Zivilität bei der Überwindung von Spaltung, Teilung und Unterdrückung in der Welt von gestern möglich gemacht hat. Es ist ein sehr moderner Ansatz, den wir im 21. Jahrhundert weiter verfolgen und fortentwickeln wollen. Ich bedanke mich. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Friedbert Pflüger.

Dr. Friedbert Pflüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001710, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bitte erlauben Sie mir zunächst, dem Generalsekretär der OSZE und auch dem deutschen Botschafter Bettzüge, der hier ebenfalls anwesend ist, im Namen der CDU/CSU, ich glaube aber, auch im Namen aller ganz herzlich für den großartigen Einsatz zu danken, den sehr viele OSZE-Mitarbeiter in inzwischen über 20 Kurz- und Langzeitmissionen überall auf der Welt, die oft sehr gefährlich sind, leisten. Hier ist eine großartige Arbeit geleistet worden. Die OSZE hat inzwischen eine einmalige Kompetenz, was Krisenbewältigung, Durchführung von Wahlen, Aufbau ziviler Strukturen und Friedensschaffung im eigentlichen Sinne angeht. Wir brauchen die OSZE in der Zukunft. Sie ist ein unverzichtbarer Bestandteil. Herzlichen Dank und alles Gute für die weitere Arbeit. ({0}) Meine Damen und Herren, ich möchte am Anfang etwas zu dem sagen, was der Kollege Gehrcke und auch der Bundesaußenminister eben über die Historie gesagt haben. In der Tat ist es etwas schwierig nachzuvollziehen, Herr Kollege Gehrcke, dass Sie sich hier hinstellen und die KSZE als die große Friedensweichenstellung feiern, wenn man sich vor Augen hält - das darf ich doch sagen -, woher Sie kommen und was Sie damals gemacht haben. ({1}) 1968 waren Sie Gründungsmitglied der DKP. 1968 war das Jahr, in dem die Warschauer-Pakt-Truppen in Prag einmarschierten und den Prager Frühling niederschlugen. Damals ist die KSZE-Idee in Moskau geboren worden, aber doch nicht mit dem Ziel, Frieden und Freiheit oder auch nur Dialog in Europa zu schaffen, sondern mit dem Ziel, die Breschnew-Doktrin international abzusichern, die Systemgrenzen abzusichern, die Menschen zu unterdrücken, eine klare Trennungslinie zu schaffen, jenseits derer der Westen kein Recht zur Intervention hat. Das war damals der Moskauer Ansatz, der frevelhaft ist. Deswegen können die guten Worte, die Sie jetzt hier gesagt haben, nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Lager in der ganzen Phase dieser Auseinandersetzung total versagt hat. ({2}) - Es ist gut, dass Sie aus Ihren Fehlern lernen, aber man wird sie auch noch benennen können. Denn das hilft für die Zukunft. Es war ein weiterer Fehler, jahrelang OSZE und NATO gegeneinander auszuspielen. Hier gucke ich ein wenig in Richtung der SPD. ({3}) Ich habe sehr oft gehört: Vertraut nicht so sehr der NATO! Macht keine NATO-Erweiterung! Viel wichtiger ist das Instrument der OSZE. Immer, wenn es irgendwo Krisen gab und sich der Westen entschied einzugreifen, kam die Forderung: Lasst es die OSZE zuerst machen! ({4}) Ich glaube, beides zusammen ist wichtig. Das ist die Lehre, die aus den Ereignissen der letzten Jahre zu ziehen ist. Wir brauchen die NATO auch in Zukunft, wenn es um manifeste Konflikte geht. Nur die NATO ist ein militärisches Bündnis und das werden wir leider Gottes auch in der Welt von morgen ab und zu benötigen, weil sich die Menschen nicht wesentlich verbessern. Gleichzeitig kommt die OSZE mit ihren großartigen Mechanismen der Krisenbewältigung und der Prävention dazu. Aber beides zu seiner Zeit. ({5}) Deswegen ist diese Debatte darüber, ob OSZE first oder NATO first, völlig unsinnig und sollte nach der heutigen Debatte wirklich ein für alle Mal der Vergangenheit angehören. Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist ganz wichtig, dass wir uns noch einmal für eine Sekunde vergegenwärtigen, was mit der KSZE eigentlich in Gang gesetzt worden ist. Wie gesagt, Moskau wollte sie benutzen, um die Systemgrenzen zu zementieren. Der Westen war zunächst sehr ablehnend. Er hatte den Verdacht, dass für alle Zeiten ein Nachkriegs-Status-quo anerkannt wird. Dann erst haben manche erkannt - ich gebe zu, meine eigene Partei ein bisschen spät -, was für eine große Chance gerade in der Idee der Unverletzlichkeit der Grenzen liegt. ({6}) Wir haben die Unverletzlichkeit der Grenzen anerkannt und damit die Voraussetzung geschaffen, dass die Grenzen überwunden werden können. Erst die Idee der Unverletzlichkeit der Grenzen, der Anerkennung des Status quo hat es möglich gemacht, Formen des Dialogs, der Zusammenarbeit zu entwickeln und die Freiheit von Menschen, Informationen und Meinungen durchzusetzen. Das war der entscheidende Punkt der KSZE. Man hat die Ideen, die Meinungen, die Informationen an der Grenze nicht mehr aufhalten können. Die Bürgerrechtler jenseits der Grenze hatten plötzlich eine Berufungsinstanz. Die Charta-77-Leute, die KOR-Leute in Polen, die Solidarnosc sind mit dem KSZE-Dokument, mit der Schlussakte von Helsinki zu ihren jeweiligen Regierungen gegangen und haben gesagt: Ihr selbst habt unterzeichnet, dass es Menschenrechte und Freizügigkeit gibt, dass wir verreisen können müssen. Damit hatten sie plötzlich eine Sprengkraft entfaltet. Überall wuchsen die Helsinki-Watch-Komitees aus dem Boden. Es war die große Leistung der KSZE, die Einheit Europas vorzubereiten. Es war der erste wirkliche Sargnagel des Systems des real existierenden Sozialismus. Den Dank an all diejenigen, die damals an der KSZE mitgewirkt haben, sollten wir heute in der Tat aussprechen. Er ist wirklich wichtig. Meine Damen und Herren, Jalta ist überwunden und Europa ist durch die KSZE wieder europäisiert worden. Wir waren nach dem Ende des Krieges als Europäer nicht nur materiell am Boden. Vielmehr waren die Machtzentren an die Peripherie oder sogar aus Europa herausgerückt: Moskau und Washington. Das eigentliche Europa, die alte Welt, war entmachtet. Mit der KSZE haben wir Europa das erste Mal wieder zum Akteur gemacht, ohne uns von Amerika oder Russland zu distanzieren. Das Gute an der KSZE/OSZE ist, dass sie alle drei Gravitationszentren der internationalen Politik - Europa, Amerika und Russland - zusammenbindet, aber in Europa den Fokus hat. Das ist die große Leistung. Wir haben Europa mit der KSZE europäisiert, es den Europäern wieder zurückgegeben. Wir haben die europäischen Staaten zu handelnden Objekten gemacht. Das haben auch Staaten wie Rumänien genutzt. Die Rumänen haben zum Beispiel in Verhandlungen so etwas wie die Unverletzlichkeit von Grenzen, keine militärische Intervention durchgesetzt. Großer Dank an die rumänische Diplomatie bei allem, was man sonst zur Diktatur des rumänischen Systems sagen kann! ({7}) Hier sind plötzlich Bewegungsspielräume entstanden. Die Idee Mitteleuropa etwa hat sich aus dieser KSZE entwickelt, zum Beispiel aus der Nachfolgekonferenz in Budapest. Aus der Mitteleuropaidee ist dann die Gesamteuropaidee gewachsen. Das ist eine große Leistung. Die KSZE ist der erste Schritt auf dem Weg zur Wiedervereinigung Europas. Mit der EU-Erweiterung werden wir jetzt einen weiteren wesentlichen Schritt in diese Richtung gehen. Das ist die große zentrale Aufgabe der Zukunft: EU, OSZE und NATO zusammen müssen die Sicherheitsarchitektur der Zukunft bestimmen, mit Russland und Amerika, aber bestimmt von uns selbst, von diesem Kontinent, von diesem großartigen Europa. ({8})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gert Weisskirchen.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es lässt sich jetzt leider nicht verhindern - ich hatte das gar nicht gewollt, lieber Kollege Pflüger - auf Folgendes hinzuweisen: Natürlich kann man andere kritisieren, aber dann muss man auch fair sein und dem Plenum deutlich sagen - Sie haben das indirekt getan -: Die CDU/CSU war es, die mit den albanischen Kommunisten die Schlussakte von Helsinki abgelehnt hatte. ({0}) Das ist nun einmal leider eine historische Realität. Ich freue mich, dass wir heute darüber debattieren. Ich fand es sehr ermutigend und erfrischend, dass der Außenminister hier über Selbstkritik gesprochen hat. Zur Selbstkritik gehört aber auch Folgendes - das sage ich an unsere eigene Adresse, an die der Sozialdemokratie - : Die erste Phase - Sie haben sie beschrieben - war die Annäherung und Anerkennung des Status quo. Daraus ergab sich die Möglichkeit der Schaffung von Berufungsfällen für die Opposition, für die Dissidenz. Dadurch sind die inneren Kräfte zur Veränderung ermutigt worden. Wir haben dazu beigetragen. Als es dann von der Phase der Annäherung zur Auflehnung kam, haben viele bei uns berechtigte und verständliche Angst gehabt. Ich verweise auf die Vorkommnisse auf dem Tiananmen-Platz in Peking. Es hätte sein können, dass diese ungeheuere Dynamik, dass die Menschen ihre Sache in die eigene Hand nehmen, sich auf die Freiheit selbst berufen, diese erkämpfen, die Angst hinter sich lassen und gegen die diktatorischen Regimes auftreten, die Gefahr hervorruft, dass alles in gefährliche Situationen, Krieg und Auseinandersetzung mündet, wie dies 1968 in Prag der Fall war. In diesem Moment haben bei uns viele gezögert und nicht das getan, worauf einige in den osteuropäischen Ländern gewartet haben, nämlich die unverbrüchliche Solidarität deutlich und öffentlich zu hören. Das ist ein Moment der Selbstkritik, das wir ernst nehmen müssen. Der wichtigste Punkt ist: Die dritte Phase von der Auflehnung zur Selbstbestimmung, die mit der Pariser Charta zusammenhängt, hat mit Milosevic - dass muss man, Herr Gehrcke, einfach hinzufügen - einen Endpunkt gesetzt. Nachdem Jugoslawien bereit war, sich an der KSZE und OSZE zu beteiligen, kam es zu einem Wechsel hin zur Selbstbestimmung in einer anderen Form als wir in Westeuropa und auch viele andere Länder in Ost- und Mitteleuropa es gewohnt waren: Selbstbestimmung wurde von Milosevic als Nationalismusrückfall in faschistische Strukturen missbraucht. Um an den Werten der KSZE und der OSZE festhalten zu können, mussten wir etwas dagegen unternehmen und mussten sozusagen die Mauer der Werte verteidigen, mit der Folge, dass die Sache letztlich so schrecklich ausgegangen ist, wie wir das alle mitempfunden haben. Wenn der Außenminister heute davon spricht, dass wir nicht nur über Substanzfragen, sondern auch über Verfahrensfragen reden müssen, ist das eine gewisse Form der Selbstkritik. Ich würde doch darum bitten, dass wir alle an diesem Punkt die richtigen Schlußfolgerungen ziehen. Die wichtigste Schlußfolgerung gegenüber Jugoslawien ist, den Stabilitätspakt in die Realität umzusetzen. Das ist die wirkliche Aufforderung, die von Helsinki ausgeht und die dazu führen kann, dass der Südosten Europas den Anschluss an das findet, was die KSZE ausgelöst hat, nämlich die Selbstbestimmung zur Demokratie. Das fehlt jetzt in der Republik Jugoslawien. ({1}) Dazu können wir alle etwas beitragen. Die wichtigsten Prinzipien der KSZE standen ganz am Anfang, nämlich erstens Menschenrechte und zweitens Demokratie. Das ist die wichtigste Grundmelodie der Werte. ({2}) - Das wurde operativ in die Regime der Abrüstung umgesetzt, Herr Gehrcke. Es wurde umgesetzt in staatliche Anerkennung. Dahinter lag doch etwas ganz anderes. Schauen Sie sich doch einmal an, was Willy Brandt im Oktober 1962 gesagt hat:

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert?

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gerne, bitte schön.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Lieber Herr Kollege, können Sie uns nicht zumindest noch sagen, dass zu den allerwichtigsten Prinzipien von Helsinki „nicht Krieg“, also Frieden gehörte und dann Menschenrechte? Denn die Menschenrechte nutzen nichts, wenn Bomben fallen.

Gert Weisskirchen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002465, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Herr Kollege, seien Sie doch mal ehrlich zu sich selbst, wenn Sie diese Frage stellen! Wer war es denn, der in Jugoslawien drei Kriege geführt hat, bis die internationale Staatengemeinschaft gesagt hat, jetzt müsse Schluss sein? Der vierte Krieg war vorbereitet. Das war doch Milosevic. Oder sehe ich das ganz falsch? ({0}) Bitte denken Sie noch einmal darüber nach, ob die Substanz Ihrer Frage in eine andere Richtung führt! Willy Brandt hat im Oktober 1962 gesagt: Wir haben die Formen zu suchen, die die Blöcke von heute überlagern und durchdringen. Wir brauchen so viel reale Berührungspunkte und so viel sinnvolle Kommunikation wie möglich. Wir brauchen uns vor dem Austausch von Wissenschaftlern und Studenten, von Informationen, Ideen und Leistungen nicht zu fürchten. Das hat die Grundlage für den KSZE-Prozess gelegt. Die Mauer, die hier stand, aber keinen Bestand haben konnte, war die Stein gewordene Ohnmacht der damaligen Regimes gegenüber dem Willen der Menschen, etwas aufzubauen, etwas festzuhalten. Dass die Mauer gefallen ist und die Regimes gestürzt worden sind, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Menschen begriffen und gewollt haben, dass die KSZE etwas mit ihrer individuellen Freiheit zu tun hat. Das hat den Bann gebrochen und schließlich dazu geführt, dass dieses Europa nun endlich zur Demokratie und zur Rechtsstaatlichkeit in allen unterschiedlichen Regionen kommen kann. Das ist der Auftrag der OSZE und der KSZE und den werden wir fortsetzen. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Hans Raidel.

Hans Raidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001768, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach so vielen Ausflügen in die Geschichte - wir sind sehr dankbar für alles, was hier geschehen ist - darf ich mich einigen praktischen Fragen der Gegenwart zuwenden. Wir sind uns alle darüber einig, dass die OSZE einen entscheidenden Beitrag zum Aufbau einer europäischen Sicherheitsarchitektur leistet. Der Unterschied zu früher ist: Die KSZE hat sich von einer Konferenz zu einer Organisation gemausert. Sie hat als Organisation jetzt ganz bestimmte Aufgaben zugewiesen erhalten, die Sie ja alle in Ihren Beiträgen bereits beschrieben haben. Im November 1999 wurde in Istanbul die europäische Sicherheitscharta unterschrieben. Sie regelt viele Organisationsfragen und stellt diese neuen Instrumente zur Verfügung, die nun weiter gehen, als das früher bei der KSZE denkbar und üblich war. Künftig sollen also in diesem Rahmen die Koordination der verschiedenen sicherheitspolitischen Aktivitäten vorgenommen und die jeweils geeigneten Mittel dazu entwickelt werden. Neu ist seit Istanbul natürlich auch, dass zur Verhütung und zur Beilegung von Konflikten die OSZE zu eigenen friedenserhaltenden Maßnahmen berechtigt ist, weil sie mittlerweile als regionale Organisation im Sinne der UNCharta deklariert worden ist. Das war früher bei der KSZE nicht der Fall. Die früheren Aufgaben sind geblieben, also Abrüstung, Rüstungskontrolle, militärische Vertrauensbildung, Konfliktvorbeugung, Demokratisierung, Überwachungsaufgaben bei Wahlen. Neu sind zusätzliche Instrumente, eben diese React-Gruppen, die in Konfliktsituationen schnell und frühzeitig vor Ort sein sollen und als zivile Komponente von Friedensoperationen dienen. Ein wichtiges Instrument ist der erweiterte Polizeieinsatz, der die Durchsetzung von Menschenrechten und Grundfreiheiten unterstützen soll, zum Beispiel durch Überwachungs- und Beobachtungsaufgaben, und der vor allem die lokalen Polizeiorganisationen zu unterstützen hat. Gert Weisskirchen ({0}) Um dieses alles organisatorisch zu bewältigen, wird im Sekretariat in Wien ein neues Operationszentrum aufgebaut, das den schnellen Einsatz dieser Missionen vorzubereiten hat. Zusammengefasst heißt das: Der Organisationscharakter der OSZE und ihre Rolle als praktisches Instrument der präventiven Diplomatie werden weiter ausgebaut. Damit wächst die Bedeutung der OSZE. Die Unterzeichnung des KSE-Änderungsvertrages während des Istanbul-Gipfels unterstreicht auch die unveränderte Rolle der OSZE als Dach der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa. Es steht also künftig ein breites Spektrum von Optionen zur Konfliktregelung zur Verfügung. Damit hat die Charta von Istanbul eines geschafft: Sie hat der gesamteuropäischen Sicherheit erstmals klarere Konturen verliehen. Die OSZE steht jetzt gleichberechtigt - das war früher auch nicht der Fall - neben NATO, EU und WEU. Nun geht es darum, in Absprache miteinander jeweils das richtige Instrument zu entwickeln. Die deutsche Rolle ist mitentscheidend bei all den Prozessen gewesen. Wir haben immer hervorragende Schrittmacherdienste geleistet. Dies wird natürlich von unseren Partnern anerkannt. Aber es werden auch weiterhin hohe Erwartungen an uns gerichtet. Ich glaube, wir werden diese Erwartungen erfüllen. Wir stellen uns der Verantwortung und leisten Beiträge durch qualifiziertes Personal, durch entsprechendes Gerät und vor allem durch den nicht zu unterschätzenden finanziellen Beitrag. Ich möchte an dieser Stelle, Herr Minister, auch einmal alle Damen und Herren Ihres Hauses loben, die bei der OSZE arbeiten. Es gibt viele Konzepte und gut durchdachte Instrumentarien, die im Auswärtigen Amt entwickelt worden sind, die bereits auf den Weg gebracht worden sind und mit denen entscheidende Organisationshilfe geleistet wird. Aber - das möchte ich kritisch anmerken - wenn wir von hier aus alle diese Dinge unterstützen und die entsprechenden Aktivitäten positiv sehen, so muss ich doch feststellen, dass das ganze System einen entscheidenden Mangel hat, nämlich den, dass die Parlamentarische Versammlung der OSZE noch immer keine formellen Kompetenzen im Entscheidungsprozess der OSZE hat und dass viele wichtige Entscheidungen weiterhin ohne die Einbeziehung der Parlamentarier getroffen werden. Das ist in meinen Augen nicht in Ordnung, in einer Zeit, in der wir darüber reden, wie beispielsweise die Mechanismen in Europa verändert werden können, und wie das, was national zu entscheiden ist, nun auch auf der nationalen Ebene verbleiben kann. Wie soll denn für die OSZE Akzeptanz geschaffen werden, wenn das Parlament in Wirklichkeit nicht an den Entscheidungen beteiligt ist? Insoweit hat auch die heutige Debatte einen entsprechenden Mangel: Wir können Bitten äußern, aber wir können die Regierung in entscheidenden Punkten nicht beauftragen, gemäß der Meinung des Parlamentes zu handeln. Ich selber bin der Meinung, dass in weiteren Reformschritten diese Defizite beseitigt werden sollten, damit Distanzen zur OSZE abgebaut werden. ({1}) In der Öffentlichkeit gilt: die OSZE, das unbekannte Wesen. Wir führen hier eine Insiderdebatte. Häufig wird die OSZE auch unter Wert dargestellt. Draußen begreift die Bevölkerung nicht, wie wichtig dieses Instrument auf allen Ebenen geworden ist. Ich meine, es müsste allmählich auch in Deutschland wieder mehr über Sicherheit öffentlich diskutiert werden, um ein besonderes Gefühl für die Sicherheit und auch das notwendige Gefühl für die Finanzierung zu entwickeln; denn es muss heuer noch über die Finanzierung der OSZE gesprochen werden. Der Beteiligungsschlüssel ist neu festzulegen. Im Klartext: Die OSZE braucht mehr Geld. Der Haushalt für OSZEEinsätze muss wesentlich angehoben werden, wenn all das, was Sie positiv formuliert haben, auch in die Wirklichkeit umgesetzt werden soll. Diese Nagelprobe wird zeigen, wie ernst die gefassten Beschlüsse und ihre Umsetzung genommen werden, vor allem bei uns in Deutschland. Jetzt kommt es darauf an, dass alle Mitgliedstaaten die OSZE fördern und entsprechend ausstatten, damit sie die ihr zugedachten Aufgaben wirklich erfüllen kann. Für uns alle gilt: Sicherheit kostet etwas. Herr Minister, an Sie ist die Bitte gerichtet, dass Sie bei den jetzt anstehenden Haushaltsberatungen dafür sorgen, dass das notwendige Geld wirklich zur Verfügung gestellt wird, weil sonst - Sie haben das ein bisschen kritisiert - auch dieser Tag nur eine festliche Veranstaltung mit Festtagsreden bleibt, bei der alle immer in der ersten Reihe sitzen. Wenn es darauf ankommt, hinsichtlich der Handlungsfähigkeit Entscheidendes sicherzustellen, dann kommt dem Geld die wichtigste Rolle zu.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege, kommen Sie jetzt bitte zum Schluss.

Hans Raidel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001768, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

In dieser Frage ziehen wir gerne an einem Strang. Wir unterstützen Sie zwar; aber die Vorreiterrolle liegt natürlich bei Ihnen. Vielen Dank. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Antrag der Fraktionen von SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „25 Jahre KSZE/OSZE“ auf Drucksache 14/3666? - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von SPD, CDU/CSU und Bündnis 90/Die Grünen bei Stimmenthaltung von F.D.P. und PDS angenommen. Wer stimmt für den Antrag der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „OSZE stärken“ auf Drucksache 14/3674? Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen von F.D.P. und CDU/CSU bei Enthaltung der übrigen Fraktionen angenommen. ({0}) - Es gibt doch immer wieder Überraschungen mit dem Sprechzettel. Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS Haltung der Bundesregierung zur jüngsten Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation, wonach Deutschland im internationalen Vergleich der Gesundheitssysteme Platz 25 einnimmt Für die Fraktion der PDS, den Antragsteller, gebe ich der Kollegin Dr. Ruth Fuchs das Wort.

Dr. Ruth Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000615, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vorige Woche hat die WHO in London die Ergebnisse eines internationalen Vergleichs der Gesundheitssysteme vorgestellt. Die Länder wurden daraufhin untersucht, was sie mit den zur Verfügung stehenden finanziellen und personellen Ressourcen an medizinischer Versorgungsqualität und an Gesundheitsgewinn für ihre Bevölkerung tatsächlich erreichen können. Nun haben wir es amtlich: Unser Gesundheitswesen erhält keine so gute Bewertung, wie manche immer wieder glauben machen wollen. Auch wenn beim ersten Versuch einer solchen Rang- und Reihenfolge methodisch vieles zu hinterfragen ist, hat Gro Harlem Brundtland, die international angesehene Generaldirektorin der WHO, doch völlig Recht: Diese Studie ist für die Verantwortlichen vieler Länder eine unangenehme Lektüre. Auch bei uns sollte die Einstufung des deutschen Gesundheitswesens auf Platz 25 zumindest Anlass für tiefere Nachdenklichkeit sein. ({0}) Denn diese Einstufung ist umso alarmierender, als das deutsche Gesundheitswesen auch unbestreitbare Stärken hat, die durchaus eine entsprechende Berücksichtigung gefunden haben. So erreicht unser im Wesentlichen noch immer auf Solidarität beruhendes System beim Vergleich hinsichtlich einer gerechten Verteilung der finanziellen Lasten immerhin einen weit vorne liegenden sechsten Platz. Ähnlich positiv ist die Einordnung bei der Patientenorientierung. Auch Infrastruktur und wissenschaftlichtechnische Leistungsfähigkeit erhielten mit Recht sehr gute Noten. Offensichtlich hat die WHO die gravierenden Schwächen des deutschen Gesundheitswesens aber nicht übersehen. Zu ihnen gehören beispielsweise die vielfältige Zersplitterung aufseiten der Leistungserbringer, insbesondere die Trennung zwischen dem ambulanten Sektor und dem Krankenhaus. Es gehört dazu die mangelnde Kooperation innerhalb der ambulanten Versorgung mit vielen unnötigen Doppel- und Mehrfachuntersuchungen. Hinzu kommt eine Steuerung durch Vergütungssysteme, die ärztliches Handeln tendenziell in eine medizinisch nicht begründete Mengendynamik drängen. Außerdem führt das verständliche Streben nach einzelbetrieblicher Rentabilität vielfach zu unrationellem Mitteleinsatz und erheblichen Effizienzverlusten im Gesamtgefüge. Ja, mehr noch, insgesamt gilt leider: Je anreizkonformer sich die einzelnen Leistungserbringer verhalten, desto unwirtschaftlicher arbeitet das Gesamtsystem. ({1}) Dies hat zusammen mit mangelnder Bedarfsplanung und dem Fehlen übergreifender Gesundheitsziele neben kostspieliger Überversorgung eben auch weite Bereiche mit Unter- bzw. Fehlversorgung geschaffen. Gerade die zunehmend wichtige Prävention ist für Letzteres ein trauriges Beispiel. Im Ergebnis - darauf kam es der WHO besonders an wurden mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht das Versorgungsniveau und jener Gesundheitsfortschritt erreicht, die real möglich gewesen wären. Genau deshalb haben wir den Ansatz der Gesundheitsreform 2000, bestehende Unwirtschaftlichkeiten durch Strukturreformen abzubauen, als richtig empfunden und ausdrücklich begrüßt. Unseres Erachtens war es allerdings grundfalsch, dieses ohnehin nur begrenzte Streben mit einem rigorosen Sparkurs zu verbinden und darauf zu setzen, dass Rationalisierungsreserven unter dem Druck des knappen Geldes quasi automatisch erschlossen würden. Heute ist unübersehbar, dass die Grundprobleme des Gesundheitswesens ungelöst geblieben, dafür aber Unzufriedenheit und Verärgerung auf allen Seiten weiter gewachsen sind. Überall, bei Versicherten bzw. Patienten wie bei Leistungserbringern, verstärkt sich das Gefühl, dass es so nicht weitergehen kann. ({2}) Vor diesem Hintergrund muss sogar befürchtet werden, dass die Gesundheitsreform 2000 objektiv den Boden für eine weitere Aushöhlung des Solidargedankens bereitet. Schon hat mit Kanzler Schröder ein führender oder, besser gesagt, der führende SPD-Politiker erstmals öffentlich die Auffassung vertreten, dass es im Gesundheitswesen ohne zusätzliche finanzielle Selbstbeteiligung der Versicherten nicht mehr gehen wird. ({3}) Das ist ein klarer Bruch mit bisherigen sozialdemokratischen Grundpositionen. ({4}) Wenn das Praxis würde, dann wäre das nichts anderes als die Fortsetzung des Marsches in die Zwei-KlassenMedizin, wie er zu Zeiten der Kohl-Regierung bereits angetreten wurde. Dem werden wir uns entschieden entgegenstellen; denn für uns gilt nach wie vor: Eine allen Menschen gleichermaßen zugängliche und humane Gesundheitsversorgung bleibt nicht nur sozial gerecht, sondern sie ist bei entsprechendem politischen Willen und vor allem bei entsprechendem politischen Handeln auch machbar, und zwar auch unter den sich verändernden Rahmenbedingungen in dieser Gesellschaft. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Professor Dr. Martin Pfaff.

Prof. Dr. Martin Pfaff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die PDS hat eine Aktuelle Stunde zum Weltgesundheitsbericht 2000 durchgesetzt und es ist auch ihr gutes Recht, das zu tun. Ich frage mich allerdings, Frau Kollegin, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, wenn wir das im Ausschuss ordentlich vorbereitet hätten, ({0}) weil ein so komplexes Thema mit so vielen Facetten dies erfordert. ({1}) Ich will nicht die Frage an Sie und auch nicht an mich selbst richten, ob wir wirklich jedes Wort in diesem Bericht so gründlich gelesen haben, wie er es verdient hätte. ({2}) Ist das heute vielleicht auch ein bisschen Show oder geht es wirklich nur um die Substanz oder schwingt bei einigen gar ein bisschen Schadenfreude mit? ({3}) Das wäre natürlich ein ganz großer Hammer. Denn, so frage ich, soll, nachdem die deutsche Fußballmannschaft entzaubert worden ist, dies nun auch mit unserem soliden Gesundheitswesen geschehen, das heißt, soll es einen Nackenschlag nach dem anderen geben? ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie in anderen Bereichen des Lebens wird natürlich auch hier - deshalb auch meine etwas frivole Zuspitzung - nicht so heiß gegessen wie gekocht; denn erstens sind die Befunde zum Verhältnis von Gesundheitskosten und -ertrag nicht so neu, wie viele vielleicht glauben. Zweitens - vielleicht ist auch das wichtig - sind die Befunde selbst, die Verfahren, die Methoden zu hinterfragen. Drittens - das ist der ernste Teil - enthalten diese Befunde auch eine Botschaft. Wenn sie richtig aufgegriffen wird, können wir daraus Gewinn ziehen. Ich beginne mit dem ersten Punkt. Schon in den 80erJahren gab es eine Studie englischer Gesundheitsökonomen, die aufzeigten, dass, wenn man die Ressourcen im Gesundheitswesen mit dem gesundheitlichen Ertrag, gemessen an der Lebenserwartung, vergleicht, Deutschland im Vergleich zu anderen Industrienationen so gut nicht aussehen würde. Also nichts Neues. Die WHO-Studie geht ein bisschen weiter, aber im Grundsatz misst sie den Erfolg des Gesundheitswesens in ähnlicher Art. Man könnte natürlich fragen, was diese Studie, wenn wir bei einigen Indikatoren schlecht, bei anderen mittelmäßig und bei wiederum anderen relativ gut abschneiden, über das System insgesamt sagt. Die erste Botschaft könnte beispielsweise lauten: Deutschland hat das zweitteuerste Gesundheitswesen. Wir brauchen also nicht mehr Geld im System, sondern mehr Qualität. Das ist eine Forderung, die auch ohne die Schlussfolgerungen dieses Berichts erwägenswert ist. Zum Zweiten könnte man natürlich fragen, ob hier nicht teilweise ein rein statistisches Produkt vorliegt, nachdem sich im Zuge der deutschen Einigung die Lebenserwartung in den neuen Ländern leider nicht überall an die des Westens angeglichen hat, die Kosten aber gestiegen sind. Ich meine, der Bericht sagt mehr über die Gesundheit der Menschen in Deutschland aus als über die Gesundheitsversorgung. Die Gründe hierfür möchte ich jetzt gleich ansprechen: Erster Grund: Wir wissen, dass die Gesundheit der Menschen von vielen Faktoren, dem Lebensumfeld, der Lebensführung, dem Ernährungsverhalten, dem Bewegungsverhalten, dem Wohnumfeld, den Arbeitsbedingungen und vielem mehr, abhängt. Die gesundheitliche Versorgung, das ist anerkannter Stand der Sozialmedizin, ist nur ein Faktor von vielen. Das Ergebnis der Gesundheitsversorgung an einem Indikator zu messen, nämlich der Lebenserwartung minus Jahre der Krankheit, ist zumindest zu hinterfragen. Zweiter Grund: Selbst die WHO ist sehr vorsichtig. Sie macht nur Intervallaussagen. Wenn man nun den obersten Wert des Intervalls für Deutschland zum Beispiel bei der Zielerreichung nimmt und nicht nur den angegebenen Mittelwert, dann liegen wir zusammen mit der Schweiz auf Platz 2. Man sieht also, wie fragwürdig die Ergebnisse sind. Dritter Grund ist die Frage der Vergleichbarkeit. Die Länder, die Invalidität und Krankheit exakt und präzise messen, bekommen einen höheren Abzug qualitativ wertvoller Lebensjahre als die anderen. Wir sind ja im Allgemeinen dafür bekannt, dass wir die Sachen sehr viel akribischer angehen. Lassen Sie mich deshalb etwas freimütig einen berühmten Satz des ersten Trägers des Nobelpreises für Ökonomie, Pauls Samuelson, zitieren. Er sagte: Wenn Sie mir die Wahl der Annahmen überlassen, kann ich Ihnen alles beweisen, was Sie sehen wollen. ({5}) Ich sage dazu: Wenn Sie uns die Annahmen, die Methoden und die Verfahren, übrigens auch bei der Gewichtung der Teilindikatoren und bei der Aggregation, wählen lassen - wer sagt denn, dass man Indikatoren einfach zusammenzählen und dann dividieren darf? -, dann beweise ich Ihnen alles. Dennoch bleibt ein ernster Kern übrig, liebe Genossinnen und Genossen. ({6}) - Entschuldigung, ich wollte sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Aber auch die anderen, die noch Genossinnen oder Genossen werden wollen, dürfen sich angesprochen fühlen. Es tut mir Leid. Erstens. Der Zielerreichungsgrad unseres Gesundheitswesens muss ernsthafter hinterfragt werden. Wir müssen uns nämlich auch fragen, ob wir überhaupt die Instrumente haben, um gesundheitliche Ziele in Einzelbereichen zu verfolgen. Ich meine, wir haben sie nur teilweise. Das ist der erste Kernpunkt. Der zweite Kernpunkt ist die Frage, wo wir ansetzen müssen, um die Unterschiede beim Gesundheitsstatus zu beseitigen. Es muss ja irgendetwas an dem Urteil von Fachleuten dran sein, die auch in Kenntnis der Realität sagen, das von Bismarck geschaffene deutsche Gesundheitswesen zählt zu den besten der Welt. ({7}) Ich sage, das liegt an den genialen Grundprinzipien dieses Systems, was auch von diesem Bericht nicht bestritten wird. Ich erwarte, dass diese Wertschätzung des deutschen Gesundheitswesens auch international noch gegenwärtig sein wird, wenn dieser Bericht, zumindest in Teilen, schon vergessen ist. Danke für die Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion gebe ich nunmehr das Wort dem Genossen Dr. Wolf Bauer. ({0})

Dr. Wolf Bauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000108, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Diese Bemerkung hat mich hart getroffen, das muss ich ehrlich sagen. ({0}) Ich meine aber, dass jedem einmal ein Versprecher passieren kann. Es hat mich nur verwundert, Herr Kollege, dass Sie ausgerechnet in dem Moment in unsere Richtung geschaut haben. Hätten Sie dabei nach links geschaut, hätte ich ja dafür Verständnis gehabt. Ich möchte jetzt auf das eingehen, was Sie gesagt haben, Herr Kollege Pfaff. Es ist in der Tat nicht ganz einzusehen, warum wir heute diese Aktuelle Stunde durchführen. Besser wäre es gewesen, dieses Thema im Ausschuss vernünftig zu beraten, zumal wir heute bestimmte Aspekte nur mehr oder weniger wahllos herausgreifen und entsprechende Anmerkungen machen können. Es ist mit Sicherheit eine große Fleißarbeit geleistet worden, um diese Daten zusammenzutragen. Ich muss allerdings sagen: Quantität der zusammengetragenen Daten und Qualität der daraus gezogenen Schlussfolgerungen klaffen in vielen Bereichen sehr stark auseinander. Da wir weltweit nicht über die gleichen Rahmenbedingungen verfügen, führt die Datenerhebung und damit die Grundlage für eine derartige Expertise schon deshalb nahezu zwangsläufig zu Problemen. Denn Hunger und Krieg auf der einen und Wohlstand und soziale Sicherung auf der anderen Seite markieren deutlich die unterschiedlichen Verhältnisse, in denen - ich muss sagen: leider Menschen leben müssen. Es drängt sich daher die Frage auf: Kann man überhaupt in allen Mitgliedstaaten vergleichbare Daten abfragen? Noch schwieriger wird es, einen einheitlichen Maßstab zu finden, mit dem sich die Qualität zum Beispiel des amerikanischen Gesundheitswesens genauso gut messen lässt wie die Qualität des Gesundheitswesens im krisengeschüttelten Afghanistan. Gleichwohl meint die WHO, anhand von fünf Kriterien die Qualität der Gesundheitssysteme in 191 WHO-Mitgliedstaaten beurteilen zu können. Nach der Gesamtauswertung liegen Frankreich und Italien ganz vorn; Sierra Leone bildet auf Platz 191 das Schlusslicht; die Schweiz liegt an 20., Deutschland an 25. und die USA an 37. Stelle. Angesichts dieses Ergebnisses geraten viele, die hierzulande mit unserem Gesundheitssystem zu tun haben, schon kräftig ins Staunen. Sollte unser Gesundheitswesen mit all seinem Know-how, einem Höchstmaß an medizinisch-technischen Leistungen, mit zahlreichen ambulanten und stationären Gesundheitsangeboten und mit den vielfältigen erfolgreichen Forschungsaktivitäten, vor allem auf dem Gebiet der Krebsbekämpfung, wirklich schlechter sein als das Gesundheitssystem Frankreichs und Italiens? Hat nicht manch einer von uns aus dem Urlaub den Eindruck mitgenommen, dass unser Gesundheitswesen in vieler Hinsicht nachahmenswert ist? Festzuhalten ist auch, dass Deutschland bei der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems einen beachtlichen 5. Platz einnimmt auch darauf ist schon hingewiesen worden - und ebenso bei der Zufriedenheit mit der medizinischen Versorgung. Ein interessantes Detail betrifft die Selbstbeteiligungsquote. In den Industrieländern zahlen die Patienten durchschnittlich 25 Prozent der Arzt- und Medikamentenkosten aus eigener Tasche. In den USA muss der Patient 56 Prozent selbst bezahlen, in Indien 80 Prozent und in den meisten Entwicklungsländern sogar alles. Die Selbstbeteiligungsquote in Deutschland liegt um einiges unter den durchschnittlichen Selbstbeteiligungsleistungen der Industrienationen in Höhe von 25 Prozent. Darauf haben wir seitens der Union in der Vergangenheit immer wieder hingewiesen und mit der Einführung von sozialverträglich ausgestalteten Zuzahlungsregelungen entsprechend verantwortungsvoll gehandelt. Wir sind von Rot-Grün für diese sozialverträglich gestalteten Zuzahlungen permanent kritisiert worden. ({1}) Noch im Bundestagswahlkampf 1998 hat die SPD angekündigt, sich besonders der Zuzahlungen anzunehmen bzw. angeblich überhöhte Zuzahlungen ganz abzuschaffen. Wenn Sie diese Ankündigung ernst genommen hätten, Frau Kollegin, hätten Sie das auch machen müssen ({2}) und hätten nicht ganz moderat auf lediglich acht, neun und zehn DM absenken dürfen. Das entspricht doch gar nicht dem, was Sie vor der Wahl versprochen haben. ({3}) Es scheint in der Koalition - das ist vielleicht ein Lichtblick - mittlerweile die Einsicht gereift zu sein, dass es notwendig ist, eine sozialverträglich ausgestaltete Selbstbeteiligung wieder verstärkt in die Diskussion zu bringen. Ich möchte noch eine letzte Bemerkung zu dem WHOGesundheitsreport machen. ({4}) - Vielleicht doch, Herr Thomae. - Sollte Rot-Grün weiterhin völlig konzeptlos an unserem Gesundheitssystem herumexperimentieren, ist es fraglich, ob wir zukünftig selbst den 25. Platz in der WHO-Liste halten können. Mit Budgetierung, die automatisch zur Rationierung führt, ist das in der Tat mehr als fraglich. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe das Wort der Parlamentarischen Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Gesundheit, Christa Nickels.

Christa Nickels (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001601

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Frage, wie das deutsche Gesundheitssystem im internationalen Vergleich zu bewerten ist, war schon immer Gegenstand von Spekulationen und auch von Wunschdenken; denn die vorhandenen Daten und Informationsgrundlagen reichen in aller Regel nicht aus, um solche komplexen Leistungsvergleiche anzustellen. Richtig ist, dass in den vergangenen Jahrzehnten die internationalen Organisationen zahlreiche Anstrengungen unternommen haben, um die Qualität der Informationen zur Beschreibung der unterschiedlichen Systeme zu verbessern, und dass dabei auch Fortschritte erzielt wurden. Aber es gibt immer noch keine solide Datengrundlage, die einen internationalen Leistungsvergleich von Kosten und Qualität wirklich zulässt. Nun hat die Weltgesundheitsorganisation mit ihrem Bericht „Health Systems: Improving Performance“ für das Jahr 2000 einen Versuch in diesem schwierigen Feld auf der Grundlage der ihr verfügbaren Daten unternommen und eine Hitliste der Gesundheitssysteme erstellt. Dieser Versuch ist interessant und er ist diskussionswürdig. Die Absicht der WHO, ihren Mitgliedstaaten damit Hinweise zur Verbesserung der Systeme und der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung zu liefern, ist lobens- und unterstützenswert. Doch dies ist schwierig, solange die Daten und Informationen, die dieser Erhebung zugrunde liegen, viele Mängel aufweisen. So werden zum Beispiel Expertenurteile einbezogen, die kaum repräsentativ sein dürften, und Schätzverfahren angewendet, die äußerst zweifelhaft erscheinen. Auch werden Daten aus den Jahren 1997 und 1999 vermischt. Was der WHO-Vergleich aber unterstreicht, ist, dass die Höhe der Mittel, die in einem Land für das Gesundheitssystem aufgewandt werden, alleine noch kein Beweis für die Qualität der Versorgung ist. Die USA zum Beispiel, die nach wie vor am meisten Geld für Gesundheit ausgeben, landen in keinem anderen Feld auf einem vorderen Platz. Unabhängig von der Qualität der Studie geht auch unser Haus davon aus, dass die Frage des allgemeinen Gesundheitszustandes der Bevölkerung ein wichtiges Kriterium für die Qualität der Versorgung ist und dass außerdem Indikatoren, wie das Ausmaß der Gesundheitsunterschiede in der Bevölkerung und die Patientenorientierung des Systems, von großer Bedeutung sind. Der Ansatz der Weltgesundheitsorganisation bestärkt uns deshalb in unseren Leitzielen: stärkere Patientenorientierung, mehr Qualität und Effizienz, bessere Zugangschancen für sozial Benachteiligte, mehr Gewicht für Prävention und Gesundheitsförderung. Viele dieser Themen haben wir mit der Gesundheitsreform 2000 aufgegriffen. Ich möchte hier nur einige Stichworte anführen: Wir haben die hausärztliche Versorgung verbessert. Die Verzahnung zwischen ambulantem und stationärem Sektor wurde vorangetrieben. Wir sorgen für eine Stärkung der Patientenrechte. Qualität wird zum zentralen Steuerungsparameter. Selbsthilfe und Gesundheitsförderung werden ausgebaut. All dies sind Bestandteile unserer Reform, die jetzt Schritt für Schritt in die Praxis umgesetzt werden. Sie werden die Effizienz und Effektivität unseres Gesundheitssystems weiter verbessern. Deshalb will ich gar nicht darüber spekulieren, ob Platz 25 von 191 nun ein Platz ist, der uns bei einer Gesundheitseuropameisterschaft die Teilnahme am Viertelfinale sichern würde oder nicht. Denn auch für das Gesundheitswesen gilt: Nichts ist so gut, als dass es nicht noch besser werden könnte. Dabei kann uns der Blick über die Landesgrenzen, zum Beispiel zu unseren Nachbarn in Europa, sicher helfen. Vor allem aber müssen wir unser eigenes System immer wieder kritisch durchleuchten und auf Fehlentwicklungen hin untersuchen. Es ist und bleibt also Aufgabe der Politik, das Gesundheitssystem auch in Zukunft zu verbessern und weiterzuentwickeln. - Vielen Dank. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Dr. Dieter Thomae.

Dr. Dieter Thomae (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002320, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch bei diesem Bericht der WHO zeigt sich, dass man der Arbeit der Weltgesundheitsorganisation sehr skeptisch gegenüberstehen sollte. Ich bedaure es sehr, dass ein solcher Bericht abgefasst wurde und dass die einzelnen Länder untersucht und analysiert wurden, ohne dass die Kriterien mit ihnen festgelegt worden wären. Das, so meine ich, ist Anlass für uns, diese Thematik im Gesundheitsausschuss mit der Bundesregierung zu besprechen. Denn es kann nicht sein, dass Kriterien auf den Weg gebracht werden, die nicht genau definiert werden können und die sehr, sehr viel Spielraum lassen. Von daher wäre dies eine Angelegenheit, die im Gesundheitsausschuss zu erörtern ist. Sie sehen, wie problematisch dieser Fall ist, wenn Sie zum Beispiel wissen, dass in Italien die Bettwäsche mitgebracht werden soll und das Essen ebenfalls mit ins Krankenhaus gebracht wird. Vor diesem Hintergrund fragen Sie sich, wie die Kriterien wirklich fundiert aufbereitet werden sollen. Von daher sage ich Ihnen: Bei dem Anteil, den wir jährlich an die WHO zahlen, möchte ich in die Lage versetzt werden, diese Kriterien mit zu bestimmen. Das ist Aufgabe der Bundesregierung. ({0}) Wir wissen alle, dass jedes System in der Welt Vorteile und Nachteile hat. Wir wissen, dass unser System eine Menge Vorteile hat. Es gibt jedoch auch Nachteile. Die jetzige Bundesregierung hat die Budgetierung in den Mittelpunkt Ihrer Gesundheitspolitik gestellt. ({1}) Das ist für mich einer der größten Nachteile, die wir seit 1998 erkennen müssen. ({2}) Es zeigt sich, dass die Budgetierung dazu führt, dass chronisch Kranke in diesem System massiv benachteiligt werden. Ich glaube, es kommt nicht von ungefähr, dass wir jetzt feststellen, dass Untersuchungen beweisen, dass chronisch Kranke nicht mehr die hoch innovativen Arzneimittel bekommen. Ich sage Ihnen: Das ist unverantwortbar! ({3}) Ich bitte Sie wirklich, diese Politik zu ändern. Denn es nützt nichts, wenn Sie den Bürgern sagen, sie bekämen alles, ihnen dann aber über die Budgetierung Leistungen abgeschnitten werden. Dann ist mir - das sage ich so deutlich - eine sozialverträgliche Zuzahlung erheblich lieber. Denn dadurch erhält derjenige, der finanziell benachteiligt ist, über die Härtefallregelung, über die Überforderungsregelung immer die notwendige medizinische Leistung. ({4}) Wir hatten in der alten Koalition in diesem Bereich einen vernünftigen Weg eingeschlagen. Beginnen Sie, Ihre Entscheidung für die Budgetierung zu überdenken; es ist dringend Zeit. Dann könnten wir mit Ihnen weiter über den richtigen Weg diskutieren. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion spricht der Kollege Eike Hovermann.

Eike Hovermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002684, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn die WHO eine Studie vorlegt, derzufolge das deutsche Gesundheitssystem im internationalen Vergleich nur an 25. Stelle liegt, also weit hinter Spanien, Italien und Portugal, so freut das sicherlich zunächst niemanden von uns. ({0}) Aber, der Weltgesundheitsreport, um den es hier geht und den sicherlich alle gelesen haben, Frau Dr. Fuchs, über 200 Seiten in Englisch -, verdient es, eingehend betrachtet und analysiert zu werden. Wie Sie wissen, basiert die Studie auf Daten aus den Jahren 1997 und 1999 - vermischt, wie die Frau Staatssekretärin zu Recht erklärt hat. Aber vergessen hat sie, dass die Daten zunächst einmal ein Spiegel sind für 16 Jahre Gesundheitspolitik von Herrn Kohl, Herrn Seehofer und von Ihnen, Herr Dr. Thomae. Kolleginnen und Kollegen, ich möchte aber nicht so weit gehen wie die „Ärzte-Zeitung“, die das WHO-Ranking als „Statistik der Absurditäten“ bezeichnet hat. Doch es ist sicher zulässig zu behaupten, dass sowohl die erhobenen Daten als auch die Indikatoren dieser Studie nicht tragfähig sind, um die Leistung von Gesundheitssystemen insgesamt angemessen zu bewerten - ein Umstand, der Ihnen, verehrte Frau Dr. Fuchs, bei genauerem Lesen der Studie eigentlich nicht entgangen sein dürfte. Ich frage mich deshalb wie mein Vorredner ernsthaft nach dem Sinn dieser Aktuellen Stunde. Wollen Sie tatsächlich ein Gesundheitssystem wie in Frankreich, das zwar auf Platz eins der Gesamtwertung liegt, aber in der Frage der gerechten Verteilung der Kosten nur auf Platz 28? Oder möchten Sie von der PDS vielleicht ein Gesundheitssystem wie in den USA? Denn dort sind die Patienten laut Studie am zufriedensten - erstaunlich, wenn man bedenkt, dass gerade dort die Kosten besonders hoch sind, die Verteilung der Kosten fragwürdig und ein großer Teil der Bevölkerung überhaupt nicht krankenversichert ist. Obwohl es für eine abschließende Bewertung sicher noch zu früh ist, möchte ich doch sagen, dass ich den Aussagewert eines solchen Rankings für begrenzt halte. Ich vermute aber, dass diese Studie für Sie von der PDS als willkommener Anlass genommen worden ist, um die rotgrüne Gesundheitspolitik zu attackieren. Ich möchte Sie von der PDS fragen, ob es wirklich verantwortlich ist, in einer Zeit knapper werdender finanzieller Ressourcen - auch bedingt durch den Aufbau des Gesundheitssystems Ost, durch Milliardentransfers von den West- zu den Ostkassen - schlecht über unser Gesundheitssystem zu reden. Das ist es insbesondere dann nicht, wenn man bedenkt, dass seit dem Regierungswechsel durch die Gesundheitsreform 2000 erhebliche Schritte für eine bessere gesundheitliche Versorgung eingeleitet worden sind, deren Wirkungen in der WHO-Studie überhaupt noch nicht erfasst worden sind. Natürlich ist es immer wieder wichtig, die Frage nach der Qualität unseres Gesundheitssystems neu zu stellen und dabei auch den internationalen Vergleich nicht zu scheuen. Deshalb frage ich Sie: In welchen anderen Ländern gibt es so umfangreiche Ansprüche auf Prävention und Rehabilitationsleistungen - wenn auch für uns immer noch zu wenig - wie in Deutschland? ({1}) In wie vielen europäischen Ländern ist die Zuzahlung zu Arzneimitteln ähnlich niedrig? ({2}) Und nicht zuletzt frage ich: Wo wird so viel Wert auf gute Ausbildung und Qualitätssicherung gelegt wie bei uns? Trotzdem gibt es keinen Grund zur Selbstzufriedenheit. Denn die Kosten - das hat diese Studie eindrucksvoll belegt - sind im Vergleich zu den erbrachten Leistungen immer noch zu hoch. Wer meint, es müsse nun noch mehr Geld in das Gesundheitssystem gepumpt werden, hat aus unserer Sicht nicht die richtige Vorstellung von der Gesundheitspolitik der Zukunft. Wir müssen nämlich dafür sorgen, dass unser System der gesundheitlichen Versorgung zukunftsfähig bleibt. Die Bundesregierung hat mit der Reform 2000 die ersten Schritte getan. Dazu einige Beispiele: Mit der Gesundheitsreform 2000 haben wir erstmalig für sämtliche Versorgungsbereiche eine Verpflichtung zum umfassenden Qualitätsmanagement gesetzlich fixiert. Mit der integrierten Versorgung - Sie haben die Situation von 1997/98 skizziert; nun ist ja inzwischen etwas passiert ({3}) wird die Abschottung einzelner Versorgungsstufen beendet. Damit ist der Weg für ein verstärkt patientenorientiertes Gesundheitssystem geebnet. Auf der Grundlage von auf „evidence based medicine“ basierenden Leitlinien werden erstmalig in der Geschichte des deutschen Gesundheitswesens Kriterien definiert, um auch in Zukunft eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung zu gewährleisten. Wir werden dabei in Zukunft noch mehr als bisher darauf achten müssen, dass wir im Rahmen der solidarischen Krankenversicherung die vorhandenen Mittel sinnvoll und effektiv einsetzen und nicht sofort nach einer Trennung von Pflichtleistungen und Wahlleistungen oder gar nach Beitragserhöhungen rufen oder über die Budgetierung lamentieren, bevor wir die Einsparpotenziale, die in bestimmten Bereichen noch in Milliardenhöhe vorhanden sind, ausgeschöpft haben. ({4}) Derzeit arbeitet die Bundesregierung - das ist ein Anliegen von mir und wird sehr entscheidend sein - an den rechtlichen Grundlagen für die Zusammenführung und Auswertung von Gesundheitsdaten, die eine vernünftige und qualitätsorientierte Steuerung der Mittel überhaupt erst möglich machen. Über all diese Aufgaben - da stimme ich mit der überwiegenden Zahl meiner Vorredner überein - hätte man im Gesundheitsausschuss lange und ausgiebig diskutieren müssen, anstatt dieses Thema hier in fünfminütigen Reden - gezwungenermaßen nur oberflächlich - anzugehen. Das heißt, Sie haben uns dazu verleitet, etwas zu tun, was wir eigentlich nicht tun sollten. Frau Dr. Fuchs, Herr Dr. Thomae und alle anderen lieben Kolleginnen und Kollegen und Genossen, ich bin sicher, dass wir, wenn die von der Regierung eingeleiteten Schritte langsam greifen, den internationalen Vergleich weder jetzt noch in Zukunft scheuen müssen und dass wir Deutschland im zukünftigen Wettbewerb auf EU-Ebene zum Gesundheitsstandort Nummer eins machen können. Herzlichen Dank fürs Zuhören. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht die Kollegin Annette Widmann-Mauz.

Annette Widmann-Mauz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003259, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Hovermann, dass Sie zum jetzigen Zeitpunkt noch von milliardenschweren Einsparpotenzialen in der GKV sprechen, ist natürlich vor dem Hintergrund verständlich, dass Sie im Zuge der Haushaltsplanberatungen 2001 milliardenschwere Steinbruchpotenziale, zum Beispiel die beabsichtigten Einsparungen bei den Beiträgen der Arbeitslosenhilfebezieher, brauchen, was aber in Zukunft nicht zu einem wirklich guten und fundierten Gesundheitssystem beitragen wird. Das, was Sie hier dargestellt haben, ist sehr verräterisch. ({0}) Ist Deutschland zweitklassig? Als ob es nicht schon schlimm genug wäre: Nicht nur im Fußball sind wir grottenschlecht. Nein, laut WHO-Bericht sind wir auch noch im Gesundheitswesen weit abgeschlagen. Anders unser Nachbar Frankreich: Er ist der aktuelle Fußballweltmeister, spielt um die Europameisterschaft und hat gemäß dem Gesundheitsbericht der WHO das beste Gesundheitssystem der Welt. Italien liegt an zweiter und Spanien an dritter Stelle. - Auch die haben übrigens gute Fußballmannschaften. - Deutschland liegt hinter Zypern auf Platz 25. Da müssen wir uns schon fragen: Was ist denn da eigentlich passiert? Sicher, über die Methode dieser Studie lässt sich im Einzelnen streiten. Da wird so mancher Apfel mit einer Birne verglichen. Dennoch liegt unterm Strich erstmals ein internationaler Vergleichsmaßstab vor, den wir durchaus ernst nehmen sollten; denn darin steckt eine ganze Menge an politischer Brisanz. Ich möchte einen Punkt hervorheben: Wenn die Regierungsfraktionen hier sagen, dies sei entweder das Ergebnis einer langfristig verfehlten Politik der heutigen Opposition oder wissenschaftlicher Unfug, dann haben sie den Bericht aus meiner Sicht nicht aufmerksam gelesen. Der Bericht betont nämlich, Deutschland sei im Bereich FairEike Maria Hovermann ness of Financial Contribution mit führend. Das heißt, wir haben eines der sozial gerechtesten Gesundheitssysteme der Welt. Genau das wird von Gro Harlem Brundtland ausdrücklich gewürdigt. Noch nach dem Bundestagswahlkampf haben Sie Gift und Galle gespuckt und von Sozialabbau, sozialer Kälte, Unanständigkeit in der Politik usw. geredet. Natürlich war das, was Sie damals geredet haben, alles Unsinn. Dennoch haben Sie ohne Not eine „Kehrwende“ in der Gesundheitspolitik verkünden müssen und ein gesundheitliches Chaos geschaffen. Die Reduzierung von Zuzahlungen und die Rücknahme von angeblichen Leistungsausgrenzungen sollten - so war Ihr Anspruch - den Solidargedanken in der gesetzlichen Krankenversicherung stärken, ohne die Beitragssätze zu erhöhen. Doch heute ist das Gegenteil festzustellen: Jetzt fehlt das Geld und Sie flickschustern mit Finanzsteuerung und Budgets herum. Die Vergangenheit hat doch gezeigt auch die Gegenwart macht es wieder deutlich -, dass Budgets zu Rationierung und zur Kürzung medizinischer Leistungen führen. Ihr Festhalten an Budgets führt in unserem Land in die Zwei-Klassen-Medizin. ({1}) Teure Behandlungen werden zum Privileg derer, die sich diese Behandlungen finanziell leisten können. ({2}) - Kollegin Schmidt-Zadel, ich werde das gleich noch weiter ausführen. Budgets sind keine adäquate Antwort auf die Herausforderungen der Zukunft: auf die demographische Entwicklung, den medizinischen Fortschritt und die steigende Erwartungshaltung der Menschen. Dort, wo Deutschland laut WHO richtig gut ist, bei der sozialen Gerechtigkeit, vermurksen Sie die Dinge. Dort aber, wo objektiv Reformbedarf besteht, kommen Sie nicht zu Potte bzw. verschärfen die Probleme. Ihre dirigistische Budgetierungspolitik vermindert die Effizienz unseres Gesundheitssystems. Genau das beklagt der WHO-Bericht. In der Praxis sieht das dann folgendermaßen aus - es wäre schon gut, wenn Sie mir zuhörten, Frau SchmidtZadel, zumal Sie vorhin deutlich gemacht haben, dass Sie diesen Bericht noch nicht ganz verstanden haben -: ({3}) Bei der Therapie der multiplen Sklerose, bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder bei Antirheumatika gibt es ganz neue, hoch innovative Präparate, die zugleich effizient und schonend sind. Leider werden diese Arzneimittel nur sehr selten verschrieben, weil sie teuer und die Budgets ausgeschöpft sind. Diese Bundesregierung verlagert mit ihrer Politik, ob sie es will oder nicht, das Morbiditätsrisiko auf den Arzt und der Patient ist am Ende der Dumme. ({4}) In letzter Konsequenz werden ihm diese Mittel vorenthalten. Was die WHO am deutschen System bemängelt, wird von Rot-Grün geradezu kultiviert. Wenn Sie so weitermachen, werden wir beim nächsten Ranking auf Platz 87 stehen. Wir brauchen leistungsfähige Strukturen, um die Fairness in unserem Gesundheitswesen zu erhalten. Die Teilhabe aller am medizinischen Fortschritt darf keine Frage des Geldbeutels werden. ({5}) Die Beitragseinnahmen der Krankenversicherung werden mit den durch die steigende Nachfrage verursachten Kosten nicht Schritt halten. Bei begrenztem Finanzbudget kann es keine unbegrenzten Leistungen geben. Wir brauchen mehr Flexibilität und Wahlfreiheit. Kernleistungen müssen solidarisch finanziert werden, Wahlleistungen durch gestärkte Eigenverantwortung subsidiarisiert werden. ({6}) Wir brauchen Wettbewerb und Solidarität. Wir brauchen einen fairen Sozialstaat. Wir brauchen eine neue Politik für eine neue Zeit. Unsere Diskussionspunkte, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegen seit letzter Woche auf dem Tisch. Wir haben vorgelegt. Jetzt ist es an Ihnen nachzulegen. ({7})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für Bündnis 90/Die Grünen spricht nun die Kollegin Katrin Göring-Eckhardt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sollten aufhören, von Fußball zu reden. Das Ausscheiden der deutschen Mannschaft hat uns alle ins Mark getroffen; es ist sicherlich sehr schmerzhaft für uns. ({0}) Wir sollten diese Debatte auf die Gesundheit beschränken und allenfalls über die Prävention diskutieren, die durch den Breitensport erreicht wird. Wenn wir heute über den WHO-Bericht sprechen, gibt uns das zumindest Gelegenheit, von der alltäglichen Diskussion über Detailfragen abzugehen und einmal einen globalen Blick auf das Gesundheitssystem im Kontext zu richten. Dieser Report bewirkt, dass wir uns Gedanken darüber machen, wo wir mit unserem Gesundheitssystem im internationalen Vergleich stehen, woran wir uns zu messen haben. Er gibt uns natürlich auch Gelegenheit, darüber nachzudenken, welche Kriterien zugrunde gelegt wurden. Dass wir darauf künftig Einfluss nehmen, halte ich für selbstverständlich. Bei der Bewertung des Gesundheitssystems insgesamt erreicht Deutschland nur Platz 25. Das kann uns eigentlich nur anspornen, das System in Deutschland weiter zu verbessern. Ich glaube, da sind wir auf dem richtigen Weg. Sehen wir uns einmal die Werte im Einzelnen an: Bezüglich des allgemeinen Gesundheitszustandes steht Deutschland mit Platz 41 auf dem ungünstigsten Platz. Bei dem Maß, das die Gleichheit der Überlebenswahrscheinlichkeit von Kindern misst, wird uns nur Platz 22 zugewiesen. - An dieser Stelle nur ein Beispiel dafür, wo diese Bundesregierung Maßnahmen ergriffen hat - dieser Bericht bezieht sich ja auf Ihre Regierungszeit -: Mit dem Programm „Umwelt und Gesundheit“ setzen wir bei dem Gesundheitszustand von Kindern an. Ich nenne als Stichwort nur die Messung der Grenzwerte im Umweltbereich in Kindernasenhöhe. Wir haben Maßnahmen ergriffen, die zu einer deutlichen Verbesserung des Gesundheitszustandes führen. - Bei der Bewertung der Erreichung von Gesundheitszielen liegt Deutschland sehr viel weiter vorne, nämlich auf Platz 14. Für mich ist es sehr erfreulich - da stimme ich Ihnen zu, Frau Widmann-Mauz -, dass wir bei der Bewertung der Gerechtigkeit der finanziellen Lastenverteilung mit Platz 6 bis 7 ganz gut abschneiden. Auch bezüglich der Akzeptanz des Systems in Deutschland haben wir einen guten Platz. Das kann nur Indiz dafür sein, dass von dem, was insbesondere Sie, Herr Thomae, hier gerade vorgetragen haben, also von einer Rationierung der Leistungen, keine Rede sein kann. Für uns ist die Akzeptanz des Systems ein wichtiger Wert, den wir erhalten wollen. Das heißt aber auch, dass es Veränderungen im System geben muss, damit die damit verbundenen Werte der Solidarität und der Gerechtigkeit erhalten bleiben können. ({1}) Fazit kann also nur sein: Im deutschen Gesundheitssystem besteht weiterhin Handlungsbedarf, was die Verbesserung der medizinischen Leistungen, der Transparenz und der Selbstbestimmung angeht. Es war und bleibt richtig, das System zu reformieren. ({2}) Weiterhin wird deutlich, dass wir trotz hoher Ausgaben für Gesundheit nicht diejenigen sind, die im internationalen Vergleich am längsten leben oder am gesündesten sind. Ich möchte noch auf die Ziele und Schlussfolgerungen des Reports näher eingehen. Der Report hat sich ein hohes Ziel gesetzt, nämlich weltweit alle Gesundheitssysteme anhand bestimmter Indikatoren zu vergleichen. Viele haben gesagt, dass die Erhebung der Daten möglicherweise unzureichend und die Methoden der Datenerfassung verbesserungswürdig seien. Trotzdem will ich Ihnen kurz sagen, welche Intentionen des Reports ich für richtig halte. Der Report hat zum Ziel, die gesundheitliche Versorgung in der ganzen Welt zu verbessern; die Ziele eines Gesundheitssystems sollen klarer erkennbar werden. Im Rahmen der Verbesserung der Gesundheit geht es eben nicht nur um die Bewahrung der individuellen Gesundheit, sondern wird auch danach gefragt, wie viel die Menschen dafür zahlen und was sie dafür bekommen. Nach Ansicht der WHO betrifft das nicht nur das Niveau und die Menge der Versorgung. Innerhalb des Systems sollen auch Ungleichheiten reduziert werden: Diejenigen, denen es am schlechtesten geht, dürfen nicht von Armut bedroht sein, wenn sie krank werden. Obwohl weltweit viel Geld für das Gesundheitssystem ausgegeben wird, werden die Potenziale, so auch in Deutschland, nicht genutzt. Auch darf ein Gesundheitssystem nicht allein die Gesundheit der Bürger im Blick haben. Es muss im Fall der Krankheit ebenso vor Armut schützen. Gerade in den armen Ländern stellt das ein besonderes Problem dar. Die Verwaltung des Gesundheitssystems - auch das ist eine Frage, über die wir weiter nachdenken sollten - muss mit Augenmaß betrieben werden, ohne auf einem Auge blind oder zu engstirnig zu sein. All diesen Zielen kann ich nur zustimmen. Wir sind uns der Verantwortung bewusst, ein Gesundheitssystem auf hohem Niveau festschreiben und es trotzdem finanzierbar halten zu müssen. Ich glaube, dass die Politik dieser Regierung in einigem mit den Zielen dieses Reports übereinstimmt, wenn auch nur auf nationaler Ebene. Wie in dem Bericht angesprochen, geht es nicht allein um den technischen und medizinischen Fortschritt, sondern auch um die Zufriedenheit und das Gefühl der Aufgehobenheit der Bürgerinnen und Bürger. Ich glaube, dass wir da auf einem guten Weg sind. Wir hoffen und gehen davon aus, dass wir in dem nächsten Bericht der WHO weiter nach vorne rücken, dass wir die Qualität des Systems in Deutschland verbessern, dass wir Solidarität mit Eigenverantwortung verbinden, Belastungen und Leistungen in ein vernünftiges Verhältnis setzen und dass das große Vertrauen, das das Gesundheitssystem in Deutschland genießt, weiter Maßstab für Politik bleibt, so wie das seit Übernahme dieser Regierung der Fall ist. Vielen Dank. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion der PDS spricht der Kollege Dr. Ilja Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren auf der Tribüne! Ich bin schon ein bisschen verwundert: Da legt eine angesehene internationale Organisation einen Bericht vor, in dem das Gesundheitssystem der Bundesrepublik Deutschland nicht besonders gut abschneidet; aber anstatt in sich zu gehen und ein bisschen selbstkritisch zu sein, zeigt man - mit Ausnahme der Kollegin Göring-Eckardt; da klang das wenigstens etwas an - mit dem Finger auf das Bewertungssystem der WHO, als wenn diese der Bundesrepublik Böses wollte. Das Gesundheitswesen ist doch - das sollte man sich immer mal wieder vor Augen halten - einer der Bereiche, in denen betriebswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Rechnungen auf jeden Fall in die Irre führen. Leider kann man sich aber des Eindruckes nicht erwehren, dass auch die jetzige Regierung ihr Handeln in diesem Bereich regelKatrin Dagmar Göring-Eckardt mäßig an diesem Maßstab ausrichtet. Und es gibt noch mehr Bereiche, in denen betriebswirtschaftliche Rechnungen nicht funktionieren: Kultur, Bildung, Wissenschaft, Wohnen, Sport usw. Wenn man schon über Kosten redet, muss zumindest die gesamtgesellschaftliche Sichtweise in den Blick genommen, muss eine volkswirtschaftliche Rechnung aufgemacht werden. Dabei geht es um die Frage: Was kostet es, wenn so viele Menschen krank werden - weil sie keine Arbeit haben oder weil sie, wenn sie Arbeit haben, unter einem übermäßigen physischen oder psychischen Druck stehen? Ich habe immer noch die Illusion, dass es im Gesundheitswesen eigentlich um Menschen geht, die sich nicht wohl fühlen: die krank sind, die ärztlicher oder pflegerischer Hilfe bedürfen. Geredet wird aber ständig nur über Geld, bestenfalls über Versicherungen. Wo bleiben denn da die kranken Menschen? Dann ein Wort zu den Ärztinnen und Ärzten: Sie können sich - das bringt unser System mit sich; deswegen ist es kritikwürdig - nicht ausschließlich oder wenigstens vorrangig ihren Patientinnen und Patienten widmen. Sie sind in erster Linie freie Unternehmer, wobei die Betonung nicht auf „frei“, sondern auf „Unternehmer“ liegt. ({0}) Statt sich darum kümmern zu können, wie sie kranke Menschen gesund machen können, müssen sie, um des eigenen Überlebens willen, sehen, wie sie Geld hereinbekommen. Wenn das nicht kritikwürdig ist! Es ist schon mehrfach gesagt worden: Unser Gesundheitssystem ist - bei all dem Positiven, das zu erbringen es in der Lage ist - nicht nur für die Akutbehandlung da. Bei der Vor- und Nachsorge ist noch allerhand zu tun. In diesem Bereich könnte man durchaus auf Erfahrungen zurückgreifen, die man zum Beispiel in der DDR gesammelt hat. Ich erinnere nur an die Dispensairebetreuung und den Bereich der Vorsorge. Dann haben wir zum Beispiel die unglaubliche Spaltung in ganz viele Kranken- und Pflegekassen, die auch noch unterschiedliche Angebote haben. Dies bringt jede Menge Probleme für diejenigen mit sich, die die Leistungen brauchen; denn die Kassen können sich nicht darüber einigen, wer denn nun zahlt. Wenn das nicht kritikwürdig ist! Für ausländische Menschen ist es wirklich völlig egal, ob bei uns die Pflege- und die Gesundheitskassen getrennt sind oder nicht. Für diese ist das Gesamtsystem wichtig. Hier sieht man, dass Probleme einfach erfunden worden sind - hausgemacht -, die wir nicht haben müssten und die wir auch nicht brauchen. Dann haben wir ein „wunderbares“ System, das unheimlich viel Geld kostet, nämlich das Gutachter-System. Ich nenne es immer Schlechtachter-System; aber wer möchte das schon akzeptieren? Angeblich ist es dafür geschaffen worden, Leistungsmissbrauch zu verhindern. Ich kann mich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass es häufig dazu da ist, Patientinnen und Patienten zu drangsalieren. Ich sage auch, wie ich das meine: Es kann nicht sein, dass eine Gynäkologin zu einem querschnittsgelähmten jungen Mann kommt und beurteilt, in welche Pflegestufe er einzuordnen ist. Wenn dies ein Gutachten sein soll, ist das in meinen Augen eine Fehlentwicklung. Letzte Bemerkung: Ich habe am Anfang gesagt, dass ich mich darüber wundere, dass Sie die WHO wegen ihrer Kriterien kritisieren. Es gibt in Genf eine deutsche Vertretung bei der WHO mit hoch motivierten, sehr engagierten Menschen. Der Ausschuss für Gesundheit, zumindest ein Teil davon, war dort. Was haben uns die Menschen dort gesagt? Sie fühlen sich im Stich gelassen, sie fühlen sich nicht in Anspruch genommen. Sie möchten gerne ihre großen und weltweit gewonnenen Erfahrungen auch für das deutsche Gesundheitswesen nutzen. Leider greift auch die neue Regierung viel zu wenig darauf zurück. Ich bitte Sie, das zu ändern. Wenn wir mit diesem Bericht selbstkritisch umgehen, kann vielleicht das eintreten, was sich hier verschiedene Kolleginnen und Kollegen gewünscht haben, nämlich dass wir beim nächsten Mal besser dastehen. Wir sollten aber nicht nur besser dastehen, sondern es sollte auch wirklich besser sein. Darum geht es doch! Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion gebe ich dem Kollegen Götz-Peter Lohmann das Wort. ({0})

Götz Peter Lohmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003175, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte zu Beginn auf die Eingangsäußerungen des geschätzten Kollegen Dr. Seifert reagieren. Ich persönlich empfinde es nicht als Widerspruch, wenn man auf der einen Seite die Kriterien kritisiert - ich persönlich tue das auch mit dem einen oder anderen Kriterium, so bei dem Kriterium, über welches ich reden werde -, und auf der anderen Seite für diese Untersuchung, für diesen Report dankbar ist. Ich sehe jedenfalls keinen Widerspruch darin, wie es bei Ihnen jetzt anklang. Vielleicht habe ich Sie auch falsch verstanden, aber ich bitte Sie, meine Meinung zu akzeptieren. ({0}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie werden es sicher verstehen, dass ich, der ich gleichzeitig Mitglied im Gesundheits- und im Sportausschuss bin, mir in diesem Report zuallererst den Bereich der Prävention und Rehabilitation herausgesucht habe. Ich habe in der Leistungsziffer „Performance on Health Level“ den Bereich gefunden, den man in etwa als direkten Beitrag des Gesundheitswesens zur gesunden, beschwerdefreien Lebenserwartung bezeichnen könnte. Genau bei dieser ja nicht unwesentlichen medizinischen Leistungsziffer erhält Deutschland die Kollegin Göring-Eckardt hat schon darauf hingewiesen - den schlechtesten Platz, den Platz 41. Über diese Beurteilung bin ich dennoch nicht erschrocken; vielmehr bin ich für die Zukunft zuversichtlich und optimistisch. Warum? Wir haben damit begonnen, in § 20 SGB V - im Gesetz zur GKV-Gesundheitsreform einige Änderungen und Neuerungen gerade auf dem Gebiet der Prävention und Selbsthilfe einzubringen. Es macht Sinn, die beiden entscheidenden Absätze zu zitieren, wenngleich hier bis auf wenige Ausnahmen weitgehend Fachleute sitzen. In Absatz 1 heißt es: Leistungen zur Primärprävention sollen den allgemeinen Gesundheitszustand verbessern und insbesondere einen Beitrag zur Verhinderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen erbringen. Es soll genug sein. Übrigens gibt es auch Kritiker und Spötter des Gesundheitswesens ganz allgemein. Sie finden diese generelle Bezeichnung etwas irreführend; denn eigentlich beschäftigt sich dieser Bereich ja erst mit den Menschen, wenn sie krank sind. Mir ist der Bereich der Prävention, Selbsthilfe und Rehabilitation ungeheuer wichtig. Ich, der ich selbst in den 90er-Jahren auf dem Gebiet der Prävention gearbeitet habe, denke immer noch daran zurück, wie deprimierend es für mich war, als - ich glaube, es war 1995 oder 1996 - im Gesundheitswesen mit der Prävention Schluss war, als die Kassen aufgehört haben, dafür zu bezahlen. Ich konnte das schwer nachvollziehen. Aber es war so; das ist nicht zu leugnen. Dennoch stimmt es mich für die Zukunft optimistisch. Warum? Leider ist es zur Zeit in der Praxis noch nicht so, dass die Leistungen der Prävention so, wie es im Gesetz steht, gehandhabt oder angewendet werden. Das liegt zum großen Teil daran, dass die Krankenkassen zum Beispiel zurzeit mit dem Deutschen Sportbund verhandeln. Die spezifischen Maßnahmen müssen von den Spitzenverbänden der Krankenkassen hinsichtlich Qualität und Wirksamkeit anerkannt werden. ({1}) Ich kenne die Kritik meines hochgeschätzten Namensvetters aus der CDU/CSU-Fraktion gegenüber der Prävention. Ich stimme darin sogar mit ihm überein. Es muss alles durch Kriterien abgesichert sein. ({2}) Da gab es in der Vergangenheit auch Missbrauch. Wir hoffen, dass diesem Missbrauch durch die Forderungen nach ganz konkreten Kriterien und Leistungskatalogen ein Riegel vorgeschoben wird. Ich weiß zum Beispiel vom Deutschen Sportbund, dass er von den Krankenkassen mit harten Leistungsanforderungen und einem Katalog in die Mangel genommen wird, weil dieser Missbrauch verhindert werden soll. Unstrittig ist - Sie werden mir diesen Vorwurf nachsehen -, dass gerade Sportvereine und Sportverbände aufgrund ihrer Erfahrungen und ihrer Strukturen geeignete Anbieter von qualifizierten primärpräventiven Bewegungsangeboten sein können. Wir wollen mit einem Gesundheitssiegel arbeiten. Ich finde, der organisierte Sport ist nicht ausschließlich, aber doch in besonderer Weise dazu geeignet, für die Gesundheitsförderung, für die Prävention etwas zu tun. ({3}) Mein Wunsch ist, dass sich die Krankenkassen und die Anbieter möglichst schnell einigen, wenn es geht, noch in diesem Jahr. Es gibt da einige Probleme. ({4}) - Gut, nicht mit allen Krankenkassen. Es gibt Unterschiede. Ich weiß, dass es zum Beispiel zwischen der IKK und dem DSB Probleme gibt. In einigen Bundesländern läuft die Sache aber schon ganz gut. Es ist unser Ziel, auf diesem Gebiet mit den Selbsthilfeorganisationen Rehabilitation und Prävention zu erreichen. Wenn uns das gelingt, wenn die im Gesetz fixierten Vorhaben hinsichtlich Prävention und Rehabilitation in Zukunft in der Praxis realisiert werden, wird unser Gesundheitswesen - davon bin ich fest überzeugt - vom Rang 41 im eingangs erwähnten Bereich herunterkommen bzw. einen vorderen Platz einnehmen.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Das war eigentlich ein guter Schlusssatz, Herr Kollege. ({0})

Götz Peter Lohmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003175, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gut. Vielen Dank.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich gebe nun für die CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Dr. Hans Georg Faust das Wort.

Dr. Hans Georg Faust (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003114, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Als Arzt, der in den letzten 25 Jahren in einem deutschen Krankenhaus gearbeitet hat, bin ich davon überzeugt: Wir haben in Deutschland ein gutes Gesundheitssystem. ({0}) Die WHO-Studie kann zu einem objektiven internationalen Vergleich trotz des Umfangs und vieler Details nur teilweise etwas beitragen. Die Fragen an die Methodik, die gestellt wurden, sollten uns aus meiner Sicht aber nicht dazu verleiten, den gesamten Bericht in einer Art nationalem Beleidigtsein als komplett unbrauchbar abzutun. Ich hatte auch nicht den Eindruck, dass das heute so passiert ist. Ich denke, wir sollten noch einmal nachschauen, was für eine hohe Qualität im deutschen Gesundheitssystem spricht. Dazu gibt es in der Tat schon Untersuchungen. Götz-Peter Lohmann ({1}) Nach Professor Schwarz sind es der hohe und umfassende Versicherungsgrad der Bevölkerung - das kommt teilweise auch in dem WHO-Bericht zum Tragen -, der weitgehend einkommensunabhängige Zugang zu Leistungen, die hohen Dichteziffern von Ärzten, Krankenhausbetten, Geräten, Arznei- und Heilmittelverfügbarkeit, die auch Kritik auslösen, die hohen Forschungsausgaben für Gesundheitstechnologien und ein sehr günstiger Platz bei der Sterblichkeit unter der Geburt, die diese hohe Qualität ausmachen. Unsere Patienten sind nach den Umfragen mit unserem System zufrieden. Das System der gesetzlichen Krankenversicherung, der frei wählbaren Haus- und Fachärzte, der gut erreichbaren Krankenhäuser und der funktionierenden Rettungsdienste hat ihr Vertrauen und gibt ihnen Sicherheit. Wenn man die Aussagen der Studie der WHO näher betrachtet - behutsam und offen für einzelne Ergebnisse -, wird man feststellen, dass sie sich mit den Untersuchungen anderer Wissenschaftler decken. Es gibt Hinweise darauf, dass die Qualität im bundesdeutschen Gesundheitswesen in der Tat optimiert werden kann; Indikatoren dafür sind ein mittlerer Platz in der Lebenserwartung der Bevölkerung in den OECD-Staaten und ein mittlerer internationaler Platz bei der versorgungsbedingten Frühsterblichkeit an der Volkskrankheit Herzinfarkt. Die Fachleute kennen zum Beispiel die MONICA-Studie. Ich spreche bewusst von einer Optimierung; denn unser austariertes und zerbrechliches Gesundheitssystem verträgt keine Erschütterung und keine Rosskuren, schon gar nicht solche, denen es mit dem GVK-Solidaritätsstärkungsgesetz und dem Gesundheitsreformgesetz 2000 ausgesetzt war. Die dort festgeschriebenen Maßnahmen, die Budgetierung und der Feldzug gegen die Krankenhäuser mit monistischer Krankenhausfinanzierung sowie Planung der Krankenhausversorgung in Kassenhand verschlechtern die Versorgung im ambulanten und stationären Bereich und das können und dürfen wir unseren Patienten nicht zumuten. Maßnahmen wie die integrierte, sektorenübergreifende Versorgung und die Regelungen zum Qualitätsmanagement sind zwar gut gemeint; sie sind aber überreguliert, kompliziert und in der jetzigen Form nicht umsetzbar. Neue Ausschüsse, neue Rahmenvereinbarungen sowie neue Berechnungen von Risiken und Morbiditäten machen das System zunehmend komplizierter und schnüren es immer weiter in seinen Paragraphenfesseln ein, sodass es bald nicht mehr atmen kann. Im ambulanten Bereich - das ist angesprochen worden - führt die Budgetierung zu erheblichen Versorgungsdefiziten von chronisch kranken Patienten mit hohem Arzneimittelbedarf. Im Bereich der Krankenhäuser zeigt sich die nächste gefährliche - ich möchte fast sagen: katastrophale - Entwicklung: die Art und Weise, wie das pauschalierende Entgeltsystem eingeführt wird. Frau Staatssekretärin, ich spreche hier nicht gegen ein neues Entgeltsystem an sich. Ich spreche dagegen, dass dieses Entgeltsystem als scharfes Preissystem von Anfang an eingeführt werden soll und dass zumindest im Gesetzestext über das budgetneutrale Jahr 2003 hinaus keine Übergangsfristen vorgesehen sind. Wenn man weiß, dass nach Expertenschätzungen die Verschiebungen von der Verlierer- auf die Gewinnerseite 10 bis 15 Milliarden DM verursachen, wobei auf das deutsche Krankenhaussystem insgesamt als Kostenblock 100 Milliarden DM entfallen, dann wird einem die Tragweite dieser radikalen Operation deutlich. Ich möchte es an einem Bild veranschaulichen: Die Bombe ist scharf gemacht, die Zeituhr ist eingestellt und tickt. Kein anderes Land in der Welt hat ein derart scharfes Preissystem in dieser Art und Weise eingeführt und wir wissen nicht einmal, wie unsere vielfältige bundesdeutsche Krankenhauslandschaft mit ihren eigenen individuellen Fallmischungen mit Zu- und Abschlägen, mit ihren unterschiedlichen Trägerschaften, mit unterschiedlichen Versorgungsaufträgen bei der weiteren Ausgestaltung Berücksichtigung finden soll. Das soll in diesen kurzen Zeiträumen erst noch verhandelt werden. Ich sehe voraus, dass die Entwicklung zumindest in den Flächenländern zulasten der kleinen Akutkrankenhäuser in kommunaler und frei-gemeinnütziger Trägerschaft gehen wird. Frau Staatssekretärin, das ist keine Optimierung der Qualität, das ist aus meiner Sicht der Versuch des Abbaus von Krankenhausbetten auf kaltem ökonomischen Weg, nachdem der Monistikfeldzug gescheitert ist. ({2}) Kein Gesundheitssystem ist so gut, dass es sich nicht noch optimieren ließe; kein System kann aber auch so gut sein, dass es ohne Schaden für die Patienten politische Fehldiagnosen und Fehlbehandlungen verträgt. Die Politik der Budgetierung, der verdeckten Rationierung, der Regulierung und des Dirigismus darf nicht fortgesetzt werden. Das deutsche Gesundheitssystem muss vielmehr behutsam auf den Weg von Flexiblisierung und Vertragsfreiheit gebracht werden. Wenn das nicht bald geschieht, landen wir vielleicht wirklich mit unserem Gesundheitssystem im Weltvergleich auf einem objektiven Platz 25. Dafür zahlen unsere Versicherten die hohen Beiträge nicht. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die SPD-Fraktion gebe ich das Wort der Kollegin Helga Kühn-Mengel.

Helga Kühn-Mengel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003010, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Weitere Anreden verkneife ich mir. Dass Herr Dr. Bauer uns mit „liebe Genossinnen und Genossen“ angesprochen hat, führt dazu, dass einer von uns beiden aus seiner Partei austreten wird. Frau Widmann-Mauz, Sie möchte ich ansprechen, weil Sie diese Debatte ja auch genutzt haben, um hier einen Rundumschlag gegen die Gesundheitspolitik der Regierung zu beginnen. ({0}) Ich möchte Ihnen noch einmal sagen, dass sich dieser Bericht der WHO auf die Zahlen von 1997 und 1999 bezieht. In Ihrer Kritik findet eine Vermischung der Zahlen aus den beiden Jahren statt. Sie sollten aber so ehrlich sein zu sagen, dass mit dieser Studie eben auch Ihre Gesundheitspolitik bewertet wurde. Ich kann mich gut an die Studie der OECD zu Ihrer Regierungszeit von CDU/CSU und F.D.P. erinnern. In der damaligen Studie wurde ganz deutlich darauf hingewiesen, dass es in unserem Gesundheitssystem erhebliche Wirtschaftlichkeitsreserven gab und sich demgegenüber auch ein Mangel an Effizienz zeigte. Ich möchte auch daran erinnern, dass wir mit unserem Vorschaltgesetz viele falsche Faktoren Ihrer Politik korrigiert haben. Wir haben die Zuzahlung zurückgenommen, wir haben die chronisch Kranken deutlich entlastet, ({1}) wir haben die Kostenübernahme für den Zahnersatz für Jugendliche, die nach 1978 geboren sind, wieder eingeführt, und wir haben in der Folgezeit nicht nur ganz wichtige Akzente gesetzt, sondern Weichenstellungen vorgenommen, ({2}) nämlich die Qualitätssicherung, die evidenzbasierte Medizin betont, die Prävention, die Selbsthilfe gestärkt und die Gesundheitsförderung als wichtiges Ziel eingeführt. ({3}) Die Kriterien der vorliegenden Studie bestärken uns eigentlich darin, dass der Weg, den wir beschritten haben, richtig ist. Wenn ich das Bild vom Fußball, das der Kollege Pfaff und auch andere bemüht haben, aufgreife, kann ich sagen, dass unser Gesundheitssystem in der Tat einiges mit unserer Nationalelf gemeinsam hat. ({4}) Wir können nämlich sagen, dass die teuersten Trainer, die meisten Therapeuten und die längste Reservebank noch nicht dazu führen, dass man einen Pokal holt. ({5}) Das heißt, die Forderung nach immer mehr Geld, nach weiteren Budgeterhöhungen, nach Öffnung und nach Abschaffung der Budgets ist ganz ausdrücklich nicht der richtige Weg. Das zeigen auch Beispiele etwa aus den USA. Einige Kollegen waren gemeinsam mit mir in den USA und haben die Einrichtungen dort gesehen. Wir alle haben doch hinterher gesagt: Das möchten wir nicht: das teuerste Gesundheitssystem, die Aushebelung des Solidargedankens, unglaubliche Kosten bei gleichzeitigem Ausschluss von mindestens 40 Millionen Menschen. ({6}) Wenn Amerikaner und Amerikanerinnen sich in dieser Studie zufrieden mit ihrem System äußern, dann - das ist meine Hypothese - hat man bestimmte Gruppen nicht oder nicht ausreichend befragt. Grund für Ausgrenzung und Verschuldung ist dort ganz häufig eine chronische Krankheit in der Familie. Das wollen wir ganz sicher nicht. Neben all der methodischen und fachlichen Kritik, die an dieser Studie angebracht werden kann, ist es richtig, dass wir uns dennoch mit den dort angesprochenen Punkten in differenzierter Weise auseinander setzen. Es gibt in unserem Gesundheitssystem bei aller Betonung der Stärken eben auch Schwächen. Die hat die rotgrüne Politik aufgegriffen und verändert. Die Probleme sind bekannt. Ich sage aber noch einmal: Die Probleme haben auch etwas mit der Misswirtschaft in 16 Jahren davor zu tun. Deshalb haben wir einiges politisch korrigiert, und wir wollen dies noch weiter tun. Natürlich ist unser Gesundheitssystem teilweise zu einem medizinisch-bürokratischen Apparat geworden, der auch einseitig Leistungserbringer und Kostenträger im Fokus hat. Natürlich ist auch das Gespür für die Bedürfnisse der Patienten und Patientinnen verloren gegangen. Deswegen haben wir im Rahmen unserer Gesundheitsreform auch die Patientenrechte gestärkt. Das ist doch ein ganz wichtiger Punkt. Natürlich ist es richtig, dass chronisch Kranke nicht immer optimal behandelt werden. Aber es ist genauso richtig, festzustellen, dass es in unserem System Fehlversorgung und auch Überversorgung gibt. Die Beispiele sind doch hinreichend bekannt: So werden bei uns Linksherzkatheter zweieinhalbmal so oft eingesetzt. Das wissen wir doch aus den USA. Die Amerikaner fragen uns beispielsweise: Warum habt ihr eigentlich Angst vor Atomkraftwerken? Ihr werdet bei Röntgenuntersuchungen doch noch und nöcher bestrahlt. Es gibt viele andere Beispiele, die hier schon oft dargestellt worden sind. Die WHO-Studie - wir können es auch positiv sehen gibt Hinweise darauf, dass das Preis-Leistungs-Verhältnis in unserem System nicht stimmt und verbessert werden muss. ({7}) Damit setzen wir uns auseinander. Jedenfalls garantiert das Nachschießen von Geldern noch nicht die Verbesserung der Qualität. Auf diese Aussage müssten wir uns doch einigen können. Wir haben mit der Gesundheitsreform den Weg - ich sage es noch einmal - für mehr Qualität, für mehr Prävention, für eine auf Evidenz basierende Medizin und für die Datenzusammenführung, an der wir noch arbeiten, frei gemacht. Wir haben einen Koordinierungsausschuss eingesetzt, der in Zukunft festlegen wird, um welche Inhalte und um welche Standards es in Bezug auf die Qualität geht. Dieser Ausschuss wird alle zwei Jahre einen Bericht vorlegen, auf dessen Grundlage wir erkennen können, wo in der Bundesrepublik Deutschland vor allem in der Gesundheitspolitik noch gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht. Vielen Dank. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion gebe ich das Wort dem Kollegen Aribert Wolf.

Aribert Wolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003269, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Natürlich kann man über die Aussagekraft jeder Studie streiten, auch über die des Ranking der WHO-Studie. Aber so einfach, wie Sie es sich machen - für das Unangenehme in der Studie ist die Union verantwortlich; für das Angenehme sind Sie verantwortlich -, darf man es sich auch nicht machen. Das entspricht wohl auch nicht der Wirklichkeit. ({0}) Fest steht ebenfalls, dass es in unserem bundesdeutschen Gesundheitswesen sehr wohl Probleme gibt und dass dringender politischer Handlungsbedarf besteht. Wenn wir im Deutschen Bundestag nicht einfach nur nett über eine Studie plaudern, sondern uns ernsthaft mit politischen Fragen beschäftigen wollen, dann müssen wir fragen: Wo ist eigentlich das Konzept der Bundesregierung, in dem dargelegt wird, wie das deutsche Gesundheitswesen wieder fit für die neuen Herausforderungen gemacht werden kann? Darüber würden wir hier liebend gern debattieren. ({1}) Aber leider gibt es keine Konzepte aus dem Hause Fischer. Über nichts kann man schlecht reden. Statt Antworten auf die großen Fragen des Gesundheitswesens zu geben, verstrickt sich die Ministerin in Kleinigkeiten oder - um im Bild zu bleiben -: Im Haus frisst der Schwamm an den Grundmauern und Rot-Grün streicht die Fenster. Diese rot-grüne Konzeptlosigkeit fällt auch der Öffentlichkeit auf. So möchte ich aus der Ausgabe der „Rheinischen Post“ von vor fünf Tagen zitieren: Zugleich erweckt die auf der ganzen Linie gescheiterte Bundesministerin Andrea Fischer ({2}) den Eindruck, als könne es unter dem Zwangsdeckel begrenzter Budgets unbegrenzte Leistungen geben. Sie wollen uns doch nicht weismachen, dass das bisschen Herumgemurkse mit dem GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz und mit dem GKV-2000-Gesetz alles gewesen sein soll, was Sie in der Gesundheitspolitik bis zum Ende der Legislaturperiode bieten wollen. Viele Leistungserbringer sind frustriert und demotiviert. Sie sind durch den täglichen Kampf mit den rot-grünen Budgets und mit der überbordenden Abrechungsbürokratie zermürbt. Wer heute wirtschaftlich einigermaßen über die Runden kommen will, der hat immer weniger Zeit für den Patienten. Erst heute Vormittag gab es hier in Berlin eine Veranstaltung des Bündnisses für Gesundheit, auf der es wieder überdeutlich geworden ist. Sie müssen die Anreize eigentlich genau andersherum setzen: mehr Zeit für den Patienten, weniger Zeit für abrechnungstechnische Pirouetten. ({3}) Nicht nur die Leistungserbringer sind frustriert. In Gesprächen mit Patienten und Versicherten häufen sich die Aussagen, dass es Untersuchungen, Medikamente, ärztliche und zahnärztliche Leistungen immer öfter nur noch gegen Barzahlung gebe. Das Schlimmste ist, dass inzwischen auch schon die Versicherten resigniert haben und sich kaum mehr beschweren oder protestieren; vielmehr fügen sich viele in dieses System der heimlichen Zuzahlungen, bei dem es weder Härtefallregelungen noch eine Sozialklausel gibt. Auch das ist die traurige Wirklichkeit nach eineinhalb Jahren rot-grüner Gesundheitspolitik. ({4}) Da wundert sich der Kanzler noch, dass SPD und Grüne bei Umfragen immer weiter an Boden verlieren. Mich wundert auch nicht, dass die gesetzlichen Krankenkassen, in denen fast 90 Prozent unserer Bundesbürger versichert sind, seit dem Amtsantritt dieser Bundesregierung einen massiven Ansehensverlust hinnehmen müssen und von vielen nur noch als etwas Dritt- und Viertklassiges empfunden werden. Das müsste uns alle in der Seele schmerzen; dem können wir doch nicht tatenlos zusehen. Die Ministerin müsste jetzt eigentlich lange genug im Amt sein, um die Denkphase abgeschlossen zu haben; sie müsste nun endlich handeln. Auch die Krankenkassen rennen uns die Bude ein und fragen: Wo bleibt die versprochene Organisationsreform? Ist Frau Fischer im Kabinett wirklich so schwach, dass sie nicht verhindern kann, dass andere rot-grüne Minister, wie Herr Eichel und Herr Riester, die gesetzliche Krankenversicherung ganz ungeniert als Steinbruch für ihre Haushaltslöcher nutzen. Warum lässt sie es zu, dass ab dem nächsten Jahr der Krankenversicherung und damit der Krankenbehandlung - jährlich wiederkehrend - 1,2 Milliarden DM Finanzmittel durch die Absenkung der Beitragsbemessungsgrundlage bei der Arbeitslosenversicherung entzogen werden? ({5}) Einem Herrn Seehofer wäre das unter Garantie nicht passiert. ({6}) Was muss eigentlich noch geschehen, bis diese Ministerin einsieht, dass sie mit dem Aufgabenfeld Gesundheit restlos überfordert ist? Man kann ihr eigentlich nur raten, es nicht so zu machen wie Erich Ribbeck, nämlich zu warten, bis auch noch der letzte Zuschauer auf der Tribüne pfeift, um erst dann die Konsequenzen zu ziehen. Die Ministerin sollte sich und uns dieses Pfeifkonzert und diesem Land eine hilflos dahinstolpernde Gesundheitspolitik ersparen. Im Gegensatz zu Rot-Grün haben wir von der Union unsere Rezepte auf den Tisch gelegt: ({7}) weniger Budgetierung und staatliche Reglementierung, dafür mehr Transparenz für die Patienten, mehr Eigenverantwortung für die Versicherten bzw. für die Selbstverwaltung und mehr Wahlmöglichkeiten für alle. Das sind die Mittel, mit denen unser Gesundheitswesen wieder an die Weltspitze kommt. Das - nicht dieses stümperhafte Dahinstolpern - ist es, was die Gesundheitspolitik in den nächsten Jahren braucht. Vielen Dank. ({8})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Als letzte Rednerin in dieser Aktuellen Stunde spricht nun für Bündnis 90/Die Grünen Monika Knoche.

Monika Knoche (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002701, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Herren und Damen! Das eigentliche Thema war ja die WHO-Studie. Herr Wolf, gestatten Sie mir folgende Bemerkung - Sie haben aus Ihren Reihen so viel Beifall bekommen -: Ich habe den Eindruck gehabt, dass bei Ihnen in den vergangenen anderthalb Jahren ein bisschen Teilamnesie im Spiel ist. ({0}) Ich weiß noch sehr gut, wie viel Raubbau bei den gesetzlichen Kassen durch Verschiebebahnhöfe betrieben worden ist. In der Tat kann es keine dauerhafte Lösung sein, die Einnahmebasis vor dem Hintergrund der zu lösenden Probleme zu schmälern. ({1}) Ich habe es immer gern, dass man sich auf die Sache bezieht, wegen der die Aktuelle Stunde einberufen worden ist. Wir haben in vielen Beiträgen gehört, dass es Bereiche gibt, die von der WHO sehr positiv bewertet worden sind. Ein herausragender Bereich, der in seiner Bedeutung bitte nicht unterschätzt werden soll, besteht darin, dass wir ein hohes Maß an Verteilungsgerechtigkeit, an allgemeiner Zugänglichkeit haben. Die Bevölkerung fühlt sich von diesem Solidarsystem angesprochen. Das, meine sehr geehrten Kollegen und Kolleginnen von der CDU/CSU, haben wir in der Tat einem Prinzip zu verdanken, mit dem die rot-grüne Regierung nicht brechen will und nicht brechen wird, nämlich dem der solidarischen, paritätisch finanzierten Krankenversorgung. ({2}) Wenn Sie jetzt in die moderne Attitüde verfallen und permanent von Wahl- und Regelleistungen sprechen, dann werden Sie in die Ungleichheit der Zugänglichkeit einsteigen, dann werden Sie genau diese wirklich sehr wertvollen Errungenschaften, die wir in diesem Land haben, zur Disposition stellen. Diese Bewertung wird nicht einmal die WHO, selbst wenn sie nach anderen Kriterien entscheiden wird, einer Gesundheitspolitik noch aussprechen können. Dessen bin ich mir ganz sicher. Wenn wir uns der Modernität bewusst sind, das heißt, wenn wir uns der hohen Garantie für Zugänglichkeit, für Freiheit, für Gerechtigkeit unseres Gesundheitswesens bewusst sind, ({3}) dann werden wir es auf der stabilen Basis, auf der es seit 100 Jahren besteht, erhalten und fortführen können. Dass wir uns, wie hier angeregt worden ist, über die Aktuelle Stunde hinaus im Gesundheitsausschuss mit der Studie näher befassen, wobei diese aber erst übersetzt werden muss, damit wir sie auch in den Details bewerten können, scheint mir interessant zu werden. Auch ich halte es für gerechtfertigt, dass wir uns das, wie es die WHO getan hat, mit einem Helikopterblick anschauen, um genau zu erkennen, welche Lösungen andere Industriestaaten oder auch sonstige andere Staaten mit vergleichbaren Systemen gefunden haben. Dabei dürfen wir natürlich nicht vergessen, dass es schon in Europa, aber vor allem weltweit kulturell bedingt ein sehr unterschiedliches Verständnis von Krankheiten und einen unterschiedlichen Umgang mit Befindlichkeitsstörungen gibt. Von daher ist es sicherlich ein sehr, sehr anspruchsvolles Unterfangen, die Systeme und die Versorgungszufriedenheit der Bevölkerung in den einzelnen Ländern miteinander zu vergleichen. Nichtsdestotrotz sollten wir dies versuchen und die Einrichtungen der WHO für unsere Arbeit nutzen. Dabei denke ich an Fragestellungen, die wir als rot-grüne Bundesregierung übrigens jetzt gerade angehen. Wir wissen beispielsweise um das Defizit im Zusammenhang mit der Frage, wie Männer und Frauen im System behandelt werden. In einer Großen Anfrage, die wir gerade erarbeiten, geht es darum, wie wissenschaftlich geklärt werden kann, in welcher Weise die gesundheitliche Versorgung von Frauen auf dem bestehenden sehr hohen Gesamtniveau der Vorsorgung im Geschlechtervergleich gerechter gestaltet werden kann. ({4}) Wir haben ein Programm zum Thema „Umwelt und Gesundheit“ auf den Weg gebracht, in dem wir insbesondere die Gesundheitsbelastung von Kindern durch die Ausflüsse der Industriestaaten hervorheben. Das ist eine Herausforderung, der wir uns stellen müssen. Dabei geht es aber auch darum zu klären, was in diesem Rahmen präventiv getan werden kann, das heißt, was getan werden kann, um den Schutz vor Krankheiten und die Sorge für die Gesundheit künftiger Generationen sicherzustellen. Das erschöpft sich nicht nur in Messwerten. Auch andere Politikerinnen und Politiker neben mir wissen, dass wir uns die Sterblichkeitsrate bei Kindern näher anschauen müssen. Dazu habe ich einen Gedanken, der in diesem Zusammenhang von Bedeutung sein kann. Wir wissen, dass wir mit der Perinatologie hervorragende Leistungen anbieten können. Wir können frühestgeborene Kinder wirklich in einem hohen Maße gesund am Leben erhalten; aber wir haben die höchste Rate von tödlichen Verkehrsunfällen mit Kindern in Europa. Das verweist daAribert Wolf rauf, dass wir hinsichtlich der Anforderungen, die durch die WHO formuliert worden sind, interdisziplinär beraten und handeln müssen und das wollen wir als rot-grüne Bundesregierung tun. Ich meine also, dass wir gut beraten sind, wenn wir uns den Fragestellungen, die die WHO aufgeworfen hat, auch im Gesundheitsausschuss widmen, das heißt, wenn wir diese Fragestellungen in unsere weitere Arbeit aufnehmen. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b sowie den Zusatzpunkt 9 auf: 7. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Börnsen ({0}), Gunnar Uldall, Dr. Bernd Protzner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Initiative zur Stärkung der Ostseeregion - Drucksache 14/3293 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ({1}) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss b) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Chancen der Ostseekooperation nutzen - Drucksache 14/3587 Beschlussfassung ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, Jürgen Koppelin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Für eine kohärente Ostseepolitik - Drucksache 14/3675 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst dem Kollegen Franz Thönnes für die SPD-Fraktion das Wort.

Franz Thönnes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002818, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Aus der Historie ist Folgendes überliefert: Bereits im Jahre 1261 räumte Birger Jarl, Reichskanzler des Königs Eric Ericson und angeblicher Gründer Stockholms, den „fürsichtigen und besonderen Männern Vogt, Rat und Gemeinde zu Hamburg“ auf deren Bitte hin vertraglich das Recht ein, dass … wir eure Bürger, die mit ihren Waren in unser Land kommen, an dem gleichen Vorrecht des Friedens und der Zollfreiheit teilhaben lassen mochten, wie ihr sie unseren Leuten in euren Mauern verstattet ... Darüber hinaus sollt ihr wissen: Wenn jemand von den Eurigen bei uns durch Schiffbruch Schaden läuft, so darf jeder bei dem Schiffbruch Beteiligte ohne Beschwerde das wieder in Besitz nehmen, was er von seinen Sachen herausholen und retten kann. Mag aus heutiger Sicht diese Geste vielleicht etwas sarkastisch klingen, so ist sie jedoch - weit vor der Blütezeit der Hanse - Ausdruck der handels- und sicherheitspolitischen Bedeutung guter Beziehungen an den Ufern des Mare Balticum. In den letzten Jahren findet rund um dieses Meer ein nahezu beispielloser Prozess in der Geschichte Europas statt. In keiner anderen Region unseres Kontinents wird so erfolgreich demonstriert, wie unabhängige Nationen, wie Staaten in unterschiedlichen Bündnissen, wie Länder mit unterschiedlichem Entwicklungsstand friedlich miteinander kooperieren, ja, wie Europa zusammenwächst. ({0}) Für uns alle ist es von daher eine Verpflichtung, diesen Prozess fortzusetzen. Das Gipfeltreffen der Regierungschefs aus den nördlichen EU-Ländern Dänemark, Finnland und Schweden auf Einladung von Gerhard Schröder Anfang dieses Jahres in Kiel, der erste Antrittsbesuch des norwegischen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg im April in Deutschland, der Besuch des Bundeskanzlers zur Eröffnung der Willy-Brandt-Ausstellung und zur Gründung der norwegisch-deutschen Willy-Brandt-Stiftung im Mai in Oslo, der erstmalige Staatsbesuch eines deutschen Regierungschefs in diesem Monat in den Ländern des Baltikums, in Estland, Lettland und Litauen, all das zeigt: Es ist gut für Europa, es ist gut für den Norden, es ist gut für Deutschland, dass es nun einen Bundeskanzler gibt, der so eindrucksvoll deutlich macht, ({1}) dass die jetzige Bundesregierung die Ostseeregion und die mit ihr verbundenen Chancen der Zusammenarbeit für Deutschland ganz weit oben auf der politischen Tagesordnung angesiedelt hat. ({2}) Die Philosophie ist und bleibt richtig. Ostseekooperation war und ist das richtige Konzept in der neuen Zeit. Will man sich das Tempo und die Bedeutung der Entwicklung für Deutschland vor Augen führen, bedarf es nur der Nennung zweier Daten: Als die EWG gegründet wurde, gehörte gerade einmal die Küste Schleswig-Holsteins zu ihren Grenzen. In wenigen Jahren werden die politische Union und der EU-Binnenmarkt knapp 95 Prozent der Küstenlinie der Ostsee umfassen. Die Ostsee wird zum EU-Binnenmeer. Sie trennt nicht mehr. Die Ostsee verbindet. Heute bereits exportiert Deutschland mehr Güter und Dienstleistungen in die Ostseeregion als in die Vereinigten Staaten und Japan zusammen. Im Rahmen der Neuorientierung des Außenhandels gehen heute bereits von Estland 80 Prozent, von Lettland 75 Prozent und von Litauen 60 Prozent des Exports in die Ostseeregion. Die neuen Bauwerke über das Meer im Norden sind Ausdruck sich festigender Verbindungen. Die Öresund-Region wird sich nicht mit Oslo, Stockholm oder Helsinki, sondern mit Warschau und Berlin messen - eine Herausforderung, der wir uns stellen sollten. Ostseepolitik ist auch immer Friedenspolitik gewesen. Noch nie hatte die EU wie jetzt mit der 1 300 Kilometer langen Grenze Finnlands solch eine direkte Nachbarschaft zu Russland. Die Initiative Finnlands aus dem Jahr 1997 zur „Entwicklung der nördlichen Dimension der EU“ beschreibt den Gestaltungsraum der Union im Norden und sie macht ebenso deutlich: Ohne Russland kann es keine stabile Neuordnung Europas geben. ({3}) Deutschland übernimmt nun erstmals am 1. Juli dieses Jahres den Vorsitz im Ostseerat. Wir sind stolz darauf, dass nun ein deutscher Kanzler gemeinsam mit dem Außenminister den Vorsitz hat, der daran arbeitet, dass eine Vision Realität wird: Die Vision von der Ostsee als Region einer blühenden, friedlichen und freundschaftlichen Zusammenarbeit der Länder im Norden Europas. Wir alle spüren, wie uns dazu die Länder des Nordens die Hände reichen: Schweden hat einen „Advisory Council for Baltic Sea Cooperation“ eingesetzt und investiert umfangreich in die Ostseearbeit. Norwegen hat seine „Tysklandstrategi“ entwickelt, um die Beziehungen zwischen unseren Ländern zu vertiefen. Finnlands „Nordic Dimension“ hatte ich bereits erwähnt. Die Länder im Baltikum und in Polen haben ihre Anstrengungen, um den Erweiterungsprozess der EU zügig voranzubringen, verstärkt. Der Ostseerat ist das wirksame Forum von EU-Mitgliedsländern, EU-Beitrittskandidaten und Nichtmitgliedstaaten; in ihm finden sich Nationen unterschiedlicher Sicherheits- und Bündnissysteme wieder. Deutschland hat die Möglichkeit, zu einer treibenden Kraft im Ostseeraum zu werden und mit dazu beizutragen, dass der friedliche Prozess und das Konzept der Regionsbildung im Norden vorangebracht werden kann und dass der Erweiterungs- und Vertiefungsprozess in der Europäischen Union zügiger vorangeht. Die Ostsee verbindet. Verbindungen benötigen Stützpfeiler. Der wichtigste Pfeiler sind die Menschen. Deswegen kommt es darauf an, Bedingungen für die Beschäftigung und für das lebenslange Lernen sowie die Lebensbedingungen zu verbessern und die Nachhaltigkeit in einer lebenswerten Region weiterzuentwickeln. Stabilität durch Kooperation bleibt der zweitwichtigste Pfeiler. Ohne eine stabile Ostseeregion, ohne die Einbeziehung Russlands gibt es kein stabiles Gesamteuropa. Dazu gehört auch die Einbeziehung Kaliningrads. Ein wesentlicher weiterer Pfeiler sind Kultur und Wissenschaft. Beides sind Angebote und Gelegenheiten für vertrauensbildende Maßnahmen. Bestehende Netzwerke sind hier weiterzuentwickeln. In diesem Sinne rege ich im Rahmen der Jugendbegegnung und ihrer Stärkung die Gründung eines Ostseejugendwerkes an. Fundament hierfür könnte das bereits gemeinsam von Finnland und Schweden getragene Ostseejugendsekretariat in Kiel sein. Unsere Zukunft im Norden ist die Jugend. Geben wir ihr noch mehr die Möglichkeit der Begegnung und der Zusammenarbeit! Geben wir ihr die Gelegenheit, mit gegenseitiger Toleranz ihre eigene Zukunft in der Ostseeregion zu gestalten! ({4}) Der estnische Dichter Uku Masing hat einmal formuliert: Kleine Völker haben schon deshalb einen weiten Horizont, weil sie an der Existenz der anderen nicht vorbeikommen. Diesen Satz kann man auch umkehren: Große Völker haben schon deshalb einen engeren Horizont, weil sie die Existenz der anderen manchmal leichtfertig übersehen. Vor diesem Risiko sollten wir uns bewahren und daher die Chancen der Ostseekooperation offensiv nutzen! ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Wolfgang Börnsen.

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Franz, das war eine sehr sachbezogene Regierungsrede. Ich finde, dass es der Aspekt der Jugendförderung im Ostseeraum verdient, herausgehoben zu werden. Aber trotzdem möchte ich ein wenig Wasser in den Wein gießen, weil nicht alle Blütenträume so reifen. Die deutsche Bundesregierung hat bisher verpasst, klare und sachbezogene Positionen für eine Ostseepolitik im 21. Jahrhundert zu formulieren. ({0}) Während man vor 1998 noch von einer offensiven Ostseepolitik sprechen konnte, sind derzeit nationale Ansätze nicht mehr erkennbar. Weder im Koalitionsvertrag noch in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers hat die Wachstumsregion Ostsee ihren Niederschlag gefunden. Bis heute liegt kein Zukunftskonzept „Ostsee“ vor. Aufgrund der Erfordernisse von Sicherheit, Einheit, Arbeit und Wohlstand ist die bisher praktizierte passive Ostseepolitik eine verpasste Chance. Die Bundesregierung hätte gut daran getan, an die aktive Ostseepolitik der 90erJahre anzuknüpfen. Sollte dies konzeptionell, klar und konsequent geschehen, wird sie auch durch die Union darin unterstützt. Trotz meiner grundsätzlichen Kritik anerkenne ich den kürzlich erfolgten Besuch von Bundeskanzler Schröder in den drei baltischen Staaten. Auch wenn man dort bitter enttäuscht gewesen ist, weil kein Zeitpunkt für den EUBeitritt genannt wurde, so kann man doch sagen, dass eine Kanzlervisite überfällig war. Ich hätte mir gewünscht, dass Helmut Kohl trotz der Drohvorbehalte Russlands ebenso verfahren wäre. ({1}) Mit unserer Großen Anfrage zur Zukunft des Wirtschaftsraums Ostsee, eingebracht am 1. Dezember 1999, und mit unserem Antrag zur Stärkung der Ostseeregion vom 9. Mai stellen CDU und CSU klar, dass es uns darum geht, den Norden wieder nach Berlin zu holen. Als Parlamentarier beklage und kritisiere ich, dass nach sieben Monaten die Bundesregierung immer noch nicht in der Lage ist, eine Antwort auf unsere Große Anfrage bezüglich der Ostsee zu geben. Über ein halbes Jahr ist bereits vergangen. Verantwortlich dafür ist der Bundesaußenminister. Dies ist ein unglaublicher Vorgang. ({2}) Jetzt unmittelbar vor Beginn des deutschen Vorsitzes im Ostseerat am 1. Juli gibt es ein erstes, zweieinhalb Seiten starkes Papier aus Berlin. Dieser Fünf-Punkte-Katalog wurde von Außenminister Fischer im norwegischen Bergen beim Treffen der Fachminister in der vergangenen Woche lieblos vorgelesen. Im Schnelldurchgang wurden die zehn Außenminister der Ostseeanrainer von Fischer unterrichtet. Dann hat er sich - wie meine skandinavischen Freunde und die Freunde von Franz mitteilten - lässig in den Sessel gesetzt und gelangweilt geschwiegen. Zwischen Frühstück und Mittag war er dort. Dann verabschiedete sich der Berliner Repräsentant bereits und ließ nach diesem Kurzauftritt die erstaunten Kollegen mit der Aufarbeitung der Ostseezukunftsprobleme allein. Eine Herzensangelegenheit scheint dem Hessen der Ostseerat nicht gewesen zu sein. Seine Abwesenheit heute bei einem außenpolitischen Thema ist ein deutliches Zeichen für die Nichtbeachtung dieser Problematik. ({3}) Dabei enthält die Aktionsstudie durchaus Brisanz. Wie soll der Energieverbund um die Ostsee aussehen? Mit oder ohne Russland? Haben der Autoverkehr oder der Seeverkehr bei der vorgesehenen Verkehrsplanung Vorrang? Welchen Stellenwert nimmt die Fehmarnbelt-Querung ein? Macht sie weitere Verkehrsinvestitionen in Jütland und dem Norden Schleswig-Holsteins überflüssig, oder gibt es eine neue Projektierung? Nach welchen Kriterien wird die neue Liste „Regionale Projekte“ erstellt? Trifft es zu, dass Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein darin keine Berücksichtigung mehr finden? Mit heißer Nadel, so Beobachter der Bergen-Konferenz, ist am Ostseenetz genäht worden. Deutschland muss mit mehr Seriosität nachlegen, damit es nicht zu einem Flickenteppich kommt. Dabei kann dieser Wachstumsraum in Europa weltweit zu einem Motor für neue Entwicklungen und Wohlstand werden. Er ist ein einzigartiger wirtschaftlicher, kultureller und politischer Modellraum, der einer kraftvollen und konzeptionellen Politikbeachtung durch Deutschland bedarf. Doch auch zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges ist die Großregion in Lebenserwartung, Wirtschaftskraft, Kapitalausstattung und Umweltstandards zwischen West und Ost geteilt. Gemessen am europäischen Bruttoinlandsprodukt sind die östlichen Staaten arme Länder. Im Mittel der Jahre 1995 bis 1997 betrug in Lettland der Anteil je Einwohner 25 Prozent des durchschnittlichen europäischen Wohlstands und in Polen 35 Prozent. Insgesamt haben die EU-Bewerber 75 Prozent weniger als der Durchschnitt der westeuropäischen Staaten, also nur ein Viertel unseres Wohlstandes, und dies bei einem sozialen Standard, der noch weit entfernt von dem des Westens ist. Doch trotz aller Schwächen werden bereits jetzt in der Ostseeregion gut 6 Prozent des Welthandels erwirtschaftet, rund 100 Milliarden Dollar jährlich. Experten schätzen die regionalen Wachstumschancen in der nächsten Dekade auf bis zu 250 Prozent. Entscheidend für diese positive Entwicklung ist jedoch, ob und wie die gezielten und erfolgreichen Initiativen der 90er-Jahre mit Beginn des neuen Jahrhunderts fortgesetzt werden. Dabei liegt Deutschlands Zukunftsmarkt direkt vor unserer Haustür. Unsere Exporte nach Dänemark betrugen 1999 16,5 Milliarden DM, nach Schweden 22 Milliarden DM, nach Norwegen 7,6 Milliarden DM, nach Finnland 11 Milliarden DM, nach Polen 24 Milliarden DM. Auch für die baltischen Staaten sind wir der Haupthandelspartner. Damit gehen 9,6 Prozent des deutschen Exportes oder - anders gesagt - jede zehnte Mark in den Ostseeraum. Nur gegenüber den USA gibt es eine vergleichbare Exportleistung mit knapp 100 Milliarden DM. Wir profitieren von den Ostseeanrainern, diese aber auch von uns. Durchschnittlich 10 Milliarden DM beträgt deren Ausfuhr in die Bundesrepublik. Wir sind deren größter Exportmarkt. Als gemessen an der Einwohnerzahl größtes, als wirtschaftlich stärkstes Land, als Brückenland zu Mitteleuropa haben wir für diese Region eine besondere Verantwortung. Ein florierender Handel festigt den Ostseeraum und stabilisiert gleichzeitig bei uns Wirtschaft, Gewerbe und Arbeitsplätze. Doch das Regierungsdefizit an Ostsee-Engagement nimmt eher zu als ab. Das zweieinhalbseitige Positionspapier zum deutschen Ratsvorsitz geht punktuell die Ostseeproblematik an, ist aber kein Signal für ein ökonomisches, ökologisches, soziales und kulturelles Ostseeregion-Netzwerk. Die englische Fassung enthält keine Aussage zur militärischen Sicherheitslage, weder Hinweis noch Unterstützung zu der nachdrücklich geäußerten Absicht der baltischen Staaten, endlich Mitglied der NATO zu werden. Auch fehlt im Ansatz jede Zeitkonkretisierung eines sehnlich erwünschten EU-Beitritts von Estland, Lettland, Litauen und Polen. Eine Osterweiterung hier ist ein echter Baustein für den Frieden. ({4}) Wolfgang Börnsen ({5}) Schließlich wird die Finanzierung von gemeinsamen Ostseevorhaben ganz ausgeklammert, auch die Problematik, dass keines der bisher praktizierten sechs Brüsseler Förderprogramme ostseeumspannende Aktivitäten möglich macht. Brisant wird dieser in Bergen vorgebrachte Beleg bundesdeutscher Nordpolitik durch seine Auslegung, die Joschka Fischer im Ansatz und die Sie, Frau Simonis, in einem Namensartikel im „Flensburger Tageblatt“ sehr viel deutlicher formulierten. Ich zitiere: Hat zu Beginn der Arbeit des Ostseerates die Außenpolitik das Geschehen bestimmt, wird Ostseekooperation inzwischen mehr zur Gesellschaftspolitik. Und zur Regionalpolitik. Nein, da sind die anderen Ostseeanrainer anderer Auffassung. Eine Degradierung der Anliegen von elf Staaten auf die Ebene der Regionalpolitik - nach der Devise: Berlin raus, Kiel rein - nimmt dieser Großregion ihre Bedeutung. ({6}) Besonders der elfte Ostseepartner, Russland, macht die politische Dimension dieses Raumes offensichtlich. Die Ostseekooperation bedeutet für den Nordwesten Russlands die Möglichkeit, durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit das Entstehen neuer Trennungslinien in Europa zu verhindern. Kaliningrad, Königsberg, bietet sich dafür an. Doch Brückenbauer müssen die Außenminister bleiben. Alles andere würde dem Ansehen Deutschlands schaden. ({7}) Die Gründung des Ostseerates vor zehn Jahren, an der der damalige dänische Außenminister Ellemann-Jensen, Hans-Dietrich Genscher und Helmut Kohl ebenso besonderen Anteil haben wie Carl Bildt aus Schweden, war die Schlüsselentscheidung für die umfassende Entwicklung dieser Großregion. Ministerpräsident Björn Engholm hat damals eine Renaissance des Hansegedankens propagiert. Dieser Gedanke war Ausgangspunkt für die Bildung des Rates. Die in diesem Raum geleistete zehnjährige Aufbauarbeit ist grandios. Die Ostsee als Meer ist nachweisbar sauberer und gesünder geworden, neue Transportbrücken wie die über den Großen Belt und den Öresund haben Entfernungen radikal verringert, der Handel hat sich mehr als verdoppelt. Den Nichtregierungsorganisationen - vom Ostseeverbund der Handelskammern unter Kieler Präsidentschaft über Städtepartnerschaften bis zur Schaffung des „Baltic Sea Trade Union Network“ durch die Gewerkschaften gilt es für diesen Einsatz zu danken. Über 70 die Ostseeanrainer erfassende Organisationen gehören dazu, getragen von Idealen, daran orientiert, hier ein beispielhaftes Friedens- und Kooperationsmodell zu schaffen. Aber solange Armut und Arbeitslosigkeit als sozialer Sprengstoff im östlichen Teil der Ostseeregion nicht ausgeräumt sind, solange das Monatseinkommen in Litauen 450 DM und nicht 4 500 DM wie in den Westländern beträgt, solange Schleuser und Schmuggler zur Steigerung der Kriminalität beitragen, solange NATO-Sicherheit und EU-Mitgliedschaft nicht für alle gelten, herrscht Handlungszwang. Wir brauchen ein Ostseekonzept für dieses Jahrhundert. Hier hat die deutsche Politik anzusetzen. Die großen historischen Herausforderungen des Ostseeraums sind jedoch nicht allein durch Direktiven „von oben“ zu meistern. Städte, Regionen, Wirtschaftsverbände und private Initiativen sind zu fördern, der Prozess des Zusammenwachsens ist „von unten“ dauerhaft zu stärken. Hier hat die Landesregierung von Schleswig-Holstein, besonders durch Minister a. D. Gerd Walter, hilfreiche Anstöße gegeben. Auch die Anregung der Kieler CDU-Landtagsfraktion, ein alle Ostseeländer umspannendes Schul- und Jugendwerk einzurichten, die ähnlich der Idee meines Vorredners ist, ist anzuerkennen und aufzugreifen. In der Ostseeregion ist ein weltweit bedeutender Motor für Wachstum und Wohlstand angesprungen. Jetzt gilt es, seine Taktfrequenz zu verfestigen und die Drehzahl zu erhöhen. Dazu bedarf es eines übergreifenden politischen Leitbildes, einer Ostseeoffensive auf allen Ebenen. ({8}) Pfeiler müssen sein, dazu beizutragen, dass die politische Stabilität in den jungen Demokratien gesichert wird, dass die EU sich stärker in dieser Region engagiert und umfassende Programme vorstellt und dass der deutsche Beitrag für die Ostseeregion sich auch an dem orientieren sollte, was die Schweden praktizieren. Die Schweden haben extra 1 Milliarde Schwedenkronen für die Ostsee gesichert. Wie hier ein neuer Akzent gesetzt und eine Ausweitung gestaltet wird, sollte auch der Bundesrepublik ein Beispiel sein. ({9}) Wir haben in diesem Raum 300 verschiedene Universitäten und Hochschulen konzentriert. Das ist mit die größte Konzentration kultureller, wissenschaftlicher und bildungsorientierter Art. Es gilt, ein Netzwerk zu schaffen, um diese Konzentration für ganz Europa und für die ganze Welt nutzbar zu machen. Ein letzter Punkt. Ich glaube sehr wohl, dass gerade im Umweltschutz im Rahmen der Helcom-Liste und im Rahmen von Baltic 21 eine Vielzahl an fördernden Aktivitäten in Gang gesetzt worden sind, die zu Ende geführt werden müssen. Doch ich glaube, dass dafür die Voraussetzung sein muss, eine seriöse Ostseepolitik zu betreiben, und zwar auch durch den Herrn Außenminister, der heute wieder fehlt. Frau Simonis, Sie haben wohl die missglückte BergenMaßnahme des Außenministers vorausgesehen, als Sie vor dem Treffen in Norwegen veröffentlichten, dass Sie von der Bundesregierung einen kraftvollen Ratsvorsitz erwarten. Einem politischen Luftikus, verehrte Frau Ministerpräsidentin, kann man nicht mehr auf die Sprünge helfen. Danke schön. ({10}) Wolfgang Börnsen ({11})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Angelika Beer.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Börnsen, Sie selber haben es soeben zugegeben: Jahrelang war die Bundesrepublik Deutschland politisch sehr weit weg von der Ostsee. Die rot-grüne Regierung unter Federführung des Kanzlers aber hat die Ostseekooperation auf ihre Agenda gesetzt. Sie wissen sehr gut, dass heute mehrere Staatsbesuche stattfinden und der Außenminister nicht bei jeder Debatte anwesend sein kann. Ich freue mich auf den nicht minder wichtigen Beitrag von Staatsminister Zöpel, der die Position der Bundesregierung darstellen wird. Die rot-grüne Regierung in Schleswig-Holstein unter Heide Simonis hat - auch das ist Ihnen bekannt; das freut mich natürlich als schleswig-holsteinische Bundestagsabgeordnete ganz besonders - sich von Anfang an für die Ostseekooperation eingesetzt und neue Initiativen, politisches Engagement und Bewegung in die Kooperation hineingetragen. Die Europäische Union ist ein wichtiger Akteur in der Ostseepolitik geworden. Wir begrüßen, dass sie im letzten Jahr die finnische Initiative der „Nördlichen Dimension“ aufgegriffen und die Erarbeitung eines „Aktionsplanes Nördliche Dimension“ der EU beschlossen hat. Die Übernahme des Vorsitzes im Ostseerat durch Deutschland bietet uns Chancen: Erstens. Wir wollen der Arbeit des Ostseerates mehr Gewicht verleihen und unterstützen das Vorhaben, den Ostseerat als Schirm der gesamten Regierungszusammenarbeit seiner Mitglieder zu konstruieren. Zweitens. Wir wollen den Vorsitz nutzen, um eine weitere Verzahnung der Ostseepolitik mit der Europäischen Union zu erreichen und weitere Synergieeffekte zu erzielen. Dabei ist aus meiner Sicht insbesondere die Einbindung von Nichtregierungsorganisationen ein wichtiges politisches Anliegen. Drittens. Wir wollen eine größere Einbeziehung der EU-Kommission in die Ostseekooperation erreichen und die Kompetenzen für den Ostseeraum übersichtlicher gestalten. Deshalb schlagen wir die Einrichtung eines „Baltic Sea Desk“ vor. Viertens. Im Rahmen dieser Präsidentschaft möchten wir eine besondere Verantwortung wahrnehmen: Die Ostsee war - das haben, so glaube ich, wir alle konstatiert in der Zeit des Ost-West-Gegensatzes räumlich und politisch marginalisiert und die Kooperation zwischen den Anrainerstaaten war durch diesen Konflikt eingeengt. Inzwischen eröffnen sich ganz neue Chancen, da die Ostsee eine Klammer zwischen verschiedenen europäischen Regionen bildet. So kann sie zu einer Region mit eigener Identität werden und dies soll sie auch. Diese Klammerfunktion bekommt dadurch eine besondere Bedeutung, dass nur in der Ostseeregion die beiden Hauptpole der europäischen Entwicklung, nämlich das Europa der Europäischen Union und Russland, aneinander grenzen. Dadurch erhält der ehemalige Gegner und jetzige Partner Russland die Rolle eines wichtigen Akteurs im Rahmen der Ostseekooperation. Deswegen, Herr Kollege Börnsen, ist Ihr nationaler Ansatz, der in Ihrem Antrag deutlich wird, meines Erachtens viel zu kurz gegriffen. Daher werden wir Ihren Antrag ablehnen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in der Ostseeregion sind wir natürlich auch mit Risiken und Problemen konfrontiert; einige von ihnen möchte ich ansprechen. Zwischen den verschiedenen Staaten um die Ostsee herum gibt es ein starkes Wohlstandsgefälle und in einigen Staaten eine sehr hohe Arbeitslosigkeit. Die Differenzen zwischen den politischen Kulturen, der Entwicklung der Zivilgesellschaften und den Möglichkeiten der politischen Mitsprache durch die Bürgerinnen und Bürger erschweren den Dialog und machen ihn zu einer Herausforderung, die sicherlich nicht leicht zu meistern ist. Zum Glück leben in der Region nach wie vor Minderheiten; auch sind neue wie zum Beispiel die russische Minderheit in den baltischen Ländern hinzugekommen. Ferner stehen dringende Fragen des Umweltschutzes auf der Tagesordnung. Die Fragen einer umweltfreundlichen Energieversorgung besonders in den baltischen Ländern und in Nordwestrussland müssen erörtert werden. Als Stichwort nenne ich nur den Bellona-Report und verweise auf die in ihm nachlesbaren Risiken. Aber es gibt auch Chancen in dieser Region, zum Beispiel die Chance, die Instrumente der Prävention weiterzuentwickeln. Gerade nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes haben wir doch die Chance, dass der ehemalige Gegner die Zukunft der Region kooperativ mitgestaltet. Eine besondere Herausforderung ist dabei die Frage der Integration der baltischen Länder sowie Russlands und dessen Exklave Kaliningrad, da zwischen diesen Staaten immer noch Spannungen bestehen. Es wäre fahrlässig, sie zu negieren. Aufgabe der Ostseekooperation ist es, diese Lage ins Konstruktive zu wenden. Das kann nicht mit einer Formel geschehen - das wissen Sie genau, Herr Börnsen -, sondern das bedarf einer politischen Anstrengung über Parteigrenzen hinweg. Dazu kann gerade die EU-Erweiterung beitragen, da sie nicht als Bedrohung wahrgenommen werden kann und darf und sie der wirtschaftlichen Stabilisierung der Region dient. Wir unterstützen die Idee eines „region building“, das ungeachtet des EU-Mitgliedsstatus auf Integration statt auf Ausgrenzung innerhalb der Ostseekooperation setzt. Ziel dieses „region building“ soll es sein, die Ostsee zu einem Modellprojekt des friedlichen Zusammenlebens unter Beachtung zukunftsfähiger ökologischer und ökonomischer gemeinschaftlicher Entwicklung auszubauen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in diesem Zusammenhang müssen wir auch menschenrechtliche Aspekte berücksichtigen. Im Ostseeraum müssen alle Minderheiten respektiert werden und sich frei entfalten können. Ich unterstreiche, dass die organisierte Kriminalität, insbesondere Frauenhandel und Prostitution, bekämpft werden muss. Die Ursachen hierfür liegen oft in sozialen Missständen. Deswegen ist der langfristige Weg, das Wohlstandsgefälle zu beseitigen und zukunftsfähige Arbeitsplätze zu schaffen, sicherlich der richtige Ansatz. Grenzkontrollen allein können diese Probleme nicht lösen. Im Gegenteil: Eine Abschottung nach außen kriminalisiert oft doch gerade diejenigen, die Unterstützung am nötigsten bräuchten, und unterläuft das Bestreben, eine Modellregion aufzubauen, die sich gerade über nationalstaatliche Interessen hinaus definiert. Ganz kurz weise ich auf die Notwendigkeit zukunftsgerichteter Energie- und Verkehrskonzepte hin. In diesem Zusammenhang wird die Abschaltung des Atomkraftwerkes Ignalia in Litauen ein ganz wichtiges Signal sein. Die Bundesregierung hat die Chancen für die Region und die Bedeutung der Region für Europa und für Deutschland erkannt; wir Schleswig-Holsteiner haben diese Bedeutung auch für unser Land erkannt und handeln dementsprechend. Wir werden uns deshalb aktiv am Projekt „Modellregion“ beteiligen. Lassen Sie mich noch die „Nordeuropäische Initiative“ ansprechen. Sie belegt, dass die Amerikaner - dies geht über die europäische Dimension hinaus - eine dauerhafte Stabilität in der Region, die im Rahmen der Ostseekooperation erreicht werden soll, als wichtigen Bestandteil der euroatlantischen Sicherheit ansehen. Wir haben die Chance, dass sich die Ostsee zu einem Meer des Friedens weiterentwickelt. Das Programm der „Nordeuropäischen Initiative“ wird dazu in den nächsten Jahren einen wesentlichen Beitrag leisten; hier ist explizit auch eine Zusammenarbeit mit den NROs vorgesehen. Eine Reduzierung auf den Standort Ostsee und auf Wirtschaftsaspekte, wie sie die CDU/CSU zum Teil - ich sage: zum Teil - vornimmt, ist meines Erachtens viel zu kurz gegriffen, denn zu dieser Region gehört viel mehr. Zu ihr gehören gleichwertig auch die Fortentwicklung von Demokratie und Grundrechten, von Umweltschutz sowie von Frieden und Sicherheit. Diese Elemente sind die Basis für Kooperation, nicht allein der wirtschaftliche Aspekt. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die deutsche Ostseepolitik muss europäische Ostseepolitik sein, sowohl im Handeln als auch im Denken. Ich glaube, hier ist es die Aufgabe der Nationalstaaten, sich an Projekten zu beteiligen und konkrete Politik umzusetzen sowie zivilgesellschaftliche und auf Freiwilligkeit bauende Ansätze zu fördern wie zum Beispiel den Ausbau von Freiwilligendiensten im Rahmen des ökologischen Jahres. ({0}) Noch ganz kurz zu den Kernpunkten unserer Präsidentschaft im Ostseerat im kommenden Jahr: Erstens ist mit dem multilateralen Ansatz des Ostseerates die Kooperation mit der Europäischen Union im Ostseeraum zu ergänzen und dadurch die Umsetzung des Aktionsplanes „Nördliche Dimension“ zu unterstützen. Zweitens ist die Zusammenarbeit der Subregionen und der Zivilgesellschaften zu stärken. Drittens ist bei der Stärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, insbesondere im Rahmen des technologischen Wandels, die hoch entwickelte Informationstechnologie zu nutzen und weiterzuentwickeln. Viertens sind kooperative Ansätze zwischen den baltischen Staaten und Russland mit aller Kraft nach vorn zu bringen und die Ostsee so als Meer des Friedens zu stabilisieren. Dafür treten wir auf Bundes- und auf Landesebene ein. Ihren Anträgen werden wir wegen der Kürze der Formulierung nicht zustimmen können. Wir werden für unseren Antrag stimmen. Vielen Dank. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Jürgen Koppelin von der F.D.P.-Fraktion das Wort.

Dr. h. c. Jürgen Koppelin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001180, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn in einigen Jahren auch die baltischen Staaten Mitglieder der EU werden, gehören 95 Prozent der Küstenlinie der Ostsee zur Europäischen Union. Die Ostsee ist zu einem EU-Binnenmeer geworden. In der Ostseeregion leben über 50 Millionen Menschen. Sie erwirtschaften mehr als ein Viertel der Wirtschaftskraft Europas und etwa ein Drittel aller europäischen Exporte. Deutschland ist wie kaum ein anderer Staat auf die Entwicklung im Ostseeraum unmittelbar angewiesen und von ihr stark betroffen. Mit der Gründung des Ostseerates im Jahr 1992 wurde ein Gremium geschaffen, mit dem eine ökonomische, politische und kulturelle Stärkung der Region erreicht werden soll. Ich darf an dieser Stelle daran erinnern, dass es zwei große Liberale waren, auf die die Initiative zur Gründung des Ostseerates zurückgeht. Es waren der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher und sein dänischer Kollege Uffe Ellemann-Jensen, langjähriger Vorsitzender der europäischen Liberalen. ({0}) Ich will gern die Gelegenheit nutzen, auch dem früheren Außenminister Klaus Kinkel, der heute an dieser Debatte teilnimmt, recht herzlich für sein Engagement in diesem Bereich zu danken. ({1}) Er ist heute hier, ({2}) während wir den Bundesaußenminister vermissen. Die Gründung des Ostseerates, dessen Vorsitz Deutschland jetzt übernimmt, war eine Konsequenz der Beendigung des Ost-West-Konfliktes. Skandinavien und auch Osteuropa richten sich nun stärker auf Deutschland aus. Ich finde, das verpflichtet. Wir müssen und wollen Motor der Ostseepolitik sein. Insofern, Herr Staatsminister, wäre es begrüßenswert gewesen - der Kollege Börnsen hat es bereits für die CDU/CSU gesagt, ich will dies für die F.D.P. tun -, wenn die Bundesregierung in der Lage gewesen wäre, die Großen Anfragen, die zu diesem Bereich vorliegen, bis zu dieser Debatte zu beantworten. ({3}) So schwierig wird es wohl nicht sein, nach so vielen Monaten endlich eine Antwort zu finden. Aber die Sprachlosigkeit der Bundesregierung gerade zu dieser Thematik ist ja bekannt. ({4}) Die Chancen des deutschen Vorsitzes im Ostseerat, um Impulse für die Ostseeregion zu geben, sind vielfältig. Wir benötigen gute Verkehrsverbindungen zwischen Norddeutschland und den skandinavischen Ländern sowie Osteuropa. Der Güter- und Individualverkehr steigt; darauf müssen wir reagieren. Gerade in der Verkehrspolitik hinsichtlich Skandinavien ist über viele Jahre durch rot-grüne Politik - das muss man leider sagen, Frau Ministerpräsidentin - ein Stillstand eingetreten. Der Kollege Börnsen hat es schon angesprochen: Sie haben gestern im „Flensburger Tageblatt“ gesagt: „Ostseepolitik ist heute selbstverständlich.“ An der Politik der Landesregierung, zum Beispiel in der Verkehrspolitik, kann ich das nicht erkennen, in der Kulturpolitik dagegen, angeschoben von Björn Engholm, schon. Ich werde nachher noch auf andere Bereiche eingehen. Während Länder wie Schweden oder Dänemark ihre Hausaufgaben gemacht haben, hat Deutschland nur blockiert. ({5}) Ich darf bei dieser Gelegenheit daran erinnern, dass meine Partei in Schleswig-Holstein schon vor über zehn Jahren die Beltquerung gefordert hat. Erzählen Sie uns doch einmal - Sie haben ja gleich das Wort -, was Ihre Partei noch bis vor kurzem, nämlich bis zur Landtagswahl, gefordert hat! Teile der Grünen sind übrigens noch heute vehement gegen die Beltquerung. Sie wissen ja noch nicht einmal in der Koalition in Schleswig-Holstein, was sie eigentlich genau wollen. Heute habe ich in einer Agenturmeldung gelesen, dass Sie sogar glauben, Schleswig-Holstein sei die treibende Kraft für eine Beltquerung gewesen. Der Mitarbeiter in der Staatskanzlei, der Ihnen das aufgeschrieben hat, muss ganz neu sein; denn das stimmt nun wirklich nicht. ({6}) Die rot-grüne Koalition schreibt in einem Antrag zur heutigen Debatte, dass der Schiene und dem Schiffsverkehr Vorrang einzuräumen sei. Sprechen Sie darüber einmal mit den Vertretern der Ostseeanrainerstaaten; die werden nur den Kopf schütteln, wenn Sie mit dieser Forderung kommen. Frau Ministerpräsidentin, angesichts der Politik für diese Region, die Sie betreiben, muss ich ganz offen sagen: Wenn Sie vor etwas über 100 Jahren regiert hätten, dann gäbe es in Schleswig-Holstein, so vermute ich, nicht einmal den Nord-Ostsee-Kanal. Um neue Arbeitsplätze in der Ostseeregion zu schaffen, muss es zu einer Zusammenarbeit aller Staaten kommen - auch um die EU-Förderprogramme gemeinsam zu nutzen. Der Ostseeraum stellt für die Zukunft eine wirtschaftspolitisch sehr interessante Region dar. Die Chancen wirtschaftlichen Wachstums sind groß; wir müssen sie nutzen. Aber dazu - das will ich noch einmal betonen - reichen Schiene und Schiff alleine nicht aus. Wir sollten den Vorsitz im Ostseerat nutzen, um entschlossener als bisher der grenzüberschreitenden Kriminalität zu begegnen. ({7}) Auch hier gilt: Wenn alle Staaten gemeinsam arbeiten, sind die Erfolgsaussichten wesentlich größer. Die Kollegin Beer hat - das ist als Angehörige der Grünen-Fraktion ja fast ihre Pflicht - das Engagement des Bundesaußenministers in dieser Sache betont. Kollegin Beer, Sie haben zu Recht die Minderheitenpolitik angesprochen. Aber dann bleiben wir auch einmal bei diesem Thema: Ich stelle fest, dass die deutsche Bundesregierung die nationalen Minderheiten nicht fördert. Diese Bundesregierung hat zum Beispiel die Mittel für die deutsche Minderheit in Dänemark erheblich gekürzt und der Bundesaußenminister hat das Generalkonsulat in Apenrade geschlossen. Das ist Ihre Minderheitenpolitik. Ich kann nicht erkennen, dass Sie eine gute Minderheitenpolitik machen. ({8}) Wie wollen Sie das den anderen Minderheiten klarmachen, wenn Sie hier die Mittel kürzen und das Generalkonsulat schließen? Das müssten Sie uns einmal erläutern. Die F.D.P. tritt dafür ein, dass die Zusammenarbeit der Hochschulen im Ostseeraum gestärkt wird. Wir würden es begrüßen, wenn es zu einer Zusammenarbeit aller dortigen Bildungseinrichtungen kommt. ({9}) Aber dazu müssen wir unsere Schularbeiten machen. Dazu gehört, dass wir attraktive Universitäten haben, damit junge Menschen aus Skandinavien zu uns kommen. Frau Ministerpräsidentin, ich weiß nicht, wie Sie diese Attraktivität für Studenten aus Skandinavien sicherstellen wollen, wenn an der Uni in Kiel, wie ich heute in der Zeitung gelesen habe, dank der Politik der rot-grünen Koalition in Schleswig-Holstein 220 Stellen gestrichen werden. Mit dem Vorsitz im Ostseerat hat Deutschland eine große Chance, den Staaten in der Region Ostsee deutlich zu machen, dass die Befürchtungen, die der finnische Ministerpräsident im letzten Jahr ausgesprochen hat, unbegründet sind. Er sagte: Europa ist nicht nur für die großen Länder da. Wir entscheiden am gemeinsamen Tisch, nicht draußen, wo die großen Länder diese Neigung haben, ein Direktorat zu schaffen. Wen hat er wohl gemeint - Dänemark, Luxemburg? Nein, er hat die großen Staaten angesprochen und damit natürlich auch Deutschland gemeint. Werfen wir in diesen Tagen einen Blick nach Dänemark: Dänemark wird im September über die Einführung des Euro abstimmen. Noch vor kurzem war die Stimmung in Dänemark ausgesprochen positiv; für den Euro sprachen sich nach den Umfragen etwa 60 Prozent aus. Jetzt geht die Stimmung in den Keller, nicht weil der Euro so stark gefallen ist, nein, wegen der Haltung der großen Staaten, vor allem der Bundesrepublik Deutschland, in Sachen Österreich. ({10}) Man befürchtet in Dänemark, dass es als Kleinstaat eines Tages genauso behandelt wird wie jetzt Österreich. Kollege Thönnes, das, was Sie zu den kleinen Staaten zitiert haben - Sie können es sich ja noch einmal vornehmen -, trifft auch auf Österreich zu. Das Verhalten der Bundesrepublik gegenüber Österreich war jedenfalls nicht dazu geeignet, in den Staaten der Ostseeregion Sympathie für Europa zu wecken. ({11}) Die Zusammenarbeit im Ostseeraum kann auch für die Menschen in der Region um das ehemalige Königsberg Hoffnung bedeuten. Diese Region muss schon heute Grenzen überwinden, um den Kontakt nach Moskau zu halten. Wie viel schwerer wird dies erst sein, wenn die Region eines Tages von EU-Staaten umgeben ist! Auch deshalb müssen wir alle Möglichkeiten der Zusammenarbeit der Ostseestaaten mit Russland nutzen. Es geht darum, dass Russland über die Ostseezusammenarbeit hinaus in ein Beziehungsgeflecht eingebunden wird. ({12}) Eine gute Zusammenarbeit mit Russland ist nicht nur wichtig für die Staaten in der Ostseeregion, sondern für ganz Europa. Geben wir Deutschen mit dem Vorsitz im Ostseerat neue, starke Impulse zum Wohle aller Menschen für eine bessere Zukunft! Vielen Dank für Ihre Geduld. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Ministerpräsidentin des Landes SchleswigHolstein, Frau Heide Simonis. Heide Simonis, Ministerpräsidentin ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten! Der Bundestag diskutiert heute über die Chancen der Ostseekooperation. Das ist gut so, gibt es uns doch die Möglichkeit, auf die Potenziale in Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Kultur in diesem Raum hinzuweisen, vor allem auch diejenigen, die von ihrer Wohnung aus nicht gerade ihren großen Zeh in die Ostsee halten können. Es gibt viele Symbole, unter anderem die neue Öresundbrücke zwischen Malmö und Kopenhagen, die in zwei Tagen für den Verkehr freigegeben wird. Die inoffizielle Freigabe wurde zu einem viertägigen Volksfest, an dem nach Expertenaussagen 100 000 Menschen teilgenommen haben, unter anderem der Außenminister, der über die Brücke gejoggt ist und mit anderen eine halbe Marathonstrecke zurückgelegt hat, ({1}) sowie Radfahrer und Inlineskater, die die Brücke in Besitz genommen und sich über das Zusammenwachsen der Staaten gefreut haben. Am 1. Juli erfolgt die offizielle Inbetriebnahme dieser Brücke mit 3 000 Ehrengästen aus ganz Europa, die auch alle kommen werden, weil sie die symbolische Bedeutung dieser Brücke begreifen. Dies ist vor allem auf die positive Haltung der Dänen und Schweden zu Europa zurückzuführen. Die Schweden, die sich lange als eine Insel und Europa als Kontinent betrachtet haben, haben sich entschlossen, näher heranzurücken. Die Öresundquere ist Teil eines gigantischen Projektes, das Skandinavien fest mit dem europäischen Kontinent verbinden soll. Man möchte dabei sein und dazugehören. 1998 wurde die Brücke über den Großen Belt zwischen den dänischen Inseln Seeland und Fünen eröffnet. Nun fehlt als letztes großes Teilstück die Fehmarn-Belt-Querung. Wenn das alles so einfach wäre, wie Sie glauben, lieber Herr Koppelin, hätten Sie in den letzten zehn Jahren Ihrer Regierungszeit den ersten Spatenstich machen können. ({2}) So einfach können Brücken und Tunnel zwischen unterschiedlichen Ländern nun wirklich nicht gebaut werden, vor allem nachdem zunächst die Dänen und auch die Bundesregierung dagegen waren und Schleswig-Holstein das einzige Land war, das tapfer zu dieser Brücke gestanden hat, obgleich es sich empfahl, in Fehmarn nur noch mit Leibarzt anzureisen, weil der Fährverkehr davon unter Umständen negativ beeinflusst würde. ({3}) - Natürlich, weil sie an die Arbeitsplätze gedacht haben. Fragen Sie einmal die Leute, was sie davon halten. Man muss auf solche Gefühle auch Rücksicht nehmen, wenn man Großprojekte in die Welt setzt. ({4}) In der Zwischenzeit gibt es jedenfalls im Norden Europas eine Aufbruchstimmung, die nicht zuletzt auch dadurch genährt wird, dass die Wirtschaftskraft in dieser Region steigt und europaweit wirklich herausragt. Der Abbau der Arbeitslosigkeit, vor allem bei unseren dänischen und schwedischen Nachbarn, ist kaum zu beschreiben. In wenigen Jahren ist es der dänischen Regierung gelungen, den Haushalt aus den roten Zahlen zu führen, die Arbeitslosigkeit von 13 auf 4,5 Prozent zu senken; dies übrigens mit der so genannten und von Ihnen verteufelten Ökosteuer. Insgesamt investieren Dänemark und Schweden 20 Milliarden Euro in eine gemeinsame Verkehrsinfrastrukturpolitik in dieser Region. Aus anfänglicher Skepsis wurde Zustimmung. Es wuchs die Einstellung, das Beste aus den sich bietenden Chancen zu machen. Das ist die pragmatische Haltung der Skandinavier, die nicht lange fragen: Was habe ich gestern gesagt?, sondern die neu überlegen und bewerten sowie neue Ziele formulieren. ({5}) Die Ostseeregion ist ein gutes Beispiel für eine gewachsene Großregion, wie sie in Zukunft immer stärker das Gesicht Europas prägen wird. Die Bürgerinnen und Bürger füllen sie in vielen Initiativen und Organisationen mit Leben und kümmern sich darum, dass sich die Menschen in einer solchen Großregion nicht verloren vorkommen. In den letzten 10 Jahren haben die neuen Demokratien in Polen, in den baltischen Staaten und in Russland den Weg zurück nach Europa dadurch erleichtert bekommen, dass auch die Skandinavier mit dabei waren und dass ihnen von allen der Weg ohne Gesichtsverlust erleichtert wurde. Es wird nicht mehr lange dauern, dann ist die Ostsee das größte europäische Binnenmeer. In einer erweiterten Europäischen Union muss die Ostseekooperation deshalb eine neue Basis finden. Sie muss über das hinaus, was zum Beispiel Mecklenburg, Hamburg und Schleswig-Holstein, zum Teil auch mit Bordmitteln, gemacht haben. Dabei werden auch die regionalen und nichtstaatlichen Zusammenschlüsse in der Region großes Gewicht haben, obgleich ich manchmal glaube, dass die 70 und mehr Organisationen schon fast einen eigenen Führer brauchen, um sich durchzufinden. Aber immerhin sind sie da und zeigen das große Interesse, das man dort in der Region hat. Mehr als 10 Jahre lang bestand das Engagement des großen EU-Mitglieds Deutschland in der Ostseekooperation eigentlich nur in einer interessierten Beobachtung. Der jetzige Bundeskanzler hat sich innerhalb eines Jahres mit mehr skandinavischen und baltischen Staatspräsidenten getroffen, hat mehr Reisen in die Region unternommen als der ehemalige Bundeskanzler Kohl, der innerhalb von 10 Jahren einmal in Visby und einmal als Privatbürger in Riga war. Sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass dies dort oben aufgefallen ist. ({6}) Jedenfalls ist das Signal verstanden worden: Deutschland wird sich in der Ostseeregion engagieren und steht den Staaten dort zur Seite. Die Regierung unter Gerhard Schröder hat die Bedeutung der Ostsee für Deutschland verstanden. Wir sind dankbar, dass wir jetzt Hilfe bekommen. Das Echo in den drei baltischen Staaten - das war fast ein bisschen beschämend - war geradezu überwältigend positiv und von großen Erwartungen gekennzeichnet. Wir erwarten jetzt von dem Ostseerat, dass er in Zukunft entschiedener die politischen Ziele für die Entwicklung der Region formuliert und festlegt, welche Projekte dafür vorrangig sind und welche von wem vorangetrieben werden müssen.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Frau Ministerpräsidentin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Börnsen? Heide Simonis, Ministerpräsidentin ({0}): Aber gerne, bitte schön.

Wolfgang Börnsen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000227, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Ministerpräsidentin, Sie haben gerade Ihren gemeinsamen Besuch mit dem Bundeskanzler in den drei baltischen Staaten angesprochen. Der „Spiegel“ hat darüber sehr ausführlich berichtet und mitgeteilt, dass Sie sich zu der Äußerung haben hinreißen lassen, der estnische Präsident sei ein Erpresser. Vielleicht nehmen Sie die Gelegenheit wahr, vor dem Hohen Haus zu klären, ob Ihre Aussage zutrifft. Ich finde, schon die Art und Weise, wie wir mit unseren Nachbarn umgehen, ist Voraussetzung für ein freundschaftliches Verhältnis im Ostseeraum. Wenn der „Spiegel“ schreibt: „,Der Meri ist ein Erpresser‘, schäumte die Dame aus dem meerumschlungenen Ländchen“ Schleswig-Holstein, dann finde ich, wäre es richtig, die Sache hier einmal klarzustellen. ({0}) Heide Simonis, Ministerpräsidentin ({1}): Herr Koppelin, Sie wollen doch nicht in die Fußstapfen des Altbundeskanzlers treten und sagen, dass ich keine Dame bin. Im Übrigen: Nicht alles, was der „Spiegel“ schreibt, kann man bestätigen, meine sehr verehrten Damen und Herren. Die drei zentralen Aufgaben, die jetzt auf der politischen Tagesordnung stehen, sind folgende: Im Interesse des wachsenden Europas dürfen erstens in der Ostseeregion keine neuen sozialen und ökonomischen Trennlinien - auch keine in Kunst und Kultur, in Wirtschaft und Wissenschaft - entstehen. Deswegen appellieren wir an die Europäische Union und an die Regierungen der Mitgliedstaaten, bei dem Erweiterungsprozess eine soziale Dimension mit einzuführen. Dieses würde auch die Gewerkschaften stärker mit einbinden und ihnen die Zusammenarbeit erleichtern. ({2}) Ministerpräsidentin Heide Simonis ({3}) Die Tradition eines europäischen Sozialstaats ist etwas, was für diese Staaten zum Teil neu ist und wo wir ihnen helfen müssen. Zweitens. Wir wollen vor allem in dem Europa von morgen einen Wettbewerb länderübergreifender Entwicklungsräume haben. In diesem Wettbewerb soll die Ostseeregion ganz weit vorne mitspielen und er soll es den Menschen ermöglichen, ihr Können und ihr Wissen mit einzubringen. Man muss beobachten, was dort oben die Stärken sind. Der Handel in den IT- und Multimediabranchen ist in der Ostseeregion die Nummer eins und in Europa führend. Der Ausbildungsstandard rund um das Mare Balticum ist exzellent. Die Zusammenarbeit zwischen den Universitäten - es wurde darauf hingewiesen -, zwischen 300 wissenschaftlichen Einrichtungen ist so gut, wie man es sich besser gar nicht vorstellen kann. Eine Initiative „Wissensgesellschaft Ostsee“ wäre mehr als ein reiner Jugendaustausch - so wichtig er auch ist -, etwas, wo junge Menschen zusammentreffen können und gemeinsam ihr Können und Wissen austauschen können. Drittens. Durch die Ostseezusammenarbeit muss ein entscheidender Beitrag geleistet werden, die Beziehungen der EU zu Russland zu stabilisieren. Das Prinzip „Stabilität durch Kooperation“ ist hier greifbar. Das Prinzip der „Northern Dimension“, so wie es die Finnen formuliert haben, ist von uns aufgegriffen worden. Die Finnen hatten genau das im Blick, was hier vorhin kritisiert worden ist, nämlich den Menschen von Region zu Region in ganz konkreten kleinen Beispielen zu zeigen, was es bedeutet, wenn man zusammenarbeitet, anstatt nur Sonntagsreden zu halten. ({4}) Wir haben uns zusammen mit Mecklenburg und Hamburg bereit erklärt, solche Aufgaben zu übernehmen. Ich kann Ihnen wirklich sagen, Kaliningrad ist ein harter Brocken, wenn man die Armut, das Elend, die Hilflosigkeit dort sieht und natürlich die daraus resultierende Verzweiflung der Menschen, ob überhaupt etwas verbessert wird, nur weil man zur Ostseeregion gehört. In einem Jahr werden wir es nicht schaffen, die Aufgaben zu Ende zu führen, weil sie viel zu lange liegen geblieben sind. Aber die richtigen Weichen müssen jetzt gestellt werden. Ich habe das Gefühl, als ob sowohl der Außenminister als auch die Regierung von Gerhard Schröder insgesamt langsam, aber sicher den Blick auch einmal nach Norden wenden und den Menschen dort das Gefühl geben, dass sie nicht in einer Randlage leben, sondern sich mitten im wichtigsten Geschehen befinden, was das Zusammenwachsen Europas angeht. Die schleswig-holsteinische Landesregierung wird jedenfalls ab dem 1. Juli 2000 die Koordination der norddeutschen Länder in der Ostseezusammenarbeit übernehmen und als fairer Partner zwischen den Ländern und der Bundesregierung auftreten. Sie wird nicht nur für uns selber reden, sondern für die gesamte Region. Für die Zukunft der Ostseeregion ist es jedenfalls entscheidend, ob es uns gelingt, sie als eine dynamische und wettbewerbsfähige Großregion in Konkurrenz zu anderen Großregionen der Europäischen Union zu etablieren und ihr das Selbstbewusstsein zu geben, dass alle gefordert sind und wir ohne sie keinen Schritt weiterkommen. Jugendbegegnungen gehören genauso dazu wie wissenschaftlicher Austausch, wie Ars Baltica, wie Jazz Baltica, wie die Teilnahme am schleswig-holsteinischen oder am mecklenburgischen Musikfestival. Ich will dabei nicht nur uns loben: andere machen genauso viel. Die Glaubwürdigkeit resultiert jedenfalls daraus, dass die Menschen das Gefühl haben, dabei zu sein. Die Hilfe bei den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die es zu überwinden gilt - die Hilfe wird zum Beispiel durch die Landesbanken geleistet, durch die Norddeutsche Landesbank genauso wie durch die Schleswig-Holsteinische Landesbank -, ist manchmal mehr wert als manche Aufforderung, wir müssten etwas tun. Wenn vor Ort jemand ist, der bereit ist, Geld zu investieren, stärkt das das Selbstvertrauen der Menschen mehr als manches andere. ({5}) Dies kann die Bundesregierung während ihres einjährigen Vorsitzes im Ostseerat aufbauen. Ich wünsche ihr dabei viel Erfolg und wünsche der gesamten Region die Aufmerksamkeit, die sie verdient hat und die ihr so lange vorenthalten worden ist. Ich bedanke mich. ({6})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat nun der stellvertretende Ministerpräsident und Minister für Arbeit und Bau des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Herr Helmut Holter. Helmut Holter, Minister ({0}): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der deutschen Vereinigung vor zehn Jahren und den Reformen in Mittel- und Osteuropa hat die Ostsee als Wirtschafts- und Kulturraum gewonnen. Wir „Südschweden“ in Mecklenburg-Vorpommern sind mittendrin. Das ist nicht zuletzt ein Grund dafür, dass wir sehr gern im Auftrag des Bundes den Vorsitz im Ausschuss für Raumentwicklung im Ostseerat übernommen haben. Für die Mitwirkung Mecklenburg-Vorpommerns am Zusammenwachsen bilden traditionelle Verbindungen mit den skandinavischen und baltischen Staaten sowie mit Polen gute Voraussetzungen. Als Bindeglied zwischen West und Ost sowie als Tor zum Norden kann und will das Land die Herausforderungen annehmen und zur partnerschaftlichen Entwicklung beitragen. Gerade für Ostdeutsche lassen sich hier Arbeitsfelder erschließen, zumal wir uns mit unseren Kenntnissen der russischen Sprache und Mentalität - „mnogie mojich zemljakow goworjat porusski; das heißt auf Deutsch: viele meiner Landsleute sprechen russisch - und unseren Erfahrungen ganz konkret einbringen können. In Ergänzung zu dem, was bisher schon gesagt wurde: Es ist schon viel passiert und wir bemühen uns intensiv Ministerpräsidentin Heide Simonis ({1}) um eine engere Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn, so zum Beispiel bei den Biotechnologien. Mit dem schwedischen Medicon Valley sind Vereinbarungen getroffen worden. Es gibt bei uns einen Initiativkreis, der die Gründung eines Biocon Valley in Mecklenburg-Vorpommern vorbereitet. In der Tourismusbranche boomt es. 1999 besuchten ein Drittel mehr Schweden, nämlich fast 32 Prozent, und ein Fünftel mehr Dänen, nämlich 18,2 Prozent, als im Vorjahr Mecklenburg-Vorpommern. Falls jemand von Ihnen Segler ist, habe ich auch hier eine gute Kunde. Wir weben im Rahmen von EU-Programmen an einem Netz von Sportboothäfen, das von Westen bis Osten rund um die Ostsee - und übrigens auch bis nach Berlin - reicht. Seien Sie herzlich willkommen an Bord, meinetwegen auch online. ({2}) Es stehen ganz neue Projekte ins Haus. Geplant ist eine Gaspipeline von Nordwestrussland über Südwestfinnland durch die Ostsee nach Greifswald/Lubmin in Vorpommern. Von diesem Projekt erhoffen wir uns Jobs und Impulse für wirtschaftliche Entwicklung zusammen mit Russland, das für uns der wichtigste Handelspartner im Ostseeraum ist. Wie Sie vielleicht wissen, planen wir auch die Ansiedlung von Gaskraftwerken an einem ehemaligen Energiestandort in Lubmin. Hierfür brauchen wir in der Tat die Unterstützung der Bundesregierung, und zwar in stärkerem Maße als bei der missglückten Ansiedlung der Montagestätte des A3XX in Rostock-Laage. ({3}) Hier ist eine Entscheidung auch hinsichtlich einer Befreiung Mecklenburg-Vorpommerns von der Gassteuer notwendig. Wir brauchen gerade im vorpommerschen Raum wirtschaftliche Entwicklung. Wer es ernst meint mit der Chefsache Ost, muss dies auch praktizieren. ({4}) Das Baltikum war in der Vergangenheit wiederholt ein Krisengebiet. Es gibt Probleme und die europäische Dimension wird im 21. Jahrhundert diese Probleme beantworten müssen. Dazu brauchen wir nicht nur die Einbeziehung Polens und der drei baltischen Staaten, sondern auch Russland muss mit den Lösungen einverstanden sein, die von uns gemeinsam gefunden werden müssen. Auf der einen Seite funktioniert die Zusammenarbeit mit den EU-Mitgliedstaaten sehr gut, auf der anderen Seite gibt es ein paar Probleme, nämlich mit den Nichtmitgliedern und den potenziellen Beitrittskandidaten zur Europäischen Union. Gemeinsam mit der Bundesregierung arbeitet unsere Landesregierung daran, diese Abstimmungsprobleme zu beseitigen. Trotzdem gibt es eine Reihe von Aufgaben, die zu lösen sind. Ich möchte hier drei nennen. Erstens. Mit Blick auf die EU-Osterweiterung sollte ein institutioneller Rahmen geschaffen werden. Ich möchte Ihnen hier eine EU-Ostseekonferenz unter Einbeziehung aller Staaten der Region - Mitglieder der EU, Nichtmitglieder und darunter auch die potenziellen Beitrittskandidaten - vorschlagen. ({5}) Diese Zusammenarbeit vollzieht sich, wie Sie wissen, auf verschiedenen Ebenen, aber wir müssen die parallel laufenden Prozesse zusammenführen. Zweitens - es klang schon an - ist es notwendig, das von Finnland vorgelegte Konzept der nördlichen Dimension nun endlich umzusetzen. Dazu wird es Anfang September in Schwerin eine Konferenz geben. Drittens müssen wir vor dem Beitritt Polens jetzt Voraussetzungen schaffen. Das betrifft den Ausbau der Infrastruktur im grenznahen Raum. Wir brauchen auch ein Geflecht von Kooperationen. Deswegen ist es notwendig, die Grenzförderung in den Mittelpunkt zu stellen und den Vorschlag von Günter Verheugen tatsächlich in die Tat umzusetzen. ({6}) Wir legen als Partei Wert darauf, nicht nur die Vorzüge der Wirtschaftsunion zu nutzen, sondern uns auch um die Zukunft der Sozialunion Europas zu kümmern. Aus diesem Grunde ist es nach meiner Meinung notwendig, Wirtschafts- und Sozialunion rund um die Ostsee gleichberechtigt zusammen zu entwickeln. ({7}) Hier kommt es darauf an, Ängste und Vorbehalte abzubauen. Die Menschen in der Region müssen darauf vertrauen können, dass europäische Politik für sie gemacht wird. Erst wenn sie davon überzeugt sind, dass die Ostsee ein Meer des Friedens und der gleichberechtigten Zusammenarbeit ist, haben wir die Herausforderungen bestanden. Dann haben die Ostseekooperation und die Integration im Ostseeraum eine tatsächliche Chance. Ich danke Ihnen. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Johannes Pflug, SPD-Fraktion.

Johannes Pflug (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003207, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der 1992 gegründete Ostseerat war ja eine Antwort auf die neue politische Situation, die seit Ende der 80er-Jahre in Polen zu einer demokratischen Regierung, in Deutschland zur Vereinigung, in den baltischen Staaten zur Unabhängigkeit und auch zur Auflösung der Sowjetunion geführt hatte. Durch diese Ereignisse hatte sich die politische Geographie des Ostseeraumes grundlegend gewandelt mit völlig neuen Chancen für eine verbesserte Zusammenarbeit der Ostseeanrainer. Der Ostseerat ist eine politische Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Folgen der Teilung Europas zu überwinden und Russland in die europäische Entwicklung einzubeziehen. In ihm arbeiten sehr unterschiedliche Minister Helmut Holter ({0}): Anrainerstaaten zusammen: EU-Mitglieder, EU-Kandidaten wie Polen und die baltischen Staaten, westliche Nicht-EU-Mitglieder wie Norwegen und Island sowie Russland, als ein Land, das stärker einbezogen werden sollte in die Kooperation als Ostseeland, vor allen Dingen auch wegen seiner Gebiete St. Petersburg und Kaliningrad. Wir begrüßen den nüchternen, unspektakulären Pragmatismus, der die Arbeit des Ostseerates kennzeichnet. Er gibt Empfehlungen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in der Ostseeregion, zum Abbau von Handelshemmnissen, zur Beschleunigung der Zollabfertigung, zur Unterstützung demokratischer Institutionen, zur Erleichterung des Übergangs von der Plan- zur Marktwirtschaft, zur Förderung des Umweltschutzes und der nuklearen Sicherheit und zu vielen anderen praktischen Kooperationsbereichen. Der Ostseerat versteht sich nicht als ein direktes Durchsetzungsinstrument für operatives Handeln und ist insofern auch nicht vergleichbar mit der Europäischen Union oder der OSZE. Die Umsetzung seiner Empfehlungen und seiner Aktionspläne liegt in der Hand der Mitgliedstaaten. Aber er ist ein Rat- und Impulsgeber, ein Forum für den Austausch von Gedanken und ein Förderer von Kooperation, wo Integration noch nicht möglich ist. An dieser Stelle unterscheidet sich auch der Antrag der CDU/CSU-Fraktion von dem der Regierungskoalitionen. Die CDU/CSU-Fraktion fordert von der Bundesregierung in ihrem Katalog, noch in diesem Jahr ein ostseespezifisches Leitbild und einen Zielkatalog vorzulegen. Sie fordert sogar einen Zeitplan zum Aktionsprogramm der Agenda 21. Herr Kollege Koppelin, wenn Sie vorhin bemängelt haben, dass die Große Anfrage der CDU/CSU-Fraktion noch nicht beantwortet wurde, ({1}) liegt das möglicherweise daran, dass Abstimmungsprobleme zwischen der neuen und der alten Bundesregierung vorhanden sind. Ich habe mit großem Interesse die Frage 61 in der Großen Anfrage der CDU/CSU-Fraktion vom 1. Dezember letzten Jahres gelesen. Da heißt es: „Was hat die Bundesregierung im Zeitraum von 1989 bis 1999 unternommen, um einer Zunahme der Migration präventiv entgegenzuwirken?“ Nach meiner Erinnerung war die neue Bundesregierung 1999 gerade ein Jahr im Amt. Es scheint wohl so zu sein, dass die alte Bundesregierung beurteilt werden soll durch die neue. ({2}) Ich möchte zum Antrag der CDU/CSU zurückkommen. Ich glaube, dass alles, was Sie dort fordern, eine Nummer zu groß ist. Es missachtet die Tatsache, dass wir es beim Ostseerat mit einem multinationalen Gremium zu tun haben, dessen Aktivitäten nicht von einem Mitgliedsland allein definiert werden können. Aufgabe des Vorsitzes im Ostseerat ist es, zu koordinieren und die Konsensfindung zu erleichtern und nicht die Entscheidungen an sich zu reißen. Die CDU/CSU sollte deshalb nicht so tun, als hätte die neue Bundesregierung durch den Koalitionsvertrag oder durch Regierungserklärungen, so wie es gefordert wird, die Entwicklung der Ostseeregierung dominieren können. Der Ostseerat, dem auch die EU-Kommission als Mitglied angehört, hat in den vergangenen Jahren dazu beigetragen, die drei baltischen Staaten und Polen an die EU heranzuführen. Heute ist die Einbindung Russlands in die Ostseezusammenarbeit ein besonderer Schwerpunkt. Seit dem Beitritt Finnlands im Jahre 1995 hat die EU eine über 1 300 Kilometer lange Grenze mit Russland, die mit der Aufnahme der Beitrittskandidaten natürlich noch länger wird. Sie betrifft unmittelbar den Ostseeraum. Umso wichtiger wird es sein, zu verhindern, dass Russland hierdurch von der europäischen Entwicklung abgeschnitten wird. Der Ostseerat, der Russland einbezieht, ist ein relevanter werdendes Gremium, um Russland die Zusammenarbeit mit der EU zu erleichtern. Die Europäische Union hat mit ihrer Initiative für eine so genannte nördliche Dimension damit begonnen, ihre Politik gegenüber Russland weiterzuentwickeln. Wir benötigen darüber hinaus auch Strukturen, in denen Russland unmittelbar mitarbeitet. Hier kann der Ostseerat eine wichtige Rolle spielen. Ein potenziell krisenträchtiger Aspekt im Zusammenleben der Ostseeanrainer ist das große Wohlstandsgefälle, insbesondere zwischen Russland und den heutigen EU-Ländern. Armut und Reichtum liegen in der Ostseeregion näher beisammen als in den meisten anderen Regionen der Welt. Das Pro-Kopf-Einkommen der Finnen ist beispielsweise zehnmal höher als das auf der russischen Seite der Grenze und die wirtschaftliche Entwicklung in Kaliningrad verlief noch schlechter als im 400 Kilometer entfernten Hauptland. Das muss nicht, aber das kann durchaus zum Ausgangspunkt von zwischenstaatlichen Konflikten werden. Hier kann Krisenvorbeugung genau an die Kultur kooperativen Handelns im Ostseeraum anknüpfen. Der Antrag der Koalitionsfraktionen verfolgt das Ziel, den Ostseerat und die Ostseekooperation zu stärken. Deutschland wird ab dem 1. Juli 2000 den Vorsitz im Ostseerat übernehmen. Meine Fraktion möchte die Bundesregierung ermutigen, ihren Vorsitz im Ostseerat aktiv, insbesondere für die Zusammenarbeit mit Russland, zu nutzen. Es gehört zur Politik einer bewussten Krisenprävention, Gelder nicht nur in die Regionen zu lenken, die nicht selbst für Stabilität sorgen können. Vielmehr sind Gelder zur Krisenpräventionen gerade auch dort gut investiert, wo die Bereitschaft zur regionalen Stabilisierung bereits besteht. Der Ostseeraum ist eine solche Region und hat deswegen eine breite Unterstützung verdient. Ich bitte den Deutschen Bundestag, dem Antrag der Koalitionsfraktionen zur Ostseezusammenarbeit zuzustimmen. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Herr Kollege Pflug, ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ersten Rede in diesem Hause. Vielen Dank. ({0}) Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Paul Krüger von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Dr. Paul Krüger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Anträge, über die wir heute diskutieren, weisen eine große Übereinstimmung auf. Deswegen ist die Debatte auch nicht sehr kontrovers. Die Anträge beinhalten im Wesentlichen deutliche Aufforderungen an die Bundesregierung zur Stärkung der Ostseeregion im Zusammenhang mit der europäischen Integration der Oststaaten. Interessant ist allerdings, dass auch in dem Koalitionsantrag, also im Antrag des Bündnisses 90/Die Grünen und der SPD, die Bundesregierung aufgefordert wird, hier aktiv zu werden. Das ist in der Tat ein interessanter Vorgang. ({0}) Man fragt sich: Warum ist das so? Es ist so, weil die Bundesregierung - das wurde hier schon gesagt - offensichtlich zu inaktiv ist. Man könnte auch sagen: Sie schläft an dieser Stelle. ({1}) Wenn man sich die Anträge, die Gott sei Dank im Wesentlichen übereinstimmen, genau anschaut, dann stellt man fest, dass zuerst die CDU/CSU eine Große Anfrage gestellt hat. Dann kam der Antrag der CDU/CSU. Erst wesentlich später folgten alle weiteren Anträge, die heute vorliegen. Man könnte annehmen, dass sie bei der CDU abgeschrieben worden sind. Das ist gar nicht so wichtig. In meinen Augen ist es wichtig, dass wir alle in dieser Frage die gleiche Intention haben. ({2}) Mit der angestrebten Integration weiterer osteuropäischer Staaten wird Europa nicht nur östlicher, sondern vor allem nördlicher, man könnte auch sagen: baltischer. Die EU-Mitglieder Nordosteuropas sind dann ausschließlich Ostseeanrainerstaaten. Berlin - 200 Kilometer von der Ostsee entfernt - rückt vom Rand in die Mitte Europas; damit ergibt sich auch für die Ostsee eine neue Dimension der Betrachtung. In der Tat besteht damit Hoffnung auf mehr Zuwendung für diese Region durch die Bundesregierung. Bisher war diese Hoffnung leider vergeblich. Die Differenzen in der Entwicklung zwischen den westlichen EU-Mitgliedern und den designierten neuen Staaten sind enorm. Wolfgang Börnsen hat darauf eindrücklich hingewiesen. Man könnte von einer faktisch noch vorhandenen Ost-West-Trennung sprechen. Deshalb bleiben Anstrengungen zur Angleichung langfristig notwendig. Insbesondere wenn man auf die Entwicklung der Angleichung der Verhältnisse in den alten und in den neuen Bundesländern schaut, dann weiß man, dass der Weg ein sehr langer sein wird. Die Ostsee könnte als Bindeglied zwischen den Mitglied- und den Nichtmitgliedstaaten fungieren, um diesen Prozess zu beschleunigen. Darüber hinaus besteht - auch das ist heute schon gesagt worden - die Möglichkeit, Russland mit der Enklave Königsberg und mit Sankt Petersburg einzubinden. Gegebene Voraussetzungen für diesen möglichen Prozess sind dabei die zum Teil schon seit langer Zeit bestehenden Bindungen und auch die gemeinsamen Interessen aller Ostseeanrainerstaaten. Ich denke an die gemeinsame Historie und an die gemeinsame Kultur. Die Hanse ist heute erwähnt worden. Zeichen für diese Zusammengehörigkeit sind auch die nordeuropäische Backsteingotik und viele andere Bereiche. Die Ostsee ist ein gemeinsamer Lebensraum und eine gemeinsame Lebensgrundlage. Ich denke an Schiffbau, Schifffahrt, Fischerei, Tourismus und viele andere Gebiete. Es gibt gemeinsame ökologische Interessen; es geht um eine nachhaltige Bewirtschaftung der Ostsee, um Meeresverschmutzung, um ein gemeinsames Handeln im Falle von Ölkatastrophen und bei Fällen von Seenot, um eine gemeinsame Katastrophen-, Bergungs- und Rettungstechnik und um viele andere Felder der Zusammenarbeit. Nicht zuletzt - auch das ist hier angesprochen worden geht es um gemeinsame Sicherheitsinteressen bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität, bei der illegalen Einwanderung und auch bei der Bekämpfung von Zoll- und Wettbewerbsverstößen. Der Ostseerat mit seinen elf Mitgliedsländern hat in den letzten Jahren erste wichtige Schritte der notwendigen Zusammenarbeit eingeleitet. Deutschland wird in wenigen Tagen die Präsidentschaft übernehmen. Wenn man von Deutschland in der Vergangenheit eine Schrittmacherrolle im europäischen Einigungsprozess gewohnt war, dann teilt man sicherlich die Auffassung, dass von der deutschen Präsidentschaft wichtige Impulse für die Entwicklung der Ostseeregion ausgehen sollten. Der Umstand, dass heute von fast allen Fraktionen Anträge als Handlungsaufforderung gegenüber der Bundesregierung gestellt worden sind, beweist eigentlich, dass die Bundesregierung auf diesem Gebiet nicht aktiv geworden ist. Dabei geht es vordergründig nicht um die Schaffung einer Ostseeidentität, wie sie im Koalitionsantrag gefordert wird. Bei der auch für die Zukunft gewollten kulturellen Vielfalt der europäischen Regionen geht es vielmehr darum, die enormen Entwicklungspotenziale der Ostseeregion zur Entfaltung zu bringen. Das betrifft zuallererst die wirtschaftliche Entwicklung und sollte, ausgehend von den Erfahrungen der neuen Bundesländer, nicht ausschließlich als eine Frage der finanziellen Unterstützung gesehen werden. Es geht um Fragen der politischen Stabilisierung, des Abbaus von Handelsschranken, der Organisation von Bildungsprozessen, des Jugendaustausches und nicht zuletzt des Innovationstransfers bzw. des Innovationsmanagements. Bei der Aus- und Weiterbildung gilt es dabei vor allem, im Rahmen einer stärkeren Vernetzung wesentlich mehr Flexibilität, mehr Praxisbezug und auch mehr privatwirtschaftliches Engagement zu nutzen. Darüber hinaus bleibt der weitere Ausbau der Infrastruktur, insbesondere im Bereich der Kommunikation und der Verkehrswege, die Kernfrage der wirtschaftlichen Entwicklung. Darüber sollten wir uns Klarheit verschaffen. Dass hierbei intelligente Lösungen im Rahmen der transeuropäischen Netze zu finden sein werden, ist selbstverständlich. Zentrale Bedeutung kommt dabei aus meiner Sicht der schnellen Realisierung der so genannten Baltikautobahn zu, die die industriellen Ballungszentren Mitteleuropas mit der Nordostregion des Ostseeraumes verbinden soll. Damit kann die Voraussetzung für eine gedeihliche wirtschaftliche Entwicklung geschaffen werden. Viele intelligente Schritte bis hin zu einer gemeinsamen touristischen Vermarktung werden notwendig sein, um wirtschaftlich deutlich voranzukommen. Leider sind diese Schritte bis heute nicht erkennbar. Die Bundesregierung arbeitet hier ohne erkennbares Konzept und ohne erkennbare Initiative. Sie verpasst damit nicht nur wichtige Chancen im europäischen Einigungsprozess bezüglich der Osterweiterung, sondern vor allem auch Möglichkeiten der Entwicklung in den Ostseeregionen Deutschlands, so etwa in meinem Heimatland Mecklenburg-Vorpommern, und damit ganz Deutschlands. Deshalb brauchen wir eine gemeinsame Ostsee-Offensive, wie wir sie mit unserem Antrag vorschlagen, und deren aktive Umsetzung durch die Bundesregierung. Herr Schröder und Herr Fischer, folgen Sie unseren Anträgen, und warten Sie nicht weiter zu! Werden Sie endlich aktiv! Vielen Dank. ({3})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt Staatsminister Dr. Christoph Zöpel das Wort.

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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zu den Anmerkungen der Opposition in Kürze Folgendes: Erstens. Ein guter Außenminister hat gute Staatsminister. Einer von beiden ist hier. Das entspricht der Lage. ({0}) - Auch ein schlechter Außenminister kann gute Staatsminister haben, aber der hier ist gut. ({1}) Zweitens. Auch lange Anfragen werden von uns sorgfältig beantwortet. Es gilt das Prinzip „Genauigkeit vor Schnelligkeit“. ({2}) Drittens. Jede Anregung aus dem Parlament, die der Politik der Bundesregierung hilft, wird von uns begrüßt, in diesem Fall etwas stärker der Antrag der Koalitionsfraktionen als Ihr Antrag, der aber auch in vielen Punkten sehr in Ordnung ist. Viertens. Zu unserer konkreten Politik: Erstens die Ostseepolitik: Die bilateralen Beziehungen zu vier Staatengruppen, zu drei EU-Mitgliedstaaten, vor allem zu Schweden, sind exzellent. Es gibt gemeinsame Initiativen in der nichtmilitärischen Sicherheitspolitik. Zweitens die Beziehungen zu vier Beitrittsstaaten: Wir tun alles, damit diese so schnell wie möglich beitreten können. Wir ersparen ihnen aber Beitrittsdaten, die nicht eingehalten werden. Das war das Prinzip Kohl. ({3}) Drittens die Beziehungen zu Ländern, die nicht beitreten wollen: Zu Norwegen und Island bestehen exzellente Beziehungen, vor allem zu Norwegen im Rahmen der internationalen Friedenspolitik. Viertens die Beziehungen zu Russland: Der Putin-Besuch hat gezeigt, dass sich die Kooperation mit Russland auf einem neuen, hervorragenden Niveau befindet. ({4}) Bilaterale Beziehungen können am besten durch die EU gebündelt werden. Auf Initiative Finnlands ist die nördliche Dimension auf den Weg gebracht worden. In der letzten Sitzung des Ministerrats in Luxemburg hat die EU die gemeinsame Dimension, die nördliche Dimension, verabschiedet. Folgerungen daraus: Aufgabe des Ostseerats: die nördliche Dimension implementieren. Das ist die Hauptaufgabe des deutschen Vorsitzes. Am Ende des deutschen Vorsitzes, der ja noch gar nicht angefangen hat, sondern erst übermorgen beginnt, wird die nördliche Dimension implementiert sein. Dazu gehören drei große Aktionspläne, ({5}) die nicht das größte Land allein entwirft, wie es Ihren Forderungen entspräche, weil die Großen die anderen nicht bevormunden sollen. ({6}) Wir werden diese Pläne also gemeinsam mit den kleinen Ländern der Union entwerfen. Die Pläne gelten drei Dimensionen: erstens der Wirtschaft, zweitens der Ökologie, drittens der Wissenschaft. In zwölf Monaten sind wir weiter. Noch eines gilt: Es hat gar keinen Zweck, darüber zu diskutieren, was wichtiger ist, staatliche Politik oder zivile Gesellschaft. Wir wollen, dass staatliche Politik und zivile Gesellschaft auch im Ostseeraum vernetzt werden. ({7}) In zwölf Monaten wird das alles noch besser aussehen als heute. Danke für alle Anregungen. ({8})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/3293 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Die Chancen der Ostseekooperation nutzen“ auf Drucksache 14/3587. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P. angenommen. Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der F.D.P. mit dem Titel „Für eine kohärente Ostseepolitik“ auf Drucksache 14/3675. Wer stimmt dafür? Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU, F.D.P. und PDS abgelehnt. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Änderung der Verordnung ({1}) Nr. 1251/1999 zur Einführung einer Stützungsregelung für Erzeuger bestimmter landwirtschaftlicher Kulturpflanzen zur Einbeziehung von Faserflachs und -hanf Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die gemeinsame Marktorganisation für Faserflachs und -hanf - Drucksachen 14/2747 Nr. 2.54, 14/3415 Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Klaus Rose Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Kollegin Waltraud Wolff von der SPD-Fraktion das Wort.

Waltraud Wolff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003270, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hanf und Flachs sind zurzeit nicht nur in Fachkreisen Gesprächsthema, sondern in aller Munde. Bis vor den Zweiten Weltkrieg hatten diese Kulturpflanzen eine große Bedeutung, unter anderem auch als Lieferanten wertvoller Spinnfasern. Nun haben sie aufgrund ihrer Wiederentdeckung und der vielfältigen Einsatzmöglichkeiten ihrer Fasern ein tolles Comeback gefeiert, in Deutschland leider erst nach 1996. Das soll uns jetzt auf die Füße fallen? Ich selber habe in der letzten Woche das Hanfhaus hier in Berlin-Kreuzberg besucht und habe auch interessante Gespräche zu diesem Thema geführt. Die EU versprach sich von diesen Kulturpflanzen auch die Erschließung neuer Märkte und räumte ihren Mitgliedstaaten zum Aufbau Fördermöglichkeiten ein, die dann in einer Verordnung festgehalten wurden. Entscheidende Rahmenbedingungen dieser Verordnung sollen nun verändert werden. Das geschieht an Stellen, meine Damen und Herren, die uns in Deutschland vor fast unlösbare Probleme stellen. Vorausschicken will ich, dass Deutschland an einer Reform der gemeinsamen Marktordnung für Hanf und Flachs, die längst überfällig war, interessiert ist, denn Haushaltsbegrenzungen sind dringend erforderlich - das sehen wir ein. Die bisherige Regelung hatte den entscheidenden Haken, dass sich in Windeseile herumgesprochen hat, wie gut man eigentlich beim Hanfanbau verdienen kann, und der Prämienabfang florierte prächtig. Ich sage das nicht aus der hohlen Hand; vielmehr kann man das sehr genau beobachten: Man schaue sich nur einmal an, in welcher Größenordnung der Hanfanbau in einigen wenigen Ländern zunahm und wie sich daneben deren industrielle Verarbeitungsmöglichkeiten entwickelt haben. Grob eingeschätzt kann ich sagen, dass viele Tausend Tonnen in Europa einfach für die Halde produziert wurden. Diese Praxis kann natürlich nicht weitergeführt werden, denn diese Art von Subventionierung war nicht geplant. ({0}) Der EU-Haushalt für Hanf und Flachs ist innerhalb der letzten fünf Jahre von 74 Millionen auf 123,6 Millionen Euro in die Höhe geschnellt. Die Ausbreitung des Anbaus in der EU allein zum Zwecke des Prämienabfangs ist unredlich. Das ist auch erkannt worden. Der Produktion stand, wie ich vorher schon sagte, in einigen Ländern nicht die entsprechende industrielle Verarbeitungskapazität gegenüber. Deshalb sind wir der Meinung, dass man an dieser Stelle auch vonseiten der EU handeln muss. Der Anbau von Kulturen, das Abkassieren der Prämien und die Vernichtung der Erntemengen sind Zeichen dafür, dass die Regelungen schlecht sind und in die falsche Richtung gehen. Wie ist nun aber die Situation in Deutschland? Hier bei uns ist der Hanfanbau erst 1996 wieder genehmigt worden. Seitdem hat sich vorsichtig ein Markt entwickelt. Im letzten Jahr stieg die Anbaufläche für Hanf auf über 3 900 Hektar an. Die Gesamtanbaufläche von Kurz- und Langfaserflachs sowie Hanf betrug in Deutschland im letzten Jahr insgesamt schon 4 500 Hektar. Auf die Produktionsmenge umgerechnet ergibt das circa 6 600 Tonnen Fasern. Diese Produktion - darauf möchte ich aufmerksam machen, das finde ich wirklich toll - wurde von der heimischen Industrie auch verarbeitet. Mit Ideenreichtum und Kreativität wurde der industrielle Einsatz begonnen, zum Beispiel in der Autoindustrie, bei der Herstellung von Dämmstoffen, in der Bekleidungs-, Lebensmittel- und Kosmetikindustrie. Das ist positiv. Aber zurzeit ist es so, dass die Verarbeiter zum Beispiel auch im Bereich Bekleidung noch immer Hanf aus China oder aus anderen Ländern einführen müssen, weil die Maschinen für die Feinstzerfaserung hier noch fehlen. Wer möchte in Deutschland schon in Maschinen investieren, von denen er morgen nicht mehr weiß, ob er sie wirklich verwenden kann? Die Anbauerwartungen der heimischen Verarbeitungsindustrie wären eigentlich stark steigend - eigentlich; denn die Kommission hat ungeachtet aller Marktentwicklungen vorgeschlagen, die diesjährige deutsche Anbaumenge in Höhe von 6 600 Tonnen als Ausgangsbasis für die garantierte einzelstaatliche Höchstmenge in Deutschland zugrunde zu legen. Als EU-Kommissar Fischler bei seinem Berlin-Besuch kurz in unserem Ausschuss war, befragte ich ihn nach Sonderregelungen für Deutschland, erhielt aber keine Antwort, sondern bekam abschweifend die Besonderheiten des Anbaus erläutert. Ich glaube, er wusste schon ganz genau, warum. Unsere Aufgabe muss es sein, den EU-Abgeordneten und der Kommission nochmals deutlich zu machen, dass dem Anbau von Hanf und Flachs in Deutschland der Aufbau der weiterverarbeitenden Industrie folgte, anders als in manch anderen europäischen Staaten. Gerade in strukturschwachen Gebieten siedelte sich die Nachfolgeindustrie an. Ganz besonders in den neuen Bundesländern hat man eine große Chance hierin gesehen. Weil sich dieser Zweig in Deutschland so gut entwickelt hat und auch politisch gewollt war, war klar, dass er gefördert werden muss. Mittel in Höhe von circa 66,6 Millionen DM wurden bereits investiert, davon zum Teil - man höre und staune - circa 75 Prozent Fördermittel aus der EU, vom Bund und von den Ländern. Wir wollen immer noch, dass diese Förderung auf die Erweiterung des Marktes abzielt. Das sehen Bund und Länder einvernehmlich. Man kann sich nur wundern, dass die EU bereitwillig Fördermittel vergibt, um einen neuen Markt aufzubauen, und dass nun genau dieser Markt und damit die getätigten Investitionen wieder bedroht sind, weil andere Länder Missbrauch betreiben. Warum hat Herr Fischler dazu nicht Stellung bezogen? Mir hat seine Antwort nicht ausgereicht und ich habe mich noch einmal schriftlich an ihn gewandt. Aber die Antwort, die vorgestern bei mir eintraf, war mehr als dürftig. Entweder weiß er über die besonderen deutschen Verhältnisse nicht Bescheid oder er will sie gar nicht kennen. Der Markt muss aus seinem Nischendasein herauswachsen; denn nur so kann die Produktion auf Dauer rentabel werden, ({1}) denn nur so können die Betriebe lernen, auf eigenen Beinen zu stehen. Die 14 Betriebe, die es im Moment in Deutschland schon gibt, haben für die Zukunft geplant, weil sie nämlich auf den Rohstoff Hanf gesetzt haben. ({2}) Sie haben Kapazitäten von insgesamt 18 000 Tonnen Hanf- und Flachsfasern. Vier weitere Unternehmen werden derzeit errichtet. Der Aufbau dieser Betriebe ist nicht mehr zu stoppen. Auch hier ist der finanzielle Einsatz beachtlich. Circa 23,6 Millionen DM wurden investiert; weitere 80,5 Millionen DM sind geplant. Die neuen Unternehmen werden 9 000 Tonnen Fasern verarbeiten können. Es ergibt sich also in der Zukunft eine Verarbeitungskapazität von 27 000 Tonnen Hanf- und Flachsfasern: 6 600 Tonnen, die genehmigt werden sollen, und 27 000Tonnen, die geplant sind. Wie soll das aufgefangen werden? Ich glaube, hier brauchen wir einen Kompromiss. ({3}) Aber nicht nur die verarbeitende Industrie ist betroffen. Auch Erzeuger haben unter diesen Plänen zu leiden. Als sehr schwer wiegend empfinde ich den Umstand, dass keine Planungssicherheit gegeben werden kann. Während die Verhandlungen in Brüssel laufen, warten die Bauern und Landwirte auf ein Signal. Es fragt sich nur, auf welches. Wie werden die Flächenbegrenzungen für die folgenden Wirtschaftsjahre aussehen? Wie hoch wird im nächsten Jahr die tatsächliche Flächenbeihilfe ausfallen? Es kann doch nicht sein, dass die Landwirte erst nach der Aussaat erfahren, unter welchen Bedingungen sie produzieren müssen. Am 3. Juli wird in Brüssel eine Sondersitzung des Agrarausschusses stattfinden. Sollte man dort zu einer Einigung kommen, was ich hoffe, so kann trotzdem nicht mit einer abschließenden Entscheidung vor der nächsten Sitzung des Agrarrates gerechnet werden. Diese findet im Übrigen erst Mitte Juli statt. Meine Damen und Herren, aus internen Brüsseler Kreisen verlautet, dass die Kommission für den 3. Juli einen neuen Vorschlag einbringt. Es ist geplant, die Höchstmenge von 6 600 Tonnen für Deutschland auf vier Jahre festzuschreiben ({4}) und dann erneut zu beurteilen. Wenn das Wirklichkeit wird, kann ich nur sagen: Gute Nacht, Marie. Erst sterben lassen und dann vier Jahre später Gräber beweinen kommen. Das kann nicht sein. Deshalb mein Appell an die EU-Abgeordneten - sie haben jetzt schon Flagge gezeigt, indem sie keine Stellungnahme abgegeben haben -: Bleiben Sie dabei, auch für einen solchen möglichen Vorschlag keine Stellungnahme abzugeben. ({5}) Dies ist nämlich kein Vorschlag, sondern es wäre ein Todesurteil. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie hier im Haus um ein einmütiges Votum zu unserem Antrag, sodass die EU-Abgeordneten von uns Rückenstärkung bekommen und gemeinsam mit uns für einen sehr jungen Landwirtschafts- und Wirtschaftszweig in Deutschland kämpfen. Vielen Dank. ({6}) Waltraud Wolff ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Albert Deß von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. ({0})

Albert Deß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000376, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich in das Thema einsteige, möchte ich für die CDU/CSU-Fraktion dem Bundeslandwirtschaftsminister die besten Genesungswünsche übermitteln. ({0}) Wir haben erfahren, dass er im Krankenhaus ist. Ebenso möchte ich Staatssekretär Thalheim zum heutigen Geburtstag gratulieren. ({1}) Da wir schon bei Freundlichkeiten sind, möchte ich auch den Staatsminister in der Bayerischen Staatsregierung, Erwin Huber, recht herzlich begrüßen. ({2}) Seine Anwesenheit zeigt, welchen Stellenwert die Bayerische Staatsregierung dem Thema nachwachsende Rohstoffe zumisst. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die gemeinsame Marktorganisation für Faserflachs und -hanf ist meiner Ansicht nach, wie dies von der Vorrednerin schon angesprochen wurde, nicht hinnehmbar. Diese EU-Verordnung würde, wenn sie so umgesetzt würde, das zarte Pflänzchen nachwachsende Rohstoffe in diesem Bereich zerstören. ({4}) Die Rahmenbedingungen, die für Deutschland mit 6 600 Tonnen vorgesehen sind, reichen in keiner Weise aus, um die geplanten bzw. bereits gebauten Verarbeitungskapazitäten in Zukunft auszunutzen. Hier muss auch ein gewisser Vertrauensschutz gegeben sein, wenn im Hinblick auf die bisherige Rechtslage investiert wurde. Deutschland darf nicht dafür bestraft werden, dass andere EU-Länder diese Beihilfe missbrauchen. Ich bin mit dem Deutschen Bauernverband einig, dass eine verursacherbezogene Sanktionierung zu erfolgen hat. Der Aufbau einer ökologisch hochinteressanten Technologie wird hier im Keim erstickt. Ich habe in der vorigen Woche in meinem Heimatlandkreis Neumarkt einen mittelständischen Jungunternehmer besucht, der intensiv dabei ist, das Thema „Fahrzeugteile aus nachwachsenden Rohstoffen“ voranzubringen. Für große Autofirmen in Deutschland entwickelt er entsprechende Technologien. Er hat mir gesagt, dass hier eine enorme Kapazität vorhanden ist, um umweltfreundliche Materialien zu verwenden, die später, wenn das Auto entsorgt werden muss, umweltfreundlich entsorgt werden können. Brüssel muss meiner Ansicht nach diesen Verordnungsentwurf zurücknehmen. Minister Funke hat die Aufgabe, die deutschen Interessen in Brüssel umzusetzen, um hier eine nachhaltige Entwicklung im Sinne der Agenda 21 zu unterstützen. Deshalb hat die CDU/CSUFraktion am 10. Mai in der Ausschusssitzung dem Antrag der Regierungsfraktionen zugestimmt. Meine Sorge ist nur, dass Minister Funke, wenn er aus Brüssel zurückkommt, ein für Deutschland unbefriedigendes Ergebnis mit nach Hause bringt. Der Anbau von Faserpflanzen ist zwar nur ein kleiner Mosaikstein hinsichtlich der Wirkung nachwachsender Rohstoffe, aber trotzdem hochinteressant mit Blick auf den Abbau von Agrarüberschüssen durch nachwachsende Rohstoffe. Gerade durch die Faserpflanzen ist ein absolut umweltfreundlicher Rohstoffeinsatz möglich. Ich darf daran erinnern, dass heute zum Beispiel Bremsbeläge mit Inhaltsstoffen von Faserpflanzen hergestellt werden und dadurch der Asbestzusatz überflüssig geworden ist. Hier zeigt sich, wie umweltfreundlich nachwachsende Rohstoffe eingesetzt werden können. ({5}) Deshalb ist es meiner Ansicht nach auch verantwortbar, dass in diesem Bereich EU-Gelder eingesetzt werden. Der Fehler der EU-Agrarförderung liegt jedoch darin, dass es in der Agrarförderung 100 Prozent Mittel aus Brüssel gibt und dadurch dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet ist. Es wäre notwendig gewesen, bei der Agenda 2000 eine Kofinanzierung der Agrarpolitik zu erreichen, wie es die CSU, die CDU/CSU-Fraktion und insbesondere die Bayerische Staatsregierung mit Edmund Stoiber an der Spitze gefordert haben. Kofinanzierung in der Agrarpolitik bedeutet nämlich nationale Mitverantwortung. Damit wird auch der Missbrauch solcher Mittel eingeschränkt. Ich finde es deshalb unverantwortlich, dass die Agenda 2000 ohne Kofinanzierung abgeschlossen worden ist. Ich bin überzeugt, dass die Kofinanzierung der europäischen Agrarpolitik eine Voraussetzung dafür ist, dass die Osterweiterung überhaupt finanziert werden kann. ({6}) Diese Kofinanzierung wäre aber auch die Voraussetzung dafür gewesen, in Europa eine bessere Agrarpolitik durchzusetzen, die mehr auf Mengenbegrenzung statt auf Weltmarktagrarpreise setzt. Auf den Flächen, die dann für die Agrarproduktion nicht benötigt werden, könnten nachwachsende Rohstoffe angebaut werden. Wir würden insgesamt eine bessere Agrarpolitik erreichen, wenn man dem Thema nachwachsende Rohstoffe auf europäischer Ebene mehr Beachtung schenken würde. Wie Mengenbegrenzung am Markt funktioniert, machen uns momentan die Ölscheichs eindrucksvoll vor. Genauso würde Mengenbegrenzung in der Agrarpolitik funktionieren. Wenn wir darauf setzen würden, wären wesentlich weniger Gelder der Steuerzahler notwendig, und unsere Landwirte könnten auf den Märkten wieder bessere Preise für ihre Produkte erzielen. Längerfristig sind in Europa 30 Millionen Hektar Agrarfläche nicht für die Nahrungsmittelproduktion erforderlich. Es ist interessant, welche Energiemenge dort erzeugt werden könnte. Wir können pro Hektar etwa 5 000 Kilogramm Heizöläquivalent ernten. Das kann man hochrechnen: 5 Tonnen Heizöläquivalent pro Hektar mal 30 Millionen Hektar Agrarüberschussfläche ergeben immerhin 150 Millionen Tonnen Heizöläquivalent, die jährlich als nachwachsende Rohstoffe auf diesen Agrarüberschussflächen angebaut werden könnten. Damit könnten jährlich 300 Millionen Tonnen CO2 in Europa eingespart werden. Dieser Weg muss in der Agrarpolitik beschritten werden. Man kann die Rechnung auch anders machen, um dieses Potenzial zu erkennen. Mir hat ein Energiewirtschaftler gesagt, dass man pro Einwohner etwa 750 Kilogramm Heizölenergie benötigt. Das bedeutet, wenn wir auf den Agrarüberschussflächen 150 Millionen Tonnen Heizöläquivalent ernten könnten, könnten wir jährlich für 200 Millionen Einwohner in Europa Heizenergie erzeugen. Das ist ein gewaltiges Potenzial. Insoweit wären wir von den Ölscheichs dann nicht mehr erpressbar. Der Einsatz nachwachsender Rohstoffe hätte eine positive Mehrfachwirkung: Einsparung fossiler Vorräte, Abbau der Agrarüberschüsse, Entlastung der Agrarmärkte, CO2-Einsparung, Arbeit für den ländlichen Raum. Dies alles ergäbe wieder Perspektiven für den bäuerlichen Berufsstand, vor allem für unsere jungen Landwirte. Hier kommt dann immer das Gegenargument, das Ganze sei nicht finanzierbar. Schauen wir uns den Finanzrahmen dahin gehend an, ob dies nicht doch möglich ist. Berechnungen ergeben, dass wir momentan für einen wirtschaftlichen Einsatz von nachwachsenden Rohstoffen bzw. Energien pro Hektar Anbaufläche im Durchschnitt umgerechnet etwa 1 200 DM benötigen würden. Wenn die Ölpreise weiter steigen, brauchen wir in Zukunft pro Hektar weniger. ({7}) - Eine europaweite Ökosteuer in Form einer CO2-Abgabe hätte Sinn. Ihr aber verwendet die Ökosteuer an ganz anderer Stelle und nicht für den besseren Einsatz von nachwachsenden Rohstoffen. Ich will die Rechnung weiterführen: Multipliziert man die in Europa bestehende Agrarüberschussfläche von 30 Millionen Hektar mit 1 200 DM, ergäbe dies einen Subventionsbedarf in Höhe von 36 Milliarden DM. Der Agrarhaushalt in Europa beträgt derzeit 81,5 Milliarden DM. Das heißt, weniger als 45 Prozent dieser Mittel würden ausreichen, um die Agrarüberschüsse in Europa zu beseitigen und es den Bauern zu ermöglichen, auf dem Markt wieder bessere Preise zu erzielen. Das wäre meiner Ansicht nach der wesentlich bessere Weg. Dies wäre eine Agrarpolitik, die, wie gesagt, den Steuerzahler weniger kostet, den Bauern mehr bringt, die Umwelt entlastet und Arbeitsplätze schafft bzw. sichert. ({8}) Warum erkennen viele diese positiven Ansätze nicht? Müssen erst Tankerkatastrophen wie vor einigen Jahren in Alaska oder voriges Jahr an der französischen Küste geschehen, damit man bestimmten Leuten die Augen öffnen kann? Wären diese Tanker mit Pflanzenöl beladen gewesen, dann wären keine Langzeitschäden an den betroffenen Küsten erfolgt. ({9}) Im Gegenteil, lieber Albert Schmidt: Pflanzenöl kann als Fischfutter verwendet werden. Es wäre somit zu keinerlei ökologischen Schäden an den betroffenen Küsten gekommen. ({10}) Die Idee, nachwachsende Rohstoffe anzupflanzen, ist ja nichts Neues. Henry Ford hat bereits 1935 gesagt - ich darf ihn zitieren -: Die Zeit kommt heran, in welcher der Bauer nicht mehr nur Ernährer seines Volkes, sondern auch Lieferer der Rohstoffe für die Industrie sein wird. Ein weiser Satz, den Henry Ford vor vielen Jahren ausgesprochen hat. Er würde sich sicherlich freuen, wenn er feststellen könnte, dass einerseits Autos mit Pflanzenöl fahren, dass anderseits Pflanzen aber auch eingesetzt werden können, um damit Autos zu bauen. ({11}) Als CSU-Abgeordneter freue ich mich, dass die CSUgeführte Bayerische Staatsregierung in ganz Deutschland im Bereich der nachwachsenden Rohstoffe eine Vorreiterrolle einnimmt. Lieber Erwin Huber, vielen Dank, dass die Bayerische Staatsregierung für nachwachsende Rohstoffe mehr Finanzmittel zur Verfügung stellt als alle rotgrün regierten Bundesländer in Deutschland zusammen. ({12}) In Bayern wird gehandelt und nicht nur geredet. Das soll auch so bleiben. Die dafür erforderlichen Mehrheiten sind in Bayern vorhanden. Wir sind es unseren Kindern und Enkeln schuldig, die verantwortungslose Plünderung fossiler Rohstoffe einzudämmen. Nachwachsende Rohstoffe und nachwachsende Energien können dazu einen Beitrag leisten. Der von der Kommission im Hinblick auf die Faserpflanzen Flachs und Hanf vorgelegte Vorschlag geht in die falsche Richtung. Jetzt liegt es an der Bundesregierung, mit einer Verhinderung der Brüsseler Vorschläge eine kleine, aber interessante Marktnische voranzubringen. Die CDU/CSU-Fraktion erwartet von der Bundesregierung für die Interessen der deutschen Flachs- und Hanfanbauer erfolgreiche Verhandlungen. Die CDU/ CSU-Fraktion wird der Beschlussempfehlung der Regierungsfraktionen zustimmen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({13})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Steffi Lemke vom Bündnis 90/Die Grünen.

Steffi Lemke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002720, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Kollege Deß hat soeben bewiesen, dass es auch in der CSU Abgeordnete gibt, die sehr ökologisch und nachhaltig denken und hier im Bundestag eine entsprechende Rede halten können. ({0}) Ich finde das sehr gut. Herr Kollege Deß, machen Sie weiter so. Da haben wir viele Gemeinsamkeiten. ({1}) Die gemeinsame Marktorganisation für Flachs und Hanf besteht seit nunmehr 30 Jahren. Die ursprüngliche Intention war hauptsächlich im Schutz der traditionellen Erzeugerregionen der damaligen Gemeinschaft - das waren vor allem Belgien, Frankreich und die Niederlande zu sehen. Hiermit wurde in der damaligen Zeit einer Nischenproduktion das Überleben gesichert. Inzwischen haben sich aber die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen grundlegend geändert. Nachwachsende Rohstoffe haben wieder einen festen Platz in der Landwirtschaft. Sie sind die erneuerbaren Ressourcen einer innovativen und weit gefächerten jungen Industrie, die sich in den vergangenen Jahren in Deutschland entwickelt hat. Im Wirtschaftsjahr 1999/2000 erreicht der Anbau nachwachsender Rohstoffe in Deutschland einen neuen Höchststand. Inzwischen werden in Deutschland auf 5,6 Prozent der Ackerfläche nachwachsende Rohstoffe angebaut. Ich freue mich über diese Entwicklung und halte sie für zukunftsweisend. Wurden nachwachsende Rohstoffe Anfang der 90er-Jahre eher als willkommenes Ventil zum Abbau einer Überschussproduktion betrachtet, so treten heute die eigentlichen Vorteile nachwachsender Rohstoffe viel stärker in den Vordergrund. ({2}) Zum einen sind nachwachsende Rohstoffe die Grundlage einer Ressourcen schonenden nachhaltigen Technologie und Energieversorgung, zum anderen schaffen sie neue Arbeitsplätze in mittelständischen Verarbeitungsunternehmen im ländlichen Raum und bilden damit eine neue Einkommensquelle für Landwirte. ({3}) Inzwischen haben Hanf und Flachs völlig neue Einsatzbereiche als Verbundwerkstoffe in ganz verschiedenen Industrien erschlossen. Herr Deß hat die Automobilindustrie als ein Beispiel angesprochen. Der Einsatzbereich Verbundwerkstoffe geht darüber aber weit hinaus und auch in Dämmstoffen für die Bauindustrie oder als Geotextilien in der Landschaftsgestaltung liegen neue Möglichkeiten für nachwachsende Rohstoffe. Auch die EU-Kommission bescheinigt diesen Bereichen erhebliche Wachstumspotenziale. Umso unverständlicher ist der Vorschlag, den die EUKommission im November vergangenen Jahres zur Reform der gemeinsamen Markorganisation vorgelegt hat. Als Hauptbegründung wird dort angeführt, dass es in den vergangenen Jahren in verschiedenen Mitgliedstaaten verstärkt zur Prämienjägerei gekommen sei, weil die Anbauer versuchten, die pauschale Hektarbeihilfe in Höhe von 815 Euro für Flachs bzw. 660 Euro für Hanf abzugreifen. Allerdings geht der Vorschlag der Kommission am Problem vorbei, denn wenn man sozusagen das Kind mit dem Bade ausschüttet, wird dies der Flachs- und Hanfindustrie weder in Deutschland noch in den anderen Mitgliedstaaten im Nachhinein etwas nützen. Die Ausgaben für die Marktorganisation bei Hanf und Flachs sind stark angestiegen. Deshalb hat auch meine Fraktion nicht bestritten, dass eine Reform notwendig ist. Wir erkennen den Reformbedarf an und haben auch den Anbauern immer wieder gesagt, dass sie nicht auf Dauer von einer Prämie auf dem ursprünglichen Niveau von 1 500 DM ausgehen könnten, sondern dass diese Förderung absinken werde. Ich kenne sehr viele Anbauer, aber auch Verarbeiter in der Flachs- und Hanfindustrie, die sich auf diese Entwicklung eingestellt haben, weil sie wussten, dass es zwar eine Anschubfinanzierung in beträchtlicher Höhe geben, dem aber irgendwann ein Absinken der Förderung folgen werde. Allerdings darf diese Absenkung nicht so erfolgen, wie es die EU-Kommission jetzt vorgeschlagen hat. Letztendlich soll für Deutschland ein Deckel eingezogen werden, der der Flachs- und Hanfindustrie in Deutschland den Hahn zudrehen würde. Dadurch würden einem aufstrebenden Industriezweig Steine in den Weg gelegt werden, was auch durch den Reformbedarf nicht mehr zu begründen ist. Lediglich 6 600 Tonnen Flachs- und Hanfstroh sollen in Deutschland künftig noch prämienberechtigt sein, obwohl bereits jetzt eine Verarbeitungskapazität von 27 000 Tonnen vorhanden ist. Eine derart restriktive Obergrenze für die prämienberechtigte Verarbeitungsmenge wird von uns entschieden abgelehnt. ({4}) Bündnis 90/Die Grünen haben sich seit 1993 für die Wiederzulassung des Anbaus von Hanf in Deutschland eingesetzt. Damals gab es in diesem Hause sehr ideologisch geprägte Debatten. Wir konnten letztendlich in langwieriger Überzeugungsarbeit und in vielen Gesprächen mit den anderen Fraktionen erreichen, dass der Hanfanbau in Deutschland wieder zugelassen wurde. Seitdem wird er auch von allen Fraktionen begrüßt und unterstützt. Hier sollten wir gemeinsam fortfahren. Wir haben die EU-Kommission gebeten, ihre Entscheidung zu überdenken. Das Europäische Parlament hat entsprechend gehandelt. Die Verhandlungen zwischen dem Europäischen Parlament und der Kommission können, wie ich hoffe, in der nächste Woche zu einem Vorschlag führen, der auch der deutschen Flachs- und Hanfindustrie gerecht wird. Ich freue mich, dass zumindest Teile der Opposition unserem Antrag zustimmen. Wir wollen die Verhandlungsposition auf europäischer Ebene im Sinne Deutschlands stärken und hoffen, dass wir dort einen Erfolg für die deutschen Flachs- und Hanfanbauer erzielen werden. Wir fordern Kommissar Fischler auf, in der nächsten Woche in diesem Sinne eine Entscheidung zu treffen. Danke. ({5})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Marita Sehn von der F.D.P.-Fraktion.

Marita Sehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002146, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wir möchten uns den guten Wünschen anschließen, an Herrn Thalheim zum Geburtstag und auch an den Minister, damit er bald wieder unter uns sein kann. ({0}) Faserflachs und -hanf sind keine Eier legenden Wollmilchschweine. Obwohl die potenziellen Einsatzmöglichkeiten von der Textilbranche bis zu den neuen Märkten im Kurzfaserbereich der Automobil- und Dämmstoffindustrie reichen - wir konnten uns am Wochenende auf der EXPO davon überzeugen; wir alle begrüßen diese auch -, greift immer mehr Nüchternheit Platz. Die bestehende gemeinsame Marktorganisation für Flachs und Hanf ist bürokratisch, teuer und wird missbraucht. ({1}) Es ist richtig und überfällig, die untragbaren Missstände insbesondere in den südlichen Mitgliedstaaten endlich zu beenden. ({2}) Aus marktwirtschaftlicher Sicht sind allerdings Zweifel angebracht, ob die neue Marktorganisation die richtigen Antworten aufzeigt. Für die F.D.P. hätte ich mir in diesem Zusammenhang einen marktwirtschaftlichen Schnitt gewünscht. ({3}) Eine Anschubfinanzierung ist richtig - ich denke, da sind wir uns alle einig -, um die vielfältigen Chancen insbesondere auf den neuen Märkten zu nutzen. Aber es kann doch nicht sein, dass wir die Fehler in anderen Bereichen - ich nenne als Stichwort die Milch - auf Kosten der Steuerzahler und der Landwirte wiederholen. Natürlich muss alles unternommen werden, damit die politisch gewollten und mit erheblichen Mitteln der EU, des Bundes und der Länder geförderten Investitionen nicht sinnlos waren. ({4}) Leider könnte genau das zumindest für die heimischen Landwirte bittere Realität werden. Unsere Hauptkritikpunkte an der Verordnung sind: Erstens. Es wird eine verfehlte Agrarpolitik in Form einer teuren und bürokratischen Marktorganisation zementiert. ({5}) Zweitens. Die zahlreichen Regelungen und Vorschriften werden zu einer aufwendigen und komplizierten Umsetzung führen, die deren Akzeptanz weiter verringert. ({6}) Drittens. Die für Deutschland im Rahmen der Verarbeitungshilfe vorgeschlagenen Mengen in Höhe von 6 600 Tonnen bleiben weit hinter den Kapazitäten von etwa 27 000 Tonnen zurück. ({7}) Spätestens an diesem Punkt beißt sich die Katze in den Schwanz. Werden diese nationalen Quoten weiter aufgestockt, bedeutet das zwangsläufig ein Aufweichen der Haushaltskonsolidierung auf EU-Ebene. Die genannten Argumente sprechen ganz klar für eine marktwirtschaftliche Lösung. Deshalb sollte im Interesse der Landwirte und der betroffenen Wirtschaft die Chance ergriffen werden, um die ausgetretenen Wege der Marktorganisationen zu verlassen. ({8}) Wir werden der Beschlussempfehlung nicht zustimmen. Danke. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Kersten Naumann von der PDSFraktion.

Kersten Naumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003197, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Anbau von Flachs und Hanf stieg seit der Lockerung des Anbauverbots 1996 rapide an und wurde, da politisch gewollt, durch EU, Bund und Länder gefördert. In den strukturschwachen Regionen, gerade im Osten, sind die Ausgaben für getätigte und geplante Investitionen zur Verarbeitung immens; sie liegen im dreistelligen Millionenbereich. In Gardelegen in Sachsen-Anhalt entstand eine Verarbeitungsanlage mit einer Investitionssumme von 8 Millionen DM, eine der modernsten Anlagen Europas. Doch die für Deutschland vorgesehene beihilfeberechtigte Höchstmenge für Hanf- und Flachsfasern in Höhe von 6 600 Tonnen pro Jahr entspricht etwa einem Drittel der zurzeit zugelassenen Verarbeitungskapazitäten. Bezieht man die im Aufbau befindlichen Unternehmen ein, so würde Deutschland eine Quote von 27 000 Tonnen Fasern benötigen. Die Verarbeitungskapazität beträgt allein in Sachsen-Anhalt 3 500 Tonnen pro Jahr und der Anbau zog nach. Waren es 1996 noch 100 Hektar Anbaufläche in Sachsen-Anhalt, so wurde 1998 schon auf 816 Hektar angebaut. Flachs und Hanf stellen für die heimische Landwirtschaft nicht nur eine echte Produktions- und Einkommensalternative dar. Sie tragen dazu bei, im ländlichen Raum Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen. Aber auch als Fruchtfolgeglied ist der Rohstoff in der ohnehin engen Getreidefruchtfolge weitestgehend ohne Einsatz von Pflanzenschutzmitteln und Düngemitteln sehr umweltfreundlich. Hier treffen sich also Interessen der Agrar-, Umwelt- und Arbeitsmarktpolitik. ({0}) Hanf zeigt aufgrund des hohen Kohlenstoffgehaltes praktikable Alternativen für neue keramische Werkstoffe, für Naturfaserstoffe und Polymerverbindungen bis hin zum Ersatz von Glasfaserstoffen auf. Für einige Anwendungen zeigt sich bereits Interesse bei den Industriezweigen der Telekommunikation, der Möbel- und Automobilindustrie bis hin zur Raumfahrt. Die damit verbundenen Chancen zu ihrer effektiven Nutzung in sehr effizienten Material-, Struktur- und Technologiekonzepten bieten auch die Chance zu einer hohen Wertschöpfung. Die Annahme der EU-Kommission, dass zahlreiche Enderzeugnisse aus Hanffasern sehr hohe Faserpreise bewirken werden, ist jedoch äußerst verfrüht; sie läuft an den derzeitigen Realitäten vorbei. Eine Absenkung der Produktionsquote - zumindest bei einer Absenkung der Flächenbeihilfe auf das Niveau von Getreide - halten wir für falsch und hinsichtlich der Entwicklung des Marktes für innovative Produkte aus nachwachsenden Rohstoffen sogar für kontraproduktiv. Der EU-Kommission ist allerdings das Nachwachsen der Ressourcen und deren Verarbeitung zu teuer. Im Gegensatz dazu erfolgt zurzeit bundesweit der Ruf nach geförderter Energieerzeugung aus Biomasse. Flachs und Hanf werden in dieser Frage stiefmütterlich behandelt, obwohl damit dieselben Effekte erreicht werden können. Sie benötigen jedoch - wenn durch die EU nicht hinreichend gefördert wird - ein nationales Programm der Förderung. Ansonsten stellt man Entwicklungen, die bereits vorangeschritten sind, von den Füßen auf den Kopf. Die PDS unterstützt das EU-Parlament nachdrücklich in seiner ablehnenden Haltung. Danke schön. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung zu Vorschlägen für zwei Verordnungen des Rates betreffend Faserflachs und -hanf. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3415, die Vorschläge zur Kenntnis zu nehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung einstimmig angenommen. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3415 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist die Beschlussempfehlung gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ernst Burgbacher, Gisela Frick, Hildebrecht Braun ({0}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes ({1}) - Drucksache 14/1731 ({2}) ({3}) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({4}) - Drucksache 14/3272 Berichterstattung: Abgeordnete Horst Schild Ernst Burgbacher Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat das Wort für den Antragsteller der Kollege Ernst Burgbacher.

Ernst Burgbacher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003063, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als wir diesen Gesetzentwurf im Oktober 1999 eingebracht haben, war ich eigentlich optimistisch, dass wir für ein vernünftiges Anliegen, dem viele in diesem Hause, wie ich weiß, zustimmen, am Ende auch eine fraktionsübergreifende Mehrheit finden würden. ({0}) Die Voraussetzungen waren eigentlich sehr gut. Die SPD hat die Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung in ihrem Wahlprogramm. Der damalige Ministerpräsident von Niedersachsen hat es dem Hotel- und Gaststättenverband persönlich versprochen. ({1}) Leider ist nichts geschehen. ({2}) Von der CDU/CSU hatten wir Zeichen, dass auch dort Zustimmung durchaus möglich ist. Unser Außenminister Fischer wird mit dem Satz zitiert: man könne sich ja wohl vorstellen, was passiert wäre, wenn man ihm als Taxifahrer ans Trinkgeld gegangen wäre. ({3}) Leider sieht die Lage heute ein ganzes Stück anders aus. In den Ausschüssen war das Abstimmungsverhalten sehr unterschiedlich. Die SPD hat sich im Tourismusausschuss enthalten, sonst zugestimmt. Die CDU/CSU hat im Wirtschaftsausschuss zugestimmt, sonst dagegen gestimmt. Ich glaube, das zeigt die Unsicherheit. Es ist eigentlich schade und schlecht für alle Betroffenen, die auf dieses Gesetz gewartet haben, dass wir heute wohl keine Mehrheit dafür finden werden. ({4}) Zur Sache: Richtig ist, dass der Bundesfinanzhof Trinkgeld als steuerpflichtigen Arbeitslohn betrachtet. Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf diese Rechtsprechung gesetzgeberisch aufheben. ({5}) Ich zitiere wörtlich aus unserem Gesetzentwurf: Freiwillig gezahlte Trinkgelder gehören nicht zu den Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit. Dies würde das Problem auch wirklich lösen. Wir müssen - völlig richtig - zwischen freiwillig gezahlten und solchen Trinkgeldern unterscheiden, die auf der Rechnung auftauchen. Diese müssen natürlich versteuert werden. Wie sieht denn die Praxis aus? Das Finanzamt kontrolliert und kontrolliert mehr denn je. Das Finanzamt schätzt die Höhe des Trinkgeldes auf 1,7 bis 3,3 Prozent des Umsatzes. Dann muss die Steuer nachbezahlt werden. Doch damit nicht genug. Diese Daten werden an die BfA und an die AOK weitergegeben und dann müssen Sozialbeiträge nachgezahlt werden, und zwar vom Arbeitgeber, der aber den Arbeitnehmeranteil in Höhe von 50 Prozent von diesem überhaupt nicht mehr zurückholen kann. Ich sage Ihnen ein konkretes Beispiel und kann Ihnen auch den Namen des Gasthofes nennen: Es wurden Nachzahlungen in Höhe von über 28 000 DM an Sozialbeiträgen plus über 10 000 DM an Säumnisgebühr erhoben. Wenn er dies bezahlen muss, macht er den Laden zu. Das kann doch keine Politik für mehr Arbeitsplätze sein. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. - Marita

Marita Sehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002146, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das kann nicht unser Ernst sein! - Dirk Niebel ({0}): Und das für ein Dankeschön für gute Leistungen! Das ist eine Frechheit!) Noch ein Punkt: Ich habe die Regierung nach der Praxis und dem Aufkommen in anderen Ländern gefragt. Die Regierung kennt das Aufkommen und den Verwaltungsaufwand nicht. Nach Untersuchungen, die mir sehr seriös erscheinen, beläuft sich das Nettoaufkommen bei der Trinkgeldbesteuerung auf 3 bis 4 Millionen DM jährlich. ({1}) - Millionen. Wir schätzen das Aufkommen auf 10 Millionen DM bei Verwaltungskosten in Höhe von 6 bis 7 Millionen DM. Um diese Zahlen diskutieren wir, die einen ganzen Berufsstand in seiner Tätigkeit hemmen, die Motivation töten statt wecken. ({2}) Meine Damen und Herren, Trinkgeld wird für die Qualität der Bedienung gegeben. Wenn ich nicht gut bedient werde, gebe ich auch kein Trinkgeld. Dies ist eine Leistung, auf die der Dienstleistende keinerlei Anspruch hat. Deshalb kann es nicht Bestandteil des Einkommens sein. ({3}) Es kann maximal eine Schenkung sein. Für diese haben wir Steuersätze, mit denen wir allemal leben könnten. ({4}) Das Ganze verstößt auch gegen den Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Wir wissen, dass in einigen Bereichen, in der Gastronomie und zunehmend auch im Taxigewerbe, Prüfungen gemacht werden, in den meisten anderen Bereichen aber nicht und auch gar nicht gemacht werden können. Auch deshalb muss mit der Trinkgeldbesteuerung Schluss sein. ({5}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir befinden uns in einer Dienstleistungsgesellschaft. Wir alle hoffen, dass wir im Dienstleistungsgewerbe einen großen Teil der Arbeitsplätze schaffen können, die im produzierenden Sektor weggefallen sind. Aber wir werden diese Arbeitsplätze nur dann schaffen können, wenn wir auch die Servicementalität in unserem Land verbessern. ({6}) Meine Erfahrungen, die ich im vergangenen halben Jahr in unendlich vielen Gesprächen gewonnen habe, sind folgende: Die Leute sind es leid, und bevor eine Steuererklärung gemacht wird, werden Dinge eben schwarz gemacht. Dann kommen die Kontrollen. Es kann doch nicht Ihr Ernst sein, so etwas beibehalten zu wollen. ({7}) Insbesondere der Tourismusbereich ist erheblich darauf angewiesen. Wir reden vom Jobmotor Tourismus. Aber dieser Motor wird nur dann laufen, wenn wir hochwertiges Öl einfüllen. Hochwertiges Öl in diesem Bereich heißt: Eigeninitiative, Selbstverantwortung, Leistungsbereitschaft. ({8}) Wenn wir aber das abgestandene Gemisch alter Ideologien einfüllen, wird dieser Motor ins Stottern kommen oder schließlich mit einem Kolbenfresser ganz aufhören zu laufen. Deshalb, meine Damen und Herren, gilt es jetzt durchzustarten. Ich appelliere an Sie: Niemand draußen versteht, wenn dieser Gesetzentwurf heute abgelehnt wird. Die Menschen, die abends und am Wochenende im Service tätig sind, erwarten, dass die Politik tätig wird, dass sie auf neue Entwicklungen in der Gesellschaft reagiert. Deshalb wäre es unverständlich, wenn Sie diesem Gesetzentwurf der F.D.P. heute nicht zustimmten. Ich sage Ihnen, wenn der Gesetzentwurf heute abgelehnt wird, werden wir weiter kämpfen. Es ist eine richtige Sache. Wir werden dranbleiben. Ich prophezeie, wir werden dass auch noch durchsetzen. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Horst Schild von der SPD-Fraktion das Wort.

Horst Schild (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002775, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrter Kollege Burgbacher, die Argumente sind gedreht, gewendet und ausgetauscht. Ich werde auch gerne das wiederholen, was ich schon einmal gesagt habe. Das Argument ist populistisch, und viele hier im Saal und auf der Tribüne werden sagen: Das ist toll, das muss so sein. ({0}) - Das Problem besteht darin - auch das habe ich hier schon einmal gesagt; ich wiederhole es gerne -, dass Sie von der Auffassung ausgehen, die gegenwärtige Form der Trinkgeldbesteuerung, das heißt die gegenwärtig im Einkommensteuergesetz festgesetzten steuerfreien 2 400 DM wären nicht mehr zeitgemäß. Sie sind damit allein. ({1}) Sie haben selbst gesagt, dass der Bundesfinanzhof weiter an der Rechtsauffassung festhält, dass das Trinkgeld Bestandteil des Arbeitslohnes ist - auch die Kollegen von der CDU/CSU, die ja den Antrag eingebracht haben. Man könnte gegebenenfalls noch darüber reden, die Grenze in § 3 Nr. 51 des Einkommensteuergesetzes anzuheben. Auch das steht in der Begründung. Damit bleibt aber die Rechtsauffassung, dass Trinkgelder Bestandteil des Einkommens sind, erhalten. Machen wir uns nichts vor. Im Gastgewerbe und in vielen anderen Bereichen ist mit der Aufnahme einer Tätigkeit in diesem Bereich auch die Erwartung verbunden, Trinkgelder zu erhalten. Auch das ist hier gesagt worden. Das spielt auch bei Tarifvereinbarungen und bei der Entlohnung eine Rolle. Trinkgeld wird bei der Bemessung der Einkünfte mit einbezogen. Das ist unstrittig. Aber das ist nur ein Aspekt. Wenn Sie meinen, Sie können einfach so einen Baustein herausbrechen und sagen, diese Grenze streichen wir einmal in § 3 Nr. 51, dann müssen Sie auch bedenken, dass das Präjudizwirkung hat. Was ist denn mit anderen Freigrenzen? Was ist beispielsweise mit dem Arbeitnehmerrabatt, der gegenwärtig auf 2 400 DM festgelegt ist? ({2}) - Das ist nicht etwas anderes. Sie müssen davon ausgehen, dass der Gesetzgeber auch bei solchen Anträgen zu beachten hat, ob es sich insgesamt und nicht nur in die Rechtsprechung, sondern auch in die einzelnen Bausteine des Einkommensteuergesetz einfügt. ({3}) - Ich weiß, wir wären ja alle viel froher, wenn wir einmal losgelöst von Sachkenntnis und von den Maßstäben des Einkommensteuergesetzes sagen könnten, darüber setzen wir uns einfach einmal hinweg. Aber so einfach, meine Damen und Herren, ist es nicht. Ein zweites Argument. Sie gehen davon aus, dass mit der Trinkgeldbesteuerung der Gleichheitsgrundsatz der Besteuerung verletzt wird. Allein die Tatsache, dass es Schwierigkeiten bei der Erhebung der Steuer gibt, kann aber kein hinreichender Anlass dafür sein zu sagen: Dann verzichten wir darauf. Wenn das zum Maßstab der Finanz- und Steuerpolitik in diesem Lande würde, dann müsste der Staat auf manche Einnahme verzichten, nicht nur auf diese. Ich will ein drittes Argument ansprechen. Sie haben das war ja auch bei Ihrer Einbringungsrede ganz deutlich - diesen Antrag nicht als den großen Baustein einer liberalen Steuerreform gepriesen, sondern als einen Einstieg in einen Schub, der sozusagen den Arbeitsmarkt im Hotel und Gaststättengewerbe neu aufrollen würde. Wir haben - diese Zahlen können Sie über-all nachlesen erstmalig seit Antritt dieser Regierung einen deutlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit. Nach den Zahlen des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit beläuft er sich für das Jahr 2000 auf ungefähr eine Viertelmillion. ({4}) - Herr Fromme, Sie können ja gerne eine Zwischenfrage stellen. Wir haben im Jahre 2001 nach Einschätzung der Bundesanstalt für Arbeit wahrscheinlich einen weiteren Rückgang um 350 000 Arbeitslose. Diese Entwicklung ist auch am Hotel- und Gaststättengewerbe nicht spurlos vorübergegangen. Wir haben, nachdem wir jahrelang einen deutlichen Rückgang der Beschäftigungszahlen sowohl im Beherbergungs- als auch im Gaststättengewerbe verzeichnen mussten, erstmals seit vielen Jahren wieder einen spürbaren Zuwachs der Arbeitsplätze. Sie wissen, dass wir im Jahre 2000 auch eine deutliche Zunahme bei den Übernachtungen und bei den Touristen in diesem Lande haben. Sie können niemandem weismachen, dass dies über eine Aufhebung der Besteuerung von Trinkgeldern zu steuern ist. Das ist das Ergebnis der konsequenten Arbeitsmarkt- und Finanzpolitik dieser Regierung. An diesem Punkt werden wir weitermachen. ({5}) Wenn Sie für die Beschäftigten und die Betriebe in diesem Bereich etwas tun wollen, dann gehen Sie mit uns die vorgezeichneten Schritte weiter. Wir haben im Bundestag ein Steuersenkungsgesetz verabschiedet. Das wird auch - soweit es von Ihnen nicht blockiert wird - zu spürbaren Entlastungen im Portemonnaie sowohl der Beschäftigten im Gaststättengewerbe als auch bei den Betrieben führen. Das sind andere Dimensionen. Auf diese Art und Weise werden wir die Beschäftigung auf diesem Feld sichern und auch mehr Arbeitsplätze schaffen. Mein Appell lautet: Blockieren Sie das Steuersenkungsgesetz nicht im Bundesrat, sondern tragen Sie dazu bei, dass auf diesem Wege die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeber spürbare Entlastungen erfahren. Damit ist uns und den Betroffenen mehr geholfen als mit der Diskussion über die Frage der Trinkgeldbesteuerung, die Sie zum Gegenstand Ihres Gesetzantrages gemacht haben. ({6}) Danke schön. ({7})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als nächster Redner hat der Kollege Klaus-Peter Willsch von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Klaus Peter Willsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003264, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie wissen, lieber Herr Burgbacher, dass ich genauso wenig wie Sie möchte, dass sich Herr Eichel von dem Trinkgeld, das ich für einen guten Service hingebe, einen Teil in den Sack steckt. ({0}) Sie wissen aber auch - wir haben über dieses Thema schon gelegentlich gesprochen -, dass es nicht ganz so einfach ist, wie Sie es gelegentlich darstellen. Wir haben die Themenbereiche Gleichheit in der Steuerbelastung und Gleichheit im Belastungserfolg zu beachten und müssen natürlich Präzedenzwirkungen berücksichtigen. Wir haben deshalb als CDU/CSU-Fraktion einen gangbaren Weg vorgeschlagen, wie wir zu dem kommen, was wir eigentlich wollen, nämlich dass das, was gemeinhin als Trinkgeld gegeben wird, bei den Servicekräften steuerfrei bleibt. Wir haben unseren Vorschlag im Finanzausschuss eingebracht, und da wäre, Herr Schild, Gelegenheit gewesen, darüber zu diskutieren. Wir haben darüber diskutiert, aber Sie haben sich weder gesprächs- noch ergebnisbereit gezeigt. Die Anhebung des Freibetrages von gegenwärtig 2 400 DM, der seit 1990 auf dieser Höhe ist, auf 3 600 DM würde dazu führen, dass der weit überwiegende Teil der Trinkgelder besteuerungsfrei bleibt, ({1}) ohne dass wir gleichzeitig in eine gefährliche Situation in Richtung auf einen Gestaltungsmissbrauch gelangen. Das muss man bei der Steuergesetzgebung doch bedenken und muss auch in der Opposition bereit sein, das anzuerkennen und dazu zu stehen. Einen Gestaltungsmissbrauch verhindert man durch angemessene Freibeträge in Bereichen, in denen der Erhebungsaufwand unverhältnismäßig hoch ist. Genau das ist der Weg, den wir vorgeschlagen haben und den wir auch auf anderen Feldern, zum Beispiel bei den Übungsleitern, gegangen sind. Wir sollten das auch bei diesem Thema machen. ({2}) Wir als CDU halten nämlich damit auch fest an unserem bewährten synthetischen Einkommensteuerbegriff, der unserer Einkommensbesteuerung zugrunde liegt. Wenn ich hier bei meinen an die F.D.P. gerichteten Bemerkungen Kopfnicken bei der SPD bemerkt habe, dann muss ich leider feststellen, dass bei Ihnen die Grundsatztreue in der Frage des synthetischen Einkommensteuerbegriffs leider nicht besonders ausgeprägt ist. Da kann ich mich insgesamt an das Regierungslager wenden. Sie haben nämlich diesen bewährten Einkommensbegriff verlassen, indem Sie die Mindestbesteuerung eingeführt haben, indem Sie Veräußerungsgewinne von Großbanken, von Versicherungsunternehmen, von Kapitalgesellschaften von der Besteuerung freistellen wollen, indem Sie das bewährte Anrechnungsverfahren aufgeben und durch das Halbeinkünfteverfahren ablösen wollen, worüber wir ja nun im Vermittlungsausschuss streiten. Sie sind an diesem Punkt der Einkommensbesteuerung in Deutschland nicht grundsatztreu. Sie legen es sich zurecht, wie Sie wollen. Ich glaube, der von uns vorgeschlagene Weg ist genau richtig, und wenn man bei der Einkommensbesteuerung nominale Freibetragsgrenzen einführt, muss man ihn natürlich auch gehen. Nominale Werte müssen von Zeit zu Zeit angepasst werden. Der Freibetrag von 2 400 DM besteht seit 1990. Da ist es Zeit, und wir können durch diesen von uns vorgeschlagenen Schritt zu dem Ergebnis kommen, das wir uns wünschen. Auch wir wollen, dass im Dienstleistungssektor in Deutschland Leistung belohnt wird, dass wir die Servicekräfte motivieren, also diejenigen, die Dienste für uns erbringen, die ihren Dienst häufig zu ungünstigen Zeiten verrichten, die wichtig sind für den Tourismusstandort Deutschland, die dafür sorgen, dass Menschen gerne zu uns kommen und wieder kommen. Deshalb meinen wir, die Mehrheitsfraktionen müssten noch einmal darüber nachdenken und sollten uns nachgeben. Denken Sie bitte auch daran, was Sie gerade dem Bereich Hotellerie und Gaststätten, um den einmal herauszunehmen, schon alles zugemutet haben, seit Sie an der Regierung sind. Ein Gesetzesvorhaben nach dem anderen hat die deutsche Tourismuswirtschaft und die deutsche Gastronomie gebeutelt. ({3}) Welche Bedeutung diesem Bereich seitens der Bundesregierung beigemessen wird, kann man auch daran sehen, dass sich niemand aus dem Finanz- oder dem Wirtschaftsministerium auf der Regierungsbank verloren hat. Ich erinnere Sie an die Ökosteuer: Mehrbelastung von 15 000 bis 20 000 DM pro Betrieb allein dadurch. Ich erinnere an die Neuregelung der 630-Mark-Jobs, wo unsere Dienstleister nach wie vor händeringend versuchen, die Lücken, die dieses Gesetz geschlagen hat, irgendwie wieder auszufüllen, wo inzwischen sehr viel SchwarzHorst Schild arbeit stattfindet, für die weder Sozialversicherungsbeiträge noch Steuern gezahlt werden. Ich erinnere an das so genannte Steuerentlastungsgesetz, wo ja der Mittelstand zunächst vorfinanziert hat und in keiner Weise entlastet worden ist. Ich erinnere an das so genannte Steuerbereinigungsgesetz, wo noch einer drauf gesetzt wurde, und an die Verschiebung der Unternehmensteuerreform auf das Jahr 2001. Alles unter der Überschrift: Versprochen, gebrochen, nicht gehalten. ({4}) Die Diskussionen im Vermittlungsausschuss zeigen, dass das, was Sie gesetzgeberisch vorlegen, eine Nullnummer für den Mittelstand ist und dass wir mit der Mehrheit im Bundesrat jetzt erst ertrotzen müssen, dass hier ein vernünftiges Ergebnis für unsere mittelständischen Betriebe in Deutschland zustande kommt, gerade auch in den Bereichen, über die wir heute hier reden. ({5}) - Ach, Herr Schild, wenn Sie vom Trinkgeld für Ihre Zwischenrufe leben müssten, dann würden Sie kümmerlich verhungern, nehme ich an. ({6}) Wir haben an verschiedenen Punkten immer wieder das Gleiche erleben müssen, wenn wir über Tourismus bei uns in der Bundesrepublik Deutschland sprechen. Es wird irgendetwas versprochen, es wird mal forsch bei einer interessierten Gruppe eine Zusage gemacht, aber hinterher wird nichts eingehalten. ({7}) Ich erinnere an das leidige Thema reduzierter Mehrwertsteuersatz im Beherbergungsgewerbe. Ich will einmal die Zahlen in Erinnerung rufen. Wir muten unseren Hoteliers 16 Prozent Mehrwertsteuer zu und werden darin, wenn man sich die Nachbarländer anschaut, nur geschlagen von Großbritannien, Dänemark und der Tschechischen Republik. Alle anderen ernsthaften Konkurrenten haben Mehrwertsteuersätze in dem Bereich von null über drei oder fünf bis acht Prozent. Das ist ein Wettbewerbsnachteil. ({8}) Ich möchte so etwas nicht ansprechen, ohne an den Schriftverkehr zu erinnern, den ich mit Bundesminister Müller geführt habe. Er war ja unverhofft in der Lage, zusätzlich auch noch Finanzminister zu sein. Just in dieser Zeit habe ich ihn an sein Versprechen erinnert, das er bei der Eröffnung der ITB gegeben hatte, nämlich dass er sich für die Einführung eines reduzierten Mehrwertsteuersatzes nachhaltig einsetzen werde und dass er sich diesbezüglich mit dem Finanzminister ins Benehmen setzen werde. Nun war er selber Finanzminister. Er hat es leider versäumt, sich mit sich selber ins Benehmen zu setzen, und Eichel hat das Ganze wieder blockiert. Nur leere Versprechungen, nichts hinterher! Ich wundere mich, dass Frau Kastner heute nicht hier ist. Nein, eigentlich wundere ich mich nicht; denn ich möchte aus den von ihr verantworteten tourismuspolitischen Leitlinien der SPD zitieren, die im Mai 1998, vor der Bundestagswahl, herausgegeben worden sind: Eine Form der Anerkennung für die Beschäftigten im Gastgewerbe stellt das Trinkgeld dar, mit dem Gäste ihre Zufriedenheit ausdrücken. Die Besteuerung des Trinkgelds als Arbeitslohn verkennt den persönlichen Charakter dieser Anerkennung und ist daher abzuschaffen. ({9}) Das wurde vor der Bundestagswahl versprochen. Frau Kastner ist heute deshalb nicht da, weil sie sich diese Konfrontation sicherlich ersparen möchte. Es gibt aber neben den gebrochenen Versprechen der SPD, die sie im Allgemeinen begeht, noch eine Steigerungsform. Höchste Gefahr für die Bürger droht immer dann, wenn der Kanzler erklärt: Das mache ich jetzt zur Chefsache. ({10}) Im Gespräch mit Vertretern der deutschen Tourismuswirtschaft hat sich Bundeskanzler Schröder die ganze Angelegenheit erklären lassen, um dann deutlich zu verkünden, darum werde er sich persönlich kümmern - man muss sagen: mit kümmerlichem Ergebnis. Aber das ist kein Einzelfall. Wann immer etwas zur Chefsache erklärt wird, dann geht das so aus. Ich erinnere an das Gesetz über die 630-Mark-Jobs, das anders ausfiel, als es der Chef verkündet hatte. Ich erinnere an das Versprechen: Die nettolohnbezogene Rente bleibt! Anschließend musste man sich im Fernsehen entschuldigen. Ich erinnere an das Versprechen: 6 Pfennig Ökosteuer; dann ist Schluss! Das sind die Worte des Chefs, die man hören konnte. Ich sage nur: Am besten verlässt man sich nicht auf seine Worte. Wenn man es tut, dann ist man verlassen. Ich möchte nachdrücklich an Sie von der SPD und von den Grünen appellieren: Geben Sie sich einen Ruck, damit wir für den wichtigen Bereich der Dienstleistungswirtschaft in unserem Land etwas vorwärts bringen und damit wir Leistungsbereite motivieren und unterstützen. Geben Sie sich vor allen Dingen im Vermittlungsausschuss einen Ruck; denn dort droht der nächste Tort für den Mittelstand, wenn Sie sich das betrachten, was Sie dort vorgelegt haben: Die Kurve des Einkommensteuertarifs verläuft so steil, dass bereits bei einem Einkommen von etwa 90 000 DM bis 98 000 DM der Spitzensteuersatz erreicht wird, der insgesamt viel zu hoch ist, weil er bei 45 Prozent liegt. Seine Senkung ist auf den SanktNimmerleins-Tag verschoben. Wenn Sie endlich den Mut zu einer durchgreifenden, vorwärts weisenden sowie Wachstum und Innovation anstoßenden Steuerpolitik in diesem Lande haben, dann können wir uns solche Fachdiskussionen sparen. Danke schön. ({11})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Scheel vom Bündnis 90/Die Grünen.

Christine Scheel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002771, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Herr Willsch, ich gehe davon aus, dass sich nach den heutigen Ankündigungen bzw. Aussagen, die im Vermittlungsausschuss, dessen Sitzung gerade jetzt zu Ende gegangen ist, getroffen worden sind, einige der Punkte, die Sie hier genannt haben, aufgrund des Vorschlages der Regierungsfraktionen und der A-Länder in Wohlgefallen auflösen werden, und zwar im positiven Sinne. ({0}) Doch zurück zu dem Antrag der F.D.P. Die Begründung ist irgendwie eigenartig. Dort heißt es, dass Trinkgelder nicht mehr zu besteuern seien, weil sie keine Einkünfte aus unselbstständiger Tätigkeit darstellten; denn sie würden freiwillig gegeben. ({1}) Ich muss schon sagen: Sie sind schon sehr spitzfindig; denn unabhängig davon, ob Gelder freiwillig, zwangsweise oder aufgrund von Arbeitsverträgen gezahlt werden, handelt es sich immer um Einkünfte. Einkünfte, gleich welcher Art - das werden Sie selber nicht ernsthaft bestreiten wollen -, unterliegen nun einmal einer gleichmäßigen Besteuerung, die man gerecht ausführen und leistungsgerecht gestalten muss. ({2}) In dem anderen von Ihnen eingebrachten Antrag - ich meine den zur Unternehmensteuerreform - haben Sie eine weitere Variante aufgezeigt. Dort heißt es - darin besteht ein gewisser Widerspruch -, alle Einkunftsarten seien gleich zu behandeln. Darin sind wir uns einig. Wir alle sagen: Gerecht ist eine breite Steuerbasis, also wenige Ausnahmen, bei gleichzeitig niedrigen Steuersätzen. Damit wird gewährleistet, dass jeder nach seiner tatsächlichen Leistungsfähigkeit besteuert und über Steuersatzsenkungen entlastet wird. Auch an diesem Punkt möchte ich sagen: Hören Sie, was das Steuersenkungsgesetz betrifft, mit der Blockade im Vermittlungsverfahren auf! ({3}) Mit diesem Gesetz werden alle entlastet. Für einen verheirateten Durchschnittsverdiener bleiben nach In-KraftTreten des Gesetzes im nächsten Jahr 1 800 DM mehr als im Jahr 1998 in der Tasche; 2005 werden es etwa 3 000 DM sein. ({4}) Ich nenne dieses Beispiel nur, damit Sie sehen, dass es sich um eine gleichmäßige, adäquate Entlastung vor allen Dingen der kleinen und mittleren, aber auch der höheren Einkommen handelt. Wenn Sie mit Ihrer Blockade nicht endlich aufhören, dann wird es leider so sein, dass die Steuerbelastung so hoch wie bisher bleiben wird. Das dient weder der Wirtschaft noch den Steuerzahlern noch dem Kreis derjenigen, für den Sie versuchen, hier eine neue Klientelpolitik zu präsentieren. ({5}) Sicherlich ist die jetzige Regelung der Trinkgeldbesteuerung nicht unproblematisch. Das gilt aber nicht, weil die Trinkgelder überhaupt besteuert werden, sondern wegen des Freibetrags von 2 400 DM. Den haben nämlich andere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen nicht. Das ist an sich ungerecht, denkt man zum Beispiel an Angestellte im Büro, die kein Trinkgeld bekommen und ihre Einkünfte voll versteuern müssen. ({6}) Auf der anderen Seite, lieber Herr Willsch, ist es so, dass der Freibetrag eingeführt worden ist, damit der bürokratische Aufwand bei der Erfassung der Trinkgelder für die Steuerzahler und auch für die Finanzverwaltung in Grenzen gehalten wird. Wir meinen, dass das an dieser Stelle - aber eben nur aus diesen Gründen - absolut gerechtfertigt ist. Ich komme zur Inkonsequenz des Vorschlags der F.D.P. und zur Frage der Systematik. Ihre Vorschläge sind inkonsequent. Das gilt nicht nur für diesen, sondern auch für viele andere. ({7}) Auf der einen Seite fordern Sie immer wieder den Abbau von Ausnahmetatbeständen, während Sie auf der anderen Seite alle Möglichkeiten irgendwelcher Steuersonderabschreibungen wieder zum Leben erwecken wollen. Wie passt das zusammen? Sie machen Klientelpolitik pur, die mit einem Populismus verbunden ist, der weder der Sache dient noch irgendetwas mit Systematik oder mit Gerechtigkeit zu tun hat. Sie setzen einfach darauf, mit billigen Parolen ein paar neue Wähler und Wählerinnen zu gewinnen; sonst wollen Sie nichts. ({8}) Es ist daher vollkommen richtig, dass wir diesen unsinnigen Antrag ablehnen. Danke schön. ({9})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat die Kollegin Heidemarie Ehlert von der PDS-Fraktion das Wort.

Heidemarie Ehlert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003112, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einigen Bereichen der Gastronomie, besonders in den Biergärten und in den Eiscafés, ist in den vergangenen heißen Tagen sicherlich reichlich Trinkgeld geflossen. Das wird vermutlich bei den Friseusen weniger der Fall gewesen sein. Nur ganz Mutige werden es gewagt haben, sich bei 35 Grad im Schatten der Heißluft eines Föhns auszusetzen. Das beweist, Trinkgelder sind nach wie vor zwar eine wünschenswerte Einnahmequelle im Dienstleistungsbereich, aber eben nicht planbar. Kollege Schild, Sie haben bereits in der ersten Lesung im Namen der SPD-Fraktion nachdrücklich betont, dass Trinkgelder, realistisch gesehen, durchaus als Arbeitslohn zu bezeichnen sind. Die Arbeitgeber betrachten sie als festen Bestandteil des Lohnes - das wissen wir -, und insofern ist eine Besteuerung korrekt. Damit bleibe ich zwar im Rahmen des Steuerrechts; aber den Betroffenen bleibt - auch das ist eine Tatsache durch die Besteuerung noch weniger zum Leben übrig, sofern sie den Freibetrag von 2 400 DM überschreiten. Dazu kommt aber noch, dass allein im Gastronomiebereich die Hälfte der Beschäftigten auf Teilzeitbasis arbeitet. Die Gewerkschaft NGG verweist außerdem darauf, dass gerade im Gastronomiebereich Vollarbeitsplätze durch Auszubildende ersetzt werden, was zwar an und für sich nicht schlecht ist, weil die Branche damit für Nachwuchskräfte sorgt; aber zwischen 60 Prozent und 80 Prozent der jungen Fachleute verlassen das Gewerbe meist schon unmittelbar nach der Ausbildung und suchen ihr Glück woanders, weil die Löhne in diesem Bereich so niedrig und die Arbeitsbedingungen so schlecht sind. Selbst Nobelherbergen - ich sage nur: Adlon - sind hiervon nicht ausgenommen. Nicht durch Streichung der Freibeträge oder durch Besteuerung der Trinkgelder, sondern durch Umsetzung der gewerkschaftlichen Forderungen nach besser geregelten Bedingungen, besserer Bezahlung und planbaren Freizeiten würde die Attraktivität der Arbeit im Gaststättengewerbe in Deutschland erheblich angehoben werden. Der Erhöhung der Freibeträge auf 3 600 DM, die von der CDU/CSU ursprünglich gefordert worden ist, würden wir ja zustimmen, aber dieser Antrag steht heute nicht zur Abstimmung. Herr Willsch, wo ist der Antrag? Wenn, dann müssen Sie Nägel mit Köpfen machen. Sie dürfen es nicht nur fordern, sondern Sie müssen es dann auch einreichen und zur Abstimmung stellen. ({0}) Wenn von Seiten der F.D.P. hier gesagt wird, dass von der Besteuerung des Trinkgeldes das Tourismusgeschäft abhänge, dann habe ich Zweifel, ob der Redner weiß, wovon er da spricht. Das Tourismusgeschäft hängt nämlich nicht von der Besteuerung der Trinkgelder ab, sondern davon, was die Leute draußen zur Verfügung haben, das heißt davon, ob die Leute es sich leisten können, in Urlaub zu fahren, Gaststätten zu besuchen oder zum Friseur zu gehen. ({1})

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002190

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der F.D.P. zur Abschaffung der Trinkgeldbesteuerung auf Drucksache 14/1731 ({0}). Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/3272, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der Fraktion der F.D.P. auf Drucksache 14/1731 ({1}) abstimmen und bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der F.D.P.-Fraktion bei Enthaltung der Fraktionen der CDU/CSU und der PDS. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe Punkt 10 der Tagesordnung auf: Beratung des Antrags des Abgeordneten Werner Lensing und weiteren Abgeordneten der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordneten Uta TitzeStecher und weiteren Abgeordneten der Fraktion der SPD, der Abgeordneten Ekin Deligöz und weiteren Abgeordneten der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abgeordneten Hildebrecht Braun ({2}) und weiteren Abgeordneten der Fraktion der F.D.P. Für einen verbesserten Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz - Drucksache 14/3231 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung ({3}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der Kollege Werner Lensing von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Um es von vornherein in der gebotenen Klarheit und Offenheit zu sagen: Der interfraktionellen Nichtraucherschutzinitiative geht es letztlich nicht darum, all unseren Raucherinnen und Rauchern auf dem Gesetzeswege den vermeintlichen Kampf anzusagen - dafür fehlt ihr im Übrigen auch jegliche Rechtsgrundlage -; vielmehr treibt sie die Fürsorge für die unfreiwilligen Passivraucherinnen und Passivraucher in der konkreten Situation ihres Arbeitsplatzes. ({0}) Ausgangslage unserer Überlegungen bleibt ein in Art. 2 des Grundgesetzes angelegter, schier unüberbrückbarer Entscheidungskonflikt, weil einerseits Absatz 1 den Anspruch eines jeden Einzelnen auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit und damit zugleich die freie Entscheidung, beispielsweise zu rauchen, beinhaltet, andererseits in Absatz 2 des gleichen Artikels das Recht des Einzelnen auf Leben und körperliche Unversehrtheit garantiert wird. Dieses grundsätzlich geschützte Recht auf körperliche Unversehrtheit wird allerdings massiv verletzt, solange beispielsweise Bürgerinnen und Bürger nicht ausreichend vor den Folgen des Passivrauchens am Arbeitsplatz geschützt sind. ({1}) Daher wird der berechtigte Ruf nach einer gesetzlichen Regelung immer lauter. Doch wollen wir, meine Damen und Herren, um das an dieser Stelle gleich deutlich zu artikulieren, in dieser Frage nicht mehr Staat als eben notwendig und lehnen daher ein spezielles Nichtraucherschutzgesetz entschieden ab, befürworten allerdings Präzisierungen innerhalb bereits bestehender Regelungen, beispielsweise in der gültigen Arbeitsstättenverordnung. ({2}) Nun wird gesagt, die Frage eines geeigneten Nichtraucherschutzes - wer kennt diese Diskussion nicht? - solle gefälligst konkret vor Ort auf der Basis freiwilliger Vereinbarungen einvernehmlich geklärt werden. Schließlich verfüge Deutschland ausschließlich über mündige Bürgerinnen und Bürger. Ja, meine Damen und Herren, glauben Sie etwa, ich würde dieses nicht gerne ebenso bewerten wollen? Ich wäre doch geradezu froh und dankbar, wenn es tatsächlich so wäre, wenn unsere Initiative nicht nötig gewesen wäre und wir die Vorlage nicht hätten erarbeiten müssen. Doch leider ist diese idealisierte Wunschvorstellung in der Tat nur ein Traum. Sie entspricht nicht der realen Arbeitswelt. Dies beweisen zahllose gerichtliche Verfahren. Das ist aus meiner Sicht sehr traurig. Im Übrigen kann der immer wieder beschworene Appell an die Vernunft gar nicht fruchten - weder der Appell an die Raucher, doch gefälligst Rücksicht zu nehmen, noch die Aufforderung an die Nichtraucher, sich doch toleranter zu zeigen. Schon aus psychologischen Gründen, meine Damen und Herren, kann eine freiwillige Rücksichtnahme insbesondere von den starken Raucherinnen und Rauchern, die ihr Rauchverhalten aufgrund ihrer Tabakabhängigkeit vielfach nicht mehr im Griff haben, erst gar nicht erwartet werden. Umgekehrt - das wollen wir auch deutlich sagen - kann man von Nichtrauchern wohl kaum so viel vermeintliche Toleranz erhoffen, dass diese die Gefahren der Gesundheitsbeeinträchtigung durch Passivrauchen widerspruchslos hinnehmen. ({3}) Im Übrigen sind all die Arbeitsstätten, wo es zu einer gütlichen Einigung gekommen ist, ohnehin von unserer Initiative nicht betroffen. Wo liegt das eigentliche Problem? Nach dem heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand kann niemand mehr ernsthaft bezweifeln, dass Passivrauchen grundsätzlich die gleichen akuten und chronischen Gesundheitsschäden hervorruft wie das Rauchen selbst. Diese unbezweifelbaren Fakten werden durch zahlreiche medizinische Nachweise, durch statistische Befunde und nicht zuletzt durch Bestandsaufnahmen des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg und des Robert-Koch-Instituts in Berlin belegt. Nach diesen Untersuchungen sind allein in Deutschland pro Jahr etwa 300 bis 400 Krebstote aufgrund von Passivrauchen zu beklagen. Obwohl die deutsche Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe bereits im Jahre 1985 erklärt hat, dass das Passivrauchen endlich als grundsätzlich Krebs erzeugend anerkannt werden müsse und zu den bedrohlichsten Gefährdungskategorien wie beispielsweise auch das Einatmen von Asbestfasern oder Benzoldämpfen gehöre, ist nach wie vor Handlungsbedarf angezeigt. ({4}) Es ist eine weit verbreitete Fehlhaltung zu sagen: „Natürlich müssen wir an den Arbeitsplätzen Asbest beseitigen, ({5}) egal was es kostet!“, aber zugleich die Frage, wie man den Passivraucher schützt, als Bagatelle zu vernachlässigen. Ich sage deshalb noch einmal mit aller gebotenen Deutlichkeit: Diese weit verbreitete Fehlbewertung muss endlich aufgrund objektiver wissenschaftlicher Erkenntnisse ausgeräumt werden. Nun gibt es aber in Deutschland - man höre und staune - keine einzige explizite gesetzliche Regelung zum Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz. Dieses bedeutet in der Praxis, dass derzeit unsere Gerichte bei den vielen arbeitsrechtlichen Streitigkeiten zum Nicht-raucherschutz immer noch gezwungen sind, auf wenige allgemeine Paragraphen zum Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz zurückzugreifen. Ich will Ihnen diese Paragraphen nicht vorenthalten. Da gibt es den § 5 der Arbeitsstättenverordnung, wonach am Arbeitsplatz ausreichend „gesundheitlich zuträgliche Atemluft“ vorhanden sein muss. Doch keiner weiß, was das heißt. Es gibt ferner den § 32 der Arbeitsstättenverordnung, wonach Nichtraucher in Pausen-, Bereitschaftsund Liegeräumen, aber nicht am konkreten Arbeitsplatz vor Belästigung durch Tabakrauch zu schützen sind. Schließlich gibt es den relativ unpräzisen § 618 BGB, wonach die Fürsorgepflicht des Arbeitsgebers für seine Mitarbeiter auch deren Schutz für Leben und Gesundheit umfasst. Wenn man aber nachfragt, wo die jeweilige Fürsorgepflicht beginnt und wo sie endet, dann ist das schwer auszumachen. Das hat zur Folge, dass wir eine Fülle individueller Gerichtsurteile haben und dass es in diesem Bereich keine Rechtsgrundsätze gibt, die konkret angewandt werden können. Das Schlimmste ist, dass jeder Einzelne, der meint, er müsse jetzt klagen, gegenüber dem Gericht nachweisen muss, inwieweit er konkret als Individuum durch die Einflüsse des Rauchens gesundheitlich geschädigt wurde. Aus diesem Grunde hat sich die interfraktionelle Gruppe gebildet. Wir haben etwas gemacht, das sich sehr von dem unterscheidet, was bisher unternommen wurde. Wir haben nämlich gesagt - ich habe es bereits angedeutet -, dass wir folgende Leitsätze beachten wollen: Wir wollen kein eigenständiges Nichtraucherschutzgesetz, sondern - wie bereits erläutert - nur bereichsspezifische Änderungen bestehender Gesetze und Verordnungen. Wir wollen keine ausdrückliche Bußgeldbewehrung, sondern lieber Hilfe für all die Raucherinnen und Raucher, die sich von ihrer Rauchgewohnheit lösen wollen. Deswegen hat unsere gesetzliche Initiative mindestens die folgenden vier Vorteile: Erstens. Sie ist eindeutig und schafft dadurch die überfällige Rechtsklarheit im Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz. Zweitens. Sie ist allgemein und lässt dadurch hinsichtlich der Wahl der konkreten betrieblichen Maßnahmen den Arbeitgebern und Betriebsräten den angesichts der Vielgestaltigkeit der betrieblichen Verhältnisse erforderlichen Regelungsspielraum. Drittens. Sie ist moderat, da sie das Rauchen am Arbeitsplatz entgegen früheren Versuchen nicht generell verbietet, sondern lediglich im Rahmen individueller betrieblicher Vereinbarungen Nichtraucher schützen will. Viertens. Sie ist zumutbar, da nach § 3 a Abs. 2 der Arbeitsstättenverordnung in Arbeitstätten mit Publikumsverkehr nur insoweit Schutzmaßnahmen zu treffen sind, „als die Natur des Betriebes und die Art der Beschäftigung es zulassen“. Dies ermöglicht schließlich dem Arbeitgeber - etwa in Gaststätten, wo Raucher und Nichtraucher gemeinsam Entspannung und Vergnügen suchen - aus Gründen der Zumutbarkeit an die besondere Situation angepasste und weniger kostenaufwendige Schutzmaßnahmen. Dies bedeutet allerdings letztendlich keinen Freibrief für den Gastwirt, in solchen Betrieben alles beim Alten belassen zu können. Vielmehr besteht auch dort eine Pflicht zur Minimierung der Gesundheitsgefahren durch Passivrauchen. Neben der Klarstellung der bestehenden Rechtslage zum Schutze der Nichtraucher gilt unsere Zielsetzung gleichermaßen neben dem Jugendschutz auch der Tabakprävention. Entwöhnungsbereite Raucherinnen und Raucher, die ihre Tabakabhängigkeit erkennen, sich jedoch bisher vergeblich um eine Einschränkung ihres Konsums bemühen, sollen endlich wirksam in ihrem Bemühen unterstützt werden. Daher fordern wir mit dem vorliegenden Antrag zugleich das Bundesministerium für Gesundheit und das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung auf, Konzepte für eine innerbetriebliche Nikotinentwöhnung zu entwickeln. Der vorliegende Antrag will somit zweierlei bewirken: Erstens. Er schafft eine überfällige eindeutige Rechtslage zugunsten der Passivraucher und er unterstützt zweitens entwöhnungsbereite Raucherinnen und Raucher, ohne sie in irgendeiner Weise zu diskreditieren. Nach meiner Auffassung gibt es daher zu dem heute hier vorgelegten Antrag keine Alternative. Ich bitte, sich daran zu erinnern, dass die EU bereits 1985 ihre Mitgliedstaaten aufgefordert hat, endlich die Voraussetzungen für einen gesetzlichen Nichtraucherschutz zu schaffen. Diese wurden inzwischen - gottlob - in 14 EU-Staaten umgesetzt. Nur Deutschland hinkt immer noch dem erforderlichen Schutzstandard hinterher. Doch durch unseren Antrag würde in Deutschland endlich ein Schutzanspruch der Bürgerinnen und Bürger vor den Gesundheitsgefahren des Passivrauchens gesetzlich verankert, wie er bereits in über 90 Staaten der Erde besteht.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Lensing, denken Sie bitte daran, dass Ihre Redezeit abgelaufen ist.

Werner Lensing (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002722, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich denke daran: Ich möchte aber gern die Chance nutzen, noch einen Satz zu sagen, der da lautet: Ich bitte Sie sehr darum, mit uns gemeinsam für dieses Ziel zu werben und bei Bedarf auch zu streiten. Ich danke Ihnen.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Uta Titze-Stecher.

Uta Titze-Stecher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002331, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe verbliebene Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß, dass der Fußball seinen Tribut fordert. Deshalb freue ich mich, dass zumindest einige Sitzfleisch beweisen. Lassen Sie mich, nachdem der Kollege Lensing dankenswerterweise ausführlich, detailliert und sachgerecht den Inhalt des vorliegenden Antrages dargestellt hat, einen kurzen Rückblick auf die bisherigen parlamentarischen Bemühungen auf diesem Gebiet machen. Denn Unkundige denken vielleicht, das sei der erste Versuch, einen gesetzlichen Nichtraucherschutz zu verankern. Dem ist nicht so. Dies ist vielmehr bereits der dritte Versuch. Immer war das Vorgehen interfraktionell angelegt, weil wir wissen, dass dieses Thema emotional befrachtet ist, weil wir wissen, dass Interessen des Gesundheitsschutzes versus Interessen der Wirtschaft stehen, weil wir wissen, dass aufseiten der Raucher individuelle Freiheit und aufseiten der Nichtraucher Gesundheitsschutz eingeklagt werden. Der erste Versuch von 1994 ist mit Beendigung der Wahlperiode durch die Ritze gefallen. Unterstützt haben ihn damals 41 Kolleginnen und Kollegen. Wir haben uns damals fast an diesem gesetzlichen Regelwerk verhoben. Aus dieser Erfahrung und aufgrund der Gespräche mit der betroffenen Tabakindustrie, dem DEHOGA, also dem Deutschen Hotel- und Gaststättenverband, und anderen entstand dann der zweite interfraktionelle Anlauf, der immerhin zu einer zweiten und dritten Lesung im Jahre 1998 führte. Wenn er Erfolg gehabt hätte, stünden wir heute nicht hier und müssten nicht den Kraftakt eines dritten Versuches unternehmen. Der Kollege Lensing hat schon dargestellt, dass wir inzwischen weise und auch ein bisschen bescheidener geworden sind. Wir haben uns in einem ersten Schritt vorgenommen, den Bereich zu regeln, der in unseren Augen als Erstes regelungsbedürftig ist, nämlich den Arbeitsplatz. Immerhin sind 63 Prozent der Erwerbstätigen Nichtraucher und Nichtraucherinnen. Deshalb besteht die Notwendigkeit, hier als Erstes zu regeln. Wir haben davon abgesehen, ein Artikelgesetz vorzulegen, das in öffentlichen Anhörungen zerpflückt worden wäre und großen Widerstand auch bei Kollegen und Kolleginnen hervorgerufen hätte. Wir haben, wie gesagt, eine andere Strategie gewählt: Wir regeln nur noch bestehende Lücken. Deshalb können Sie diesem Antrag getrost zustimmen. Er trägt immerhin auch die Unterschrift der Gesundheitsministerin sowie die Unterschriften von drei Staatssekretären, allerdings nicht die Unterschrift des Kanzlers. Das ist wohl auf Unkenntnis des Inhaltes zurückzuführen. Wir wollen Kanzler Schröder keinesfalls seine Cohiba verbieten. Er kann sie rauchen, so oft er will, nur nicht in jeglicher Situation. Da ich Kabinettsitzungen für Arbeitssitzungen halte, wird, wenn unser Vorschlag Gesetz wird, die Cohiba in Kabinettsitzungen wohl schwerlich zum Genuss kommen. Wir haben die Hoffnung, dass dieser dritte Versuch von Erfolg gekrönt sein wird, weil die jahrelange Debatte - ein Verdienst hieran rechnen wir auch uns an - das Bewusstsein auf allen Seiten geändert hat, und zwar sowohl auf der Seite der Raucher als auch auf der Seite der Nichtraucher, aber, was besonders wichtig ist, vor allem auch in den Reihen der Politik. Denn nirgends wird so viel gepafft wie im politischen Raum und im Bereich der Medien deswegen auch immer die freundliche Unterstützung unserer Bemühungen aufseiten der Medien. Die aktuelle Entwicklung kommt uns sehr entgegen. Heute haben die Gesundheitsminister der EU entschieden, dass ab 2004 eine verschärfte EU-Tabakrichtlinie gelten soll. Ich erspare Ihnen die Einzelheiten. Nur so viel: Erstmals sind Höchstgrenzen für alle Tabakprodukte vorgesehen. Die entsprechenden Warnhinweise, die Sie alle kennen - Rauchen gefährdet ungeborenes Leben, Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit -, werden sprachlich verschärft und optisch vergrößert, sodass niemand mehr sagen kann: Ich habe gar nicht gewusst, was ich da tue. Positives Fazit: Jahrelange Bemühungen, auch Kämpfe und unsachliche Auseinandersetzungen, haben immerhin dazu geführt, dass jetzt die Hoffnung auf einen gesetzlich verankerten Nichtraucherschutz sehr konkret geworden ist. Auch Meldungen wie die gestern Morgen im Frühstücksfernsehen, ab Juli gebe es eine Antiraucherpille namens Zyban, die, mit 30-prozentiger Erfolgsquote versehen, dann zu kaufen sei, können uns nicht daran hindern, den Nichtraucherschutz im Betrieb zu verankern. Denn der beste Schutz ist natürlich, die Zigarette gar nicht erst anzufassen. Zum Antrag. Der Titel ist Programm: „Für einen verbesserten Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz“. Es geht uns, wie der Kollege Lensing betont hat und wie es sicher auch die folgenden Redner betonen werden - das ist ein wichtiges Thema -, nicht um Diskriminierung, Stigmatisierung oder Ausgrenzung der Raucher. Jeder Bürger soll selbst entscheiden, zu welchem Genussmittel er greift und durch welches er sich schädigt. Nur, wenn ich ein Schnäpschen trinke oder eine Flasche Wein leere, dann schädige ich die eigene Leber. Esse ich zu viel, habe ich eigene Gewichtsprobleme. Beim Rauchen liegt die Sache entschieden anders. Derjenige, der neben einem Raucher sitzt, steht oder arbeitet, ist als Nichtraucher immer mit betroffen, wenn sein Nachbar raucht. Und da hört es auf! Wenn ich mich entscheide, mich persönlich durch Rauchen zu schädigen, ist das mein Recht, mein Bürgerrecht. Aber ich habe nicht das Recht, den Nachbarn mit zu schädigen. ({0}) Deswegen ist die gesetzliche Regelung absolut überfällig. Herr Kollege Lensing hat ebenfalls darauf hingewiesen, wie schwierig es ist, mit Süchtigen eine Vereinbarung zu treffen. Es wird immer gesagt: Wir haben alle Verstand, wir verfügen über Sprache, wir sprechen Deutsch; unter zivilisierten Menschen müsste man das eigentlich zivil regeln können. - Pustekuchen! Wenn zwei Drittel der Raucher nikotinabhängig sind, das heißt von einem Stoff abhängen, dessen Suchtpotenzial vergleichbar dem von Heroin und Kokain ist, dann können Sie nicht mit einem Appell an die Ratio erfolgreich arbeiten. Sie müssen Hilfe bieten, da es sich um eine Krankheit handelt, wie auch Alkoholsucht inzwischen als Krankheit angesehen wird. ({1}) - Ich weiß, dass Sie rauchen, Frau Kollegin; ich meine es nicht persönlich. ({2}) - Gut. Gestatten Sie mir an dieser Stelle eine kleine Abschweifung: Wir haben den Anspruch, hier interfraktionell vorzugehen. Ich habe das auch begründet. Es tut mir Leid, dass die Unterschrift der PDS unter diesem Antrag fehlt. Ein Unvereinbarkeitsgebot der CDU/CSU-Fraktion hat die Unterschrift verhindert, obwohl gestern im Haushaltsausschuss beschlossen wurde, ein gemeinsames Gesetz zur Errichtung einer Stiftung mit dem Namen „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ zu schaffen. Da hat man dieses Prinzip um der Sache willen verlassen können. Ich will die Themen zwar nicht vergleichen, aber bei der vergleichsweise einfachen und klaren Sache Nichtraucherschutz hätte man über diese Hürde springen können. Jedenfalls appelliere ich an die Kollegen und Kolleginnen der PDS, von denen ich weiß, dass sie in der Sache hinter uns stehen, in der zweiten und dritten Lesung mit uns zu stimmen. Wie sagte Ihr Kollege Gysi zu mir: Ich muss schon dafür sein, weil man die Menschheit vor mir als Raucher schützen muss. Unsere Perspektive ist natürlich nicht, bei diesem Schritt stehen zu bleiben. Auch das hat Kollege Lensing in einem Nebensatz erwähnt. Wir bereiten im Augenblick eine Verbesserung des Jugendschutzes, das heißt des Schutzes der Jugendlichen unter 16 Jahren vor aktivem und passivem Rauchen, vor, indem wir - analog zum AbUta Titze-Stecher gabeverbot für Alkohol - ein Abgabeverbot für Tabakwaren erwägen. Das ist überfällig. Wir führen kontinuierlich einen konstruktiven Dialog mit der Automatenindustrie, um zu erreichen, dass sie eine Lösung entwickelt, die den Zugang zu Zigarettenautomaten für Jugendliche unter 16 Jahren verhindert. Wir wollen zudem unter Federführung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung die Maßnahmen für Prävention und Aufklärung massiv verstärken und - ich nehme an, Vertreter der Zigarettenindustrie hören uns zu - hoffen natürlich auf eine angemessene finanzielle Unterstützung durch die Tabakindustrie in diesem Bereich. Die Gegner eines gesetzlichen Nichtraucherschutzes argumentieren oft mit einem Appell an den zivilen Umgang, an die gegenseitige Rücksichtnahme. Nicht nur die Tatsache der Sucht steht diesem Appell entgegen. Selbst in Familien, ja sogar hier im Parlament, in bestimmten Ausschüssen, in bestimmten Landesgruppen und in bestimmten Arbeitsgruppen erleben Sie es, dass Sie auf Granit beißen, wenn Sie die Hand heben und sagen: Mich belästigt das Rauchen nicht nur, sondern es macht mich sogar krank. Wenn ich in diesem Zusammenhang auf meine Allergie verweise, höre ich oft: Ich werde allergisch, wenn ich nicht rauchen darf. Gegen solche unsachlichen Entgegnungen kann man nichts machen. In anonymen Gruppen, in Gruppen, in denen sich die Einzelnen nicht kennen, ist die Situation noch schwieriger. Möchten Sie mir zumuten, in einem Charterflieger von der ersten bis zur letzten Reihe jedem persönlich zu „verklickern“, warum mich das Rauchen stört, belästigt oder schädigt? Sie sind längst am Urlaubsziel vorbeigeflogen, wenn Sie dem Letzten die Sache erklärt haben. Schlimmer - weil komplizierter - wird es in Betrieben. Deswegen suchen wir uns diesen Ort im Hinblick auf eine gesetzliche Regelung aus. Da verweisen die Kollegen, insbesondere der Kollege Dreßler, ein Obergesundheitsapostel, auf bestehende Betriebsvereinbarungen. Wenn Sie die Ergebnisse der in diesem Zusammenhang gemachten Untersuchungen betrachten, sieht das so aus: Je nach Zusammensetzung der Betriebspartner, sprich: der Geschäftsführung und des Betriebsrates, sieht das Ergebnis aus. Bestehen diese beiden Seiten in Mehrheit aus Rauchern, können Sie Gift darauf nehmen, dass das Ergebnis raucherfreundlich ist - und umgekehrt. Nach dem Motto „Wir sind die Schwereren, wir sind die „Mehreren“ darf ein solcher Konfliktfall nicht entschieden werden. ({3}) Die Regelung, die wir hier anbieten - ich will mich nicht wiederholen; Herr Kollege Lensing hat das vorzüglich dargestellt -, ist durch Rechtssicherheit gekennzeichnet, wird seit 1984 durch die Rechtsprechung mehr und mehr bestätigt und entzieht den zwischen Rauchern und Nichtrauchern bestehenden Konflikt der Ebene der elenden persönlichen Auseinandersetzung, bei der immer Sieger und Besiegte zurückbleiben. Beide Seiten können sich auf diese Regelung verlassen. Raucher sind nicht weniger gesetzestreu als Nichtraucher. Beide wissen, was Sache ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, dass wir, nachdem die zuständigen Ausschüsse den vorliegenden Antrag beraten haben, beim dritten Versuch, dieses Vorhaben durchzusetzen, eine Mehrheit gewinnen. Das wird dann wohl das letzte Mal sein. Denn ich weiß nicht, ob angesichts dessen, dass ich ab 2002 nicht mehr im Bundestag vertreten sein werde, die Energie vorhanden sein wird, dieses Vorhaben ein viertes Mal zu stemmen. Ich möchte den Kolleginnen und Kollegen der interfraktionellen Arbeitsgruppe meinen persönlichen Dank aussprechen. Ein spezieller Dank gilt Herrn Lensing, der diesen Antrag federführend vorbereitet hat. ({4}) Ich möchte erwähnen, dass uns unsere Mitarbeiter meine Mitarbeiter zum Beispiel rauchen gern und häufig, nur nicht in meinem Raum; aber in ihren Räumen verbiete ich das Rauchen natürlich nicht - tatkräftigst unterstützen. Ich möchte schließen mit dem Dank an die Vertreter der zuständigen Ministerien, die uns bei der Formulierung und Abfassung des vorliegenden Antrags behilflich waren. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Kollege Hildebrecht Braun, F.D.P.-Fraktion.

Hildebrecht Braun (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002634, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute über eine Initiative aus der Mitte des Hauses, über ein Vorhaben von vier Initiatoren. Einer davon bin ich. Gott sei Dank hat sich eine Abgeordnete gefunden, nämlich Frau Schwaetzer, die eine andere Position einnehmen wird. Das ist für eine Diskussion im Bundestag außerordentlich wichtig. Dafür braucht sie Redezeit. Dies geht aber auf Kosten der Redezeit, die man mir dankenswerterweise - entsprechend der Größe der Fraktionen zugemessen hat. Liebe Kolleginnen und lieber Kollege aus der Arbeitsgruppe, ich halte so etwas nicht für akzeptabel. Wenn vier Initiatoren aus der Mitte des Hauses gemeinsam einen Entwurf erarbeiten, dann kann es wohl kaum so sein, dass die ersten beiden Redner nach der Größe ihrer Fraktion Redezeit bekommen, ({0}) der Vierte im Bunde, der genauso zu diesem Entwurf bei- getragen hat, aber von seiner Redezeit auch noch das ab- gezogen bekommt, was das einzige Mitglied des Hauses, das dagegen sprechen wird, zu Recht im Interesse der Dis- kussion an Redezeit beansprucht. So können wir das nicht machen. Ich will daher meine Rede zu Protokoll geben. Jeder kann sie dann nachlesen. Außerdem haben die beiden Vorredner schon viel Richtiges gesagt. Wir werden uns in Ruhe darüber unterhalten, wie wir bei der nächsten Beratung nach den Sommerferien die Dinge handhaben werden, wenn wir den zweiten Teil unserer Initiative hier im Bundestag einbringen werden. Vielen Dank.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Dies ist nun ein schwieriger Geschäftsordnungsvorgang, weil Sie bereits geredet haben und trotzdem noch Ihre Rede zu Protokoll geben wollen. In dieser Frage ist aber Toleranz die beste Richtschnur. Daher empfehle ich, dass wir der Bitte des Kollegen Braun nachkommen. Sind Sie damit einverstan- den? - Dann wird die Rede zu Protokoll gegeben.1) Nun hat die Abgeordnete Ekin Deligöz das Wort.

Ekin Deligöz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003068, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Braun, leider gibt es in einer Demokratie nun einmal bestimmte Spielregeln. Manchmal sind sie nicht so angenehm; aber wir müssen mit ihnen leben. Das verlangt unsere Geschäftsordnung. Aber wir haben jetzt ein gutes Verfahren gefunden. Ich danken Ihnen, Frau Präsidentin, ausdrücklich dafür, dass Sie Toleranz gezeigt haben. Für diese Toleranz im Zusammenleben treten wir hier ja gemeinsam ein; es geht darum, wie wir letztendlich unsere Gesellschaft und unsere Demokratie gestalten wollen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, selten haben wir im Bundestag die Gelegenheit, eine fraktionsübergreifende Initiative vorzustellen. ({0}) Gerade diese Überparteilichkeit zeigt, dass es uns an diesem Punkt wirklich und ausschließlich um die Sache geht. Was wollen wir erreichen? Wir treten dafür ein, dass endlich ein Anliegen vieler Menschen durchgesetzt wird: Sie wollen einen Anspruch darauf haben, ihre tägliche Arbeit unbelästigt zu verrichten. Jetzt höre ich natürlich immer wieder das Gegenargument - das werden wir heute vielleicht noch einmal zu hören bekommen -, dass die Menschen dies untereinander regeln könnten und wir dazu keine Gesetze bräuchten. Ich selbst weiß ziemlich genau, wie es in Deutschland mit den zahlreichen Gesetzen steht, weil ich das studiert habe; ich bin Diplomverwaltungswissenschaftlerin. Aber ich habe auch zu unterscheiden gelernt. Wir wollen hier nicht in irgendeiner Weise die Regelungswut in Deutschland weiter vorantreiben. Aber wir müssen die Prozesswut, die es in diesem Lande gibt, eindämmen. ({1}) Die Gerichte und Justizverwaltungen stöhnen - häufig zu Recht - über die vielen kleinen Nachbarschaftsstreitigkeiten. Die Bundesregierung arbeitet an diesem Problem in mehrfacher Weise und wird dafür sorgen, dass eine Reform des Justizrechtes kommt, die die Gerichte massiv entlasten wird. Beim Nichtraucherschutz handelt es sich nach meiner Auffassung aber um eine andere Dimension. Es geht um die Sicherung der verfassungsmäßigen Rechte der Menschen: um ihr Recht auf Leben und um ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit. ({2}) Da dürfen wir als Gesetzgeber - wir alle, die wir hier sitzen - nicht wegsehen. Das gilt ebenso für die Behörden und auch für uns alle in unserem privaten Verhalten. An diesem Punkt ist tatsächlich die Verantwortung gefragt: Wir dürfen uns nicht aus der Verantwortung für den Gesundheitsschutz wegstehlen. Ganz im Gegenteil: Weil wir in diesem Bereich bisher auf Regelungen verzichtet haben, hat sich in Betrieben leider oft das Recht des Stärkeren und Rücksichtslosen durchgesetzt. Darunter wollen wir einen Schlussstrich ziehen. Wir wollen für die Nichtraucherinnen und Nichtraucher mehr Freiheiten an ihren Arbeitsplätzen, an denen sie sein müssen, um ihr täglich Brot zu verdienen. Die Regelungen, die wir heute fraktionsübergreifend vorschlagen, schaffen endlich Klarheit und entlasten die Gerichte. Die Gegner einer gesetzlichen Regelung müssen sich schon fragen lassen, warum sie es zulassen wollen, dass die Gerichte - bis hin zum Bundesarbeitsgericht weiterhin den Gesetzgeber ersetzen, der hier doch eindeutig gefragt ist. ({3}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen, dass die unsägliche Beweislast nicht bei den Nichtraucherinnen und Nichtrauchern liegt. Wir stellen klar fest: Das Recht der Raucher, ihr Umfeld zu verqualmen, zu rauchen, wo sie wollen, hat dort seine Grenze, wo das Recht der Nichtraucher beginnt. Aus verschiedenen Gründen haben wir uns im ersten Schritt auf den Arbeitsplatz konzentriert; Weiteres wird folgen. Das Passivrauchen am Arbeitsplatz wurde 1998 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft als eines der gefährlichsten Krebsrisiken benannt. Tabakrauch wird als einer der gesundheitsschädlichsten Arbeitsstoffe eingeordnet. Dies bedarf keiner weiteren Kommentierung. Da auch mir die Zeit wegrennt und ich eigentlich noch viel zu sagen habe, möchte ich mich kurz fassen und mit einem letzten Punkt schließen. Ich bin überzeugt, dass die Durchsetzung des rauchfreien Arbeitsplatzes ein erster, aber sehr wichtiger Baustein für ein umfassendes Nichtraucherschutzgesetz ist. Das ist nichts Revolutionäres, das hat nichts mit Stigmatisierung zu tun. Wir wollen die Raucher nicht in die Ecke drängen und auch nicht so etwas wie eine Positivdiskriminierung; das ist nicht unser Ziel. Wir wollen nur das Recht der Nichtraucher festschreiben und den Anschluss an die europäische Hildebrecht Braun ({4}) 1) Anlage 2 Entwicklung erreichen. Dafür wollen wir mit einer großen Mehrheit des Parlaments ein Zeichen setzen; und dies sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Ich bedanke mich schon im Voraus bei allen, die uns dabei unterstützen. Danke. ({5})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Petra Bläss.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Besser auf den Punkt bringen kann man die Bewertung des vorliegenden interfraktionellen Antrags für einen verbesserten Nichtraucherschutz am Arbeitsplatz wohl nicht, als es die „Koalition gegen das Rauchen“ getan hat, deren Brief uns Abgeordnete heute erreicht hat. Der Antrag berücksichtigt die erforderlichen Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit vor Passivrauchen. Zugleich wird bei den zu ergreifenden Maßnahmen Augenmaß gewahrt, indem die Selbstbestimmungsrechte der Sozialpartner unberührt bleiben und diese selbst über die Verhältnismäßigkeit der Schutzmaßnahmen entscheiden können. Nicht mehr, aber auch nicht weniger steht also zur Debatte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine Regelung der Pflichten der Arbeitgeber gegenüber den individualrechtlichen Ansprüchen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf einen rauchfreien Arbeitsplatz ist überfällig. Bisher ist dies oft eine Ermessensfrage in Verhandlungen zwischen Betriebsräten und Arbeitgebern oder ein Fall für Gerichte. Diese notwendige Regelung aber bleibt nur ein Schritt auf dem Weg zu einem umfassenden Schutzgesetz für Nichtraucherinnen und Nichtraucher. Die halbherzige Aufforderung an die Bundesregierung, „Konzepte für innerbetriebliche Maßnahmen der Prävention und der freiwilligen Raucherentwöhnung“ zu entwickeln, darf nicht das letzte Wort des Gesetzgebers bleiben. Was muss denn noch an Argumenten angeführt werden, um in diesem Hause endlich eine Mehrheit dazu zu bringen, etwas zum Schutz vor den enormen gesundheitlichen Gefahren des Rauchens und vor allem des passiven Mitrauchens zu tun? Auf dem 24. Deutschen Krebskongress wurde nachgewiesen, dass jeder zweite Jugendliche, der heute zur Zigarette greift, an den Folgen der Nikotinabhängigkeit sterben muss. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass in Deutschland der Tabakkonsum jährlich bereits für 100 000 Bürgerinnen und Bürger tödliche Folgen hat. Noch alarmierender sind die Studien, die belegen, welche gesundheitsschädigenden Wirkungen das Passivrauchen auf Nichtraucherinnen und Nichtraucher, insbesondere auf Kinder hat. Angesichts des unübersehbaren politischen Handlungsbedarfs müsste unsere Verantwortung als Politikerinnen und Politiker Anlass genug sein, so schnell wie möglich ein alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens umfassendes Nichtraucherschutzgesetz zu verabschieden. Es kann nicht oft genug gesagt werden: Es geht nicht um eine Diskriminierung der Raucherinnen und Raucher. Es geht um ein Gesetz, das den Anspruch der Nichtrauchenden auf eine nikotinfreie Umwelt in öffentlichen Gebäuden und Verkehrsmitteln, am Arbeitsplatz und in allen Räumen, in denen sich kleinere Kinder aufhalten, regelt. ({0}) Wie kaum ein anderes Thema ist der Nichtraucherschutz nicht für die parteipolitische Auseinandersetzung geeignet. Gerade weil es seit Jahren ein fraktionsübergreifendes Bemühen um eine Nichtraucherschutzregelung gibt - die Kollegin Uta Titze-Stecher hat noch einmal die Geschichte aufgezeigt -, ist es unverständlich und in meinen Augen auch nach außen hin nicht vermittelbar, dass kleinkarierte Unvereinbarkeitsbeschlüsse vorgeschoben werden, um zu verhindern, dass Abgeordnete aus wirklich allen Fraktionen die vorliegende Initiative unterzeichnen. Da, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die außerparlamentarische „Koalition gegen das Rauchen“ schon wesentlich weiter. Zu dieser Koalition haben sich inzwischen über 80 Organisationen des Gesundheitswesens zusammengeschlossen. Wir sind hier im Parlament dagegen nur fünf Fraktionen. Nichtsdestotrotz: Die Abgeordneten der PDS werden dem vorliegenden Antrag zustimmen, denn wir halten seine Umsetzung für einen notwendigen ersten Schritt zu einem umfassenden Nichtraucherinnen- und Nichtraucherschutz. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Jetzt erteile ich der Frau Kollegin Schwaetzer das Wort.

Dr. Irmgard Adam-Schwaetzer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002120, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, zum Abschluss dieser Debatte ist es richtig, dass auch jemand das Wort ergreift, der diesem Antrag nicht zustimmen wird. Ich weiß heute noch nicht, ob ich für eine Mehrheit im Hause spreche. Das letzte Mal hat eine Mehrheit den Entwurf eines Nichtraucherschutzgesetzes abgelehnt, somit ist er nicht Gesetz geworden. Wie es bei dieser Initiative steht, kann ich heute nicht sagen. Aber ich kann natürlich darüber nachdenken: Was hat sich seit der Initiative in der letzten Legislaturperiode geändert? Da allerdings möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass von denen, die hier geschützt werden sollen, nur eine wirkliche Minderheit meint, dass sie diesen Schutz brauche. Es sind nämlich nur 25 Prozent der Nichtraucher der Meinung, dass der Staat das Nichtrauchen gesetzlich regeln solle. ({0}) - Sie können das jederzeit mittels anderer Umfragen nachweisen lassen. Diese Zahlen sind über die Jahre in etwa gleich geblieben. ({1}) - Herr Lensing, damit möchte ich auch Ihrer Aussage widersprechen, dass der Ruf nach einer solchen Regelung immer lauter würde. Wenn Sie sagen, kein Kind werde befragt: Ihre Vorlage bezieht sich auf Arbeitsstätten; insofern würde dieses Argument sicherlich nicht treffen. ({2}) Bei Arbeitsstätten - daran sollten wir überhaupt keinen Zweifel lassen - ist es ganz selbstverständlich die notwendige Pflicht des Arbeitgebers, dass Arbeitnehmer vor Gesundheitsgefahren auch durch das so genannte Passivrauchen geschützt werden müssen. ({3}) Dies gilt vor allem für Schwangere und andere gesundheitlich besonders gefährdete Arbeitnehmer. Dazu brauchen wir aber keine Änderung der Arbeitsstättenverordnung; denn dies ist bereits in Arbeitsgerichtsprozessen bis zum Bundesarbeitsgericht - mehrfach und ausreichend entschieden worden und damit geklärt. ({4}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich bin mir ganz sicher, dass Kleinkonflikte in der Gesellschaft - in vielen Fällen handelt es sich um solche, auch wenn sie nicht mehr im Wege einer Betriebsvereinbarung geregelt werden können - auch durch Verordnungen, Richtlinien und Behördenauflagen nicht endgültig ausgeräumt werden können. ({5}) Vielmehr ist das eine Frage, die wirklich in die Gesellschaft hineingeht. Es ist ein Appell an Rücksichtnahme auf der einen Seite und an Toleranz auf der anderen Seite. Immerhin sind ja auch die Sozialpartner, Herr Lensing, nach wie vor der Meinung, dass es zu keiner zusätzlichen gesetzlichen Regelung kommen sollte und dass es einer solchen gesetzlichen Regelung auch nicht bedarf. ({6}) Deswegen werden wir in den Ausschüssen erörtern, was wir den Sozialpartnern zusätzlich an die Hand geben können, um innerhalb des Betriebes durch Vereinbarungen oder Modellversuche auf solche Kleinkonflikte mäßigend und problemlösend einzuwirken. Aber einer gesetzlichen Regelung bedarf es nach meiner festen Überzeugung nicht. Danke schön. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Ich schließe die Aussprache zu diesem Punkt. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3231 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulf Fink, Eva-Maria Kors, Aribert Wolf, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Zukunft der sozialen Pflegeversicherung - Drucksache 14/3506 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Ulf Fink.

Ulf Fink (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat einen Antrag zur Zukunft der sozialen Pflegeversicherung mit einer ganzen Reihe von Aufforderungen und Vorschlägen eingebracht. Ich glaube, dass die Unionsfraktionen das mit vollem Recht tun. Denn wir waren es, die die Pflegeversicherung in einer nicht einfachen Situation durchgesetzt haben. ({0}) In den 90er-Jahren waren wir es, die die Initiative ergriffen haben und trotz vieler Widerstände dafür gesorgt haben, dass die mittlerweile 1,9 Millionen Pflegebedürftigen eine Leistung bekommen. Dies ist eine gewaltige Leistung. Sie müssen bedenken, dass wir in demselben Zeitraum immerhin die große Aufgabe der Finanzierung der deutschen Einheit zu bewältigen hatten. Dennoch haben wir es geschafft, dass für die Pflegebedürftigen rund 30 Milliarden DM jährlich zusätzlich bereitgestellt werden konnten. Diese Leistung ist in ihrer Bedeutung gar nicht hoch genug zu schätzen. Denn vorher musste das Problem der Pflegebedürftigkeit als ungelöst gelten. Sie, die Sozialdemokraten, hatten von 1970 bis 1981 elf Jahre lang Zeit, sich um die Pflegebedürftigen zu kümmern. Tatsache ist: Sie haben in diesen elf Jahren nichts, aber auch gar nichts geschafft, um den Pflegebedürftigen zu helfen. Wir haben es während unserer Regierungszeit trotz der großen Herausforderung der Finanzierung der deutschen Einheit geschafft, die Pflegeversicherung durchzusetzen. Ich glaube, dies sollte man an den Anfang stellen. ({1}) Wir haben Ihnen ein gutes Erbe hinterlassen. Wir haben Ihnen nicht nur ein geregeltes System der Pflegeversicherung übergeben, sondern Ihnen zusätzlich auch 10 Milliarden DM im Vermögen der Pflegeversicherung zur Obhut anvertraut. Was haben Sie damit gemacht? Als es erste Überlegungen dazu gab, wie man den BundesDr. Irmgard Schwaetzer haushalt sanieren könnte, ist Ihnen nichts anderes eingefallen, als zu sagen: Greifen wir doch in die Kasse der Pflegeversicherung! 500 Millionen DM gehen der Pflegeversicherung jetzt jährlich verloren, weil auf Vorschlag von Herrn Eichel die Bezieher von Arbeitslosenhilfe geringere Pflegeversicherungsbeiträge zahlen müssen, als das eigentlich notwendig wäre. Ich fordere Sie von den Sozialdemokraten und insbesondere Sie, Frau Schmidt-Zadel - wir haben vor kurzem darüber geredet -, dringend auf: Sorgen Sie dafür, dass dieser unziemliche Griff in die Kasse der Pflegeversicherung endlich rückgängig gemacht wird! ({2}) Ich möchte noch ein Weiteres hinzufügen: Wir sind alle der Auffassung, dass die Pflegequalität verbessert werden muss. Das ist richtig. Wir müssen dafür sorgen, dass die Kontrollen besser sind. Und wir wollen - mein Kollege Wolfgang Zöller wird dazu nachher sprechen - etwas tun, um den Demenzkranken, den Altersverwirrten, besser als bisher zu helfen. Aber dafür braucht man natürlich Geld. Dann kann man nicht sagen: Wir sanieren den eichelschen Haushalt und bedienen uns am Geld der Pflegeversicherung. Wenn man den Pflegebedürftigen zusätzliche Leistungen verspricht, muss man als Erstes dafür sorgen, dass dieses Geld wieder in die Kasse der Pflegeversicherung zurückkommt. ({3}) Es ist immer das große Ziel der Pflegeversicherung gewesen, dass Menschen, wenn Sie pflegebedürftig werden, nicht länger auf die Sozialhilfe angewiesen sind. Es war ja vor 1995 so, dass 80 Prozent der Menschen in Pflegeheimen auf Sozialhilfe angewiesen waren. Unser Ziel war es immer, dieses Verhältnis umzukehren. Wir haben es weitgehend geschafft. 1997 waren 70 Prozent der Menschen in den Pflegeheimen nicht auf Sozialhilfe angewiesen. Was erreicht werden konnte, ist sehr, sehr viel. Nur, seit 1995 sind die Leistungen der Pflegeversicherungen nicht mehr angepasst worden, obwohl die Berechnungen auf dem Status von 1992 beruhen. Mittlerweile sind fast zehn Jahre vergangen. Die Leistungen sind nicht angepasst worden. In Ihren Berechnungen und allem, was Sie darlegen, sind Sie darauf nicht eingegangen. Ich fordere Sie dringend auf: Sorgen Sie durch eine klare Politik und eine Korrektur der falschen Sparbeschlüsse dafür, dass die Pflegeversicherung nicht selbst zum Pflegefall wird. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Kollegin Regina Schmidt-Zadel.

Regina Schmidt-Zadel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002026, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Fink, was Sie eben hier gesagt haben, hat mir ja fast die Sprache verschlagen. Wir sanieren den Haushalt. Wir korrigieren das Chaos, das Sie uns bei den Finanzen hinterlassen haben. Das ist unsere Aufgabe - nicht nur bei der Pflegeversicherung, sondern in allen Bereichen. ({0}) - Ich gehe noch darauf ein. Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen. ({1}) Ich will Ihnen heute einmal einige Dinge aus der Vergangenheit um die Ohren hauen. Am 10. Dezember 1997 fand vor dem Deutschen Bundestag - seinerzeit waren wir noch in Bonn - eine Debatte zur Pflegeversicherung statt. Es ging damals um die Antwort der Bundesregierung welcher wohl? -auf eine Große Anfrage der SPD-Fraktion zur Situation der Demenzkranken in der Bundesrepublik Deutschland. Jetzt hören Sie gut zu. Die SPD hatte damals zu dieser Debatte einen Entschließungsantrag eingebracht, der unter anderem Verbesserungen für Demenzkranke und eine Weiterentwicklung der Pflegeversicherung zur besseren Versorgung dieser Patientengruppe zum Inhalt hatte. Meine Damen und Herren von der Union, ich kann mich - wie sicher auch Sie - an die Debatte und die nachfolgenden Diskussionen noch lebhaft erinnern und zitiere zunächst einmal aus der Beschlussempfehlung der damaligen Berichterstatterin der CDU/CSU-Fraktion: Man dürfe ... nicht verkennen, dass bereits eine Menge geschehen sei. Auch seitens der Bundesregierung sei einiges unternommen worden. Die Lösung liege nicht in der Forderung nach mehr Angeboten ... In der Pflegeversicherung sei den Demenzerkrankungen verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt worden. Insgesamt lehnten die Mitglieder der Fraktion der CDU/CSU die vorliegenden Entschließungsanträge ab. Eine Fortführung des eingeschlagenen Weges ... halte man für zweckmäßiger. Weil wir beim Thema Vergangenheitsbewältigung sind, will ich Sie auch noch an folgende Tatsache erinnern: Der für die Pflegeversicherung damals zuständige Minister war Norbert Blüm; der gleiche Norbert Blüm, der im ersten Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung der Pflegeversicherung vom 19. Dezember 1997 ausführte, dass eine Änderung des Begriffs der Pflegebedürftigkeit nicht infrage komme, weil das den festgelegten Beitragssatz von 1,7 Prozent sprengen würde. Blüm führte damals - hören Sie bitte zu - in seinem Bericht weiter aus, dass der Forderung nach der Berücksichtigung des Zeitaufwandes für die allgemeine Betreuung und Beaufsichtigung bei Demenzpatienten und altersverwirrten Patienten nicht entsprochen werden könnte. Bereits ein Jahr zuvor, am 16. August 1996, schrieb der eben von mir zitierte Minister Blüm in einem Antwortbrief an den Deutschen Städtetag: Ihren Forderungen, dass auch verwirrte, demente und psychisch kranke Menschen Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten, stimme ich gerne zu. Dieses Ziel verwirklicht die Pflegeversicherung bereits. Die Behauptung, die Berücksichtigung psychisch Kranker in der Pflegeversicherung sei unzulänglich, so Norbert Blüm damals weiter, ist unzutreffend. Meine Damen und Herren von der Union; wenn ich mir heute Ihren Antrag ansehe, den Sie hier im Plenum einbringen, und den Inhalt mit Ihren Aussagen von damals vergleiche, komme ich aus dem Staunen über Ihre 180Grad-Drehung nicht mehr heraus. ({2}) Herr Fink, Sie verkennen die Tatsache - das tun Sie sehr bewusst -, dass es nicht nur die CDU/CSU war, die die Pflegeversicherung damals verabschiedet hat. Es war ein gemeinsamer Entwurf und eine gemeinsame Verabschiedung. ({3}) Darauf will ich noch einmal deutlich hinweisen. ({4}) Ich weiß nicht, ob Sie davon ausgegangen sind, dass Ihre Einlassungen von damals von irgendwelchen Festplatten gelöscht wurden. Anders ist mir diese Wandlung vom Saulus zum Paulus jedenfalls nicht zu erklären. Herr Fink, wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen. ({5}) Sie fordern heute das - das ist das Verwerfliche -, was Sie in Ihrer Regierungsverantwortung stets blockiert und abgelehnt haben. ({6}) - Wir haben eine Menge gemacht. Wenn Ihnen an einer Weiterentwicklung der Pflegeversicherung wirklich gelegen wäre, wenn Sie wirklich der Meinung wären, dass vorhandene Defizite in der Pflegeversicherung beseitigt werden sollten, dann frage ich mich, warum Sie diesen Sinneswandel nicht eher vollzogen haben. Die SPD-Fraktion hat Sie in der letzten Legislaturperiode wiederholt aufgefordert, in der Pflegeversicherung etwas zu unternehmen. Aber es ist nichts geschehen. Selbst die längst vereinbarten Novellierungen zur Pflegeversicherung haben Sie in der letzten Wahlperiode blockiert. Wir dagegen haben sie mittlerweile durchgesetzt. ({7}) Wir wären heute in allen Punkten, die Sie in Ihrem Antrag aufführen, viel weiter oder sogar schon am Ziel, wenn Sie mitgemacht hätten und während Ihrer Regierungszeit die Angebote der SPD zur notwendigen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung aufgegriffen hätten. Sie von der Union sind für die verlorenen Jahre bei der Pflegeversicherung verantwortlich. Sie sind maßgeblich für den Stillstand bei der Lösung der Problematik der nicht angemessenen Versorgung dementer und altersverwirrter Menschen verantwortlich. Davon können Sie nicht ablenken - weder mit Ihren zahlreich beantragten Aktuellen Stunden zur Pflegeversicherung noch mit Ihrer überdimensionierten Kleinen Anfrage zu diesem Thema, die 90 Einzelfragen beinhaltet, und schon gar nicht mit Anträgen wie dem heutigen. Wir müssen uns in der Pflegeversicherung und vor allem bei der Lösung der Problematik im Zusammenhang mit den Demenzkranken von Ihnen keine Versäumnisse vorwerfen lassen. ({8}) Im Gegenteil: Bereits in der vergangenen Legislaturperiode haben wir mit einer ganzen Reihe von Initiativen - ich habe die Große Anfrage und den Entschließungsantrag bereits angesprochen - auf die Problematik des demographisch bedingten Anstiegs der Zahl von Demenzkranken und deren unzureichender Berücksichtigung in der Pflegeversicherung hingewiesen. Ich habe die Große Anfrage und den Entschließungsantrag bereits angesprochen. Wir haben in der Koalitionsvereinbarung festgelegt, dass wir die Situation der Demenzkranken in dieser Legislaturperiode prüfen werden. Die Koalitionsvereinbarung enthält außerdem einen Auftrag zur Überprüfung der Schnittstellenprobleme zwischen Pflegeversicherung, GKV und Sozialhilferecht sowie die Absichtserklärung, die medizinische Behandlungspflege im stationären Bereich von der Pflegeversicherung auf die GKV zu übertragen. Wer für diese Probleme verantwortlich war, brauche ich Ihnen heute nicht mehr zu sagen. Wir haben unmittelbar nach der Regierungsübernahme damit begonnen, mit dem 4. SGB-XI-Änderungsgesetz die zuletzt von der Union blockierten Verbesserungen im Bereich der Urlaubs- und Verhinderungspflege umzusetzen. Das Gesetz ist in Kraft und für viele Pflegebedürftige und ihre Angehörigen hat es zahlreiche Verbesserungen gebracht. ({9}) Das Bundesministerium für Gesundheit hat im Februar ein Eckpunktepapier zur Förderung der Tagespflege als ersten Schritt für eine Versorgung demenzkranker Mitbürgerinnen und Mitbürger vorgelegt. Es enthält gezielte Verbesserungen des Leistungsangebotes im Bereich der Tages- und Nachtpflege und ist ein erster Schritt zur praktischen Umsetzung unserer Forderungen nach Verbesserungen für Demenzkranke. ({10}) Mit den vorgelegten Referentenentwürfen für ein Heimgesetz und ein Qualitätssicherungsgesetz, auch in Verbindung mit dem Gesetz zur Reform der Altenpflegeausbildung, hat die Koalition wichtige Vorhaben zur Sicherung und Weiterentwicklung der Pflegequalität und zur Stärkung der Verbraucherrechte in der Pflege auf den Weg gebracht. ({11}) Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, in den nach der Sommerpause anstehenden Beratungen dieser Gesetzentwürfe werden Sie ausreichend Gelegenheit haben, den größten Teil der in Ihrem Antrag enthaltenen Forderungen mit zu beraten. Es hätte Ihres Antrages also eigentlich gar nicht bedurft, ({12}) denn die Zukunft der sozialen Pflegeversicherung ist bei uns, bei der Koalition, in guten Händen. ({13}) Alle wichtigen Weichenstellungen sind bereits vorgenommen worden. ({14}) - Seien Sie nicht so aufgeregt, lassen Sie mich doch auch einmal etwas Positives sagen. Es freut mich, dass Sie nach zehn Jahren der Blockade offenbar auf den Weg der Vernunft zurückgekehrt sind. Lassen Sie uns in den kommenden Beratungen deutlich machen, dass uns die Situation der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen über alle Fraktionsgrenzen hinweg am Herzen liegt. Helfen Sie mit, die von Ihnen in der vergangenen Legislaturperiode verpassten Fortentwicklungen in der Pflegeversicherung aufzuholen. Dazu werden wir nach der Sommerpause Gelegenheit haben, wenn Ihr Antrag und die von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwürfe in den Ausschüssen und hier im Plenum diskutiert und beraten werden. Vielen Dank. ({15})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Detlef Parr.

Detlef Parr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001676, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die „Pharmazeutische Zeitung“ vom 8. Juni titelte: „Demenz ängstigt die Politik“. Ich habe nach Ihrem Beitrag, Frau Schmidt-Zadel, den Eindruck: Demenz ängstigt die SPD. Da trifft der Antrag der CDU/CSU offensichtlich ins Schwarze. ({0}) Ich will noch einmal einen Blick zurückwerfen: Als wir am 22. April 1994 das Pflegeversicherungsgesetz beschlossen haben, haben wir meiner Meinung nach damit begonnen, die Zukunft der so genannten fünften Säule zu verspielen. Es bestand seinerzeit ein breiter sozialpolitischer Konsens darüber, dass das Risiko der Pflegebedürftigkeit einer neuen Form der sozialen Absicherung bedurfte. Das war unstrittig über die Fraktionsgrenzen hinweg. Hauptgründe waren die finanzielle Überforderung der Pflegenden und die finanzielle Überforderung der Kommunen. Die Sozialhilfe wurde zum Regelleistungssystem für Pflegebedürftige. Ich erinnere mich aber auch noch allzu gut an die heftigen Auseinandersetzungen darüber, ob das Risiko der Pflegebedürftigkeit sozialversicherungsrechtlich oder durch Einführung einer privaten Pflegepflichtversicherung abgesichert werden sollte. Die F.D.P. kämpfte damals einen einsamen ordnungspolitischen Kampf. Weder die Versicherungsbranche noch die Arbeitgeberseite erkannten, dass nur eine sich auf dem Kapitaldeckungsprinzip gründende privatversicherungsrechtliche Lösung langfristig Bestand haben. ({1}) Heute wissen wir alle - wir brauchen nur auf den Umgang der privaten Krankenversicherungen mit den dort Pflegeversicherten zu schauen -: Es war eine gut gemeinte, aber nicht gut gelungene Entscheidung. Deshalb hat die Überschrift des CDU/CSU-Antrags „Zukunft der sozialen Pflegeversicherung“ ihre absolute Berechtigung. Die Zukunft der Pflegeversicherung macht eine Strukturreformdiskussion auch in diesem Bereich dringend erforderlich. ({2}) Frau Schmidt-Zadel, ich bin gespannt, was dazu von Ihrer Seite kommt. Die bereits zitierte „Pharmazeutische Zeitung“ stellt weiter die Frage: Wird die Pflegeversicherung als eigenständiger Sozialversicherungszweig bald aufgegeben? - Das ist eine spannende Frage. Die entscheidende Frage ist aus unserer Sicht: Können wir die auf uns zurollenden Probleme - demographische Entwicklung, stetig steigende Zahl altersverwirrter Menschen und Ähnliches - auf der Grundlage des bestehenden Versicherungsprinzips und unter Beibehaltung der jetzigen Ausgestaltung der Pflegestufen überhaupt noch lösen? Bei gleich bleibender Pflegefallwahrscheinlichkeit und Zunahme der Lebenserwartung wird nach seriösen Prognosen die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2020 auf 2,2 Millionen steigen und 2050 annähernd die 4-Millionen-Grenze erreicht haben. Bei allem Respekt vor dem Antrag der Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU: Auf diese Frage finden wir in Ihrem Antrag natürlich keine Antwort. Wir dürfen aber nicht auf der Basis einer Weiter-soMentalität diskutieren, nicht ein Stellschräubchen hier und ein Stellschräubchen da neu justieren. Nein, wir müssen uns einer Diskussion stellen, mit der die Zukunftsfragen der Pflegeversicherung von Grund auf neu angegangen werden und die weit über die uns zurzeit besonders bewegenden Fragen hinausgehen muss, die zum Beispiel lauten: Wie können wir dafür sorgen, dass Menschen auch im Pflegeheim ihre Autonomie behalten und dass sie ein menschenwürdiges Leben ohne Angst vor Gewalt führen können? Wie stellen wir sicher, dass der Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“ auch wirklich zum Tragen kommt? Die Diskussion muss auch die Frage nach der Situation der Demenzkranken einschließen. Egal, wie wir diese Diskussion auch angehen werden, eines steht fest: Für viele der Vorhaben braucht man Geld. Frau Schmidt-Zadel, der Antrag, den Ihre Fraktion damals in der Opposition gestellt hat, hat - wahrscheinlich keine Antwort auf die Frage gegeben, wie Sie das, was Sie beantragt haben, finanzieren wollen. Ich kenne zwar den Antrag nicht - ich war damals noch nicht Mitglied des Deutschen Bundestages -, aber ich kann mir gut vorstellen, dass der Antrag keine Antwort auf die Frage nach der Finanzierung beinhaltet hat. Das Szenario - Frau Ministerin Fischer hat im letzten Jahr zugelassen, dass Geld von der Pflegeversicherung in den Haushalt des Arbeitsministers umgeschichtet wurde; immerhin 400 Millionen DM sind pro Jahr geflossen soll sich in diesem Jahr bei der gesetzlichen Krankenversicherung in noch stärkerem Maße wiederholen. Frau Schmidt-Zadel - da beißt die Maus keinen Faden ab -, das ist ein unanständiger Griff in die Taschen Fremder und der Versicherten. ({3}) Wir werden alles daransetzen, dies zu verhindern und die Entscheidung vom letzten Jahr zuungunsten der Pflegeversicherung wieder rückgängig zu machen. Vom Grundsatz her stimmen wir dem Antrag der CDU/CSU natürlich zu. Aber wir müssen im Gesundheitsausschuss über die Details reden. Das gilt insbesondere für die Frage, wie die Mehrausgaben an anderer Stelle kompensiert werden können. Sie haben dazu auch Vorschläge gemacht. Wir freuen uns auf die Auseinandersetzung und Diskussion im Gesundheitsausschuss. Sie ist notwendig, aber erst der Anfang einer weit tiefer greifenden Diskussion, die wir über diesen Problemkreis führen müssen. Herzlichen Dank. ({4})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Katrin Göring-Eckardt.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Fink, wenn Sie fragen, wo die Millionen geblieben sind, dann kann ich Ihnen zwei Dinge versichern: Erstens. Sie sind nicht in einem schwarzen Koffer verschwunden. Zweitens. Sie sind auch nicht aus dem Kanzleramt verschwunden. ({0}) - Nein, das ist nicht billig. Ich werde Ihnen das gerne begründen. Sie müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, dass Sie es sich an dieser Stelle super einfach machen. Sie tun so, als ob Sie mit dem finanzpolitischen Scherbenhaufen, den Sie uns hinterlassen haben und der nun in allen Bereichen zu schmerzhaften Einschnitten führen muss, nichts zu tun hätten. ({1}) Natürlich finden auch wir die Einschnitte schmerzhaft. Wir hätten gerne auf sie verzichtet. Aber klar ist: Wir konnten nicht daran vorbei, einen Beitrag zur Konsolidierung des Gesamthaushalts zu leisten; denn ein Kabinett, das sich eine solche Konsolidierung vornimmt, kann das nur gemeinsam schaffen. Bezüglich der Pflegeversicherung - das ist auch klar - toppen Sie Ihr Vorgehen nach dem Motto „Uns geht das alles nichts an“ noch mit Ihrem Antrag: Sie tun so, als hätten Sie mit dem Handlungs- und Reformbedarf, der in der Pflegeversicherung besteht, nichts zu tun. Tatsächlich haben Ihre Versäumnisse zu den Defiziten und Schwächen der Pflegeversicherung geführt. ({2}) Eines kann ich Ihnen versichern: Diese Strategie wird nicht funktionieren, weil das Gedächtnis der Bürgerinnen und Bürger nicht so kurz ist. Die Menschen sehen in der Pflegeversicherung einen wichtigen Baustein zur Absicherung des Pflegerisikos. Sie sind mit den Leistungen in vielen Bereichen auch zufrieden. Ich denke, das sehen Sie nicht anders. Es ist auch kein Geheimnis, dass es nach wie vor Schwächen, Lücken und Ungereimtheiten gibt. Zum Teil handelt es sich dabei um Konstruktionsfehler, die bei der Einführung der Pflegeversicherung schon abzusehen waren und deren Beseitigung wir damals auch schon angemahnt haben. Ich nenne als Beispiel die Frage der Demenzkranken. Auch das Problem der Gewalt in der Pflege - das sollte man an dieser Stelle ebenfalls sagen - ist nicht zu verleugnen. Wir müssen dafür sorgen, dass das Auftreten weiterer Einzelfälle - wir sollten uns darin einig sein, dass es Einzelfälle sind ({3}) in Zukunft verhindert wird. Wir müssen aber auch schauen, ob es Fehler im System gibt.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Reinhardt?

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003132, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte gern im Zusammenhang vortragen. - Weil das Problem schon sehr lange bekannt ist, hat sich diese Bundesregierung im Koalitionsvertrag vorgenommen, sich den Problemen zu stellen. Sie hat Verabredungen getroffen, die sie jetzt Stück für Stück umsetzt. Wir unterscheiden uns von Ihnen vor allen Dingen in einem: Wir stellen uns den finanziellen Rahmenbedingungen und fragen, was unter diesen Bedingungen an Verbesserungen möglich ist. Wir fragen nicht, was wir alles versprechen können. ({0}) - Ja, so ist Ihr Antrag. Auf dieser Basis haben wir übrigens im letzten Jahr einige Leistungsverbesserungen beschlossen, die unter der alten Regierung nicht durchzusetzen waren - Herr Parr, da waren Sie noch nicht da -, weil sie von der F.D.P. verhindert worden sind. Die F.D.P. hat vor 14 Tagen ihr soziales Herz entdeckt; auch das haben wir erfahren. So schnell wird man von der „Partei der Besserverdienenden“ zur Partei derer, die besser Spaß haben. Wir haben außerdem - Frau Schmidt-Zadel hat darauf hingewiesen - einen Referentenentwurf für ein Qualitätssicherungsgesetz vorgelegt, mit dem die Qualitätssicherung in einem bisher nicht gekannten Maß in den Alltag der Pflegeheime integriert wird. Darum geht es doch wohl in allererster Linie. Gleichzeitig stärken wir die zu Pflegenden und ihre Angehörigen, indem wir ihre Rechte als Verbraucherinnen und Verbraucher deutlich machen. Auf diesem Gebiet werden wir zu einem Mehr an Selbstbestimmung kommen. Ich persönlich glaube, dass Selbstbestimmung in der Pflege erst noch Standard werden muss. Mit unserem Entwurf zur Qualitätssicherung knüpfen wir an die Diskussion der Fachleute auf dem Gebiet der Pflege an. Sie alle sind der Meinung, dass Qualität nur dann entstehen kann, wenn sie in den Heimen von allen Beteiligten getragen wird. Selbstverständlich braucht es dazu Kontrollen. Diese sollen auch in Zukunft mit aller Konsequenz durchgeführt werden. Qualität muss ein ständiger Verbesserungsprozess sein. Sie lässt sich nicht von oben aufstülpen. Ansonsten werden wir keine tatsächliche Verbesserung erreichen. Außerdem wollen wir endlich Verbesserungen für die Demenzkranken realisieren. Unser Vorschlag, den wir in die Diskussion eingebracht haben, lautet: ein Tag Entlastung durch Tagespflege. Dieser Ansatz nutzt sowohl den Pflegebedürftigen als auch den Angehörigen; denn die Pflegebedürftigen können in Einrichtungen der Tagespflege ganz anders und viel stärker aktivierend betreut werden als das zu Hause möglich ist. Wir wissen, dass dieser Vorschlag auch in der Fachwelt umstritten ist. Deshalb führen wir zurzeit eine intensive Diskussion über die konkrete Ausgestaltung. Ich möchte auch die Union ausdrücklich auffordern, sich an dieser Diskussion zu beteiligen. Verbesserung der Qualität und Leistungsverbesserung für Demenzkranke - in diesen Zielen sind wir uns einig. Deshalb fordere ich Sie auf, hier in einen ehrlichen Dialog mit konstruktiven Vorschlägen einzutreten. Voraussetzung dafür sind allerdings mehr Ehrlichkeit und keine Versprechungen, die unter den gegebenen finanziellen Rahmenbedingungen nicht zu halten sind. ({1}) Ich hoffe nach wie vor auf diesen Dialog. Ich gehe davon aus, dass Ihr Antrag ein Diskussionsbeitrag in diese Richtung sein wird. Vielen Dank. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ilja Seifert.

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! Meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU, ich kann Ihnen nur empfehlen: Nehmen Sie mich als Gutachter! Ich würde Sie aufgrund Ihres Antrags ohne weiteres in Stufe II der Pflegeversicherung einstufen. Ich weiß noch nicht genau, ob es sich um einen Fall kollektiver Amnesie oder von Demenz im jugendlichen Alter handelt. ({0}) Ich glaube, Sie haben vergessen, dass Sie die Pflegeversicherung eingeführt haben. Alles, was Sie jetzt vorschlagen, kann ich nur unterstützen. Vielleicht haben Sie vergessen, dass Sie diejenigen sind, die daran schuld sind, dass es überhaupt so weit gekommen ist. ({1}) - Lassen Sie mich doch einmal ausreden. - Dass es so weit gekommen ist, liegt daran, dass Sie einen völlig antiquierten Pflegebegriff zugrunde gelegt haben. Dass es so weit gekommen ist, liegt daran, dass Sie die Bedürfnisse vieler Bevölkerungskreise überhaupt nicht im Auge hatten und diese erst ganz zuletzt in die Pflegeversicherung einbezogen haben, wo sie eigentlich nicht hingehören.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Herr Kollege Seifert, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Reinhardt?

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Aber sehr gern. Wenn dann die Uhr angehalten würde, wäre es noch besser.

Erika Reinhardt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001811, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Kollege Seifert, Ihnen ist doch sicherlich klar, dass der Pflegeversicherung durch die Sparmaßnahmen des Herrn Eichel 648 Millionen DM entzogen wurden. ({0}) - Doch, sie stimmt. Einmal 400, einmal 248, das ergibt 648. Das ist nun einmal so. - Stimmen Sie mir zu, dass genau diese Summe dazu beitrüge, im Bereich Demenz etwas zu verbessern?

Dr. Ilja Seifert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002153, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Natürlich stimme ich Ihnen zu, liebe Kollegin, und natürlich bin ich auch dagegen, dass dieses Geld der Pflegeversicherung entzogen wird, wie ich bereits mehrfach hier schon gesagt habe. Heute diskutieren wir aber über einen Antrag, den Sie vorgelegt haben. Deshalb erlaube ich mir, mich einmal mit Ihrer Politik in diesem Bereich auseinander zu setzen. Die Bundesregierung kritisiere ich wegen ihrer Politik in diesem Bereich oft genug und ich meine, das ist auch deutlich zum Ausdruck gekommen. ({0}) Ich danke Ihnen also für die Frage, aber heute muss ich mich einmal mit Ihrer Politik auseinander setzen. Sie haben strukturell angelegt, dass Menschen aus Einrichtungen der Behindertenhilfe in Einrichtungen der Pflegeversicherung abgeschoben werden, noch schlimmer: dass sogar Einrichtungen der Behindertenhilfe in Einrichtungen der Pflegeversicherung umgewandelt worden sind. Dort fand alles das, was wir über lange Zeit erkämpft haben - pädagogische, soziale, kulturelle und andere Betreuung - nicht mehr statt. „Gewalt in der Pflege“ ist doch erst in den letzten Jahren wirklich zum Begriff, zum Problem geworden, weil Menschen in den Heimen, die aus Ihrer Pflegeversicherung finanziert werden, struktureller Gewalt ausgesetzt sind. Ich will das einfach einmal sagen, weil das nicht unter den Teppich gekehrt werden darf. Was die Bundesregierung jetzt mit der Pflegeversicherung macht, kritisiere ich ebenfalls. Auch da wären viele andere Maßnahmen erforderlich. Wenn Sie jetzt so tun, als seien Sie diejenigen, die dafür sorgten, dass die Demenzkranken und ihre Angehörigen wenigstens ein bisschen einbezogen würden, dann ist das pharisäerhaft. Sie sollten zumindest sagen, dass dieser Personenkreis bisher nicht einbezogen worden ist, liegt an Ihrer Anlage der Pflegeversicherung. ({1}) Es ist auch keine Kunst - auch das muss ich einmal sagen, Herr Fink -, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern dieses Landes mehr als 30 Milliarden DM aus der Tasche zu ziehen, diese zusätzlich in das System zu bringen und dann zu sagen: Ein bisschen was Gutes haben wir damit auch machen können. - Na klar, mit 30 Milliarden DM könnte auch ich sozusagen allerhand Schaden anrichten, aber so arbeitet die PDS nicht. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Zöller.

Wolfgang Zöller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002603, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich Folgendes feststellen: Die vor fünf Jahren von uns eingeführte Pflegeversicherung hat beachtliche Entlastungen und Verbesserungen für die Pflegebedürftigen und für deren Angehörige mit sich gebracht. ({0}) Eine kürzlich in Auftrag gegebene Umfrage hat ergeben, dass mehr als 90 Prozent der Befragten mit den Leistungen der Pflegedienste zufrieden waren. Das Pflegepersonal wurde weit überwiegend als qualifiziert und verständnisvoll bezeichnet. Man muss sich also sehr davor hüten, die in Einzelfällen bekannt gewordenen Missstände zu verallgemeinern. Offenbar ist die Arbeit der Pflegedienste im Großen und Ganzen in Ordnung und man sollte das Engagement dieser Menschen, die einen schwierigen Beruf ausüben, hier auch einmal anerkennend erwähnen. ({1}) Trotzdem sind zur Stabilisierung der Ziele und des Schutzzwecks der Pflegeversicherung Verbesserungen erforderlich, angefangen von der Qualitätssicherung bis hin zu Finanzierungsmaßnahmen. Besonderen Handlungsbedarf sehen wir in diesem Zusammenhang bei den Demenzkranken. Da die allgemeine Betreuung der Demenzkranken noch immer nicht als Verrichtung im Begriffskatalog der Pflegeversicherung enthalten ist, erhalten eine große Anzahl erkrankter Personen keine Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung. Eine weitere Benachteiligung für Demenzkranke sehe ich im Übrigen durch das Arzneimittelbudget verursacht, da hier die Gefahr besteht, dass innovative Arzneimittel gerade für Demenzkranke nur noch zögerlich verordnet werden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, über alle Parteigrenzen hinweg ist man sich einig, dass für Demenzkranke etwas unternommen werden muss. Bei Rot-Grün liegen aber zwischen Reden und Handeln tatsächlich Welten. ({2}) Vielleicht liegt es auch am Thema. Ich werde Ihnen das beweisen, indem ich einmal aufzeige, was allein in den letzten zwei Jahren im Ausschuss geschehen ist. Wir, die CDU/CSU, unternehmen heute nämlich den dritten Anlauf, um Verbesserungen für Demenzkranke zu erreichen. Bereits im Januar 1999 hatten Bayern und die übrigen B-Länder einen Antrag, der Verbesserungen für Demenzkranke vorsah, eingebracht. Sie haben ihn abgelehnt. Unser Vorschlag, im Rahmen des 4. SGB-XI-Änderungsgesetzes Verbesserungen für Demenzkranke zu erzielen, wurde von Ihnen abgelehnt. ({3}) Vor diesem Hintergrund ist es schon ein starkes Stück von Ihnen, sich hier hinzustellen und zu sagen, wir würden nichts für Demenzkranke tun. Sie hatten schon zweimal die Möglichkeit, dafür zu stimmen; Sie haben zweimal dagegen gestimmt. ({4}) Die Begründung, die Sie vorgebracht haben, ist mehr als ärgerlich. Als wir unseren Antrag zu Verbesserungen für Demenzkranke eingebracht haben, sagten Sie, man könne das nicht umsetzen, weil 500 Millionen DM nicht finanDr. Ilja Seifert zierbar seien. Die gleiche Regierung hat dann einen Monat später 500 Millionen DM aus der Pflegekasse herausgenommen. ({5}) Dann haben Sie hier vorhin ein zweites unredliches Argument vorgebracht, indem Sie sagten, wir hätten schon viel früher etwas für Demenzkranke tun müssen. Darf ich Sie an Ihre eigenen Worte im Ausschuss erinnern, als wir den Vorschlag gemacht haben, etwas für Demenzkranke zu tun? Sie sagten, es seien erst Gutachten erforderlich, diese müssten ausgewertet werden, damit man weiß, was es kostet, wenn im nächsten Jahr etwas getan werden sollte. Vor diesem Hintergrund ist es doch unredlich, uns vorzuhalten, wir hätten vorher etwas tun müssen. ({6}) Sie hatten dreimal die Möglichkeit, etwas für Demenzkranke zu tun. ({7}) - Ja, tun Sie etwas? - Das zeigt, wie unredlich die Regierung ist. Ich darf aus dem Antwortschreiben zitieren, das wir letzte Woche von der Regierung auf unsere Große Anfrage erhalten haben. ({8}) - Eine Kleine, danke. Aber auch Sie haben vorhin gesagt, es sei eine Große gewesen. Hier heißt es: Die neue Bundesregierung setzt sich zum Ziel, die ... Finanzspielräume weiter zu verbessern. Das steht dort. ({9}) - Ein gutes Ziel, aber Sie tun das Gegenteil. Das ist ja immer Ihr Problem. Sie geben hehre Ziele vor und machen gerade das Gegenteil, indem Sie die Finanzspielräume einfach verschlechtern. Reden und Handeln liegen hier in diesem Fall bei Ihnen weit auseinander. Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sollten gemeinsam versuchen, eine allgemeine Beaufsichtigung und Betreuung in zeitlich begrenztem Umfang für Demenzkranke irgendwie in Anrechnung zu bringen, zumindest jedoch eine individuell am Bedarf ausgerichtete Inanspruchnahme von ehrenamtlichen Helfern und häuslichen Diensten zur allgemeinen Betreuung und Beaufsichtigung von Demenzkranken zu ermöglichen. Hier möchte ich auf die vorbildliche Politik Baden-Württembergs verweisen. Es lohnt sich nachzulesen, wie BadenWürttemberg mit Demenzkranken und auch mit Selbsthilfegruppen in diesem Bereich umgeht. Auf diese Weise könnte nämlich eine Entlastung der physisch und psychisch oftmals sehr stark belasteten Angehörigen von Demenzkranken erreicht werden. Bei etwas gutem Willen kann man über Parteigrenzen hinweg sehr schnell sinnvolle und finanzierbare Verbesserungen für Demenzkranke erreichen. Wir bieten hierzu unsere Mitarbeit an. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Danke schön. Ich schließe damit die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3506 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Ursula Burchardt, Ulrike Mehl, Adelheid Tröscher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Matthias Berninger, Dr. Uschi Eid, Hans-Josef Fell, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bildung für eine nachhaltige Entwicklung - Drucksachen 14/1353, 14/3319 Berichterstattung: Abgeordnete Ulla Burchardt Axel E. Fischer ({1}) Matthias Berninger Cornelia Pieper Angela Marquardt Ich frage Sie, ob Sie damit einverstanden sind, dass wir die Reden der Kollegen Burchardt, Mehl, Tröscher, Fischer, Hermann, Flach und Fink zu Protokoll neh- men.1) - Ich höre keinen Widerspruch. Dann wird so ver- fahren. Wir kommen damit gleich zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, For- schung und Technikfolgenabschätzung zu dem Antrag der Fraktion der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/1353 in der Ausschussfassung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- neten Klaus Riegert, Friedrich Bohl, Georg Brunn- huber, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Verbesserung der Vereinsförderung und der Vereinfachung der Besteuerung der eh- renamtlich Tätigen - Drucksache 14/1145 - 1) Anlage 3 ({2}) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({3}) - Drucksache 14/3412 Berichterstattung: Abgeordnete Ludwig Eich Norbert Barthle Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Widerspruch gibt es nicht. Dann verfahren wir so. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Klaus Riegert.

Klaus Riegert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001847, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zur Verbesserung der Vereinsförderung und Vereinfachung der Besteuerung ehrenamtlich Tätiger soll das Vereinsteuerrecht der zeitlichen Entwicklung angepasst und vereinfacht werden. Vereine müssen mehr Handlungs- und Gestaltungsräume erhalten, um den gestiegenen Anforderungen der Mitglieder kreativ und innovativ begegnen zu können. Ehrenamtlich, neben- und hauptberuflich Tätige müssen von bürokratischen Arbeiten entlastet werden. Sie wollen sich nicht ständig mit neuen Rechtsvorschriften und Verwaltungsvorschriften herumschlagen. Ihnen bereitet es kein Vergnügen, für den Staat Eintragungen auf Lohnsteuerkarten zu prüfen. Sie sehen ihre Lebenserfüllung nicht darin, für die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte über 60 Fragen wegen jeder beruflichen Nebentätigkeit zu beantworten oder zu prüfen, ob im Hauptberuf die Bemessungsgrenze für die Sozialversicherung erreicht ist. Dies haben sie nicht gemeint, als sie sich für das Engagement im Verein entschieden haben. Deshalb müssen wir sie von bürokratischem Ballast befreien. ({0}) Dies wäre eine weitaus größere Anerkennung ihres Engagements als viele öffentliche Bekundungen. Vereine sind ein wichtiger Pfeiler unserer Gesellschaft. Sie zu fördern muss dringliches Anliegen der Politik sein, und zwar der Politik aller Parteien. Weil dies in der Tat so ist, ist es unverständlich, dass den Koalitionsfraktionen nichts anderes eingefallen ist als ein Nein zu unserem Gesetzesantrag. ({1}) Sie haben sich in den Ausschüssen jeglicher Diskussion entzogen. ({2}) Dafür haben unsere Vereine kein Verständnis. Der Finanzminister Eichel hatte als Ministerpräsident des Landes Hessen mehr Verständnis für Vereine, zumindest auf dem Papier und während des Landtagswahlkampfs. Er hat am 1. Dezember 1998 einen Gesetzesantrag im Bundesrat mit der Drucksachennummer 950/98 eingebracht. Der Titel lautete: Gesetz zur Vereinfachung und Verbesserung der Vereinsbesteuerung und der Besteuerung der ehrenamtlich Tätigen. Wir unterstützen seine damals vorgeschlagenen Maßnahmen: Erstens: Erhöhung der Besteuerungs- und Zweckbetriebsgrenzen. Dies fordern wir in unserem Gesetzentwurf auch. Zweitens: Erhöhung der Grenze für die Pauschalierung der Vorsteuer. Auch dies fordern wir in unserem Gesetzentwurf. Drittens: Bildung einer Rücklage zur Erhöhung der Finanz- und Leistungskraft, besonders der kleinen und mittleren Vereine. Auch dies fordern wir. Die Gesetzentwürfe unterscheiden sich im Wesentlichen nur durch die Höhe der Forderungen. Darüber hätte man in den Ausschüssen wenigstens reden können. Sie haben sich jedoch geweigert, über Maßnahmen zu reden, die Ihr Finanzminister als damaliger Ministerpräsident für ein sehr dringliches Anliegen unserer Vereine gehalten hat. Der Gesetzentwurf Ihres Finanzministers geht weit über unseren Gesetzentwurf hinaus. Er fordert die Ausdehnung des steuerfreien Übungsleiterpauschbetrages - damals noch 2 400 DM pro Jahr - auf alle ehrenamtlichen Vorstandsmitglieder und Funktionsträger - man höre genau hin: auf alle ehrenamtlichen Vorstandsmitglieder und Funktionsträger - aller 350 000 Vereine: Vorsitzende, Schriftführer, Schatzmeister, Beisitzer etc. Herr Eichel oder sein Vertreter - es ist niemand aus dem Finanzministerium da -, reichen Sie einen solchen Gesetzentwurf hier ein! Unsere Zustimmung haben Sie. Wir sind auf Ihrer Seite. ({3}) Die Kosten für die öffentlichen Haushalte bezeichnete der Finanzminister damals als gering. Ich wiederhole: gering! Wir glauben ihm das. Deshalb verstehen wir den Parlamentarischen Geschäftsführer der SPD-Fraktion Herrn Wilhelm Schmidt nicht, der die in unserem Gesetzentwurf als gering veranschlagten Kosten als unseriös bezeichnet. ({4}) Lieber Herr Kollege Schmidt, dies müssten Sie zunächst Ihrem Finanzminister Eichel vorhalten. Erklären Sie zunächst Ihrem Finanzminister seine unseriöse Finanzierung. Seine Forderungen wären wegen der immensen Erweiterung des Bezugskreises der steuerfreien Übungsleiterpauschale weitaus höher als das von uns geforderte Finanzierungsvolumen. Der Herr Finanzminister soll zu seinem Gesetzentwurf stehen. Wir können uns über die Höhe der Maßnahmen auseinander setzen und dann zum Wohle der Vereine und der dort Tätigen dieses Gesetz sofort in Kraft setzen. Das täte unseren Vereinen gut. ({5}) Auch die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen bekunden offen Sympathie zumindest für einen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer wesentlichen Teil unseres Gesetzentwurfs. Der Fraktionsvorsitzende Dr. Struck verkündet mit Sperrfrist vom 20. Mai 1999 vor der Presse in Bonn: Die steuerfreie Pauschale für Übungsleiter von Sportvereinen und für alle anderen ehrenamtlichen Tätigkeiten - man höre auch hier genau hin: für alle anderen ehrenamtlichen Tätigkeiten will die Bonner Koalition von 200 DM auf 400 DM verdoppeln. Herr Dr. Struck, wir sind sofort dabei! Frau Schmidt behauptet laut Bericht der „FAZ“ vom 6. Mai 1999, dies koste den Staat nichts, er verzichte lediglich auf zu erwartende Steuereinnahmen. Und Herr Wilhelm Schmidt ist natürlich auch dabei, wenn es um die Verkündung von Wohltaten geht. ({6}) Warum verdoppeln Sie nicht die Übungsleiterpauschale? Wir könnten es machen! Heute! Mit unserem Gesetz! ({7}) Sie haben in der Koalition einen eigenen Entwurf erstellt und die Forderung nach Verdoppelung der Übungsleiterpauschale erhoben. Diesen Entwurf haben Sie öffentlichkeitswirksam verkauft und ihn nach diesem Betrug stillschweigend kassiert. Sie wollen die Verdoppelung der Übungsleiterpauschale auf 4 800 DM. Sie sagen: Das kostet nichts. Sie beschließen 300 DM, schmieren damit weiße Salbe auf Ihr vordergründiges Handeln. Das hilft weder den Vereinen noch den dort Tätigen. Sie wollten mit der Erhöhung auf 3 600 DM den Unfug des 630-DM-Gesetzes kaschieren. Die SPD-Arbeitsgruppe hat Ihnen gesagt, dass Sie den Murks des 630-DM-Gesetzes mit der Erhöhung der Übungsleiterpauschale nicht kompensieren. Der Finanzminister hat Ihnen gesagt, dass die Erhöhung der Übungsleiterpauschale die gemeinnützigen Vereine nicht von den beklagten Lasten des 630-DM-Gesetzes befreit - so Eichel schriftlich am 23. Juni 1999. Recht hat er in diesem Punkt. Ziehen Sie den Murks für gemeinnützige Vereine zurück und lassen Sie uns das machen, was auch Sie schriftlich in Entwürfen niedergelegt haben. Sport bringt Gewinn für alle. Wenn Sie und Herr Eichel Ihre Gesetzesinitiativen ernst meinen und nicht als plumpe Täuschung ansehen lassen wollen, dann stimmen Sie unserem Gesetzentwurf einfach zu! ({8}) Und schon haben wir den Vereinen und den dort ehrenamtlich, neben- und hauptberuflich Tätigen geholfen. Die Belastungen für den Staat sind gering. Sie sagen es selbst. Der Gewinn für unsere Vereine ist enorm. Das wissen Sie. Sollte es Ihnen schwer fallen, unserem Entwurf zuzustimmen, dann legen Sie doch einen Entwurf gleichen Inhalts vor. Wir stimmen dann zu. ({9}) Uns geht es um die Sache, um die Vereine, um die dort für das Gemeinwohl tätigen Menschen, nicht um parteipolitische Profilierung. ({10}) Nein, Sie verweigern sich der Diskussion, weil Sie dem Diktat des Finanzministers unterliegen. Sie machen gemeinsame Sache mit dem Finanzminister und pressen seit Ihrem Regierungsantritt Milliarden aus den Vereinen und den dort ehrenamtlich und nebenberuflich Tätigen heraus: über die Ökosteuer, die 630-DM-Jobs und die Scheinselbstständigkeit. Sie greifen selbst bei den Aufwandsentschädigungen der freiwilligen Feuerwehr ungeniert zu. Sie benutzen das ehrenamtliche Engagement der Bürgerinnen und Bürger, um Ihre Kasse zu füllen. Das sagen nicht nur die Vereine; Sie wissen das auch selbst. Geben Sie wenigstens etwas von dem zurück, was Sie den Vereinen genommen haben! Wir wissen, dass wir uns mit diesem Anliegen in bestem Einvernehmen mit den Vereinen, Organisationen, Verbänden, aber vor allem mit den dort Tätigen befinden. Diese leisten die Arbeit in den Vereinen. Sie gilt es zu entlasten und damit ihre Arbeit anzuerkennen. ({11}) Um es nochmals deutlich zu machen: Die Ziele unseres Gesetzes sind erstens die Erhöhung der Besteuerungsund Zweckbetriebsgrenzen auf 120 000 DM, zweitens die Bildung einer zusätzlichen Rücklage zur Erhöhung der Finanz- und Leistungskraft, drittens die Erhöhung der Grenze der Pauschalierung der Vorsteuer auf 120 000 DM und viertens die Heraufsetzung der Übungsleiterpauschale auf 4 800 DM. Das sind die Eckpunkte unseres Gesetzentwurfes. Vereine brauchen weitere steuerliche Entlastungen und Erleichterungen. Sonst finden sich immer weniger Personen bereit, ehrenamtliche Funktionen wahrzunehmen. Diese Worte stammen nicht von mir, sondern sind ein Zitat von Ihrem eigenen Finanzminister, Herrn Eichel, zumindest aus der Zeit, in der er noch Ministerpräsident von Hessen war. Er hat völlig Recht. Deshalb sollten Sie unserem Gesetz die Zustimmung nicht verweigern. ({12})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Da wir gerade beim Thema Vereinsleben sind, hoffe ich, dass einer der Kollegen uns sagen kann, wie das Spiel ausgegangen ist. ({0}) Vielleicht kann uns das der Kollege Schmidt sagen, dem ich jetzt das Wort gebe.

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß nicht, ob der Kollege Riegert nach mir vom Fernsehapparat weggegangen ist, aber als ich weggegangen bin, stand es 0 : 0 in der Verlängerung. Die Holländer haben während des laufenden Spiels zwei Elfmeter verschossen. Es ist also hochinteressant. Wie man sieht, kümmern wir uns um das, was die Menschen interessiert. Das ist auch der Anlass dieser Debatte. Ich will, Herr Riegert, unabhängig vom Inhalt Ihrer Rede ausdrücklich würdigen, dass wir durch Ihren Antrag die Gelegenheit haben, erneut über die Förderung des Ehrenamtes in Deutschland zu sprechen. Manchmal hat man in diesen Tagen das Gefühl, es beginne so etwas wie ein Wettlauf, sich an die Verbände, die Vereine, die Ehrenamtlichen, diejenigen, die in Deutschland das bürgerschaftliche Engagement praktizieren, die Bürgerinnen und Bürger, die diesen Einsatz zeigen, zu wenden und sich an sie - dieses Gefühl hatte ich bei Ihnen, Herr Riegert - heranzumachen. ({0}) - Nein, das hat schon anderen Charakter. Was an der Stelle von der CDU/CSU betrieben wird, ist blanke Anbiederei, Populismus reinsten Wassers und Profilierungssucht. Bei dem, was Sie hier veranstalten - ich wiederhole jetzt, was ich beim ersten Durchgang dieses Gesetzentwurfes gesagt habe -, fehlt jede Seriosität. Ich kann nur sagen: Es ist auf der einen Seite gut, dass wir, auch in diesem Hohen Hause, erkennen, dass es in Deutschland Millionen von Menschen gibt, die ehrenamtlich tätig sind, und dass sich viele, auch in Ihren Reihen das verbindet uns -, in einem Maße einsetzen, ohne das die Gesellschaft in Deutschland nicht dieses hohe Lebensniveau hätte, wie wir es haben. Aber auf der anderen Seite muss unser Einsatz doch realistisch sein. Unabhängig davon, dass Sie einen im Wahlkampf entstandenen Antrag aus Hessen aus dem Jahre 1998 zitieren, ist es so, dass auch der damalige hessische Ministerpräsident noch nicht gewusst hat, was er heute als Finanzminister des Bundes weiß, dass er nämlich von Ihnen Billionen von Schulden hinterlassen bekommen hat. ({1}) Deshalb muss Ihnen immer wieder klargemacht werden, dass man nun nicht aus dem Vollen schöpfen kann. Wir wollen eine seriöse Finanzpolitik mit der Aufgabe verbinden, das Ehrenamt, das gesellschaftliche Engagement zu fördern. Dabei lassen wir uns, ob das nun von Ihnen akzeptiert wird oder nicht, nicht übertreffen. ({2}) Es stellt sich die Frage, wie wir in diesem Zusammenhang zu mehr Gemeinsamkeit kommen. Lassen Sie doch diese Art und Weise der Auseinandersetzung, Herr Riegert! Wir arbeiten in der Enquete-Kommission zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements, die die SPD durchgesetzt hat - das füge ich als Halbsatz hinzu -, im Prinzip so gut zusammen, dass es sich für die Mitglieder dieses Hauses wirklich nicht schickt, sich außerhalb dieses Hauses, nur um billig irgendeine Art von Öffentlichkeit zu erzielen, in der Tour zu bewegen, wie Sie, Herr Riegert, das auch heute wieder im Rahmen Ihrer Rede getan haben. Die in Ihrem Gesetzentwurf gemachten Vorschläge sind bei näherer Betrachtung nicht zu finanzieren. Ich will aus Ihrem Gesetzentwurf zitieren. Da steht, dass Sie durch die Schaffung einer zusätzlichen Rücklagemöglichkeit nach § 58 Nr. 7 der Abgabenordnung eine Förderung des Ehrenamtes erreichen wollen. Sie wollen eine Erhöhung der Besteuerungs- und Zweckbetriebsgrenzen, der Besteuerungsgrenzen für die wirtschaftliche Betätigung von Vereinen, um das Doppelte einführen. Sie fordern die Verdoppelung der Übungsleiterpauschale und nehmen überhaupt nicht zur Kenntnis, dass wir inzwischen in diesem Bereich Aufstockungen in Höhe von 50 Prozent vorgenommen haben. Was soll das also? Dann wollen Sie natürlich auch noch eine Erhöhung der Grenze für die Pauschalierung der Vorsteuer um das Doppelte einführen. Wenn man dies alles zusammenrechnet - ich begebe mich dabei noch nicht einmal auf das Schätzgleis des Finanzministeriums, das auch uns manchmal nicht ganz geheuer ist -, dann produzieren Sie auf diesem Wege 3 bis 4 Milliarden DM Steuerausfälle. Das kann doch nicht seriös sein. Ich bitte Sie also, sich mit uns gemeinsam in der Enquete-Kommission und bei den übrigen Aktivitäten im Sport- und im Jugendausschuss sowie im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung und an vielen anderen Stellen dafür einzusetzen, dass die quer durch alle gesellschaftlichen Gruppen organisierten Ehrenamtlichen sowie deren Verbände und Organisationen besser gefördert werden als das in den 16 Jahren Ihrer Regierung der Fall war. ({3}) An dieser Stelle will ich einen kleinen Hinweis hinzufügen - auf dieses Niveau will ich mich eigentlich nicht herunter begeben; aber es muss gestattet sein, einmal diesen Punkt anzusprechen -: Sie haben 16 Jahre lang regiert, alle unsere damaligen Anträge, die sehr fundiert und seriös gewesen sind, zum Beispiel den hinsichtlich einer 50prozentigen Anhebung der Übungsleiterpauschale, abgelehnt und fordern nun eine Verdoppelung. Im Übrigen haben Sie überhaupt nicht darauf reagiert, dass wir inzwischen die Gültigkeit der von uns durchgesetzten 50-prozentigen Anhebung der Übungsleiterpauschale auf die Gruppe der Betreuerinnen und Betreuer erweitert haben. Wir haben damit eine wichtige Lücke im Bereich der Förderung geschlossen. Dies betrifft Hunderttausende von Menschen in diesem Lande, die sich mit jungen und alten Menschen auseinander setzen, sie betreuen und tagtäglich umsorgen, damit diese besser durchs Leben kommen. Wir müssen uns darum bemühen, nicht nur vordergründig mit Gesetzesanträgen oder Ähnlichem zu arbeiten, sondern dafür zu sorgen, dass wir diesen bei vielen Millionen Menschen in unserem Lande bestehenden Geist transportieren und anerkennen. Deshalb richte ich an dieser Stelle - ich bedanke mich, dass Sie uns durch das Einbringen Ihres Gesetzentwurfes dazu die Gelegenheit geben - ausdrücklich ein kräftiges Dankeschön an die vielen Millionen Ehrenamtlichen in Deutschland. ({4}) Sie sind der Kitt der Gesellschaft, wie das einmal genannt wurde. Sie sollen das auch weiter sein. Wilhelm Schmidt ({5}) Ich bin wie Sie der Meinung, dass wir nach dem, was die Koalition in den ersten anderthalb Jahren der Regierung erreicht hat, nicht am Ende unserer Bemühungen stehen. Ich habe bereits die Enquete-Kommission genannt. Es ist gut, dass wir sie haben, und sie arbeitet sehr intensiv, damit wir in diesem Zusammenhang noch mehr erreichen. Ich will ein weiteres Projekt nennen, das wir nach jahrelangem Hin und Her durchgesetzt haben und das uns ebenso helfen wird, das bürgerschaftliche Engagement mehr als bisher zu unterstützen und zu untermauern. Das ist die Änderung des Stiftungssteuerrechts. ({6}) Es hat jahrelang gedauert, bis auf Ihrer Seite die dafür erforderliche Erkenntnis gewachsen ist. Frau Präsidentin Vollmer, da Sie gerade amtieren, möchte ich Ihnen ein Lob aussprechen. Denn Sie sind im Wesentlichen die Initiatorin dieses Vorhabens gewesen. ({7}) Ludwig Stiegler hat ganz maßgeblich zur Koordinierung des gesamten Projektes beigetragen. Um Einzelne nicht hintanzusetzen: Es waren viele andere daran beteiligt, aber ihr besonders. Dieses Projekt ist in diesem Zusammenhang deswegen zu nennen, weil wir damit der Gesellschaft einen neuen Schub im Hinblick auf Stiftungsinitiativen geben wollen. Wir verschaffen den Menschen die Gelegenheit, mit ihrem privaten Geld noch mehr Gutes zu tun, als das bisher schon der Fall war. Nach dem neuen Recht können 40 000 DM pro Jahr zusätzlich steuerlich berücksichtigt werden, wenn man sie in eine Stiftung gibt. 600 000 DM können über zehn Jahre hinweg ohne Vermögensstock einer neu gegründeten gemeinnützigen Stiftung steuerfrei gespendet werden. ({8}) - Ich war ja so froh darüber, dass Ihre Länder und auch einige der A-Länder, die das nicht oder anders wollten, den Vermittlungsausschuss angerufen haben. An dieser Stelle komme ich ins Spiel - das sage ich einmal ganz unbescheiden -, weil ich der Verhandlungsführer der Koalition im Vermittlungsausschuss bin. Wir haben am Ende nämlich mehr erreicht und manchen von denen, die den Vermittlungsausschuss angerufen haben, war das gar nicht so recht. Insofern kann ich nur sagen: Wir wollten dies so haben und haben es sogar noch besser gemacht, als es ursprünglich aussah oder als Sie es am Ende haben mittragen wollen. Insoweit ist also schon eine Menge geschehen. Als Nächstes wollen wir mehr Entbürokratisierung erreichen. In den zuständigen Ministerien wird hinter den Kulissen daran bereits gearbeitet. Der Bundeskanzler ist doch in der vorigen Woche selbst zum Feuerwehrtag nach Augsburg gegangen und hat auch dort noch einmal vor den versammelten Feuerwehrleuten, die nur alle zehn Jahre in Deutschland zusammenkommen, vor einer großen Menge engagierter Menschen persönlich zum Ausdruck gebracht, dass hier weiter gearbeitet wird und Entlastungen für Ehrenamtliche auch beim Bezug von Aufwandsentschädigungen kommen werden. Aber es kann doch hier bitte schön nicht nur an das Steuerrecht, nicht nur an das Stiftungsrecht gedacht werden und es kann nicht nur eine Enquete-Kommission sein, in der wir uns mit wissenschaftlicher und manchmal auch öffentlicher Begleitung über das Fortkommen auf diesem Gebiet unterhalten. Das Entscheidende ist doch, dass wir die Menschen erreichen. Wir erreichen sie aber nicht dadurch, dass wir uns hier gegenseitig beschimpfen, wie Sie das auf diesem Felde jetzt schon zum zweiten Mal machen, sondern nur dadurch, dass wir uns alle gemeinsam bemühen, daran zu arbeiten, die Bedingungen für den ehrenamtlichen Einsatz in Deutschland zu verbessern. ({9}) Wenn wir uns vor diesem Hintergrund in den nächsten Wochen und Monaten in der Enquete-Kommission und an anderer Stelle miteinander bewegen, werden wir eine Menge erreicht haben. Ich bin auch sicher, Herr Riegert, - um Ihre Kritik am Finanzminister mit einem Satz aufzunehmen -, dass sich auch der Finanzminister zu weiteren Schritten bereit erklären wird. Aber das ist wirklich nicht einfach, jedenfalls nicht so einfach, wie Sie glauben es sich machen zu können. Auf der anderen Seite haben wir auch noch viele anderen Aufgaben. Die Reformprojekte schreiten fort. Ein wichtiges Reformprojekt, das diese Regierung und diese Koalition im Auge haben, ist die Unterstützung des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland. Das haben die Menschen verdient, die sich engagieren, und das haben auch deren Vereine, Verbände und Organisationen verdient. Auf diesem Wege werden wir uns nicht beirren oder behindern lassen. ({10})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Frau Kollegin Aigner meint, ich solle Ihnen sagen, dass es im Moment 2:0 für Italien stehe, weil Holland zwei Elfmeter verschossen hat. Das ist aber noch nicht der Endstand. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Gerhard Schüßler.

Gerhard Schüßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003232, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Sportvereine in Deutschland leisten einen großen Beitrag für das Gemeinwohl und ihre Leistungen entlasten kommunale und private Träger in ganz erheblichem Maße. Die Sportvereine erbringen eine nicht zu unterschätzende gesellschaftspolitische Leistung, die unsere allerhöchste Anerkennung verdient. Sie leisten einen ganz wesentlichen Teil von Kinder- und Jugendarbeit, von Gesundheitsvorsorge und der Entwicklung von Gemeinsinn. Ihre von ihnen geleistete Aufgaben sind so vielfältig, dass sie allein aus Zeitgründen an dieser Stelle nicht alle genannt werden können. Diese großen Leistungen werden von Tausenden von ehrenamtlich tätigen Wilhelm Schmidt ({0}) Helferinnen und Helfern erbracht, die ebenfalls unsere höchste Anerkennung verdienen. ({1}) Der Stellenwert ehrenamtlicher Tätigkeit kann in der Gesellschaft nicht hoch genug bewertet werden. Wir erleben ja, dass allein die Einrichtung der Enquete-Kommission ein unheimlich großes Echo hervorgerufen hat. Die Zielsetzung des uns heute vorliegenden Antrags ist in vollem Umfang zu unterstützen. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion wird ihm zustimmen. Etwa 12 Millionen Bürgerinnen und Bürger üben an irgendeiner Stelle eine ehrenamtliche Tätigkeit aus. Oftmals fehlt die Anerkennung. Zum Beispiel ist es selbstverständlich, dass es eine freiwillige Feuerwehr gibt. Die Aufgaben der Sportvereine sind in den vergangenen Jahren immer vielfältiger und größer geworden. Aber jedermann weiß auch, dass sich die finanziellen Rahmenbedingungen parallel zur Aufgabenmehrung wesentlich verschlechtert haben. Die von der rot-grünen Koalition beschlossenen Gesetze zur Ökosteuer, zu den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen und zur Scheinselbstständigkeit haben bei den Vereinen zu großen und enormen Schwierigkeiten und finanziellen Belastungen geführt. Diese können die gemeinnützigen Sportvereine nicht tragen. Darum fordern wir die Bundesregierung und die rot-grüne Koalition auch an dieser Stelle auf, die genannten unsinnigen Gesetze aufzuheben. Sie haben großen Schaden angerichtet und Sie, meine Damen und Herren, die Sie dies beschlossen haben, haben es auch zu verantworten. Setzen Sie endlich ein positives Signal und nehmen Sie diese unmöglichen Gesetze zurück! Dann hätten wir die heutige Debatte an dieser Stelle wahrscheinlich nicht. ({2}) Der uns vorliegende Gesetzentwurf der CDU/CSUFraktion zielt sehr konkret auf die Vereinfachung der Besteuerung der ehrenamtlich Tätigen. Eine Verbesserung der steuerlichen Rahmenbedingungen kann die katastrophalen Auswirkungen der Neuregelungen, zum Beispiel der 630-Mark-Jobs, zumindest zum Teil auffangen. Ich halte die Ablehnung, wie Herr Schmidt sie geäußert hat, schlicht und einfach für widersinnig. ({3}) Der Bundeskanzler - Sie haben es ja gesagt - fährt zum Deutschen Feuerwehrtag und hält dort eine wohlfeile Rede. ({4}) - Ja, eine wohlfeile Rede, das kann er sehr gut, das räume ich ein. - Dann beschäftigt er sich mit den entstandenen Problemen der Sozialversicherungspflicht für Aufwandsentschädigungen für ehrenamtlich Tätige ({5}) und verspricht Abhilfe, allerdings nicht ohne den sanften Hinweis, dass die Bäume natürlich nicht in den Himmel wachsen können. ({6}) Ich habe erwartet, dass der Bundeskanzler in dieser Diskussion, die wir ja - auch in der Enquete-Kommission - streitig miteinander geführt haben, so handeln würde. Das ist das bekannte Spiel: Es werden Entlastungen angekündigt. An anderer Stelle wird den Bürgern das Geld wieder aus der Tasche gezogen. Meine Damen und Herren, das ist die Wahrheit. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion stimmt dem Gesetzentwurf der CDU/CSU-Fraktion zu. Ich hoffe, dass wir im Rahmen der Enquete-Kommission, die aus ihrer Arbeit ja auch Schlussfolgerungen ziehen muss, zu anderen Ergebnissen kommen, als sie dem jetzigen Istzustand entsprechen. Danke schön. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfried Hermann. Der weiß vielleicht auch das endgültige Ergebnis. Hier ging es zu wie bei der stillen Post: zwischen 3:1 und 4:2.

Winfried Hermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003147, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sie von den Bildschirmen zurückgekommen sind, ich muss sagen, es ist eine der härtesten parlamentarischen Disziplinen, wenn man das Elfmeterschießen im Halbfinale verpassen muss, weil man hier über Vereinsbesteuerung reden muss. Insofern bedaure ich, dass ich zum Ergebnis nichts sagen kann. ({0}) Nun komme ich zum Gesetzentwurf der CDU/CSUFraktion zur Vereinsbesteuerung. Es wäre ehrenwert, wenn man einen Vorschlag hinsichtlich des Ehrenamtes machen würde. Es wäre ehrenwert, wenn man einen Gesetzentwurf einbringen würde, in dem zum Ausdruck kommt, dass man sich insgesamt Gedanken gemacht hat, wie man Vereine und Vereinsbildung fördern, aber auch die Besteuerung erleichtern könnte. Was Sie hier aber eingebracht haben - Kollege Riegert, das muss ich Ihnen ganz persönlich sagen -, sind nicht mehr und nicht weniger als vier Lobbyforderungen einer bestimmten Gruppe, die Sie jahrzehntelang, als Sie in der Regierung waren, hartnäckig abgelehnt haben. Deswegen ist es ziemlich unglaubwürdig oder jedenfalls nicht sehr überzeugend, wenn Sie jetzt, da Sie in der Opposition sind, so tun, als käme das Geld aus der Steckdose. ({1}) Sie stellen als Opposition einfach Forderungen auf, ohne sie abzuwägen und ohne zu prüfen, was deren Verwirklichung kosten würde. Ein zweiter Punkt. Ich finde, Sie verwischen ständig und leider Gottes zu oft das Ehrenamt und nebenberufliche Beschäftigungen. Sie übersehen, dass es auch in Vereinen viele Geschäfte gibt. Das Ehrenamt kann man nicht besteuern und man wird es auch nicht besteuern. Dann braucht man insofern auch keine Steuererleichterungen. Sie aber suggerieren, dass es um das Ehrenamt geht. Objektiv geht es aber darum, dass Menschen nebenberuflich zusätzlich Geld verdienen, dafür entlohnt werden und auch Steuern zahlen müssen. Die Frage ist: Was macht man da und wie geht man damit um? Ich will aber auf Ihre Forderungen durchaus im Einzelnen eingehen und sagen, aus welchen Gründen wir sie ablehnen. Erstens: Ihre Rücklageforderung. Heute haben Vereine schon die Möglichkeit, Rücklagen zu bilden - wie ich finde, in ausreichendem Maße. Vereine sind nicht gemeinnützig und haben nicht die Funktion, vor allen Dingen Kapital und Vermögen anzusammeln. Es ist nicht das oberste Ziel des Vereins, ein Vereinsheim zu bauen. Vielmehr sind die menschlichen Aktivitäten, auch sportive Aktivitäten, zu fördern. Das Vereinsheim kann gebaut werden oder auch nicht. Das ist aber nicht das primäre Ziel des Vereins. Zweiter Punkt. Sie wollen die Besteuerungsgrenze und die Pauschalierungsgrenze von 60 000 auf 120 000 DM erhöhen. Das ist aus der Sichtweise des Vereins, wenn er unversteuert Geld machen will, durchaus vernünftig. Aber wenn Sie das einmal im Marktgeschehen betrachten - dem kann man sich nicht vollständig verschließen -, dann sehen Sie, dass die Kneipen, die die Vereine betreiben, natürlich in Konkurrenz zur Gastronomie stehen. Ich sage Ihnen: Sobald Sie in der Situation wären, in der Regierung zu sein, würde Ihr Vorschlag sofort einkassiert, weil natürlich auch die anderen ihre Interessen vertreten hätten. Dann hätten Sie ein schwieriges Abwägungsproblem gehabt. Wir haben uns in dieser Abwägungsfrage klar dafür entschieden zu sagen: Es gibt eine gewisse Freistellung, aber auch nicht mehr und nicht weniger; das reicht und man kann da nicht überziehen. Sie würden mit Ihrer Forderung meines Erachtens den Wettbewerb in diesem Bereich völlig durcheinander bringen. Das lässt sich meines Erachtens gegenüber der Gastronomie nicht rechtfertigen. Dritter Punkt: Übungsleiterpauschale. Sie schlagen die Verdoppelung der Pauschale vor. Wir haben ja das System geändert. Wir haben das steuerfreie Einkommen für Tätigkeiten in diesem Bereich geschaffen. 3 600 DM sind eine ordentliche Erhöhung. Eine solche Erhöhung haben Sie jahrelang nicht hinbekommen. ({2}) Herr Riegert, da Sie wie ich auch viel an Diskussionen in Vereinen teilnehmen, haben Sie wahrscheinlich gemerkt, dass es in den Vereinen inzwischen still geworden ist. ({3}) Mit dieser Erhöhung haben wir wirklich in erheblicher Weise die Bedingungen für die nebenberuflich Beschäftigten verbessert. Wir haben den Kreis erweitert. Auch Kollege Schmidt hat darauf hingewiesen. Ich will Ihnen nur sagen: Sie von der CDU/CSU haben nichts Besseres zu tun gehabt, als in Ihren Kreisen Briefe zu verbreiten, dass der Abgeordnete Hermann Unsinn erzähle, weil er gesagt habe, das gelte nicht nur für Übungsleiter. ({4}) Es gilt tatsächlich nicht nur für Übungsleiter, sondern auch für das Betreuungspersonal. Das hätten Sie berücksichtigen sollen, anstatt herumzugehen und etwas Gegenteiliges zu behaupten. Es ist möglich, dass Frauen und Männer, die Jugendmannschaften betreuen und keinen Übungsleiterschein haben, auch von dieser Regelung profitieren. Das haben Sie ignoriert bzw. haben auch noch so getan, als wäre das nicht wahr. ({5}) Jetzt möchte ich Ihnen gerne sagen, was wir noch vorhaben und was man, wie ich finde, noch in Angriff nehmen muss - da können Sie auch durchaus mitarbeiten. Natürlich muss man sich Gedanken machen, wie etwa im Bereich der Feuerwehr eine Regelung zu finden ist; denn die Feuerwehr wird in der bisherigen Regelung nicht berücksichtigt. Gar keine Frage, das ist unbefriedigend, da muss man etwas machen. Gott sei Dank hat auch Kanzler Schröder deutlich gemacht, dass er da schnell etwas machen will. Nächster Punkt: Steuer- und Stiftungsrecht. Nicht einmal die Vereinsfunktionäre kennen es bisher richtig. Wir sollten ihnen behilflich sein, die Möglichkeiten dieses Rechts zu nutzen; sie sind überhaupt noch nicht ausgeschöpft. ({6}) Schließlich nenne ich noch die Enquete-Kommission. Wir haben die Enquete-Kommission eingerichtet, um auch grundsätzlich darüber nachzudenken, wie man in einer Gesellschaft, in der vieles professionalisiert ist, in der vieles käuflich ist und in der vieles verkauft wird, in der es aber auch viel soziales, ehrenamtliches und bürgerschaftliches Engagement gibt, die Bedingungen so gestalten kann, dass das Engagement weiterentwickelt wird und nicht unter bestimmten Bedingungen kaputt geht. Darüber gilt es weiter nachzudenken und nicht nur über Einzelforderungen. Da muss man sich Gedanken über sozialpolitische und arbeitsrechtliche Gesichtspunkte machen und ein vernünftiges Gesamtkonzept entwickeln. Das verspreche ich mir von der Enquete-Kommission. Ich danke Ihnen. ({7})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Grehn.

Dr. Klaus Grehn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003135, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mit einigen Zitaten beginnen, von denen hier auch schon die Rede war. Aber lassen Sie mich noch einmal den Originalton vortragen. Vor fünf Tagen sagte der Bundeskanzler in Augsburg: Wer aber vorbildliche ehrenamtliche Arbeit leistet, der hat auch verdient, dass die Gesellschaft das würdigt und anerkennt. Recht hat der Mann. Zweites Zitat: Ich räume gerne ein, dass insbesondere bei geringen Aufwandsentschädigungen für ehrenamtliche Tätigkeiten das geltende Steuer- und Sozialrecht und die Auslegungspraxis der Sozialversicherungsträger zu Ungereimtheiten führen. Recht hat der Mann. ({0}) Ein drittes Zitat: Aber für die große Masse der ehrenamtlich Tätigen, die Aufwandsentschädigungen erhalten, will ich eine Verbesserung der augenblicklichen Situation. Für sie werden wir eindeutig klarstellen, dass Aufwandsentschädigungen bis zu einer bestimmten Höhe künftig steuer- und versicherungsfrei sein werden. Nun haben wir hier einen Vorschlag auf dem Tisch liegen. Herr Kollege Schmidt, Sie tun so, als wenn es um das goldene Zeitalter in den Vereinen, als wenn es um Verbesserungen ginge. Es geht um einen Ausgleich für Entwicklungen, die zu einer erheblichen Verschlechterung der Situation in den Vereinen geführt haben. Es geht nicht um Lobbyforderungen. ({1}) Man muss - das muss man einfach sagen - diesen Vorschlag aus der Sicht der betroffenen Verbände und nicht aus der Sicht der Parteienpolitik sehen. ({2}) Aus Sicht der Verbände ist dieser Vorschlag - so gering er sein mag - ein Fortschritt. Herr Henkel würde sagen: Das sind Peanuts. Aber Vereine sind im Gegensatz zu anderen auch mit Peanuts zufrieden. Insofern verstehe ich überhaupt nicht, dass Sie die Verbesserungen wiederum auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben wollen und ihrem Kanzler nicht zur Seite springen wollen. Es gibt keinen Grund, Ihrem Kanzler und Parteivorsitzenden nicht zu folgen. Helfen Sie ihm und unterstützen Sie ihn! Lassen Sie ihn in diesem Fall nicht allein im Regen und auch nicht gegenüber der Opposition stehen! Sie haben in diesem Fall die Möglichkeit dazu. Angesichts der realen Lage und angesichts der Verschlechterungen, die die Vereine durch vielfältige Entwicklungen - diese will ich nicht alle aufzählen; das lässt die Zeit auch nicht zu - zu erdulden haben, halten wir Verbesserungen für dringend geboten, wenn das Vereinsleben und die ehrenamtliche Tätigkeit in Quantität und Qualität nicht noch weiter als bisher absinken sollen. Eine letzte Bemerkung: Die Kollegen der CDU/CSUFraktion waren bescheiden - zu bescheiden: Sie haben sich mit ihren Vorschlägen zur Rückstellung und zu den Steuerfreibeträgen auf die Sportvereine konzentriert. Dazu sehe ich überhaupt keinen Anlass. Es gibt im sozialen, im kulturellen und im Jugendbereich Vereine, die es in mindestens genauso starkem Maße verdient haben, dass sie wie die anderen an diesen Entwicklungen partizipieren. Deswegen sollten wir den Gesetzentwurf erweitern. ({3})

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002391

Damit schließe ich die Aussprache zu diesem Punkt. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Gesetzentwurf zur Verbesserung der Vereinsförderung und der Vereinfachung der Besteuerung der ehrenamtlich Tätigen, Drucksache 14/1145. Der Finanzausschuss empfiehlt auf Drucksache 14/3412, den Gesetzentwurf abzulehnen. ({0}) Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Gegenstimmen! - Enthal- tungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim- men der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS abgelehnt worden. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei- tere Beratung. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b sowie die Zusatzpunkte 10 und 11 auf: 15. a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Den sozialen Wohnungsbau erhalten und reformieren - Drucksache 14/3664 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuss b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Dirk Fischer ({2}), Eduard Oswald, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wohnungsbindungsgesetzes und des Altschuldenhilfe-Gesetzes - Drucksache 14/2763 ({3}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ({4}) - Drucksache 14/3578 Berichterstattung: Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Dirk Fischer ({5}), Eduard Oswald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Soziale Wohnraumförderung - Reform im Einklang mit einer kohärenten Wohnungsund Städtebaupolitik - Drucksache 14/3668 ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich ({6}), Hans-Michael Goldmann, Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der F.D.P. Wohngeld erhöhen, Bürokratie abbauen, Länderkompetenzen stärken: Reformchancen beim sozialen Wohnungsbau konsequent nutzen - Drucksache 14/3676 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir auch so. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Wolfgang Spanier.

Wolfgang Spanier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002803, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu später Stunde diskutieren wir über soziale Wohnungspolitik. Es gibt viele Stimmen in unserem Land, die sagen: Der Wohnungsmarkt ist gesättigt. Wir haben eine Mietenentwicklung, die nur sehr maßvolle Steigerungen erkennen lässt. ({0}) Der Wohnungsmarkt ist in Ordnung. - Bei genauerem Hinsehen ergibt sich ein sehr viel differenzierteres Bild. ({1}) Wir werden in den kommenden Jahren einen zusätzlichen Bedarf haben; nicht weil die Bevölkerung wächst, sondern weil die Zahl der Haushalte wachsen wird. Wir werden auch einen zunehmenden Bedarf im unteren Preissegment haben. Hier zeichnet sich bereits seit längerem - nicht nur in den Ballungszentren - ab, dass die Zahl der preiswerten Wohnungen nicht ausreicht und dass zunehmend Gruppen in der Bevölkerung Schwierigkeiten haben, eine angemessene und bezahlbare Wohnung zu finden. ({2}) Wir haben auch andere Probleme auf dem Wohnungsmarkt. Ich will nur die Situation der leer stehenden Wohnungen in den neuen Bundesländern nennen. Sie wird uns in den kommenden Jahren vor gewaltige Herausforderungen stellen. Ich nenne auch die Situation, die der GdW in zwei Untersuchungen herausgearbeitet hat und die er die „überforderten Nachbarschaften“ nennt. Armutsforscher haben einen sehr viel drastischeren Begriff geprägt. Sie sprechen von „Armutsgettos“. Es gibt nicht nur in den großen Städten, sondern auch zunehmend in mittelgroßen Städten Wohnquartiere, die absacken. Dort ballen sich geradezu die sozialen Probleme und Konflikte unserer Gesellschaft. Auch dies ist eine Herausforderung für die soziale Wohnungspolitik der kommenden Jahre. ({3}) Wichtig ist dabei - das möchte ich ganz am Anfang herausstellen -: Der soziale Wohnungsbau ist und bleibt eine Gemeinschaftsaufgabe von Kommunen, Ländern und Bund. ({4}) Das unterstreichen wir in dem ersten Ziel unseres Antrages, wo noch einmal ausdrücklich auf die Mitfinanzierung des sozialen Wohnungsbaus durch den Bund verwiesen wird. Daran wollen wir festhalten. ({5}) Das unterscheidet uns natürlich von den Freien Demokraten, die im Unterschied zu ihrer Haltung noch in der letzten Legislaturperiode jetzt - so wie Kai aus der Kiste - mit dem Vorschlag kommen: Ausstieg des Bundes aus dem sozialen Wohnungsbau und Verwendung der Mittel zur Aufstockung des Wohngelds. ({6}) Meine Damen und Herren von den Freien Demokraten, vielleicht haben Sie noch nicht ganz mitbekommen, dass Ihr Generalsekretär Herr Westerwelle neuerdings die soziale Fahne schwingt. ({7}) Bei einem ganz wichtigen wohnungspolitischen Instrument bedeutet das den Ausstieg aus einer sozialpolitisch verantwortbaren Wohnungspolitik. ({8}) Ein wenig anders - ich muss ehrlich sagen, gehörig anders - sieht es beim Antrag der CDU/CSU aus. ({9}) Zum Thema Wohnungsbindungsgesetz möchte ich nur eine Anmerkung machen. Wir sind ja noch einmal durch die entsprechende Abstimmung im zuständigen Bundesratsausschuss darin bestätigt worden, dass es klug ist, die Einzelmaßnahme der mittelbaren Belegung, die wir durchaus akzeptieren und für richtig halten, zurückzustellen und dann im Rahmen einer Gesamtreform des sozialen Wohnungsbaus zu berücksichtigen. Auf die Vorwürfe, die Sie um Ihren eigenen Antrag herum garnieren, will ich nicht näher eingehen. Wissen Sie, mich erinnert das Ganze ein wenig an Folgendes: Wenn man in einem Gasthaus ein Schnitzel bestellt, gibt es dazu die berühmt-berüchtigte Salatbeilage, oft etwas angegammelt und ein bisschen verwelkt. Ähnlich wie Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer beim Schnitzel sollte man sie zur Seite schieben. Es lohnt sich nicht, ihr allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Sie wissen genau, woran Ihre Wohnbaureform gescheitert ist. Sie haben es eben nicht fertig gebracht - so wie Sie es in Ihrem Gesetzentwurf damals vorhatten -, gleichzeitig das Wohngeld deutlich zu verbessern. Nun haben wir diese Voraussetzung geschaffen, selbstverständlich auch mit Unterstützung der CDU im Bundesrat. Nun lassen Sie uns gemeinsam ans Werk gehen! Deswegen will ich mich jetzt nicht auf die Salatbeilage, sondern aufs Schnitzel konzentrieren. ({10}) Siehe da, meine Damen und Herren von der Union und besonders Herr Dr. Kansy, wir stimmen in den Zielen weitestgehend überein. Das war übrigens beim Wohngeld ähnlich. Deswegen sage ich Ihnen in aller Ruhe und Gelassenheit: Am Ende wird ebenso wie beim Wohngeld das herauskommen, was wir gemeinsam wollen. Es gehört ein bisschen oppositionelles Tamtam dazu. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir im nächsten Jahr tatsächlich die Reform des sozialen Wohnungsbaus schaffen werden, und zwar mit folgenden wesentlichen Zielen - das ist entscheidend -: Die Zielgruppe wird verändert, das heißt, wir wollen denjenigen Menschen, die auf dem Wohnungsmarkt Zugangsschwierigkeiten haben, die Schwierigkeiten haben, eine preiswerte Wohnung zu bekommen, helfen. Wir wollen uns nicht mehr auf den Neubau konzentrieren. Vielmehr soll gleichberechtigt neben der Neubauförderung die Förderung im Bestand stehen. Das ist ein wesentlicher Fortschritt. Wir wollen die starren Regelungen hinsichtlich der Förderwege und der Einkommensgrenzen sowie der Belegungsregelungen lockern und flexibilisieren - ein Wort, das Ihnen gefallen müsste. ({11}) Weiterhin sollen die Entscheidungsspielräume vor allem der Kommunen und Länder gestärkt werden. Das bedeutet ein Stück Dezentralisierung. Wir wissen alle - viele von uns kommen aus der Kommunalpolitik -, dass man vor Ort am ehesten weiß, was Not tut. ({12}) Damit ist ein wesentlicher Punkt erreicht. Zum ersten Mal werden - in dieser Hinsicht stimmen wir überein tatsächlich Wohnraumförderung und Städtebauförderung verzahnt. Wenn man sich die Sache genauer anschaut, dann zieht sich wie ein roter Faden - Entschuldigung, wie ein rot-grüner Faden - sowohl bei den europäischen Förderprogrammen als auch bei dem Programm „Die soziale Stadt“, der Städtebauförderung und der sozialen Wohnraumförderung ein Grundgedanke hindurch: Wir müssen wegkommen vom Kästchen- und Ressortdenken und brauchen integrative Ansätze. ({13}) Es ist ein entscheidender Fortschritt, wenn man genau in den Wohnquartieren, die ich eben angesprochen habe, die Möglichkeit schafft, ein Stück weit sozialen Frieden zu sichern und wieder herzustellen. Wohnen hat in unserer Gesellschaft nach wie vor einen hohen Stellenwert. Wir haben in den vergangenen Jahren sicherlich sehr viel für die Eigenheimförderung getan. Dazu stehen wir selbstverständlich. Wir haben aber auch eine soziale Verpflichtung, an die Wohnraumversorgung der Menschen zu denken und denjenigen zu helfen, die sich im unteren Drittel der Einkommensskala bewegen. Das ist nach wie vor eine wichtige und notwendige Aufgabe, gerade weil sich, lieber Herr Dr. Kansy, in diesen Wohnquartieren die sozialen Konflikte unserer Gesellschaft konzentrieren. Deshalb ist es wichtig, dass wir alle Instrumente, die wohnungspolitisch notwendig sind, in dieser Legislaturperiode reformieren. Geschafft haben wir das beim Wohngeld und das war sicherlich ein deutlicher Fortschritt. ({14}) Geschafft haben wir es auch beim Programm „Die soziale Stadt“. Man kann verstehen, dass bei Ihnen ein bisschen Mäkelei kommt. Wir haben uns auch, allerdings allzu lange, in der Oppositionsrolle befunden. In dieser Situation sucht man manchmal etwas krampfhaft, was man kritisieren könnte, weil sozusagen zum Rollenverständnis gehört, dass die Opposition immer etwas zu kritisieren hat. Herr Goldmann, auch wir haben da ein Stück Erfahrung und Sie sammeln sie jetzt. Da wünsche ich Ihnen weiterhin viel Vergnügen. ({15}) Wir machen jetzt den nächsten Schritt bei der Reform des sozialen Wohnungsbaus und der Weiterentwicklung zur sozialen Wohnraumförderung. Ich denke, Herr Kansy und meine Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, wir werden diesen Weg gemeinsam gehen. Wir werden noch in dieser Legislaturperiode das soziale Mietrecht - ein weiterer wichtiger Baustein - reformieren. Dann sind wir insgesamt, was die sozial verpflichtete Wohnungspolitik in diesem Lande betrifft, einen deutlichen Schritt vorangekommen. ({16}) Das kann sich nach meiner Meinung sehen lassen. Ich kann verstehen, dass Ihnen das alles nicht schnell genug geht und Sie immer wieder drängeln und drängen. Sie wissen: Wir machen gute Dinge und da haben Sie auch ein gutes Recht, uns zu drängeln und die möglichst schnelle Verwirklichung unserer Vorhaben einzufordern. Es ist aber wichtig und richtig, dass wir nicht nur im Fachausschuss und nicht nur in diesem Parlament über diese gesellschaftspolitische Aufgabe diskutieren. Ich glaube, wir brauchen eine breite gesellschaftspolitische Debatte über die Zukunft unserer Städte. Das ist nicht eine Diskussion unter Architekten, sondern eine Diskussion mit dem integrativen Ansatz, dass es eben nicht nur um Bauten geht, sondern dass es gleichzeitig auch um Arbeitsplätze, um die soziale Ausstattung der Menschen und letztlich um den sozialen Frieden in unseren Städten geht. ({17}) Diese gesellschaftspolitische Debatte sollten wir führen, hoffentlich dann mit etwas größerer Beteiligung als heute Abend. Das, denke ich, ist notwendig. ({18}) - Ich sehe Sie zum Beispiel. Ich bin ja schon mal beruhigt, dass Sie und auch Herr Dr. Meister anwesend sind. So schlecht ist die Besetzung heute Abend nicht. ({19}) - Nein, ich wollte Ihnen eine Freude machen, weil Sie es angesprochen haben, Herr Dr. Kansy. Ich halte das für sehr wichtig, weil wir - damit will ich schließen - den Grundsatz der Nachhaltigkeit, den wir sonst immer wieder in eher akademischer Diskussion beschwören, wirklich ein Stück voran bringen können, sowohl was die ökologische Dimension - Stichwort zum Beispiel Konzentration auf den Bestand - als auch was die soziale Dimension und natürlich auch die ökonomische Dimension betrifft. Deswegen hoffe ich übrigens auch, dass sich unsere Wirtschaftspolitiker an dieser gesellschaftspolitischen Diskussion über die Zukunft unserer Städte beteiligen werden. Herzlichen Dank. ({20})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die CDU/CSUFraktion spricht der Kollege Dr. Michael Meister.

Dr. Michael Meister (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002733, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heute noch gültigen gesetzlichen Regelungen im sozialen Wohnungsbau sind im Prinzip kurz nach Gründung der Republik in Kraft gesetzt worden und im Wesentlichen auch durch die Zeit nach dem Krieg geprägt. Das heißt, es gab damals akute Wohnungsnot, es gab dringenden Bedarf nach preisgünstigem Wohnraum. Heute, gut 50 Jahre später, steht natürlich die Frage einer Reform des sozialen Wohnungsbaus an. Alle in Bund, Ländern und Kommunen, sind sich natürlich darüber einig, Herr Spanier, dass sie dringend notwendig ist und dass das derzeit gültige Recht, das noch von den Ideen der Zeit von vor 50 Jahren geprägt war, den heutigen Ansprüchen nicht mehr genügt. Wir wissen - Sie haben es zu Recht angesprochen von Versorgungsengpässen einkommensschwacher Haushalte, leider nicht nur in den Ballungsräumen, sondern insgesamt in der Republik. Wir denken an kinderreiche Familien und Alleinerziehende, die nach wie vor Zugangsprobleme im Wohnungsmarkt haben. Auf der anderen Seite haben wir eine Förderung des sozialen Wohnungsbaus, die sich nach wie vor vom Mietmarkt abschottet. Ich nenne als Stichwort das Kostenmietprinzip, das eine Hürde zwischen dem frei finanzierten und dem sozialen Wohnungsbau errichtet. Wir haben Fehlbelegungen, wir haben Fehlsubventionierungen. Alles das zeigt, dass hier eine Fehlsteuerung stattfindet. Die gesetzlichen Regelungen folgen nicht der Lebensentwicklung und der Lebenssituation der Menschen. Wir diskutieren als Fehlentwicklung auch Gettobildung, weil sich einige Strukturen bilden, die von einseitigen sozialen Zusammenfügungen geprägt sind und damit weit über den Wohnungssektor hinaus zu sozialem Sprengstoff führen. Das haben wir bereits vor über vier Jahren erkannt und haben dazu einen Gesetzentwurf vorgelegt, der im Prinzip vier Punkte umfasste: Zum einen wollten wir eine Konzentration der Fördermaßnahmen auf die Haushalte, die tatsächlich bedürftig sind. Ich habe vorhin speziell Haushalte mit Kindern und Haushalte mit wenig Einkommen genannt. Wir haben überlegt, als zweiten Punkt die Frage der Kostensenkung mit einzuführen und als dritten Punkt die eben schon angesprochene Marktspaltung zwischen frei finanziertem und sozialem Wohnungsbau zu überwinden. Als Viertes wollten wir insbesondere einkommensorientierte Förderinstrumente. ({0}) Außerdem wollten wir innovatives Bauen. - Frau Mertens, regen Sie sich doch nicht auf, das kommt alles noch zur rechten Zeit. Ich wollte nur einmal darauf hinweisen, dass uns dies vor vier Jahren schon bewusst war und wir damals die Reformnotwendigkeiten erkannt hatten. Was ist dann passiert? Die SPD-regierten Länder haben im Bundesrat diese Reform abgelehnt. Sie haben sie blockiert. ({1}) Jetzt, Frau Mertens, ist das Stichwort Wohngeld angebracht. Sie haben das Wohngeld - auch wir waren der Meinung, dass hierzu eine Novelle notwendig war - im Prinzip als Vorwand genutzt, um die Reform des sozialen Wohnungsbaus zu blockieren. ({2}) - Frau Mertens, die Lösung der Strukturprobleme, die dringend anstand, haben Sie blockiert. Wenn wir beim Wohngeld wenigstens eine kleine Reform durchgeführt hätten, dann hätten wir zumindest eine Strukturreform erreicht und dann hätten wir auch in den zurückliegenden drei bis vier Jahren beim Wohngeld etwas tun können. ({3}) Jetzt hatten Sie selber zwei Jahre Zeit, eine Strukturreform durchzuführen. Herr Spanier hat zu Recht die Probleme skizziert. Ich warte allerdings auf die Antworten. Es reicht nicht, die Probleme darzulegen, wenn man in der Regierungsverantwortung ist. Man muss auch Antworten formulieren. Davon war in Ihrer Rede herzlich wenig zu hören, Herr Spanier. Sie führen offenbar in Ihrer Fraktion ein Nischendasein; denn Sie können sich gegen diejenigen, die bei Ihnen für die Haushalts- und Fiskalpolitik verantwortlich sind, nicht durchsetzen. Es wird viel angekündigt, aber im Prinzip passiert nichts. Wenn Sie jetzt zu unserem Antrag zum Wohnungsbindungsgesetz sagen, das wäre Tamtam der Opposition, aber gleichzeitig zugeben, dass seine Inhalte eigentlich zutreffend seien, dann antworte ich darauf: Diejenigen, die einen Antrag, der inhaltlich und sachlich zutreffend ist, ablehnen, machen Tamtam, nicht diejenigen, die einen solchen Antrag vorgelegt haben. ({4}) Herr Spanier, Sie haben eben von dem Faden der rotgrünen Wohnungspolitik gesprochen. Wenn ich einen Faden erkennen kann, dann ist es der, dass Sie alle Etattitel, die angeblich wichtig für Ihre Wohnungspolitik sind - Sie haben das Städtebauförderungsprogramm „Die soziale Stadt“ und den sozialen Wohnungsbau angesprochen -, kürzen und die Mittel für die entsprechenden Vorhaben reduzieren. So setzen Sie das um, was Sie für wichtig halten. ({5}) - Sie haben mit unserer Hilfe eine Verbesserung durchgeführt. Aber dies können Sie sich wirklich nicht zugute halten. Sie haben des Weiteren den Bestand erwähnt, von dem Sie immer behaupten, dass er wichtig sei. Wir sind uns natürlich einig: Hier müssen wir mehr tun. Aber was tun Sie mit Ihrer Politik? Ich nenne das Eigenheimzulagengesetz. Sie haben die Vorkostenpauschale gekürzt und damit Politik gegen den Bestand gemacht. ({6}) Ich nenne die steuerlichen Rahmenbedingungen für den frei finanzierten Mietwohnungsbau. Wenn ich mir anschaue, was Sie hier verändert haben, dann stelle ich fest: Sie haben Politik gegen den Bestand gemacht. Herr Spanier, Sie haben zu Recht das Mietrecht angesprochen. Auch wir sind der Meinung, dass es durchaus reformbedürftig ist, aber nicht in der Weise, wie Sie es vorhaben. Sie wollen nämlich durch Änderung des Mietrechts aus einer symmetrischen Gestaltung eine asymmetrische machen ({7}) und eine Unwucht hineinbringen, die dafür sorgen wird, dass gerade die Haushalte, die einkommensschwach sind und viele Kinder haben, benachteiligt sein werden, weil die Vermieter genau an dieser Stelle den Finger in die Wunde legen werden. Das heißt, Sie erweisen genau der Gruppe, für die Sie angeblich was tun wollen, einen Bärendienst. Sie haben die Probleme dargestellt und darauf hingewiesen, wie wichtig die Gemeinschaftsaufgabe, etwas für den sozialen Wohnungsbau zu tun, für Bund, Länder und Kommunen sei. Wenn wir in der Regierung wären und einen Haushaltsentwurf für das Jahr 2001, wie Sie es jetzt getan haben, vorgelegt hätten, in dem nur 450 Millionen DM für den sozialen Wohnungsbau vorgesehen wären, dann hätte ich nicht hören wollen, was Sie dazu gesagt hätten. Sie haben uns schon bei viel höheren Summen gegeißelt. Nun sagen Sie auf einmal, wie wichtig dieses Thema sei, und fahren zugleich die Ausgaben für den sozialen Wohnungsbau auf einen absoluten Tiefpunkt zurück. Wenn Sie ehrlich rechnen, dann verdienen Sie in diesem Bereich sogar noch Geld; denn mittlerweile sind die Rückflüsse aus den Vorjahren höher als das, was Sie für den sozialen Wohnungsbau ausgeben. Das nennen Sie Politik für den sozialen Wohnungsbau? ({8}) Herr Spanier, was hat Ihr Reden mit Ihrem Handeln zu tun? Wo decken sich die Taten mit dem, was Sie hier als richtige Politik verkünden? Setzen Sie doch bitte das um, was Sie hier vortragen! Wenn Sie das täten, dann wären wir schon zufrieden. ({9}) Herr Spanier hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es momentan einen ausgeglichenen Wohnungsmarkt gibt, der nur in wenigen Bereichen Probleme aufweist. Ich glaube, Sie ruhen sich auf Erfolgen aus, die in der Zeit vor 1998 durch die Rahmenbedingungen eingeleitet worden sind, die damals gesetzt worden sind. Sie glauben jetzt, eine Wohnungspolitik machen zu können, mit der an allen Stellen - egal, ob im Bereich des Steuerrechts, des Mietrechts oder der Fiskalpolitik - die Stellschrauben auf negative Weise angezogen werden. ({10}) Das hat dazu geführt, dass bei den Bauinvestitionen und bei den Fertigstellungszahlen absolute Negativrekorde erreicht werden. Wenn Sie damit fortfahren, dann werden Sie das, was Sie gerade hinsichtlich der problematischen Klientel angesprochen haben, gewaltig verschlimmern. Wir würden uns dann plötzlich in einer Situation befinden, in der wir Gesetzgebung nicht vor dem Hintergrund eines entspannten Markts betreiben könnten; vielmehr müssten wir in einer Notsituation handeln. Davor warne ich. Noch ist Zeit umzukehren. ({11}) Sie haben sich für das Jahr 1999 gelobt. Sie haben gesagt, die Talsohle bei den Bauinvestitionen sei durchschritten. Wenn man sich die ersten vier, fünf Monate dieses Jahres anschaut, dann sieht man, dass es keine TrendDr. Michael Meister wende, sondern ein kleines Zwischenhoch war. Es geht weiter bergab. Sie sollten das langsam erkennen und gegensteuern. Unsere Fraktion bietet Ihnen an, im Interesse einer sinnvollen Wohnungspolitik konstruktiv und geschlossen zum Zwecke der Lösung der Probleme, die wir gemeinsam erkennen, miteinander zu arbeiten und zu versuchen, Lösungen zu finden. Ich fordere von Ihnen nur, dass Sie das, was Sie in Erklärungen und in Papieren immer wieder betonen, endlich umsetzen. Tun Sie nicht so, als wäre das nur Papier, während Ihr wahres Handeln das genaue Gegenteil davon ist! Wenn wir an dieser Stelle zusammenkommen könnten, dann hätten wir viel erreicht, Herr Spanier. Danke sehr. ({12})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht die Kollegin Franziska Eichstädt-Bohlig.

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kollege Meister, Ihre Rede hat mich ein bisschen irritiert. Nachdem Sie im ersten Teil darüber geklagt haben, dass der frühere soziale Wohnungsbau so ineffizient war und allzu hohe Kosten verursacht hat, müssten Sie eigentlich die Politik einer Koalition, die darauf ausgerichtet ist, mit gegebenen Mitteln konstruktiv und kreativ den sozialen Wohnungsbau zu reformieren, loben, indem Sie sagen: Endlich, jetzt geht’s ran. ({0}) Sie sollten es der PDS überlassen, immer nur mehr Geld zu fordern. Die kann das letztlich doch besser als Sie. Diese Angleichung zwischen PDS und CDU/CSU - letztlich gilt das auch für die F.D.P. - macht mir langsam Sorge. Es mangelt Ihnen einfach an Ideen. ({1}) Eine weitere Bemerkung zu Ihrem Beitrag. Sie haben gesagt: Es wird viel angekündigt; aber es passiert nichts. Tatsache ist, dass die Reform des sozialen Wohnungsbaus in Eckwerten von der Bundesregierung mit den Ländern meines Wissens gibt es auch Länder, die von der CDU bzw. der CSU geführt werden - praktisch abgestimmt worden ist. Ein Eckwertepapier ist vorgelegt worden, dessen Inhalt in einen Gesetzentwurf einfließen wird. Wir, die Koalitionsfraktionen, wollen ein Stück weit Druck machen, damit die Ausarbeitung vorangeht. Wir sind sicher, dass das Vorhaben bis zum Herbst in trockenen Tüchern ist und dass uns die Regierung den Gesetzentwurf konkret, Paragraph für Paragraph, vorlegen wird. Man sollte anerkennen, dass das kein ganz einfaches Gesetzeswerk ist. In Richtung der F.D.P.: Es fällt schon auf, dass Sie den sozialen Wohnungsbau so einfach abschaffen wollen. Sie meinen, man könnte die frei werdenden Mittel dem Wohngeld zukommen lassen. Irgendwie habe ich den Eindruck, Sie haben gar nicht gemerkt, dass wir gerade eine Wohngeldreform durchgeführt haben, die sich weiß Gott sehen lassen kann. In Westdeutschland liegt die Wohngelderhöhung pro Haushalt bei durchschnittlich 80 DM pro Monat. Für Ostdeutschland haben wir das jetzige Niveau sichergestellt. Das ist eine großartige Leistung in Zeiten, in denen die Politik sparen muss. Ich interpretiere Ihren Antrag so, dass Sie sagen: Das reicht uns nicht! Schafft den sozialen Wohnungsbau ab! Leitet die frei werdenden Mittel dem Wohngeld zu und bedenkt damit gleichzeitig wieder die Eigenheimförderung von Haushalten mit Jahreseinkommen von 240 000 DM! Ich weiß überhaupt nicht, was eigentlich Ihre Zielgruppe ist und wem Sie das Geld geben wollen. Mir ist nicht klar, ob Sie es nicht vielleicht zweimal ausgeben wollen. ({2}) Das Argument, wir brauchten keinen sozialen Wohnungsbau, wird von mehreren Seiten immer wieder vorgebracht. Daher müssen wir ernsthaft noch einmal sagen, warum wir den sozialen Wohnungsbau brauchen. Der Kollege Spanier hat es deutlich gesagt: Es geht nicht mehr wie früher darum, dass wir ständig mehr Wohnungen bauen. Das ist nur in einigen Regionen nötig, wo echter Wohnungsmangel herrscht. Ich denke an Regionen wie München, Stuttgart und Frankfurt. In anderen Regionen müssen wir den Schwerpunkt darauf setzen, in denjenigen Stadtteilen, in denen sich die sozialen Probleme durch die Entmischung zunehmend konzentrieren, stabilisierend einzuwirken. Wenn sich die Bundespolitik dieses Instruments begibt und von der Bundesebene aus nicht mehr in der Form handlungsfähig sein will, dass sie den Ausgleich in den verschiedenen Regionen schafft, dann hat sie sich aus der wohnungspolitischen Verantwortung verabschiedet. Wir wollen das nicht. Das haben wir mit unserem Antrag deutlich zum Ausdruck gebracht. Ich finde es sehr bedauerlich, dass die F.D.P. - Herr Westerwelle hat mit seiner Ankündigung von sozialer Wärme gerade etwas anderes versprochen - das auf einmal vergisst. Lassen Sie mich jetzt noch sagen, warum uns die Reform des sozialen Wohnungsbaus im Sinne einer sozialen Wohnraumversorgung, einer sozialen Wohnraumförderung so wichtig ist. Um von der bisherigen einseitigen Neubauorientierung zu einer Bestandsorientierung, zu einer Förderung von mehr Modernisierung, von mehr Belegrechtsankäufen bis hin zu Gebäudeankäufen zur mittelbaren Belegung zu kommen, brauchen wir ein neues und flexibles Förderrecht. Das Zweite ist: Wir wollen das bisherige schwerfällige Kostenmietrecht durch die vereinbarte Förderung ablösen. Das Dritte ist - das ist mir schon wichtig -: Wir haben in diesen Eckwerten die Möglichkeit zur vorrangigen Förderung von Unternehmen verankert, die auch ihren ungebundenen Bestand sozial bewirtschaften, das heißt von Unternehmen wie städtischen Gesellschaften, Genossenschaften, kirchlichen Wohnungsgesellschaften. Es gibt eine Reihe entsprechender Institutionen, die Sie seinerzeit in vollem Umfang rechtlich nach dem Motto „Alle sollen gleich sein, alle sollen so sein wie der freie Wohnungsmarkt“ behandelt haben, die aber sehr wohl soziale Lasten und soziale Verantwortung tragen. Wir wollen, dass das Rechtsinstrument auch Möglichkeiten hergibt, die Förderung ein Stück weit dort zu konzentrieren, wo soziales Engagement und effizientes betriebswirtschaftliches Handeln miteinander vereinbart werden. Von daher bitte ich alle Beteiligten, nicht in dem Sinne zu argumentieren, dass wir das überhaupt nicht brauchten, weil wir genug Wohnungen hätten, und der Wohnungsmarkt gesättigt sei, sondern zu erkennen, dass die Verknüpfung von stadtpolitischen Zielen mit dieser sozialen Wohnraumbewirtschaftung in Zukunft immer wichtiger wird. Wie wir schon an dem Programm „Die soziale Stadt“ gesehen haben, ist es eben nicht so, dass das nur für ein paar extreme Notfälle gebraucht wird, sondern dass der Reihe nach immer mehr Städte kommen und sagen, genau das sei das Programm, das sie brauchten. Die Verknüpfung von sozialer Wohnraumversorgung mit städtebaulichen Aspekten, mit Wohnumfeldverbesserungen, mit dem Programm „Die soziale Stadt“ wird also genau die Aufgabe der Zukunft sein, und in diesem Sinne werden wir das Programm anpacken. Vielleicht lernt auch die F.D.P. noch, dass für soziale Verantwortung ganz konkrete Instrumente gebraucht werden. ({3})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die F.D.P.-Fraktion spricht der Kollege Michael Goldmann.

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich meine, es ist sehr wichtig, dass wir zunächst einmal eine gewisse Gemeinsamkeit herstellen, gerade wenn wir von einem parlamentarischen Abend kommen, auf dem der Interessenverbund Bau deutlich gemacht hat, wie schwierig die Situation im Baugewerbe ist. ({0}) Herr Spanier, ich habe festgestellt, dass Sie bei Ihrer Rede eben viele gute Dinge im Sinn gehabt haben, muss aber sagen, dass Ihre Taten dem nicht ganz entsprechen. ({1}) Nach zwei Jahren rot-grüner Baupolitik haben Sie eine ziemlich traurige, eine trübe Bilanz aufzuweisen. ({2}) Wenn Sie sich zum Beispiel Ihr Altschuldenhilfe-Gesetz, das Sie hier gefeiert haben, vor Augen führen, dann müssen Sie mittlerweile feststellen, dass dieses Gesetz bei weitem nicht das abdeckt, was sich an Notwendigkeiten darstellt. Wenn Sie Ihre Überlegungen zum Mietrecht als soziales Mietrecht definieren - das führe ich gerade vor dem Hintergrund dessen an, was der Kollege Dr. Meister hier auch gesagt hat -, dann haben Sie aus meiner Sicht das, was Ihnen sozusagen als Gegenwind aus dem Justizministerium entgegenschlägt, im Grunde genommen substanziell nicht verstanden. ({3}) Sie sind nicht in der Lage, eine kluge Baupolitik zu betreiben, weil Ihnen der Finanzminister für die Investitionen, die dafür notwendig wären, noch nicht einmal anteilig etwas gibt. Vor diesem Hintergrund finde ich es wirklich schon dreist, wenn Sie die F.D.P. kritisieren, die meiner Meinung nach einen sehr vernünftigen Antrag in die Diskussion einbringt. ({4}) - Liebe Kollegin Gleicke, wenn ich Ihr Knurren richtig deute, ({5}) dann fällt es wohl auch Ihnen sehr schwer, die 450 Millionen DM, die eingeplant sind, noch als Erfolg zu verkaufen. Es war ja wohl Ihre Fraktion, die Beträge, die insgesamt weit über 1 Milliarde DM lagen, als nicht sachgerecht dargestellt hat. ({6}) Wenn Herr Spanier dann sagt, Sie machten einen Schritt in die richtige Richtung, dann kann ich nur entgegnen, dass Sie sozusagen einen radikalen Schnitt in die völlig falsche Richtung machen. Nicht wir steigen aus dem sozialen Wohnungsbau aus, sondern Sie sind, wenn man die Mittelansätze im Haushalt als Maßstab nimmt, schon lange ausgestiegen. Wir machen etwas ganz anderes; das ist richtig. Wir sorgen nämlich dafür - das wurde hier ja bereits angesprochen -, dass die Mittel, die bereitgestellt werden, gebündelt eingesetzt werden. Wir wollen nicht weniger Mittel für soziale Aufgabenstellungen ausgeben, um gefährdete Nachbarschaften in den Städten zu unterstützen, wir wollen nicht weniger Mittel dafür einsetzen, um die Integration in dieser Gesellschaft voranzutreiben, aber wir wollen, dass diese Mittel den Ländern zur Verfügung stehen, die ja schon jetzt viel mehr Geld als der Bund in diesem Bereich ausgeben. ({7}) Wenn Sie sich einmal die Bilanz von NRW anschauen, werden Sie feststellen, dass dieses Land weit über 2 Milliarden DM hierfür ausgibt. Wenn Sie die Bilanz von Hamburg betrachten, werden Sie feststellen, dass man dort große Beträge einsetzt, um die entsprechenden Aufgaben zu erfüllen. ({8}) - Ja gut, das will ich nicht bestreiten. Das gilt aber auch für andere Länder, Sie können auch Baden-Württemberg oder Hessen nehmen. Auch dort liegen die Beträge, die für diese Aufgaben bereitgestellt werden, sehr hoch. Oder schauen Sie sich an, wie intensiv sich Bayern an dem Programm „Die soziale Stadt“ beteiligt. Das ist genau der richtige Weg.

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Goldmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Eichstädt-Bohlig?

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ja, aber erst möchte ich noch den Satz beenden: Geben Sie das Geld dahin, von wo aus es sachgerecht eingesetzt werden kann!

Franziska Eichstädt-Bohlig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002643, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Goldmann, Ihre Ausführungen haben mich jetzt noch mehr verwirrt, als mich schon Ihr Antrag verwirrt hat. Sie geben das Geld jetzt offenbar dreimal aus, wenn ich Ihren Antrag richtig verstehe. Im ersten Absatz fordern Sie: Die bisherigen Fördermittel des Bundes für den sozialen Wohnungsbau und die Komplementärmittel der Länder werden zur dauerhaften Leistungsverbesserung beim Wohngeld verwendet. Das ist der O-Ton Ihres Antrages. Die zweite Forderung lautet: Die Zuständigkeit und die Kompetenzen für die Förderung des sozialen Wohnungsbaus werden - über das bisherige Maß hinaus - vollständig den Ländern überlassen. Hier ergibt sich schon als erste Frage, ob nicht ein Widerspruch zwischen dem ersten Satz, gemäß dem auch die Länder ihr Geld in das Wohngeld einbringen sollen, und dem zweiten Satz, wonach es den Ländern überlassen werden soll, besteht. Jetzt eben haben Sie noch gesagt, dass die Gelder vom Bund auf die Länder übertragen werden sollen. Schließlich fordern Sie im dritten Absatz, die Grenzen für die Eigenheimförderung nach dem Eigenheimzulagengesetz für Verheiratete wieder auf 240 000 DM anzuheben. Können Sie mir erklären, woher Sie das Geld nehmen, das Sie mindestens drei- bis viermal in Ihrem Antrag verteilen?

Hans Michael Goldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003133, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin anscheinend länger als Sie zur Schule gegangen, was zwar nicht immer von Erfolg gekrönt war, ({0}) aber, Frau Kollegin, Rechnen habe ich dabei gelernt. ({1}) Wenn Sie den Antrag genau analysieren, dann werden Sie sehr schnell feststellen, dass das, was wir bei der Eigenheimförderung vorhaben, überhaupt nichts mit den Mitteln für den sozialen Wohnungsbau zu tun hat. ({2}) - Sie müssen mir schon die Möglichkeit geben zu antworten, und sollten nicht ständig dazwischenreden. Wir wollen die Mittel - das haben Sie auch richtig vorgetragen - beim Wohngeld zusammenführen, weil wir der Meinung sind, dass das Wohngeld die direkteste Form und die sozialste Art an Zuwendung ist, die man sich überhaupt vorstellen kann. ({3}) Ich denke, dass dieser Weg richtig und konsequent ist, denn auf diese Weise kommt das Geld wirklich bei denen an, die bedürftig sind. Sie tun uns - das war schon eben so bei den Ausführungen zu Herrn Westerwelle - Unrecht. Ich sehe das als völlig im Einklang mit dem an, was die F.D.P. auf ihrem Bundesparteitag in Nürnberg beschlossen hat. Wir wollen nämlich keine soziale Fahne schwingen, sondern wir wollen ganz konkrete, die Menschen erreichende Sozialpolitik betreiben. ({4}) Genau das verfolgen wir auch mit diesem Antrag. ({5}) - Das ist keine Drohung, Kollege Spanier, sondern das ist eine Konkretisierung dessen, was die Vertreter der F.D.P. unter Sozialpolitik verstehen, nämlich dem helfen, der sich selbst nicht helfen kann. Ich glaube, in diesem Punkt könnten wir sogar eine ganze Menge an Gemeinsamkeiten feststellen. ({6}) Mit diesem Antrag - das sollten Sie auch mit bedenken, Frau Eichstädt-Bohlig - sind sehr interessante Nebeneffekte verbunden. Es besteht die Möglichkeit, einen erheblichen Abbau von Bürokratie zu betreiben, weil man für die Erledigung dieser Aufgabenstellung im Ministerium kein Personal mehr abstellen muss und so Personalmittel eingespart werden können. Ein weiterer Vorteil, der damit verbunden ist, ist die Abschaffung einer zusätzlichen Transferstelle. Damit orientieren wir uns hin zu einer Bürgergeldlösung, wie wir sie für richtig halten. ({7}) Der von uns gestellte Antrag macht insofern genau das, Herr Spanier und Frau Eichstädt-Bohlig, was Sie angesprochen haben. Er gibt den Ländern, die in diesem Bereich in Verbindung mit den Kommunen die eigentlich Aktiven sind - das haben wir ja beispielsweise beim Projekt „Die soziale Stadt“ belegt bekommen -, zusätzliche Möglichkeiten zur Ausgestaltung einer echten sozialen Wohnungsbaupolitik. Diesem Gedanken tragen wir mit unserem Antrag Rechnung. Ich glaube, dass es sich um einen klugen Antrag handelt, bei dem Sie sich schwer tun werden, ihn in der Substanz abzulehnen. Wenn Sie das machen, hat es etwas damit zu tun, dass Sie sich klugen Lösungen im Grunde genommen verweigern, wie es schon beim Altschuldenhilfe-Gesetz der Fall war. Wenn Sie unseren Vorstellungen gefolgt wären, hätten Sie den jetzigen Ärger mit den Wohnungsbauunternehmen gerade in den neuen Ländern nicht. Frau Gleicke, Sie haben dies leider heute Morgen schmerzlich in Dresden erfahren müssen. ({8}) Weil es wichtig ist, dass alle, die sich mit Wohnungsbaupolitik beschäftigen, ein besonderes Maß an Gemeinsamkeit zeigen müssen, bieten wir Ihnen die Zusammenarbeit an. Wir sagen aber auch ganz klar: Wir wollen eine Verlagerung der Aufgaben dorthin, wo sie erfüllt werden. Das sind die Länder und die Kommunen. ({9}) Wir sind ganz konkret dafür, dass der Bund Mittel bereitstellt, wie er das auch in anderen Bereichen der Wirtschaft tut. Die Umsetzung muss im Sinne der Subsidiarität dort erfolgen, wo die Menschen am direktesten erreicht werden. Herzlichen Dank. ({10})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Für die PDS-Fraktion spricht die Kollegin Christine Ostrowski.

Christine Ostrowski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001662, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Goldmann, da Sie sich jetzt um Sozialpolitik kümmern, ({0}) könnte ich fast - ich habe sie natürlich nicht - Angst vor Ihrer Konkurrenz bekommen. Das Spannende ist ja nicht unbedingt der Inhalt der Anträge, die heute vorliegen, sondern zunächst einmal der Vorgang. Herr Spanier, Sie haben ja Recht: Die CDU/CSU-Fraktion macht im Vorgriff auf eine Wohnungsreform Tamtam mit ihrem Antrag. Das Traurige ist aber, dass Sie sich als Koalitionsfraktionen unter Druck gesetzt fühlen und schnell, holterdiepolter einen Antrag vorlegen, der etwas oberflächlich wirkt, den ich Ihnen ehrlich gesagt - in dreißig Minuten herunterschreiben könnte und der Sätze enthält, die mittlerweile - außer vielleicht auf der rechten Seite - Allgemeingut sind. Ich denke, Sie haben es nicht nötig, sich von der CDU/CSU unter Druck setzen zu lassen. Warum denn auch? Sie hat sich nicht sonderlich durch wohnungspolitische Aktivitäten in dieser Wahlperiode ausgezeichnet. Hätten Sie also gelassen reagiert und gewartet, bis die Reform insgesamt vorgelegt wird, dann wäre es Ihnen besser bekommen; denn Ihre Rede selber war sehr viel nachdenklicher als dieser Wisch, der uns auf eineinhalb Seiten vorgelegt wurde. Die findigen Bürschchen von der F.D.P. satteln natürlich sofort drauf. Das könnt ihr wirklich gut. Ihr nutzt die Gelegenheit und kommt mit einem Antrag, der wirklich unter Niveau ist. ({1}) Wir hätten auch noch schnell zwei Seiten schreiben können, um sie hier vorzulegen. Aber wir wollen dieses Spiel nicht mitmachen, weil wir uns nicht in einem Wettrennen befinden. Es kommt ja nicht darauf an, wer am schnellsten rennt. Es geht vielmehr um die Reform des sozialen Wohnungsbaus. ({2}) Dabei kommt es auf das beste Konzept an. Wir arbeiten daran und werden im September diesbezüglich einen komplexen Antrag einbringen. ({3}) Noch einmal zum Konzept: In dem Antrag der CDU/CSU ist keines zu erkennen. Das kann ja auch nicht sein, weil es sich nur um eine Einzelmaßnahme handelt, die für sich genommen in Ordnung ist und die wir mittragen. Es macht aber wenig Sinn, diese Maßnahme schnell einzuführen und im Nachhinein eine komplexe Reform zu machen. ({4}) Zum Konzept der F.D.P. bezüglich des Wohngeldes. Vielleicht wissen Sie, dass damit Biedenkopf schon vor 20 Jahren in der CDU - ich denke: zu Recht - gescheitert ist. Die Übertragung auf die Länder geht mitnichten. Wenn es um die Reform des sozialen Wohnungsbaus geht, muss man sich überlegen, worin das Ziel liegt. Da ich nur wenig Redezeit habe, will ich mich auf einige Punkte beschränken. ({5}) Nehmen wir einmal die Anzahl der Hilfsbedürftigen. Dazu zählt - darüber gibt es Einigkeit - beispielsweise die allein stehende Frau mit zwei Kindern. Mich bewegt die Frage - dazu höre ich von Ihnen nichts -: Wie schätzen Sie die Größe dieser Bevölkerungsgruppe ein? Wird diese Zahl sinken oder steigen? Ich vermute, sie wird steigen. Meine Vermutung kann falsch sein. Aber ein Indiz ist für mich beispielsweise die steigende Zahl der Sozialhilfeempfänger. Ich muss in diesem Zusammenhang auch an die Osterweiterung der EU denken und an die Ausweitung des Niedriglohnsektors. Wenn man nicht weiß, in welcher Größenordnung man höchstwahrscheinlich fördern muss, dann geht man von einem falschen Ansatzpunkt aus. Das hat letzten Endes natürlich auch etwas mit Geld, mit Finanzen zu tun, aber nicht nur. ({6}) Außerdem stellt sich die Frage, welche grundlegende Förderphilosophie wir in Zukunft zugrunde legen. Hoffentlich nicht - das kam jedenfalls in Ihrer Rede zum Ausdruck - nur den Erwerb oder das Hinstellen von nackten vier Wänden. Diese Zeit ist vorbei. Die Gesellschaft hat sich sehr gewandelt. Die Bedürfnisse der Menschen haben sich gewandelt; auch beispielsweise die demographische Entwicklung. Wir müssen also überlegen, welche Förderphilosophie zugrunde liegt. Ich denke, da kann man nur den Grundgedanken des Programms „Die soziale Stadt“ nehmen, ({7}) dass man nicht nur an die nackten vier Wände denkt - ich spitze das jetzt zu -, sondern an einen Komplex, der von Arbeitsmarktpolitik über Kultur und so weiter bis hin zur Wohnung reicht. ({8}) Man muss auch überlegen, was und wie man denn fördern will. Was ist der Fördergegenstand, und welches ist das Förderinstrumentarium? Bleibt es im Grundsatz bei der bisherigen, strikten Trennung von Fördertöpfen mit einigen Verbesserungen? Sie sprechen von Flexibilisierung, aber wenn ich in das Papier der Bauminister gucke, wird mir ein bisschen schlecht, denn ich habe das Gefühl, dass sie schon Vorbehalte haben. Gelingt es uns, einen Fördertopf zu schaffen und ihn so differenziert zu verwenden, wie es das konkrete Leben braucht? Das weiß ich nicht. Herr Großmann hat mehrmals auf öffentlichen Veranstaltungen gesagt: Das wird so sein. Ich hoffe auch, dass das so sein wird. Aber, wie gesagt, das Papier der Bauminister ist etwas anders formuliert. Kriegen wir es, was die Förderinstrumente anbelangt, auch hin, dass die Kommunen mehr Eigenverantwortung übernehmen können, dass sie in stärkerem Maße das Sagen haben, wie das Geld verwendet wird? Auch da weiß ich, dass die Bauminister das mitnichten so sehen. Wer das Geld hat, bestimmt über Sinn und Zweck. Stichwort Geld - das ist meine letzte Bemerkung -: Sie führen den vorsichtigen Satz ein, dass wir die begrenzten Mittel effizient einsetzen müssen. Das bringt mich zu der Befürchtung, dass Sie bei dem Mindestmaß von 450 Millionen DM bleiben wollen oder bleiben müssen. Dazu sage ich Ihnen: Erstens darf sich der Bund aus der Förderung nicht herausziehen. Das haben Sie jetzt bestätigt. Das finde ich in Ordnung. Zweitens müssen wir zunächst einmal überlegen - ich bitte Sie, zu versuchen, seriös zu prognostizieren -, wie groß die Gruppe der Bedürftigen sein wird, die zu fördern sind. Danach muss sich das Geld richten. Welche Förderphilosophie legen wir zugrunde? Wenn wir von vornherein die Elle bei 450 Millionen DM anlegen, dann, so denke ich, wird daraus keine richtige Reform. ({9})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Frau Kollegin, es gibt zwar eine gewisse Technik, das Signal des amtierenden Präsidenten mit dem eigenen Redemanuskript zu verdecken, aber ich kann Ihnen deswegen die Redezeit nicht verlängern. ({0}) Ich bitte Sie, jetzt doch zum Schluss zu kommen.

Christine Ostrowski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001662, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich bin auch am Ende. Ich verzeihe Ihnen die Flüchtigkeit Ihres Papiers. Immerhin haben wir heute das erste Mal darüber debattiert. Das ist gut. Ich hoffe auf eine gesunde und gute Debatte im Herbst. ({0})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Nun spricht für die SPD-Fraktion der Kollege Dieter Maaß.

Dieter Maaß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001401, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag, über den wir unter diesem Tagesordnungspunkt debattieren, trägt die Überschrift „Den sozialen Wohnungsbau erhalten und reformieren“. Damit erfüllen wir Sozialdemokraten ein Wahlversprechen und eine Aussage in unserem Koalitionsvertrag mit Bündnis 90/Die Grünen. Über die Notwendigkeit, den sozialen Wohnungsbau zu reformieren, besteht sicherlich keine Meinungsverschiedenheit. Schon die abgewählte Bundesregierung hatte mit ihrer Gesetzesvorlage zur Reform des Wohnungsbaurechtes auch eine Reform der sozialen Wohnraumförderung geplant. Allerdings hatte sie nicht die Kraft, die notwendige Wohngeldreform durchzusetzen. Es scheiterte letztlich daran, dass der Schwerpunkt staatlicher Förderung zu sehr auf die Subjektförderung ausgerichtet war. Mit unserem Antrag, den sozialen Wohnungsbau zu reformieren, bleiben wir in erster Linie bei der Objektförderung. Damit stärken wir zunächst einmal den investiven Teil des Bundeshaushaltes. Wir wollen nicht mehr in erster Linie den Neubau fördern, sondern stärker den Erhalt und die Modernisierung des Bestandes. Dies bringt übrigens mehr Aufträge für die mittelständische Bauindustrie. ({0}) Bei der Förderung im Bestand geht es uns um den Erhalt gewachsener Wohnquartiere. Wenn es uns gelingt, zu verhindern, dass schwierige Wohnquartiere zu Glasscherbenvierteln herunterkommen, ist dies ein Gewinn für die Lebensqualität in unseren Städten. ({1}) Niemand wird ernstlich bestreiten können, dass es sich lohnt, hierfür Geld in die Hand zu nehmen und so weitaus höhere Folgekosten der gesamten Gesellschaft zu verhindern. Gleichwohl gibt es Stimmen im politischen Raum, die uns empfehlen, ganz aus der Förderung des sozialen Wohnungsbaus auszusteigen. Die Gründe für einen solchen Ausstieg sind auf den ersten Blick einleuchtend. Es gibt Wohnungsleerstände, und zwar auch im Niedrigpreissektor, vor allem in den neuen Bundesländern. Hier muss man allerdings genau hinsehen und fragen: Warum gibt es diese Leerstände? Wenn es nicht genügend bezahlte Arbeit in der Stadt oder Region gibt, werden die Menschen ihre Heimat und ihre Wohnungen verlassen. Wir können in dieser kurzen Debatte nicht klären, wie man dieser Entwicklung entgegenwirkt. Doch es gibt auch Leerstände, die ihre Ursache in unterlassener oder mangelnder Renovierung und Modernisierung haben. Solche Entwicklungen können wir mit einer zeitgemäßen Förderung des sozialen Wohnungsbaus stoppen und umkehren. Eine Unterstützung durch Städtebaufördermittel und Maßnahmen, die wir unter dem Begriff „Die soziale Stadt“ kennen, gehören dazu. Nun hören wir aus einigen Landesregierungen, der Bund solle sich ganz aus der Förderung zurückziehen. Den Einfluss des Bundes durch Dotationsauflagen wollen diese Landesregierungen natürlich nicht. Ich gebe jedoch zu bedenken: Wenn wir als Bundespolitiker aus dem sozialen Wohnungsbau aussteigen, binden wir uns selbst die Hände. Wir können nicht mehr steuern, wie im sozialen Wohnungsbau gebaut wird und wo diese Wohnungen gebaut werden. In meinem Wahlkreis im Ruhrgebiet sind in den vergangenen Jahren auf einer alten Industriebrache 125 neue Sozialwohnungen entstanden. Diese Wohnungen konnten auf einem Bauplatz nahe einem alten Ortskern gebaut werden, der sonst für den Bau hochwertiger Eigentumswohnungen vermarktet worden wäre. Aber wo wären die Familien mit geringem Einkommen geblieben? Sie hätten in sozial problematische Quartiere ausweichen müssen. Jetzt leben junge Familien mit Kindern nahe am Stadtteilzentrum und verjüngen darüber hinaus die Bevölkerung dieses Stadtteils. Sollten wir auf diesen politischen Einfluss auf einen wichtigen Teil des Wohnungsmarktes verzichten? Bestenfalls über das Wohngeld könnten wir dann noch darauf Einfluss nehmen, wie einkommensschwache Haushalte sich auf dem Wohnungsmarkt behaupten können. Dies ist uns zu wenig. Deshalb hat sich in der Vergangenheit jeder Deutsche Bundestag, gleich welcher politischen Zusammensetzung, dieser Forderung widersetzt. Das ist auch der Grund, warum wir den Antrag der F.D.P. ablehnen. Sie, meine Damen und Herren, wollen ganz aus dem sozialen Wohnungsbau aussteigen. ({2}) Sie wollen die Fördermittel aus der Objektförderung auf die Subjetförderung umlenken, sich also auf die Zahlung von Wohngeld beschränken. Es ist schon merkwürdig, wenn uns jetzt ausgerechnet die Liberalen auffordern, investive Haushaltsmittel in konsumtive umzuwandeln. Gestern habe ich das hier noch ganz anders gehört. ({3}) Die von der F.D.P. geforderte Anhebung der Einkommensgrenzen im Eigenheimzulagegesetz halten wir ebenso für falsch. Wir Sozialdemokraten werden die knappen Haushaltsmittel auf die Förderung von Familien mit geringen Einkommen konzentrieren. ({4}) Wir sind der Meinung, bei hohen Einkommen muss der Staat den Kauf von Wohneigentum nicht fördern. Lassen Sie mich am Schluss meiner Ausführungen zusammenfassen: Eine Reform des sozialen Wohnungsbaus ist wichtig. Wir wollen auf Neubauförderung nicht verzichten, aber den Schwerpunkt auf die stärkere Förderung im Bestand legen. Ich bin sicher, dass die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag einen guten Gesetzentwurf vorlegen wird. Sie, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, fordere ich auf, diesen Antrag zu unterstützen. Er geht schließlich in die gleiche Richtung, in die auch Sie zielen. Schönen Dank. ({5})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Der Kollege Dr. Dietmar Kansy spricht nun für die CDU/CSU-Fraktion.

Dr. - Ing. Dietmar Kansy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001064, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Maaß, ich habe leider nicht Ihren Antrag mitgebracht, sondern die Wahlversprechen der Grünen im Bereich des sozialen Wohnungsbaus. Leider ist die Zeit zu kurz, sie vorzulesen. Lieber Kollege Spanier, ob wir im Hinblick auf den sozialen Wohnungsbau einen Konsens finden, wird sich zeigen. Aber einen Konsens in Bezug auf Ihre derzeitige Wohnungspolitik hier in Berlin wird es mit uns nicht geben. ({0}) „Der soziale Wohnungsbau“, so schreiben Sie so wunderschön gehoben und geschwollen in Ihrem Antrag, „ist, neben den Rahmenbedingungen des frei finanzierten Wohnungsbaus, ein zentrales Element der Wohnungspolitik.“ Wohl wahr! Also hätte man angesichts ihrer vor der letzten Wahl großartig angekündigten Versprechen annehmen können, dass die Bundesregierung diese Rahmenbedingungen spürbar verbessert, und dies vor allen Dingen schnell, Herr Staatssekretär Großmann. Genau das Gegenteil ist der Fall: Eine Reform des sozialen Wohnungsbaus hätte bereits Anfang 1999 - Kollege Meister hat darauf hingewiesen - in Kraft treten könDieter Maaß ({1}) nen, wenn die Vorlage des ehemaligen Bauministers Töpfer nicht im Bundesrat auf eine politisch und wahltaktisch motivierte, von Lafontaine angestiftete Blockadepolitik gestoßen wäre. ({2}) Statt nun aber, nachdem Sie die Wahl gewonnen haben, schnell an diese Reform heranzugehen, hat sich in den letzten zwei Jahren nichts Positives ereignet. Ganz im Gegenteil: Sie haben sich bei der Mitfinanzierung des sozialen Wohnungsbaus auf das gesetzliche Mindestniveau zurückgezogen. ({3}) - Ich weiß ja, dass dies schmerzt. Mit Ausnahme derjenigen, die diese Debatte für den Deutschen Bundestag aufzeichnen, hört uns ja auch keiner zu. - Innerhalb von zwei Haushaltsjahren haben Sie die für den sozialen Wohnungsbau vorgesehenen Bundesmittel um 55 Prozent gekürzt. ({4}) Frau Eichstädt-Bohlig, was hatten Sie denn versprochen? Sie hatten für den sozialen Wohnungsbau nicht nur einen gesetzlichen Mindestrahmen von 1 Milliarde DM gefordert, sondern auch noch zusätzlich - ich wiederhole: zusätzlich!- die Rückflüsse aus Zinsen und Tilgung. Was jetzt hier passiert, ist genau das Gegenteil. Die dank der hohen Verpflichtungsrahmen unserer gemeinsamen Regierungszeit, Herr Kollege Goldmann, bestehenden Rückflüsse übersteigen im nächsten Jahr sogar die Ausgaben für den sozialen Wohnungsbau, sodass der Wohnungsbau im Grunde zu einer Einnahmeposition der Bundesregierung wird, wenn die Haushaltsansätze so durchgesetzt werden, wie Sie sie vorgesehen haben. Wir werden uns massiv dagegen wehren. Damit Sie sich noch einmal an die Zahlen erinnern: Im letzten Regierungsjahr von Helmut Kohl lag der entsprechende Haushaltsansatz bei 1,347 Milliarden DM, 1999 noch bei 1,1 Milliarden DM und dieses Jahr nur noch bei 600 Millionen DM. Für das nächste Jahr haben Sie ganze 450 Millionen DM vorgesehen. ({5}) Herr Staatssekretär Großmann, der Sie damals wohnungspolitischer Sprecher waren, wie hieß es in Ihrem Regierungsprogramm 1998? Wir werden den Neubau der Sozialwohnungen verstärken. Sie haben inzwischen die Mittel auf ein Viertel der im letzten Regierungsjahr von Helmut Kohl angesetzten Mittel zurückgeführt. Das ist die Wahrheit. ({6}) Die liebenswerte Kollegin und Vizepräsidentin Anke Fuchs ist ja auch Präsidentin des Mieterbundes. Diese fordert sogar 2 Milliarden DM für den sozialen Wohnungsbau. So liegen Anspruch und Wirklichkeit auseinander. ({7}) Hier wird ja ständig das Thema Wohngeld angesprochen. Dasselbe wäre fast beim Wohngeld passiert. Die Bundesregierung hatte vor, sich aus der hälftigen Mitfinanzierung des Wohngeldes zu verabschieden. ({8}) Erst im Vermittlungsausschuss konnte auf Druck der CDU/CSU verhindert werden, dass Kosten in Höhe von 2,6 Milliarden DM vom Bund auf die Länder verschoben wurden. Sonst hätte die Bundesregierung auch dort Kasse gemacht. Sie aber verkaufen das als große Wohngeldreform. Auch das ist die Wahrheit. ({9}) Nachdem Sie nun den sozialen Wohnungsbau so schön zerrupft haben, haben Sie auch noch den frei finanzierten Mietwohnungsbau entdeckt und die steuerlichen Förderbedingungen an allen Ecken und Enden verschlechtert. Es steht eine Mietrechtsreform an, angesichts der auch der letzte Investor vergrault wird, in den frei finanzierten Mietwohnungsbau zu investieren. Schon heute kommt es bei den Genehmigungen im frei finanzierten Wohnungsbau zu einem radikalen Einbruch. Der Stellenwert des selbst genutzten Wohnungsbaus wird nicht nur durch Abbau der Eigenheimzulage, die wir, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, gemeinsam verabschiedet haben, gefährdet, sondern auch durch die Kürzung der für den sozialen Wohnungsbau vorgesehenen Bundesmittel. Denn die Förderung des sozialen Wohnungsbaus hat auch im Eigentumsbereich eine hohe Priorität. ({10}) Dazu kommen Ihre verheerende Politik bei der Bestandsförderung - das war eigentlich eine zwischen uns unumstrittene Zielsetzung einer Reform des sozialen Wohnungsbaus -, der Wegfall der Geltendmachung der Vorkosten und der Verteilung des Erhaltungsaufwandes, die Ablehnung unserer Initiative zur Förderung der mittelbaren Belegung und jetzt noch die Wahnsinnsidee, im Mietrecht die Modernisierungskostenumlage in einer Zeit zu senken, in der Hunderttausende von Altbauwohnungen insbesondere in Ostdeutschland danach rufen, modernisiert zu werden. ({11}) Kurzum, meine Damen und Herren, Ihr Start in die Wohnungsbaupolitik dieser Legislaturperiode war mehr als mäßig. Selbst das viel beschworene Programm „Soziale Stadt“, das zu unserer Regierungszeit in der Arge Bau mit entwickelt wurde, geht in Wirklichkeit zulasten der Förderung des sozialen Wohnungsbaus. Die Gelder, die Sie dort groß angepriesen ausgeben, haben Sie vorher im sozialen Wohnungsbau doppelt und dreifach einkassiert. ({12}) Da nutzen auch PR-Kampagnen nichts, das war ein Fehlstart. Ich resümiere: Es gibt nicht nur den Bruch von Wahlversprechungen von Rot und Grün in fast allen Bereichen der Wohnungspolitik, sondern auch die Umwandlung des ehemals erfolgreichen Ministeriums für Raumordnung, Städtebau und Wohnungswesen in eine ineffiziente Großmaschinerie, die einen Teil dieser desolaten Wohnungspolitik mitverschuldet. ({13}) Meine Damen und Herren, Herr Minister Klimmt ist jetzt auf seinen Haushaltsentwurf für das Jahr 2001 sehr stolz. Für den Wohnungs- und Städtebau verkündet die Propagandaabteilung des Ministeriums einen Ausgabenzuwachs von 1,6 Milliarden DM. Das ist wieder schöngerechnet. In Wirklichkeit muss er ein Zusammenstreichen um rund 0,5 Milliarden DM im Investitionsbereich hinnehmen. Was ist der Trick? Für das Vergleichsjahr 2000 legt er den um 2 Milliarden DM unterdotierten Ansatz für Wohngeldausgaben zugrunde und kann alles kaschieren, was er im investiven Bereich losgeworden ist. ({14}) Meine Damen und Herren, es gibt ein Zitat unserer schon erwähnten Kollegin Anke Fuchs, Vizepräsidentin dieses Hauses und Präsidentin des Mieterbundes, über das es sich nachzudenken lohnt: „Die notwendige Reform des sozialen Wohnungsbaus ist jetzt schlichtweg überfällig.“ Das sagte sie im letzten Jahr, als Sie noch einen Etatansatz von 600 Millionen DM hatten. Davon sind jetzt noch 450 Millionen DM übrig geblieben und Sie wollen das als riesige Reform des sozialen Wohnungsbaus aufblasen. So nicht, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition! ({15})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Herr Kollege Kansy, die Bemerkungen zur Vizepräsidentin Fuchs waren schon außerhalb Ihrer Redezeit. ({0}) Ich werde ihr Ihre herzlichen Grüße übermitteln. Ich schließe die Aussprache. Tagesordnungspunkt 15 a: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3664 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 15 b: Abstimmung über den von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Wohnungsbindungsgesetzes und des Altschuldenhilfe-Gesetzes, Drucksache 14/2763. Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen empfiehlt auf Drucksache 14/3578, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich lasse über den Gesetzentwurf der CDU/CSU auf Drucksache 14/2763 abstimmen und bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen von CDU/CSU und F.D.P. bei Enthaltung der PDS abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Zusatzpunkte 10 und 11: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3676 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vorlage auf Drucksache 14/3668 soll ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Ist das Haus damit einverstanden? - Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU Importverbot für qualgezüchtete Tiere - Drucksache 14/3505 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({1}) Rechtsausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- zung Die Kolleginnen und Kollegen Marianne Klappert, Heinrich-Wilhelm Ronsöhr, Ulrike Höfken, Ulrich Heinrich und Eva Bulling-Schröter geben ihre Reden zu Protokoll.1) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/3505 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Heidemarie Ehlert, Dr. Barbara Höll, Dr. Christa Luft, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Bekämpfung der sinkenden Zahlungsmoral durch Änderung des Umsatzsteuerrechtes ({3}) - Drucksachen 14/1878, 14/2843 - 1) Anlage 5 Berichterstattung: Abgeordnete Jochen-Konrad Fromme Die Kolleginnen und Kollegen Simone Violka, Jochen- Konrad Fromme, Werner Schulz und Jürgen Türk geben ihre Reden zu Protokoll.1) Zu Wort gemeldet hat sich die Kollegin Heidi Ehlert für die PDS. - Bitte. ({4})

Heidemarie Ehlert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11003112, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass Sie so stöhnen. Ich habe die Tagesordnung nicht gemacht. Am Brandenburger Tor sitzen oder liegen seit bereits 25 Tagen verzweifelte Handwerkerinnen, die versuchen, durch ihren Hungerstreik Politikerinnen und Politiker auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Leider erhalten sie von dieser Seite wenig Resonanz. Ausstehende Zahlungen hatten ihre Familienbetriebe in den Konkurs getrieben. Sie selbst haben einige hunderttausend Mark Schulden und leben inzwischen von Sozialhilfe. Ihre Angestellten sind arbeitslos. Ja, ein paar hunderttausend Mark an ausstehenden Rechnungen sind keine Million und Monika Schönemann ist nicht Philipp Holzmann. ({0}) Ein Sofortprogramm der Regierung zur Lösung ihrer Probleme gibt es nicht. Meine Damen und Herren, der Aufschrei der Hungerstreikenden umreißt nachdrücklich ein ernsthaftes wirtschaftliches Problem, das zunehmend kleine und mittlere Unternehmen bewegt: die immer schlechter werdende Zahlungsmoral von Privaten, aber auch der öffentlichen Hand. Durch Zahlungsverzug nehmen die Liquiditätsprobleme zu. Viele Betriebe können die durch den Zahlungsverzug auftretenden finanziellen Engpässe nur kurzzeitig abfangen bzw. müssen diese durch kurzfristige Kredite oder Überziehungskredite decken. Immer häufiger kommt es aus diesem Grunde zum Konkurs und damit zum Verlust von Arbeitsplätzen. Die Wirtschaftsauskunftei Creditreform verzeichnete in den ersten sechs Monaten dieses Jahres mit bundesweit 5 800 Fällen eine Verdoppelung gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Mit dem Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zahlungen wurde ein erster Schritt zur Bekämpfung der schlechten Zahlungsmoral getan. Aber es sind weitere Maßnahmen notwendig. Auch durch das Umsatzsteuerrecht wird der mangelnden Zahlungsmoral Vorschub geleistet. Es begünstigt gegenwärtig diejenigen Unternehmen, die sich die ihnen von anderen Unternehmen in Rechnung gestellte Umsatzsteuer vom Finanzamt - unabhängig von der Bezahlung der Rechnung - als Vorsteuer erstatten lassen. ({1}) Die Berechnung der Umsatzsteuer nach den vereinnahmten und nicht nach den vereinbarten Entgelten erleichtert Unternehmen, deren Gläubiger in den Zahlungen säumig sind, zunächst das Überleben. Andererseits können diejenigen, die bisher die Vorsteuer in Anspruch nahmen, ohne jedoch für die Leistungen entsprechend den Fristen zu bezahlen, diese erst nach Zahlung der Rechnung in Anspruch nehmen. Damit wird meines Erachtens die Zahlungsmoral positiv beeinflusst. Der Unternehmer wird durch das Entstehen der Steuerschuld erst nach der Bezahlung seiner Ausgangsrechnung liquiditätsmäßig entlastet. Er ist also daran interessiert zu zahlen. Auch der Fiskus würde von der Geltendmachung des Vorsteuerabzugs nach der Bezahlung der Rechnung profitieren, denn er wäre nicht mehr - wie bisher sehr oft Kreditinstitut für Unternehmer, die die Vorsteuer in Anspruch nehmen, obwohl sie selbst überhaupt nicht daran denken zu zahlen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, in der Bundesrepublik ist die Besteuerung nach vereinbarten Entgelten leider bereits seit 1968 die Regel. Lediglich für Kleinunternehmen und für Unternehmer in den neuen Bundesländern mit einem Gesamtumsatz bis zu 1 Million DM gibt es bis zum Jahr 2004 eine Ausnahmeregelung. Allerdings ist das Vorsteuerabzugsrecht nicht von dieser Regelung betroffen. Insofern ist diese Lösung halbherzig. Unsere Forderung ist, im Interesse einer Verbesserung der Zahlungsmoral die Ist-Besteuerung für kleinere und mittlere Unternehmen auf das gesamte Bundesgebiet auszudehnen ({2}) und den Vorsteuerabzug erst zum Zeitpunkt der Entgeltzahlung zuzulassen. ({3}) Eine ähnliche Regelung gibt es bereits in Großbritannien. Sie widerspricht also nicht den vereinbarten EU-Richtlinien, wie bisher immer wieder behauptet wurde. Mit der Annahme unseres Antrages wäre zwar den hungerstreikenden Handwerkerinnen, die bereits in Konkurs sind, nicht geholfen, wohl aber vielen anderen, denen durch ausstehende Bezahlungen das Geld für die Zahlung der Umsatzsteuer einfach fehlt. Deshalb bitte ich Sie, meine Damen und Herren: Stimmen Sie diesem Antrag zu. ({4})

Dr. Rudolf Seiters (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002156

Ich schließe die Aus- sprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp- fehlung des Finanzausschusses zu dem Antrag der Frak- tion der PDS zur Bekämpfung der sinkenden Zahlungs- moral durch Änderung des Umsatzsteuerrechtes, Drucksache 14/2843. Der Ausschuss empfiehlt, den An- trag auf Drucksache 14/1878 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Ent- haltungen? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Vizepräsident Rudolf Seiters 1) Anlage 4 Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Uwe Jens, Dr. Ditmar Staffelt, Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Dr. Antje Vollmer, Margareta Wolf ({0}), Volker Beck ({1}), weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der nationalen Buchpreisbindung - Drucksache 14/3509 ({2}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie ({3}) - Drucksache 14/3699 - Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Uwe Jens Die Kollegen Siegmar Mosdorf, Dr. Norbert Lammert, Antje Vollmer, Gudrun Kopp und Dr. Heinrich Fink haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) Deshalb kommen wir zur Abstimmung über den von den Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Sicherung der nationalen Buchpreisbindung, Drucksache 14/3509. Der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt auf Drucksache 14/3699, den Gesetzentwurf unverändert anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist auch in dritter Lesung einstimmig angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf: Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Rindfleischetikettierungsgesetzes - Drucksachen 14/3369, 14/3648 ({4}) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({5}) - Drucksache 14/3700 - Berichterstattung: Abgeordneter Helmut Heiderich Die Redebeiträge der Kollegen Jella Teuchner, Peter Bleser, Ulrike Höfken, Ulrich Heinrich und Kersten Naumann werden zu Protokoll gegeben.2) Wir kommen damit gleich zur Abstimmung über den soeben genannten Gesetzentwurf, Drucksachen 14/3369, 14/3648 und 14/3700. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen. Dritte Beratung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Kollege von Klaeden fühlt sich etwas vereinsamt. ({6}) - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist unter Anwesenheit aller Fraktionen einstimmig angenommen. ({7}) Der Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten empfiehlt unter Ziffer II seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/3700 die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig angenommen. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich danke Ihnen. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages ein auf morgen, Freitag, den 30. Juni 2000, 9 Uhr. Die Sitzung ist geschlossen.